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German Pages 482 Year 2018
Stefan Donath Protestchöre
Theater | Band 112
Stefan Donath, geb. 1982, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Forschungskolleg »Verflechtungen von Theaterkulturen« in Berlin. Er studierte Theater-, Politik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin und der Université Paris VIII. Zu seinen Forschungsinteressen zählen Aufführungen antiker griechischer Tragödien, politische Theorie und Ästhetik, Formen künstlerischen Aktivismus, kulturelle Netzwerke und Kulturpolitik.
Stefan Donath
Protestchöre Zu einer neuen Ästhetik des Widerstands. Stuttgart 21, Arabischer Frühling und Occupy in theaterwissenschaftlicher Perspektive
Diese Publikation wurde gefördert durch das Internationale Forschungskolleg »Verflechtungen von Theaterkulturen« an der Freien Universität Berlin.
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Joshua Whisenhunt weist Demonstrierende am ersten Tag von Occupy Austin über die Benutzung von Handzeichen ein. © Thomas Allison IDruck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4405-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4405-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung | 11 I PROTESTCHOR | 59
1. 2. 3. 4.
Performance | 63 Organisation | 78 Praxis | 88 Widerstand | 102
II CHOR | 125
1. Transformation | 130 2. Identität | 150 3. Repräsentation | 167 III PROTEST | 187
1. Bewegung | 190 2. Affekt | 203 3. Ereignis | 220 IV STUTTGART 21 | 241
1. 2. 3. 4.
Chronologie | 244 Die „Bürgerchöre“ | 252 Der „Schwabenstreich“ | 269 Der „Wutbürger“ | 279
V STILLER WIDERSTAND IN KAIRO | 293
1. 2. 3. 4. 5.
Auftritt | 299 Die Aktionen | 305 Das Chorische | 315 Stillstand | 317 Schweigen | 321
VI OCCUPY WALL STREET | 327
1. 2. 3. 4.
Occupy! | 333 Versammlungsräume | 341 Handzeichen | 349 Das „Human Mic“ | 356
VII ÄSTHETIK DES WIDERSTANDS | 367
1. Intervention | 377 2. Zäsur | 398 3. Innovation | 411 Epilog | 427 Literatur | 439 Danksagung | 479
Für Muni
„Außerdem sind die Rechte, für die wir kämpfen, plurale Rechte, und diese Pluralität wird nicht im Vorhinein durch die Identität eingeschränkt, das heißt, es ist kein Kampf, zu dem nur einige Identitäten gehören können, sondern ganz entschieden ein Kampf, der versucht die Bedeutung dessen, was wir mit ,wir‘ meinen, auszudehnen.“ Judith Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016.
Einleitung
Auf einer Großdemonstration gegen „Stuttgart 21“ tritt unter Leitung des Theaterregisseurs Volker Lösch ein Stuttgarter „Bürgerchor“ auf. Vor dem denkmalgeschützten Bahnhof pressen die Chorist*innen sichtlich empört Wort für Wort aus ihren Körpern.1 Die gerichtete Ansprache ihres Protests konfrontiert die Anwesenden mit der Emotionalität einer organisierten Kollektivstimme. Erst nach einiger Zeit wird deutlich, dass der Chor vor dem Bauzaun des zum Abriss freigegebenen Nordflügels eine Strafanzeige gegen Günther Oettinger, Jeannette Wopperer, Hartmut Mehdorn, Rüdiger Grube und Wolfgang Schuster skandiert. Der Vortrag folgt dabei einem sonderbaren Rhythmus, der die Sprechenden immer wieder an Zäsuren führt, die den Sprachfluss unterbrechen. Jede Zeile schließt mit größtmöglicher Erregung ab. Da in den unterschiedlichen Sequenzen Lautstärke, Tempo, Ton und Rhythmus variieren, ist die Sprechweise des chorischen Ensembles abwechslungsreich arrangiert, wodurch sich die Aufmerksamkeit des Publikums intensiviert. Unweigerlich ruft die eigentümliche Präsenz der Chor-Gruppe auf dem öffentlichen Platz jedoch auch Irritationen hervor. An einer uneindeutigen Schnittstelle zwischen Kunst und Politik scheint nicht ganz klar, ob es sich bei der Aufführung des selbsternannten Chores aus Bürger*innen um eine künstlerische Präsentation handelt: Dient die chorische Darbietung der bloßen Unterhaltung der Anwesenden, der Ausgestaltung ihrer Empörung und Bebilderung ihres Protests? Welche Wirkungsabsichten verbergen sich hinter dem Einsatz chorischer Mittel? Instrumentalisieren die Protestierenden ein ästhetisches Verfahren des Theaters, um ihren Widerstand wirkungsvoll in Szene zu setzen? Oder ist der Protestchor unmittelbarer Teil des Protestereignisses? Während in Stuttgart „Bürgerchöre“ gegen den Bau eines neuen Bahnhofs protestieren, bereiten Aktivist*innen in Kairo bei Protesten, die sie den „Stillen Widerstand“ nennen, die Revolution in Ägypten vor. An einer viel befahrenen Uferstraße säumen vorwiegend junge Menschen in schwarzer Kleidung, im Abstand von mehre-
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Im Folgenden verwende ich im Anschluss an queere Auseinandersetzungen zur normativen Zweigeschlechtlichkeit das Sternchen, um einen geschlechtlichen Freiraum zu markieren, der auch jene Menschen einschließt, die sich nicht eindeutig als weiblich und männlich zuordnen können oder wollen. Im Gegensatz zum Gender-Gap soll das Sternchen als Bindeglied in alle Richtungen „strahlen“ und vermeiden, Geschlechtsidentitäten jenseits des binären Systems als Leerstelle darzustellen.
12 | Protestchöre. Zu einer neuen Ästhetik des Widerstands
ren Metern zueinander aufgereiht, die Brüstung des Gehwegs. Ihre Gesichter sind einheitlich zum Meer gerichtet, ihre Blicke gehen starr in die Ferne. Niemand spricht oder rührt sich, bewegungsloses Schweigen. Während die Körper der Anwesenden scheinbar erstarrt in völliger Ruhe verharren, wird ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit spürbar. Zugleich erzeugt das kollektive Tableau stummer Silhouetten eine gespenstische Szenerie. Die spezifische Anordnung der Körper – in arrangiertem Abstand zu- und doch klarer Trennung voneinander – lässt eine Menschenkette entstehen, die bei Passant*innen einen irritierenden Eindruck hinterlässt. Die Choreografie stillen Widerstands lässt anhand ihrer rätselhaften Pose nicht sofort auf eine Protestaktion schließen.2 Konkret verzichtet die Anordnung von Körpern im öffentlichen Raum auf erklärende Worte oder Ausdrucksmittel, wie sie sonst bei politischen Protestveranstaltungen in Ägypten zur Anwendung kommen. Da erklärende Formulierungen fehlen, entsteht eine Uneindeutigkeit der Situation. Was hat die wortlose Anwesenheit der vielen Menschen zu bedeuten? Warum verzichten die Aktivist*innen auf den Einsatz von Sprache? Was soll mit der Aktion ausgesagt werden und in welchem Bezug steht sie zur aktuellen politischen Situation? Fernab von Fernsehkameras besetzen Demonstrierende am 17. September 2011 den Zuccotti Park in Lower Manhattan in New York und taufen ihn in Liberty Plaza um. Mit klarem Bezug zum Arabischen Frühling und der dort sichtbar gewordenen strategischen Inanspruchnahme urbanen Raums wird die Occupy-Bewegung rasch zum Vorbild ähnlicher Aktionen in anderen amerikanischen und europäischen Städten. In den Versammlungen der Protestierenden erschallt als Reaktion auf das Verbot der New Yorker Behörden, die den Gebrauch elektrischer Verstärker untersagen, das sogenannte „Human Microphone“, kurz „Human Mic“ genannt. „Mic Check!“, ertönen so im bunten Treiben immer wieder einzelne Stimmen, woraufhin die Umstehenden gemeinsam „Mic Check!“ antworten. „Mic Check!“, hört man ein weiteres Mal, woraufhin innerhalb kürzester Zeit hunderte viel geeinter und stärker „Mic Check!“ antworten. Die durch einen polyfonen Chor aus Stimmen produzierte Lautstärke signalisiert, dass die Aufmerksamkeit der Gruppe der bevorstehenden Ankündigung gilt. „There is a meeting“, verkündet ein Mann tief Luft holend, während die Versammelten den Satz „There is a meeting“ chorisch wiederholen. Durch die Vielzahl anwesender Stimmkörper entsteht ein menschliches Verstärkungssystem, das in den überaus heterogenen Menschenansammlungen die Übertragung von Informationen durch chorische Repetitionen sicherstellt. Neben annoncierten Nachrichten werden in großen
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Der Begriff ,Choreografie‘ (gr. choros: ,Tanz‘, ,Reigen‘ und graphein: ,schreiben‘) deutet einerseits auf ein Aufschreibesystem von Tanz und Körperbewegung und andererseits auf den Prozess und die gestaltende Komposition von Tänzen. Während sich die Bedeutung von Choreografie als Kreation von Tanzstücken erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchsetzt, wird der Begriff heute weitgefasster und in verschiedenen Anwendungsbereichen synonym für ein Regelsystem von (Körper-)Bewegung in Zeit und Raum verwendet. Der Begriff verweist auch auf eine Kontroverse in der Theaterwissenschaft, bei der zur Notation von Aufführungen die Vor- und Nachteil der Begriffe ,Inszenierung‘ und ,Choreografie‘ diskutiert werden. Gerade die Reibungen zwischen schriftzentrierten und prozessorientierten Aspekten von ,Choreografie‘ geben der hier anvisierten Analyse interessante Impulse.
Einleitung | 13
Kundgebungen individuelle Redebeiträge vom Chor nachgesprochen. Eine innovative chorische Verständigungspraxis entsteht dadurch gerade „im Zitieren anderer, im Widerhall der Worte, in ihrem Neu- und Weitersprechen und auch im Widersprechen […].“3 Bei Zuhörer*innen und Beobachter*innen löst der sich durch die Technik des „Human Mic“ ausformende kollektive Sprach- und Bewegungskörper befremdliche Reaktionen aus. Das Verfahren der Occupy-Bewegung verstört weniger durch die Potenzierung des Gesagten, die Verstärkung des Schalls oder die räumliche Ausbreitung der Rede. Irritation und Unverständnis löst vielmehr die Tatsache aus, dass durch das chorische Verstärkungssystem, eine Äußerung durch viele andere Stimmen reproduziert wird. Während die besondere Sprechweise ewig zu dauern scheint, bringt sie selbst jedoch keine konkreten politischen Forderungen hervor. Sollte das Demokratische gerade darin erkannt werden, dass die Aktivist*innen vordergründig mit sich selbst beschäftigt waren? Globale Protestphänomene Die genannten Protestbeispiele verorten sich zu Beginn der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts als Teil einer Reihe sich spektakulär ereignender globaler Protestphänomene. Die Bewegung Stuttgart 21, die Aktionen des „Stillen Widerstands“ in Kairo sowie die Occupy-Bewegung stehen repräsentativ für einen Ausschnitt von Protestereignissen, die demonstrieren, in welcher erstaunlichen Dichte sich seit Sommer 2010 eine Serie aufsehenerregender Proteste vorbereitete und im Jahr 2011 in etwa 900 Städten und rund 80 verschiedenen Ländern tatsächlich ereignete.4 In Tunesien zündet sich im Dezember 2010 der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in der Stadt Sidi Bouzid selbst an. Trotz aller Zweifel am konkreten Tathergang sorgt seine öffentliche Selbstverbrennung und sein späterer Tod über die Landesgrenzen hinweg für Fassungslosigkeit. Da ihm Behörden mehrfach willkürlich Waren beschlagnahmt hatten und seine erfolglosen Beschwerden bei der Stadtverwaltung zu Misshandlungen auf einer Polizeiwache führten, wird sein Freitod in einen Zusammenhang zu den alltäglichen Schikanen des Staates gestellt. Seine Tat löst erste Demonstrationen gegen die langjährige Führung in Tunis aus und wird bald als der Funke gedeutet, der „den Flächenbrand entzündet und letztlich die ganze arabische Welt verändert hat.“5
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Martina Ruhsam, Kollaborative Praxis: Choreographie. Die Inszenierung der Zusammenarbeit und ihre Aufführung, Wien/Berlin 2011, S. 19. Siehe dazu die Titelseite des US-amerikanischen Nachrichtenmagazins TIME vom 26.12.2011, 178. Jg., Nr. 25: „Person of the Year: The Protester. From Arab Spring to Athens, from Occupy Wall Street to Moscow“. Interview mit Ibrahim al-Koni „Herr Bouazizi ist der Christus unserer Zeit“, in: DER TAGESSPIEGEL vom 01.03.2011; Auch der italienische Politikwissenschafter Antonio Negri und der US-amerikanische Philosoph Michael Hardt sprechen vom „Funke aus Tunesien und Ägypten“, Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri, Demokratie! Wofür wir kämpfen, Frankfurt a.M./New York 2013, S. 8. Wenn in Bezug auf globale Protestszenen von „Funken“ oder „Flächenbrand“ die Rede ist, behauptet das sprachliche Bild des Feuers einen linearen Prozess, den diese Arbeit hinterfragen möchte.
14 | Protestchöre. Zu einer neuen Ästhetik des Widerstands
Die sich anschließende Protestwelle in Ägypten führt zu weiteren Erhebungen in benachbarten Ländern des nordafrikanischen Raums und hat zahlreiche Proteste im Nahen Osten, Europa und Nordamerika zur Folge. Am 25. Januar 2011 beginnen in Kairo und in weiteren Städten Ägyptens zahlreiche Massenproteste. Über die sozialen Netzwerke Facebook und Twitter verabreden sich überwiegend junge Menschen. Auf dem Tahrir-Platz richten sie ihre Wut gegen das ihrer Auffassung nach korrupte Regime von Präsident Husni Mubarak und fordern in Sprechchören vehement seinen Rücktritt. Es kommt zu ersten Gefechten mit der Polizei, die zivile Opfer fordern. Wenige Tage später eskaliert die Gewalt: Regierungsgebäude brennen, es kommt zum brutalen Zusammenstoß von Sicherheitskräften und Demonstrant*innen mit zahlreichen Toten. Durch den Druck des ägyptischen Volkes tritt Mubarak am 11. Februar 2011 zurück. Ausgelöst durch zivilgesellschaftliche Mobilisierungen gehen in zahlreichen anderen arabischen Staaten protestierende Oppositionsanhänger*innen auf die Straße. Im Jemen fordern etwa 500 Menschen vor der Universität in Sanaa in Sprechchören den Rücktritt des Präsidenten Ali Abdullah Salih.6 In Syrien beteiligen sich im März 2011 Tausende an einem Protestmarsch nach Daraa, um der mehr als einhundert Opfer zu gedenken, die bei einem Einsatz von Sicherheitskräften gegen Demonstrant*innen getötet wurden. Begleitet von Forderungen nach einem demokratischen Wandel im Land waren auch in der Hauptstadt Damaskus hunderte Menschen auf die Straße gegangen: „,Wir opfern unser Blut, unsere Seele für Euch in Daraa‘, riefen sie in Sprechchören.“7 In Spanien gehen am 15. Mai 2011, eine Woche vor den Kommunalwahlen, mehr als eine Million Menschen mit dem Slogan „¿Democracia Real Ya!“ („Reale Demokratie jetzt sofort!“) auf die Straße. Auf dem zentralen Platz Madrids, dem Puerta del Sol, schlagen Aktivist*innen an diesem Tag ihre Zelte auf und verwandeln den öffentlichen Platz in eine Bühne, auf der die Empörten (Indignados) ihrer Enttäuschung in den nächsten Wochen Ausdruck verleihen. Um mit dem bisherigen Konsens repräsentativer Demokratie zu brechen und partizipative Kommunikationsverfahren wiederzubeleben, kommen auch hier Sprechchöre und chorische Abstimmungstechniken zum Einsatz. In Griechenland versammeln sich im Juni desselben Jahres tausende Griechen auf dem Syntagma-Platz vor dem Parlament in Athen. Während die beiden größten Gewerkschaftsverbände zum Generalstreik aufgerufen haben, belagern Demonstrierende das Gebäude und machen ihrem Zorn in Sprechchören Luft.8 In Weißrussland demonstrieren zur gleichen Zeit inmitten einer schweren Wirtschaftskrise hunderte Menschen klatschend und schweigend gegen den autoritären Präsidenten Luka-
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Vgl. „Die arabische Welt trotzt der Gewalt ihrer Regime“, in: DIE ZEIT vom 18.02.2011. „Syrische Einsatzkräfte schießen erneut auf Demonstranten“, in: DIE ZEIT vom 25.03.2011. Vgl. „Athens Polizei feuert mit Tränengas auf Demonstranten“, in: DIE ZEIT vom 15.06.2011.
Einleitung | 15
schenko. Ohne den Einsatz konventioneller Transparente klatschten die Demonstrant*innen in einer kollektiven Geste des Widerstands einfach in die Hände.9 Im Juli 2011 wird überdies die israelische Filmemacherin Daphni Leef wegen zu hoher Mieten in Tel Aviv obdachlos und zieht aus Protest mit einem Zelt auf den Mittelstreifen des Rothschild-Boulevards. Aus ihrer Forderung für mehr soziale Gerechtigkeit entwickelt sich innerhalb weniger Wochen eine Protestbewegung, der sich hunderttausende Menschen anschließen und die am 3. September 2011 mit knapp einer halben Million Teilnehmenden zur bis dahin größten Demonstration in der Geschichte des Staates Israel führt. Auf den Plakaten der auch dort campierenden Anhänger*innen steht in Anspielung auf die Revolution in Ägypten: „Rothschild ist unser Tahrir-Platz.“10 Die politische Philosophin Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass „die Rebellion gegen die menschlichen Existenzbedingungen […] so alt wie die überlieferte Geschichte“ ist.11 Mithilfe vielfältiger Strategien widersetzen sich Proteste auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts Unterdrückung, üben Kritik an fehlgeleiteter Politik, die subalterne Situationen besiegelt, Marginalisierten die Stimme nimmt oder politische Repräsentationsmechanismen entleert. Protestieren bedeutet heute Ansprüche nicht nur selbstbewusst zu artikulieren, sondern ein Stillhalten abzulehnen, indem im Sinne Arendts tatsächlich selbst gehandelt wird.12 Als Verfahren des Widerstands geraten dabei die Praktiken des Protestierens immer stärker in den Vordergrund pluraler Akteur*innen. Diese Arbeit gründet auf der Beobachtung, dass sich am Einsatz chorischer Mittel zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein entscheidender Wandel von Proteststrategien abzeichnet. Dabei deutet sich an, dass die Form des Chores als dramatischer Sprechchor, synchronisierte Menge oder überwältigendes Körperkollektiv immer stärker zurückweicht. Statt dem symbolischen Einsatz von Sprechchören gewinnen dagegen chorische Verfahren an Bedeutung, die nicht mehr darauf zielen, Protestierende als sich selbst ermächtigende Gegenspieler*innen zu inszenieren. Die beeindruckende Politizität und Widerstandskraft des Chorischen bildet sich gegenwärtig als diskursi-
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Siehe dazu „Dutzende Festnahmen bei Schweigeprotesten in Weißrussland“, in: DIE ZEIT vom 21.07.2011: „Die Proteste gegen das Lukaschenko-Regime halten seit Monaten an, protestiert wird mal mit Klatschen, mal mit Handyklingeln. Auf diese Form des Protests sind die Lukaschenko-Gegner ausgewichen, nachdem die Polizei Kundgebungen mit Sprechchören und Bannern brutal niedergeschlagen hatte.“ 10 Ulrike Putz, „Sozialprotest in Israel: Zorn der Mittelschicht trifft Netanjahu“, in: SPIEGEL ONLINE vom 27.07.2011. Vgl. auch Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Der Arabische Frühling: Hintergründe und Analysen, Wiesbaden 2013, S. 12. 11 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2014, S. 12. 12 Arendts Frage „Was wir tun, wenn wir tätig sind“ lässt sich Grundüberlegungen zu Protesthandlungen ebenso voranstellen wie ihre Überlegung zur menschlichen Bedingtheit, bei der sie Handeln mit dem Faktum der Pluralität in Verbindung bringt. Sie schreibt: „Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder leben wird.“ Ebd., S. 17.
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ve Praxis der Selbstbefragung und in Eigenschaften des Anti-identitären und Antiautoritären ab. War die Student*innenbewegung der 1960er Jahre von rationaler Systemkritik noch geradezu durchdrungen, treten mit dem Aufkommen der ,Neuen Sozialen Bewegungen‘ in den 1970er Jahren in Westeuropa und Nordamerika die Forderungen nach einer radikalen Umgestaltung des Staates zugunsten eines verstärkt emotional motivierten Aktivismus in den Hintergrund.13 Neue Soziale Bewegungen wie die Frauenbewegung, die Lesben- und Schwulenbewegung oder die Friedens- und Ökologiebewegung nutzen für ihre Proteste kollektive Identitätsmuster, um auf die Verteidigung oder Verbesserung individueller Lebensformen hinzuwirken. Politische Ziele verbinden sich deutlicher als vorher mit Darstellungs- und Ausdrucksweisen von Werten und Lebensstilen, so dass die Neuen Sozialen Bewegungen ihre Wirkung „nicht in der Eroberung der Macht im Staate [entfalten], sondern in der Veränderung alltäglicher Lebenspraxen.“14 Diese intentionale Verschiebung der Protestmotive von sozialen und politischen zu identitätspolitischen Motivationen wird gegen Ende des 20. Jahrhunderts um neue transnationale Kooperationsmodelle erweitert und wiederum transformiert. Globalisierungskritische Bewegungen belegen, wie flexibel sich seit Mitte der 1990er Jahre unterschiedliche Kooperationsgruppen für allenfalls begrenzte Zeiträume und partielle Aktionsbündnisse zusammenschließen. Da die Betroffenheit ökonomischer, politischer und sozialer Krisen die Protestbereitschaft von Menschen, durch konkrete Bedrohungssituationen noch gesteigert, nachweislich anwachsen lässt,15 ereignen sich Proteste im Zeitalter der Globalisierung in einem potenziellen Umfeld weiterer Auflehnungsbewegungen, mit denen sie in direktem Kontakt stehen oder indirekt verflochten sind. Gegenwärtige Proteste organisieren sich immer weniger als dauerhafte Kollektivsubjekte mit einer gemeinsamen politischen Identität. Zwischen den Mitgliedern heutigen Protests fehlen intensive soziale Bindungen, wie sie für Partei- oder Vereinsstrukturen bislang als bewegungstypisch galten. Für Bewegungen, die als Strategie aktuell eine „gewisse Unbestimmtheit in die kollektive Identität einer sozialen Bewegung“ einführen und die Identität, Ziele und Subjektivierungsformen ihrer Akteur*innen einem konstanten Prozess der (Selbst-)Befragung unterwerfen, hat der österreichische Soziologe und politische Philosoph Oliver Marchart den Begriff der postidentitären sozialen Bewegung vorgeschlagen.16 Wenn Marchart und andere von
13 Zur begrifflichen Konkretisierung der Neuen Sozialen Bewegungen siehe Kap. III 2.1. 14 Sebastian Haunss, „Die Bewegungsforschung und die Protestformen sozialer Bewegungen“, in: Klaus Schönberger (Hrsg.), Kommt herunter, reiht euch ein...: Eine kleine Geschichte der Protestformen sozialer Bewegungen, Berlin 2009, S. 31-45, S. 32. 15 Siehe Isabel Ortiz/Sara Burke, „Inequalities and Protests“, in: UNESCO (Hrsg.), World Social Science Report 2016. Challenging Inequalities: Pathways to a Just World, Paris 2016, S. 254. 16 Vgl. Oliver Marchart, „Vom Protest der Prekären zur Prekarität des Protests. Postidentitäre Bewegungen und die Zukunft der Demokratie“, in: Ders., Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Proteste: Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung, Bielefeld 2013, S. 219-230, hier S. 220.
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post-identitären Bewegungen sprechen, dann nicht, weil das Präfix andeuten soll, dass politische Bewegungen heute gar keine Identität mehr besäßen. Unter ,postidentitär‘ versteht Marchart vielmehr „eine paradoxe Form der Selbstinfragestellung, eine reflexive Bewegung, die die eigene Identität – natürlich nie vollständig und in jeder Beziehung, aber doch hinsichtlich ihrer Grenzen und Grundlagen – in Frage stellt oder zu stellen bereit ist.“17 Dadurch, dass die Teilnahme an Protestaktionen einerseits nicht mehr an folgenschwere Mitgliedschaften gebunden ist und der Wunsch nach mittelbarer Veränderung für eine Beteiligung genügt, erreichen zeitgenössische Protestbewegungen auch durch informelle Kommunikations- und Handlungsweisen breitere Bevölkerungsschichten.18 Während sich der Aktionskern progressiver Bewegungen beruhigt hat, erscheinen in den letzten Jahrzehnten andererseits auch religiöse, völkische, rassistische und fundamentalistische Bewegungen als neue soziale Kräfte, die sich im Gegenzug gerade als identitäre Bewegungen definieren.19 Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zeichnet sich so eine Polarisierung zum Teil extremer Denkhaltungen ab, die zur Grundlage neuer Widerstände wird: Während sich radikalisierte Organisationen wie der „Islamische Staat“ als Gegen-Bewegung zur Moderne entwerfen, entstehen neben etablierten sozialen Bewegungen zunehmend spontane Protestbewegungen wie die einwanderungsfeindlichen Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands (Pegida), die sozialen Wandel zugunsten restaurativer, nationaler oder rechtsextremer Politiken unterbinden wollen.20 Was die globalen Protestphänomene unabhängig von der gegenwärtigen Vielzahl ihrer Zentren, lokalen Bedingungen oder staatlichen Beschränkungen im Allgemeinen verbindet, ist, dass sie immer spontaner, zum Teil unangemeldet und mitunter illegal in Öffentlichkeiten erscheinen oder sich dort wirksame Gegenöffentlichkeiten21 erarbeiten.22 Generell gilt, dass Protest heute außerhalb bisheriger Organisationen
17 Ebd., S. 224. 18 Vgl. Ziemer, Komplizenschaft, S. 66. Siehe Dieter Rucht, „The Strength of Weak Identities – Die Stärke schwacher Identitäten“, in: Forschungsjournal Soziale Bewegung, 24. Jg., Nr. 4 (2011), S. 73-84. 19 In Deutschland geriet zuletzt die „Identitäre Bewegung“ in die Schlagzeilen. Aus verschiedenen völkischen Gruppierungen zusammengesetzt geht sie vom Identitätskonzept einer europäischen Kultur aus, die vor fremden Einflüssen geschützt werden müsse. 20 Siehe Hans Vorländer/Maik Herold/Steven Schäller, Pegida: Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden 2016. 21 Zum Begriff ,Gegenöffentlichkeit‘ und einer neuen Theorie der Öffentlichkeit siehe Michael Warner, „Publics and Counterpublics“, in: Public Culture 14, No. 1 (2002), S. 49-90. 22 Im Folgenden möchte ich eine pragmatische Definition von ,Öffentlichkeit‘ im Sinne einer autonomen, frei zugänglichen Sphäre für Debatten von allgemeinem Interesse vorschlagen, die sich zwischen der offiziellen Sphäre des Staates und der Privatsphäre situiert. Zur Konzeption von ,Öffentlichkeit‘ als einem an die moderne Zivilgesellschaft gekoppelten Begriff siehe Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1962], Frankfurt a.M. 2013. Habermas’ Idealtypus bürgerlicher Öffentlichkeit, der als Vorstufe jener durch Massenmedien vorstrukturierten und beherrschten modernen Öffentlichkeit gelten kann, wurde vielfach als zu logozent-
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und in einem Operationsmodus auftritt, der als „ad hoc fashion“23 beschrieben wurde, da er sich dezentral meist schneller und dadurch wirkungsvoller organisieren lässt. Zielgerichtete und zeitlich begrenzte Protestaktionen lassen Taktiken erkennen, die konventionelle Ausdrucksformen des Widerstands, wie sie in politischen Systemen in Form von Wahlen bereits bestehen können, komplementieren. Die wachsende Protestbereitschaft und Sichtbarkeit von Protesten kann nur im Zusammenhang eines grundlegenden Kommunikations- und Medienwandels betrachtet werden. Eine Periodisierung neuer Protestbewegungen zu Beginn des frühen 21. Jahrhunderts begründet sich daher auch als Folge sich massiv wandelnder Präsentationsmuster: Mediale Inszenierungen, die Ausbreitung des Internets und neue, „sozial“ genannte Medien lösen neue Fragen nach Ausmaß, Legitimität und Konsequenzen gesellschaftlicher Inszenierungsstrategien für die öffentliche Kommunikation aus. Während Protesthandlungen heute den Wert einer Nachricht maßgeblich durch das aktivistische Medienverhalten zivilgesellschaftlicher Akteur*innen erhalten, bringt die weitreichende Digitalisierung nicht nur neue Standards der Partizipation hervor, sondern schafft selbst völlig neue Voraussetzungen für innovative Interventions- und Kooperationsmodelle.24 Entsprechend sind User*innen im Web 2.0 Beteiligungsmöglichkeiten aufgezeigt worden, die wiederum neue Bedürfnisse der Mitbestimmung geweckt haben.25 Protestierende können sich durch neue Verfahren der Datenübermittlung heutzutage viel effektiver für ereignishafte Zusammenkünfte mobilisieren. In der Anonymität des digitalen Raums sinkt vielfach die Schwelle zur Meinungsäußerung. Zudem erleichtern Plattformen für Online-Petitionen wie Compact, change.org oder openPetition die Kampagnenarbeit von Bürgerbewegungen. Das Protestieren per Mausklick zeigt, wie sich Proteststrategien weiterentwickeln und digitale Technologien aktuell
risch, normativ und idealisierend kritisiert. Zur internationalen Debatte siehe Craig Calhoun (Hrsg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge 1992; Zu einem Überblick Peter-Uwe Hohendahl (Hrsg.), Öffentlichkeit: Geschichte eines kritischen Begriffs, Stuttgart 2000. 23 Victoria Carty, Wired and Mobilizing: Social Movements, New Technology, and Electoral Politics, New York u.a. 2011, S. 10. 24 Neue Medien bestimmen das bisherige Gefälle zwischen Sender*innen und Rezipient*innen neu. Zwischen der Herstellung neuer Gegenöffentlichkeiten, der Verbreitung dubioser Fake-News und der Gefahr neuer Filterblasen durch Algorithmen ergibt sich ein nicht unproblematisches Spannungsfeld neuer gesellschaftspolitischer Vor- und Nachteile. Für eine kritische Einschätzung siehe Elizabeth Dubois, „The Echo Chamber is Overstated: the Moderating Effect of Political Interest and Diverse Media“, in: Information, Communication & Society 21, No. 5 (2018), S. 729-745. 25 Siehe Kneuer, Marianne/Richter, Saskia (Hrsg.), Soziale Medien in Protestbewegungen: Neue Wege für Diskurs, Organisation und Empörung?, Frankfurt a.M. 2015; Rainer Winter, Widerstand im Netz. Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation, Bielefeld 2010; W. Lance Bennett, „New Media Power: The Internet and the Global Activism“, in: Couldry, Nick/Curran, James (Hrsg.), Contesting Media Power. Alternative Media in a Networked World, Oxford 2003, S. 16-38.
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ganz neue Formen des Online-Aktivismus ermöglichen.26 Als E-movement, E-Protest oder E-activism erobern sie alternative Handlungsräume und zeugen von der Bedeutung des Internets als organisatorischem Werkzeug.27 Im weltweiten Netz verbundener Rechner, in dem sich Aufmerksamkeit anhand von Klickzahlen bemisst,28 können Daten ausgetauscht und unkonventionelle Informationen bereitgestellt werden. Das Internet, in dem sich Kampagnenvideos und neue Formen von Video-Aktivismus rasant verbreiten, dient heute dazu, sich an etablierten Medien vorbei Gehör zu verschaffen und Öffentlichkeit als einen scheinbar transparenten Raum zu rekonstituieren.29 Zuletzt haben die Enthüllungen des früheren Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden eindrücklich belegt, wie sich im Internetzeitalter Fragen des Öffentlichen und Privaten durch die Verfügbarkeit und den Nutzen von Informationen von Grund auf gewandelt haben. Die Abschaffung der Staatsräson durch WikiLeaks oder der Einfluss aktivistischer Netzwerke wie Anonymous zeigt, wie sich Kommunikation im Allgemeinen und das Wissen über ihre Wege, Quellen und Sicherheit im Besonderen heute unmittelbar an Machtfragen knüpfen.30 Neben neuen Online-Strategien und Mediatisierungen lässt sich am spezifischen Einsatz chorischer Protestverfahren zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein veränderter Gebrauch von Protestformen feststellen, der dazu einlädt, offensiv die These einer Epochenschwelle zu formulieren. In den eingangs genannten Protestbeispielen stechen unterschiedliche Phänomene chorischer Sprech- und Bewegungsformationen heraus, an deren Diversität sich dieser Wandel darstellen lässt. Als etabliertes Mittel des Protests nutzten Aktivist*innen die Form des Chores, um durch die meist dramatisierte Aufführung von Protestchören in den Bereich repräsentativer Politik einzudringen und dort symbolhaft zu operieren. Um politischen Druck zu erzeugen, entwarfen sich protestierende Sprech- und Bewegungschöre als identitäre Gemeinschaften, die vorgaben „die Gegnerschaft“ oder „den Volkswillen“ zu repräsentieren. Im Gegensatz dazu ist festzustellen, dass Protestierende chorische Verfahren aktuell da-
26 Der Einsatz neuer Medien für aktivistische Zwecke wurde unter dem Stichwort ,OnlineAktivismus‘ in den letzten Jahren ausführlich diskutiert. Siehe dazu u.a. Sonja Vivienne, Digital Identity and Everyday Activism: Sharing Private Stories With Networked Publics, New York 2016; Nishant Shah (Hrsg.), Digital Activism in Asia Reader, Lüneburg 2015; Martha McCaughey (Hrsg.), Cyberactivism on the Participatory Web, New York 2014. 27 Siehe Carty, Wired and Mobilizing, S. 1; Vgl. auch Jennifer Earl/Alan Schussman, „The New Site of Activism: Online Organizations, Movement Entrepreneurs the Changing Location of Social Movement Decision Making“, in: Research in Social Movements and Change 24 (2003), S. 155-187. 28 Vgl. Anna von Hagenow, „YouTube-Selbstdarsteller: Karriere durch Videoportale“ in: Social Media Magazin, 6. Jg., Nr. 1 (2012), S. 24-27, S. 24. 29 Vgl. Nancy Fraser, „Rethinking the Public Sphere – A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy“, in: Craig Calhoun (Hrsg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge 1992, S. 109-142. 30 Zur philosophischen wie politischen Diskussion von WikiLeaks als Auseinandersetzung zwischen geschlossenen Informationssystemen und einer neuen Kultur der Transparenz siehe auch Micah L. Sifry, WikiLeaks and the Age of Transparency, New York 2011.
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zu gebrauchen, um von dieser Symbolpolitik abzurücken. Das Chorische dient gegenwärtig nicht mehr der Behauptung einer geschlossenen Gemeinschaft, die darauf zielt, Gegenmacht zu erzeugen. Vielmehr fällt auf, dass chorische Verfahren konsequent dazu genutzt werden, um die Prozesshaftigkeit kollektiver Organisation selbst zu betrachten. Protestierende entdecken so in den Vollzügen des Arrangierens, des Abstimmens und Einander-Zuhörens eine ungeheuerliche politische Kraft. Unbestritten bleibt, dass Protestierende weltweit Strategien gemeinsamen Vorgehens entwickeln, die in direkter Verbindung zu ihren Anliegen stehen. Um sich gegen ungewollte Projekte zu wehren, Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu bekämpfen, kommt bei Protesten der Chor als theatraler Kollektiv- und synchronisierter Sprachkörper weiterhin zum Einsatz. Die Betonung des Über-Individuellen garantiert als politischer Akteur wahrgenommen zu werden. Menschen ziehen auf die Straßen und setzen sich, um sich zu zeigen, nicht selten einem direkten Risiko aus. Ein erstaunlich starkes Vertrauen in die Kraft kollektiven Handelns scheint sie zusätzlich zu motivieren. Protestierende wollen niemanden mehr, der für sie spricht, sondern selbst sprechen. Die Form des Chores hilft, dass ihr Protest auf ganz besondere Art und Weise gegenwärtig wird. Mit dem Anschein eines demokratisierenden Effekts operieren Protestchöre mit dem Versprechen, Bürger*innen Attribute der Teilhabe zurückzugeben. Indem sie das Recht auf Selbstbestimmung nicht länger delegieren, üben sie auf einer operativen Ebene einerseits Kritik daran, dass die Politik der Repräsentation zur bloßen Verwaltung verkommen ist. Während es Mitglieder solcher Protestchöre ablehnen, sich durch Institutionen oder andere Personen repräsentieren zu lassen, verweist ihr Protest andererseits jedoch wiederum auf ganz eigene, zugleich eigentümliche Identitätspolitiken des Chores. Die Widersprüchlichkeit entsteht dadurch, dass Protestchöre wie der Stuttgarter „Bürgerchor“ Verfahren „repräsentativer Demokratie“ ablehnen, selbst jedoch auf Verfahren der Repräsentation zurückgreifen und nicht minder versuchen, das Demokratische durch Verfahren der Volksvertretung zu realisieren.31 Die Verwunderung an dieser Praxis vergrößert sich, da Proteste heute nicht mehr nur Bürger*innen betreffen, sondern zunehmend Menschen, deren politischer Status prekär ist.32 In den Fokus geraten gegenwärtig Geflüchtete, Staatenlose und all jene Gruppen, die Diskriminierung ausgesetzt sind, deren Menschenrechte eingeschränkt, nicht geachtet oder unterdrückt werden.33 Krieg, Flucht und Vertreibung lösen somit
31 „Aber selbst wenn wir heute noch an den modernen Mythos der Repräsentation glauben und die Volksvertretung für ein Instrument der Volksherrschaft halten würden, müssten wir uns eingestehen, dass ihre Möglichkeit inzwischen radikal zusammengeschmolzen sind. Da die Volksvertretungen vor allem auf nationaler Ebene geschaffen wurden, werden sie durch den Aufstieg einer globalen Machtstruktur ausgehöhlt.“ Hardt/Negri, Demokratie!, S. 36. 32 Zum Begriff des Prekären siehe insbesondere Isabell Lorey, „Gouvernementale Prekarisierung“, in: http://eipcp.net/transversal/0811/lorey/de (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018); Judith Butler, Frames of War. When is Life Grievable?, London/New York 2009; Dies., Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London/New York 2004. 33 Beim Versuch die durch Geflüchtete besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg zu besuchen, bezeichnete die US-amerikanische Menschenrechtlerin Angela Davis die aktuelle Flüchtlingsbewegung als „Bewegung des 21. Jahrhunderts“. Vgl. Mohamed
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neue Bewegungen aus, die zusätzliche Spannungen erzeugen und vielfältige neue Protestformen hervorrufen. Gerade dieses neue Formenspektrum politischen Aktivismus erfordert es zu Beginn des 21. Jahrhunderts umso stärker, nicht mehr nur die Protestform des Chores in den Blick zu nehmen. Viel entschiedener müssen die Prozesse des Chorischen, d.h. die vielfältigen Abstimmungsverfahren innerhalb des Chores, die Prozesshaftigkeit der Chor-Werdung in den Blick genommen und die darin enthaltenen politischen Implikationen untersucht werden. Protestforschung Als eigenständige Disziplin innerhalb der Sozialwissenschaften ist es bisher Aufgabe der Protest- und Bewegungsforschung, sich intensiv mit Analysen der Zivilgesellschaft, bürgerschaftlichem Engagement und gesellschaftlichen Politikverständnissen zu befassen. Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses stehen Organisationsformen, die durch unterschiedliche Mobilisierungs- und Handlungsstrategien gesellschaftlichen Wandel herbeiführen, hemmen oder ganz verhindern.34 Politische Bewegungen werden dergestalt nicht allein progressiv aufgefasst, sondern in alle Richtungen gedacht, so dass für Mobilisierungsformen auch Gegenbewegungen kollektiver Akteur*innen denk- und auffindbar werden. Mit der Frage, wie „Wissenspolitiken Gesellschaft ordnen, Macht und Herrschaft legitimieren, gestalten und festigen, Ansichten normieren, Menschen ein- und ausschließen“,35 richtet sich das Interesse der Bewegungsforschung auf die Interdependenz gesellschaftlicher Systeme und menschlicher Verhaltensweisen, die als vielgestaltige Interaktionen politisch Handelnder und staatlicher Institutionen studiert werden. Um Proteste zu erklären, erarbeitet die Protest- und Bewegungsforschung tragfähige Konzepte zur Sozialform politischer Bewegungen. In den letzten Jahren zeigt sich, wie die Forschung zu Protestphänomenen durchaus stärker über disziplinäre Grenzen hinweg vorangetrieben wurde. Das gegenwärtige Interesse gilt dabei kulturwissenschaftlichen und historischen Ansätzen, die deutlicher wahrgenommen und intensiver diskutiert werden. Produktive Beiträge entstehen maßgeblich durch Kooperationen mit Institutionen anderer Wissenschaftsdisziplinen.36 Seit dem Frühjahr 2013 untersucht etwa das neu gegründete Berliner Institut für Protest- und Bewegungsforschung die Bedeutung von Protesten, Dynamiken sozialer Bewegungen und andere gesellschaftliche Formen des Widerstands in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum für Sozialforschung und der Technischen Universität in Berlin. Die Wissenschaftler*innen widmen sich einem breiten Spekt-
Amjahid, „Angela Davis will Flüchtlingsbewegung neuen Schub geben“, in: DER TAGESSPIEGEL vom 14.05.2015. 34 Vgl. Dieter Rucht, Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und die USA im Vergleich, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 76f. 35 Peter Ullrich, „Die Wissenschaft vom Protest“, in: Neues Deutschland vom 24.11.2012. 36 Seit 2005 steuert das Zentrum für Bewegungsforschung unter Leitung der Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter wichtige Impulse bei. Die aus Leibniz-Preis-Mitteln der DFG gegründete Einrichtung untersucht Bewegungsphänomene in ihrer ganzen Vielfalt und Breite. Zur transdisziplinären, künstlerischen wie wissenschaftlichen Arbeit des Zentrums siehe auch: www.bewegungs-forschung.de (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
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rum von Protestszenarien, die nationale wie internationale Phänomene einschließen und „von der Bürgerinitiative gegen eine Umgehungsstraße zur Revolte in autoritären Regimen, von rechtsradikalen Aufmärschen zu mit Graffiti versehenen Wänden“ variieren.37 Aus Sicht der Protestforschung zeigt die Mobilisierung neuer Protestbewegungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Reihe allgemeiner Entwicklungen auf, die sich mit den hier konstatierten Beobachtungen decken und erst über einen längeren Zeitraum sowie in Abgrenzung zu anderen politischen Bewegungsformen sichtbar werden: Verpflichtende Strukturen, die politisches Engagement an die Idee einer Mitgliedschaft koppeln, werden zugunsten zeitlich begrenzter Initiativen abgelehnt.38 Um Protest zu äußern, ist die Mithilfe sozialer Bewegungen als organisatorischer Entität keine Voraussetzung mehr.39 Im Gegenteil schließt sich eine wachsende Anzahl von Menschen nur mehr für die begrenzte Zeit ereignishafter Protesthandlungen zusammen. Im 21. Jahrhundert erscheinen Protestereignisse daher als „a complex field of interaction among different actors at different geographical levels“40 und damit vor allem als kreative, äußerst flexible und transnationale Events. Da Protestierende immer häufiger in losen Bündnissen operieren, ergeben sich für die Protestforschung jedoch zusätzliche Herausforderungen. Unter der Prämisse, dass Proteste Indikatoren für die soziale Verfasstheit der Gesellschaft darstellen, 41 untersucht die Protest- und Bewegungsforschung zwar unterschiedliche, zum Teil deutlich divergierende Formen von Protest. Nur selten widmet sie sich allerdings den speziellen Ausprägungen und verschiedenen Darstellungsmitteln des Protests, den tatsächlichen Handlungsvollzügen der Protestierenden, der Phänomenalität und Ereignishaftigkeit ihres Widerstands oder dem direkten Verhältnis zwischen Akteur*innen und Publikum. Der Konfliktforscher Sebastian Haunss hat deutlich darauf hingewiesen, dass den konkreten Formen des Protests, „also dem Element, das eigentlich ihre alltägliche Sichtbarkeit am offensichtlichsten bestimmt, bisher erstaunlich wenig Beachtung geschenkt“ wurde.42
37 Siehe http://protestinstitut.eu/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 38 Protestbewegungen organisieren sich als „loosely structured networks of networks of organizations and activists, with frequent overlapping membership at the micro-level as well as interlocking campaigns at the organizational level.“ Donatella della Porta/Manuela Caiani, Social Movements & Europeanization, Oxford 2009, S. 163. 39 Die Verbindung von ,Protest‘ und ,Bewegung‘ in Begriffen wie „Protestbewegung“ oder „Auflehnungsbewegung“ berücksichtigen diese allgemeinen Entwicklungen, indem sie den weniger formalen Organisationscharakter aktueller Protesthandlungen betonen. Siehe dazu u.a. Niklas Luhmann, „Protestbewegungen [1995]“, in: Ders., Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hg. v. Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt a.M. 1996, S. 201-215; Iuditha Balint (Hrsg.), Protest, Empörung, Widerstand. Zur Analyse von Auflehnungsbewegungen, Konstanz/München 2014. 40 della Porta/Caiani, Social Movements & Europeanization, S. 5. 41 Zum umstrittenen Begriff ,Gesellschaft‘ siehe auch Oliver Marchart, Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin 2013. 42 Haunss, „Bewegungsforschung“, S. 33.
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Auch wenn den kulturellen Dimensionen sozialer Bewegungen in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde,43 fehlen substanzielle Analysen, die die in der Etymologie des Wortes ,Protest‘ angelegten Eigenschaften – namentlich seine ausdrucksstarken, sinnlichen und damit rezeptionsästhetischen Darstellungsweisen – explizit unter ästhetischen Gesichtspunkten in den Blick nehmen. Viel entschiedener müssen die von der Protestforschung bisher weitestgehend ignorierten Ausdrucksmittel des Protests untersucht werden. Der Aufruf des interdisziplinären Doktoratsprogramms der Universität Graz zum Thema „Performativity and Visibility. Visual Forms of Protest in urban social movements in Southeastern Europe“ belegt zwar, wie die Bedeutung performativer Erzeugungsstrategien von Protesten explizit hervorgehoben wird. Zugleich betonen die Initiatoren aber, dass die Erforschung der visuellen Dimensionen von Protest und die mit ihnen verflochtenen Protestpraktiken noch ganz am Anfang stehen.44 Trotz der Omnipräsenz globaler Protestereignisse als Indiz grundlegender Transformationen zu Beginn des 21. Jahrhunderts gestaltet sich das Verhältnis der Wissenschaften zu Protesten – insbesondere zu spezifischen Protestformen des Chorischen – überaus prekär. Interdisziplinäre Projekte wie der Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“ untersuchen zwar neue Arten der Kollaboration und Kooperationen von Individuen in Verbindung zu kulturellen Dynamiken der Aufruhr. Zu den gegenwärtigen Protestbewegungen heißt es in einer Einschätzung des Forschungsverbundes allerdings auch dort, dass eine eingehende soziologische und sozialtheoretische Reflexion der politischen Prozesse „erst ganz am Anfang“ stehe.45 Wie dieses Forschungsvorhaben und die zuvor genannten Studien nahelegen, gilt das erklärte Interesse der Protestforschung aktuell meist regionalen Fallstudien. Untersuchungen widmen sich überwiegend spezifischen Protestgruppen und in der Mehrzahl ausschließlich den Motivationen der Akteur*innen. Gesellschaftspolitisch ebenso relevante Prozesse der Inszenierung, Vorführung, Inkorporierung und Wahrnehmung von Protest werden bisher größtenteils ausgespart. Die hier vorliegende Untersuchung ist im Gegensatz dazu von der Überzeugung getragen, dass es nicht genügt, verschiedenartige Artikulationsformen von Protest nur anzuerkennen. Gerade die spezifischen Formen des Protestierens müssen als konkrete Handlungsvollzüge
43 Vgl. della Porta/Caiani, Social Movements & Europeanization, S. 137. 44 Im Projekttext heißt es: „Visual forms of expression are firmly established in modern protest movements’ action repertoire. Red flag, human chain or colourful tent city; poster, banner, digital image or public performance: Such are the visuals used by social movements across time and space, such as the historical labour movement, the new social movements or the present post-identitarian movements. Nevertheless, investigation of the visual dimension of protest and its practices is still at an early stage.“ Vgl. http:// www.suedosteuropa.uni-graz.at/sites/default/files/article_attach/DocTeam_CallForProposa ls.pdf (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 45 Siehe dazu die Projektseite des Teilprojekts D zum Thema „Bedrohung und gesellschaftliche Ordnung im postrevolutionären Ägypten“ unter: https://www.uni-tuebingen.de/forsch ung/forschungsschwerpunkte/sonderforschungsbereiche/sfb-923/erste-foerderphase-2011-1 5/teilprojekte/d-postrevolutionaeres-aegypten.html (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
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viel stärker in den Fokus rücken, um dort als kulturelle Muster, die selbst an die Analyse sozialen Wandels gebunden sind, untersucht zu werden.46 Während Protestierende heute Ereignisse erschaffen, in denen Inhalt und Form mannigfaltige Verbindungen eingehen, beschränkte sich die Protest- und Bewegungsforschung lange Zeit nur darauf, professionalisierte Organisationen in den Blick zu nehmen.47 Sie entwickelte Modelle, die versuchten die Motivationen und Gründe individueller Akteur*innen zu eruieren, um allgemeine Aussagen zu den Voraussetzungen von Protesten zu treffen. Proteste verweisen allerdings nicht nur auf Gründe für politisches Handeln, sondern tangieren ganz maßgeblich spezielle Artikulationsmethoden. Da die Wirkungen und Bedeutungen, die sich an die nicht selten kreativen Kommunikationsweisen anschließen, meist über die jeweilige Protestaktion hinausgehen, verlangen sie umso mehr nach Kontextualisierung. Theaterwissenschaftlicher Ansatz Diese Arbeit geht von der Annahme aus, dass ein theaterwissenschaftlicher Ansatz die angedeuteten Defizite der bisherigen Protestforschung aufgreifen und ausgleichen kann. Da sich Proteste als höchst theatrale Praxis realisieren,48 schlägt die vorliegende Untersuchung eine Analyse konkreter Protestaktionen vor, die sich ganz entschieden den Eigenschaften des Vorführens, der Darstellung und Verkörperung zuwendet. Wenn von einer theatralen Praxis die Rede ist, meint der Begriff der Theatralität hier in erster Linie nicht die „Theaterhaftigkeit“ politischer Handlungen oder die übertriebene, auf große Wirkungen angelegte Darstellung von Protest im Sinne von theatralisch, sondern verweist auf theatrales Handeln als Tätigkeit des Exponierens und Anschauens in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern.49 Wird der Theatralitätsbegriff im Zusammenhang mit Protesthandlungen ins Spiel gebracht, hebt dieser weniger auf die Darstellung von Rollen oder die Repräsentation politischer Botschaften ab, sondern auf eine „Konstellation des Zeigens und Betrachtens, aus der sich für beide Seiten Konsequenzen ergeben.“50 Wie der deutsche Theaterwissenschaftler Matthias Warstat vorgeschlagen hat, soll in dieser Arbeit zwischen den Konzepten ,Theatralität‘ und ,Performativität‘ unterschieden werden: „Während
46 Gegenwärtig aber werden Proteste vordergründig als „Symptome einer Legitimations- und Partizipationskrise des politischen Systems“ aufgefasst oder als „Ausdruck der politischen Emanzipation und somit als Potenzial für eine demokratische Revitalisierung“ interpretiert. Stephan Klecha/Stine Marg/Felix Butzlaff, „Wie erforscht man Protest?“, in: Franz Walter et al. (Hrsg.), Die neue Macht der Bürger: Was motiviert die Protestbewegungen?, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 14-20, S. 20. 47 Vgl. Andreas Pettenkoffer, „Die Zeugin und der Sündenbock. Zur informellen Ordnung sozialer Bewegungen“, in: Fachjournal Soziale Bewegungen, Nr. 4 (2013), S. 24-31, S. 24. 48 Vgl. Jenny Hughes/Simon Parry, „Introduction: Gesture, Theatricality, and Protest – Composure at the Precipice“, in: Contemporary Theatre Review 25, No. 3 (2015), S. 300-312. 49 Vgl. Matthias Warstat, „Theatralität“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Ders. (Hrsg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2014, S. 382-388, S. 385. 50 Matthias Warstat, „Politisches Theater zwischen Theatralität und Performativität“, in: Fischer-Lichte, Erika/Czirak, Adam/Jost, Torsten/Richarz, Frank/Tecklenburg, Nina (Hrsg.), Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse, München 2012, S. 69-81, S. 71.
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uns ‚Theatralität‘ an Situationen denken lässt, verweist ‚Performativität‘ auf Akte/Handlungen, die folgende Merkmale tragen: Sie erzeugen Wirklichkeit, und sie verweisen im Vollzug vorrangig auf sich selbst. […] Performativ werden Akte genannt, die sich auf vorgegebene Muster beziehen. In jedem Akt dieser Art gibt es eine Form der Rückwendung auf Praktiken der Vergangenheit, die der gegenwärtigen Handlung zugrunde liegen.“51 Die Differenzierung theatraler und performativer Praktiken ermöglicht es in Bezug auf chorische Protestformen, genauer Veränderungen theatralen Handelns in den Blick zu nehmen, die sich mitunter in Verschiebungen hin zu performativen Handlungen offenbaren. Durch das Zusammentreffen von Menschen entwickeln Protesthandlungen ihren Ereignischarakter zunächst dadurch, dass sie sich vor Zuschauer*innen zutragen und die Involvierten zur gleichen Zeit am gleichen Ort gemeinsam handeln. Diese leibliche Ko-Präsenz von Akteur*innen und Zuschauer*innen schafft spezifische Wahrnehmungssituationen und folglich je unterschiedliche Voraussetzungen hinsichtlich der konkreten Wahrnehmungsbedingungen von Protest. Eine theaterwissenschaftliche Analyse zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich an den entsprechenden Ereignissen vor ihrer medialen Repräsentation orientiert. Sie versucht die spezifische Ereignishaftigkeit von Protesthandlungen wieder zur Anschauung zu bringen und als facettenreiches und komplexes Zusammenwirken unterschiedlicher Bezugsebenen zu rekonstruieren. Ohne jeweils spezifische lokale Besonderheiten negieren zu wollen, die sich durch unterschiedliche Standorte, Beweggründe und Anliegen ebenso wie durch mannigfaltige kulturelle und verschiedenartige politische Rahmungen ergeben, kennzeichnet die gleichzeitige Anwesenheit von Akteur*innen und Zuschauer*innen an einem bestimmten Ort den Aufführungscharakter der angeführten Protestaktionen. In Anlehnung an den Aufführungsbegriff der deutschen Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte können Proteste als Aufführungen beschrieben werden, insofern damit Darbietungen von Körpern und Stimmen vor körperlich und stimmlich anwesenden Zuschauer*innen gemeint sind. Der Aufführungsbegriff enthält analytisches Potenzial und ermöglicht es bei der Analyse der politischen und ästhetischen Eigenschaften chorischer Proteste, Aspekte der Planung von Protest als Inszenierung und jene der Realisierung im Ereignis als Aufführung voneinander zu unterscheiden.52 Als Vorkommnis im öffentlichen Raum entsteht Protest nicht aus dem Nichts, sondern wird vor allem seiner Effekte willen produziert. Wenngleich im Zuge postmoderner Theorien auch für den Bereich des Sozialen die Relevanz spontaner Phänomene betont wird, lassen sich für Protestereignisse zum Teil aufwendige Planungsund Vorbereitungsphasen nachweisen. In deren Zentrum stehen Überlegungen, die das gemeinsame Auftreten regeln. Absprachen zu Abläufen, Formationen und Wegen beinhalten Handlungsanweisungen darüber, wie wirkungsvolles Vorgehen spezifi-
51 Ebd. Die Kursivierung im Zitat stammt hier vom zitierten Autor. Es wird im Folgenden darauf verzichtet, auf Hervorhebungen im Original gesondert hinzuweisen. Stattdessen wird so verfahren, dass in Zitaten ausschließlich eigene Hervorhebungen ausgewiesen werden. 52 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 327. Siehe dazu ausführlicher Kap. III 3.3.
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sche Aufmerksamkeiten provozieren kann.53 Diese organisatorischen Entscheidungen können die ästhetische Erfahrung eines Protestereignisses maßgeblich präfigurieren. Proteste beziehen Stellung und bieten ideengeleitete Perspektiven an, in denen besondere Aktivitäten hervor-, andere Betrachtungsweisen dagegen zurücktreten. Diese Prozesse sorgfältiger Vorbereitung und versuchter Steuerung lassen Protest als eine gezielte Inszenierungspraxis in den Blick rücken, an die sich die zum Teil künstlerischen Tätigkeiten der Auswahl, Kombination und Präsentation anschließen, um „Bewegungen in Erscheinung treten zu lassen, sie gegenwärtig zu machen.“54 In dem Maße, in dem politische Bewegungen erst durch ihre Inszenierung als solche in Erscheinung treten, meint Inszenierung hier vordergründig weniger eine Darstellungs-, als vielmehr eine Erzeugungsstrategie.55 Anders als im Bereich des Theaters, wo schöpferische Verfahren der Inszenierung auch heute noch überwiegend von Regisseur*innen ausgeführt werden, liegt bei Protestaktionen die Entscheidungskompetenz meist nicht im Verantwortungsbereich einer einzelnen Person. Bei der Auswahl künstlerischer und technischer Mittel werden in Protesten andere Steuerungsmechanismen offenbar, die generelle Fragen zu Abstimmungsverfahren pluraler Akteur*innen und Formen kollektiver Organisation evozieren. Auf welche Weise können gerade chorische Verfahren die Art der Inszenierung von Protesten modulieren? Ein theaterwissenschaftlicher Blick kann dabei helfen, die Kommunikation der politischen Intentionalität des Protestierens zu dekonstruieren und dechiffrieren, wie sie im Moment ihrer Inszenierung auf Festlegungen gewollten Auftretens zielt. Durch die Vergegenwärtigung der Theatralität dieser Situationen wird es möglich, die Praxis des Protestierens selbst neu zu verorten – etwa dadurch, dass gefragt wird, ob es sich bei diesen Chören um theatrale oder performative Geschehen handelt. Natürlich agieren Proteste als explizit ästhetische Praxis, insofern sie als Inszenierung ein „auffälliges Herstellen und Herausstellen einer Gegenwart“56 darbieten und diese Gegenwärtigkeit als historische Chance für Veränderungen ansehen. Unmittelbar ereignen sich Proteste allerdings erst, wenn Lautlichkeit, Körperlichkeit und Räumlichkeit politischer Protagonist*innen zu einem ganz konkreten Zeitpunkt performativ hervorgebracht werden. Gleichzeitig deutet sich an, dass die besondere Ereignishaftigkeit chorischer Protestverfahren nicht mehr nur durch die raum-zeitliche Beschränkung der Aufführung – jenen ephemeren, flüchtig konzentrierten Moment einer Begegnung Handelnder und Schauender – begründet werden kann. Im Gegenteil zeigt sich, wie Proteste heu-
53 Zu neueren Forschungsbeiträgen zu ,Aufmerksamkeit‘ als einem Phänomen menschlicher Intentionalität, sozialer Selektion und individueller Fokussierung siehe auch Müller, Jörn/ Niesseler, Andreas/Rauh, Andreas (Hrsg.), Aufmerksamkeit: Neue humanwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2016. 54 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 323. 55 Vgl. ebd., S. 324. 56 Martin Seel, „Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs“, in: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hrsg.), Ästhetik der Inszenierung: Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a.M. 2001, S. 48-62, S. 53.
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te eigene Mediatisierungen hervorbringen. Die Intensität der beschriebenen Protestszenen entsteht auch dadurch, dass sich Proteste nicht länger nur auf das Hier und Jetzt ihrer Aufführung beschränken. Die Streuung von Handyvideos, Fotos und Clips demonstriert, wie digitale Kommunikationskanäle neue Zielgruppen erreichen und größere Reichweiten erzielen. So weiten sich die Resonanzflächen heutiger Proteste maßgeblich aus, wodurch ein soziales Potenzial bisher unbekannten Ausmaßes entsteht.57 Durch die zusätzliche Flut audio-visueller Medienerzeugnisse in Folge von Protesten werden alternative Fakten publiziert, die Meinungsbildungsprozesse verändern.58 So entstehen distinktive und zum Teil autonome Informationsräume, die neue Gegenöffentlichkeiten generieren, in denen sich Ideen des Widerstands materialisieren.59 Filmische Reproduktionen von Protestereignissen werden im Internet zu einem vielfältigen Stimulus, der selbst wiederum Reportagen oder Filme über Protestbewegungen inspiriert.60 Während sich mit der Verschränkung zwischen sozialen Netzwerken, Mediatisierungen und Aufführungen neue Erfahrungen des Sehens und Bewertens eröffnen, die Konfigurationen des ursprünglichen Events grundlegend mit einschließen, fragt sich zunehmend, in welches Verhältnis die Mediatisierung von Protest zu seiner Aufführung tritt. Die Notwendigkeit für diese theaterwissenschaftliche Untersuchung schließt an die Virulenz dieser Fragestellung an. Sie liegt zudem in der Beobachtung begründet, dass es überaus fragwürdig erscheint, von politischen Bewegungen zu sprechen, ohne die konkreten Bewegungen der Körper der Protestierenden selbst zu thematisieren. Diese Arbeit versteht Protest hingegen als eine Form der sozialen Choreografie, die sich neben offensichtlich politischen Bezügen zugleich als eine Kunst der Bewegung in Zeit und Raum entäußert.61 In Folge rücken viel deutlicher die materiellen Dimen-
57 Wie der Fall von Bouazizis Selbstverbrennung belegt, werden immer mehr Menschen zu dokumentierenden Augenzeugen, die Ereignisse per Smartphone aufnehmen und ins Internet stellen. Der wachsende Einfluss von Mobiltelefonen, Online-Blogs und sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook wurde für die effiziente Koordination von Protesten entsprechend hervorgehoben. Siehe dazu Karlheinz Sonntag (Hrsg.), E-Protest: Neue soziale Bewegungen und Revolutionen, Heidelberg 2013; Paolo Gerbaudo, Tweets and the Streets: Social Media and Contemporary Activism, London 2012; Leistert, Oliver/Röhle, Theo (Hrsg.), Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld 2011. 58 Einerseits wurde betont, dass neue Soziale Medien staatliche Zensur und kontrollierte Medienkanäle gezielt umgehen können, andererseits auch kritisiert, dass ihr Einfluss von westlichen Kommentator*innen vergrößert werde, es sich bei Diensten wie Facebook oder Twitter um global agierende Unternehmen aus den USA handele, die ein Terrain für neue Manipulationen eröffneten. 59 Vgl. Cottle, Simon/Lester, Libby (Hrsg.), Transnational Protests and the Media, New York 2011, S. 293. 60 Vgl. We are Many. The Untold Story of the Biggest Protest in Human History, Regie: Amir Amirani (2014), Everyday Rebellion, Regie: Arash T. Riahi, Arman T. Riahi (2013). 61 Zum Begriff ,soziale Choreografie‘ oder auch social choreography, der das soziale Potenzial menschlicher Bewegtheit in Bezug auf die Organisation von Gruppen anwendet, siehe
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sionen politischer Bewegungen in den Blick, die sich beispielsweise im Fall von Besetzungen als tatsächliche Verdrängungen bemerkbar machen können. In der folgenden Analyse soll gezeigt werden, wie die Chor-Form aktuell weniger symbolhaft und repräsentativ eingesetzt wird und dafür das Chorische als Protestverfahren eine ganz eigene Ästhetik des Widerstands erzeugt.62 Gerade dabei gilt es den Begriff des Widerstands sowohl als politischen Terminus im Blick zu behalten als auch als ein dezidiert kinästhetisches Phänomen zu analysieren, dessen Wahrnehmung an konkrete Protestpraktiken gebunden ist. Mehr noch ist vorstellbar, wie chorische Protestverfahren durch die Produktivität irritierender Störungen selbst in Wissensordnungen intervenieren und dadurch maßgeblich die Neustrukturierung sinnlicher Wahrnehmungsweisen initiieren können. Als ein produziertes und produzierendes Ereignis versuchen Protesthandlungen Vorstellungen und Wahrnehmungen gezielt zu verändern.63 Verbunden mit dieser Wirkungsabsicht zielen Proteste auf die Produktion eigener Bedeutungen und Sinnangebote, auch indem sie ganz bewusst unterschiedliche Wahrnehmungsebenen ansteuern, sich einem Publikum vorsetzen, aufdrängen, sich präsentieren. Proteste stellen also Beiträge zu Situationen dar, in denen sie sich selbst als gestalterische Kraft entfalten, insofern sie Zustände durch ihr zutragendes Handeln verändern. Auf welche Weise können chorische Techniken die raumzeitliche Organisation von Protest variieren, um kulturelle Regime des Sehens und Hörens offenzulegen oder in Frage zu stellen? Eröffnen chorische Protestverfahren neuartige Wahrnehmungsräume, in denen alternative Rezeptionsweisen in Abgrenzung zu herkömmlichen möglich werden? Die sich anhand dieser Fragen offenbarende ästhetische Dimension von Protesten sollte unbedingt mit der künstlerischen und aktivistischen Infragestellung von Machtasymmetrien zusammengedacht werden. Von einigen vorgedacht werden Protestaktionen meist erst von einem Ensemble aus Menschen hergestellt oder umgesetzt und ereignen sich als adressierte Handlungen publikumsorientiert. Ganz entscheidend an der theatralen Konstruktion des Protests ist dabei, dass konkrete Wirkungsabsichten gänzlich abhängig von der Wahrnehmung von Zuschauenden sind. Gerade hierbei deutet sich an, wie der „Vorgang der Inszenierung immer Freiräume und Spielräume dafür offen [läßt], daß sich Nicht-
auch die praxisorientierten Forschungsprojekte des in Frankfurt a.M. basierten Institute of Social Choreography. 62 Während die Ästhetik seit Alexander Gottlieb Baumgartens Publikation Aesthetica (1750/1758) als Teildisziplin der Philosophie gilt, die sich mit den Künsten und dem Schönen beschäftigt, wird der Ästhetikbegriff in dieser Arbeit im etymologischen Sinne von Aisthesis als sinnliche Wahrnehmung und Erkenntnis verwendet. Von besonderem Interesse für die Konzeption einer neuen Ästhetik des Widerstands ist hier die Reorientierung zur ursprünglichen Bedeutung von Ästhetik als sinnlich vermittelter Wahrnehmung. Sie soll eine Annäherung an Wahrnehmungsweisen von Widerstand ermöglichen, die durch chorische Protestszenarien evoziert werden. 63 Siehe dazu Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, Hamburg 2010, S. 76: „Eine Begegnung, eine Entdeckung, eine breite Streikbewegung, ein Erdbeben: Jedes Ereignis produziert Wahrheit, indem es unsere Art, auf der Welt zu sein, verändert.“
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Geplantes, Nicht-Inszeniertes, Nicht-Vorhersagbares in der Aufführung ereignen kann […].“64 In ein deutliches Spannungsverhältnis zu Aspekten der Inszenierung treten Protesthandlungen, da sich ihre Ästhetizität also gerade nicht durch die Herstellung eines vorab geplanten Werkes realisiert. Im Gegenteil scheint es kaum möglich, konkrete Reaktionen oder unmittelbare Folgen von Protesten vorherzusagen. So wie sich die Dynamiken von Protestereignissen gewissermaßen der Steuerbarkeit entziehen, verweist die Ereignishaftigkeit des Protestierens unmissverständlich auf ihre Flüchtigkeit.65 Proteste stellen von Anfang an ergebnisoffene Ereignisse dar. Sie vollziehen sich als Erfahrungen, denen ein erhöhtes Maß an Kontingenz inhärent ist.66 Umso aussichtsreicher scheint es, Proteste selbst als Aufführungen zu untersuchen und zu fragen, auf welche Weise plurale Akteur*innen in gegenwärtigen Protestaktionen diese Unverfügbarkeit insbesondere durch den Einsatz chorischer Verfahren bewusst ansteuern. Für eine Beantwortung widmet sich die vorliegende Studie explizit der Wahrnehmung, Inkorporation und Inszenierung zeitgenössischer Proteste, denen sie sich durch den Fokus auf chorische Praktiken des Vorführens und Verkörperns von Widerstand zuwendet. Chor im Theater – Chor auf der Straße Vorstellungen gemeinsamen Handelns bündeln sich in Verlautbarungen politischer Sprechchöre, dem Bild choreografierter Kollektivkörperlichkeit oder dem Gefühl chorischer Vereinnahmung. Zwischen Theaterchören und politischen Chorformationen auf der Straße können deutliche Differenzen konstatiert werden. Der politische Chor auf der Straße hat nicht zwangsläufig mit dem dramatischen Chor der Antike zu tun, der im klassischen Sinn auf eine Figur im Drama verweist. Dennoch zeigt sich, wie sich Theaterregisseur*innen mit politischen Strategien ästhetischer Vereinnahmung auseinandergesetzt oder sich politische Bewegungen die Wirkungspotenziale der Chor-Form vielfach angeeignet haben.67 Mit Fokus auf die Relation dieser verschiedenen Formen chorischer Praxis, innerhalb derer die Theatralisierung öffentlichen Miteinanders ebenso wie Präsentationstechniken des Politischen untersucht werden können, kann der Chor zu einem Modell werden, mit dessen Hilfe sich kulturelle, diskursive wie künstlerische Protestverfahren analysieren lassen. Wenngleich eine unbestrittene Differenz zwischen dem Chor auf der Straße und dem Chor im Theater besteht, gilt es gleichermaßen, ihre Gemeinsamkeiten zu betonen. Die Relevanz des Chores ist dort auszumachen, wo in chorischen Aufführungen
64 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 327. 65 Hier deutet sich ein durchaus interessantes Paradoxon zeitgenössischer Protestaktionen an: Die oft betonte Einmaligkeit singulärer Protesthandlungen paradoxiert geradezu den drängenden Wunsch, bleibende Veränderungen anzustreben und politischen Einfluss auch dauerhaft auszuüben. Wenngleich Protesthandlungen keine Artefakte schaffen, zeigt sich aktuell jedoch, wie Protestierende mit Mitteln neuer Medientechnologien beständig daran arbeiten, Dokumente zu generieren, die als Impulsgeber über das einmalige Protestereignis hinaus wirken sollen. 66 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 53. 67 Siehe dazu ausführlicher Kapitel II 3.
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sowohl im Bereich des Politischen als auch der Kunst eine spezifische Ästhetik zu Tage tritt, die unmittelbar sinnlich wirkt. Wenn Menschen gemeinsam auftreten, sich koordiniert bewegen, chorisch singen oder sprechen, erzeugt das besondere Eindrücke. Einerseits faszinieren Chöre im Bereich der Musik oder des Theaters, wo sich am ausdrucksvollen Arrangement, komponierten Gleichklang oder militärischer Synchronizität erfreut wird. Assoziativ lässt der Chor dort an eine fest formierte Gruppe denken, die als identitäre Gemeinschaft kollektiv agiert und mit einer Stimme spricht. Andererseits erzeugen Chöre eigenwillige Energien, die eine Überlegenheit der Gruppe fühlbar machen und einschüchternde Wirkungen haben können.68 Die mit chorischen Auftritten verbundene Erfahrung einer größeren Einheit gegenüberzustehen, wirkt dann oft konfrontativ, überwältigend oder sogar angsteinflößend. Eine Ablehnung des Chores ist vielfach in der Befürchtung begründet, als Individuum in der übergeordneten Einheit des Kollektivs unterzugehen, sich als Einzelner darin zu verlieren. Diese den Chor auszeichnende Ambivalenz wurde im Bereich des Theaters überaus flexibel eingesetzt – galt das Theater doch als paradigmatisches Medium, um große Massen zu affizieren und in Erregung zu versetzen.69 Tatsächlich konnten Theateraufführungen Zuschauer*innen immer wieder stark erregen und protestartige Szenen auslösen.70 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts belegen Max Reinhardts AntikeAufführungen mit großen Chören, wie chorische Massenszenen sinnliche Reaktionen des Publikums – Überwältigung, Euphorie, Erschaudern – bewusst anvisierten. Die Okkupation des Zuschauerraums durch das sinfonische Prinzip der Reinhardt-Chöre deutet auf den Versuch einer bewussten Steuerung von Wirkungsmöglichkeiten hin, die sich auf Vereinnahmungen im politischen Bereich übertragen lassen. Die Wucht und Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die in Aufführungen des Chores im ersten Moment kaum einzuordnen sind, lösen in der Folge – im Gewahrwerden der Fremdeinwirkung – auch Widerstände hervor. Wenngleich es sich beim Theaterchor nicht vor-
68 Der Begriff der Energie wurde als unkonkrete Verschleierung tatsächlicher Vollzüge vielfach kritisiert. Kai van Eikels spricht mit Bezugnahme auf den Begriff der energeia von einem „seit Entdeckung der Massen von Kollektiven […] bis zur Unkenntlichkeit überschriebenen […] sozialnewtonistischen Begriff der kinetischen Energie.“ Kai van Eikels, Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, München 2013, S. 97. 69 Die Theaterhistoriografie zeigt, wie die Affizierung von Zuschauer*innen durch Theatervorführungen lange Zeit die Diskussion um Funktion, Nutzen und Gefahren des Theaters bestimmte. Siehe dazu auch Gustave Le Bon, Psychologie der Massen [Psychologie des Foules (1895)], Stuttgart 2008. Aus heutiger Sicht kann an Le Bonʼs Begriff der Masse, der der Tradition eines bürgerlich-elitären Konservatismus entstammt, deutliche Kritik geübt werden. Die Masse hatte für ihn keinen Bestand, war unsolidarisch und gänzlich von den von außen über sie hereinbrechenden Ereignissen abhängig. 70 Zu historischen Protestbeispielen im Theater und sogenannten Theaterskandalen, die bspw. nach den Uraufführungen von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) und Die Weber (1894) durch Zuschauer*innen ausgelöst wurden, siehe Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/Basel 1999, S. 264ff. Zu Protesten im Theater siehe auch Christopher Balme, The Theatrical Public Sphere, Cambridge 2014, S. 36-41.
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dergründig um eine Protestform handelt, scheinen den Rezeptionshaltungen gegenüber Chören deutliche Widerstandspotenziale bereits eingeschrieben zu sein. Mit dem Chor verbindet sich die Geschichte einer kulturhistorischen, politischen und ästhetischen Form, die zu den Anfängen der europäischen Zivilisation zurückreicht. Insbesondere die Geschichte des Chores im Theater demonstriert, wie er – angefangen von seinen kulturellen Wurzeln in der Antike bis zum aktuellen Gebrauch im zeitgenössischen Theater – jeweils neu zur Aufführung gelangte und ein ganz eigenes politisches Protestpotenzial entwickeln konnte. Da das Modell des Chores selbst in größere soziale Transformationen eingebunden war, zeigt sich umso deutlicher, wie chorische Formen nicht mehr das bewahrende Element einer kulturellen Praxis darstellten, sondern zu einem Motor für Wandel wurden, der diese Arbeit dazu führt, chorische Formen heute gerade als anti-identitär zu konzipieren. Seit der griechischen Tragödie verbindet sich mit chorischem Spiel erstens die Darstellung und Repräsentation einer kommunalen Sphäre, in der kultische Elemente, politisches Miteinander und soziales Zusammenleben eindrucksvoll zur Aufführung kamen. Durch die Jahrhunderte hindurch hat der dramatische Chor im Theater vielfältige Transformationsphasen durchlaufen, in denen er unterschiedliche Konzepte kollektiver Verortung materialisierte, die bis heute unsere Vorstellungen von Gemeinschaft prägen oder als Vorlage dienten, um sich von ihnen zu emanzipieren.71 Hinter den unterschiedlichen Stimmen, die immer wieder neu auszudrücken versuchten, was ,der Chor‘ sein könne, verbergen sich Projektionen zur Rolle der Gemeinschaft im jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext, Bewertungen des Kollektiven in Abgrenzung zum Individuellen und schließlich Urteile, Meinungen und Vorstellungen zum Theater selbst. Interessant ist der Chor für diese Untersuchung, weil er von Anbeginn durch einen sonderbaren Zwischenstatus gekennzeichnet war. Aus Bürger*innen der Polis zusammengesetzt bestand seine Aufgabe im antiken Drama einerseits darin, eine politische Realität ins Spielgeschehen zu integrieren. Andererseits stellte er als dramatis personae innerhalb der griechischen Tragödien ein Kollektivsubjekt dar, das im Rahmen künstlerischer Darstellungen auf der Bühne im Singular angesprochen wurde. Dieser Zwitterstatus des antiken Chores zeigt sich daran, dass er von Anfang an zwar fester Bestandteil der dramatischen Handlung war, in deren fiktionaler Identität jedoch nie ganz aufgehen konnte. Eingebunden in ein kultisches System, dessen zentrale Elemente Maske, Gesang und Tanz waren – Utensilien, Mittel und Verfahren, die in auffälliger Weise in gegenwärtigen Protesten wieder Anwendung finden – offenbart die Praxis des antiken wie zeitgenössischen Chores zugleich, dass er „wirklicher ist als (ab-)bildende Kunst“.72 Der Chor verweist zweitens auf die politische Verbindung zwischen der Darstellung kollektiver Körperbilder und gesellschaftlicher Ordnungen, an die sich Fragen der Identität und politischer Repräsentation anschließen. In chorischen Verbünden kann sich solchermaßen eine Sehnsucht nach Gemeinschaft ausdrücken. Dem
71 In meiner Magisterarbeit habe ich mich bereits intensiver mit der Transformation des antiken Chores beschäftigt. Vgl. Stefan Donath, Die Transformation des antiken Chores als Modell kultureller Identitätskonstruktionen, unveröffentlichte Magisterarbeit, Berlin 2011. 72 van Eikels, Kunst des Kollektiven, S. 107.
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Wunsch nach Zugehörigkeit kann der Chor eine realisierbare Form geben. Anhand der je spezifischen Chor-Form, die immer auch Relationen zu anderen herstellt, werden an der Schnittstelle von Bewegung, Gesellschaft und Politik Selbstbilder gesellschaftlicher Verortung ablesbar. Etwa, wenn sich in den Sprech- und Bewegungschören in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tänzerische Impulse mit Kräften kultureller Bewegungen verbinden. Mit dem Einsatz chorischer Formen wird in dieser Zeit durch kulturpolitische Experimente bewusst versucht, politisch motivierte Vergemeinschaftungen zu provozieren.73 Chorische Formen stoßen wie Feste, Spektakel, politische Versammlungen, Rituale und Sportwettkämpfe insbesondere in den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts auf das gewaltige Interesse der historischen Theater-Avantgarde, da sie neuartige Erfahrungen und temporäre Transformationen ermöglichen, wie sie in konventionellen Theateraufführungen dieser Zeit vermisst werden.74 In Europa kann der Chor exemplarisch herangezogen werden, um zu zeigen, wie durch Einsatz chorischer Formationen im Bereich von Kunst und Politik theatrale Gemeinschaftsbildungen vorangetrieben werden. Im Rahmen von Masseninszenierungen und rauschartigen Vergemeinschaftungsfeiern lassen sich angefangen von den Arbeitermassespielen der Sozialist*innen über die Revolutionsspektakel der Kommunist*innen zahlreiche Beispiele ausmachen, in denen versucht wird „vorab trainierte und disziplinierte Chöre (Sprechchöre, Gesangschöre und/oder Bewegungschöre) in Kontakt mit der zunächst relativ ungeordneten Menge der übrigen Teilnehmer der Aufführung zu bringen.“75 Mit der Diskreditierung des Gemeinschaftsbegriffs durch die Nationalsozialist*innen wurde der Chor in die Nähe zu Phänomenen der Volksgemeinschaft, Massenästhetik, Gleichschaltung und Ausgrenzungspolitik des Rassismus gerückt.76 Faschistische Chöre stehen seitdem für ein extrem affirmatives Chor-Modell, bei dem es wie Warstat weiter ausführt neben dem Mechanismus der Identifikation zusätzlich auf die Herstellung eines physischen Gleichtakts ankam: „Wichtig war, dass sich der Zuschauer an den Rhythmus der Chöre gewöhnte, diesen ähnlich adaptierte, körperlich mitvollzog und auf diese Weise nach und nach an der Gesamtbewegung partizipierte. Die Synchronisierung der Körper galt als der entscheidende Schritt in einem komplexeren Wirkungszusammenhang: Hat man mit dem Rhythmus die homogenen, aktiven
73 Zu „Bewegungschören“ siehe ausführlicher Kap. II 3.1.2. 74 Siehe Erika Fischer-Lichte, Theatre, Sacrifice, Ritual: Exploring Forms of Political Theatre, London/New York 2005, S. 1-204. 75 Matthias Warstat, „Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe. Theatrale Gemeinschaftskonzepte vor und nach 1968“, in: Kreuder, Friedemann/Bachmann, Michael (Hrsg.), Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968, Bielefeld 2009, S. 13-25, S. 18. 76 Zur Instrumentalisierung des Chores durch Nationalsozialist*innen siehe intensiver Fischer-Lichte, Theatre, Sacrifice, Ritual, S. 122-158; Mischa Delbrouck, Verehrte Körper, verführte Körper. Die Olympischen Spiele der Neuzeit und die Tradition des Dionysischen, Tübingen 2004; Evelyn Annuß, „Inszenierungen des Kollektivsubjekts im Thingspiel“, in: Friedemann Kreuder (Hrsg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld 2012, S. 507-517.
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und dominanten Körper des Chores gleichsam in sich aufgenommen, dann ist man auch eingenommen für die politischen, sozialen und sonstigen Besetzungen, die mit diesen inszenierten Körpern verbunden sind.“77
Der Faschismus des Chores, der zur neuerlichen Voraussetzung für Widerstand werden kann, begründet seine diktatorischen und anti-demokratischen Züge dort, wo das Individuum innerhalb einer autoritären Führungsstruktur und durch die manipulative Instrumentalisierung von Synchronisierungs- und Rhythmisierungsversuchen seine Selbstbestimmung verliert, in der synchronisierten Masse untergeht oder sich für eine klar abgegrenzte, identitäre Gemeinschaft hingibt. Heute kommen chorische Verfahren in einem anderen historischen Dispositiv und unter gänzlich anderen Vorstellungen von ,Identität‘ – zum Teil gerade in Opposition zu politischen Kampfbegriffen oder Vereinnahmungsversuchen der Chor-Idee – zur Aufführung.78 Gegenwärtige Konzeptionen lehnen die Idee ab, dass es sich bei Identität um eine abgegrenzte, stabile, kompakte und einnehmbare Ganzheit handeln könnte.79 Dennoch lösen Chöre als nichtsprachliche Referenten durch ihre betonte Kollektivkörperlichkeit auch weiterhin Identitätsfragen aus: Erfordert ein Eintreten in die große Verbindung des Chores, dass sich mit dem Einreihen in reale Vielheiten das Individuelle auflöst? Wie können sich Ordnungen des Zusammenseins durch die Anzahl ihrer (Mit-)Glieder selbst vermitteln? Ab welcher Größe zerfallen sie? An Formationen des Chores schließen sich solchermaßen Fragen an, die Kategorien wie Menge, Masse und Zahl mit der Organisation des Kollektiven verbinden.80 Überaus große Faszination rufen im zeitgenössischen Theater drittens schließlich die spezifischen Wirkungsästhetiken und performativen Qualitäten chorischer Verfahren hervor: die Macht der Sprache, die es vermag (Kollektiv-)Subjekte durch den Diskurs erst zu schaffen, aber auch die Unabgeschlossenheit der Sprache und das Handlungsvermögen des Chores als performative Kraft, die Imitationsstrukturen offenlegt und damit die Chance bietet, die Instabilität von Diskursen durch die Hinterfragung von Selbstbeschreibungen zu vergegenwärtigen.
77 Warstat, „Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe“, S. 18. 78 Entsprechend sind Aufführungen des Chores heute nicht mehr mit der Hoffnung verbunden, „dem Subjekt eine Identität gleichsam von außen injizieren bzw. einverleiben zu können, sei diese nun klassen-, rassen-, oder national fundiert.“ Ebd. 79 Zum Begriff ,Identität‘ siehe auch Judith Butlers Konzept der ,Performativität‘, mit dem sie eine kulturell vorherrschende Heteronormativität aufdeckt und die Binarität dieser Zweigeschlechtlichkeit anhand der Frage dekonstruiert, wie und wodurch diese „heterosexuelle Matrix“ aufrecht erhalten wird. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter [Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity (1990)], Frankfurt a.M. 2003. 80 Zum neuerlichen Interesse an Formen des Kollektiven, einer Re-Aktivierung bzw. Erneuerung alter Formen gemeinsamen Handelns siehe auch Gesa Ziemer, Complicity: New Perspectives on Collectivity, Bielefeld 2016. Dass der Begriff des Kollektivs aktuell äußerst vielgestaltig an die Stelle traditioneller Gruppen- und Gemeinschaftskonzepte tritt, dokumentiert seit 2015 zusätzlich die Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft, die als Forum der gleichnamigen und noch jungen Disziplin den Fokus auf das Kollektiv als Kulturträger legt.
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Inspiriert durch das Chor-Theater Einar Schleefs kommt es in den 1990er Jahren im Zuge einer Ausweitung postdramatischer Zugänge zur wiederholten Auseinandersetzung mit dem antiken Chor und infolgedessen zur Etablierung neuer chorischer Theaterformen.81 Einerseits fällt im Gegenwartstheater etwa in den Inszenierungen von Michael Thalheimers Medea (2006) oder Dimiter Gotscheffs Die Perser (2006) auf, dass auf den Chor im klassischen Sinne mehr und mehr verzichtet wird. Andererseits zeigt Nikolaus Stemanns Jelinek-Uraufführung von Die Schutzbefohlenen (2014), in der ein Flüchtlingschor auftritt, wie die Chor-Form weiterhin dazu dient, Vielstimmigkeit auf der Bühne zu präsentieren und sich das Theater als Institution aktuell selbst mit destabilisierenden Kräften, Protestbewegungen oder Protestierenden zu verbinden sucht.82 Inszenierungen von Robert Wilson oder Christoph Marthaler belegen, wie wiederum musikalische Verfahren chorischer Ensemble in den Vordergrund rücken.83 Theaterarbeiten wie Claudia Bosses Die Perser mit einem „Chor der 500“ (Genf u. Wien 2006, Braunschweig 2008) oder die verschiedenen Chorprojekte von Volker Lösch mit Laiendarsteller*innen führen vor, wie mit der Chor-Form neue partizipatorische Ansätze angestrebt werden.84 Das Performance-Label Ligna präsentiert im Hamburger Radioballett (2002) und Tanz aller (2013) das sich bewegende Kollektiv als eine Figur im Werden. Andere Regiekollektive wie Gob Squad, She She Pop oder Rimini Protokoll nutzen chorische Verfahren, um kollaborative Formen sozialer Teilhabe zu erproben und eigene Arbeitsweisen zu reflektieren. Zuletzt zeigen überwältigende Chor-Inszenierungen wie Marta Górnickas Hymne an die Liebe oder Ulrich Rasches Sieben gegen Theben/Antigone (beide 2017), wie der Chor auf sehr eindringliche Weise keine Instanz mehr ist, um eine Wirklichkeit von draußen ins Theater zu kopieren. Statt als nachgebildete Darstellung erzeugt der Chor eigene Welten, die das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft in bester Weiterentwicklung der Schleefschen Chor-Ästhetik neu vermessen. Schließlich verdeutlichen auch René Polleschs Auseinandersetzungen mit dem Chor,
81 Zur Vielfalt und Relevanz chorischer Spielformen ab den 1990er Jahren siehe auch Matthias Dreyer, „Verdrängtes Kollektiv – Zur Wiederkehr des Chors“ in: Ders, Theater der Zäsur: Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren, Paderborn 2014, S. 177236; Hajo Kurzenberger, „Chorisches Theater der neunziger Jahre“, in: Ders., Der kollektive Prozess des Theaters: Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität, Bielefeld 2009, S. 84-102; Günther Heeg, „Chorzeit. Sechs Miniaturen zur Wiederkehr des Chors in der Gegenwart“, in: Theater der Zeit, Nr. 4 (2006), S. 19-23. 82 Aktuell wird dies am Engagement vieler Stadttheater und ihrer Solidarisierung mit Geflüchteten deutlich. Der Impuls, sozial Benachteiligten eine Bühne zu geben und deren Status dort neu zu verhandeln, ist eng mit der Idee des Theaters als Geburtsstätte der Demokratie verbunden. Dabei scheint es sich weniger „um einen neuen politischen Ansatz, als vielmehr um Versuche einer Rückbesinnung auf dieses mit dem Theater eng verknüpfte Moment des Politischen zu handeln.“ Benjamin Wihstutz, Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater, Zürich/Berlin 2012, S. 16. 83 Vgl. David Roesner, Theater als Musik: Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen 2003. 84 Zur Kritik partizipatorischer Ansätze siehe Markus Miessen, Albtraum Partizipation, Berlin 2012.
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wie Praktiken des Chorischen in aktuellen Theaterproduktionen dazu genutzt werden, um Reflexionen über Subjektkonstitutionen auszulösen oder mit Kritik am spätkapitalistischen und post-industriellen Neoliberalismus verbunden zu werden. Das große Interesse zeitgenössischen Theaters am Chor begründet sich unter anderem dadurch, dass er als antipsychologisches Mittel insbesondere für ein Theater geeignet scheint, das „die Ablösung vom dramatischen Paradigma der (psychologischen) Rollenverkörperung und des Individuums behauptet und zu realisieren sucht.“85 Der Chor erleichtert das Bedürfnis, zum einen verstärkt auf das stringente Erzählen fiktiver Geschichten zu verzichten; und zum anderen intensiver mit dem eigenen Gegenstand, dem Theater als sozialer Situation, zu experimentieren. Auf diese Weise soll dem Politischen im Theater dort nachgespürt werden, „wo die Leerstelle politischen Theaters ist: In der Situation des Theatermachens selbst, in seiner Produktion, Inszenierung und Rezeption.“86 Ein Ergebnis all dieser experimentellen Annäherungen ist heute sicherlich die Erkenntnis, dass sich im Zuge postdramatischer Zugänge die Relevanz des Chores und das Interesse an der Chorfigur grundlegend verändert haben. Ganz deutlich kann diese Akzentverschiebung an der Differenz zwischen dem Chor als dramatischer Rollenfigur und dem Chorischen als Organisationsprinzip pluraler Akteur*innen pointiert werden, die im Verlauf dieser Arbeit immer wieder auftauchen wird – auch durch zusätzliche Attribute und Charakterisierungen des Chorischen, letztlich die Spezifizierung eines Modells des Chorischen. Im Anschluss an die vielfältig postdramatischen Zugänge kann an dieser Stelle bereits konstatiert werden, dass in chorischen Verbünden zunehmend Wahrnehmungserlebnisse in Abgrenzung zur geschlossenen Chor-Form betont werden. Heute tritt der Chor „kaum mehr in formierter Gestalt oder als ,lebendige Mauer‘, sondern als darstellungsreflexive Figur in Bewegung“ auf.87 Durch die Betonung chorischer Vollzüge innerhalb des Chores erscheint das Chorische nicht mehr als souveräne Volksfigur, sondern als dessen Kehrseite.88 Während klare Chor-Gruppen als raumbeherrschende Formationen leichtfertig die Aufmerksamkeit eines Publikums erregen, Unbehagen auslösen, Diskussionen erzwingen oder politische Ansprüche markieren,89 werden Identitätskonzepte aus unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Richtungen zunehmend hinterfragt. Es mehren sich jene Stimmen, die wie Lars Distelhorst darauf hinweisen, dass sich mit jener „diskursiven Dezentriertheit“ der Subjekte zugleich die Chance eröffnet, eine „Aner-
85 Jenny Schrödl, Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld 2012, S. 84. 86 Jan Deck, „Politisch Theater machen – Eine Einleitung“, in: Ders./Sieburg, Angelika (Hrsg.), Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, Bielefeld 2011, S. 11-28, S. 14. 87 Evelyn Annuß, „,Fähren statt Frontex‘ nach dem ersten europäischen Mauerfall. Über Volksfiguren und deren Kehrseite“, in: Dies. (Hrsg.), „volksfiguren“, in: Maske und Kothurn, 60. Jg., Nr. 2 (2014), S. 7-17, S.13. 88 Vgl. ebd., S.16. 89 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 165.
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kennung derivater Identitäten“ zuzulassen.90 Nicht mehr nur im zeitgenössischen Theater, sondern auch in Straßenprotesten werden die Anstrengungen, derer es zur Bildung chorischer Verbünde bedarf, mehr und mehr ausgestellt. So werden zunehmend Prozesse der Chor-Werdung thematisiert, die als fragile, unbeständige Form von Sozialität erscheinen. Protestchöre – die Fokussierung chorischer Handlungsvollzüge des Protests Protestchöre können als eine außeralltägliche Sozialbeziehung definiert werden, die aus dem freiwilligem Zusammenschluss heterogener Akteur*innen erwächst. Mit dem Begriff ,Protestchor‘ bezeichne ich im Folgenden die zumeist mediatisierte Performance temporärer Kollektivformationen, die eigene Raum-, Zeit-, und Körpererfahrungen produziert. Protestchöre entstehen, wenn sich Menschen versammeln, um als „provisorische und plurale Form der Koexistenz“ aufzutreten.91 Als affektive Erscheinungen begreifen Protestchöre das Situative als verändernde Kraft, wobei sie elementar an die Wahrnehmung von Zuschauenden und Teilnehmenden gebunden sind. Den Überlegungen von Doris Kolesch zu einem Theater der Emotionen folgend vollziehen sich Protestchöre auch meiner Definition nach „als ein theatrales Geschehen, als prozessuales Ineinander von Vorführung und Beobachtung, von Verkörperung und (bewußter oder unbewußter) Gestaltung, als Verschränkung von diskursiven und körperlich-materiellen Praktiken.“92 Vielfach zeigt sich, dass Protestchöre in Form verletzender Rede selbst Gewalt erzeugen und nicht a priori demokratische Formationen darstellen. Bis zuletzt demonstriert die Selbstbenennungspraxis diffuser Gruppierungen wie Pegida („Wir sind das Volk“), wie Einwander*innen von der gültigen Vorstellung der Nation ausgeschlossen werden sollen.93 Der Einsatz chorischer Protestverfahren beschränkt sich keineswegs nur auf bürgerliche Akteur*innen.94 Rechte Aufmärsche mit NaziSprechchören, die gegen Geflüchtete oder Migrant*innen Stimmung machen, bele-
90 Lars Distelhorst, Umkämpfte Differenz. Hegemonietheoretische Perspektiven der Geschlechterpolitik mit Butler und Laclau, Berlin 2007, S. 10 u. 17. 91 Judith Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016, S. 25. 92 Doris Kolesch, Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV., Frankfurt a.M./New York 2006, S. 49. 93 Zum Bewegungsphänomen Pegida siehe Rehberg, Karl-Siegbert/Kunz, Franziska/Schlinzig, Tino (Hrsg.), Pegida – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und „Wende“-Enttäuschung, Bielefeld 2016; Marg, Stine/Trittel, Katharina/Schmitz, Christopher/Kopp, Julia/Walter, Franz (Hrsg.), NoPegida: Die helle Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2016. 94 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.), Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2016, S. 11. Abrufbar unter: https://www.bmwi. de/Redaktion/DE/Publikationen/Neue-Laender/jahresbericht-zum-stand-der-deutschen-ein heit-2016.pdf?__blob=publicationFile&v=30 (zuletzt aufgerufen 06.05.2018). Der Bericht hebt hervor, dass sich Fremdenhass in Ostdeutschland verfestigt und Grenzen zwischen bürgerlichen Protesten und rechtsextremen Agitationsformen merklich verschwimmen.
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gen vielmehr, wie die affirmative Chor-Form gerade auch von extremen politischen Interessengruppen vereinnahmt wird.95 Inwieweit sich aus dem Gebrauch chorischer Strategien demokratische Schlussfolgerungen ergeben, lässt sich anhand von Fragen der Partizipation oder des Ausschlusses nur am konkreten Fall nachvollziehen. Dazu muss untersucht werden, ob es Protestchören gelingt, in Auseinandersetzung zu selbstreferenziellen Prozessen der Selbstbestimmung oder Gefolgschaft zu treten. Durch den analytischen Blick auf chorische Sprechweisen soll es möglich werden, die in Protesten geäußerte Empörung nicht nur als minderwertige, chaotische und potenziell gefährliche Phänomene aufzufassen. Vielmehr eröffnet das Zusammendenken von Protest und Chor die Möglichkeit, chorische Protestereignisse jenseits der Dichotomien von Emotionalität und Rationalität neu zu untersuchen, ohne Interdependenzen dabei negieren zu müssen. In Protestszenarien dienen Chöre der wiederkehrenden Darstellung öffentlicher Auseinandersetzung, ihrer räumlichen Vermittlung und auch dazu, Möglichkeitsformen des Sozialen zu diskutieren. Die drei Schilderungen chorischer Proteste in Stuttgart, Kairo und New York haben zu Beginn jedoch bereits gezeigt, wie unterschiedlich sich Protestchöre zusammenfinden. Auf welche Weise chorische Verfahren in Protesten angewendet und instrumentalisiert werden, variieren mitunter massiv. Im Wissen darum und unter der berechtigten Annahme, dass sich an Proteste auch im 21. Jahrhundert ein Kampf um Bilder, Gesten und ihre Deutungshoheit knüpft, fragt diese Arbeit, welcher Wandel von Proteststrategien sich am Einsatz chorischer Mittel abzeichnet. Eine Auseinandersetzung mit dem Gebrach chorischer Formen in den beschriebenen Protestszenarien aus Stuttgart, Kairo und New York City, Beispielen von drei verschiedenen Kontinenten, verspricht für die Beantwortung besondere Impulse. Die Auswahl der sehr unterschiedlichen Beispiele deutet an, dass diese Arbeit keinen systematischen Vergleich von Fallbeispielen verfolgt. Dagegen verweist die Heterogenität der ausgewählten Protestereignisse darauf, dass jedem Beispiel eine eigene Funktion zukommt: Die Proteste gegen „Stuttgart 21“ präsentieren ein betont regionales Protestereignis, das als europäisches Beispiel große mediale Aufmerksamkeit vor allem in Deutschland erregte und nicht vordergründig in die Dynamik der europäischen Finanzkrise involviert war. Die Szenen „Stillen Widerstands“ in Ägypten fokussieren Proteste, die noch vor dem Ausbruch der ägyptischen Revolution im nordafrikanischen Raum stattfanden. Dadurch sollen Protestformen gewürdigt werden, die sich unter großem persönlichen Einsatz jenseits massenmedialer Berichterstattung ereigneten. Mit Occupy Wall Street rückt dann wieder eine Protestbewegung in den Blick, die zu einem weltweiten Phänomen wurde und daher spannende Vergleiche über kulturelle Grenzen hinweg erlaubt. Bei allen drei Beispielen gehe ich davon aus, dass sie generelle Reflexionen ermöglichen, die über den Befund rein regionaler Unmutsäußerungen hinausgehen. Gerade die Tatsache ihrer Medieneinbettung gibt einen gemeinsamen Rahmen vor, der das Argument kulturspezifischer Besonderheiten relativiert und Proteste zu Beginn
95 Formulierungen wie „Wertegemeinschaft“, „Gemeinschaftserlebnis“ oder „gemeinsame Spaziergänge“ verweisen im Vokabular extremer politischer Gruppierungen auf Strategien vereinnahmender Kollektivierung. Auch bei Autonomen oder linksradikalen Demonstrationen ertönen Antifa-Sprechchöre.
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des 21. Jahrhunderts vergleichbar macht. Mit den Fallstudien wird darüber hinaus die Absicht verfolgt, Kritik an einem Chor-Modell der Repräsentation zu üben, das die Chor-Form vordergründig dazu nutzt, einen Eindruck der Partizipation zu erzeugen, das in Wahrheit die ästhetische Wirkung sinnlicher Überwältigung allerdings über den Prozess der Teilhabe stellt. Daneben fokussiert diese Arbeit in jeder Fallstudie einen besonderen Aspekt chorischer Materialität: Als Verlautbarungen erzeugen Protestchöre wie in Stuttgart sprachliche Hervorbringungen, die als kollektive Artikulationen einen stark affektiven Charakter entwickeln oder als heftig rhythmisierte Affektgesten hervortreten. Der Protestchor arbeitet beständig an einem Wirken von und um Aufmerksamkeit, das innere Einstellungen in wirkungsmächtige Ausdrucksformen transformiert.96 So wie schon Aristoteles in seiner Rhetorik darlegte, dass die Macht der Rede der Seelenführung ihrer Zuhörer*innen diene, kommt es für den Protestchor als Sprachkörper entsprechend darauf an, „bei den Hörern Anklang zu finden, ihre Affekte anzusprechen und sie zum gewünschten Verhalten zu bewegen.“97 Als arrangierte Kollektiv-Körper betonen Protestchöre etwa in den stillen Widerstandsaktionen in Kairo eine spezifische Körperlichkeit der Ko-Präsenz, die als intensive Gegenwart kollektiver Anwesenheit einnehmende Wirkungen entfaltet und ein Gefühl von Nähe erzeugen kann.98 Durch besondere Formen der Partizipation vermögen Protestchöre Gemeinschaftlichkeit sinnlich zu vermitteln und während der Protestereignisse sogar herzustellen. Immer wieder werden jedoch auch Brüche offenbar, zerfällt das komplexe Gefüge chorischen Protests, präsentiert sich der Chor aus Protestierenden als unvollkommene Einheit, die befremdliche Reaktionen evoziert oder selbst als gesteigerte Mobilität einer corporealen Bewegtheit von Menschen erfahren wird.99 Der Chor kommt neben metaphorischen Bezügen also ganz konkret dort ins Spiel, wo es um die Formierung, Formgebung und Formung von Protest, das physikalische und physische Moment von Bewegungen geht. Protestchöre als theatrale räumliche Gefüge zu bestimmen, heißt etwa beim chorischen Kommunikationsverfahren des „Human Mic“, weniger einzelne Individuen in den Blick zu nehmen, als vielmehr die Verbindungen von Menschen, ihre Bündnisse und Konstellationen als komplexe Figurationen des Kollektiven. Wirkungsvolle Qualitäten können dort lokalisiert werden, wo sich das Kollektive in einem Spannungsfeld zwischen Verbundenheit und Unverbundenheit als aktionistisches Konnektiv einstellt, als momenthaftes Zusammenkommen vieler Einzelner. Der Begriff der Figuration ist für das Untersuchungsfeld chorischer Protestformen so zentral, da er
96 Bernhard Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M. 2014, S. 18. 97 Ebd., S. 17. 98 Zum Körper als analytischer Basiskategorie des Sozialen siehe Stephanie Stadelbacher, Die körperliche Konstruktion des Sozialen: Zum Verhältnis von Körper, Wissen und Interaktion, Bielefeld 2016. 99 Zum Begriff ,Corporeality‘ siehe Susan Leigh Foster (Hrsg.), Corporealities. Dancing Knowledge, Culture and Power, London/New York 1996; Ann Cooper Albright, Engaging Bodies. The Politics and Poetics of Corporeality, Middletown 2013.
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als Bewegungsfigur tänzerische Elemente aufnimmt und die Frage aufwirft, inwiefern das Chorische in den Protesten als soziale Choreografie beschreibbar wird.100 Wie gezeigt werden soll, verweisen chorische Protestformen zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf neue Formen kollektiver Organisation, die eine Teilnahme nicht mehr zwangsläufig an die direkte Partizipation binden, sondern auch distanziertere Haltungen ermöglichen. Der individuelle Einfluss kann dementsprechend als Bewegungsbeitrag zu einer kollektiven Dynamik imaginiert werden, die alte Denkmuster des Kollektiven neu anordnet und mit dem Wiedererlangen der Handlungsfähigkeit zivilgesellschaftlicher Akteur*innen in Verbindung gebracht werden kann.101 Chorische Protestformen deuten dergestalt eine Entwicklung an, in der sich der Fokus von Akteur*innen, wie sie die politische Philosophie hinsichtlich ihrer Machtstrukturen und Repräsentationsformen bisher analysiert hat, von starken Kollektiven wie „Staat“, „Nation“ oder „Volk“ auf institutionell nicht gebundene Protagonist*innen der Zivilgesellschaft verschiebt. Abseits regulärer Institutionen geraten dagegen kulturelle Praktiken, statt der Chor-Form die Praktiken des Chorischen in den Blick, die übergeordnete Strukturen verlassen und zeigen, wie jene alternativen Umgangsformen neue Freiräume anstreben. Die Auswahl der eingangs eingeführten Beispiele führt vor Augen, dass das Interesse dieser Arbeit eindeutig auf Akteur*innen chorischen Protests liegt, die überwiegend friedlich agieren und Gewalt als Handlungsoption einstweilen ablehnen. Durch gezielten Blick auf chorische Verfahren sollen innerhalb gegenwärtiger Protestszenarien gerade jene fluiden Formationen in den Blick rücken, die sich durch wechselnde, zum Teil sogar gegensätzliche Akteur*innen zusammensetzen. Um deutlicher die vielfältigen Kommunikationsprozesse im Chor zu akzentuieren, soll die Rede vom ,Chorischen‘ stärker die politischen Qualitäten kontinuierlicher Abstimmung innerhalb des Chores betonen, die als nicht-identitäre, unabgeschlossene Handlungen kein Abbild eines Zustands festschreiben, sondern unter der bildlichen Oberfläche ,Chor‘ eine innere Lebendigkeit, potenzielle Entzweiung und Streitbarkeit erhalten. Ein Denkmodell des Chorischen soll ermöglichen, in Protesten diese auf verschiedene Interaktionen Bezug nehmenden Verfahren zu lokalisieren und genauer untersuchen, auf welche Weise sie in Prozessen kollektiver Kooperation neu erprobt werden. Dadurch verschiebt sich der Fokus auf die Organisation pluraler Akteur*innen, die Widerstand nicht mehr als offensichtliche Oppositionshaltung,
100 Zur Begriffsbestimmung der Figuration siehe Kolesch, Theater der Emotionen, S. 95: „Die konkrete Figur, die aus dem konfigurativen Spiel von Vorder- und Hintergrund, von Kontur und Fond, von Identität und Differenz, von Form und Bewegung entsteht, und die sich auf die Erscheinungsform der menschlichen Gestalt oder der Objekte im Raum ebenso bezieht wie auf rhetorische oder visuell-graphische Formen, wird in der Figuration dynamisiert, transformiert und in ein neues zeitliches wie räumliches Verhältnis gebracht.“ 101 Siehe dazu auch van Eikels, Kunst des Kollektiven, S. 11: „Aus dem Schatten eines der Wirklichkeit aufgezwungenen oder abgerungenen Kollektiven tritt dieses Kollektive, das zur Wirklichkeit gehört. Ich muss nicht entscheiden, ob ich im Kollektiv oder allein handle; ich kann entscheiden, welche Wendungen ich kollektiven Dynamiken mit meinem Handeln geben will.“
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sondern durch das Chorische selbst hervorbringen. Die politische Relevanz, die Protestszenarien unterstellt wird, realisiert sich dabei als ästhetische Erfahrung. Das Chorische zielt auf die evidenten Tatbestände des Protests und enthält analytisches Potenzial. Die Auseinandersetzung mit der spezifischen Materialität, Medialität, Semiozität und Ästhetizität von Protestchören soll dazu beitragen, chorische Formen des Protests genauer zu bestimmen und darunter koordinierte Körperbewegungen, dramatisierte Bewegungsmodi, organisierte und organisierende Dynamiken, abgestimmte Bewegungsfolgen, inszenierte Raumanordnungen, rhythmisierte, relationale oder resonierende Kompositionen, konzentrierte und zerstreute Choreografien, heterogene und hybride Erscheinungsbilder sowie lautliche Hervorbringungen und stimmliche Gruppenarrangements zu unterscheiden. Als heuristisches Hilfsmittel ermöglicht das Chorische, noch genauer jene spezifische Gegenwärtigkeit von Protest zu fokussieren. Prozesse der Verkörperung rücken dann ebenso ins Zentrum wie Techniken zur Erzeugung von Präsenz-Effekten. Unter Rekurs auf Präsenz-Konzepte der Theaterwissenschaft soll es am Beispiel des Protestchors möglich werden, die spezifische Gegenwärtigkeit von Protestereignissen – physische Intensitäten, Atmosphären, die Performativität des Protestchors als Interdependenz zwischen Bewegung und politischer Programmatik – in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit als ästhetische Qualität zu analysieren. Forschungsstand und Weiterentwicklung Diese Arbeit möchte die theatralen Praktiken des Protestierens und die politische Ästhetik chorischer Auseinandersetzung zusammendenken, indem sie zum einen Gedanken zu Theater und Performance als Matrix politischer Reflexionen nutzt. Zum anderen zieht sie den Chor als ein ganz konkretes kulturelles Konzept für die Analyse von Protestereignissen heran. Im Zusammenhang mit dem gegenwärtig sehr intensiven Interesse an Kooperationsformen, Partizipationsprozessen und Versammlungsarten und der Betonung der affektiven Dimensionen politischer Mobilisierung im Zuge einer geisteswissenschaftlichen Re-Lektüre von Elias Canetti102 folgt diese Untersuchung der wissenschaftlichen Faszination für kollektive Prozesse der Steuerung. Im Zeitalter globaler Bewegungen, die die Beständigkeit von Grenzen mehr und mehr in Frage stellen, werden auch in den Wissenschaften Differenzierungen zwischen den Disziplinen fortwährend neu hinterfragt. Zugleich rückt die Beziehung zwischen Politik und den darstellenden Künsten immer wieder dort in den Fokus, wo im Akt der Performance verstärkt politische Qualitäten hervorgehoben oder performative Dimensionen politischen Handelns betont werden. Die Begeisterung an kollektiven Bündnissen – wahlweise als Kollaboration in den Künsten oder Bürgerinitiative im Sozialen – scheint auch deshalb so groß, weil sich an neuartige Organisationsformen, die in zahlreichen Bereichen von Gesellschaft, Kunst und Politik hervorgebracht werden, das Versprechen anschließt, Hierarchien und autoritäre Strukturen auflösen zu können. Um sich neuen Formen des Miteinanders anzunähern, haben verschiedene Wissenschaftsdisziplinen unterschiedliche Konzepte entwickelt: Im Bereich der Wirtschaft rücken so unter den Schlagwörtern „Schwarmintelligenz“ und „kollektive In-
102 Siehe dazu insb. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a.M. 2011.
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telligenz“103 Techniken der Entscheidungsfindung, Potenziale teamorientierter Arbeitsweisen oder des Innovationsmanagements durch Crowdsourcing in den Blick.104 Im Bereich der Theaterwissenschaft zeugt allein im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien und Aufsatzsammlungen vom regen Interesse an künstlerischen Arbeitsstrukturen und neuen Konzeptionen des Kollektiven. Unter Begriffen wie „Schwarm“105 , der „kollaborativen Praxis“106, der „kollektiven Kreativität“107, der „Komplizenschaft“108 , als „Kunst des Kollektiven“109 oder zuletzt unter der Frage „How to Collaborate“110 wird die alte Beobachtung, dass Theater im Zusammenspiel Einzelner produziert wird, vielfältig beleuchtet und mit Blick auf darin liegende Utopien wie Bedrohungen neu diskutiert.111 Dabei zeigt sich, wie zuletzt die Relevanz chorischen Theaters,112 die „tragédie chorale“,113 „Chor-Figuren“114 oder die allgemeine Bedeutung des Chores – insbesondere in Auseinandersetzung mit dem
103 Andreas Aulinger (Hrsg.), Kollektive Intelligenz: Methoden, Erfahrungen und Perspektiven, Stuttgart 2013; Sophia Lux, Schwarmintelligenz: Ein managementtheoretischer Ansatz zur Unternehmensagilität, Bayreuth 2011; Satnam Alag, Collective Intelligence In Action, Greenwich 2009. 104 Vgl. Ole Björn Brodersen, Eignung schwarmintelligenter Verfahren für die betriebliche Entscheidungsunterstützung, Göttingen 2008; Oliver Gassmann, Crowdsourcing, München 2013. 105 Siehe Byung-Chul Han, Im Schwarm: Ansichten des Digitalen, Berlin 2013; Eva Horn/ Gisi, Lucas Marco (Hrsg.), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum: Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009; Brandstetter, Gabriele/Brandl-Risi, Bettina/Eikels, Kai van (Hrsg.), SchwarmEmotion: Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg u.a. 2007. 106 Ruhsam, Kollaborative Praxis, Wien/Berlin 2011. 107 Siehe dazu Fischer, Gerhard/Vassen, Florian (Hrsg.), Collective Creativity. Collaborative Work in the Sciences, Literature and in the Arts, Amsterdam/New York 2011; René Block (Hrsg.), Kollektive Kreativität, Frankfurt a.M. 2005; Stephan Porombka (Hrsg.), Kollektive Kreativität, Tübingen 2005. 108 Ziemer, Komplizenschaft, Bielefeld 2013. 109 van Eikels, Die Kunst des Kollektiven, München 2013. 110 Bake, Silke/Stamer, Peter/Weiler, Christel (Hrsg.), How to Collaborate? Questioning Togetherness in the Performing Arts, Wien 2016. 111 Die verstärkte Auseinandersetzung der Wissenschaft mit kollektiven Arbeitsstrukturen begründet sich in den nutzbaren Erkenntnissen zeitgenössischer Kunstpraxis, die neue Kollaborationen erprobt. Künstler-Kollektive wie Forced Entertainment, das Wiener Theatercombinat, She She Pop, Showcase beats le Mot, andcompany oder Deufert und Plischke brechen in ihren Inszenierungen durch kollektive Arbeitsweisen mit den Traditionen konventionellen Repräsentations- und Regietheaters. 112 Siehe Erika Fischer-Lichte, „Choric Theatre“, in: Dies., Tragedy’s Endurance. Performances of Greek Tragedies and Cultural Identity in Germany Since 1800, Oxford 2017, S. 313-346. 113 Claude Calame, Tragédie chorale: Poésie grecque et rituel musical, Paris 2017. 114 Siehe dazu Bodenburg, Julia/Grabbe, Katharina/Haitzinger, Nicole (Hrsg.), ChorFiguren. Transdisziplinäre Beiträge, Freiburg 2016.
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Chor-Theater Einar Schleefs – wieder stärker ins Blickfeld rücken und neu evaluiert werden.115 In seiner Studie Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie hat Kai van Eikels eindrücklich dargelegt, wie stimulierend es ist, den Begriff des Kollektiven nicht mehr von „einer Aufhebung der Trennung zwischen den Individuen in Ereignissen der Transzendenz, der Ekstase, der intensiven Nähe und Verschmelzung“116 her zu denken und unmittelbar mit dem der Gemeinschaft zu assoziieren, sondern vielmehr von dem der Trennung herzuleiten. Auf Grundlage künstlerischer Auseinandersetzungen mit Kollektivität entwickelt van Eikels ein grundsätzlich neues Verständnis kollektive Dynamiken zu erklären. Dominierenden Denktraditionen des Kollektiven stellt er den Begriff der Zerstreuung entgegen und diagnostiziert eine „kollektive Wirklichkeit getrennten Handelns“.117 In dieser Weise werden stärker Kollektivvorstellungen formuliert, die „ein Effekt der Trennung zwischen Menschen sind, bei denen der Abstand zwischen getrennt Handelnden einen Freiraum darstellt, durch den die Handlungen sich synchronisieren und in ihren Wirkungen einander unterstützen.“118 Judith Butlers Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung stellen für das Fundament dieser Untersuchung einen weiteren Ausgangspunkt dar. Butler geht von der Annahme aus, dass die Bedingungen der Prekarität differenziell verteilt sind und der Kampf oder Widerstand dagegen auf dem Anspruch basieren müsse, dass Leben gleich behandelt und lebbar sein sollte.119 Butlers Widerstandsbegriff gibt damit vor, dass Widerstand weniger als deutlich hervorgebrachte Geste des Widerstehens oder der Verweigerung verstanden werden muss. Vielmehr kann sich Widerstand wie ihn die vorliegende Studie begreift als Praxis entäußern, die in der Art und Weise, wie sich Gemeinschaften organisieren, beispielhaft für das steht, wofür Menschen kämpfen. Dass heißt, Formen des Widerstands können selbst zu einem Forum politischen Handelns werden, das weniger in der Negation bereits vorhande-
115 Ulrike Haß, „Woher kommt der Chor“, in: Enzelberger, Genia/Meister, Monika/Schmitt, Stefanie (Hrsg.), „Auftritt Chor. Formationen des Chorischen im gegenwärtigen Theater“, in: Maske und Kothurn, 58. Jg., Nr. 1 (2012), S. 13-30; Christina Schmidt, Tragödie als Bühnenform: Einar Schleefs Chor-Theater, Bielefeld 2010; Hajo Kurzenberger, Der kollektive Prozess des Theaters: Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität, Bielefeld 2009; Markus A. Gruber, Der Chor in den Tragödien Aischylos: Affekt und Reaktion, Tübingen 2009; David Roesner, Theater als Musik: Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen 2003; Miriam Dreysse Passos de Carvalho, Szene vor dem Palast: Die Theatralisierung des Chors im Theater Einar Schleefs, Berlin u.a. 1999; Detlev Baur, Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts: Typologie des theatralen Mittels Chor, Tübingen 1999. 116 van Eikels, Kunst des Kollektiven, S. 12. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Vgl. Butler, Theorie der Versammlung, S. 92.
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ner Normen, sondern in der Etablierung neuer Bedingungen unserer Selbstverwaltung begründet liegt.120 Trotz einer Vielzahl von Untersuchungen, die sich mit zeitgenössischen Protesten und kollektiven Bewegungsformen befassen, gibt es bisher keinen Versuch die beiden Topoi ,Protest‘ und ,Chor‘ zusammenzuführen. Diese Arbeit möchte diese Leerstelle schließen und Protestverfahren des Chorischen selbst als einen Ort des Widerstands entdecken. Vor dem Hintergrund aktueller Performance-Theorien wird es um theatrale und performative Strategien von Protest sowie darum gehen, das Chorische deutlich von anderen Theorien des Schwarms oder des Kollektiven abzugrenzen. Als performatives Gebilde ohne dauerhafte Struktur, institutionelle Verankerung oder repräsentative Vertretung weisen Schwärme durchaus Ähnlichkeiten mit Chören auf – insbesondere dort, wo beide die Reduktion kollektiver Vorgänge auf rhythmisch vermittelte, flüchtige Emergenzphänome betonen. Als Paradigma in sozialund kulturwissenschaftlichen Analysen konnten Schwarm-Theorien seit den späten 1990er Jahren Potenziale des Engagements, der Partizipation und Anerkennung neu bewerten. Die nachvollziehbare Faszination am Schwarm begründete sich darin, dass Beteiligungen nicht mehr an Homogenitätskriterien, strikte Konformität oder dauerhafte Beständigkeit gebunden wurden, sondern es lediglich einer Abstimmung bedurfte, nur dem Kontakt, der gemeinsamen Initiative. Die Nähe zum Chorischen drückt sich also darin aus, dass der organisatorische Effekt an die Stelle der Identifikation von Handlungssubjekten und Repräsentationsstrukturen tritt und lokale Synchronisierungen nicht als Vereinheitlichung, sondern ungefähre Annäherungen betrachtet werden. Trotz dieser Gemeinsamkeiten kann das Chorische nicht auf motorische, nonverbale oder rein bewegungsförmige Aspekte reduziert werden, sondern erweitert und konkretisiert durch die Betonung insbesondere des stimmlichen Körpereinsatzes die auditive Dimension politischen Handelns. Wie im Folgenden weiter ausdifferenziert wird, liegt der Vorteil einer Auseinandersetzung mit chorischen Prozessen zudem darin, auf die Verschränkung zeitlicher, räumlicher und materieller Dimensionen von Protesthandlungen hinzuweisen. Wichtigstes Argument für eine notwendige Weiterentwicklung ist schließlich, dass sich mit einem Modell des Chorischen Dynamiken des Affiziertwerdens und Affizierens auch historisch zurückverfolgen lassen. Anhand von Ausführungen und Bezügen zu Bürger-Chören des antiken Theaters und ihren repräsentativen Funktionen wie auch zu den politisch überaus ambivalenten Kollektivdarstellungen des 20. Jahrhunderts kann diese Studie daher eine historische Tiefe gewinnen, die vielen anderen Beiträgen zu zeitgenössischen Protestformen fehlt. Ausgehend von einem doppelten Stimmenbegriff, der als akustisches Phänomen und politische Mündigkeit zugleich auf aktuelle Entwicklungen der Performativitätsforschung verweist,121 bilden sich in Ästhetiken des Chorischen mit spezifischen Ereignissen stimmlicher Anwesenheit zugleich Formen politischer Präsenz ab. Diese
120 So betont Butler, „dass Straßen und Plätze nicht die einzigen Plattformen des politischen Widerstands sind und es auch dort, wo die Freiheit, Plätze zu besetzen oder auf die Straße zu gehen, nicht existiert, sehr wohl Orte des Widerstands gibt.“ Ebd., S. 179. 121 Vgl. Vito Pinto, Stimmen auf der Spur: Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film, Bielefeld 2012, S. 146f.
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Untersuchung konzentriert sich anhand chorischer Protesttechniken darauf, in welches neue Verhältnis repräsentative Darstellungen zu Formen verkörperter Partizipation treten. Um den politischen Gehalt jener Ästhetiken und ihrer interventionistischen Einsprüche genauer zu verstehen, begegnet sie dem vielfach geäußerten Wunsch nach Interdisziplinarität mit einem bewusst interdisziplinären Ansatz. Dazu wird nicht nur nach dem Verbindenden zwischen Protest und Chor gefragt, sondern das Modell des Chorischen und die Protestgeschichte ebenso wie kultur-, sozial-, und politikwissenschaftliche Theorien als sich gegenseitig produktiv durchdringende Instanzen begriffen. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, liegt der Beitrag dieser Arbeit dem polyfonen Stimmengeflecht des Protestchors entsprechend in einer Zusammenführung theoretischer Konzepte und künstlerischer Praktiken des Chorischen. Rahmen Auch wenn sich Zentren der Empörung und Anliegen des Protests kontinuierlich verschieben, entsteht nach der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts der Eindruck, dass sich Menschen allerorten öfter und bedingungsloser in Bewegung setzen. Wissenschaftliche Studien belegen die Vermutung, dass immer mehr Menschen bereit sind, durch Protest ihre Meinung zu äußern, Widerstand zu leisten oder politische Mitbestimmung einzufordern – auch jene, „die keine habituelle Nähe zu früheren Protestmilieus aufweisen.“122 Für Marchart zeigt die gegenwärtige Inflation von Protestbewegungen, wie in ausdifferenzierten Gesellschaften die unmögliche aber notwendige Selbstrepräsentation von Gesellschaft in Form von Widerstandshandlungen kein Ende genommen hat: „Immer mehr soziale Bewegungen präsentieren immer weitere Versionen der nicht erreichbaren und doch zu repräsentierenden Selbstidentität des Sozialen.“123 Als soziale Figurationen, die keine autonomen „Kernsubjekte“ mehr kennen, stehen Proteste im Zusammenhang mit dem Verlust vorstrukturierter Lebensformen. Seitdem sich ab dem 19. Jahrhundert durch Erfahrungen neuer Beschleunigung und Mobilität integrative Kategorien des Sozialen kontinuierlich verschoben haben und wortwörtlich in Bewegung gerieten, gehen mit veränderten institutionellen Strukturen auch Transformationen von Handlungs- und Subjektkonzeptionen einher. Der deutsche Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba beschreibt diese Verschiebungen als einen „vermeintlich irreversible[n] Prozess der Auflösung von Welthorizonten, von gewohnten Systemen der Information wie der Wahrnehmung, von gewohnten sozialen Bezügen und Bindungen.“124 Während im Zuge der Postmoderne mit den Krisen der Institution, des Nationalstaats und der Demokratie ehemalige Bezugsgrößen ihre handlungsleitende und problemlösende Kraft einbüßen, etablierte Orientierungsfolien gänzlich wegfallen und
122 Marchart, Das unmögliche Objekt, S. 406. 123 Ebd., S. 408. 124 Wolfgang Kaschuba, Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt a.M. 2004, S. 234.
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sich traditionelle Zugehörigkeiten zunehmend verlieren,125 entstehen Sehnsüchte nach neuen Gemeinschaften gerade dort, wo vertraute Beziehungsmuster wegbrechen, Räume des Sozialen verdrängt werden oder sich andernorts neu verorten müssen.126 Proteste werden daher auch weiterhin als zivilgesellschaftliche Kraft interpretiert, die temporär darauf drängt, sich ,Identität‘ in klaren Raum-Zeit-Strukturen wieder anzueignen.127 Eine Folge der von Kaschuba beschriebenen „Wir-Bilder mit eher geringer Präge- und Bindungskraft“128 bleibt jedoch ausdrücklich die Verschiebung gesellschaftlicher Beziehungen von der räumlichen auf die zeitliche Ebene. Der „ständige Synchronisierungsdruck“129 neuer Medienrealitäten macht im elektronischen Zeitalter eine umfassende Krise des Körperlich-Sinnlichen virulent. Durch technische, mediale und kulturelle Verheißungen, Distanzen zunehmend überwinden zu können, nähert sich zum einen das Fremde und mit ihm Entfernte greifbar an. Zum anderen endet die Bewertung von Mobilität als Offenheit vor dem Fremden meist dort, wo die Welt „der anderen“ selbst in Bewegung gerät und tatsächlich Ansprüche auf ein ähnlich freies Leben in Wohlstand stellt. Migration schließt gegenwärtig daher Bewegungen anderer ein, deren Mobilität wiederum als Bedrohung des Eigenen wahrgenommen wird und dazu führen kann, dass sich Dichotomien „des Eigenen“ und „des Fremden“ nicht auflösen, sondern verstärken. Eine widerständige Praxis neuer Akteur*innen der Zivilgesellschaft, die die Pluralität der Gesellschaft umso vehementer gegen identitäre Bewegungen verteidigt, offenbart sich folglich im Fehlen eindeutiger Programme, die beanspruchen, gemeinsame Ideenhorizonte zu repräsentieren. Nachdem mit Ende des Kalten Krieges das Projekt einer sozialistischen Gesellschaft als gescheitert gilt, übt der hehre Anspruch der historischen Bewegungen nach systemischer Veränderung nur noch wenig Attraktivität aus. Die Anliegen, Ziele und Vorhaben sozialer Proteste in der Postmoderne muten nach Meinung des deutschen Soziologen und Protestforschers Dieter Rucht
125 Zum Versprechen der Postmoderne schreibt Kaschuba: „Nun jedoch verspricht die Postmoderne, dass ihr ,Wir‘ tatsächlich stets den Plural in sich trägt, dass in ihr die Vielfalt der Welten und Wirklichkeiten, der Identitäten und Wahrheiten gelten soll. Das Eine und das Ganze gebe es nicht mehr, stattdessen die Vielen und die Anderen, die sich nicht mehr in die alten ethnisch-nationalen Räume und Erzählungen integrieren und damit auch nicht mehr dominieren lassen.“ Kaschuba, Die Überwindung der Distanz, S. 243. 126 Siehe Winter, Widerstand im Netz, S. 76: „[…] in einer Welt der zunehmenden Individualisierung und vermarkteter Sozialbeziehungen suchen die Internetnutzer nicht nur nach Informationen, sondern auch nach neuen Freundschaften, sozialer Unterstützung und nach einem Gefühl der Zugehörigkeit.“ 127 „As citizens of a democracy, we live in disembodied times. This fundamental lack of a foundational body that is transcendent and immanent at the same time representing the unity of the nation state and its members, lies at the centre of the continuous need of society to found itself.“ Gerald Siegmund/Stefan Hölscher, „Introduction“, in: Dies. (Hrsg.), Dance, Politics & Co-Immunity, Zürich 2013, S. 7-18, S. 10. 128 Kaschuba, Die Überwindung der Distanz, S. 243. 129 Götz Großklaus, Medien-Zeit. Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt a.M. 1997, S. 40.
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daher bescheidener an: Zeitgenössische Protestbewegungen verlangen keine Systemwechsel mehr, sondern Reformen. Um den negativen Folgen gesellschaftlicher Veränderung etwas entgegenzusetzen, würden sie anstelle von Manifesten Partizipationsmöglichkeiten einfordern und Inklusionsansprüche formulieren.130 Anstatt eigene Vorstellungen konkret umzusetzen, entsteht so der Eindruck, als würden sich politisch Engagierte in durchlässigen Bündnissen autonomer Selbstgestaltung immer häufiger mit sich selbst konfrontieren.131 In kontroverser Auseinandersetzung mit politischen Vereinnahmungstendenzen und in kritischer Distanz zu uniformen Gemeinschaftsvorstellungen rücken neue Konzepte der Ko-Existenz ins Zentrum. Die beschriebenen Protestszenarien werden so von Entwicklungen flankiert, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts neue Formen der Zusammenarbeit und ihre Inszenierung betonen. Die Faszination an neuen Gemeinschaftsmodellen, kollaborativen Bündnissen und vernetzten Kooperationen materialisiert gesellschaftliche Transformationen von Ordnung und Macht, die zeigen, wie sich Gemeinsames heute durch lose Organisationsstrukturen und extrem heterogene Zusammensetzungen auszeichnet und gänzlich neue Vorstellungen des Kollektiven hervorbringt. These Die Motivation dieser Untersuchung liegt in der Beobachtung begründet, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein grundlegender Wandel im Einsatz chorischer Protestformen feststellbar ist. Diese Veränderung wird daran ersichtlich, dass Protestchöre chorische Verfahren heute dazu nutzen, um Prozesse direkten Austauschs in den Mittelpunkt zu stellen. Statt die Chor-Form als Instrument politischer Repräsentation zu instrumentalisieren, um marginalisierten Interessen zu Anerkennung zu verhelfen, rücken Protestierende das gegenseitige Wahrnehmen in den Fokus. Chorische Protestverfahren würdigen den Dialog, die Differenz und die Diversität. Bereits vor der Französischen Revolution, die mit Protesten um zu hohe Brotpreise begann, wurde im Zerfall politischer Organisationsformen – durch Angriffe auf bestehende Herrschaftsformen, die Zurückdrängung der Monarchie oder Privilegien einzelner Bevölkerungsgruppen – die Voraussetzung für eine Re-Komposition sozialer Beziehungen entdeckt.132 Mit der beginnenden Selbstermächtigung von Bürger-
130 Vgl. Dieter Rucht, „Gesellschaft als Projekt – Projekte in der Gesellschaft. Zur Rolle sozialer Bewegungen“, in: Klein, Ansgar/Legrand, Hans-Josef/Leif, Thomas (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen: Impulse, Bilanzen und Perspektiven, Wiesbaden 1999, S. 15-27, S. 19. 131 Zur neuen Rolle der Zivilgesellschaft siehe Ulrich Beck, „Counter-Power in the Global Age. Strategies of Civil Society Movements“, in: Thomas Olesen (Hrsg.), Power and Transnational Activism, New York 2011, S. 23-33, S. 25. 132 Hobbes Bild des Leviathans, dessen unteilbare Souveränität durch Gehorsam und Unterwerfung seiner Untertan*innen konstituiert wird, verdeutlicht die diesem Verständnis eingeschriebene Gefährdung des politischen Körpers durch Störung: „Eintracht ist Gesundheit, Aufruhr, Krankheit und Bürgerkrieg Tod.“ Thomas Hobbes, Leviathan – oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates [1651], Frankfurt a.M. 1966, S. 5. Zu den politischen Folgen jenes Machtvakuums, das die Vakanz der
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bewegungen wurde die selbstbestimmte Organisation des Gemeinsamen auch durch chorische Protestverfahren entschlossen eingefordert.133 Der in gegenwärtigen Protesten aufscheinende Gebrauch chorischer Formen kann als Folge dieser nachdrücklichen Neustrukturierungen des Sozialen verstanden werden. Protestchöre geben so auch heute kontinuierlich Antwort darauf, wie einer zentralen Fragestellung der Theorie sozialer Bewegungen zufolge seitdem „Ordnungsbildung trotz Ungewissheit möglich ist.“134 Die Transformation chorischer Praxis zeigt bereits in der Antike, wie sich der Chor durch die verschiedenen Etappen seiner Zurückdrängung hindurch mit einem gewissen Widerstandspotenzial aufgeladen hat. Während der Chor gegenüber der Geburt des „modernen Subjekt“ an Bedeutung verliert, begründet seine Marginalisierung, weshalb ein umso vehementeres Auftreten chorischer Gruppen Formen der Solidarität umso glaubwürdiger bekunden sollte. Mit dem Erheben kollektiver Stimmen verband sich in politischen Kämpfen seither nicht allein der Versuch zerstreute Kräfte zusammenzubringen, sondern die Hoffnung Ideale wie Gleichheit und Unabhängigkeit glaubwürdig hervorzubringen. Politische Mobilisierungen nutzten den Chor als probates Mittel, um marginalisierte Akteur*innen als Gemeinschaft zu präsentieren. Die spezifischen Formen der Versammlung dienten dazu, die Exponiertheit der Körper zu erhöhen, um Anerkennung und Sichtbarkeit herzustellen.135 Um sich den Raum der politischen Rede anzueignen, besetzte der Chor den Erscheinungsraum der Straße. Protestierende Sprechchöre nutzten so gegebene Infrastrukturen, um sie zu ihrem Aktionsraum zu machen. Während Protestchöre in dieser Weise auf vorhandene materielle Bedingungen zurückgriffen, liegt das Potenzial chorischer Protestverfahren, das diese Arbeit freilegen möchte darin, die Existenz dieser Bedingungen selbst in Frage zu stellen. Als nicht allein sprachlich zusammengesetztes Phänomen verweist der ProtestChor zwar auf die Verbindung einer politischen Theorie sozialer Bewegung und eine wirkungsästhetisch angereicherte Geschichte des Chores. Allerdings werden durch den Einsatz chorischer Formen die politischen Absichten von Protest nicht politischer, aggressiver oder erfolgreicher, weil sich diese beiden Stränge in Protestchören zusammenfügen. In Protestaktionen geht es heute nicht mehr um die repräsentative
Monarch*innen zur Folge hatte, die mit ihren Körpern die Stabilität zwischen Wissen, Macht und Legislative garantierten, siehe Siegmund/Hölscher, „Introduction“, S. 10. 133 Vgl. Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, S. 23: „In Wirklichkeit ist der Zerfall aller sozialen Formen eine einmalige Gelegenheit. Er ist für uns die ideale Voraussetzung für ein wildes massenhaftes Experimentieren mit neuen Zusammenstellungen, neuen Formen der Treue.“ 134 Andreas Pettenkofer, Radikaler Protest. Zur soziologischen Theorie politischer Bewegungen, Frankfurt a.M. 2010, S. 8. 135 Zum Begriff ,Anerkennung‘ als menschlichem Grundbedürfnis siehe auch Charles Taylor, Multiculturalism and the Politics of Recognition, Princeton 1992, S. 26; Axel Honneth, Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 2008. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Anerkennung siehe Nancy Fraser/ Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung?: Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a.M. 2003.
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Darstellung der Chor-Gruppe als einer einheitlichen, kollektivierten und darum starken Gegner*innenschaft. Auch wird den sinnlichen Wirkungsweisen chorischer Überwältigung zunehmend kritisch begegnet. Viel vehementer folgt diese Untersuchung der Annahme, dass sich der besondere Gebrauch chorischer Protestverfahren in der Betonung des Chorischen als einem relationalen, potenziell anti-identitären und anti-autoritären Organisationsprozess ausdrückt. Das Chorische führt durch die selbstreferenzielle Auseinandersetzung mit der eigenen Konstituierung – Offenheit statt identitärer Abgrenzung, Selbststeuerung statt autoritärer Führung – zu einer Intensivierung der Protesterfahrung aller Beteiligten. Ich argumentiere, dass chorische Verfahren Protest in besonderer Weise organisieren, indem sie als destabilisierende Architekturen staatlicher Souveränität erscheinen. Aufgrund der historischen Last des Chores, der mit ihm verbundenen Sensibilisierung für Massenphänomene und einer grundlegenden Skepsis gegenüber Prozessen der Gleichschaltung, ermöglichen Protestchöre Auseinandersetzungen, die geradezu verhindern, sich in utopische Räume zu flüchten oder – wie der deutsche Soziologe Hartmut Rosa in seiner Monografie Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung beschrieben hat – zu bloßen Echokammern zu verkommen.136 Im Gegenteil können chorische Protestverfahren neuerliche Resonanz gerade dadurch erzeugen, dass sie die eigene ästhetische Form immer auch auf ihre Politizität hin befragen und Ordnungen konstituieren, die zu geltenden Regeln kontingente Beziehungen entwerfen. Protestchöre stellen so ein besonders gegenwärtiges Beispiel dafür dar, wie sich ,Politik‘ als Inszenierungsbereich performativer Machtausübung im Verhältnis zum ,Politischen‘ als Sphäre politischen Handelns kontinuierlich neu konstituiert.137 In einer Zeit ausufernden Individualismus, in der sich gemeinschaftliche Strukturen in die digitale Welt des Internets verschieben, um sich dort in sozialen Netzwerken weiter zu verflechten, entwickelt der Protestchor als Gegenentwurf zum virtuellen Netzwerk eine zusätzliche Relevanz: Chorisches Handeln inszeniert und erprobt gleichermaßen spielerisch ko-präsente Formen kollektiven Miteinanders. Als Referenzkörper reflektieren Protestchöre Prozesse steten Aushandelns als Relation der Ich-Perspektive zu anderen. Sie fokussieren daher genau die Schnittstelle, an der sich Fragen nach dem Verhältnis Einzelner zur Gemeinschaft als eine Auseinandersetzung von individueller Selbstbestimmung und kollektiver Weltbeziehung bündeln. An der Art und Weise, wie Proteste durch den Einsatz chorischer Formen als tatsächliche Bewegungen in Öffentlichkeiten intervenieren, manifestiert sich die entscheidende Annahme dieser Arbeit. Protestchöre nutzen – so die grundlegende These – nicht mehr nur die vorhandenen Mechanismen des Öffentlichen, sondern erzeugen mittels spezifischer Widerstandsästhetiken selbst neue Resonanzerfahrungen. Mehr noch scheinen Aufführungen des Chorischen Resonanz als eine spezifische Erfahrungsqualität nicht nur herzustellen, sondern Situationen zu schaffen, in denen Resonanz als besonderes Erlebnis am eigenen Körper erfahren wird oder sich im Verhältnis zu anderen als gesteigerte Resonanzsensibilität einstellt. Chorische Protestverfahren entwerfen sich zunehmend abseits jener in der Öffentlichkeit geltenden Regeln, sie stellen übliche Repräsentationsmechanismen oder
136 Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016. 137 Zur genaueren Differenzierung zwischen ,Politik‘ und ,Politischem‘ siehe Kap. I 4.2.
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Identitätspolitiken in Frage und erschaffen so neue Zugangsweisen politischer Auseinandersetzung. Als mediale Strategie, partizipatorischer Aktionsgarant und Vermittlungsinstanz zwischen stimmlichen, körperlichen und räumlichen Phänomenen können chorische Dimensionen die Aufführungserfahrung von Protest maßgeblich erweitern. Protestchöre kreieren Möglichkeitsbedingungen, die die Ereignishaftigkeit politischer Aktionen erfahrbar machen und einen potenziellen Wandel andeuten, der in der Konstituierung ihrer Gestalt bereits Form angenommen zu haben scheint. Neuformulierung einer Ästhetik des Widerstands Diese Arbeit wendet sich im Besonderen der Ästhetizität von Protestchören zu, indem sie den speziellen Zusammenhang zwischen chorischen Protestformen und ihren Wirkungsdimensionen als eine Ästhetik des Widerstands untersucht. Dies geschieht nicht ohne auf Peter Weissʼ gleichnamigen Roman Ästhetik des Widerstands zu verweisen, der – zwischen 1975 und 1981 erschien – eine Art Eckpfeiler der hier unternommenen Analyse chorischer Protestereignisse bildet und zugleich eine spezifisch deutsche Perspektive der Reflexion von Widerstandsphänomenen offenlegt.138 Diese Untersuchung ist sich dieser besonderen Traditionslinie und der historischen Aufladung des Widerstandsbegriffs bewusst. Ähnlich wie Protest zeichnet sich der Widerstandsbegriff dadurch aus, dass er als Überbegriff für ein breites Spektrum nonkonformer Verhaltensweisen steht. Da eine klare begriffliche Trennung zwischen ,Protest‘ und ,Widerstand‘ an dieser Stelle schwer fällt, betont Widerstand im engeren Sinn zudem die politische Seite systemnonkonformer Verhaltensweisen. Während Begriffen wie Opposition, Protest, Dissens, Dissidenz, Verweigerung oder Nonkonformität in der Forschung eine engere, moralisch wertende Definition von politischem Widerstand gegenübergestellt wurde, die auf dem bewussten Willen zum aktiven Handeln gegen die nationalsozialistische Herrschaft basierte,139 geht die vorliegende Studie von einem weit gefassten Widerstandsbegriff aus. Diese Arbeit fokussiert ,Widerstand‘ als gewaltfreie Interventionsform im öffentlichen Raum, um dadurch das unmittelbare Eingreifen pluraler Akteur*innen in den Blick zu nehmen, die durch direkte oder weniger offensichtliche Aktionen Handlungsvollzüge ihrer alltäglichen Normalität unterbrechen, manipulieren oder erweitern.140 Damit schließt diese Studie nicht nur an die in den 1970er Jahren begonnene Ausweitung des Widerstandsbegriffs an,141 sondern möchte den gegenwärtigen Ein-
138 Siehe Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, Berlin 1983. Siehe dazu ausführlicher Kap. VII. 139 Widerstand wurde infolge des Hitlerattentats im Jahr 1944 als aktive Maßnahme zum Sturz des NS-Regimes definiert. 140 Zur aktuellen Diskussion von Widerstandsphänomenen siehe auch Butler, Martin/Mecheril, Paul (Hrsg.), Resistance: Subjects, Representations, Contexts, Bielefeld 2016. 141 In diesem Zusammenhang löste der von Martin Broszat eingebrachte Begriff ‚Resistenz‘ Diskussionen um die Definition von Widerstand und widerständigem Handeln aus. Siehe dazu u.a. Martin Broszat, „Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz des Forschungsprojekts“, in: Ders./Fröhlich, Elke/Großmann, Anton (Hrsg.), Bayern in der NS-
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satz chorischer Protestverfahren auch ganz dezidiert als Weiterentwicklung und Politisierung ästhetischer Widerstandspraktiken deuten. Protestformen sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht vordergründig widerständig, indem sie den Sturz politischer Regime anstreben. Chorische Formen systemnonkonformen Verhaltens entwickeln ihre Widerständigkeit heute vielmehr, indem sie sich weltanschaulichen Ideologien oder autoritärer Herrschaft entziehen. Insbesondere chorische Protestformen widersetzen sich disziplinarischen und organisatorischen Maßnahmen durch die Art und Weise eigener Handlungsvollzüge. Dieser angedeutete Widerstandsbegriff lässt erkennen, dass auch in Protesten oppositionelle Kräfte im Spiel sind, die sich nicht allein an Antagonismen festmachen, sondern strukturelle Ungerechtigkeit betreffen: Diskriminierung, Rassismus, patriarchale Logiken, das Verhalten gegenüber Autorität und Unterdrückung. In der Mehrzahl der hier thematisierten Fälle verbinden sich Widerstandshandlungen von Protestchören über ein Macht-, Profit- und Konkurrenzdenken hinaus mit genereller Kritik an Herrschaftsformen. Es wird davon ausgegangen, dass Proteste Widerstand gegen staatliche Repression, Dominanz oder Gewalt in besonderer Weise durch den Einsatz der spezifischen Materialität chorischer Verfahren hervorbringen. In Protestereignissen können Widerstandshandlungen, die auf chorischen Verfahren des Einspruchs gründen, ein Spektrum individueller Entgrenzung und Autonomie entwickeln. Aus ihnen erwächst gleichermaßen die wirklichkeitskonstituierende Funktion von Protesthandlungen, die Widerstand als einen performativen Prozess ausweisen. Zusätzlich haftet Protestchören etwas Auffälliges an, das sich durch die Wirkungsmacht ihres Ereignischarakters allein nur bedingt erklären lässt. Einerseits tauchen chorische Proteste plötzlich auf: Sie kommen auf uns zu, bevor wir auf sie zugehen können. Andererseits ereignen sie sich nicht vollkommen zufällig, sondern verwenden spezifische Techniken, um unsere Aufmerksamkeit durch den gezielten Einsatz sozialer Praktiken und Medien zu lenken. Mit der in Szene gesetzten Ereignishaftigkeit rücken Präsenz-Effekte und deren spezifische Gegenwärtigkeit ins Zentrum. Als aufsehenerregende Geschehnisse drängen Protestchöre in die Öffentlichkeit und werden dort erst zu Ereignissen durch die Kenntnis der medialen Bedingungen dieser Öffentlichkeiten.142 Die Parameter, an denen sich der Erfolg von Protestaktionen innerhalb einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“143 bemisst, sind Sichtbarkeit und Reichweite, die Protestierende herzustellen und zu nutzen versuchen.144 Da Erzeugungsstrategien selbst gewissen Regulationen unterliegen, scheint besonders die Frage interessant, wie Protestchöre über die Nutzung dieser bereits bestehenden Strukturen eigene Ästhetiken entwickeln, die sich von gesellschaftlichen Normen abheben. Auf Grundlage der Untersuchungsergebnisse wird zum Abschluss also zu fra-
Zeit. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Bd. 4, München 1981, S. 691-709. Zur weiteren Klärung des Widerstandsbegriffs siehe auch Kap. I 4. u. VII. 142 Zur Reflexion der Frage, unter welchen medialen Bedingungen ein Geschehen überhaupt erst zum Ereignis wird, siehe auch Kulcsár-Szabó, Zoltán/Lörnicz, Csongor (Hrsg.), Signaturen des Geschehens. Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz, Bielefeld 2014. 143 Niklas Luhmann, „Systemtheorie und Protestbewegungen. Ein Interview [1994]“, in: Ders., Protest, S. 175-200, S. 192. 144 Vgl. Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 2007.
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gen sein, in welcher Weise chorische Protestverfahren dazu beitragen, eine neue Ästhetik des Widerstands zu formulieren. Auf zwei unterschiedlichen Ebenen soll der Neuformulierung einer Ästhetik des Widerstands nachgespürt werden: Erstens fragt sich auf der produktionsästhetischen Ebene, durch welche chorischen Techniken sich innerer Widerstand zu einer sichtbaren Form der Ablehnung entäußert. Welche besonderen Inszenierungsstrategien verfolgen Protestchöre, um spezifische Widerstandsformen herzustellen? Welche Rolle spielen dabei Verfahren lautlicher Resonanz, körperlicher und räumlicher Ansammlung oder zeitlicher Verzögerung? Zweitens fragt sich auf der rezeptionsästhetischen Ebene, wie Widerstandshandlungen von Beobachter*innen im Speziellen aufgenommen werden. Mit den sinnlichen Erfahrungen der Beteiligten rückt in den Fokus, inwieweit diese mit den in spezifischen Artikulationsformen angelegten Bedeutungsund Sinnangeboten korrespondieren. Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen der Kommunikation bedeutungsvoller Inhalte und der Ermöglichung neuer Sinneseindrücke? Wird Protest erst durch das komplexe Kraftfeld des Chorischen als Widerstand erfahren? Wie vermögen es chorische Verfahren, Widerstand als einen körperlichen „Grundmechanismus organismischen Lebens“145 zu intensivieren? Die Erörterung dieser ästhetischen Widerstandsdimension versucht gleichermaßen dem Projektcharakter von Protest nachzuspüren. Sie befragt die offenen, temporären Strukturen, die ein Scheitern nicht ausschließen und sich damit „einer Produktivität der Unvollkommenheit verschreiben“.146 Wenn Augenblicke machtvoller Stabilität Momenten sichtbarer Instabilität gegenüberstehen, in denen das Kollektive als Konstruktion erkennbar wird, fragt sich, welche ganz eigene Widersprüchlichkeit chorischer Widerstand offenbart. Sind chorische Widerstandsästhetiken imstande, Bedeutungen des öffentlichen Raums zu transformieren, ohne selbst den herkömmlichen Direktiven kapitalistischer Aufmerksamkeitsproduktion zu unterliegen? Wie nehmen Protestchöre Gegebenes nicht mehr nur hin, sondern fügen den wohlanständig geführten Debatten durch eine „Praxis der Unterbrechung der Regel“147 oder als „Struktur ohne eindeutiges Zentrum“148 etwas Widerständig-Neues hinzu? Das Irritationspotenzial zeitgenössischen Protests lässt sich an der wachsenden Bedeutung anonymer Aktionen – wahlweise als Verschleierung nachvollziehbarer Autorenschaft oder als subtile Drohgebärde – erkennen. Statt Sichtbarkeit für marginalisierte Interessen herzustellen und gerade dadurch politischen Druck zu erzeugen, negieren Protestierende heute vielfach ihre eigene Politizität, tragen nur vage oder gar keine Forderungen vor, verbergen durch den Einsatz von Masken ihre Identität oder betonen selbstgenügsam den überwiegenden Spaß gemeinsamen Handelns.149
145 Erwin Bartosch, „Widerstand“, in: Stumm, Gerhard/Pritz, Alfred (Hrsg.), Wörterbuch der Psychotherapie, Wien 2009, S. 779. 146 Ziemer, Komplizenschaft, S. 125. 147 Hans-Thies Lehmann, „Wie politisch ist postdramatisches Theater?“, in: Ders., Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, S. 17-27, S. 25. 148 Distelhorst, Umkämpfte Differenz, S. 70. 149 Siehe auch Stefan Donath, „The Visibility of the Hidden: The Guy Fawkes Mask in Times of Protest“, in: Karaboğa, Kerem/Arıcı, Oğuz (Hrsg.), Maske Kitabı, Istanbul 2014, S. 328-340.
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Im Spannungsfeld zwischen Transparenz und Anonymität gilt es anhand chorischer Figurationen, auch diese Paradoxien gegenwärtiger Widerstandshandlungen herauszuarbeiten. Diese Analyse der spezifischen Widerstandsästhetik chorischen Protests geht schließlich davon aus, dass Momente ästhetischer Rhythmisierung – durch Protestchöre evozierte Unterbrechungen, Leerstellen und Zäsuren – eigene Schwingungen erzeugen, die mit vorgegebenen Zeitregimen brechen und Prozesse politischer Selbstgestaltung initiieren, ohne zwangsläufig politisch wirken zu müssen. Auf Grundlage einer musikalischen Annäherung fragt sich, welche bleibenden und für einen maßgeblichen Wandel mitbestimmenden Brüche Protestchöre durch ästhetischen Widerstand geradezu erst provozieren. Methodik Wesentliche Eigenschaften chorischer Protestformen – namentlich ihre transitorische Qualität, ihr ephemerer Charakter, die beschriebene Eigenart, dass sie sich zwischen Akteur*innen und Zuschauer*innen ereignen und in ihrem Verlauf weder fixiernoch planbar erscheinen – lassen eine deutliche Nähe zu konstitutiven Merkmalen von Aufführungen erkennen. Der Aufführungsbegriff, den Erika Fischer-Lichte als theoretischen Grundbegriff nicht nur für den Bereich der Kunst definiert, geht aus einer Konfrontation zweier Gruppen hervor, die sich zur gleichen Zeit am selben Ort interaktiv begegnen. Proteste in diesem Sinn als Aufführungen zu begreifen, heißt, sie als dynamische Prozesse zu betrachten, die sich durch besondere mediale Bedingungen auszeichnen. Wie im Bereich des Theaters geht es bei Aufführungen von Protest um die „intendierte performative Hervorbringung ihrer Materialität“,150 an die sich die Möglichkeit anschließt, Teilnehmende und Zuschauende der Protestaktionen sowie ihre Lebenssituationen für den begrenzten Zeitraum des Protestereignisses oder auch nachhaltiger darüber hinaus zu verändern. Da Protestchöre und Aufführungen diese grundlegenden Eigenschaften teilen, scheint es für die Untersuchung von Protestszenarien dienlich, sie an die Analyse von Aufführungen anzulehnen und die – wie Fischer-Lichte es vorschlägt – „im Ereignis der Aufführung einander bedingenden und untrennbar miteinander verknüpften Aspekte ihrer Medialität, Materialität, Semiotizität und Ästhetizität zu heuristischen Zwecken jeweils einzeln zu behandeln, ohne dabei allerdings ihr Zusammenwirken aus den Augen zu verlieren.“151 In einem zweiten Schritt bedarf es einer Erweiterung des Aufführungsbegriffs vor dem Hintergrund, dass sich kulturelle Vorgänge und elektronische Darstellungsformen heute folgenreich vernetzen und zusätzlich transformieren. Die Aufführung chorischer Protestformen bringt im Zuge des angedeuteten Medienwandels zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihre eigenen Mediatisierungen hervor. Ereignisse chorischer Proteste und die spezifische Ereignishaftigkeit chorischer Verbünde initiieren zusätzlich die Produktion medialer Abbilder, die nicht mehr an spezifische Orte gebunden sind. Mit der Mediatisierung chorischer Aufführungen von Protest werden die media-
150 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 341. 151 Ebd., S. 56.
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len Abbilder von Protest in anderer Weise verfügbar. Sie wechseln den Ort, werden mobil und zusätzlich mobilisiert.152 Wer sich heute mit Protestereignissen beschäftigt, hat es mit interaktiven sozialen Prozessen zu tun, die kaum mehr nur auf den Gegenstand ihrer Aufführung reduziert werden können, sondern dazu auffordern, theaterwissenschaftliche Analysemethoden zu öffnen und durch die Konfrontation mit den neuen Gegebenheiten weiterzuentwickeln. Als kaum greifbares, geradezu fluides, sich wandelndes Objekt mit ungenauen Grenzen und sich in zahlreiche andere Bereiche verflechtendes Phänomen lassen sich Protestchöre nur schwerlich als „Gegenstand“ fassen. Sie sperren sich vorgefundenen Mustern wissenschaftlicher Analyse und erfordern ein besonderes Vorgehen. Umso mehr, da sich bereits im Hinblick auf die medialen Bedingungen von Protestereignissen als Aufführungen, also allein in Bezug auf das einmalige Zusammentreffen leiblich ko-präsenter Akteur*innen und Zuschauer*innen, für ihre nachträgliche Analyse verschiedene Herausforderungen ergeben. Die medialen Aufführungsbedingungen chorischer Protestformen sind oft schwierig rekonstruierbar. Verfügbare Quellen wie Zeitungsartikel, Meldungen und Berichte in der internationalen Tagespresse oder Bilder, Fotografien, Videos und Clips im Internet geben meist nur grobe Ausschnitte der Ereignisse wieder. Äußerst selten liefern sie exakte Beschreibungen der konkreten Handlungsvollzüge, nur begrenzt schildern sie Verläufe von Aktionen, dokumentieren kaum die tatsächlichen Bewegungen aller Beteiligten. Wer die konkreten Teilnehmenden am Protestchor sind, ist im Nachhinein selten eindeutig bestimmbar. Alle heute zur Verfügung stehenden Quellen verbessern – etwa durch zusätzliche Zeugnisse im Internet – die Möglichkeit einer Rekonstruktion von Ereignissen. Eine Vielzahl filmischer Quellen von Protestereignissen, insbesondere selbst produzierte Handyvideos, ergänzt mittlerweile konventionelle Medienformate. Sie ermöglichen es in Kombination mit klassischen Dokumenten, Vorgänge akribischer zu rekonstruieren und prägnantere Aussagen zur spezifischen Materialität der lautlichen, körperlichen und räumlichen Handlungsvollzüge von Protestchören zu treffen. Details wie die Intonation des Gesagten oder der nuancierte Gebrauch von Gesten können durch bewegtes Videomaterial deutlich genauer nachvollzogen werden. Zugleich ergeben sich hinsichtlich der Grenzen medialer Reproduktion von Ereignissen und der Manipulierbarkeit dieser Quellen erhebliche Zweifel.153 Einerseits hinterlassen Protestchöre als flüchtige Erscheinungen außer ihrem Tun selbst keine materiellen Artefakte. Verklingende Laute und transitorische Körperbewegungen kennzeichnen ihre ephemere Materialität und zeitliche Begrenztheit. Andererseits scheint diese Gegenwärtigkeit des Protestchors gerade der Grund dafür zu sein, chorische Protestdarbietungen aufnehmen zu wollen, zu fotografieren, als Ton-
152 Vgl. Knut Hickethier, „Mediatisierung und Medialisierung der Kultur“, in: Hartmann, Maren/Hepp, Andreas (Hrsg.), Die Mediatisierung der Alltagswelt, Wiesbaden 2010, S. 85-96, S. 87f. 153 Siehe dazu Butlers Kommentar zum Video, das „irgendwann anfängt und irgendwann aufhört und dadurch eine Sequenz erzeugt“ sowie „immer durch die Perspektive eingeschränkt [ist], mit der sein Objektiv selektiv gestaltet und übermittelt wird.“ Butler, Theorie der Versammlung, S. 214.
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oder Filmdokument zu verewigen. Diese Medialisierungen des Protests erweitern die Begrenztheit des ursprünglichen Wahrnehmungsbereichs und erlauben die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Protestierenden und Zuschauenden in den Blick zu nehmen, die über das Hier und Jetzt der Aufführung hinausgehen. Gleichsam bleibt einzuräumen, dass die Erfahrungsbeschreibungen und Wahrnehmungsberichte zu einem gewissen Maß unzureichend und daher immer etwas spekulativ bleiben, ohne selbst an den Ereignissen teilgenommen zu haben,154 ohne selbst zugegen gewesen zu sein oder die Geschehnisse unmittelbar selbst erlebt zu haben.155 Die vorliegende Arbeit weiß um dieses Dilemma, das zugleich eine Herausforderung der Theaterwissenschaft verdeutlicht und im Folgenden zu einer skeptischen Vorsicht nicht nur mit den Methoden der Aufführungsanalyse auffordert.156 Da selbst hergestellte Dokumente der an den Protesten Beteiligten einen durchaus manipulativen Charakter aufweisen können, muss eine Analyse, die sich dieser Quellen mit theaterhistoriografischen Methoden nähert, überaus kritisch vorgehen und ihre je spezifischen Produktionsbedingungen im Blick behalten.157 Auf der einen Seite ergibt sich die allgemeine Schwierigkeit einer Rekonstruktion der Ereignisse, die nur in ihrem konkreten Vollzug existieren. Auf der anderen Seite lädt eine Vielzahl an Material dazu ein, sich intensiver mit den Aktionen zu befassen und zu fragen, wie sich das Widerstandspotenzial von Protestaktionen über die Aufführung hinaus fortsetzt oder wie chorische Praktiken wiederum in digitale Netzwerke zurückströmen. Diese Untersuchung wirft zugleich die Problematik auf, wie neben dem Aufführungshaften von Protesthandlungen auch mediale Aspekte durch einen erweiterten Aufführungsbegriff stark gemacht werden können. Die ästhetischen Erfahrungen, die
154 Die Tatsache, nicht selbst an den hier untersuchten Protestereignissen teilgenommen zu haben, begründet sich u.a. durch den Aspekt ihrer Kontingenz: Anders als angekündigte Veranstaltungen (etwa im Theater) organisieren sich aktuelle Protestformen oft überaus kurzfristig oder sind geradezu darauf angelegt, sich spontan zu ereignen. 155 Luhmann verdeutlicht diesen Vorgang an Zuschauer*innen, die ein Geschehen beobachten und diese Erfahrungen der Wahrnehmung von Theoretiker*innen entgegensetzen, die immer erst nachträglich Erkenntnisse statuieren: „Theorie ist sozusagen Fernwissen (etwa Wissen, das Gesandte aus anderen Städten oder Ländern mitbringen und glaubwürdig bezeugen), sinnlich vermittelte Erkenntnis dagegen Nahwissen […].“ Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 440. 156 Eine Kritik aufführungsanalytischer Ansätze findet sich indirekt bei Foucault, der Analysemethoden weniger auf Grundlage einer Theorie des erkennenden Subjekts als auf Basis einer Theorie der Diskurspraktiken favorisiert. Foucault kritisiert die phänomenologische Methode, da sie „dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, einem Akt konstitutive Rolle zuweist und seine Sicht zum Ursprung jeglicher Geschichtlichkeit erklärt.“ Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 2009, S. 15. Zu allgemeinen Fragen der Aufführungsanalyse siehe Christel Weiler/Jens Roselt, Aufführungsanalyse. Eine Einführung, Tübingen 2017. 157 Videobeiträge dokumentieren nicht nur Ereignisse, sondern konkrete Anliegen und spezifische Motivationen. Dort, wo nationale oder religiöse Interessen durchscheinen bzw. tendenziöse, auch populistische Strategien der Emotionalisierung oder Dramatisierung, müssen diese im Folgenden berücksichtigt und kenntlich gemacht werden.
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etwa filmische Reproduktionen von Protestereignissen auslösen, können und sollten daher durchaus als Bestandteil jener evozierten Resonanzerfahrungen betrachtet werden. Nicht vergessen werden soll, dass es in den meisten Fällen die Teilnehmenden selbst sind, die an der Produktion von Souvenirs und Material ephemerer Protestsituationen mitwirken und dazu beitragen, dass sich die Einschätzungen ihres Protests durch mediale Übertragungen weiter verändern.158 Vorgehen Um zu ergründen, was genau geschieht, wenn sich plurale Akteur*innen versammeln und sich kollektive Dynamiken in Protestszenarien synchronisieren, wird im ersten Kapitel dieser Arbeit die Politizität chorischer Prozesse im Mittelpunkt stehen. Dabei wird zu Beginn weniger die realpolitische Wirksamkeit sozialer Proteste anvisiert als eine theoretische Fundierung chorischer Praxis. Um die durch chorische Protestverfahren angenommenen und daher möglichen Intensivierungen von Wahrnehmungsbedingungen anzudeuten, soll eine politische Theorie des Chores entworfen werden, die seine ästhetischen Wirkungsweisen deutlich als politisches Handeln auffasst. Wenn chorische Verfahren angewandt werden, um die Zerstreutheit von Protestierenden temporär aufzuheben, um Aktionen gemeinsamen Sprechens zu ermöglichen, Verhandlungen von Inhalten anzustoßen oder neuartigen Artikulationen Zeit und Raum zu geben, dann rückt das Chorische als Kommunikationsmodell relationaler Verständigung, also als Organisationsverfahren in den Blick. Durch die Etablierung eines Modells des Chorischen sollen diese vielfältigen Abstimmungs- und Kommunikationsprozesse innerhalb des Chores akzentuiert werden. Dabei geht es vordringlich darum, den Prozess der Chor-Werdung als einen performativen und potenziell politischen Prozess kollektiver Organisation zu bestimmen und diesen von der Aufführung inszenierter und mit einer kollektiven Identität versehener Chöre zu unterscheiden. Grundlegend soll dazu das analytische Potenzial des Chorischen freigelegt werden, welches in Anlehnung an eine etymologische Lesart von choros aus seiner spezifischen Materialität zu erwachsen scheint. Welche Erkenntnisse können durch die Differenzierung von Chor und Chorischem gewonnen werden? Zu welchen identitätspolitischen Konsequenzen führt die Betonung eines chorischen Prinzips? In welcher Weise konzentriert sich im Chorischen ein organisatorisches Wissen, wie „durch ein kleines Kollektiv ein großes zu organisieren“ ist?159 Wie können chorische Protestverfahren durch die affektive Vermittlung von Bewegtheit dazu beitragen, neue Ordnungen des Kollektiven herzustellen oder in bestehende Organisationsstrukturen
158 Jenseits offizieller Darstellungen von Protest gilt es, zusätzlich publizierte und sich der staatlichen Medienkontrolle entziehende Dokumente der Aktivist*innen mit einzubeziehen. Zugleich müssen Eigeninteressen der Beteiligten berücksichtigt und die Latenz ihrer im politischen Kampf verborgenen Absichten in ein Verhältnis gesetzt werden. Auch in Berichten von Augenzeug*innen verbinden sich mit Beschreibungen des Erlebten eigene Intentionen und Wünsche spezifischer Darstellungsweisen. Im Besonderen müssen daher Internetquellen auf ihre jeweilige Rezeptionssituation hin befragt werden. 159 van Eikels, Kunst des Kollektiven, S. 107.
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intervenieren? Und welche Widerständigkeiten scheinen dem Chorischen von Anfang an bereits eingeschrieben? Unter Rekurs auf den antiken Chor und seine antike Spielpraxis soll der Chor im zweiten Kapitel als heuristisches Instrument und Analysemittel eingeführt werden. Im Spannungsfeld von Rausch und Besinnung, als Mittel der Affektübertragung ebenso wie als politisches Erziehungsinstrument nähren Überlegungen zum antiken Chor die Hoffnung, Interdependenzen ästhetischen Wirkens in Relation zu gesellschaftlichen und politischen Kontexten weiter zu erhellen. Dazu wird die kulturelle Praxis des Chores im Spiegel gesellschaftlicher Transformationen selbst zum Austragungsort abweichender Bewertungen. Die Diskussion spezifischer Eigenschaften des Chores in künstlerischen Projekten des 20. Jahrhunderts soll wichtige Hinweise über die Wirkungsdimensionen chorischer Verfahren liefern. Bevor gezeigt werden kann, wie diese in gegenwärtigen Protestbewegungen neu angewandt oder belebt werden, gilt es die Eigenschaften der spezifischen Medialität des Chores herauszuarbeiten. Gewinnbringend für die Analyse aktueller chorischer Erscheinungsformen bieten sich dabei historische Bezüge zum Chor als Singgemeinschaft, die Diskussionen zu Sprech- und Bewegungschören zur Zeit der Weimarer Republik sowie Reflexionen zum Chortheater Einar Schleefs an. Mit welchen Widerständigkeiten und Kontroversen hat sich die Chor-Form im wechselvollen Lauf ihrer Geschichte angereichert? Und welchen Beitrag können Überlegungen über die ästhetische Instrumentalisierung, die identitäre Vereinnahmung des Chores und seiner Repräsentationsansprüche für die Untersuchung von Protestphänomenen liefern? Im dritten Kapitel dieser Arbeit soll Protest als einer politisch-ästhetischen Verflechtung nachgespürt und gefragt werden,160 wie das Chorische und die Chor-Form seit jeher verbunden waren mit einer Geschichte des Aufbegehrens. Mit Blick auf die Geschichte von Aufstandsbewegungen und durch Annäherung an den Begriff der sozialen Bewegung werden historische Entwicklungen nachgezeichnet, die eine Differenzierung des Protestbegriffs als mannigfaltigem Mittel des Widerstands anvisieren. Hierbei geht es nicht darum, eine konsistente politische Theorie des Protests zu skizzieren, als vielmehr sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Protest zu verorten, durch deren Rahmungen die wissenschaftliche Erforschung lange Zeit begrenzt wurde. Anhand des Ereignisbegriffs werden dann Defizite der gegenwärtigen Bewegungsforschung aufgezeigt und so die bisher nur ungenügend oder zu wenig berücksichtigten Forschungsfragen zu Protesten dargestellt. Mithilfe des Aufführungsbegriffs sollen schließlich die unterschiedlichen medialen, materiellen, semiotischen und ästhetischen Aspekte von Protest differenziert werden, um die Grundlage für einen theaterwissenschaftlichen Zugang zu ebnen. Inwieweit werden Proteste dann als Prozesse greifbar, die durch den Einsatz besonderer Techniken auf eine spezifische Ereignishaftigkeit hinarbeiten und eine Politik der Wahrnehmung umsetzen? Anhand von drei Fallbeispielen wird mit jeweils anderer Schwerpunktsetzung die Lautlichkeit, Körperlichkeit und Räumlichkeit von Protestchören untersucht: Am Beispiel der Proteste gegen das Bahn-Projekt „Stuttgart 21“ im Jahr 2010 soll im
160 Zum Begriff der Verflechtung siehe auch Fischer-Lichte, Erika/Jost, Torsten/Jain, Saskya Iris (Hrsg.), The Politics of Interweaving Performance Cultures. Beyond Postcolonialism, New York 2014.
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vierten Kapitel gezeigt werden, wie Proteste an den Einsatz stimmlicher Artikulation gebunden sind. In welcher Weise aber sind die Vermittlung von Unmut und der Ausdruck von Widerstand an akustische Verlautbarungen geknüpft? In den Aufführungen kollektiven Protests interessieren der besondere Einsatz chorischer Stimmen, die Akustik der Körper und die chorisch produzierte Hörbarkeit bürgerlicher Wut. Im Vordergrund steht dabei, wie die stimmliche Widerrede durch Verfahren synchronisierten Einspruchs organisiert wird. Anhand wiederholter Darbietungen von „Bürgerchören“ und dem affektiven Arrangement der „Schwabenstreiche“ soll ein ChorModell hinterfragt werden, das offensiv mit den Bedeutungen politischer Mündigkeit operiert. Welche besondere Qualität zeichnet die Lautlichkeit kollektiver Stimmen aus? Welche Funktion kommt der chorisch produzierten Akustik bei der Etablierung und Ausdehnung von Hörräumen des Protests zu? Und in welchem Bezug stehen die demonstrativ auditiven Verfahren des Chores zum diskussionswürdigen Prozess theatraler Vergemeinschaftung? Am Beispiel der Protestaktionen „Stillen Widerstands“ rücken im fünften Kapitel die Körperlichkeit von Protesthandlungen ägyptischer Aktivist*innen in den Blick. Wie können körperliche Handlungen besondere Choreografien des Protests ausbilden und verkörperte Widerstandsformen hervorbringen, die kulturelle Praktiken erweitern oder Wissensordnungen destabilisieren? Mit der Darbietung von Körpern im öffentlichen Raum rückt ganz zentral die Diskursivität des Verhältnisses elektronischer Audiovisualität und leiblicher Ko-Präsenz in den Fokus. Ein Spannungsfeld zwischen dem inszenatorischen Charakter und den Wirkungsabsichten der Proteste tut sich auf. Dabei fragt sich, inwiefern körperliche Vollzüge die Kontingenz einer Ereignishaftigkeit offenbaren, die immer auch durch den Einfluss des Unvorhersehbaren mitbestimmt wird. Wie können chorische Protestformen durch Prozesse der Verkörperung eine neue Beweglichkeit des Sozialen und damit der politischen Ordnung selbst provozieren? In welcher Weise erzeugen kollektive Körperverbünde demnach neue öffentliche Räume, in denen sich nicht die Aktion, sondern das Erscheinen selbst – die kollektive Anwesenheit allein – als neue Handlungsmacht offenbart? Am Beispiel von Occupy Wall Street soll am Einsatz chorischer Verfahren im sechsten Kapitel gezeigt werden, auf welche Weise Protestchöre zur Besetzung von Räumen beitragen und welche Aufgabe ihnen bei der materiellen und symbolischen Konstitution des öffentlichen Raums zukommt. Wenn der Protestchor als eigentlicher Raum der Handlung verstanden wird, als Ort aus dem bzw. in dem oder mitunter gegen den die Protagonist*innen agieren, fragt sich dennoch, welche zusätzlichen Prozesse der Verräumlichung chorisch Protestierende anstoßen. Mithilfe konkreter Formen der Besetzung, ihrer Implementierung und Organisation durch chorische Verfahren, soll Protest als ein gesellschaftlich erkämpfter Zwischenraum ins Blickfeld geraten. Anhand des chorischen Einsatzes von Handzeichen und des „Human Mic“ fragt sich, wie Protestchöre hier die Sphäre des Politischen besetzen, ohne eine Befragung der eigenen Widersprüchlichkeit aufzugeben zu müssen. Eine Ästhetik des Widerstands fokussiert im siebten Kapitel schließlich die politischen Wirkungen ästhetischer Formen und die Prozessualität chorischer Protestverfahren, die keine fest abgeschlossenen Einheiten mehr bilden, sondern sich als dynamische Ereignisse entwerfen. Mit Blick auf die gänzlich unterschiedliche Anwendung chorischer Mittel ergeben sich aufschlussreiche Konsequenzen für Auffassungen politischen Widerstands. Dabei scheinen neuartige Widerstandspositionen und
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die politische Dimension chorischer Protestverfahren gerade nicht mehr in der offensichtlichen Inszenierung akustischer Präsenzeffekte zu liegen. Neben die Präsentation sonst ausgeschlossener Stimmen tritt ein Modell des Chorischen, das die Chance birgt, das Phantasma souveräner Geschlossenheit im Zuge des eigenen Protesthandelns selbstkritisch zu hinterfragen. Äußert sich das politisch Widerständige schließlich nicht durch die präsenzsteigernde und aufmerksamkeitserzeugende Veranlagung des Chores, sondern in den Praktiken des Chorischen selbst? Welches kritische Potenzial können chorische Protesthandlungen entwickeln? Auf welche Weise widersteht das Chorische der Selbstdarstellung politischer Interessenvertreter*innen? Und wie können chorische Protestmethoden schließlich selbst zu Werkzeugen werden, um Manifestationen vorbedachter Inszenierungen, Wahrnehmungen sinnlicher Erscheinungsformen und Kommunikationsstrategien anderer politischer Akteur*innen zu dechiffrieren?
I Protestchor
„Beim Zusammenkommen der Bewegungen wandelt etwas, selbst unter strengsten Gesetzen, die Beschränkungen in Freiheitsbedingungen um. Es ist ein relationaler Effekt, ein Komplexitätseffekt. Der Affekt ist wie unser menschliches Gravitationsfeld und was wir unsere Freiheit nennen, sind seine relationalen Wendungen. Bei der Freiheit geht es nicht darum, Beschränkungen zu durchbrechen oder ihnen zu entkommen. Sie müssen in Freiheitsgrade verwandelt werden.“1
Wenn auf dem Terrain politischen Aktivismus chorische Verfahren in Form von Sprech- oder Singchören zum Einsatz kommen, können diese ereignisreichen Versammlungen, koordinierten Bewegungsfolgen oder affektiven Kollektivformationen als Protestchöre bezeichnet werden. In Form spezifischer Sprech- und Bewegungsformationen lassen Protestchöre eine besondere Kommunikationspraxis erkennen. Als betont körperliche und demonstrativ die Ko-Präsenz ihrer Mitglieder inszenierende Handlungen bilden sie außergewöhnliche Choreografien aus, die ein spezielles Koordinationsvermögen voraussetzen. Chorischer Protest betont relationale Arrangements und gemeinsame Vollzüge des Protestierens, ohne auf ein spezifisches Protestformat beschränkt zu sein. Von Kundgebungen, über Protestmärsche und Demonstrationen durchziehen Protestchöre die unterschiedlichsten Protestaktionen, um bestimmte Botschaften zu transportieren, Bedeutungen zu generieren oder inhaltliche Forderungen symbolisch zu untermauern. Mit dem Ziel eine demokratische Neuordnung sowie ein friedliches Ende der SED-Herrschaft herbeizuführen, fanden ab dem 4. September 1989 beispielsweise immer montags Massendemonstrationen zunächst in Leipzig und zunehmend in anderen Städten der ehemaligen DDR statt. Auf diesen sogenannten „Montagsdemonstrationen“ meldete sich Woche für Woche eine wachsende, überaus heterogene Anhängerschaft von DDR-Bürger*innen zu Wort. In Sprechchören riefen sie Parolen wie „Wir sind das Volk“ und protestierten in bisher ungekannter Offenheit gegen die
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Brian Massumi, Ontomacht: Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, S. 40.
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repressiven, politischen Verhältnisse.2 Auf Transparenten forderten die Demonstrierenden freie Meinungsäußerung ein, verteilten selbst produziertes Informationsmaterial und vermochten auf diese Weise, neue Gegenöffentlichkeiten zu schaffen. Die historische Widerstandsbewegung der ehemaligen DDR gilt heute als erfolgreiches Beispiel politischer Transformation. Sie führt zum einen vor Augen, welche politische Kraft im gewaltfreien Demonstrieren zivilgesellschaftlicher Akteur*innen liegen kann. Die „Montagsdemonstrationen“, die im Herbst 1989 zum zentralen Bestandteil der Friedlichen Revolution wurden, schufen einen Druck der Straße, der die Herrschenden zum Handeln aufforderte. Die Ansammlungen von Menschen wurden bald so groß, dass ihre Auflösung nicht mehr ohne Gewaltanwendung möglich schien.3 Zum anderen illustriert der Einsatz von Sprechchören auf diesen „Montagsdemonstrationen“, wie Protestchöre im öffentlichen Raum, auf Straßen und Plätzen sichtbar Raum in Anspruch nehmen. Sie besetzen urbane Flächen, eignen sich diese temporär an und stiften dort spezifische Aufführungssituationen. Protestchöre bringen so punktuelle Aufführungsorte hervor, die die Kollision unterschiedlicher Perspektiven erfahrbar machen. Sie erzeugen besondere Atmosphären, die den vorgefundenen Raum transformieren, in ein eigenes Klima tauchen oder umstimmen. Sie stellen die vorhandenen Qualitäten des Mit- und Gegeneinanders aus, verstärken deren antagonistische Frontstellung oder markieren ihr Verhältnis als veränderbar.4 Als kollektive Körperformationen generieren Protestchöre eigene Dynamiken. Durch einnehmende Rhythmisierungen vermögen sie es, affektive Prädispositionen zu unterbrechen oder die sinnliche Erfahrung von Stimmungen zu intensivieren: Sie überwältigen, stoßen ab oder beängstigen und können selbst besonders leidenschaftliche Wirkungen generieren. Eine entscheidende Frage, die in den zurückliegenden Jahren durch die ominöse Neuauflage weiterer „Montagsdemonstrationen“ ausgelöst wurde, ist dabei, auf welche Weise Protestchöre sich konkret zusammensetzen, um politischen Widerstand zu
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Vgl. Peter Wensierski, „Der 9. Oktober 1989. Die Macht der Straße“, in: DER SPIEGEL vom 29.09.2014: „Als die Menschen aus der Kirche auf den Vorplatz geströmt sind, fordern sie in Sprechchören ,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘, sie reklamieren ,Freiheit für die Inhaftierten‘ und: ,Neu-es Fo-rum zu-la-ssen‘.“ Indem die Staatsmacht gewaltsam gegen Demonstrant*innen vorging, führte sie vor, wie unrecht sich das politische System gegenüber den eigenen Bürger*innen verhielt. Die zu tiefgreifenden Reformen unfähige Regierung befeuerte damit die Ziele der Widerstandsbewegung: die friedliche Durchsetzung demokratischer Transformationen der DDR. Siehe Kurt Mühler, „Meinungstrends in der Leipziger Montagsdemonstration. Nachbetrachtungen zu einer basisdemokratischen Institution“, in: Grabner, Jürgen/Heinze, Christiane/Pollack, Detlef (Hrsg.), Leipzig im Oktober. Kirchen und alternative Gruppen im Umbruch der DDR, Berlin 1994, S. 159-175; Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009; Wolfgang Schuller, Die deutsche Revolution 1989, Berlin 2009. Siehe dazu auch Sabine Schouten, Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphäre im Theater, Berlin 2007.
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leisten.5 Vielfältige Diskussionen evoziert seit März 2014 die in dubiosen „Mahnwachen für den Frieden“ wiederkehrende Parole „Wir sind das Volk“. Die Definitionsmacht der Aussage wird heute zu einem anderen historischen Zeitpunkt insbesondere von nationalistischen Gruppierungen instrumentalisiert, um einen Ausschluss von Menschen zu bedingen, die nicht zum Volk dazu gehören sollen – gerade deshalb wird der Slogan von der rechten Protestbewegungen Pegida vereinnahmt. Zugleich lässt die Aussage nach der allgemeinen Legitimität politischer Repräsentation fragen: Inwiefern ist der Volkswillen darstellbar? Reicht das Bild der protestierenden Menge aus, um glaubhaft eine Mehrheitsmeinung zu präsentieren? Die Protestgeschichte zeigt, wie chorische Verfahren immer wieder dazu verwendet wurden, marginalisierte politische Akteur*innen mittels Zusammenschluss zu ermächtigen. Wie in Leipzig, Stuttgart oder Dresden werden politische Ansprüche dadurch unterstrichen, dass man sich zahlreich versammelt und als Menge mit einer Stimme spricht. Neben seiner Funktion als einem spezifischen Artikulationsverfahren wird der Chor jedoch nur äußerst selten dazu verwendet, um als flexible Form der Anordnung den Vollzug des Versammelns selbst zu reflektieren. Im allgemeinen Verständnis steht die theatrale Praxis des Chores viel eher dafür, Darstellungsbeiträge unterschiedlicher Akteur*innen zu synchronisieren und verschiedene Ausdrucksweisen in einem einheitlichen Bild zu harmonisieren. Aber können Protestchöre auf die bloße Kommunikation politischer Statements reduziert werden? Neben dieser herkömmlichen Konstitution des Chores, die auf einen bildungsbürgerlichen Kanon zurückgeht und sich insbesondere in einer chorischen Singpraxis verfestigt hat, fragt sich in aktuellen Protesten immer häufiger, welche alternativen Strategien des Chorischen zur Anwendung kommen. Dieses Kapitel möchte mit dem Chorischen noch expliziter die vielfältigen Abstimmungs-, Koordinations- und Kommunikationsprozesse innerhalb des Chores akzentuieren. Das Chorische drängt nicht länger auf die Produktion einer festen ChorForm, sondern fokussiert unterschiedliche Vorgänge und Prozesse innerhalb des Chores. Der Fokus richtet sich damit auf chorische Handlungsweisen und all jene internen Vollzüge, die zur Formung des Chores führen. Eine Differenzierung zwischen der Chor-Form und dem Chorischen soll daher das politische Potenzial freilegen, das über die bloße sprachliche Kommunikation politischer Botschaften von Protestchören hinausgeht. Dadurch sollen verschiedene Einsatzmöglichkeiten chorischer Mittel spezifiziert und das Chorische als eine spezifische Praxis der Selbstbefragung konkretisiert werden. An der Art und Weise, wie chorische Verfahren eingesetzt werden, soll auch im Hinblick auf die völlig unterschiedliche historische Bewertung verschiedenartiger „Montagsdemonstrationen“ in Folge eine Differenzierung unterschiedlicher Protestchöre möglich werden. 5
Bereits im Jahr 2004 gab es eine Neuauflage von „Montagsdemonstrationen“, die sich gegen Sozialabbau und Arbeitsmarktreformen der Schröder-Regierung wendeten. Seit dem 17. März 2014 versuchen ominöse „Mahnwachen für den Frieden“ eine weitere Verbindung zur Friedensbewegung herzustellen. Die rechten Kreisen zugeordneten „Friedensmahnwachen“, „Montagsdemonstrationen“ oder „Montagsmahnwachen“ fanden in zahlreichen Städten Deutschlands und Österreichs zumeist montags statt. Bis heute instrumentalisieren sie die bürgerliche Versammlungs- und Meinungsfreiheit für rechtspopulistische, zum Teil antisemitische Aktionen der sogenannten „Neuen Rechten“.
62 | Protestchöre. Zu einer neuen Ästhetik des Widerstands
In diesem ersten Kapitel wird dazu ein Modell des Chorischen entwickelt, das die Idee der uniformen Chor-Form aufbricht, um auf die diskursiven Abstimmungs- und Organisationsprozesse hinzuweisen, die der harmonische Klang chorischer Vielstimmigkeit oder das Bild formschön arrangierter Chor-Gruppen oftmals unterschlägt. Die Betonung des Chorischen im Chor soll die besonderen Verfahrensweisen einer Praxis unterstreichen, die das Resultat koordinierter Leistungen sind, innerhalb derer sich interne, durchaus konfliktreiche Auseinandersetzungen oder Steuerungsprozesse ereignen. Ein Entwurf des Chorischen erkennt in Prozessen des kollektiven Arrangements ausdrücklich das Potenzial diskursiver Aushandlungen, die sich auf vielgestaltigen Ebenen realisieren. Das Chorische fokussiert Bewegungsimpulse und Dynamiken mannigfaltiger Körper und beschreibt ihre performative Realisation als eine nicht zwangsläufig auf ein vorab festgelegtes Ziel ausgerichtete Praxis der permanenten Veränderung. Es wird davon ausgegangen, dass sich an der Art und Weise, wie Protestierende heute zusammenfinden und gemeinsam vorgehen, ein entscheidender Wandel andeutet. In zeitgenössischen Protesten wird dabei immer weniger die selbstermächtigende Chor-Form angesteuert. Dagegen rückt die Prozesshaftigkeit des Chorischen als ein Mittel der Selbstbefragung in den Fokus. Oliver Marchart hat sich in seiner Studie zur Prekarisierungsgesellschaft bereits ausführlicher mit neuen Formen der Selbstbefragung und Selbstinfragestellung politischer Akteur*innen beschäftigt, die sich im Chorischen gleichsam abzubilden scheinen. Marchart argumentiert, dass sich mit den Protesten der Zapatistas in den 1990er Jahren bereits ein neues, identitätskritisches Verständnis von sozialem Protest angekündigt und dazu geführt habe, dass die Grundlagen politischer Bewegungen heute immer häufiger zur Disposition stehen. Statt konkrete Forderungskataloge zu präsentieren, würden sich die teilnehmenden Gruppen generell selbst infrage stellen. Sie hinterfragen eigene Ausschlussmechanismen und unterlaufen dadurch das, „was man früher als identity politics oder Identitätspolitik bezeichnet hat.“6 Wie aber ist das Chorische in besonderer Weise in der Lage, an der Unbestimmtheit kollektiver Identitäten zu arbeiten? Unter der Prämisse, dass sich die Identität sozialer Bewegungen heute zunehmend als verhandlungsoffen erweist, soll das Chorische in diesem Kapitel als eine diskursive Handlungspraxis konkretisiert werden, an der sich dieser Wandel darstellen lässt. Es wird argumentiert, dass das Chorische als ein konkretes Verfahren kollektiver Organisation einen Beitrag zur Erforschung von Protestaktionen leisten kann. Indem sich das Chorische selbst als identitätskritisches Verfahren erweist, kann es zu einem Werkzeug werden, um Protesthandlungen kollektiver Akteur*innen zu durchdringen. Um mit dem Chorischen die Performativität des Chores zu ergründen, soll ein Modell des Chorischen entwickelt werden, das das politische Potenzial chorischer Handlungen im Folgenden entlang der vier Parameter Performance, Organisation, Praxis und Widerstand weiter ausdifferenziert: Um das analytische Potenzial des Chorischen zu präzisieren und für die Erforschung von Protest nutzbar zu machen, soll erstens die performative Hervorbringung chorischer Materialität, die an lautliche, körperliche und räumliche Phänomene kollektiver Akteur*innen gebunden ist und in Opposition zur Identitätspolitik des Chores steht, fokussiert werden. Zweitens wird untersucht, wie das Chorische nicht nur 6
Marchart, Prekarisierungsgesellschaft, S. 219.
Protestchor | 63
dazu dient, zu gemeinsamen Aussagen zu finden, sondern wie Fragen der Organisation, des Ordnens und Arrangierens selbst ins Zentrum rücken, als Möglichkeit der Kreation erkannt werden und dadurch unmittelbar politische Aussagekraft entwickeln. Drittens soll gefragt werden, auf welche Weise Protestchöre selbstbezüglich und handlungsorientiert eigene politische Praktiken ausbilden, indem sie alternative Wahrnehmungssituationen eröffnen, neue Ordnungen implizieren oder den bestehenden Verfahren kollektiven Austauschs eine eigene Praxis chorischen Protests hinzufügen. Viertens werden die in der chorischen Form bereits angelegten Widerstandspotenziale herausgearbeitet. Während der Chor für ein Repräsentationsmodell stabiler Gruppenidentitäten steht, fragt sich schließlich, auf welche Weise das Chorische Prozesse der Selbstbefragung und Selbstinfragestellung stimuliert. Kann das Chorische als Motor eines Widerstands gegen sich selbst, gegen Identitäres im Allgemeinen verstanden werden?
1. PERFORMANCE „In dieser Bedeutung eines verwirklichenden, praktizierenden, unternehmenden, etwas effektiv vollbringenden und dabei mehr oder weniger effizient Schritte, Bewegungen, Übungsdurchgänge zurücklegenden Agierens erschließt performance das gesamte Spektrum von Tätigkeiten im Hinblick darauf, wie etwas sich vollzieht und wie es sich macht in seinem Vollzogenwerden.“7
Den Protestchor als Performance zu beschreiben, bedeutet, in den chorischen Handlungen politischen Aktivismus das Vollziehen, den Prozess des Aus- und Durchführens auch dort zu betonen, wo Protestierende ihre Bündnisse nicht selbst als Protestchöre bezeichnen.8 Der Performance-Begriff unterstreicht den Handlungs- und Aufführungscharakter spezifischer Praktiken und damit Aspekte des Tuns, in denen sich das Selbstverständnis einer bestimmten Gruppe von Menschen darstellen kann, Formen kollektiver Identität reflektiert oder in Frage gestellt werden.9 Das Konzept der Performance, das als theoretische Kategorie mit dem Aufführungsbegriff verwandt
7 8
9
van Eikels, Kunst des Kollektiven, S. 21. Als weitgefasste Kategorie schließt ,Performance‘ künstlerische Veranstaltungen wie Konzerte und Theateraufführungen ebenso ein wie Rituale oder Zeremonien, in denen die Verwendung von Sprache bedeutsam wird oder die Art und Weise der öffentlichen Darbietungen selbst in den Vordergrund rückt. Zum Gegenstand zählen neben künstlerischen Praktiken dann auch soziale, politische oder religiöse Ereignisse, an die sich kultur- und sozialwissenschaftliche Reflexionen und Identitätsfragen anknüpfen, die nicht mehr auf ästhetische Tanz- oder Theatertheorien beschränkt sind. In den Blickpunkt rückt das breite Feld theatraler Praktiken und somit soziale, kulturelle und politische Poetiken. Vgl. Sandra Umathum, „Performance“, in: Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat, Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 248-251, S. 249.
64 | Protestchor
ist,10 kann bezüglich der hier anvisierten Analyse chorischer Protesthandlungen dabei helfen, eine soziale Darstellungsweise außerhalb des Theaters zu fokussieren. Im Hinblick auf eine Untersuchung von Protestchören, in denen sich soziale, politische und kulturelle Entwicklungen der Protestgeschichte und chorischer Formen verflechten, erscheint die Verwendung des Begriffs förderlich, weil performance gleichsam selbst mit dem künstlerischen Feld, der sozialen Sphäre und dem politischen Bereich verwoben ist. Der Performance-Begriff verweist rein sprachlich auf die Nähe zur Performance-Kunst, die seit den 1960er Jahren als theatrale Gattung – neben Happening und Aktionskunst – politische Protestformen maßgeblich geprägt und beeinflusst hat. Der Performance-Begriff ermöglicht es daher, Protestieren im Sinne von cultural performance selbst als eine kulturelle Praxis zu analysieren oder im Sinne des amerikanischen Medienwissenschaftlers Jon McKenzie als ein MachtWissen-Dispositiv zu verstehen, das selbst als Paradigma kulturellen Wandels gedeutet werden kann.11 Zudem erlaubt das Konzept einen Brückenschlag, der die sinnlichen Wirkungen des Chores mit der Wirkungsebene politischer Auseinandersetzung verbindet. Während der US-amerikanische Anthropologe Milton Singer den Begriff der cultural performance im Jahr 1959 prägte, um wertorientierte kulturelle Veranstaltungen wie Hochzeiten, Konzerte oder Tänze zu klassifizieren, bedarf es für die gegenwärtige Protestpraxis zu Beginn des 21. Jahrhunderts einer Erweiterung seines Konzepts. Singers Definition klassifiziert cultural performances dadurch, dass sie an eine klar definierte Zeitspanne, ein organisiertes Programm und eine erkennbare Anzahl von Akteur*innen, Zuschauer*innen, einen Ort und Anlass gebunden sind.12 Im Gegensatz zu diesen deutlich abgrenzbaren Parametern scheinen in heutigen Protestperformances referenzielle Rahmungen jedoch gerade zu erodieren. Mit dem Chorischen sollen deshalb genau jene performativen Züge von Protesthandlungen in den Blick genommen werden, die sich in einer eigenständigen Weise auf bereits existierende Wirklichkeiten beziehen. Dadurch wird chorischen Handlungen in Protestsituationen ausdrücklich zugestanden, eigene kulturelle Handlungen zu erzeugen, die sich normativen Strukturen hinzufügen oder widersetzen. Das Potenzial des Performance-Begriffs liegt für die Untersuchung konkreter Protestpraktiken zudem dort, wo er Identitäts- und Gemeinschaftsvorstellungen zunächst kritisch gegenübersteht. Wie Judith Butler durch die Einführung des Performativen in die Kulturphilosophie nachhaltig demonstriert hat, ist ,Identität‘ als körperliche oder soziale Wirklichkeit nicht vorgängig gegeben, sondern das Ergebnis spezifischer kultureller Konstitutionsleistungen.13 Das Chorische kann als eine dieser spezifischen Konstitutionsleistungen konzipiert werden, da es an die Aufführung körperlicher Handlungen und damit Prozesse der Verkörperung gebunden ist. 10 Umathum bezeichnet die theoretische Kategorie der Performance als „bedeutungsgleich“ mit dem Aufführungsbegriff. Siehe ebd., S. 248. 11 Vgl. Jon McKenzie, Perform or else. From Discipline to Performance, New York 2001, S. 18. 12 Vgl. Milton Singer, Traditional India. Structure and Chance, Philadelphia 1959, S. XIIf. 13 Vgl. Judith Butler, „Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory“, in: Sue-Ellen Case (Hrsg.), Performing Feminism, Baltimore/London 1990, S. 270-282, S. 270.
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Im Unterschied zum dramatischen Chor und dessen Betonung von Sprechakten verlagert sich der Fokus beim Chorischen auf körperliche Handlungen, an die sich Prozesse der Verkörperung und der performativen Erzeugung von Identität anschließen. Wie gezeigt werden soll, kommt gerade körperlichen Handlungen des Chorischen als performativen Akten die Fähigkeit zu, sich nicht auf vorgängig Gegebenes beziehen zu müssen, das sie ausdrücken sollen. Vielmehr kann das Chorische Identitätskonzepte, die Identität als feste, stabile Einheit imaginieren, gerade unterlaufen, indem chorische Handlungen demonstrieren, wie Identität nicht im Vorhinein gegeben ist, sondern als Bedeutung erst hervorgebracht wird. Als Kenntnis wirkungsvoller Arrangements lässt sich ,Performance‘ als machtvolle Eigenschaft des Gestaltens beschreiben, die auf die Organisation des Politischen zurückgebunden werden kann. Als Kunst des Vollziehens bringt der Begriff den Gedanken ins Spiel, künstlerische Darbietungen chorischer Aufführungen selbst als Kultur des Organisierens zu beschreiben. Zudem kann der Performance-Begriff zum Ausgangspunkt einer Suche werden, deren Vorsatz ist, sich „nicht in müßige Streitereien um die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst verstricken zu lassen.“14 Protestchöre entstehen als Performance, indem chorische Handlungen intendiert zur Artikulation, Darstellung oder Realisation von Protest benutzt werden oder sich eher beiläufig als kollektive Sprach- und Bewegungsprozesse ereignen, in denen sich unterschiedliche Bedeutungen der Darstellung, Aufführung und Leistung verbinden. Protestchöre können als Performance der Dissidenz beschrieben werden, insofern der Performance-Begriff dabei unterschiedliche Handlungs- und Aufführungsweisen erfasst und es im Besonderen ermöglicht, zum einen den Vollzug körperlicher Handlungen und zum anderen deren Wahrnehmung zu differenzieren. Dadurch wird einerseits erreicht, die Aktionen des Protestchors als „kontinuierliche Transformationen von Bewegungsimpulsen, in denen Wahrnehmungen und Aktionen einander abwechseln“,15 zu würdigen. Protestchöre realisieren die Anwesenheit von Menschen als ereignisreiche Begegnungen, wobei zwischen der Aufführung konzentrierter Versammlungen im öffentlichen Raum und schwarmhaften, vorab wenig koordinierten Zusammenkünften ein breites Spektrum an Möglichkeiten des Erscheinens liegt. Neben der analytischen Beschreibung tatsächlicher Handlungsvollzüge können andererseits Prozesse der Rezeption unterschieden werden, die meist dazu tendieren, den ausgeführten Praktiken Bedeutungen zuzuweisen. Erst durch den wahrnehmenden Blick von Beobachter*innen werden Erfahrungen mit semiotischen Bedeutungen versehen. Im konkreten Fall chorischen Protests ereignet sich die Konstruktion von Sinn also maßgeblich durch Reaktionen eines Publikums, das oft äußerst unspezifisch als „allgemeine Öffentlichkeit“ konzipiert wird.16 14 Matthias Warstat/Julius Heinicke/Joy Kristin Kalu/Janina Möbius/Natascha Siouzouli, „Applied Theatre: Theater der Intervention“, in: Dies., Theater als Intervention: Politiken ästhetischer Praxis, Berlin 2015, S. 6-27, S. 18. 15 Christian Pischel, Die Orchestrierung der Empfindungen. Affektpoetiken des amerikanischen Großfilms der 1990er Jahre, Bielefeld 2013, S. 19. 16 Auf Grundlage dieser Beobachtung gilt es im konkreten Fall ausdrücklich zu klären, welche Rolle das Publikum im Rahmen der Protestereignisse tatsächlich spielt. Daran schließt sich insb. die Frage an, ob es sich um Zuschauer*innen handelt, die dem Protestgeschehen leiblich beiwohnen oder nur mediale Reproduktionen des Protests rezipieren.
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Produktiv lässt sich das theoretische Konzept performance also nutzen, wo es Emergenz-Phänomene betont oder unvorhersehbare und unmotivierte Erscheinungen miteinschließt, an deren Vorscheinen sich nicht selten die Hoffnung auf Veränderung knüpft. Dabei kann sich der Unsicherheitsaspekt chorischer Protesthandlungen durchaus zu einer politischen Kraft entwickeln, denn meist „scheint die Emergenz dessen, was geschieht, wichtiger zu sein als das, was geschieht, und in jedem Fall wichtiger als die Bedeutungen, die man ihm beilegen mag.“17 Ein Modell des Chorischen distanziert sich von der eindeutigen Übermittlung vorgegebener Bedeutungen und Botschaften. Es betont dagegen den theatralen Aufführungscharakter und die performative Dimension menschlichen Handelns. Die Relation zwischen dem bewussten Tun oder inszenierten Aufführen und der wirksamen Rezeption durch die Wahrnehmung anderer, die sich im PerformanceBegriff andeutet, lässt eine Nähe zum Konzept des Performativen erkennen. Das Performative chorischer Vollzüge akzentuiert, dass das, was letztlich zum Protestchor führt, immer wieder neu festgelegt wird. Das Chorische impliziert daher vielfältige Modifikationen: Zum einen steht es selbst für Veränderlichkeit, den Prozess kreativer Gestaltung, der ermöglicht, die sozialen und zugleich ästhetischen Rahmungen von Protest genauer zu untersuchen. Zum anderen führt eine Schärfung des Chorischen mit sich, deutlicher das wirksame Ausführen von Sprechakten, Prozesse materialen Verkörperns, die Erzeugung von Bedeutungen und den inszenierten Vollzug theatraler Aktionen innerhalb der Aufführung von Protest zu fokussieren. Die nachfolgend präzisierte Konzeption des Chorischen wird die performative Kultur des Protestchors also weiter konkretisieren, da sich das Chorische erstens explizit gegen die Tendenz verwehrt, eine feste Chor-Form zu werden – etwa als ChorFigur im griechischen Drama. Im Gegenteil entwirft sich das Chorische in Distanz zur dramatischen Form des Chores, dem traditionell eine feste Identität als Gruppe zugeschrieben wurde. Damit verweist das Chorische auf die Performativität chorischer Formen und eine kulturelle Praxis vor der Institutionalisierung des Chores im antiken Drama. Zweitens soll eine Konzeption des Chorischen auf Grundlage seiner spezifischen Materialität entwickelt werden, die umso deutlicher die in der Etymologie des Wortes choros angelegte Medialität eines Zusammenspiels räumlicher, körperlicher und lautlicher Aufführungen akzentuiert. Drittens soll ein performatives Modell des Chorischen schließlich als Performance der Chor-Werdung beschrieben werden, die sich von institutionellen Bedingungen emanzipiert und dafür stärker die ästhetischen Qualitäten einer kollektiven Praxis jenseits politischer Repräsentationsmechanismen betont. 1.1 Das Chorische als Gegenentwurf zur dramatischen Chor-Form Schon als vordramatisches Prinzip galt in der Antike eine chorische Praxis der gemeinsamen Zusammenkunft durch Musik, Tanz und Gesang. Ein Modell des Chorischen erinnert an die bemerkenswerte Entwicklungsgeschichte, die der Chor als theatrale Form und soziale Praxis durchlaufen hat, bevor er zu einer Rollenfigur im grie-
17 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 55.
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chischen Drama institutionalisiert und damit zu einer außeralltäglichen Interventionsform im Rahmen der Kunst stilisiert wurde.18 In seiner Funktion als Rolle im Drama repräsentierte der dramatische Chor einerseits die vielen anderen chorischen Formationen, die einem athenischen Publikum aus dem Alltag vertraut waren.19 Andererseits distanzierten sich dramatische Chöre von ihren rituellen Wurzeln, die sie zur Zeit der vordramatischen Feste vornehmlich auszeichneten.20 Während dramatische Chöre in einem durchaus fiktionalen Rahmen zur Aufführung kamen,21 hatten rituelle Chöre bei der Durchführung des Rituals die Aufgabe, die rituelle Handlung nicht nur darzustellen, sondern durchzuführen.22 Die Teilnehmer*innen ritueller Chöre verkörperten keine anderen Personen als sich selbst, dramatische Handlungen spielten dagegen oft an anderen Orten, fanden nicht in der Jetzt-Zeit, sondern zeitlich entrückt statt.23 Die Institutionalisierung der antiken Chorkultur im Rahmen von Dramenwettkämpfen vollzieht sich im 5. Jahrhundert v. Chr. im Zusammenhang eines grundlegenden kulturellen Wandels. Die Etablierung des Chores als dramatis personae dokumentiert die nachhaltige Transformation einer Kultur, deren kulturelles Erbe mündlich übertragen jahrhundertelang nur für das Ohr bestimmt war, keine schriftliche Fixierung kannte, sondern durch rituelle Rahmungen unterstützt „in ungebroche-
18 Zur Transformation des antiken Chores siehe ausführlicher Kap. II.1. 19 Vgl. Peter Wilson, The Athenian Institution of the Khoregia. The Chorus, the City and the Stage, Cambridge 2000, S. 4; Helen H. Bacon, „The Chorus in Greek Life and Drama“, in: Arion 3, No. 1 (1994), S. 6-24, S. 18. 20 In dramatischen Texten finden sich zahlreiche Stellen, die auf rituelle Ursprünge hinweisen. Gegen die vornehmlich religiöse Verankerung des Chores innerhalb der symbolischen Ordnung der Dionysos-Feste führt der deutsche Althistoriker Christian Meier die augenscheinliche Einführung der Theatermaske an, die die Tragödie „weit von allem religiösen Ritual der Zeit“ entfernte. Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, S. 63. 21 Als erzählte Handlungen für eine Bühne konzipiert unterschieden sich dramatische Chöre von alltäglichen Ritualen. „Unlike ritual, which is embedded into daily life, ,ritual‘ dancing on the stage is not integral to the dramatic action. Thus whenever a chorus acts as a dancing body it does so in an artificially created ritual context and must invoke words such as choros (,choral dance‘) and various hymnic genres that evoke the ritual setting.“ Steven H. Lonsdale, Dance and Ritual Play in Greek Religion, Baltimore/London 1993, S. 7. 22 Vgl. A. W. Pickard-Cambridge, The Theatre of Dionysus in Athens, Oxford 1956, S. 71. 23 Die Verschiedenartigkeit von praktizierter Ritualität und dargestelltem Ritual auf einer Theaterbühne spiegelte sich auch in der außeralltäglichen Sprachform der Verse. Lonsdale hat die Divergenz ritueller und dramatischer Chöre anhand drei zentraler Punkte festgemacht: der dramatischen Konventionen, der Beachtung des Ortes und der Berücksichtigung der Zeit. Zum ersten Aspekt der Bühnenkonventionen, die einen spezifischen Modus der Performance erzeugten, schreibt Lonsdale: „The dramatic convention that transformed the ritual chorus into a dramatic chorus was the ever-present mask. With this contrivance, the chorus was able to assume a different character. When added a costume, it was possible for the male performers to take on female roles, or those of aged citizens or other marginalized groups.“ Lonsdale, Dance and Ritual Play, S. 7.
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ner Folge“24 übermittelt wurde. Der wesentliche Transformationsprozess führte von einer oralen Kultur zur Literalität.25 Während uns die wenigen überlieferten Texte des antiken griechischen Dramas heute einen literarischen Eindruck in die Festkultur der Griechen vermitteln, lag der eindrucksvolle Charakter des Chorischen im Ausagieren des Kultischen begründet.26 Epen wie die Ilias oder die Odyssee bezeugen als älteste schriftlich fixierte Werke Europas, auf welche Weise sich Informationen vormals nicht wie für uns heute durch die verschriftlichte Form überlieferter Texte, sondern als vorgetragene Erzählungen vermittelten.27 Die Entstehung des dramatischen Chores verortet sich innerhalb einer bereits etablierten kulturellen Entwicklungsgeschichte chorischer Praxis, in der das Chorische als Prinzip und Methode einer mündlichen Überlieferungskultur wichtige Aufgaben übernahm. 28 Eng verflochten mit musikalischen und tänzerischen Darstellungsweisen bestand seine Funktion sowohl darin, eine Form kultureller Kontinuität zu gewährleisten, als auch darin, dem Beständigen im Rahmen seiner Aufführungen mit spontanen Anpassungen zu begegnen. Mit der Tragödie und der zunehmenden Verschriftlichung dieser chorischen Praxis durch das Drama setzte ein Prozess ein, der auch die innerhalb einer oralen Kultur verankerten Ausdrucksweisen – und damit explizit das mit Versen, Reim und Tanz verbundene musikalische Erbe des Chores – verdrängte.29 Diese Zurückdrängung chorischer Performanz – zunächst das Lossagen von den rituellen Wurzeln des Chores, seine spätere Institutionalisierung und schrittweise Re24 Walter Burkert, „Neues Feuer auf Lemnos. Über Mythos und Ritual“, in: Ders., Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, Berlin 1990, S. 60-76, S. 70. 25 Noch das Epos zeigt, wie der lebendige Vortrag des Erzählers, die mit der Dichtung verbundenen Sagen und Geschichten für Zuhörer*innen vergegenwärtigte und sich die Weitergabe gemeinschaftlicher Werte, allgemeiner Informationen und kultureller Erinnerungen auf mündliche Überlieferungen stützte. Siehe Walter Burkert, „Kekropidensage und Arrhephoria. Vom Initiationsritus zum Panathenäenfest“, in: ebd., S. 40-59, S. 53. 26 Burkert bezeichnet das Ritual als „Behälter“, der es ermöglichte, mythische Traditionen über Generationen hinweg zu überliefern, auch indem der griechische Mythos dabei „seine eigentliche Form in der mündlichen Tradition begabter Sänger“ fand. Burkert, „Neues Feuer auf Lemnos“, S. 70. 27 Bevor sie sich als eine der drei literarischen Gattungen verschriftlichte, stand neben Epik und Dramatik auch die Lyrik in direkter Verbindung zur mündlichen Kultur. Reim und Versmaß der lyrischen Poesie waren hilfreiche Stützen. Auch die mit Tanz und Musik verbundenen Elemente der Chorlyrik waren bewusst in diese Strategie eingebunden. 28 Siehe dazu auch Anton Bierl, „Doppeltanz oder doppelte Freude?“, in: Riemer, Peter/ Zimmerman, Bernd (Hrsg.), Der Chor im antiken modernen Drama, Stuttgart 1998, S. 2747, S. 41: „In einer auf Mündlichkeit der Kommunikation beruhenden Gesellschaft, die sich weitgehend über Mythos und Ritual definiert, stellt der griechische Chor einen zentralen Ort der kulturellen Sozialisation dar.“ 29 Zur Oralität siehe auch Walter J. Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987; Olson, David R./Torrance, Nancy (Hrsg.), Literacy and Orality, Cambridge 1991; mit Fokus auf das antike Griechenland siehe Wolfgang Kullmann, Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tübingen 1990; Ian Worthington, Voice into Text. Orality and Literacy in Ancient Greece, Leiden 1996.
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duktion im Drama – verweist auf grundlegende Veränderungen des Welt- und Selbstverständnisses der europäischen Kultur. In der zweiten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts setzt eine Entwicklung ein, die Hermann Schmitz als „Wasserscheide des Denkens“ und „Weltspaltung“ beschrieben hat.30 Sie findet ihren Ausdruck im wachsenden Bedürfnis einer Selbstermächtigung: Indem die psyché in die Rolle einer Individualseele hineinwächst, wird versucht, leibliche Dynamiken zugunsten kontrollierterer Selbststeuerung zurückzudrängen. Schmitz führt zu dieser „Entwöhnung vom urwüchsigen, von der Kultur zur gemeinsamen Situation geformten Vertrauen“31 weiter aus: „Was sich hier abspielt, ist die Weltspaltung als Selbstspaltung des Menschen im Interesse der Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen, die in die Seele wie in ein Haus, das das gesamte Erleben eines Bewußthabers einschließt, eingebaut werden, so dass der Mensch als vernünftige Person Herr im eigenen Hause werden kann und nicht mehr unbeherrschbar einströmenden Impulsen ausgesetzt ist. Zu diesem Zwecke wird die Welt zerlegt in je eine private Innenwelt für jeden Bewußthaber und eine zwischen den Innenwelten verarmt verbleibende, abgeschliffene Außenwelt […].“32
Wie im Folgenden weiter ausgeführt wird, birgt das Chorische einen eigentümlichen Widerstand gegen die von Schmitz geschilderten Prozesse der eigenen Verdrängung, gegen die Einschränkung affektiver wie solidarischer Formen der Teilhabe und des damit einander zuerkannten Vertrauens in sich. Für die Untersuchung konkreter Protesthandlungen soll das Chorische hier ausdrücklich als Gegenentwurf zur dramatischen Chor-Form konzipiert werden. Das heißt, dass das Chorische gerade nicht im Hinblick auf eine dramatische Figur konzeptualisiert wird. Damit richtet sich der Fokus auf die gezielte Praxis des Aufführens der „wirklichen“ Körper, die immer weniger Träger von Bedeutungen sind. Die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung verschiebt sich vom Körper als Zeichenträger auf dessen Materialstatus. Es verstärkt sich das deutliche Nachspüren einer an die „realen“ und verletzlichen Körper der Protestierenden gebundenen Sinnlichkeit. Die Performance des Chorischen ist folglich an Prozesse der Verkörperung gebunden, die als konkrete körperliche Handlungen verdeutlichen, dass chorische Protesthandlungen als Ereignisse durch mehrere Beteiligte hervorgebracht und erfahren werden. Im Chorischen speichert sich ein intuitives Wissen des Zusammenseins, das eine doppelte Aufmerksamkeit generiert: Im Inneren der Gruppe kann diese besondere Wahrnehmungsleistung zum einen als gleichzeitiger Vollzug verschiedener Haltungen beschrieben werden, als Abgleich von Positionierungen, als eine Praxis der Nachahmung, die Folge eines Nachgehens sein kann – der Kreation oder Motivation zur Bewegung im Kollektiv. Von außen werden Beobachtende in den Hervorbringungen des Chorischen zum anderen geordnete zeitliche Folgen erkennen können, die bekannten Formaten gleichen: Das Chorische kann auf diese Weise immer neue Formen annehmen, wieder in Figurationen zerfallen, einen beständigen Wechsel
30 Hermann Schmitz, Die Weltspaltung und ihre Überwindung, Rostock 2012, S. 3f. 31 Ebd., S. 6. 32 Ebd., S. 4f.
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wiederkehrender Intervalle abbilden oder offene, kaum eindeutig gegliederte Abschnitte erzeugen. Da der Chor schon in der Antike im öffentlichen Raum agierte, koppelt sich an seine Aufführungen das Bewusstsein einer ihn wahrnehmenden wie einer durch ihn erst erzeugten Öffentlichkeit. Die Bedeutung chorischer Performance wird allerdings nicht in der Restauration oder Wiederherstellung „des Öffentlichen“ angenommen, an die sich Vorstellungen „der Gemeinschaft“ knüpfen. Kai van Eikels hat darauf hingewiesen, dass Performance selbst zu einem „Modus einer Veröffentlichung“ werden kann – nämlich dadurch, „dass sie sich auf und in die gesellschaftliche Zerstreuung des Öffentlichen einlässt: jene ,fragmentierten Öffentlichkeiten‘, die Verfechter der institutionell-repräsentativen Demokratie bisweilen beklagen, weil deren Erscheinen das Phantasma der ,Großen Versammlung‘, der durch Massenmedien und staatliche Organe verwalteten zentralen Öffentlichkeit destabilisiert.“33 Bezogen auf den Protestchor ergibt sich folgende Konsequenz: Definiert man den Protestchor als ein durch Körper, Bewegungen und Stimmen hervorgebrachtes affektives Ereignis, das zum einen durch die leibliche Ko-Präsenz von Akteur*innen und Zuschauer*innen (zwischen denen sich eine Protesthandlung ereignet) entsteht und zum anderen durch körperliche Handlungen, die beide Gruppen vollziehen, dann „schließt ein solcher dynamischer und letztendlich weder in seinem Verlauf noch in seinem Ergebnis vorhersagbarer Prozeß Ausdruck und Übermittlung vorgegebener Bedeutungen aus.“34 Den Protestchor selbst als Performance zu imaginieren und chorischen Protest folglich als Aufführung zu analysieren, verlangt, sich bei der Untersuchung genau auf jene Prozesse zu konzentrieren, in denen Bedeutungen auftauchen, die aber auch erst in ihnen und durch sie hervorgebracht werden können. In diesem besonderen Feld wird Protest und seine spezifische Materialität „im Prozess des Aufführens von den Handlungen aller Beteiligten überhaupt erst hervorgebracht.“35 Das Chorische scheint dabei eine einmalige und nur bedingt kontrollierbare Konstellation der diskursiven Aushandlung abzubilden: Die Konfrontation unterschiedlicher Gestimmtheiten, Meinungen und Wünsche, die sich im Protestchor an einem bestimmten Ort als dynamischer Prozess realisiert, beschreibt zugleich die Konstitution eines temporären Resonanzraums. Im Gegensatz zum Aufführen einer konkreten Rolle realisiert das Chorische ästhetische Erfahrungen als ein Miterleben anderer Körper. Als ein spezifisches Handlungsvermögen kann das Chorische die Anteilnahme von Stimmungen und die Wahrnehmung von Raumgefühlen intensivieren, deren Perzeption sich durch mediale Repräsentationen wiederum transformiert.36 Eine Analyse chorischer Protestformen erfolgt entsprechend im Wissen, dass die Aufbereitung, Darstellung und zusätzliche Dramatisierung von Protestereignissen durch Medien eigenen Gesetzmäßigkeiten 33 34 35 36
van Eikels, Kunst des Kollektiven, S. 146. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 53. Ebd., S. 56. Zu Grenzen ästhetischer Repräsentation etwa von Traumata siehe auch Nikolaus MüllerSchöll, „Posttraumatisches Theater. Rabih Mroués Theater der Anderen“, in: Baumbach, Gerda/Darian, Veronika/Heeg, Günther/Primavesi, Patrick/Rekatky, Ingo (Hrsg.), Momentaufnahme Theaterwissenschaft. Leipziger Vorlesungen, Berlin 2015, S. 75-90.
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folgt, die die Wahrnehmung der Proteste zusätzlich verändern. Auch wenn im Folgenden die Frage im Blick behalten wird, ob die erlebte Sinnlichkeit chorischer Protesthandlungen nicht gerade auch ausschlaggebender Impuls für ihre mediale Reproduktion ist, richtet sich der Fokus dieser Arbeit auf die sinnliche Erfahrung von Protest als einem gemeinsam geteilten Erlebnis des Chorischen. Die Externalität chorischen Protests und die Exponiertheit kollektiver Artikulationsformen legen es nahe, die Figuration des Protestchors und die ihn durch ihr politisches Handeln konstituierenden Akteur*innen mit künstlerischen Performer*innen zu vergleichen. Dabei ist allerdings entscheidend, die Differenz zwischen dem Konzept des Performers und einer durch das Drama angelegten Rollenfigur herauszustellen. Das Chorische, das schon in der Antike auf eine vordramatische Tradition verweist, kann sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem zentralen Element des postdramatischen Theaters entwickeln.37 Mehr noch ist das Chorische mit dieser vordramatischen Entwicklung gewissermaßen aufgeladen, die im zeitgenössischen Theater postdramatische Zugänge zum Chor gerade wieder freizulegen versuchen. Ein Modell des Chorischen, das die Akzentuierung chorischer Vollzüge würdigt, entdeckt daher gerade in den rituellen Wurzeln des Chores das analytische Potenzial einer ganz spezifischen Materialität, die sich dementsprechend als eine die verschiedenen Ebenen der Lautlichkeit, Körperlichkeit und Räumlichkeit verbindende Praxis realisiert. 1.2 Die Materialität des Chorischen Ausgehend von der Etymologie des Wortes choros können drei nachvollziehbare Wahrnehmungsaspekte des Chorischen freigelegt werden, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen die spezifische Materialität chorischer Aufführungen thematisieren.38 Die Wahrnehmungsvielfalt des Chorischen gründet demnach auf den unterscheidbaren Bedeutungen des Chores als Tanzplatz, Tanz und Gruppe gemeinsam Handelnder. Aus phänomenologischer Sicht auf das Chorische ergibt sich ein analytisches Spektrum räumlicher, körperlicher und lautlicher Vollzüge, die seine Materialität qualifizieren und entscheidend prägen. Das Chorische offenbart ein relationales Geflecht unterschiedlicher Wahrnehmungsebenen, die je nach Wirkungsabsicht äußerst variabel und in unterschiedlicher Gewichtung zum Einsatz kommen können. Die sich anschließende Analyse von Fallbeispielen chorischen Protests geht von der Annahme aus, dass die performative Hervorbringung der Materialität des Chorischen maßgeblich dazu beiträgt, dass Protestchöre in besonderer Weise als gegenwärtig erscheinen. Materialität bezieht sich dabei auf die spezifische Verwendung und Wahrnehmung des Chorischen innerhalb der Aufführung von Protest. Die Materialität chorischer Körper oder Geräusche kann in einem Spannungsverhältnis zur Referenzialität chorischer Handlungen stehen und sich in Opposition zu jenem be-
37 Zu aktuellen Entwicklungen des Chorischen im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater siehe insb. Enzelberger, Genia/Meister, Monika/Schmitt, Stefanie (Hrsg.), „Auftritt Chor. Formationen des Chorischen im gegenwärtigen Theater“, in: Maske und Kothurn, 58. Jg., Nr. 1 (2012). 38 Zur etymologischen Annäherung an den Chor und die Differenzierung chorischer Materialität siehe explizit Kap. II 1.1.
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deutungszuweisenden Reflex positionieren, der die Wahrnehmung von ChorGruppen gewöhnlich auszeichnet. Anhand der spezifischen Materialität des Chorischen soll argumentiert werden, dass sich das Chorische durch Qualitäten auszeichnet, die seine Handlungen in ihrem phänomenalen und selbst-referenziellen So-Sein hervortreten lassen. Das Chorische ist demnach besonders in der Lage die Relation von Wirkung und Bedeutung in ein Verhältnis zu bringen, bei dem der Aspekt der Wirkung dominiert. Anders ausgedrückt wird dem Chorischen unterstellt, dass es die Aufmerksamkeit des Publikums nicht vordergründig auf mögliche Bedeutungen, sondern auf die phänomenale Organisation chorischer Vollzüge lenkt, die politisches Handeln nicht darstellen, sondern politisches Handeln performativ umsetzen. Im Unterschied zur Referenzialität des Chores als Rollenfigur im Drama steht das Chorische nicht für einen Zeichenträger, sondern für Erscheinungen und Wirkungen konkreter Handlungen im Moment ihrer sinnlichen Perzeption. Das Chorische verweist in ganz besonderer Weise auf die Interdependenz verschiedener Arten von Materialität. Am Beispiel der Stimme kann die performative Hervorbringung der besonderen Materialität des Chorischen besonders eindrücklich hergeleitet werden. Im Körper erzeugt, in den Raum drängend und dort als Geräusch, Ton oder sinnstiftendes Wort erklingend, ist die Bedeutung der Stimme nicht groß genug einzuschätzen. Stimmen betonen den ephemeren Charakter von Protesthandlungen und verweisen auf Dritte, an die sich die sprachlichen Beiträge richten, ein Publikum, von dem sie gehört werden sollen. Als situationsgebundene, körperliche Verlautbarungen sind Stimmen an sprechende Personen, deren Alter, Geschlecht und affektive Gestimmtheit ebenso gekoppelt wie ihre Aufführung „an einen Ort und eine Zeit sowie an bestimmte kulturelle, konzeptionelle und institutionelle Bedingungen.“39 Es sind die stimmlichen Verlautbarungen chorischer Verbünde, die am offensichtlichsten alle drei Arten der Materialität des Chorischen hervorbringen: Lautlichkeit, Körperlichkeit und Räumlichkeit. 1.2.1 Lautlichkeit Das Chorische ist vorwiegend durch lautliche Hervorbringungen im Stande, in uns einzudringen und affektive oder physiologische Reaktionen auszulösen. Der Rezeption und Wahrnehmung des Gehörten gehen akustische Verfahren der Erzeugung, etwa durch die Aufführung von Stimmen, Musik oder Geräuschen voraus. Chorische Verfahren können besondere Hör-Räume produzieren, in denen sich stimmliche, musikalische, geräuschvolle oder lärmende Elemente mischen. Dies kann dazu führen, dass sich der chorisch erzeugte Hör-Raum dehnt und über den geometrischen Raum hinaus erweitert.40 Das Chorische tendiert durch lautmalerische Arrangements, Methoden der Musikalisierung oder Rhythmisierung der Rede also dazu, dass sich die Lautlichkeit zum umgebenden Raum vergrößert. Der performative Raum des Chori-
39 Doris Kolesch, „Stimmlichkeit“, in: Fischer-Lichte/Dies./Warstat, Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 342-345, S. 343. 40 Zur aktuellen Diskussion verschiedener Raumtheorien und -konzeptionen siehe Susanne Rau, Räume, Frankfurt a.M. 2013; Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001.
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schen verliert so seine Grenzen und „öffnet sich für Räume, die ,außerhalb‘ seiner liegen.“41 Protestierende, die diese chorischen Strategien anwenden, führen vor, dass und gerade wie Sprache und Bedeutungen immer verkörpert oder material artikuliert werden müssen, um zur Erscheinung zu gelangen. Es wird vermutet, dass eine Ästhetik des Widerstands in Protestchören dort wirksam wird, wo es ihr gelingt, die Aufmerksamkeit nachdrücklich auf die Navigationsleistungen der lautlichen, körperlichen sowie räumlichen Materialität des Chorischen zu lenken. Das Chorische dient dann nicht mehr dazu, eine Protestfigur des Kollektiven zu erzeugen, sondern die phänomenalen Prozesse der Aushandlung auf spezifische Weise hervorzubringen. Als ein lautlicher Kollektivakteur, der demonstrativ auf Artikulationsprozesse verweist, können Protestchöre vorgängige politische Körper in Frage stellen. Die angesprochene Präsenz chorischer Gruppen, die als audiovisuelle Erscheinungen aus konkreten stimmlichen und gestischen Artikulationen hervorgebracht werden, stellt keine expressive, sondern eine performative Qualität dar. Anhand der performativen Hervorbringung der Materialität des Protestchors kann folglich überprüft werden, wie und mit welchem Ziel Protestierende eine potenziell widerständige Praxis anwenden. Ob Protestchöre einer performativen Ästhetik folgen, die mit weitreichenden politischen Konsequenzen erfahrbar macht, dass unsere Existenzweisen immer nur in einem konkreten räumlichen und zeitlichen Vollzug existieren, entscheidet sich also ganz maßgeblich am Einsatz des Chorischen. Vor dem Hintergrund eines doppelten Stimmen-Begriffs ist in Bezug auf die stimmliche Materialität chorischen Protests auch zu fragen, welche ästhetischen, materialen und medialen Aspekte sich durch den kollektiven Einsatz von Stimmen ergeben. Wie interagieren in chorischen Vollzügen selbst produzierte Töne und Geräusche sowie zusätzlich erzeugte musikalische Klänge als verschiedene lautmalerische Potenziale chorischen Protests? 1.2.2 Körperlichkeit Die Körperlichkeit des Chorischen beschreibt die Summe aller sinnlichen und materiellen Eigenschaften chorisch organisierter Körper und deutet auf die besondere Ausdrucksqualität ihres kollektiven Arrangements. Die Materialität des Chorischen verweist damit weniger auf Form, Größe oder Ausdehnung einer physiologischen Entität ,Chor‘ im Sinne eines zusammenhängenden Kollektivkörpers. Vielmehr weist sie auf die Performativität pluraler Bewegungsformen und tatsächlicher Handlungsvollzüge lebendiger Körper hin, denen eine gesellschaftliche Relevanz als soziales Handeln zukommt. Das Chorische entsteht durch das Arrangement individueller Körper, die sich in Form einer Anhäufung oder Versammlung über den Zusammenhang ihrer Anordnung definieren. Die körperliche Materialität des Chorischen fokussiert daher neben der Frage, wer diese Körper sind oder was diese Körper abbilden, vor allen Dingen, was diese Körper tun. Als ein System von Körperbewegungen steht die körperliche Materialität des Chorischen im Zusammenhang mit dem Begriff der Choreografie, der auf die mögliche und im Fall des Chorischen auf die sehr wahrscheinliche Organisation von Körperbewegungen in Zeit und Raum anspielt. Im Rahmen von Protesthandlungen, in denen sich plurale Akteur*innen abstimmen und ihre Körper zu 41 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 216.
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Agent*innen werden, können Verfahren der Komposition an Bedeutung gewinnen, wenn es beispielsweise darum geht, Bewegungsimpulse zu übertragen oder Bewegung bis hin zu Formen kollektiven Stillstands zu fixieren. Die flüchtige Materialität chorischen Protests und damit des Protestchors wird durch die sich im öffentlichen Raum bewegenden Körper der Protestierenden konstituiert. Bei den Körpern von Protestteilnehmenden handelt es sich um leibliche Körper, die im Rahmen symbolischer Handlungen des Protests zu Bedeutungsträgern werden können, jedoch keineswegs nur auf die Kommunikation politischer Botschaften reduziert werden dürfen. Ein solches Vorgehen hätte zur Folge, dass es umso schwerer fiele, die einzelnen Bestand- und Körperteile chorischer Figurationen, die durch ihr Zusammenspiel erst das Ensemble eines Protestchors ausmachen, in ihrer ganz spezifischen Materialität in den Blick zu nehmen. Als polymorphe Kollektivkörper, die nicht völlig einheitlich, zumindest aber einen zusammenhängenden Bezug einzelner Mitglieder erkennen lassen, zeichnen sich chorische Körperensemble durch eine Vielheit und Vielfalt von Körpern aus. Die Wahrnehmung dieser vielfältigen Vielheit von Körpern erscheint ganz offensichtlich als ein spezieller Wirkungsfaktor des Protestchors, dessen aufsehenerregende Körperlichkeit mehrere Fragestellungen auslöst: Handelt es sich beim Protestchor um einen Kollektivkörper? Und wenn ja, welches Potenzial verbirgt sich dahinter? Hindert die Figuration des Protestchors daran, einzelne Körper in den Blick zu nehmen? Oder fokussiert sie als Körperlichkeit die Organisation kollektiver Bewegungen, die Protest erst hervorbringen? Kann die besondere Präsenz des Protestchorischen überhaupt ohne bestimmte Verkörperungsprozesse erfahren werden? Oder entsteht die besondere Gegenwärtigkeit des Protestchors gerade erst als Folge spezifischer Verkörperungsprozesse? 1.2.3 Räumlichkeit Das Chorische zeichnet sich dadurch aus, dass es meist selbst als Raum im Raum anwesend wird oder sich dort zu räumlichen Arrangements zusammenfindet. Es stellt in Folge seiner physischen Kollektivkörperlichkeit selbst Räume her, die sich dem architektonischen Umfeld als sozialer Raum hinzufügen. Das Chorische neigt daher dazu, sich zu vorgefundenen Örtlichkeiten in ein Verhältnis zu setzen. Gleichwohl wird deutlich, dass die Räumlichkeit, die chorische Verfahren hervorbringen, nicht mit den Räumen gleichzusetzen ist, in denen sie sich ereignen. Ausgehend von den dynamischen Bewegungsmotiven chorischer Handlungen entstehen durch Zusammenballungen und Zerstreuungen kollektiver Akteur*innen Szenerien, die den geografischen Raum erweitern. Protestchöre erzeugen performative Räume, in denen sie für die Anwesenden neue Verhältnisse schaffen. Es ist anzunehmen, dass sich Protestchöre als eigenwillige räumliche Arrangements zu den sie umgebenden Räumen positionieren oder dort gezielt platzieren und in dieser Weise öffentliche Orte politischer Auseinandersetzung konstituieren, die herausfordernde Distanzierungen zum Alltäglichen herstellen. Wenn Protestchöre als Orte politischer Gemeinschaftsbildung in Erscheinung treten, obliegt es ihnen, räumliche Grenzen zu markieren oder in ihren Ausformungen durch Verfahren des Dehnens, Stauchens, Entzerrens oder Verbiegens eigene Topologien zu entwerfen, die Aussagekraft gerade im Verhältnis zu aktuellen Fragen gesellschaftlicher Verortung gewinnen.
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Protestchöre operieren vordergründig im öffentlichen Raum, mehr noch scheinen sie in die Öffentlichkeit zu drängen, um dort ganz eigene „Politiken des Raumes“ zu verfolgen. Besonderes Interesse gilt dabei jenen Verfahren chorischen Protests, die den Raum selbst in Beobachter*innen und Beobachtete aufteilen. Protestchöre setzen sich als chorische Aufführungen von Protest selbst in ein Verhältnis zur Öffentlichkeit, um in die gesellschaftlichen Ordnungen dieser Öffentlichkeiten zu intervenieren, diese zu tangieren, spürbar werden zu lassen oder zu stören. Wie zu zeigen sein wird, können für den Zugang zu öffentlichen Sphären ganz unterschiedliche Voraussetzungen bestehen, die es mitzudenken gilt, um den theatralen Raum des Protests als einen vom gesellschaftlichen Alltag getrennten Raum zu markieren. In den Beispielen wird ferner zu untersuchen sein, auf welche Weise Protestchöre durch Bewegungen von Menschen, Objekten, durch Klänge und Laute, vorgefundene Räume verändern. Welche räumlichen Bewegungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten favorisieren Protestchöre und wie schließt sich an die performative Hervorbringung ihrer spezifischen Materialität die Erzeugung ganz besonderer Protestatmosphären an, die Erfahrungen zusätzlich verstärken? 1.3 Das Chorische als Performance der Chor-Werdung In Opposition zur dominanten Erkenntnisschule des Rationalismus, der dem reinen Denken größere Bedeutung für die Erkenntnis beimisst als der sinnlichen Erfahrung, prononciert die spezifische Medialität des Chorischen das besondere Erleben einer Verflechtung von Musik, Sprache und Tanz.42 Die Reflexion des Chorischen sollte sich daher der weitreichenden medialen Qualitäten des Chores vergewissern und die Grundlagen der rekonstruierbaren Song-and-Dance-Culture des Chores zu einem zentralen Ausgangspunkt machen.43 Für eine Deutung des Chorischen ist es daher unabdingbar, das Chorische ganz entschieden vom antiken Verständnis der Musik her zu begründen, welches das Relationale und Verbindende, erst durch den gemeinsamen Beitrag Entstehende betont. Das Wort musikē, das im Griechischen einem Adjektiv entspricht und vordergründig die musische Betätigung und Erziehung umschreibt, deutet mehr auf eine soziale Aktion als auf künstlerisches Schaffen hin.44 42 Der Begriff der Medialität steht weniger für ein Interesse an technischen Medien als für die Frage, welchen Anteil Stimmen, Bewegungen und räumliche Parameter für das Zustandekommen des Chorischen als einem theatralen Ereignis haben. Mit Medialität ist folglich ein Analysetyp der Vermittlungsprozesse des Chorischen gemeint, der Prozesse der Kognition, der Kommunikation und Wissensproduktion auf ihre zugleich materiellen und zeichenhaften Konstitutionsbedingungen hin untersucht. Vgl. Hans-Christian von Herrmann, „Medialität“, in: Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat, Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 207-210. 43 Vielfach wurde auf das besondere Verständnis chorischer Dichtung als Einheit von Lied, Tanz und Musik hingewiesen, deren Inhalt uns „in Gestalt von Versen entgegen[tritt], die gleichzeitig Musik in sich verkörpern und als Tanzbewegung durch den Chor verwirklicht werden.“ Thrasybulos Georgiades, Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik, Hamburg 1958, S. 10. Vgl. dazu auch Gregory Nagy, Poetry as Performance. Homer and Beyond, Cambridge 1996, S. 2. 44 Einen ausgezeichneten Eindruck über die Rolle der Musik in den griechischen Kulturen vermittelt am Beispiel der Panathenäen H. A. Shapiro in ihrem Beitrag „,Mousikoi Ago-
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Thrasybulos Georgiades vermittelt in seiner Studie Musik und Rhythmus bei den Griechen ein Verständnis der griechischen Musik, das er als „gegenwärtiges Tun“ charakterisiert.45 Er argumentiert, dass die Musik der Antike kein fertiges, gegenständlich vorliegendes Werk darstellt, sondern immer erst als tätige Form eines gemeinsamen und daher resonierenden Erlebens hervorgebracht werden müsse.46 Bezieht man diese Überlegungen auf das Chorische rückt schließlich die Prozesshaftigkeit einer Form im Werden bzw. der Prozess der Formwerdung in den Fokus. Zusätzlich bilden musikalische Verfahren der Komposition die Vorlage, um im Chorischen noch deutlicher Aspekte des funktionalen Arrangements von denen wirkungsbasierter Gestaltung zu differenzieren. Das Chorische betont konsequent die eigenwillige Ereignishaftigkeit chorischer Verbünde, die sich mehr durch Brüche und Variationen auszeichnen als durch Einheitlichkeit. Wenngleich das Chorische für die Fähigkeit steht, körperliche Bewegungssequenzen, einzelne Verlautbarungen oder räumliche Zusammenkünfte als schwarmhafte Ansammlung zu synchronisieren, bündelt sich im verdichteten Moment chorischer Begegnung dennoch ein unendliches Spektrum an Möglichkeiten – eine Art reiner Potenz, die der Chor als Kollektivsubjekt zu unterschlagen scheint. Das Chorische soll daher unter dem Stichwort der Disjunktion und im Anschluss an den französischen Philosophen Michel Foucault konzipiert werden als ein „Denken der Vielfalt, der zerstreuten, nomadisierenden Mannigfaltigkeit, die sich von keinem der Zwänge des Selben begrenzen und zusammenfassen lässt […].“47 Die bisher vorgetragenen Gedanken zum Chorischen als Gegenentwurf zur dramatischen Chor-Form, seine spezifische Materialität und Medialität führen zu Skepsis gegenüber einem Verhalten, das dem Chor reflexartig eine eindeutige Identität zuschreiben will. Es ist nicht zu leugnen, dass eine Vielzahl der heutzutage auftretenden Chöre – ob als Bürger-, Beschwerde- oder Kneipenchor – die Form des Chores dazu verwendet, um sich als einheitliche Interessengemeinschaft darzustellen, deren Identität durch die eigene Namensgebung bereits klar markiert wird.48 Diese Versuche, die den Chor nach identitären Kategorien differenzieren und labeln, übersehen allerdings, dass das Potenzial des Chorischen gerade nicht in der Angleichung heterogener Akteur*innen oder der Synchronisierung vielfältiger Persönlichkeiten besteht. Der politische Auftrag, der sich infolge dieser Beobachtung im Chorischen gleichsam ausdrückt ist folgender: Dort, wo unterschiedliche Attribute aufeinandertreffen, muss die Kontingenz, die sich aus den Folgen der Pluralität ergibt, als besondere Leistung ertragen, ausgehalten, in jedem Falle zumindest navigiert werden.
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nes‘: Music and Poetry at the Panathenaia“, in: Jennifer Neils (Hrsg.), Goddess and Polis. The Panathenaic Festival in Ancient Athens, Princeton 1992, S. 53-75. Siehe auch R. P. Winnington-Ingram, Mode in Ancient Greek Music, Cambridge 1936. Georgiades, Musik und Rhythmus, S. 38. Ebd., S. 45. Michel Foucault, „Theatrum philosophicum“, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2 (1970-1975), hg. v. Daniel Defert u. Francois Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange, Frankfurt a.M. 2002, S. 93-122, S. 112. Vgl. dazu u.a. Chorprojekte wie den „Ich-kann-nicht-Singen-Chor“ von Michael BetznerBrandt, den Berliner Kneipenchor oder den Complaints Choir des deutsch-finnischen Künstlerpaars Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen.
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Ohne im Vorfeld sagen zu können, ob diese spezifische Leistung als ein freiwilliger Prozess unter Gleichberechtigten gestaltet werden kann, muss eine Praxis des Chores umso aufmerksamer analysiert werden, die ihn in einem System des Repräsentations- und Regietheaters instrumentalisiert. Umso kritischer sollte betrachtet werden, wenn es die selbst angewandten Methoden versäumen, den Umgang mit Fehlern, den Einfluss von Hierarchien, Verhaltensformen disziplinierenden Drills oder der Sanktionierung in ihren Arbeitsprozessen zu reflektieren. Vielfach zeigt sich aber, dass auch in gegenwärtigen Chor-Projekten und zeitgenössischen TheaterSprechchören eine disziplinierende Praxis des Chores an der Tagesordnung ist.49 Statt einer mit diesen Methoden operierenden, theatralen Form ,Chor‘ fokussiert die vorliegende Arbeit mit dem Chorischen daher ausdrücklich solche Verfahrensweisen, die dazu führen, dass in Protestereignissen Aktionen kollektiver Bewegung und Artikulation von den Involvierten aufmerksam wahrgenommen werden. Als eine soziale Praktik der Zusammenkunft beschreibt das Chorische dann den ergebnisoffenen Prozess der Chor-Werdung, der keinem vorgängig gegebenen Muster folgen muss, sondern sich jeweils neu und gegenwärtig konstituieren kann. Ein solches Modell des Chorischen bietet die Chance, den Stellenwert des Chores nicht nur auf den eines Repräsentanten einer Gruppe zu reduzieren. Vielmehr wird das Chorische so als Figuration konzipiert, die gegen die Produktion politischer Macht durch neo-autoritäre Formen arbeitet, indem sie alternative Formen der Gemeinschaftsbildung entwirft und vorstellt. Das Chorische steht damit für ein Möglichkeitsmodell von Gemeinschaft, für einen Möglichkeitsraum, in dem die Ansammlung mehrerer Akteur*innen und deren Vielstimmigkeit selbst im Unisono ein vollständigeres Bild der Organisation von Gruppen oder alternative Konzepte von Gemeinschaft hervorbringen können.
49 Siehe dazu das Dissertationsprojekt von Joanna Merete Scharrel, „...und dann nannte man uns plötzlich Bürgerchor!“, in dem sie sich mit aktuellen Beispielen der Chor-Bildung an deutschen Theatern auseinandersetzt. Unter anderem beschreibt sie aus der Perspektive einer Choristin exemplarisch, unter welchen ökonomischen und zeitlichen Bedingungen, mit welchem Ziel und welchen Methoden die Erarbeitung von Chören für die zeitgenössische Theaterbühne erfolgt.
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2. ORGANISATION „Mit performance als etwas, dessen Organisation in die Zuständigkeit einer ars performativa, einer Kunst des Vollziehens, des Verwirklichens, der praxis gehört, geht es um die organisatorische Dimension der Verwirklichungsbewegung. Anders als eine ars poetica, deren organisatorisches Wissen […] in die Logik des herzustellenden Machens eingeht und seine Macht kraft der Externalisierung von Zielen beweist, macht das Wissen der ars performativa Ziele im Sicheinlassen auf die Richtung der Verwirklichung aus.“50
Das Chorische materialisiert in seiner Prozesshaftigkeit ein System von Anordnungen, das auf konkrete Ziele ausgerichtet sein kann und dessen Techniken auf politische und soziale Wertesysteme verweisen. Den Verwirklichungen der chorischen Gefüge wohnt dabei selbst eine organisatorische Performanz inne, die in den gegenwärtigen Protestbeispielen eine Praxis politischen Aktionismus entstehen lässt, die weitreichende Schlüsse ermöglicht und bei der künstlerischen Verfahren eine Vermittlerrolle zukommt.51 Die Kunstfertigkeit (téchne) des Protestchors sollte daher als ein spezifisches Herstellungswissen verstanden und analysiert werden. Die Bezeichnung ,Protestchor‘ deutet auf die verschiedenen Bestandteile, einer Praxis des Protests und des Chores, die sich einerseits verflechten, andererseits jeder auf seine eigene Weise auf zwei zum Teil gegensätzliche Strömungen aufmerksam machen. Während die expressiven Qualitäten des Protests eher darauf ausgerichtet sind, Protest als ein Produkt herzustellen, betonen die chorischen Verfahren der Protesthandlungen jene Kraft des Verwirklichens. Wie es scheint, können im Protestchor zwei widerstreitende Organisationsmodi differenziert werden: die Ars poetica des Protests und die Ars performativa des Chorischen. Protest- und Chor-Form gehen in chorischen Protestaktionen neue Allianzen ein und können sich im Protestchor neu organisieren, indem sie sich auf einander beziehen, abstimmen, sich angleichen oder die Differenz ihrer grundverschiedenen Dynamiken produktiv herausstellen. Es wird vermutet, dass der Protestchor die wirksamsten Effekte dort vorweisen und realisieren kann, wo er seine eigenen Techniken als relationale Architekturen erprobt, folglich „aus der Zweck-Mittel-Bindung in eine selbstbezügliche Medialität heraustritt und zum Milieu von (Selbst-)Organisationsprozessen wird.“52 Die Chance, dabei auch mit kommunalen Strukturen experimentieren zu können, schließt die Möglichkeit ein, auch jene schwachen Gefüge neu zu bewerten, deren Rechtfertigung und Legitimation durch eigenes Handeln und nicht mehr durch die Anerkennung staatlicher Akteur*innen erfolgt.
50 van Eikels, Kunst des Kollektiven, S. 29f. 51 Ebd., S. 27. 52 Ebd.
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Im Folgenden wird zu klären sein, inwieweit die Figuration des Protestchors gegenwärtig geradezu als Distanzierung von einem Protesthandeln verstanden werden kann, das eindeutige Ziele verfolgt oder glaubt, die richtigen Rezepte immer selbst bereits zu kennen. Die Annahme lautet also eher, dass sich chorischer Protest gerade dadurch auszeichnet, dass er nicht einer Logik des Herstellens folgt oder „seine Macht kraft der Externalisierung von Zielen beweist.“53 Kai van Eikels Differenzierung zwischen einer ars poetica und einer ars performativa aufgreifend, lädt chorischer Protest vielmehr dazu ein, „Organisation weniger von der Planung und Anordnung, von den Mitteln und Formaten der Herrschaft über das Wirkliche her zu verstehen, [als] vielmehr die organisierenden Kräfte im Wirklichen und WirklichWerden wahrzunehmen.“ 54 Die Organisationsverfahren chorischen Protests sollen folglich als eine Kunst des Vollziehens betrachtet werden. Als ars performativa konzentrieren sich chorische Verfahren des Protestierens auf „die organisatorische Dimension der Verwirklichungsbewegung.“55 Die Organisation des Protestchors gliedert sich zu diesem Zweck in Möglichkeitsräume auf, besteht nicht in der Durchführung eines vorab festgelegten Ablaufs, sondern realisiert sich als taktvolle Reaktion auf unterschiedliche Einflüsse – Rhythmen, Gestimmtheiten, Geschwindigkeiten, Temperamente –, die van Eikels als ein „Sicheinlassen auf die Richtung der Verwirklichung“ oder als „ein Wissen, das sich im Einverständnis mit dem Wirklichen bildet und differenziert“, beschreibt.56 Die Unterscheidung zwischen einem praktischen und poetischen logos, zwischen Vollziehen und Herstellen, hat für das Verständnis von Organisation als einer Art „Herrschaft über das Wirkliche“57 weitreichende Konsequenzen. Van Eikels hat die politische Relevanz dieser Differenzierung ausdrücklich unterstrichen: „Ob man Organisation gemäß einer Logik des Praktischen oder des Po(i)etischen auffasst – und betreibt –, führt zu stark voneinander abweichenden, mitunter konträren Haltungen gegenüber der Macht, die performance zukommt […].“58 Die Macht, die der Performance chorischen Protests zugesprochen werden kann, ist abhängig von unterschiedlichen Faktoren und realisiert sich folglich nie konstant gleich, sondern stellt selbst das Resultat organisatorischer Gegebenheiten dar. Die Refokussierung der performativen Eigenschaften in den organisatorischen Verfahren des Protestchors soll jedoch verdeutlichen, dass der Ansatz, über die Organisation des Chorischen eine autoritäre Verfügungsgewalt von Protest anzuvisieren, bereits zu falschen Schlüssen führt. Es fragt sich, ob ein Nachspüren der organisatorischen Praxis chorischen Protests nicht vielmehr zu der Einsicht führt, dass sich Wirklichkeit nicht durch Organisieren herstellen lässt, „sich vielmehr gerade in ihrer organisatorischen Effektivität vom Herstellen und dessen Beherrschern emanzipiert.“59 Eine Ästhetik des Widerstands, die diesen Mechanismen begegnet, muss daraufhin keine subversiven Praktiken entwickeln, sondern höchstselbst die Praxis ihres 53 54 55 56 57 58 59
Ebd., S. 29f. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 30. Ebd., S. 29. Ebd., S. 31.
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Vollzugs herausstellen und den Akzent auf das Wie des Organisatorischen legen. Für die sich anschließende Analyse von Fallbeispielen ergeben sich demnach folgende Fragen: Wie organisieren sich Menschen im Protestchor? Wie interagieren verschiedenartige Körper im öffentlichen Raum? Wie vollzieht sich Protest, der maßgeblich durch chorische Dynamiken hervorgebracht wird? Und wie positioniert er sich gegenüber anderen kollektiven Dynamiken? Bei der Beantwortung dieser Fragen wird dem Chorischen die Fähigkeit zugesprochen und zugleich die Aufgabe aufgetragen, die eigenen autoritären Mechanismen, die den Chor als spezifische Organisationsform definieren, zu reflektieren. Dies wird umso dringlicher notwendig, da chorische Methoden eng mit einer bildungsbürgerlichen Pädagogik verbunden sind, die Menschen mittels Chor einerseits schulen möchte, andererseits festen Strukturen der Direktion oder des Dirigats nicht zu entkommen scheint. Um eine mit dem Chor verflochtene Philosophie der Repräsentation oder Vorstellungen, die vom Urbild sprechen, auf Ähnlichkeit und Nachahmung setzen, mehr und mehr aufzulösen, soll das Chorische der Autorisierung latenter Repressionen, die Einzelne zugunsten ästhetischer Formung in das Regime des Chores zwängt oder unterordnet, deshalb grundsätzlich Widerstand leisten.60 Im Folgenden werden Beispiele chorischen Singens und ensemblehaften Musizierens zeigen, auf welche Weise chorische Verfahren die Chance bieten, den Prozessgedanken der gemeinsamen Erarbeitung von etwas ins Zentrum zu stellen, um alternative Kooperationsmodelle zu erproben. Um das Chorische später als heuristisches Werkzeug produktiv für die Analyse chorischer Protestbewegungen zu nutzen, soll es daher ausgehend von einer mit dem Chor allgemein in Verbindung stehenden Praxis gemeinsamen Singens entwickelt werden. Das Chorische wird als eine Praxis des Chores anvisiert, die nicht zwangsläufig nur an der Präsentation ästhetisch wirkungsvoller Formen interessiert ist, sondern deren Augenmerk, Einsatz und Hingabe dem Erproben möglicher Interaktionsverfahren gilt. Als Abstimmungsprozess gemeinsam Singender oder Sprechender kann das Chorische als Schule sinnlichen Arrangierens beschrieben werden. Seine Organisation wird fortan nicht mehr als feste Form und Einheit gedacht, sondern als ein Prozess, der stärker die mannigfaltigen Dynamiken potenziell verschiedenartiger Arrangements im Werden akzentuiert. Als Sphäre relationaler Sinnlichkeit realisiert chorisches Handeln dann eine experimentelle Praxis, in der Potenziale entdeckt und angewendet werden und das Versprechen mitschwingt, dass sich Lebensvollzüge dadurch intensivieren. 2.1 Wahrnehmungsbasierte Verständigung als relationales Verorten Das Chorische stellt ein Beziehungsnetz her, in dem sich Singende oder Sprechende als „organischer Teil einer Gruppe verstehen und erfahren lernen und stets als mitverantwortlicher Teil eines Ganzen handeln.“61 Um im Gesangschor der Aufgabe eines ausgewogenen Klanges gerecht zu werden oder chorisches Sprechen im Unisono umzusetzen, verlangt die gemeinsame stimmbildnerische Arbeit von den Chorist*innen engagierte Wachsamkeit. Der Autorin und dem Autor des Handbuchs der 60 Vgl. Foucault, „Theatrum philosophicum“, S. 100. 61 Wilhelm Ehmann/Frauke Haasemann, Handbuch der chorischen Stimmbildung, Kassel 2000, S. 12.
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chorischen Stimmbildung zufolge hätten Chormitglieder „von der Atmung über die Tonhervorbringung bis zur Gestaltung und zur gemeinsamen Hörkontrolle“ alles mit ihren Nachbar*innen zusammen zu vollziehen.62 Der Dozent für Chorleitung Michael Betzner-Brandt hat dabei die kommunikative Funktion dieser chorischen Stimmarbeit mit Singenden deutlich hervorgehoben. Er schreibt: „[…] die anderen nehmen das auf, indem sie es wiederholen oder variieren oder auf eigene Weise antworten. So ist man schnell und unkompliziert im Kontakt miteinander. Man hört die anderen und sich selber zu, äußert sich selber musikalisch, wird gehört, man schweigt, denkt nach und lässt nachklingen. Kurz: Man kommuniziert auf musikalische Art. Das geht mit der Stimme sehr einfach.“63
An diese Beschreibung der spezifischen Relationalität musikalischer Kommunikation ließe sich anschließen, dass die komplexen Beziehungsgefüge im Chor zugleich die Wirkungen betreffen, die infolge der chorischen Verlautbarungen ausgelöst werden. Der deutsche Philosoph Dieter Mersch umschreibt den Laut entsprechend „als Singularität, als intensives Geschehen, als leibhafte Manifestation, die begegnet und durch die der Andere teilnehmend zugegen ist, sich aussetzt, entblößt, zeigt, auch das, was nicht gesagt wird oder gesagt werden kann, was nicht in der Textur des Textes aufgeht, daher nicht einmal ausweisbar oder markierbar scheint und doch unabweisbar ,da‘ ist.“64 Das Chorische fußt auf einem erweiterten Verständnis chorischen Spiels, das „weit mehr [ist] als eine Vereinigung tanzender, singender oder sprechender Darsteller.“65 Die Herausgeberinnen von „Auftritt Chor“, einer besonders aktuellen Formen des Chorischen gewidmeten Ausgabe der Zeitschriftenreihe Maske und Kothurn betonen sogar, dass chorische Verfahren gerade auch als „Vereinzelung der Beteiligten“ auftreten können und dabei die „radikale Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Teil und Ganzem“ eine herausragende Bedeutung gewinnt.66 Das Chorische lässt das jeweils neu zu erkundende Verhältnis von Kollektivität und Individualität spürbar werden. Das Chorische kann sich als ein interaktives Verfahren vorgestellt werden, das die Vorteile kooperativen Verhaltens erprobt, ohne dass die Basis der Kooperierenden zwangsläufig eine gemeinschaftliche Sphäre sein muss.67 Dennoch sollte dem Chorischen nicht abgesprochen werden, besondere Dynamiken zu erzeugen, die zur Kollektivierung von Individuen führen können. In dieser Lesart stellt das Chorische nicht nur kontinuierlich Verbindungen zu anderen her, von denen wir nicht abge62 Ebd. 63 Michael Betzner-Brandt, „Einleitung“, in: Ders., Chor kreativ. Singen ohne Noten: Circlesongs, Stimmspiele, Klangkonzepte, Kassel 2011, S. 7-8, S. 7. 64 Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 116. 65 Monika Meister/Genia Enzelberger/Stefanie Schmitt, „Vorwort“, in: Dies. (Hrsg.), „Auftritt Chor. Formationen des Chorischen im gegenwärtigen Theater“, in: Maske und Kothurn, 58. Jg., Nr. 1 (2012), S. 7-10, S. 7. 66 Ebd. 67 Siehe dazu auch Hannelore Bublitz, In der Zerstreuung organisiert. Phantasmen und Paradoxien der Massenkultur, Bielefeld 2005.
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trennt agieren, sondern stellt diese Bezüglichkeit – auch als Diskursivität einer behaupteten Relationalität – als soziales Netzwerk offensichtlich heraus.68 Wenn beim chorischen Singen oder Sprechen alle einzelnen Teile zu einem gemeinsamen Ausdruck finden, sich unterschiedliche Atemfrequenzen, Klänge und Rhythmen synchronisieren, kann das für alle Beteiligten – bei Akteur*innen wie Zuschauer*innen – überwältigende Gefühle auslösen.69 Diese besondere Art der emotionalen Erhebung wird mit der Form des Chores assoziiert, der das Abbild einer geschlossenen, einheitlich agierenden Personengruppe betont. Chöre agieren auf mehreren Rezeptionsebenen gleichzeitig. Bei der Untersuchung chorischer Protestformen, wird daher auch zu untersuchen sein, wie chorische Protestaktionen etwa mit der Verschränkung visueller Bildeindrücke und akustischer Tonfolgen arbeiten und solche Methoden als spezifische Techniken des Protestierens nutzen. 2.2 Technische Abstimmungsprozesse als Verfahren politischer Stimmbildung Das Chorische manifestiert einen spezifischen, an Techniken der akustischen und körperlichen Organisation gebundenen Koordinationsprozess. Im Bereich des Lautlichen produzieren chorische Verfahren organisierte Schallereignisse, die akustisches Material arrangieren. Je nach äußeren Rahmenbedingungen unterliegt die Produktion von Tönen und Geräuschen physikalischen Eigengesetzmäßigkeiten, insbesondere dort, wo die Erzeugung grundlegend an menschliche Stimmen gebunden ist. Als wahrnehmbare Schall- und Klangquellen können chorisch organisierte Gruppen dazu dienen, verschiedene akustische Qualitäten und Parameter wie Lautstärke, Klangfarbe, Melodie, Tonhöhe, Harmonik zu modulieren. Ohne das Chorische einem abgegrenzten Bereich wie der Vokalmusik oder der Instrumentation zuordnen zu müssen, veranschaulicht der Begriff der Mehrstimmigkeit als gleichzeitiges Erklingen mehrerer Stimmen besonders gut, wie chorische Verfahren ganz spezifische Koordinationsleistungen erfordern. 70 Die mehrstimmigen musikalischen Satzarten betreffen die rhythmische Organisation der Stimmen, die als Homofonie annähernd gleich oder als Polyfonie rhythmisch selbständiger angeordnet sein können. Auch im Hinblick auf chorische Bewegungsfolgen, choreografierte Passagen, konkrete körperliche Schritt-, Richtungs- oder Laufwechsel wird deutlich, dass das
68 Massumi hat entsprechend darauf hingewiesen, dass „die Art und Weise, wie wir unser Potenzial ausleben, immer vollkommen verkörpert und niemals vollkommen persönlich ist – das heißt niemals in all unseren Emotionen und bewussten Gedanken enthalten sein kann.“ Massumi, Ontomacht, S. 29. 69 Vgl. Kurzenberger, Der kollektive Prozess des Theaters, S. 45. 70 Zur Geschichte der Mehrstimmigkeit siehe auch Götz Dietrich Sasse, Die Mehrstimmigkeit der Ars antiqua in Theorie und Praxis, Leipzig 1940; Hans Heinrich Eggebrecht, Die mittelalterliche Lehre von der Mehrstimmigkeit, Darmstadt 1984. Mehrstimmigkeit ist nicht auf die abendländische Musik beschränkt, sondern in verschiedenen Kulturen nachzuweisen. So untersuchte der französisch-israelische Musikethnologe Simha Arom u.a. afrikanische Formen der Mehrstimmigkeit und Polyrhythmik. Siehe dazu Simha Arom, African Polyphony and Polyrhythm: Musical Structure and Methodology, Cambridge 1991.
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Chorische technische Abstimmungsprozesse voraussetzt, die selbst an verschiedenartige Regeln gebunden sind. Die Gesetzmäßigkeiten, Leitsätze und Prinzipien, die die je verschiedenen Disziplinen klassifizieren und auszeichnen, veranschaulichen zum einen, dass die Gestaltung des Chorischen als ein komplexes Raum-Zeit-Gefüge einen schöpferischen Prozess voraussetzt, der meist bereits etablierten Ordnungs- und Steuerungsprinzipien folgt. Zum anderen wird deutlich, dass Gemeinschaften, die diese Regularien nicht als die ihren definieren, durch das Nicht-Befolgen nur umso deutlicher die zuvor angesprochenen Potenziale des Chorischen demonstrieren. Durch entsprechende Übungen können stimmliche, sprachliche oder instrumentale Fähigkeiten trainiert und adäquat ausgebildet werden, um in Kenntnis des Möglichen am Gemeinsamen zu arbeiten. Die Techniken des Chorsingens dienen in diesem Fall dann beispielsweise dazu, einen ausgewogenen Gruppenklang herzustellen. Diese Ausgeglichenheit des Sounds wird durch gezielte Stimmbildung vermittelt, bei der die Wahrnehmung der Chorist*innen für die Möglichkeiten und Feinheiten der Stimme – ihre Dynamik, Höhen und Tiefen, die Intonation der Sprache oder die Reduktion von Nebengeräuschen – geschult wird.71 Auch das Trainieren der leiblichen Atmung, der Körperhaltung, Übungen zur Takt- und Tonlehre oder Praktiken wie das Einsingen oder die Lockerung des Zwerchfells dienen dieser Aufgabe. Erst durch das Erlernen und Festigen der Klang-Differenzierung des Kehlkopfs werden nuancierte Abstufungen der Klänge möglich.72 Das richtige Zusammenspiel von Stimme und Klangkörper vermag eindrucksvolle Wirkungen zu erzielen. Die Kenntnis ihrer Volumina und die Schulung von Techniken zu ihrer Anwendung sind daher Grundsatz jedweder chorischen Praxis. Werden die vorhandenen Regeln gemeinsamen Musizierens oder Sprechens verletzt oder chorische Mittel falsch angewendet, kann die angestrebte Wirkung verfehlt werden. In der Arbeit mit Laienchören werden diese stimmbildnerischen Schwierigkeiten insbesondere bei der Organisation größerer Gesangsgruppen offenbar: Sie entwickeln einmal keinen Klang oder sind ein anderes Mal zu laut.73 In ähnlicher Art sind viele weitere Situationen denkbar, in denen sich durch die fehlende Expertise
71 Vgl. Ehmann/Haasemann, Handbuch der chorischen Stimmbildung, S. 41. 72 Um Übergänge zu schattieren, eine Weitung oder Verengung des Klangkörpers zu stimulieren, neben ein warmes Vibrato auch kühlere Töne stellen zu können, bedarf es des gezielten Einsatzes von Dynamik, Timbre und Affekt. Dynamik meint hier die Veränderung der Klangstärken. Timbre bezeichnet die Klangfarbe als Eigencharakter einer Stimme. Bei einem mit seinen eigenen Gegebenheiten technisch geschulten Stimmorgan, tritt das Timbre einer Stimme mehr und mehr in Erscheinung. Damit ist das Timbre ein gutes Beispiel um zu zeigen, welchen Einfluss eine technische Stimmbildung auf die tatsächliche Wirkung einer Stimme haben kann. Zur Relation von Affekt und Stimme siehe auch Wolfgang Fuhrmann, Herz und Stimme. Innerlichkeit, Affekt und Gesang im Mittelalter, Kassel 2004. 73 Wenn durch die falsche Anwendung von Gesangstechniken etwa Atemluft entweicht, die nicht in Klang umgesetzt wird, kann der Ton flach werden. Bei ständigem Überdruck stauen die Singenden hingegen Luft an, der Kehlkopf arbeitet mit roher Kraft, was zu einem harten, unsauberen Klang führt. Der Chor ist dann bei aller Lautheit nicht tragfähig. Siehe auch Hellmut K. Geissner (Hrsg.), Das Phänomen Stimme: Natürliche Veranlagung und kulturelle Formung, St. Ingbert 2008.
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sinnliche Wirkungen nicht einstellen oder sich auch bei Sprechchören koordinierte Verlautbarungen durch eine bessere Kenntnis der Stimmtechniken verfeinern ließen. 2.3 Das Chorische als gestalterisches Organisieren Das Anliegen, durch chorische Verfahren einen harmonischen Gleichklang herzustellen, der imstande ist, außergewöhnlich intensiv oder überwältigend zu wirken, verweist auf die Anstrengungen und Techniken, derer es bedarf, um chorische Ensemble zu organisieren. Wer den Versuch wagt, mit Menschen gemeinsam zu singen, in einer Gruppe zu musizieren oder mit wenigen anderen einen Satz zeitgleich aufzusagen, der erfährt, dass das Resultat nicht immer die gewünschte Wirkung entfaltet. Statt einem einheitlichen Klang treten etwa Störungen auf, wenn die mitunter eigenwilligen Rhythmen Einzelner hervortreten. 74 Chor-Gruppen können dann überraschend dissonant wirken. Zahlreiche Chor-Übungen dienen dem Ziel, Gruppen zu ordnen, indem die Art und Weise ihrer sprachlichen, gesanglichen oder tänzerischen Vollzüge zu einer gewissen Geschlossenheit geführt wird. Wiederholte Proben unterstreichen den anvisierten Anspruch klanglicher Synchronizität, den viele Chöre in Form mehrstimmigen Gesangs oder durch das Sprechen im Unisono als ihr ästhetisches Ideal definieren. Die gegenwärtige Arbeitspraxis von Sprechchören im zeitgenössischen Theater verdeutlicht, dass eine der Hauptaufgaben des Chor-Trainings die Harmonisierung klanglicher Widerstände geblieben ist. Das engagierte Sprachtraining des Chorleiters Bernd Freytag kann beispielhaft für die aktuelle Arbeitspraxis an deutschen Theatern herangezogen werden. In einem Gespräch über seine Arbeit mit Laienchorgruppen äußert er: „Wir probieren das immer wieder, für jede Vorstellung. Das ist wie ein Orchester, das muss man immer wieder einstudieren. Wenn hinten schwebend gesprochen wird, muss es vorne grob genug sein, damit es sich absetzt. Solche Dinge muss man immer wieder in Erinnerung rufen und austarieren. Gruppen neigen ja immer zu einem gleichbleibenden Rhythmus, wie ein Herzschlag, wie bekommt man da die Überraschung rein? Wo ist die Störung?“75
Durch die Präsentation gemeinsam erarbeiteter Arrangements haben Chöre die Tendenz, die Vielzahl individueller Leistungen innerhalb des Chor-Ensembles zu verwischen. Bei genauerem Blick wird jedoch deutlich, dass sich das Chorische als gemeinsam Hervorgebrachtes nicht durch die Addition des Gleichen herstellt, sondern durch völlig unterschiedliche Beiträge einzelner Subjekte. Die Präsenz einer einheitlich agierenden Chor-Gruppe sollte daher nicht dazu verleiten, das sich darstellende Bild des Kollektiven oder den synchronen Chorklang mit der Tilgung individuellen Seins gleichzusetzen. An der Gleichmäßigkeit des Gruppenklangs zu arbeiten, indem Unstimmigkeiten und Dissonanzen, Abweichungen und Differenzen zerstreut, abgemildert oder eliminiert werden, bedeutet also keineswegs, dass alle zwangsläufig das 74 Da zu Beginn, d.h. ohne genauere Absprachen oder gezielte Festlegungen konkreter Abstimmungsverfahren, jede Person anders intoniert, kann das Irritationen zur Folge haben und den Effekt erzeugen, dass etwas nicht zusammenpasst. 75 Bernd Freytag, „Wo ist die Störung“, in: Theater heute, Nr. 7 (2009), S. 6-11, S. 9.
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Gleiche tun. Im Gegenteil: In den zum Teil aufwändig mehrstimmig komponierten Szenen handeln alle ihrer Stimmlage entsprechend, indem sie zugleich und wachsam auf die anderen reagieren. Das engagierte Sprachtraining von Sprechchören verrät wie die Notwendigkeit kontinuierlicher Gesangsproben im musikalischen Bereich umso deutlicher, dass die genuine Grundlage gemeinsamer chorischer Aktionen zweifelsfrei die Differenz ist. Anhand der kritischen Reflexion der homogenisierenden Wirkungen des Chores soll folglich überlegt werden, wie sich das Chorische stärker vom Begriff des Kollektiven löst – etwa indem deutlicher die basale Verschiedenheit einzelner Chorist*innen gewürdigt wird. Das Chorische betont Verfahren der Abstimmung als intensive Reaktionsprozesse innerhalb der Gruppe. Statt sich auf die Produkte des Ausgleichs zu fokussieren, schärft ein Modell des Chorischen die Wahrnehmung vielfältiger Navigationsleistungen innerhalb des Chores, die einer Aufmerksamkeit für sich und andere bedarf. Das Chorische stellt den Prozess des Aushandelns dabei nicht durch eine an Repräsentationsmechanismen orientierten Verfahrensweise her. Indem alle Beteiligten flexibel reagieren, Bezüge aufgreifen, sich zu den Beiträgen anderer verhalten und selbst etwas hinzufügen, realisiert sich das Chorische als ausgestellte Prozesshaftigkeit der eigenen Praxis. Für die Untersuchung chorischer Protestformen fragt sich, wie gerade chorische Verfahren die Ereignishaftigkeit der Variation herausstellen können. Wird das Chorische als Veränderung, Modifikation und Modulation beschrieben, das den Prozess zu einer gemeinsamen Form hin manifestiert, fragt sich ferner, wie chorische Proteste Spielarten der zerstreuten Vielfalt materialisieren. Das Chorische favorisiert variantenreiche Abweichungen und stiftet einen experimentellen Rahmen, durch den der Zustand sinnlichen Erprobens gehalten wird, um nicht in undurchlässige Formen maßvoller Ausgeglichenheit zu führen. Setzt das Chorische der technischen Virtuosität in Protesthandlungen also gerade den Konflikt entgegen? Stellt sich seine Produktivität letztlich als Risiko des Scheiterns dar, als Auseinanderbrechen des Chores, als Unfähigkeit zur Geschlossenheit, als Verfehlung intendierter Wirkungen? 2.4 Zur Interdependenz von Formung und Führung In der musikalischen Praxis wird im Ensemble oft die vergleichsweise hohe Eigenverantwortlichkeit und Kompetenz aller beteiligten Personen herausgestellt. Im Sinne eines zusammengesetzten Klangkörpers sind damit Vokal- oder Instrumentalensembles gemeint, in denen ein Part meist durch eine solistische Besetzung abgedeckt ist. Im Gegensatz dazu werden große Klangkörper wie das Orchester oder der Chor konzipiert. Aus der Zusammenstellung der Instrumente im Ensemble oder den spezifischen Aufgaben der Stimmen im Chor ergeben sich signifikante Konsequenzen für eine Beantwortung der Frage, wie diese Besetzungen organisiert werden. Im Vergleich zwischen Ensemble und Chor lässt sich ein weiterer Unterschied in der Führung feststellen. Ensembles haben meist keine eigenen Dirigent*innen, sondern werden von Mitspieler*innen oder Mitsänger*innen in der Rolle eines Primus inter pares geleitet. Hingegen werden Orchester und Chöre in der Regel von einer einzelnen Person angeleitet, die die Funktion des Dirigierenden oder Chorleitenden über-
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nimmt. Als führende Instanz organisiert diese das Zusammenspiel und steht der Gruppe in gewisser Weise voran.76 Während die Frage nach der Führung des Chores bis zur Antike, zur Leitung des Chores durch den sogenannten choregos zurückreicht, fragt sich gegenwärtig, wie ein Modell des Chorischen entwickelt werden kann, das gerade nicht der Differenz gegenüber einer Autorität bedarf. Wie es scheint, unterstützt der offensichtlich hervortretende Kontrast zwischen Individuum und Gruppe einerseits zwar die Konstituierung des Chores, andererseits fragt sich, wie ein Modell des Chorischen denkbar wird, das nicht zwangsläufig auf dem Antagonismus einer singulär geführten Gruppe fußt? Für ein Modell des Chorischen, das Fragen der Organisation dezidiert als politisches Handeln begreift, spielen Fragen der Direktion, Anleitung und Führung eine entscheidende Rolle. Eine Konzeption des Chorischen soll das klassische, auf einem Antagonismus beruhende Verständnis des Chores folglich an zwei entscheidenden Fronten transzendieren: Zum einen dort, wo sich seit der Organisation antiker Chöre, ihrer Ausgestaltung und Finanzierung, Fragen der Leitung und der notwendigen Autorität anschlossen; zum anderen dort, wo der Chor ab einem gewissen Zeitpunkt immer stärker erst durch die Gegenüberstellung zu Einzelschauspieler*innen in Erscheinung trat. Das Chorische soll im Folgenden als Hervorbringung eines Ensembles konzipiert werden, das grundsätzlich als freiwillige Zusammenkunft gedacht wird. Teil eines chorischen Ensembles zu werden, heißt dann nicht, sich unter die Direktive einer Führungsautorität zu stellen. Anstatt sich einer leitenden Instanz unterzuordnen, wird die Souveränität im Chorischen auf die gesamte Gruppe übertragen. Dadurch soll vermieden werden, dass sich innerhalb der Gruppe hierarchische Strukturen aufbauen oder sich bereits vorhandene Differenzen zu Statusfragen stilisieren. Es wird davon ausgegangen, dass der Verzicht auf Klassifizierungen neue Freiheiten mit sich bringt. Indem die Maßgaben einer führenden Instanz wegfallen oder die Gruppe davon abkehrt, das Programm einer spezifischen Form umzusetzen, können die normativen Strukturen der Souveränität und Autorität mittels konkreter Fragen des Vorstehens oder aber anhand der Organisation des Chorischen neu verhandelt werden. Das Chorische kann als praktische Konsequenz eines Szenarios konfiguriert werden, in dessen Anschluss es keine eindeutige Direktive für die Gruppe mehr gibt und eigene Abstimmungsmechanismen gefunden werden müssen. Die Koordinierungsleistungen, die dafür notwendig sind, können aus diffusen Impulsen hervortreten, wobei sich temporäre Engagements mit anderen Beiträgen dezentral verschieben. Zugunsten wechselvoller Leitungsfunktionen wagt das Chorische mit unbestimmter Freiheit zugleich das Risiko, weniger geordnet, zusammenhängend oder figurativ und damit nach künstlerischen Maßgaben weniger wirkungsvoll zu agieren. Dagegen stellt es das Prozesshafte heraus und erobert sich durch den Prozess ensemblehaften Erprobens das Spielfeld des Politischen zurück. Das Chorische hat insofern unmittelbare Konsequenzen für eine Politik des Wissens, welches nicht mehr von außen 76 Dass Dirigent*innen oder Chorleiter*innen eine vorgeordnete Autorität darstellen, wird in Aufführungen meist schon aus ihrer Position vor dem Ensemble deutlich. Entsprechend geringer befugt und weniger federführend können die einzelnen „geführten“ Teile des Orchesters oder Chores angesehen werden.
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durch Expert*innen oder Lehrer*innen eingebracht, sondern selbst festgestellt, bearbeitet und erfahren wird. Bis der Chor zu einer stabilen Form findet, wird er durch ein bewegtes Kräfteverhältnis charakterisiert. Erst das Stillstellen dieser Bewegungen verrät in seiner einfachen Gleichförmigkeit jene Balance, die den Blick für die notwendigen Prozesse zu dieser Form hin zerstreuen kann. Das Chorische tritt als ein Ort der Konfrontation auf, an dem sich eine Vielfalt von Kräften offen zeigt und Differenzen ausagiert werden. Das Verstellende des Chores liegt nunmehr darin, dass er ebenso den Zustand einer abgeschlossenen Kampfhandlung darstellt, „ein ebenes Feld, auf dem ein Kampf unter Gleichen stattfände.“77 Mit der chorischen Stimmlichkeit erklingt die „Einstimmigkeit des Seins“78 als artifizielle Form, die einen Chor-Körper produziert, der nicht mehr der eigene ist. Foucault spricht in diesem Zusammenhang vom Leib als einer „Fläche, auf dem die Ereignisse sich einprägen“, von einem „Ort der Zersetzung des Ich“, von einem „Körper, der in ständigem Zerfall begriffen ist.“79 Überträgt man diese Vorstellungen auf das Bild des Chor-Körpers, wird deutlich, wie sich in den Figurationen des Chores, seiner je verschiedenen Darstellungsweisen und der besonderen Art seiner Formung, eine Verbindung zwischen dem Körper und der Geschichte auftut. Der ChorKörper ist von der Geschichte geprägt, als kulturelle Erscheinung bildet er aber auch die verschiedenen Unterwerfungssysteme der Kultur ab. Seine Form ist „nicht die vorgreifende Macht eines Sinns, sondern das zufällige Spiel der Herrschaftsbeziehungen.“80 Foucault, der die Begriffe ,Herkunft‘ und ,Entstehung‘ differenziert, bezeichnet letzteres dabei als „den Punkt, an dem etwas hervortritt“ und als „Prinzip und Gesetz eines Erscheinens.“81 Das Chorische entspricht dieser Auffassung von etwas Entstehendem: Es ist die sich präsentierende Genese von etwas, das nicht abgebildet werden will, sondern sich vollzieht. Wie es Foucault für die Entstehung formuliert hat, handelt es sich auch beim Chorischen um einen wenig präzisen oder eingrenzbaren Ort der Konfrontation, analog „vielmehr um einen ,Nicht-Ort‘, um reine Distanz, um die Tatsache, dass die Gegner nicht demselben Raum angehören.“82 Vielfach wurde betont, der Chor sei nicht die Summe seiner Einzelteile, sondern in ihm würde sich etwas Zuträgliches addieren.83 Dieses Hinzukommende lässt sich als Erfahrung des Chorischen beschreiben, als Erlebnis, selbst Teil einer Verantwortungsgemeinschaft zu werden, die wie angedeutet nicht zwangsläufig bedeutet, individuelles Sein aufgeben zu müssen. Vielmehr steht dahinter die in ihrer Einfachheit 77 Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: Ders., Schriften in vier Bänden, Bd. 2, S. 166-191, S. 176. 78 Foucault, „Theatrum philosophicum“, S. 118. 79 Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, S. 174. 80 Ebd., S. 175. 81 Ebd., S. 174. 82 Ebd., S. 176. 83 Nach Ehmann und Haasemann ist der Chorklang „nicht die bare Summe der Einzelstimmen“, sondern „die Addition der Einzelstimmen plus x“, wobei „[d]ieses x das Chorische am Chorklang aus[macht], das Ensemblehafte.“ Ehmann/Haasemann, Handbuch der chorischen Stimmbildung, S. 12.
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doch schwierige Bereitschaft, sich einem noch Unbekannten hinzugeben, sich einem Wagnis zu überantworten, einen eigenverantwortlichen Beitrag zu einer Idee zu leisten und unter Umständen den Beschränkungen des eigenen Körpers, Denkens und Fühlens temporär zu entfliehen. Für die Analyse chorischer Protestbeispiele wird demnach von besonderem Interesse sein, inwieweit das Chorische in mehrere Richtungen wirkt: Liegt der große Vorzug chorischen Protests gerade darin, sowohl die eigenen Akteur*innen mit einem neuen Wahrnehmungsbewusstsein zu kräftigen, als auch dem Publikum neue sinnliche Erfahrungen zu ermöglichen? Wird das Chorische also nicht durch die Präsentation von etwas, sondern gerade durch den selbstreflexiven Blick auf die eigenen Vollzüge wirksam?
3. PRAXIS „Performance in der Perspektive der praxis aufgreifen heißt, Organisation weniger von der Planung und Anordnung, von den Mitteln und Formaten der Herrschaft über das Wirkliche her zu verstehen, vielmehr die organisierenden Kräfte im Wirklichen und Wirklich-Werden wahrzunehmen.“84
Das Chorische kann als Praxis wahrnehmungsbasierter Verständigung umschrieben werden, die auf mehreren Ebenen die Beziehung Einzelner zu sich und anderen erfahrbar macht. Zum einen helfen chorische Verfahren dabei, die Resonanzräume des eigenen Körpers sinnlich wahrzunehmen. Beim Sprechen oder Singen im Chor richtet sich die Aufmerksamkeit dann auf eigene körperliche Vollzüge. Indem man den eigenen Vibrationen nachspürt, verstärkt sich das Verhältnis zum Selbst oder kann intensiv als Selbstwirksamkeit erfahren werden. Zum anderen kann die Entdeckung, selbst Laute zu erzeugen, ihren Klang zu fühlen und somit Schwingungen hervorzubringen, die Erkenntnis befördern, dass diese erst im Zusammenspiel mit anderen resonieren.85 Für eine Konzeption chorischer Praxis spielen Resonanzerfahrungen eine entscheidende Rolle. Die konkreten Praktiken, die dazu führen, dass Menschen sich chorisch bewegen, miteinander singen oder aufeinander bezogen sprechen, manifestieren die Interdependenz einer stimmlichen Kunst, die an Körper gebunden und Teil unseres Lebens ist. Die bewusste Wahrnehmung dieser Verschränkungen kann zunächst einen veritablen, individuellen Nutzen mit sich bringen. Die weitreichendere gesellschaftliche Bedeutung chorischer Erfahrung wird in zweiter Konsequenz dann offenbar, wenn die Erkenntnis der eigenen stimmlichen Tragweite dazu führt, auch einen Beitrag für andere leisten zu wollen, was als zusätzliche Intensivierung einer emanzipierenden Kräftigung erfahren werden kann.86
84 van Eikels, Kunst des Kollektiven, S. 29. 85 Vgl. Betzner-Brandt, „Einleitung“, S. 7. 86 Die zur Verfügung stehenden Zahlen von Menschen, die regelmäßig in Chören singen, sprechen für sich: Das Pilotforschungsprojekt „Singing Europe“ unter Federführung der
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Als musikalische Metapher erinnert der Begriff ,Resonanz‘ an die außerordentliche Qualität der Musik als einem „extra-sozialen Spiegel für die Seele des (modernen) Menschen“.87 Töne und Klänge, die mit einer Praxis des Chorischen in besonderer Weise verflochten sind, können bei Menschen zum Teil enorme emotionale Erfahrungen stimulieren. Hartmut Rosa hat darauf hingewiesen, dass die klangliche Ereignishaftigkeit der Musik dabei einerseits emotionale Wirkungen wie Freude, Schmerz oder Ekstase zum Ausdruck bringt und anderseits ganz eigene (Resonanz)Wirkungen erzeugen kann – etwa wenn Musik das motorische Zentrum anspricht und in Folge Tanzbewegungen auslöst.88 Für die herausgehobene Bedeutung der Musik schlussfolgert Rosa, dass sie „dasjenige Medium zu sein [scheint], das Modi, Transformationen und Intensitäten der Weltbeziehung unmittelbar, das heißt ohne kognitive Projektion oder Vermittlung, zum Ausdruck zu bringen vermag.“89 Die Praxis des Chorischen wird durch die Signifikanz dieser unmittelbaren Wirkungen des Auditiven und einen doppelten Stimmen-Begriff fundiert. Die Stimme steht am Schnittpunkt verschiedener (Körper-)Kräfte. Sie ist sowohl Teil des Lebens als auch der Kunst und realisiert Kommunikation, die immer auf einen zu ihr gehörenden Körper verweist. Je nachdem wie er gepflegt und behandelt wird, ergeben sich positive oder negative Auswirkungen auf die Stimme.90 Sich im Chor zu erfahren, kann zur Grundlage dafür werden, körperliche Fähigkeiten fortzuentwickeln und selbst zu wachsen. Sich über seine Stimme klar zu werden, gewinnt dann eine über die Metaphorik hinausgehende politische Bedeutung.91 Mit der Anwesenheit einer auf unterschiedliche Weise hervorgebrachten Lautlichkeit stellen sich für ein Modell des Chorischen unweigerlich Fragen der Gestal-
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European Choral Association – Europa Cantat hat im Zeitraum zwischen Juni 2013 und Mai 2015 im Rahmen des mehrjährigen Kulturkooperationsprojekts „VOICE – Vision on Innovation for Choral Music in Europe“ Daten zum gemeinschaftlichen Singen Chören, Gesangsensembles und A-cappella-Gruppen erhoben. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass es sich beim Chorsingen um eine „widely spread cultural practice in Europe“ handelt. Es kann davon ausgegangen werden, dass 22,5 Millionen Bürger*innen der Europäischen Union, das sind 4,5 % der europäischen Bevölkerung, in insgesamt ca. 625.000 Ensembles oder anderen chorischen Formationen gemeinschaftlich singen. Die ausführliche Studie zur chorischen Singpraxis in Europa ist abrufbar unter: http://www.thevoiceproject.eu/filead min/redaktion-thevoice/VOICE/docs/singingeurope/singingeurope_report.pdf (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). Rosa, Resonanz, S. 265. Ebd. Ebd. Vgl. Ehmann/Haasemann, Handbuch der chorischen Stimmbildung, S. 10: „Wenn man seine Stimme und seinen Körper im Leben richtig behandelt, so kommt es dem Singen zugute; wenn man seinen Körper und seine Stimme beim Singen in die richtige Funktion bringt, so kommt es dem Leben zugute.“ Gayatri Chakravorty Spivak hat in ihrem Artikel „Can the Subaltern Speak“ die Erfahrung von Menschen beschrieben, die kein Recht auf eine eigene Stimme haben und diese Perspektive auf einen postkolonialen Diskurs ausgeweitet. Siehe dazu Gayatri Chakravorty Spivak, „Can the Subaltern Speak?“, in: Nelson, C./Grossberg, L. (Hrsg.), Marxisms and the Interpretation of Culture, Chicago 1988, S. 271-316.
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tung. Damit ist ein Bewusstsein angesprochen, das nicht nur offen für die klanglichen Vollzüge im eigenen Körper oder denen der Gruppe ist, sondern als responsives Gespür einer geteilten Erfahrung beschrieben werden kann, das kontinuierlich sondiert, wie die physischen und verbalen Artikulationen auf potenzielle Zuhörer*innen wirken. Die sich an der Lautlichkeit des Chores manifestierende Bedeutung der Stimme verdeutlicht diese intensive Relationalität einer über das Singuläre hinausgehenden und immer zugleich auf andere einwirkenden Tonalität. Chöre schließen sich zusammen, um Darbietungen vor einem Publikum zu präsentieren. Weniger die Leistungskriterien guter Performance müssen dabei im Vordergrund stehen als die Freude am Kontakt mit anderen. Gerade weil Chöre jedoch vor Zuschauer*innen und Zuhörer*innen auftreten, speichert sich in ihnen ein Wissen darüber, wie Dinge angeordnet werden müssen, um nicht belanglos, sondern wirkungsvoll zu erscheinen. In der Aristoteles zugerechneten Nikomachischen Ethik, in der der Begriff des Handelns so zentral ist, heißt es, die praxis finde ihr Ziel in einer Verwirklichungsbewegung. Als ein praktisches und theoretisches Handeln bezieht sich die Vorstellung einer solchen Praxis in Abgrenzung zum Begriff der poiesis – als einem der eigenen Wirklichkeit äußerlichen, zweckgebundenen Handeln – nicht auf ein Produkt ausgerichtetes Herstellen. Im Folgenden wird eine Praxis chorischen Protests daher weniger zweckrational und strategisch erfolgsorientiert ausgerichtet, sondern im Sinne von Jürgen Habermas als instrumentell erfolgsorientiert bezeichnet.92 Im Zusammenhang mit der Wirkung verfolgen chorische Praktiken mehr die Verständigung und Beobachtung der eigenen Position als die permanente Konstituierung eines Gegensatzes zu anderen. Die angenommene Differenz zwischen Aufführungen von Chören und der Relevanz des Chorischen als Aktionskern chorischer Protestformen ist folgende: Chorische Protestverfahren müssen den Akzent nicht auf die Inszenierung einer konkreten Aktion legen, sondern können sich auf den Vollzug einer Versammlung von Menschen als Hervorbringung eines chorischen Resonanzraums konzentrieren. In den zu untersuchenden Protestbeispielen ist entsprechend zu analysieren, in welcher Weise die Praxis des Chorischen an die unterschiedlichen Handlungen und Wahrnehmungen der Beteiligten gebunden bleibt, die das Geschehen erst durch ihre Zusammenkunft realisieren. Aufführungen von Protestchören können sich folglich als ein Miteinander ereignen, das sich unter den Akteur*innen und einem anwesenden Publikum „in unterschiedlichen Richtungen von Verwirklichungsbewegungen ausdifferenziert.“93 Als selbstreferenziell Handelnde können die an chorischen Protesten Beteiligten ihren Fokus auf die Prozesse dieser Verwirklichungsbewegungen richten. Indem sie in Differenz zu Verfahren der Herstellung treten, die ein Produkt erzeugen, entfalten Protestchöre eine ungeheuerliche Potenzialität, die auf noch nicht realisierte Mög92 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 1981, S. 384f. 93 Martin Nachbar, „Kommen und Gehen. Zur leiblichen Verfasstheit der Versammlung im ersten Teil von Nicole Beutlers ,2: Dialogue with Lucinda‘“, in: Burri, Regula Valérie/Evert, Kerstin/Peters, Sibylle/Pilkington, Esther/Ziemer, Gesa (Hrsg.), Versammlung und Teilhabe: Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste, Bielefeld 2014, S. 75-96, S. 77.
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lichkeiten hindeutet. Das Vermögen des Protestchorischen kann entsprechend in den disponiblen Fähigkeiten seiner Mitglieder, den offenen Strukturen ihres Zusammenfindens und den vielfältigen Wirkungsebenen ihrer Kollaboration angenommen werden. Eine Analyse chorischen Protests sollte daher atmosphärische Verschiebungen aufspüren, potenzielle Bewegungsformen und noch nicht realisierte Arrangements im Blick behalten, die sich aus der Zusammenkunft überaus heterogener Akteur*innen ergeben.94 Die wahrhaft politische Signatur des Protestchorischen liegt folglich darin, dass Protestchöre chorische Verfahren als politische Instrumente einsetzen, um sich diskursiv mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen. Sie entfalten ihre Wirksamkeit nicht durch die bloße Artikulation politischer Ziele, sondern durch die Betonung der eigenen, kontingenten Verhältnisse. Protestchöre können ihre Konstituierung als einen richtungsweisenden, offenen, zugleich beweglichen und daher wandelbaren Vollzug aufführen. Im Prozess des Auf- und Ausführens unterstützen chorische Artikulationsprozesse dabei, eine multidimensionale Offenheit zu bewahren, die die Verfahren der Bezugnahme und Abstimmung in der Gruppe als spezifisches Kommunikationsverfahren, letztlich als eine Kunst des Machbaren bestimmt und damit als politisches Handeln exponiert. Generell verdeutlicht eine Praxis des Chorischen auf all diesen Ebenen, dass das Potenzial von Protestchören weniger in der Ausstellung einer gemeinsamen Form liegen muss. Es wird vielmehr als körperliches Vermögen erfahrbar, bei dem die Qualifikation zu affizieren und affiziert zu werden eine besondere Relevanz entwickelt. Diesbezüglich hat der kanadische Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Brian Massumi auf die politische Dimension der Fähigkeit des Affizierens und Affiziertwerdens hingewiesen: „Wenn man etwas affiziert, dann öffnet man sich zur gleichen Zeit, um wiederum selbst affiziert zu werden. Und zwar auf eine leicht andere Weise, als im Moment zuvor. So klein der Unterschied auch sein mag, man hat sich verändert. Man hat eine Wandlung durchlaufen und ist über eine Schwelle getreten.“95 In chorischen Protestereignissen verschiebt sich das Interesse folglich auf die verschiedenen affektiven Wechselbeziehungen zwischen Akteur*innen und Publikum. Das Chorische beschreibt dabei einen Prozess des Sich-Einlassens, einen Zustand also, in dem es für die Beteiligten möglich wird, Veränderungen zuzulassen und sich für Neues zu öffnen. Unter der Voraussetzung eines gewissen Entgegenkommens kann die Bereitschaft, durch chorische Darbietung affizieren zu wollen oder sich selbst affizieren zu lassen, auf beiden Seiten stark variieren. Das Chorische stellt damit nichts Abgeschlossenes dar, sondern bildet wechselvolle, bewegungsreiche und zugleich spielerische Verläufe ab, in denen sich Menschen in Beziehung zur Welt setzen. Wird das Chorische als eine solche soziale Praxis in Bewegung beschrieben, in der sich die Konstitution politischer Ordnungen durch die Verfassung einer relationa94 Hier bleibt zu beantworten, ob sich das Potenzial des Chorischen auf dem Terrain politischen Protests gerade auch aus dem kontingenten Zusammentreffen anonymer Akteur*innen speist, die ergebnisoffene und daher mit einem Risiko behaftete Ereignisse kreieren, welche auf Verwirklichungen von Möglichkeiten hindeuten, die noch auszuführen sind. 95 Massumi, Ontomacht, S. 27.
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len Prozesshaftigkeit spiegelt, verspricht ein Modell des Chorischen, das sich als spezielles Resonanzphänomen versteht, für diese Untersuchung besonderes analytisches Potenzial: Wie sind Protestchöre in der Lage, nicht nur politische Forderungen zum Ausdruck zu bringen, sondern eigene Haltungen zu manifestieren und zu modifizieren? Bilden Protestchöre dann weniger zweckgebundenes Handeln, denn eine Praxis des Handelns ab, die Selbstzweck ist? 3.1 Das Wissen wirkungsvoller Performance als soziale Praxis in Bewegung Die Resonanzfähigkeit des Chorischen realisiert sich in sozialen Beziehungen als körperliches Handeln. Was und wie wir uns und andere bewegen, wie wir sprechen und protestieren, ist weder „natürlich“ noch allen gemeinsam. Unsere Wahrnehmung zeigt sich als ein Zusammenspiel von Bildung, Kultur, Erkenntnis und Emotionen. Als kulturelle Praxis, die sich durch Wissen und die Reflexion zahlreicher Erfahrungen speist, entfalten sich chorische Protestereignisse als komplexe Aufführungsgeschehen mit vielen internen Bezügen und externen Verweisen. Mit dem Fokus auf das Chorische als bestimmter Handlungssituation und Modus der Ausgestaltung verschiebt sich die Perspektive – wie die deutsche Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein betont – „von der Intentionalität der Handlung als einem gedanklichen Vorgang zu der Materialität des Handelns als einen Bewegungsakt.“96 Die Analyse des Protestchors konzentriert sich folglich auf die Herstellung einer sozialen Praxis „in und über Bewegung“.97 Da Bewegungen grundsätzlich relational sind, können sie „nicht vom isolierten Individuum aus verstanden werden, sondern nur in Relation zu ihrer Umgebung.“98 Protestchöre stellen zwischen Personen und der Welt Verbindungen her, die phänomenologisch und handlungstheoretisch als Bewegungsdialog verstanden werden können und entsprechend als solcher analysiert werden sollten. Die Vergewisserung dieser dialogischen Praxis, in der sich Selbstbilder und Fremdwahrnehmungen in einem dynamischen Prozess wechselseitig stimulieren, irritieren und korrigieren, stellt von vornherein feststehende Entitäten der sich Begegnenden in Frage. Der deutsche Soziologe Thomas Alkemeyer argumentiert in diesem Kontext, dass „beide Seiten nicht bereits vor und unabhängig von ihrem Austausch als voneinander abgesetzte Einheiten existieren, sondern sich gegenseitig erst in dessen Verlauf hervorbringen.“99 Bewegungen werden als spezifische Äußerungsformen sozialer Strukturen verstanden, denen die Aufgabe zukommt, diese intersubjektiv verständlich und sozial distinktiv zu kommunizieren. Norbert Elias, Michel Foucault und Pierre Bourdieu haben die Machttechniken der Zivilisierung, Disziplinierung und Habitualisierung
96 Gabriele Klein, „Bewegung denken. Ein soziologischer Entwurf“, in: Dies. (Hrsg.), Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld 2004, S. 131-154, S. 138. 97 Dies., „Bewegung und Moderne: Zur Einführung“, in: ebd., S. 7-19, S. 16. 98 Thomas Alkemeyer, „Bewegung und Gesellschaft. Zur Verkörperung des Sozialen und zur Formung des Selbst in Sport und populärer Kultur“, in: ebd., S. 43-78, S. 48. 99 Ebd., S. 49.
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beschrieben, die Bewegungen von Körpern gleichsam konventionalisieren.100 Während der Körper demnach immer auch als Repräsentant eines sozialen Status konzeptualisiert wird, hat Klein auf den Zusammenhang zwischen Bewegung und Macht hingewiesen: „Bewegungen sind also immer Effekte von Macht und treten als solche in bestimmten Figurationen oder Institutionen in Erscheinung.“101 Es scheint daher schlüssig, eine Praxis des Protestchors maßgeblich durch die Performativität kollektiver körperlicher Bewegungen zu bestimmen. Mit den performativen Eigenschaften des Körpers, der durch seine Fähigkeit zur Bewegung zugleich die Beweglichkeit des Sozialen verkörpert, scheint eine Veränderlichkeit auf. Alkemeyer beschreibt Bewegungen des Körpers, die „in (regelmäßigen) sozialen Praxen geformt und eingeschliffen werden“, nicht mehr als „strukturlose Mittler zwischen Ich und Welt“, sondern selbst als „spezifische Existenzweisen des Sozialen.“102 Diesem Verständnis zu folgen, heißt in der Beweglichkeit chorischer Protestformen eine Praxis kreativer Selbstveränderung zu entdecken, die Prozesse der Subjektivierung durch reflexive Körperpraktiken hinterfragt und ein Körperverhältnis entwickelt, das es gestattet, „gestaltend in die eigene Körpergeschichte einzugreifen und verändernd auf den eigenen Körper einzuwirken.“103 In Foucaults Aufsatz „Subjekt und Macht“ ging es dem französischen Philosophen um die Ausformung von Machtverhältnissen und die Analyse von Formen der Subjektivierung.104 Foucault bezeichnete das, was er als Subjektivierung versteht zugleich als Objektivierung, worunter er jene Formen von Macht einschließt, die Menschen zum Subjekt „objektivieren“. Foucaults Überlegungen zu Kämpfen um die jeweilige Form der Subjektivierung scheinen sich in den vielfältigen Artikulationsweisen chorischer Protestverfahren zu materialisieren. Statt allein gegen religiöse, politische und soziale Herrschaftsformen zu kämpfen oder die Dominanz ökonomischer Imperative zu verurteilen, können Protestchöre, die das politische Potenzial des Chorischen entdecken, zugleich auf einem anderen Terrain operieren: Das Chorische setzt beim Prozess der Subjektivierung selbst an, die infolge identitärer Zuschreibungen Bindungen erzwingt, Abhängigkeiten erzeugt, andere unterwirft und damit Herrschaft über sie ermöglicht. 105 100 Siehe dazu insb. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen [1939], Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft; Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1976/1990; Michel Foucault, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses [Surveiller et punir (1975)], Frankfurt a.M. 2002; Pierre Bourdieu, „Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis“, in: Ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen [1970], Frankfurt a.M. 2010, S. 125158. 101 Klein, „Bewegung denken“, S. 146. 102 Alkemeyer, „Bewegung und Gesellschaft“, S. 57. 103 Klein, „Bewegung und Moderne“, S. 7. 104 Siehe Michel Foucault, „Subjekt und Macht“, in: Ders., Analytik der Macht, Frankfurt a.M. 2005, S. 240-263. 105 Ein Widerstand deutet sich hier bereits dort an, wo die Signatur chorischer Anonymisierung dem zwanghaften Prozess identitärer Zuschreibung die Stirn bietet und chorische Protestverfahren Herrschaft und Ausbeutung bekämpfen, indem sie sich gouvernementalen Machttechnologien und Zuschreibungen anderer verwehren.
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Protestchöre können diesbezüglich als Ausformung einer alternativen Praxis konzipiert werden, deren Aktionen sich gegen die Reproduktion formierender Disziplinierungen wenden, indem sie unterdrückende Mechanismen körperlicher Zurichtung sichtbar machen. Chorischem Protest kommt dabei die Eigenschaft zugute, sich durch bewegliche und selbstkritische Verfahren als temporäre (Gegen-)Macht zu formieren, wodurch bestehende Machtverhältnisse oder vorherrschende Ordnungen als hegemoniale Gesellschaftsstrukturen demaskiert werden können. Mehr noch begünstigen die Handlungsvollzüge chorischen Protests, eigene soziale Ordnungsmodelle performativ hervorzubringen und für ein allgemeines, öffentliches Publikum sinnlich erfahrbar zu machen. Die bewegungsbezogene Logik chorischer Protestformen wendet sich dabei von eindeutigen Seins-Annahmen ab. Dagegen verdeutlichen ständige Korrekturen und Neu-Positionierungen, die in Weiterführung neue Identitätsfragen aufwerfen oder zu neuen Einsichten führen, dass es ausgehend von der Erfahrung kollektiver Protestereignisse eines neuen Subjektbegriffs bedarf. An dieses Bedürfnis koppeln sich Vorstellungen vom Subjekt als einer sich fortwährend verändernden, unabgeschlossenen und nie „fertigen“ Entität. 3.2 Das Chorische als Konstitution politischer Verfassungen Die Figur des Chores, die sich in der Antike aus Bürgern der Polis rekrutierte, dort eine sehr direkte Form der kulturellen Partizipation gewährleistete und dessen politische Reichweite seitdem mit dem Willen des Volkes assoziiert wird, berührt sehr direkt Fragen der politischen Theorie. In der abendländischen Philosophie gilt die Selbstregierung der Menschen im Anschluss an die griechische und römische Antike als ideale Praxis. Zentrale Frage der Demokratie ist seitdem, durch welche Art der Regierung eine möglichst große Zahl an Menschen nicht zum Aufstand, sondern zur politischen Teilhabe mobilisiert werden kann. Bei der Bestimmung wie das demos und die entsprechende Art der Herrschaft zusammengedacht und praktisch gelebt werden können, kristallisiert sich ausschlaggebend das Verhältnis von Menge und Versammlung als ein wiederkehrender und entscheidender Topos heraus. Die kontinuierliche Herausforderung demokratischer Selbstregierung betrifft also die Organisation eines absehbar viel zu großen Volkskörpers, der schon aufgrund seines zahlenmäßigen Umfangs gar nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu regieren. Die Politische Ideengeschichte entwickelte verschiedenartige Regierungs- und Verfassungsmodelle, die verhindern sollten, dass einzelne Bürger*innen in der Volksmasse verschwanden.106 Flankiert wurden politische Philosophien durch Vorstellungen der Masse als affektiver, schwer zu lenkenden Menge, deren Leidenschaften scheinbar nicht mit der rationalen, gemäßigten Steuerung des Staatswesens in Einklang zu bringen waren. Aus diesem Grund wurde fortwährend diskutiert, wie der Gefahr einer Tyrannei der Massen bei gleichzeitiger Gewährung einer Pluralität von Interessen entgegengetreten werden könne. Da selbst die Gründerväter der Vereinigten Staaten „in einer radikaldemokratischen Partizipation der Massen die Stabilität 106 Vgl. Isabell Lorey, „Demokratie statt Repräsentation. Zur konstituierenden Macht der Besetzungsbewegungen“, in: Dies./Jens Kastner/Gerald Raunig/Tom Waibel, Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen, Wien/Berlin 2012, S. 7-49, S. 16.
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des Gemeinwesens gefährdet“ sahen,107 beabsichtigten die Staatsmodelle von Locke, Montesquieu und Madison, die Bürger*innen durch Parlamente vertreten zu lassen. An die Konstituierung von Parlamenten als einer Interessenvertretung des Volkes und an die Etablierung repräsentativer Elemente der Demokratie koppelte sich die Idee, die Gefahr des Affekts zu beherrschen. Thomas Hobbes’ Bild des Leviathan108 versinnbildlicht exemplarisch und in seiner Radikalität wie kaum ein anderes das wiederkehrende Verständnis politischer Organisation als eingeschriebener Gefährdung des politischen Körpers durch Störung. Hobbes schreibt: „Eintracht ist Gesundheit, Aufruhr, Krankheit und Bürgerkrieg Tod.“109 Für ihn verbirgt sich hinter dem Begriff multitude daher nichts Gutes, sondern die ungeordnete, desorganisierte Meute, die er als tendenziell übergriffig, gewaltbereit und gefährlich darstellt.110 Um dieser Gefährdung zu begegnen, bräuchten die Menschen einen Souverän, der sie steuert, um eine Ordnung zu realisieren, „die sie aus eigener Kraft nicht herstellen können.“111 Im Gegensatz zu Hobbes’ Gesellschaftsvertrag konnte sich der englische Philosoph John Locke den Repräsentanten, der die Koexistenz unterschiedlicher Menschen organisieren sollte, nur noch als eine im Kollektiv agierende, gesetzgebende Versammlung vorstellen. Aber auch ein Regierungssystem von Menschen über Menschen brachte dauerhafte Probleme mit sich. In den Federalist Papers schrieben Alexander Hamilton, James Madison und John Jay, die nunmehr als drei der Gründerväter der Vereinigten Staaten verehrt werden, die Regierung müsse zuerst befähigt wer107 Ebd., S. 17. 108 Hobbes Theorie des Gesellschaftsvertrags verschrieb sich dem Ziel, die Koexistenz unterschiedlicher Menschen zu gewährleisten. Um den von Furcht, Ruhmsucht und Unsicherheit geprägten gesellschaftlichen Naturzustand zu überwinden, sollte ein Staat gegründet werden, in dem einem Souverän alle Macht übertragen wurde. Dies sollte durch einen Gesellschaftsvertrag geschehen, in dem alle Menschen unwiderruflich und freiwillig ihr Selbstbestimmungs- und Selbstverteidigungsrecht an den Souverän abtreten, der sie im Gegenzug voreinander schützt. 109 Hobbes, Leviathan, S. 5. 110 Spätere Konzeptionen der Multitude oder multitude negieren den Vorwurf des Chaotischen und sehen darin eine wichtige Form, die wegweisende Beispiele der Selbstorganisation verwirklicht. Negri und Hardt betonen, dass die Multitude auszeichne, keine Identität wie „das Volk“ mehr haben zu müssen. Die Multitude beschreiben sie als eine Anzahl Vieler, in der die je spezifische Diversität Einzelner nicht mehr ausgeglichen werden müsse: „Die Menge weist in sich unzählige Unterschiede auf, die niemals auf eine Einheit oder eine einzige Identität zurückzuführen sind – die Unterschiede zeigen sich als kulturelle, ethnische, geschlechtsspezifische oder sexuelle Differenz, aber auch als unterschiedliche Form zu arbeiten, zu leben oder die Welt zu sehen und als unterschiedliche Wünsche und Begehren.“ Die Multitude präsentiert diese soziale Differenz (die ebenso elementar für die Konstitution von Protestchören scheint, deren Schwerpunkt auf der performativen Hervorbringung dieser Unterschiedlichkeit liegt) und es möglich macht, „Differenz aufrechtzuerhalten und gleichzeitig miteinander Beziehungen einzugehen und gemeinsam zu handeln.“ Michael Hardt/Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 10. 111 Wolfgang Fach, Die Regierung der Freiheit, Frankfurt a.M. 2003, S. 99.
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den, „die Regierten zu beherrschen, und sie dann zwingen, die Schranken der eigenen Macht zu beachten.“112 Ausgehend vom Terrain politischer Organisation wird eine Verbindung zum Chorischen dort offenbar, wo das beruhigende Element der Mäßigung nicht durch die politische Ordnung des Gemeinwesens gewährleistet wird, sondern durch die ausgleichende Funktion einer kulturellen Praxis: Bereits in der Antike war der Chor als solidarisierende Maßnahme geradezu notwendig, „um mit den zwischenmenschlichen Problemen der Attraktion und der Aggression zu Rande zu kommen.“113 Der antiken chorischen Praxis kam in Form von Tänzen, Gesang und dramatischen Wettbewerben daher auch die im Ritual verankerte Aufgabe zu, gesellschaftliche Konflikte auszuagieren, zu besänftigen und zu befrieden, um die „Katastrophe der Gesellschaft“ zu vermeiden oder das „Gleichmaß des Lebens“ wieder herzustellen.114 Ohne an dieser Stelle das komplexe Problem der geeigneten gesellschaftlichen Organisation und die Diskussion der verschiedenen Lösungsansätze durch unterschiedliche Regierungsmodelle ausführlicher darzulegen, erscheint für diese Untersuchung von ungeheuerlicher Relevanz, dass sich die Steigerung einer allgemein feststellbaren Protestbereitschaft gegenwärtig gerade durch die Kritik an den aktuellen Verfassungen der westlichen Demokratien speist.115 Bemängelt werden Interpretation und gängige Praxis eines repräsentativen Demokratiebegriffs, an den sich die Aufgabe koppelt, die Souveränität des Volkes nicht direkt, sondern durch Vertreter*innen, Delegierte oder Abgeordnete zu realisieren. Die zunehmende Kritik an entleerten Repräsentationsmechanismen zielt auf eine Verurteilung des Verfalls politischer Kommunikation in einem Gemeinwesen, in dem einige wenige exklusive Privilegien genießen, während sich die Mehrheit als kollektiv machtlos empfindet. Für viele Menschen entsteht so der Eindruck, als habe man sich spürbar von demokratischen Idealen entfernt.116 Aktuelle Proteste, die diese Situationen beim Namen nennen, können auf vielfältige Weise als eine sehr direkte Reaktion auf die beschriebenen Defizite verstanden werden. Protestierende können dabei überaus pointiert Missstände anklagen, Quellen der Ungerechtigkeit lokalisieren und konkrete Verbesserungen einfordern. Ihren Protest bringen sie nicht individuell, sondern gemeinsam hervor. Sie vollziehen koordiniert gleichförmige Handlungen oder beginnen als eine Art Gemeinschaftskörper zu agieren. So entsteht das Bild einer Gruppe, die je nach Bindungsgrad und Aktions112 Adam, Angela/Adams, Willi Paul (Hrsg.), Hamilton/Madison/Jay: Die ,Federalist‘Artikel, Paderborn u.a. 1994, S. 314. 113 Burkert, „Neues Feuer auf Lemnos“, S. 71. 114 Ebd., S. 72. 115 Die lange Tradition der Demokratiekritik reicht zurück bis zu Platon. Siehe dazu Platon, Der Staat, in: Ders., Werke, Bd. 1, übers. v. G. Heß, Berlin 1890. 116 Zur Beschreibung der Lücke zwischen demokratischen Idealen und ihrer Realisierung siehe auch Mouffe, „Preface: Democratic Politics Today“, S. 1: „Indeed, once we acknowledge that what constitutes modern democracy is the assertion that all human beings are free and equal, it becomes clear that it is not possible to find more radical principles for organizing society. The problem therefore is not the ideals of modern democracy, but the fact that its political principles are a long way from being implemented, even in those societies that lay claim to them.“
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spektrum als chorischer Verbund oder Chor-Körper bezeichnet werden kann. Die Offensichtlichkeit dieser Chor-Körper vermag in Protestsituationen, sonst verborgene Verbundenheiten zu visualisieren. Um sich als Gemeinschaftskörper aufzuführen, tendieren chorische Protestformationen bewusst dazu, die Art und Weise ihres Zusammentretens auszustellen. Was aber kann das Chorische den Auseinandersetzungen hinzufügen? Welchen über die bloße Artikulation hinausgehenden Beitrag können die organisierenden und performativen Eigenschaften chorischen Protests leisten? Von besonderem Interesse für diese Untersuchung erscheint die körperliche Prozesshaftigkeit der qualitativ vielgestaltigen Kollaborationen, der es zur Konstituierung des Chorischen beständig bedarf.117 Zum einen soll analysiert werden, wie das Chorische Erfahrungen der Gemeinschaft ermöglicht, ohne dass dabei Individualität aufgegeben werden muss. In Folge geht es darum, die politische Relevanz körperlicher Erfahrungen zu ergründen, die nicht länger an Identitätsdiskurse geknüpft sein müssen, sondern sich als radikale Form direkter Demokratie entäußern.118 Zum anderen soll angeregt werden, das Chorische selbst als ein körperliches Protesthandeln zu verstehen, das sich habitualisierten Formen bewusst widersetzt.119 Bourdieus Begriff des Habitus kann als eine Theorie des Körperwissens dazu beitragen, die körperlichen Vollzüge chorischer Protesthandlungen jeweils auf ihre Politizität hin zu befragen. Der Körper wird dabei als etwas verstanden, das sich in alltäglichen Ritualen, durch Gesten, Stile, Formen und Handlungen jedes Mal als Schauplatz des Wissens beweist. In Bourdieus Theorie wird der Körper zu einem Ort, an dem sich verkörperte Geschichte lokalisiert und durch handlungsvolle Wiederbelebungen aktualisiert.120 Denkt man diese kontinuierliche Wiederbelebung körperlicher Vollzüge mit dem Protestpotenzial des Chorischen zusammen, scheint die Möglichkeit auf, die konkreten Praktiken des Protestierens zu nutzen, um den Kreislauf struktureller Wiederholungen zu durchbrechen. Der Habitus, der den Körper als
117 Nach Ulrike Haß liegt der Körperlichkeit des Chores in gewisser Weise „ein gemeinsamer, unter der Haut mit den anderen geteilter Körper zugrunde“, dem eigentümlich ist, dass er „immer wieder von neuem geteilt werden muß.“ Ulrike Haß, „Der Chor wird eher gehört als gesehen. Im Körper des Chores. Zur Uraufführung von Elfriede Jelineks ,Ein Sportstück‘ am Burgtheater Wien durch Einar Schleef“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Weiler, Christel (Hrsg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999, S. 71-82, S. 74. 118 Hierbei kann die Aneignung des Chorischen auf ein Körper-Wissen verweisen, an das sich die Hoffnung knüpft, die Akkumulation von Menschen jenseits von MasseDiskursen neu zu erörtern. 119 Entsprechend wäre auch zu klären, ob es ein spezifisches Körperwissen des Kollektiven gibt, das nur in der Gemeinschaft des Chores gegeben ist, nur dort erfahren und transformiert werden kann. 120 Zum Begriff des Habitus und der Habitusformierung siehe Bourdieu, „Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis“, S. 125-158; Alexander Lenger (Hrsg.), Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus: Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2013.
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verkörpertes Gedächtnis nicht nur als Ort der Geschichte, sondern zugleich als sein Instrument nutzt, aktiviert sich in Form praktischen Handelns.121 3.3 Die relationale Prozesshaftigkeit des Chorischen: Zur Potenzialität des Körpers Zeitgenössische Versuche die politische Verfassung aktueller Gesellschaften, die Konstitution politischer Körper und Konzeptionen des Subjekts zu verbinden sowie Phänomene wie Sinnlichkeit, Bewegung und Souveränität zusammenzudenken,122 haben durch die Reflexionen der kanadischen Philosophin Erin Manning zusätzlichen Antrieb erhalten. In Always More than One entwickelt Manning inspiriert von Whiteheads Prozessphilosophie und Simondons Theorie der Individuation ein „choreografisches Denken“, das ihr grundlegende Aussagen zur Prozessualität in Bezug zu Körpern erlaubt. Den Körper bestimmt sie darin nicht als einen stabilen, sicheren Zustand, etwas vorab Gegebenes, sondern als „what comes-to-be under specific and singular conditions.“123 Den Protestchor im Sinne Mannings als Körper zu denken, der sich momenthaft zusammensetzt ohne eine vorgefertigte Form kennen zu müssen, heißt, ihn als „a relative fact, a phase of being“ zu beschreiben.124 Die je verschiedene Körperlichkeit chorischer Protestformen wäre dann mehr Ausdruckskraft als Form, in Mannings Worten „more expressivity than form“ und damit mehr Ereignis als Objekt.125 Als einer von vielen anderen möglichen Zuständen realisieren chorische Proteste Prozesse der Individuation oder Ausschließung. Das Individuelle schließt im Moment einer sich etablierenden Körperformung zwar andere Möglichkeiten des Erscheinens aus. Indem Protestchöre Potenziale anderer Aktivitäten und Aktivierungen weiterer Wendungen virtuell jedoch mittragen, verweisen sie in ihrer scheinbaren Singularität auf das Mehr-Sein ihrer Form. Manning betont wie dem Körper damit immer andere Möglichkeitsformen eingeschrieben sind: „A body is always more than one: it is a processual field of relation and the limit at which that field expresses itself a such.“126 Im Anschluss an Manning können Körper immer nur kurzzeitig existieren. Sie sind nicht von Dauer, sondern nur momenthafte Seinserscheinungen. Körper geben eine Form als Einheit immer nur durch komplexe Prozesse der Differenzierung von anderen Möglichkeitsformen vor. Mannings spekulativer Pragmatismus legt ein Körper-Denken vor, das nicht vom Moment seiner Ausformung her konzipiert ist, sondern diesen in Relation zu vorläufigen und nachträglichen Entwicklungen denkt. Ein
121 Vgl. Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M. 2006, S. 238. 122 Siehe dazu auch Hunter, Lynette/Krimmer, Elisabeth/Lichtenfels, Peter (Hrsg.), Sentient Performativities of Embodiment: Thinking alongside the Human, Lanham 2016. 123 Erin Manning, Always More than One: Individuationʼs Dance, Durham 2013, S. 16. 124 Ebd. 125 Ebd., S. 22. 126 Ebd., S. 17. Die Relationalität eines Körpers, der immer mehr als seine aktuelle Erscheinung vorgibt, drückt sich auch darin aus, dass „the singular event of a form-taking can never be fully abstracted from the processes from which it has emerged.“ Ebd., S. 18.
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Körper umfasst demnach den gesamten Prozess des Formfindens und kann nicht allein auf den Moment seiner Ausformung beschränkt bleiben. Dadurch, dass mit jedem Formen-Halt neue Arrangements möglich werden, sich Konstellationen und Relationen verschieben, ist diesem Körperverständnis eine ungeheure Potenzialität eingeschrieben. Zentrale Frage ist daher nicht, was ein Körper ist, „but of what a body can do.“127 Neben dem Potenzial des Körpers handeln zu können, spielt hinsichtlich einer Analyse chorischer Protestformationen die Frage seiner In-formation entsprechend weniger als ein Kommunikationsprozess denn als singuläre Formfindung eine entscheidende Rolle. Manning beschreibt, wie die Information Kraft und Form aktiviert: „Information creates the potential for an immanent organization that activates the bodyʼs coming to be this or that its de-forming into a field of relation, an ecology of a body-becoming.“128 Mannings philosophischem Körperverständnis zu folgen, bedeutet sich auf ein Gedankenexperiment einzulassen, in dem jenseits politischer Realitäten die Welt als stream of perception aufgefasst wird, in dem das Subjekt nicht den Ausgangspunkt bildet, sondern selbst erst durch Wahrnehmungsprozesse entsteht. Erst durch die Wahrnehmung anderer können politische Subjekte als solche in Erscheinung treten. Subjekte und Objekte konstituieren sich demnach momenthaft. Sie sind Produkte mannigfaltiger Prozesse, aber nicht deren Voraussetzung. Chorische Protestformen, die als Ergebnis einer kollaborativen Praxis erscheinen, können als solch prekäre Zustände beschrieben werden, die von der Potenzialität einer Kraft aus gedacht sind. Konstituierend für den Protestchor als Ereignis ist demnach immer auch seine nachträgliche Deskription. Während sich das Ereignis durch die Tendenz auszeichnet, sich nicht willkürlich und doch ergebnisoffen zu ereignen, wird seine Prozesshaftigkeit durch nachträgliche Beschreibungen in gewisser Weise abgeschlossen. Das Potenzial für den Widerstand des Protestchors scheint dort auf, wo seine Affekte nicht linearen Schemata oder berechenbaren, vorgefertigten Konventionen folgen, sondern selbst als Kräfte wirken, die Ereignisse antreiben, bewegen oder verändern. Die Ereignishaftigkeit chorischen Protests weist den Protestchor folglich nicht als Form, sondern als Prozess resonierender Verortung aus. 3.4 Das Chorische als Resonanz Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa hat in seinem Buch Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung unlängst eine umfassende Theoretisierung des Resonanzbegriffs vorgelegt und die Nutzung des sozialphilosophischen Grundbegriffs ,Resonanz‘ als sozialwissenschaftliche Analysekategorie vorgeschlagen. Rosa geht davon aus, dass sich die Verknüpfungen leiblicher, affektiver und kognitiver Weltbeziehungen als Resonanzprozesse verstehen lassen.129 Unter Rekurs auf aktuelle Debatten der Empathieforschung, die Fähigkeiten wechselseitiger Einfühlung, der Perspektivübernahme und Entwicklungen sozio-moralischer Eigenschaften untersucht, dient der Begriff der Resonanz Rosa dazu, neben kognitiven Kompetenzen vor allen Dingen die Bedeu-
127 Ebd., S. 19. 128 Ebd., S. 20. 129 Rosa, Resonanz, S. 246.
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tung intersubjektiver Wechselbeziehungen als eine spezifische Resonanzfähigkeit des Menschen zu betonen. Rosa argumentiert, dass sich „nicht nur die Beziehung zwischen Subjekt und (Sozial-)Welt als Resonanzbeziehung rekonstruieren lässt, sondern dass auch die interne Organisation des Wahrnehmens, Denkens und Handelns sowie das Zusammenspiel zwischen Gehirn und Organismus erst nach der Logik von Resonanzprozessen adäquat begriffen werden können.“130 Die menschliche Resonanzfähigkeit, die für Rosa nicht nur blockierende oder verstärkende Funktionen hat, sondern „auf vielfältige Weise sublimiert, transformiert und umgelenkt werden“ kann,131 stellt einen entscheidenden Baustein für die Subjektwerdung des Menschen dar. Am Beispiel eines Kleinkinds, das den Sinn für das eigene Selbst anfänglich nur durch Blicke der Eltern entwickelt, verdeutlicht Rosa, wie Weltbeziehungen durch die Fähigkeit entstehen, sich im Verhältnis zu anderen und durch Reaktionen anderer – sprich in Resonanzprozessen – zu erfahren.132 Rosa bestimmt Resonanzverhältnisse als Bindeglied zwischen leiblichen und psychischen, emotionalen und kognitiven, evaluativen und senso-motorischen Weltbeziehungen. Um aus dem physikalischen Phänomen der Resonanz eine sozialwissenschaftliche Kategorie zu machen, beginnt Rosa die Reichweite des Resonanzbegriffs ausgehend von der lateinischen Wortbedeutung als akustischer Erscheinung zu entfalten. Resonanz bedeutet zunächst ,widerhallen‘, ,ertönen‘. Ferner kann Resonanz als spezifische Beziehung zwischen zwei schwingungsfähigen Körpern definiert werden, „bei der die Schwingung des einen Körpers die ,Eigentätigkeit‘ (beziehungsweise die Eigenschwingung) des anderen anregt.“133 Das Bild zweier Stimmgabeln illustriert diesen relationalen Vorgang: Wer eine Stimmgabel anschlägt, wird beobachten, dass eine zweite Stimmgabel in unmittelbarer Nähe ebenfalls zu schwingen beginnt. Unter der Voraussetzung, dass beide Gegenstände nicht gekoppelt oder verklebt sind und dadurch die Resonanz des anderen erzwungen wird, entsteht Resonanz in diesem Fall, wenn „durch die Schwingung des einen Körpers die Eigenfrequenz des anderen angeregt wird.“134 Ein Modell des Chorischen folgt der Annahme, dass das Aufeinanderbezogensein zwischen Umwelt, Leib und Gehirn durch vielfältige Resonanzverhältnisse und Antwortbeziehungen bestimmt wird. Formen intersubjektiver Aufmerksamkeit, etwa die Fähigkeit des Menschen, Stimmungsqualitäten zwischen zwei Körpern in Resonanz treten zu lassen, verdeutlichen die Nähe zu den interaktiven Erfahrungen des Chorischen. Die Relevanz des Chorischen kann als eine Resonanz-Theorie sozialer und politischer Interaktion durch das Bild der Stimmgabeln weiter ausgebreitet werden: Menschen sind durch Schwingungen mit ihrer Umwelt verbunden, sie schwingen mit, lernen einige dieser Schwingungen zu unterdrücken, andere zu verstärken.
130 Ebd., S. 249. 131 Ebd., S. 256. 132 Siehe dazu ebd., S. 257: „Subjektwerdung vollzieht sich auf solche Weise in einem dichten, interaktiven Resonanzfeld, aus dem heraus sich die Einsozialisation in die Welt und die Entwicklung der Sprach- und Gefühlsfähigkeit entfalten.“ 133 Ebd., S. 282. 134 Ebd.
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Die spezifische Entwicklung konkreter Resonanzverhältnisse lässt eine Bezugnahme zu chorischen Protestverfahren insbesondere dort zu, wo das Schwingen zweier Körper dazu führen kann, dass sich beide wechselseitig verstärken und die Amplituden der Schwingungen größer werden. Menschen, die chorische Verfahren des Protestierens wählen oder sich als Protestchor organisieren, finden zu einem besonderen Resonanz-Körper zusammen, um die spezifische Resonanzfähigkeit des Chorischen politisch nutzbar zu machen. Chorischer Protest manifestiert dann eine spezifische Form der interaktiven, koordinierten, intersubjektiven Verstärkung von Schwingungen, die darauf verweist, dass Menschen von etwas berührt sind und zugleich den Drang verspüren, handelnd in die Welt einzugreifen, andere zu erreichen, zu berühren: „Eine Resonanzachse existiert daher erst und nur dort, wo das Subjekt durch die Welt ,zum Klingen‘ gebracht wird, aber umgekehrt auch die Welt ,zum Klingen‘ oder, weniger blumig formuliert: zum entgegenkommenden Reagieren oder Antworten zu bringen vermag.“135 Während Chöre ohne Frage als Instrumente akustischer Verstärkung gelten, soll im Folgenden evaluiert werden, auf welche Weise chorische Verfahren des Protestierens zugleich die soziale Resonanzfähigkeit menschlicher Bezüge intensivieren, um zu einer Revitalisierung der Demokratie oder politischen Handelns beizutragen. Ein Modell des Chorischen, das auf einer Theorie der Resonanz fußt, kann in Protestsituationen dazu dienen, spezifische Formen der Beziehungsqualitäten zu beschreiben und diese als wechselseitige Antwortverhältnisse zu spezifizieren. In Anlehnung an Rosas Ausführungen deutet sich an, wie Protestereignisse als Situationen gesteigerter Resonanzsensibilität analysiert werden können. Indem Rosa ,Resonanz‘ deutlich von anderen akustischen Phänomenen wie beispielsweise dem Echo abgrenzt,136 besteht ein weiterer Vorzug darin, seine Differenzierungen für diese Untersuchung zu nutzen. Mit dem Fokus auf die je spezifischen Resonanzverhältnisse chorischer Protestereignisse ergibt sich die Chance, Protest zunächst anhand der konkret ausgeführten und beobachteten Bewegungen zu skizzieren, dann als einen besonderen (senso-)motorischen Akt zu charakterisieren und schließlich in Verbindung mit den Logiken sozialer Interaktions- und Widerstandsdynamiken zu bringen. An der spezifischen Art und Weise, wie sich Protestchöre zusammensetzen und verschiedenartig das unterschiedliche Potenzial von Resonanz oder Echo nutzen, bildet sich letztlich auch die Hoffnung ab, unterschiedliche Widerstandsformen chorischen Protests zu differenzieren.
135 Ebd., S. 270. 136 Rosa argumentiert, das dem Echo die eigene Stimme fehlt und darin nur das Eigene widerhallt, nicht das Antwortende. Vgl. ebd., S. 286. Ferner verdeutlicht er die Differenz zwischen Echo und Resonanz am Beispiel der Liebe: „Indessen bedeutet eine vollkommene Spiegelung des Anderen vermutlich das Ende der Beziehung: Auch und gerade die Liebe lebt nicht vom Echo des Eigenen im Anderen, sondern von der Antwort – wir würden aufhören, jemanden zu lieben, der uns stets widerspiegelt; er oder sie muss auch in einer solchen Beziehung als ,eigene Stimme‘ vernehmbar bleiben.“ Ebd., S. 260.
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4. WIDERSTAND „[…] vielleicht können wir kleine, praktische, experimentelle und strategische Maßnahmen vornehmen, um unser emotionales Register oder unser Denken zu erweitern, um bei jedem Schritt mehr auf unser Potenzial zuzugreifen, sodass tatsächlich mehr Potenzial verfügbar wird.“137
Dieses Kapitel hat vorgeschlagen, die sich durch chorische Verfahren konstituierenden Verbünde, die sehr allgemein als Protestchöre bezeichnet werden können, je nach Einsatzgrad des Chorischen zu differenzieren. Chorische Protestszenen entstehen als affektive Ereignisse häufig durch das momenthafte Zusammentreffen unterschiedlicher Menschen, die aufeinander Bezug nehmen, sich zueinander verhalten und sich dadurch auf intensivere Weise begegnen. Welche Bewegungen die Gruppe vollführt, kann im Vorfeld choreografiert, festgelegt und abgestimmt sein. Gleichwohl lässt sich vorab nur schwer bestimmen, welche Aktionen tatsächlich ausgeführt werden, insbesondere dann, wenn im Vorfeld keine Absprachen getroffen wurden und sich durch den erhöhten Koordinationsgrad gemeinsamen Agierens Handlungen erst situationsgebunden realisieren. Protestchöre ereignen sich damit als Prozesse kontingenter Synchronisierungen.138 Diese Synchronisierungsprozesse stellen eine weder notwendige noch unmögliche Eigenschaft chorischen Protests dar, die als deutlich herausgestellte Aufführung oder als im Protestgeschehen realisierte Erfahrung von Kontingenz bezeichnet werden kann. Die Zufälligkeit des Zustandekommens von Protestchören markiert eine zentrale Differenz zum Inszenierungsanspruch von Sprechchören auf Theaterbühnen oder Singchören im Musikbereich, die nicht durch Zufall zustande kommen: Sie sind organisiert, proben und werden geformt, um ihre Darbietungen vor einem Publikum zu präsentieren. Auffällig ist, dass die spezifischen Präsentationsformen und Inszenierungen dieser Chöre gerade gegen das Ungewisse arbeiten. Ihr Antrieb speist sich durch ein Verlangen nach Präzision, das einen besonders kunstvollen Genuss und ganz spezielle Wirkungen an die Herstellung eines ganz konkreten Arrangements bindet. In dieser Weise arbeiten Sprechchöre auf Theaterbühnen oder große Opernchöre im Musiktheater gegen die völlige Offenheit menschlicher Erfahrung. Sie stellen zugespitzt formuliert konsumierbare Produkte des Möglichen her, indem sie das Risiko fehlgeleiteter Wirkungen einschränken. Die Techniken des Chores folgen dabei der Vorgabe der Kontingenzbewältigung. Gerade dadurch, dass der Chor als Aufführung einer emergenten Ordnung selbst stets gefährdet scheint, richtet sich sein Streben umso deutlicher gegen das Kontingente. Im Gegensatz dazu können chorische Protestformen, die sich als schwarmartige Gebilde zu Protestchören formen, eine Unverfügbarkeit betonen, der eine latente Widerständigkeit bereits inhärent ist. Dennoch taugt der Schwarm, dessen Differenz
137 Massumi, Ontomacht, S. 29. 138 Zum Aspekt der Synchronisierung siehe auch Christian Kassung (Hrsg.), Kulturtechniken der Synchronisation, München 2013.
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zum Modell des Chorischen eingangs bereits betont wurde, wenig als kritische Widerstandsformation, wenn vordergründig seine Effizienz und Leistungsfähigkeit nach Kriterien eines postfordistischen Unternehmerdesgins im Vordergrund stehen. Da der Schwarm keinen institutionellen Ballast, sondern nur die pure Performance auf der Höhe der je aktuellen Initiative kennt, haben Kevin Kelly und andere im Zusammenhang mit der Theoretisierung des Schwarms auf die Leistungspotenziale dezentraler rhythmischer Selbstorganisation hingewiesen.139 Mit Blick auf Phänomene wie den Smart Mob, denen ein hohes Maß an Kontrolle und Führungsstrukturen nachgesagt wird, verrät ihr Interesse jedoch, dass das wichtigste Kriterium ihrer Bewertungen ein ökonomisches bleibt: die Effizienz. Dem Schwarm fehlt die kritische Distanz zur eigenen Praxis. Da lokale Interaktionen ohne die Notwendigkeit einer Vorstellung des Ganzen ablaufen, fehlt eine selbstbeobachtende Komponente. Dort wo Schwarm-Formationen darauf aufbauen, dass Basis-Regeln der Angleichung und Ausrichtung befolgt werden, wird das Verhältnis Einzelner und Menge stets neu als Einheit definiert. Folglich bleibt die Identität des Schwarms unberührt. Zwar handelt es sich um offen anonyme Verbände, in denen das gegenseitige Erkennen für die Schwarmzugehörigkeit jedoch eine Grundbedingung ist. Daraus folgt eine Tendenz zum Holismus, insofern Schwärme wie ein Riesen-Organismus als Verbünde einer Einheit behandelt werden. Protestchöre, die sich nicht durch einen darauf ausgerichteten Willen erschaffen, sondern in ähnlicher Weise wie Schwärme eher beiläufig „wie von selbst“ entstehen, werden durch das fehlende Erfahrungswissen der Koordinierung ganz unmittelbar mit Schwierigkeiten des Zusammenhalts und der Gefahr des Zusammenfallens konfrontiert. Der Begriff des Protestchors wirkt sich an dieser Stelle produktiv auf eine systematische Unterscheidung aus, die dazu führt zwischen inszenierten Chören und einer ergebnisoffen, experimentellen chorischen Form zu differenzieren. Protestchöre können zum einen als absichtsvoll geplante Protestchöre in Erscheinung treten. Sie entstehen durch ein im Vorfeld festgelegtes Arrangement und zeichnen sich durch einen hohen Grad inszenatorischer Arbeit, Training und Absprachen aus. Protestchöre können zum anderen durch eigenständige Dynamiken im Protestverlauf entstehen. Eine Besonderheit in diesem Fall ist dann, dass kein vorab festgelegtes Programm vorliegt, sondern sich plurale Akteur*innen zu prozessorientierten chorischen Kommunikations- und Artikulationsverfahren zusammenfinden, die für Beobachter*innen mit der Figur des Chores assoziiert werden. Entsprechend dem ersten Modell des Protestchors, das als repräsentatives ChorModell bezeichnet werden kann, sind auch für Protesthandlungen Aufführungen von Chören denkbar, die durch bereits bestehende Aktionsgruppen hervorgebracht werden. Immer wieder kommen auf Protestveranstaltungen Sprechchöre zum Einsatz, um relativ homogene Gruppierungen als politische Gemeinschaften zu bekräftigen. Vergleichbar mit der gängigen Praxis von Chören im Musikbereich, die sich in Verbänden organisieren und vorhandene Vereinsstrukturen nutzen, intensivieren sich in diesen konkreten Protestaktionen affektive und politische Tendenzen und damit real existierende oder imaginierte Bündnisse, die bereits vor Beginn der Protesthandlungen bestehen. 139 Vgl. Kevin Kelly, Out of Control. The Rise of Neo-Biological Civilization, Reading/MA 1994.
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Protestchöre können sich von diesen vereinbarten Zusammensetzungen, die an bereits vorhandene Bindungen anschließen, aber auch deutlich abheben. Mehr noch können chorische Verfahren selbst dazu dienen, plurale Akteur*innen nicht mehr als Chor-Formation zu präsentieren. Diese Protestchöre, die durch performative Akte der Selbstbefragung keine Gruppenidentität mehr behaupten oder zur Schau stellen, können als performative Protestchöre bezeichnet werden. Sie stellen einen Gegenentwurf dar, der sich durch das Chorische selbst thematisiert und dessen Aufmerksamkeit nicht länger der Durchführung repräsentativer Akte gilt. Diese Studie untersucht, wie sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Art und Weise des Protestierens ein Wandel vom repräsentativen zum performativen ChorModell abzeichnet. Dabei wird sichtbar, dass sich die Verfahren des Widerstehens zugleich gegen einen spezifischen Politikstil richten. Widerstand scheint mit chorischen Protestverfahren insbesondere dort auf, wo Resonanzerfahrungen neuerliche Auseinandersetzungen stimulieren, Dispositive der Kreativität und Leistungsorientierung ebenso wie Identitätskonzepte in Frage gestellt, die eigenen Praktiken betont anti-autoritär gestaltet und neue Kooperationsformen direkt erprobt und im eigenen Handeln umgesetzt werden. So erscheinen chorische Verbünde heute vielfach als prekäre Gemeinschaftsformationen, die sich als soziale Prozesse an offene Zielgruppen richten und erst in und durch die Szenarien des Protests als ein Resultat des gemeinsamen Erlebens sowie im Verlauf geteilter Erfahrungen entstehen. In seinen Gouvernementalitätsvorlesungen nennt Foucault eine ganze Reihe von Begriffen der Widerständigkeit – Widerstand, Verweigerung, Revolte, Ungehorsam, Widersetzlichkeit, Desertion, Dissidenz, Dissens und schließlich Gegen-Verhalten.140 Anhand der Aufzählung wird nachvollziehbar, dass Vorstellungen von Widerstand meist als reagierende Kritik auf bestehende Strukturen entworfen wurden, zuallererst also als Verhalten auf, eine Positionierung zu oder gegen etwas.141 Das hier vorgestellte Modell des Chorischen soll dabei helfen, einen Widerstandsbegriff zu konturieren, der klassischen Widerstand über seine rechtliche und moralische Legitimation hinaus weiterdenkt. Mit dem Chorischen gerät Widerstand nicht allein als ziviler Ungehorsam in einer rechtsstaatlichen Demokratie oder als politische Widerstandshandlung gegen ein Unrechtsregime in den Blick. Neben symbolischen Widerstandsaktionen offensichtlicher Opposition zielt das Chorische intentional weniger gegen konkrete staatliche Strukturen. Viel eher setzt das Chorische auf kleine, zersetzende Praktiken, die als Verfahren widerständig wirken, da sie gesellschaftliche Ordnungen und soziales Miteinander im Allgemeinen betreffen. Ohne den Kontext staatlichen Gewaltmonopols und politischer Macht zu ignorieren, soll es mit dem Chorischen vielmehr darum gehen, in der Art und Weise eigener Handlungsvollzüge eine Praxis zu erkennen, die sich Disziplinierungen widersetzt, indem sie in ihren Aktionsformen modellhaft selbst für die Veränderungen steht, die man herbeiführen möchte.142 140 Siehe Michael Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2004; Ders., Analytik der Macht, Frankfurt a.M. 2005. 141 Vgl. auch Gerald Raunig, „Was ist Kritik? Aussetzung und Neuzusammensetzung in textuellen und sozialen Maschinen“, abrufbar unter: http://eipcp.net/transversal/0808/rau nig/de (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 142 Vgl. David Graeber, Direkte Aktion. Ein Handbuch, Hamburg 2013, S. 27.
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Im philosophischen Diskurs dominieren wiederum Widerstandskonzepte, die dem hier angedeuteten Widerstandsmodell des Chorischen entgegenstehen. Widerstand wird insbesondere in der marxistischen Tradition als Kampf um Hegemonie bestimmt oder mit dem Begriff der Weigerung in Verbindung gebracht. Antonio Gramscis Theorie vom bewusst handelnden Menschen, die er aus Marxʼ Thesen über Feuerbach entwickelt, denkt Widerstand als eine revolutionäre Utopie, die in den Köpfen der Menschen wachse, um als Kampf um Hegemonie in die Gesellschaft getragen zu werden.143 Sein Konzept der „kulturellen Hegemonie“ wurde von der politisch linksgerichteten Bürger*innenrechtsbewegung und der 68er-Generation ebenso aufgegriffen wie Herbert Marcuses Widerstandsverständnis der „Großen Weigerung“.144 Während Adorno und Horkheimer dem Aktionismus der studentischen Proteste kritisch gegenüberstanden, verband Marcuse deren Leistungs-, Konsum- und Medienkritik mit praktischen Bezügen. Marcuse glaubte an die Legitimität einer aktivistischen Praxis, die Widerstand organisieren und verändernd auf die Gesellschaft einwirken sollte. In seinem 1967 in den USA erschienenen Werk Der eindimensionale Mensch vertrat er die Position, dass es gerade jene falschen Bedürfnisse und das positivistische Denken des bürgerlichen kapitalistischen Staates waren, die ein System stabilisierten, das kritische Auseinandersetzungen unmöglich machte.145 Als Perspektive und Ausweg deutete Marcuse eine „Große Weigerung“ an, bei der der Kunst die Funktion zukam, eine – wie er es nannte – „rebellische Subjektivität“ zu fördern.146 Auch John Holloways „Schrei der Verweigerung“,147 der als offener Widerstand gegen das Kapital gerichtet ist, oder das passivistische Widerstandsmodell von Antonio Negri und Michael Hardt, das sich an Melvilles Figur des Bartleby orientiert,148 verhandeln Widerstand unter dem Aspekt der Verweigerung. 149 Selbst Foucault spricht Widerstand im Sinne einer Desertion die Fähigkeit zu, „eine Verweigerung 143 Siehe Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. I-X, Hamburg 1991-2002. 144 Siehe Hendrik Theiler, Systemkritik und Widerstand: Herbert Marcuse und die Studentenbewegung, Marburg 2013; Christian Fuchs, Emanzipation! Technik und Politik bei Herbert Marcuse, Aachen 2005. 145 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, hg. v. Peter-Erwin Jansen, Springe 2014. Siehe auch Ders., Versuch über die Befreiung, Frankfurt a.M. 2008. 146 Marcuse verortete die oppositionellen Elemente seiner Zeit in der „höheren Kultur“ von Oper, Konzerten und dem Theater, die Foren bildeten, in denen als Widerstandsform Auseinandersetzungen gegen disziplinierende Ordnungen bzw. „die große Weigerung – der Protest gegen das, was ist“ noch möglich waren. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 83. Siehe auch Roland Roth, Rebellische Subjektivität. Herbert Marcuse und die neuen Protestbewegungen, Frankfurt a.M. u.a. 1988. 147 John Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster 2002. 148 Herman Melville, Bartleby, Stuttgart 2002. Die Figur des Bartleby inspirierte vielfältige philosophische Auseinandersetzungen. Siehe u.a. Giorgio Agamben, Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz, Berlin 1998; Gilles Deleuze, Bartleby oder die Formel, Berlin 1994. 149 Vgl. Hardt/Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M./New York 2004.
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der staatsbürgerlichen Erziehung, als eine Verweigerung der von der Gesellschaft angebotenen Werte“ zu sein.150 Alle Standpunkte stellen nicht nur sprachlich eine ausdrückliche Nähe von Widerstandshandlungen und Verweigerungsformen her. Es fragt sich aber, worin sich der verweigernde Charakter des Widerstands explizit entäußert – woran er konkret fassbar gemacht werden kann? Anzunehmen ist, dass die Verweigerung von Gehorsam dabei eine wesentliche Rolle spielt, da sie auf existierende Machtstrukturen, Autoritäten und Zuschreibungsmechanismen verweist. Widerstand ist daher stets als ein Verhalten denkbar, das sich etablierten Formen der Gefolgschaft intentional verweigert und als körperlicher Vollzug hervorgebracht wird, indem normative Regeln nicht anerkannt werden oder man sich systemischen Bestimmungen nicht beugt. Während die Intentionalität widerständiger Subjekte von ganz unterschiedlichen Motivationen bestimmt wird, verbindet sich mit Widerstandsformen die bewusste Herausforderung bestehender Machtverhältnisse. Foucaults Überlegungen zur Disziplinargesellschaft und ihrer „Allgegenwart der Macht“ modulieren einen Widerstandsbegriff, der nur mittels seiner eigenen Beziehung zur Macht existieren kann. Foucault präzisiert: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. […]. Diese Widerstandspunkte sind überall im Machtnetz präsent. Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der großen Weigerung […]. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessante oder opferbereite Widerstände.“151
Der Begriff des Widerstands ist bei Foucault an seinen Widerpart, die Macht, gebunden. Widerstand stellt in dieser Lesart den notwendigen Schatten der Macht dar. Er ist die unzertrennliche und dennoch andere Existenzweise der Macht, die nicht konzentriert, sondern allerorten vorhanden ist. Mit dieser allgegenwärtigen Mikrophysik der Macht distanziert sich Foucaults Theorie von Marcuses Widerstandsmodell der Weigerung.152 Die spezifische Widerständigkeit des Chorischen, deren herausgearbeitete Ambivalenz im Wechselspiel von Disziplinierung und Emanzipation greifbar wird, scheint Foucaults Widerstandsbegriff zu spiegeln. Das Chorische kann innerhalb spannungsvoller Auseinandersetzungen als Widerstreit von Zuständen und Befindlichkeiten, Rollen und Positionen vor einer eindeutigen Positionierung charakterisiert werden. Als bestehende Körperschule sammelt sich im Chorischen eine bemerkenswerte analytische Potenz, deren breites Spektrum von der Konstruktion bis zur Dekonstruktion 150 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 287. 151 Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1984, S. 114ff. 152 Die Bindung des Widerstandsbegriffs an den der Macht wurde von verschiedenen Seiten immer wieder auch kritisiert, da diese Koppelung Versuche blockiere, Foucaults theoretische Ansätze für Untersuchungen von Widerstandspotenzialen fruchtbar zu machen. Vgl. Hechler, Daniel/Philipps, Axel (Hrsg.), Widerstand denken: Michel Foucault und die Grenzen der Macht, Bielefeld 2008; Siehe auch Julian Junk/Christian Volk, Macht und Widerstand in der globalen Politik, Baden-Baden 2013.
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reicht und durch Konfrontation mit antagonistischen Positionen dazu führen kann, Haltungen des Abwegens zu begünstigen. Dem Chorischen sind Momente des Widerstands insbesondere dann eingeschrieben, wenn es die eigene Praxis selbstkritisch hinterfragt. Chorisches Handeln darf selbst folglich nicht als Befreiung aus anderen Formen der Regulierung entworfen werden. Nicht indem man sich in Distanz zu einem System von Regularien gesellschaftlicher Ordnung setzt, sondern indem man sich selbst als Teil des Systems begreift und aus dessen Mitte heraus agiert, wird es möglich, Techniken der Disziplinierung zu kennzeichnen, zu durchdringen und als veränderlich zu markieren. Ein Widerstand chorischer Praxis wird demnach einerseits dort denkbar, wo etwa die bestehenden Regeln chorischer Stimmbildung genutzt werden, um normative Ordnungen zu stören, zu irritieren, gegebenenfalls gar zu transformieren. Andererseits können chorische Verfahren verwendet werden, um Verbundenheiten oder Verletzungen in gruppendynamischen Prozessen nachzuspüren, die nicht (re-)produziert, sondern abgestellt oder verändert werden sollen. Der große Vorteil einer Anwendung chorischer Praktiken verspricht hierbei darin zu liegen, rationale Logiken durch betont sinnliche Verfahren herauszufordern. Das spielerische Experimentieren mit vorgegebenen Regeln wird durch eine geschulte Sinnlichkeit gewährt. Das Chorische überschreitet dabei nicht zwangsläufig geltende Gesetzmäßigkeiten, sondern durchdringt die vorgefundenen Regularien, um darin jene prinzipiellen Unrechtmäßigkeiten, die situative Kränkungen trivialisieren oder eine Praxis der unterschwelligen Ausgrenzung und Unterdrückung fortsetzen, zu lokalisieren. Eine Vorstellung des Chorischen zu entwickeln und für die Analyse chorischer Protestereignisse nutzbar zu machen, bedeutet also, das Chorische nicht mehr nur vom ästhetischen Gefallen her zu denken, sondern als Prinzip gemeinsamen Tuns zu politisieren. Das hier vorgestellte Modell des Chorischen soll dabei helfen, die Abstraktion des Widerstandsbegriffs zu konkretisieren und an spezifische Handlungen zurückzubinden. Dazu soll dem Widerstandspotenzial des Chorischen weiter nachgespürt werden, indem erstens überlegt wird, wie postmarxistische Theorien dabei helfen können, über das objektivistische Widerstandsverständnis des Marxismus hinauszugehen. Zweitens wird gefragt, an welchen Fronten sich die besondere Widerständigkeit chorischer Verfahren festmachen lässt. Drittens steht zur Disposition, ob der Performativität des Chorischen als besonderem Widerfahrnis bereits eine eigentümliche Widerständigkeit eingeschrieben ist. Viertens rückt mit Überlegungen zu einer institutionellen Kritik des Chorischen abschließend die Frage in den Blick, ob sich chorische Verfahren in besonderer Weise dazu eignen, Widerstand als selbstkritische Praxis hervorzubringen. 4.1. Widerstand als antagonistische Relationalität Beim Versuch, das Körperbild des Chores auf politische Diskurse zu übertragen, können postmarxistische Ausführungen dabei helfen, über das objektivistische Theorieverständnis des Marxismus hinauszugehen und mit dem Chorischen gesellschaftliche Kräfteverhältnisse als politische Konstellationen zu denken, die die Idee ,radikaler Demokratie‘ revitalisieren. Der argentinische Politiktheoretiker Ernesto Laclau und die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe zählen zu den
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prominentesten Vertreter*innen der postmarxistischen Theorie. Gegen die marxistische Vorstellung einer geschichtsphilosophisch begründeten Beendigung des Kampfes um die Einrichtung der Gesellschaft stellen sie eine Theorie der Kontingenz sozialer Verhältnisse. Diese Akzentverschiebung etabliert nicht weniger als eine neue Gesellschaftstheorie, die soziale Konfigurationen als verschiebbare, niemals abgeschlossene Sedimentierungen politischer Kämpfe betont und im Vornherein deutlich die Unmöglichkeit einer objektiven und vollständigen Erfassung des Begriffs der Gesellschaft vor Augen hat.153 Als Instrument zur Unterscheidung sozialer Identitätsbildungen und politischer Machtformen gilt ihr diskursanalytischer Ansatz der Hegemonietheorie. In ihrem 1985 erschienenen Hauptwerk Hegemonie und radikale Demokratie entwickeln Laclau und Mouffe dazu die Idee von der Bedeutung des Politischen als der instituierenden Instanz jeglicher Ordnung. Laclau versteht demokratischen Streit nicht als Nebenschauplatz, sondern als das Ringen um die Einrichtung von Gesellschaft. Einerseits integriert Laclau Leforts Charakterisierung demokratischer Gesellschaften, deren Mitte der Macht leer sei, weshalb ihnen eine substanzielle Inkorporation der Macht fehle.154 Anderseits greift er Gramscis hegemonietheoretische Reinterpretation der Klassenkampftheorie auf, um gesellschaftliche Konfliktsituationen als antagonistische Kämpfe um Hegemonie zu erklären. In der Folge entsteht anstelle einer objektivistischen Gesellschaftstheorie eine Theorie der politischen Instituierung des Sozialen, die sich im Wesentlichen an zwei zentralen Punkten festmachen lässt: Erstens dem Schlüsselkonzept des Antagonismus, demzufolge sich politische Identitäten nur diskursiv stabilisieren können, indem sie sich gegenüber einer Instanz radikaler Negation abgrenzen. Zweitens anhand der Einsicht in die Kontingenz sozialer Verhältnisse und die damit verbundene Konsequenz, dass alles Soziale auch nicht oder anders geordnet sein könnte. Während der politische Modus demnach durch Begriffe wie Ungewissheit und Unabgeschlossenheit charakterisiert wird, können gesellschaftliche Formationen als kontingente Ergebnisse hegemonialer Kämpfe zwischen antagonistischen Positionen beschrieben werden. Folgt man der Ansicht, dass sich Gesellschaften einer totalisierenden Konstruktion verschließen, wird die Unmöglichkeit einer festen Inkorporation von Macht zum Prinzip des Politischen erhoben. Demokratie wird folglich als Modus des Streits unter der Bedingung der Kontingenz beschreibbar. Für Laclau und Mouffe findet demokratische Politik also nur dann statt, wenn kein objektiver Weg vorgezeichnet ist, kein endgültiger Zustand erreicht werden kann, nicht ein Programm abläuft oder zum Abschluss kommt, sondern etwas entschieden werden kann.155 Anstrengungen, die darauf zielten, diese Vorläufigkeit zu beenden, stellten im Umkehrschluss eine totalitäre Politik dar. Die Anerkennung antagonistischer Positionen sowie der Kontingenz sozialer Verhältnisse führt dagegen 153 Mouffe argumentiert, dass es ,Identität‘, wie sie bspw. die Psychoanalyse Freuds behauptet, nicht gibt. Dafür macht sie sich für diskursive Annäherungen stark, durch die Identität darstellbar und immer erst durch Prozesse der Identifikation hergestellt wird. 154 Vgl. Claude Lefort, „Die Frage der Demokratie“, in: Rödel, Ulrich (Hrsg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 281-293, S. 293. 155 Laclau schreibt: „Unvollständigkeit und Vorläufigkeit gehören zur Essenz der Demokratie.“ Ernesto Laclau, Emanzipation und Differenz, Wien 2002, S. 41.
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mit sich, dass sich partikulare Positionen durchaus erfolgreich als universelle Positionen behaupten können. Mehr noch seien Partikularitäten, um politisch wirksam werden zu können, im politischen Prozess sogar dazu gezwungen, „eine universale Rolle anzunehmen.“156 Da es das Universelle als erfüllte Position mit anderen Worten nicht gibt und der Inhalt des Universellen konsequenterweise kontingent sei, kämpfen partikulare Positionen in einem Kampf um Hegemonie um ihren Erfolg, der dann funktioniere, wenn die Verkörperung des Universellen zeitweise gelinge. Die daraus resultierende, unaufhörliche Abfolge politischer Kämpfe spiegelt sich im Chorischen wider. Eine Konsequenz postmarxistischen Denkens ist daher, dass sich das Politische nicht als politisches Handeln in bereits existierenden Strukturen und Institutionen realisiert, sondern sich seine Etablierung selbst erst in jener Form darstellt, in der sich die Gesellschaft instituiert. Dieses ungeheuerliche Potenzial der Kreativität und Selbsterneuerung deutet sich gleichsam im Chorischen an. Demokratie stellt das Resultat eines infiniten Prozesses der Selbstinstituierung dar. Da der Ort der Macht zur Leerstelle wird, begründet diese Leerstelle den agonalen Charakter und die Konflikthaftigkeit der Demokratie oder das, was mit dem Chorischen hier als Nicht-Identität demokratischer Gesellschaften bezeichnet werden kann.157 Ihre offene und umkämpfte Form bilden die Grundlage eines ewigen Wettkampfs und Streits partikularer Akteur*innen. Das Chorische versinnbildlicht genau diese unabschließbare Einrichtung von Gesellschaft, bei der kein Ziel allemal erreicht wird und immer die Möglichkeit neuer Herausforderungen gegeben ist.158 Die zentrale Grundlage dieses antagonistischen Politikverständnisses basiert darauf, die Bedeutung des Antagonismus deutlicher zu betonen als moderierende oder ausgleichende Interventionsformen. Der Bezug zwischen dem Begriff des Antagonismus und dem Chor wird eindeutiger darstellbar, wenn man sich noch einmal den entscheidenden Moment in der Entwicklung des literarischen Dramas aus Chortänzen vor Augen führt, in dem sich der Chorführer als Vorsänger ganz vom Chor löst und sich diesem als selbständiger Schauspieler gegenüberstellt.159 Als Antagonist markiert die Dramenfigur des Chores diese Grenze zu unterschiedlichen anderen Rollenfiguren. Um in Erscheinung treten zu können, bedarf der Chor der Differenz zu ande156 Ebd. 157 Für Chantal Mouffe hat das Subjekt keine feste oder originale Identität, sondern muss diese Leerstelle durch Prozesse der Identifikation ausfüllen. Sie schreibt: „pluralism can only be formulated adequately within a problematic that conceives of the social agent not as a unitary subject but as the articulation of an ensemble of subject positions, constructed within specific discourses and always precariously and temporarily sutured at the intersection of those subject positions.“ Chantal Mouffe, „Preface: Democratic Politics Today“, in: Dies. (Hrsg.), Dimensions of Radical Democracy. Pluralism, Citizenship, Community, London/New York 1992, S. 1-32, S. 10. 158 Folglich affirmiert die radikale Demokratie die Ewigkeit der Macht und des Politischen als irreduzibel: „Wichtigste Frage demokratischer Politik lautet deshalb nicht, wie Macht zu eliminieren, sondern wie Machtformen zu konstatieren sind, die mit demokratischen Werten vereinbar sind.“ Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2006, S. 25. 159 Vgl. Bernd Seidensticker, Das antike Theater, München 2010, S. 38.
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ren Darsteller*innen. Als Kollektivakteur grenzt der Chor seine eigene Identität deutlich von anderen ab. Als Prinzip dieser Instituierung verweist das Chorische nun jedoch gerade darauf, dass die Prozesshaftigkeit dieser Konstituierungen auf der Kontingenz identitärer Zuschreibungen basiert.160 Zwar etablieren sich Protestchöre als politische Gegenspieler*innen und soziale Antagonist*innen, die Differenz nicht nur abbilden, sondern förmlich werden lassen. Zugleich verweist das Chorische auf die vielfältigen Antagonismen und Spannungen im Chor selbst, der seine identitäre Behauptung im Grunde jeweils nur temporär aufrechterhalten kann. Chorisch agierende Protestgruppen können sich so als starke Gemeinschaften aufführen, trotzdem ihre innere Verfasstheit auf keinerlei dauerhafte Kohärenz schließen lässt. Das ganz eigene Protestpotenzial des Chorischen geht von der Annahme aus, dass politische Systeme unter anderem von dominierenden Normen bestimmt oder von vorgegebenen Diskursregeln zusammengehalten werden. Chorische Protestformen zielen nun nicht darauf, sich innerhalb dieser normativen Rahmungen selbst zu ermächtigen, sondern können in Anlehnung an Laclau und Mouffe als gegenhegemoniale Praktiken konzipiert werden. Dadurch wird anerkannt, dass chorische Proteste Strategien zur Überwindung systemischer Beschränkungen auch dadurch entwickeln, dass sie sich beim durchaus schwierigen Versuch gegenhegemonialen Agierens selbst neuen Wegen öffnen.161 Für die Untersuchung chorischer Protestformen ist in der Folge zu fragen, inwieweit der Protestchor überhaupt erst als „ein Verhältnis von differentiellen Elementen“162 in Erscheinung tritt. Lars Distelhorst hat mit Bezug auf Marchart entsprechend klargestellt, dass es einem Antagonismus bedarf, damit „aus verstreuten Elementen eine ,Instituierung gesellschaftlicher Systematizität‘ werden kann […].“163 Das Chorische verdeutlicht als Konstitutionsprozess des Chores sowie als spezifische Etablierungsform von Protest die politischen Mechanismen des Ausschlusses: „Die Etablierung und Stabilisierung des Systems erfolgt durch einen Ausschluss, der ein konstitutives Außen schafft, gegen das sich das System abgrenzt.“164 Der Prozess der Chor-Werdung, in dem sich die Konstitution gesellschaftlicher Systematizität spiegelt, beruht auf Antagonismen, die nur durch Abgrenzung gegen Anderes etabliert werden. Die chorische Gruppe bedarf eines distinguierten Verhaltens als Distanzierung von etwas, das „von ihr ausgeschlossen wird, sie aber zugleich daran hindert, sich zu einer Totalität zu schließen.“165 Als temporäre Institutionalisierungen basieren Protestchöre auf einem antagonistischen Verhältnis, das zum einen auf interne Widerstandsmotive hindeutet. Zum anderen fragt sich, wie im Chorischen ein Wider-
160 Zum Begriff ,Kontingenz‘ in Differenz zu ,Aleatorik‘ sowie den Denkfiguren ,Zufall‘ und ,Risiko‘ siehe auch Michael Makropoulos, Modernität und Kontingenz, München 1997; Elena Esposito, Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode, Frankfurt a.M. 2004; Markus Holzinger, Der Raum des Politischen: Politische Theorie im Zeichen der Kontingenz, München 2006. 161 Vgl. Warstat et al., „Applied Theatre“, S. 11. 162 Distelhort, Umkämpfte Differenz, S. 72. 163 Ebd. 164 Ebd., S. 75. 165 Ebd., S. 73.
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stand gegen totalitäre Vergemeinschaftung offenbar wird, der zugleich Fragen einer über den Moment hinausgehenden Institutionalisierung berührt.166 4.2 Die Widerständigkeit chorischen Protests „Indem sie bestimmte Positionen einnehmen und umkämpfen, handeln sie politisch, werden die Fragen, um die es geht, politisch und konstituieren sie zwischen sich ein politisches Feld, das notwendig mit anderen oszilliert bis hin zur Weltpolitik.“167
Diese Arbeit interessiert sich für einen Widerstandsbegriff, der in Formen der Solidarität, im Ersinnen neuer Kommunikationsmöglichkeiten sowie in Handlungen, die bestehende Institutionen hinterfragen, herausfordern oder aktiv stören, selbst eine Praxis des Widerstands erkennt. Das Chorische würdigt diese weniger offensichtlichen Formen des Widerstands. In der folgenden Untersuchung soll daher immer wieder die Frage in Erinnerung gerufen werden, wie aus einer marginalisierten Position eine Stärke abzuleiten ist, und zwar nicht vordergründig dadurch, dass eine vorhandene Vulnerabilität durch kollektiven Zusammenschluss, eine konzertierte Mobilisierung zum Chor überwunden wird. Im Gegenteil zeigt das hier entwickelte Modell des Chorischen, wie Verwundbarkeit und Handlungsfähigkeit sich nicht ausschließen, sondern zusammengedacht werden können, nämlich dann, „wenn die Vulnerabilität selbst mobilisiert wird, und zwar nicht als individuelle Strategie, sondern im gemeinsamen Vorgehen.“168 4.2.1 Das Chorische als das Politische Mit dem vorgenommen Versuch einer Differenzierung von Protestchören anhand der Unterscheidung, ob sie sich als spontane oder geplante Aktion realisieren, ergeben sich weiterführende Fragen zu den angestrebten wie unbeabsichtigten Wirkungen: Verfolgt der Protestchor ein gezieltes Programm, das beispielsweise dadurch motiviert ist, andere überzeugen zu wollen? Möchten chorische Proteste in besonderer Art und Weise erscheinen, spezielle Reaktionen auslösen und über die bloße Präsenz ihrer Anwesenheit hinaus symbolisch wirken? Schließlich: Wogegen richten sich chorische Proteste? Wer sind eigentlich die Gegner*innen? Und in welcher Verbindung steht diese Frage zur spezifischen Ausformung chorischer Protestformen? Es ist anzunehmen, dass sich mit den je verschiedenartigen Anliegen und Adressierungen unterschiedlicher Politik-Ebenen konsequenterweise andere Folgen in der Bewertung der Mittel und zwangsläufig andere Handlungsstrategien des Protests ergeben. An die Frage der Gegner*innen knüpft sich im Hinblick auf den je konkreten 166 Zur Diskussion nachhaltiger Wirkungen von Protestbewegungen siehe auch Chantal Mouffe, „Art and Democracy. Art as an Agnostic Intervention in Public Space“, in: Cahier on Art and the Public Domain, No. 14 (2008), Art as a Public Issue. How Art and Its Institutions Reinvent Public Dimension, S. 6-15. 167 Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a.M. 1989, S. 36f. 168 Butler, Theorie der Versammlung, S. 197.
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Fall zugleich der Auftrag, zu bestimmen, welchen Politikbereich Proteste adressieren: Versuchen sie Einfluss auf die Infrastruktur der Politik zu nehmen oder zielen sie darauf, Kommunikationsprozesse auf dem Handlungsfeld politischer Auseinandersetzung zu beleben? Entsprechend der Frage, was Protestierende zu erreichen versuchen und welche Wirkungsebene von Politik sie ansteuern, verändert sich die realpolitische Beurteilung, was von den politischen Bewegungen zu erwarten ist. Im Folgenden wird es daher darum gehen, den Begriff des Politischen zu konkretisieren: Das Politische einer Protesthandlung – so wird vermutet – stellt sich nicht selbständig ein, indem diese als politische Aktion konzipiert oder als solche benannt wird. Im Gegensatz zum Begriff der Politik, der auf institutionelle Ordnungen und die staatliche Verwaltung des Gemeinwesens hinweist, betont der Begriff des Politischen eine gestaltbare Handlungspraxis, in der Momente des Dissenses und Widerstreits, des Ereignisses und der Unterbrechung eine entscheidende Rolle spielen können. In der politischen Theorie wird unterschieden zwischen ,der Politik‘ als staatlichem Handeln und dem Begriff ,des Politischen‘ als einem Handlungsfeld, „in dem die politischen Einheiten sich untereinander bewegen und in dem verschiedene – von wo auch immer angetriebene – Kräfte direkt, durch politisches Handeln auf sie einwirken oder einzuwirken versuchen.“169 Eine Klärung der Frage, was das Politische in Abgrenzung zur Politik ist – und damit eine Konkretisierung der Begriffe, zeigt, dass sie im Laufe der Geschichte selbst unterschiedliche Bedeutungen angenommen haben. Politisch bezog sich bei den Griechen zunächst „auf die Polis, die mit der Bürgerschaft identisch war, und auf eine bestimmte Verfassung, dann auf den vom Monarchen repräsentierten Staat.“170 Das Denken der Griechen und ihre Vorstellungen des Politischen haben die Grundlagen unseres politischen Denkens gelegt. Die Bedingung für diesen Entwurf war jedoch die eigene Staatsform der Polis, ein nach außen hin freier und im Inneren nach eigenen Gesetzen funktionierender Stadtstaat. In der frühen Neuzeit lag das Monopol der Macht beim Monarchen, was sich in dessen weitreichendem Einfluss auf gesellschaftliche, ja sogar konfessionelle Bereiche ausdrückte. Seit der Neuzeit wird Politik daher mit staatlichem Handeln gleichgesetzt. Im 19. Jahrhundert kommt es im Zuge von Bürgerbewegungen zur Pluralisierung politischer Akteur*innen. Die Transformation staatlicher Herrschaftsstrukturen führt zu einer Politisierung weiter Lebensbereiche. Dabei verliert der Begriff politisch seine klare Bindung an den Staat – das Politische wird zu einem Handlungsfeld. Meier schreibt: „Wo sich das Politische, in Fortsetzung oder Abbruch neuzeitlicher Traditionen, vom Staat löst, wo nicht mehr nur die Entscheidungen, sondern die politische Entscheidbarkeit dessen, was unsere Lebensverhältnisse uns processualiter zum Pensum machen, kritisch wird, wo unsere Identität auf dem Spiele steht, wird der Blick auf die Besonderheit der Griechen und ihrer Errungenschaften neu freigegeben: auf das Politische, das im wesentlichen Sinn, als Form freien Zusammenlebens von Bürgern ihre Schöpfung war […].“171
169 Meier, Entstehung des Politischen, S. 36. 170 Ebd., S. 15. 171 Ebd., S. 21.
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Zu einem Zeitpunkt, an dem Staaten ihre Bedeutung als Grundeinheiten des Politischen verlieren, verändert sich wiederum der politische Diskurs. Carl Schmitts Versuch den Begriff des Politischen neu zu vermessen, führt in einer angespannten weltpolitischen Lage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Definition von Politik, die auf dem Antagonismus von Freund und Feind beruht.172 Dadurch kommt es zu einer weiteren Abgrenzung des Begriffs von seinen griechischen Wurzeln. In der politikwissenschaftlichen Forschung wird aktuell betont, dass Politik im gleichzeitigen Wirksamwerden drei verschiedenartiger Ebenen stattfindet. Unterschieden werden die Bereiche Polity, Policy und Politics. Die Polity-Dimension betrifft die Grundlagen des politischen Gemeinwesens in Form von Verfassung, das Zusammenkommen der Parlamente, die Rolle der Gerichte, die Entscheidungsbefugnisse des Institutionsgefüges und das Wahlrecht, kurzum: die Infrastruktur der Politik. Sie prägt die jeweilige politische Kultur eines Landes, etwa welche politischen Legitimationsansprüche bestehen oder wie politische Prozesse ablaufen. Zentrale Frage ist dabei, wie der institutionelle Rahmen genutzt wird, damit Akteur*innen handeln und ihre Interessen vertreten können. Die Policy-Dimension beschreibt hingegen konkrete Handlungsprogramme und damit jenen Bereich, in dem versucht wird, Probleme durch geeignete Mittel zu lösen. Die Politics-Dimension deutet schließlich auf den Prozess der Durchsetzung politischer Interessen und ausgewählter Handlungsprogramme. Sie beschreibt die dynamische Handlungsstruktur politischer Auseinandersetzung, in der sich verschiedene Protagonist*innen mit unterschiedlichen Interessen auf Legitimationsansprüche berufen und Kompromisse oder Konsens finden müssen. Dieser Bereich der Politik kann als Prozess politischer Umsetzung am ehesten mit „dem Politischen“ umschrieben werden. Politik im Sinne von Polity und der Chor erinnern an Platons Idee des Staats als organisatorischer Einheit, in der „jedes Glied die seinen Wesenskräften angemessene Stelle einzunehmen hat, aber die für alle verbindlichen Entscheidungen letztlich allein von dem Staatslenker getroffen werden können, der über das umfassendste und am besten gesicherte Wissen von allen verfügt.“173 Der Staatslenker und seine Autorität und Dominanz durch einen Wissensvorsprung erinnert an die Funktion des Chorführers, der der Gruppe in ähnlicher Weise vorsteht. Aristoteles Kritik an Platons Politikverständnis betont, dass Politik nicht allein an den Staat als organisatorischer Einheit gebunden sein dürfe. Vor dem Hintergrund des damals vorherrschenden Familien- und Hauswirtschaftssystems betreffe Politik gerade nicht die private Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern etwas prinzipiell Neues. Der aristotelische Begriff des Politischen erinnert an die Allgegenwart von Differenzen und die grundsätzliche Unterschiedlichkeit von Menschen, ihrer Positionen und Lösungsansätze. Für gewöhnlich divergieren die Antworten über die Frage, wie das Gemeinwesen geregelt werden soll. Im besten Fall findet der Streit, das Ringen und die Auseinandersetzung um die bestmögliche Lösung als ein Verständigungshandeln unter Gleichen statt. Politik als Politics kann dann als jener Prozess verstanden werden, „in dem aus der ursprünglichen Vielheit freier und gleicher Menschen
172 Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1936, S. 26. 173 Thomas Meyer, Was ist Politik?, Opladen 2003, S. 69.
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mit unterschiedlichen Meinungen, Interessen und Lebensweisen durch Verständigung Übereinstimmung in den Grundfragen entsteht, die allen gemeinsam sind.“174 Die Idee einer Selbstverwaltung der Polis ist vergleichbar mit einer Konzeption des Chorischen. Beide bilden Politik ab als Kunst, die Massen zu lenken. Das Chorische hingegen stellt keine fertige Politik dar, sondern agiert politisch als spezifischer Modus des Handelns. Mit einem Konzept des Chorischen, das sich am Begriff des Politischen orientiert, wird es möglich „statt des Anheimgegebenseins an Prozesse […] gegenwärtiges Handeln bestimmend werden“ zu lassen.175 Meier hat dahingehend auf den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt des Adjektivs politisch und seiner Subjektivierung in Differenz zum Politik-Begriff hingewiesen: „Politisch hingegen meint etwas recht verschiedenes, in je verschiedenen Dimensionen sich Bewegendes, je nachdem, auf welche Substantive es sich bezieht: ob auf Einheiten oder Ordnungen, auf Gruppen, auf Fragen, auf Prozesse, auf Konflikte, auf Handlungs- oder Betrachtungsweisen.“176
Als Handlungsfeld ist das Chorische politisch, weil sich in ihm verschiedene Elemente treffen, untereinander bewegen und unterschiedliche Motivationen artikuliert werden, einander inspirieren und beeinflussen. Das Chorische handelt politisch, indem es unterschiedliche Stimmen und damit verschiedenartige Kräfte in Beziehung setzt. Chorische Protesthandlungen erschaffen einen weiteren Ort des Politischen. Sie ähneln dem Politikverständnis der Griechen, weil sie sich durch eine spezifische politische Gegenwärtigkeit auszeichnen, Fragen der Organisation des Gemeinsamen aufwerfen, besondere Formen der Solidarität erschaffen und die Möglichkeiten einer Einheit durch Zugehörigkeit erproben. Damit materialisieren sie die Erkenntnis, dass es „eine unabhängige Einheit mit kompletter Kontrolle über alle Entscheidungen aufrecht zu erhalten – das wäre die Idee eines freien Akteurs, der irgendwie Abstand von allem halten kann […]“, nicht gibt.177 Damit verbunden ist die Möglichkeit, eine andere Idee der Autonomie zu entwerfen, die nicht nach dem Trennenden des Unabhängigen fragt, sondern die Konnektivität einer wie auch immer gearteten Verbindung zu fokussieren. Als Beziehungsfeld stiftet das Chorische Situation der Zugehörigkeit, in denen die Freiheiten und Rechte sowie Verpflichtungen und Beschränkungen der Beteiligten kontinuierlich ausgehandelt werden. Nicht das offensichtliche Widerstehen oder offen ausagierter Widerstand wirken hier vordergründig erfolgreich, als vielmehr die nachhaltige Sensibilisierung der Teilnehmenden. 4.2.2 Widerstand durch Resonanz In einer Welt, die sich vielfach durch resonanzverhindernde Qualitäten auszeichnet, kann Widerstand als ein Verhalten offenbar werden, das die Erfahrung von Resonanz zu anderen offenkundig anstrebt. Chorische Proteste versetzen Menschen in besondere Antwortbeziehungen. Während digitale Kommunikationsverfahren und virtuelle 174 175 176 177
Ebd. Meier, Entstehung des Politischen, S. 19. Ebd., S. 35. Massumi, Ontomacht, S. 62.
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Welten Resonanz oftmals nur simulieren, kommt bei chorischen Protesthandlungen die von Fischer-Lichte betonte leibliche Ko-Präsenz als Qualität der Aufführungsdimension von Protesten ins Spiel, die wirkliche Resonanzbeziehungen erst als sinnliche Erfahrung von Präsenz und Lebendigkeit ermöglicht. Indem wir nicht nur die Stimmen anderer wahrnehmen, sondern intensiv wahrnehmen, in welchem Verhältnis wir zu anderen stehen, fühlen wir uns nach Rosas Resonanztheorie zugleich lebendiger verbunden mit dem Zusammenhang des Lebens.178 Wird das Resonanzpotenzial des Chorischen in Protestsituationen selbst als Fähigkeit von Transformationsprozessen konzipiert, schwingt folgende These mit: Menschen finden zu gemeinsamen Protestformen zusammen, weniger um politische Ziele zu artikulieren, für die es viel geeignetere Methoden und effizientere Wege gäbe, sondern um mit Menschen anders in Beziehung zu treten. Dieses „Andere“ deutet auf die Kontingenz ergebnisoffener, unvorhersehbarer Erfahrungen, zu denen spezifische ästhetische Erfahrungen gehören können, die politische Relevanz entwickeln, gerade weil sie intensivere Beziehungen zu anderen Menschen betreffen. Wenn Rosa von Protest als einem „Schrei nach Resonanz“179 spricht, verwundert es nicht, dass sich chorische Proteststrategien gegenwärtig zu signifikanten Bewegungsphänomenen entwickeln, die durch klangliche Interventionen räumliche Ausdehnung ermöglichen. In Bezug auf die konkrete Materialität des Chorischen, die spezifische Fragen zur Lautlichkeit, Körperlichkeit und Räumlichkeit der Protestereignisse mit aufruft, rückt zugleich das sinnliche Zusammenwirken von Räumen, Gruppen und Handlungen in den Blick. Hinsichtlich des Zusammenspiels von Menschen im öffentlichen Raum, ihrer körperlichen Bewegungen als „Tanz des Politischen“ und der Suche subversiver Widerstandsformen fragt sich, auf welche Weise chorische Protestereignisse im Sinne Rosas nicht nur Echoräume, sondern tatsächlich Resonanzräume erzeugen.180 4.2.3 Das Chorische als das Unästhetische Als Widerstandshandlungen in stark mediatisierten Umfeldern bewegen sich Protestformate gegenwärtiger politischer Bewegungen auf einem schmalen Grat: Um wahrgenommen zu werden, müssen sie kreativ sein, einfallsreich auffallen und ständig Neues hervorbringen. Das normative Modell der Kreativität, das durch spezifische Praktiken versucht „das scheinbar flüchtige Moment der Kreativität zu institutionalisieren“, weist große Gemeinsamkeiten mit Protestpraktiken auf, die in ähnlicher Weise auf „die sinnliche und affektive Erregung durch das produzierte Neue“ abzielen.181 Das Publikum politischen Aktivismus erwartet – eingebettet in die Auswüchse von Kulturindustrie und Konsumkultur – Originalität und Überraschungseffekte und ist als Konsument*innengruppe entsprechend damit vertraut, selbst zum Motor eines „Imperativ(s) permanenter Innovation“ zu werden.182
178 179 180 181
Rosa, Resonanz, S. 111. Ebd., S. 379. Vgl. ebd., S. 370f. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2013, S. 10. 182 Ebd., S. 11.
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Der deutsche Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz hat in Die Erfindung der Kreativität am Beispiel der Stadt beschrieben, wie sich urbane Lebensräume durch spektakuläre Architekturen und ästhetische Erlebniswelten als Wohn- und Arbeitsstätten längst erweitert haben. Die Entwicklung dieser allgegenwärtigen Transformation des Urbanen wird Reckwitz zufolge als besonderer Leistungsdruck spürbar, der von allen heute „eine permanente ästhetische Selbsterneuerung“183 sowie die Fähigkeit fordert, Aufmerksamkeit herstellen und lenken zu können. Während es zu Beginn künstlerische und ästhetische Bewegungen waren, die gegen das bürgerliche Establishment rebellierten, wurden die Emanzipationshoffnungen der vitalistischen Lebensreformbewegung und das kreative Momentum der Ästhetischen Avantgarde längst durch die Kreativwirtschaft vereinnahmt. Eine gravierende Folge ist laut Reckwitz, dass Ideen und Praktiken ehemaliger Gegen- und Subkulturen in Hegemonie umgeschlagen sind. Er schreibt: „Das Kreavititätsideal der scheinbar hoffnungsvoll randständigen ästhetisch-künstlerischen Gegenbewegungen ist in die dominanten Segmente der Gesellschaftskultur, in ihre Arbeits-, Konsum- und Beziehungsformen eingesickert und dabei nicht dasselbe geblieben.“184
Reckwitz’ Schilderungen zur nachweislichen Vereinnahmung subversiver Praktiken durch die Wirtschaft werfen die Frage auf, was zeitgenössische Proteste heute tun können, um Versuchen kapitalistischer Einverleibung zu entgehen. Schon die Ausgangssituation deutet ein ernstzunehmendes Dilemma an: Nur allzu leicht setzen sich innovative Proteststrategien dem Vorwurf aus, sich ähnlicher workflows oder den gleichen, prozessorientierten Mechanismen zu bedienen wie ihre Gegner*innen.185 Angreifbar machen sich neue kreative Formate zudem dann, wenn sie als neue Arbeits- und Organisationsformen in die Logik neoliberaler Leistungssteigerung hineinkopiert werden. Wie kann Protest also politisch bleiben, ohne Teil einer Industrie zu werden, die er selbst doch oft ablehnt? Und auf welche Weise können sich insbesondere chorische Protestformen jenem Kreativitätsdispositiv widersetzen, das beständig die Produktion von Neuem fordert? 183 Siehe dazu ebd.: „Das kreative Arbeiten, die innovative Organisation, das sich selbst entfaltende Individuum, die creative cities – sie alle nehmen teil an einem umfassenden kulturellen Ensemble, das die Produktion von Neuem auf Dauer stellt und das Faszinosum der Schöpfung und Wahrnehmung von neuartigen, originellen Objekten, Ereignissen und Identitäten nährt.“ 184 Ebd., S. 14. 185 Zur Vereinnahmung alternativer Lebensweisen und neuer sozialer Praktiken siehe Isabell Lorey, „Gouvernementalität und Selbst-Prekarisierung. Zur Normalisierung von KulturproduzentInnen“, in: Transversal – EIPCP Multilingual Webjournal (2006), abrufbar unter: http://transform.Eipcp.net/transversal/1106/lorey/de/#_ftnref14 (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018): „In den vergangenen Jahren sind jedoch genau diese alternativen Lebens- und Arbeitsverhältnisse immer stärker ökonomisch verwertbar geworden, weil sie die Flexibilisierung begünstigten, die der Arbeitsmarkt forderte. So waren Praktiken und Diskurse sozialer Bewegungen in den vergangenen dreißig, vierzig Jahren nicht nur dissident und gegen Normalisierung gerichtet, sondern zugleich auch Teil der Transformation hin zu einer neoliberalen Ausformung von Gouvernementalität.“
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4.3 Die Performativität des Chorischen als Direkte Aktion Im Zuge einer intensiven Auseinandersetzung mit Theorien des Performativen hat die deutsche Philosophin Sibylle Krämer drei Auffassungen des Performativen – das schwache, das starke und das radikale Performativitätskonzept – unterschieden.186 Auf den Protestchor angewendet bezieht sich ihr schwaches Konzept auf die Handlungen von Sprache. Indem sich chorischer Protest artikuliert, der Protestchor sich im öffentlichen Raum bewegt und spricht, tut er etwas: Der Protestchor handelt als kollektives Agieren. Das starke Konzept konzentriert sich Krämer zufolge auf Äußerungen, die das, was sie bezeichnen, zugleich vollziehen. Damit kommt es zur Aufhebung der eindeutigen Unterscheidung zwischen Wort und Sache. In Anknüpfung an Protesthandlungen dient Sprache dann nicht mehr allein dazu, Zustände des Seins zu repräsentieren. Vielmehr erheben sprachliche Äußerungen den Anspruch, selbst Realitäten zu erzeugen und damit in Differenz zum Bestehenden herzustellen. Die radikale Auffassung des Performativen bezieht sich schließlich auf eine operativstrategische Funktion, in welcher ein transformatives Potenzial aufscheint, das die Grenzen bestehender Theorien, Praktiken und Begrenzungen von Dichotomien aufzuzeigen und zu unterlaufen vermag.187 Chorischer Protest eignet sich, um auf allen drei der von Krämer dargestellten Ebenen des Performativen zu wirken. In der strategischen Kopplung der verschiedenen Wirkungsebenen machen Protestchöre deutlich, dass die uns umgebenden Regeln und Gesetze, die Manifestationen gelebter Politik und letztlich die Realitäten politischen Handelns nicht ontologisch, also nicht vorgängig, gegeben sind. Das wirksame Potenzial des Chorischen scheint auf in jener nach außen hin spürbaren Spannung zwischen seiner Expressivität, die körperlichen Akten als politischen Repräsentationen zugeschrieben wird und dem Performativen als einer Kraft, die gegen die Behauptung stabiler Identitäten antritt, indem sie sich referenziell gerade nicht auf substanziell Vorgegebenes bezieht. Das Konzept der Performativität hilft dabei, die Qualitäten des Chorischen als selbstreferenziell und wirklichkeitskonstituierend zu präzisieren. Es deutet auf den Aufführungscharakter von Protestchören, der sich zunächst auf die theatrale Dimension sozialer Handlungen bezieht. Protest und Chor realisieren sich als performative Praktiken und Akte der Verkörperung, insofern es sich bei beiden um Vollzüge handelt, die „nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejeni-
186 Siehe Sybille Krämer,, „Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“, in: Uwe Wirth (Hrsg.), Performanz: Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 323-346. 187 In Anlehnung an die Verwendung des Konzepts der Performativität in der Ritualitätsforschung kann Protesthandlungen die Fähigkeit zugeschrieben werden, „jeden Kontext von Handlungen und Bedeutungen und auch jeden Rahmen und alle sie konstituierenden Elemente und Personen in jeder möglichen Hinsicht zu transformieren und dadurch Personen und Symbolen einen neuen Zustandsstatus aufzuprägen.“ Ursula Rao/Klaus-Peter Köpping, „Einleitung. Die performative Wende: Leben – Ritual – Theater“, in: Dies. (Hrsg.), Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz, Münster u.a. 2000, S. 1-31, S. 10.
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ge Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen.“188 Durch diese Scharfstellung, die das Chorische als Wie des Vollzugs von Protest klassifiziert, verschärft sich der Fokus auf das Analyseobjekt, wodurch zahlreiche Fragestellungen näher eingegrenzt und andere zugleich vernachlässigt werden können. Das Potenzial, das der Begriff des Performativen für diese Untersuchung offenbart, wird dort greifbar, wo er die Aufmerksamkeit auf den Prozess lenkt, in dem Subjekte, Objekte und deren Relationalitäten erst entstehen, nicht wo Vorgegebenes – etwa politische Körper – bereits angenommen werden.189 Wird der Protestchor in dieser Lesart als „Bewegungsmodell der Entfesselung aller die Ordnung der Kultur bedrohenden Triebkräfte“190 gedacht, kann aus der intendierten Destabilisierung vorgefundener (Körper-)Konzepte der chancenreiche Auftrag ihrer Re-Definition folgen. Aus der Erschütterung eindeutiger Körperbilder ergäbe sich dann die Möglichkeit, diese zu reflektieren und neue Bezüglichkeiten und Figurationen körperlicher Arrangements zu erproben. Überträgt man an dieser Stelle das Körperkonzept des „nackten Bildes“ des französischen Philosophen JeanLuc Nancy auf den Protestchor, erscheint es plötzlich möglich, „das zu sehen, was sich dem Sehen anbietet, das Bild, die Menge der Bilder, die der Körper ist, das nackte Bild […].“191 Als „theatrale Gemeinschaften“192 , die sich durch performative Protesthandlungen gegen die Dauerhaftigkeit geltender Regularien abgrenzen, stehen chorische Proteste in der Tradition der ,Direkten Aktion‘.193 Diese im 19. Jahrhundert aufkommende anarchistische Protestform kann helfen,194 die wirkungsästhetische Dimension von Protestchören zu erhellen. Da es gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in Russland zu einer Häufung von Attentaten mit anarchistischem Hintergrund kommt, wird die Protestform der Direkten Aktion bis heute von vielen mit Militanz, Gewalt und 188 Fischer-Lichte, Performativität, S. 44. 189 Siehe dazu Mersch, Was sich zeigt, S. 58: „Denn der Körper fügt sich keiner Schrift oder Bezeichnung, sowenig er sich konstruieren oder de-konstruieren lässt. Von ihm gibt es weder eine Repräsentation noch läßt er sich zum Bild machen – vielmehr bildet er den Hintergrund, kraft dessen überhaupt Repräsentationen oder Bilder entstehen.“ 190 Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1995, S. 185. 191 Jean-Luc Nancy, Corpus, Paris 2006, S. 43. 192 Der Begriff ,theatrale Gemeinschaft‘ beschreibt, wie sich nicht kontingente Gruppen erst in spezifischen Aufführungen als feste, jedoch temporäre Gemeinschaften formieren. Vgl. Matthias Warstat, Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918-1933, Tübingen/Basel 2005; Fischer-Lichte, Theatre, Sacrifice, Ritual, London/New York 2005. 193 Das gedankliche Fundament der Direkten Aktion fußt auf der Philosophie des frühmodernen Anarchismus, die sich aus sozialistischen, egalitären und libertären Denkrichtungen etwa zur gleichen Zeit wie die kommunistischen Ideen von Weitling und Marx entwickelte. 194 Die klassische anarchistische Programmatik, die maßgeblich in den Schriften von Proudhon, Bakunin und Kropotkin formuliert wurde, unterschied sich vom Marxismus u.a. durch die grundsätzliche Ablehnung des Staates und die Überzeugung, dass grundlegende Veränderungen durch individuelle Akte hervorgebracht werden müssten.
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Selbstgerechtigkeit assoziiert. Theoretiker*innen, die der anarchistischen Bewegung auch heute noch nahestehen, bemühen sich dagegen um Definitionen, die an Überlegungen von Emma Goldman oder Voltairine de Cleyre und die amerikanischen Diskurse des frühen 20. Jahrhunderts anschließen, wodurch zugleich pazifistische und antimilitaristische Referenzen in den Blick rücken. In seinem Vortrag „Zur Bedeutung der ,Direkten Aktion‘ für die Geschichte des Angewandten Theaters“ betont Matthias Warstat, dass Direkte Aktionen ein „Wirkungsideal par excellence“ darstellen.195 Aus heutiger Perspektive können sie als Protestform beschrieben werden, die nicht der Artikulation einer Forderung dient, Symbolpolitik oder Propaganda, sondern der direkten Umsetzung eines konkreten Interesses.196 In gleicher Weise kann sich die Widerstandskraft chorischer Proteste in Form direkter Aktionen entäußern und Widerstand dort hervorbringen, wo das Chorische in ähnlicher Weise dazu tendiert, staatliche und soziale Autoritätsstrukturen zu ignorieren. Der US-amerikanische Ethnologe David Graeber bestimmt die Protestform der Direkten Aktion daher wie folgt: „Man erbettelt nichts vom Staat. Man widersetzt sich ihm nicht einmal mit großer Geste. Soweit man dazu in der Lage ist, geht man so vor, als existiere der Staat gar nicht. […] Die direkte Aktion stellt ein bestimmtes Ideal dar, [...] eine Methode, aktiv in die Welt einzugreifen, um Veränderungen herbeizuführen, wobei die Aktionsform oder zumindest die Art, wie sie organisiert wird, selbst modellhaft für die Veränderung steht, die man herbeiführen möchte.“197
Für Graeber stellt die Direkte Aktion eine Art Mikrokosmos her, „eine Art MikroUtopia, ein konkretes Modell für das, was sich die Akteure als freie Gesellschaft vorstellen.“198 Auch Chorformationen, die in spezifischen Protestsituationen entstehen, können durch die Betonung der performativen, organisierenden und intervenierenden Praxis des Chorischen diese resonierenden Mikro-Kosmen erzeugen. Anstatt leichtfertig die gleichen Methoden wie die der Gegner*innen zu nutzen, wird die Bühne des Chorischen genutzt, um regulierte Wahrnehmungsweisen zu destabilisieren und neu zusammenzusetzen. Dazu strapazieren protestchorische Formationen Vorgaben für angemessenes Verhalten, um sie in einer selbstgestalteten Situation neu ins Wanken zu bringen, zu befragen, zu rekonstituieren. Während politische Akteur*innen in der Regel darauf drängen, Macht auszuüben und durchzusetzen, markieren Protestchöre eigene und fremde Machtansprüche, indem sie deren Legitimierung in Frage stellen und die Verfahren ihrer Erzeugung grundsätzlich dekonstruieren. Als modellhafte Zusammenkunft und „spezifische Art 195 Matthias Warstat, „Zur Bedeutung der ,Direkten Aktion‘ für die Geschichte des Angewandten Theaters“, Vortrag auf der Tagung „Transformationsästhetiken – Transformative Aesthetics“ im Sonderforschungsbereich 626, Berlin, den 14.02.2014. 196 „Im Kern reflektiert sie eine sehr einfache Einsicht: dass man durch militärische Disziplin keine freie, durch Befehle keine demokratische und durch freudlose Selbstaufopferung keine glückliche Gesellschaft schaffen kann. Im kollektiven Akt, so könnte man über die direkte Aktion behaupten, entsteht eine Art Mikro-Utopia, ein konkretes Modell für das, was sich die Akteure als freie Gesellschaft vorstellen.“ Graeber, Direkte Aktion, S. 27. 197 Ebd., S. 19 u. 27. 198 Ebd., S. 27.
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des Auf-die-Welt-Bezogenseins“199 ist anzunehmen, dass Mitglieder chorischer Protestverfahren einer neuerlichen Symbolpolitik kritisch gegenüberstehen, umso mehr sie die Krise der Demokratie selbst als eine Krise der Repräsentation dechiffrieren. Für die Untersuchung der spezifischen Widerstandsästhetiken chorischer Protesthandlungen wird daher im Zentrum stehen, in welcher Art und Weise chorische Protestverfahren konkret durchgeführt werden und welche Werte und Regeln sich in ihren Praxen ausdrücken. Welchen Beitrag übernimmt das Chorische, um dem angestrebten Modell einer neuen Gesellschaft schon zu entsprechen? Wird das Chorische letztlich zum Motor, um die anarchistischen Grundprinzipien der Selbstorganisation, der freiwilligen Zusammenkunft, der gegenseitigen Hilfe und die Ablehnung jeglicher Form autoritären Zwangs unmittelbar zu realisieren? 4.4 Chorisches Widerstandspotenzial als institutionelle Kritik „Wenn das politische Leben in einer Mediendemokratie bereits in sich durch und durch theatral konstituiert ist, kann Theater die dominanten Diskurse eigentlich nur dann unterbrechen, wenn es auch seine eigene Theatralität in Frage zu stellen bereit ist.“200
In einem im Mai 1978 gehaltenen Vortrag mit dem Titel „Was ist Kritik?“ nennt Michel Foucault die Kritik nicht nur eine „Kunst“ und eine „Tugend“, sondern auch eine „Technik“ und einen „Willen“, nicht in einer bestimmten Art regiert zu werden. Die sich an Kritik anschließende Praxis gewinne ihre Widersetzlichkeit daher aus dem Willen, das Verhältnis von Macht und Widerstand zu verschieben. In einem von Foucaults Vortrag inspirierten Text fragt Judith Butler wiederum, welche Praxis diese Kunst und Technik der Kritik zugleich ausbilde. Gegen den alltagssprachlichen Gebrauch des Begriffs argumentiert Butler, dass Kritik „eine Praxis ist, die das Urteil aussetzt“.201 Die Aufgabe der Kritik, Machtkonstellationen zu entlarven, werde jedoch „durch das übereilte Urteil als exemplarischem kritischen Akt durchkreuzt.“202 Während Urteile dazu tendieren, „ein Besonderes unter eine bereits konstituierte Kategorie zu subsumieren“, müsse Kritik „nach der verschließenden Konstitution des Feldes der Kategorien selbst“ fragen.203 Kritik habe folglich über das Suspendieren und Aussetzen des Urteils hinauszugehen. Mit der Suspension des Urteils kehre Kritik nicht zum Urteil zurück, sondern eröffne gerade dadurch eine neue Praxis. Was kann diesen Überlegungen zur Kritik in Hinsicht auf die Widerständigkeit chorischer Protestformen abgewonnen werden? Ich möchte argumentieren, dass die Kritik des Chorischen gleichfalls darin zu liegen scheint, das Be- oder Verurteilen zugunsten von Prozessen der Selbstbefragung auszusetzen. Der doppelten Suspensi199 Rosa, Resonanz, S. 289. 200 Ebd. 201 Judith Butler, „Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 50. Jg. Nr. 2 (2002), S. 249-265, S. 250, abrufbar unter: http:// eipcp.net/transversal/0806/butler/de (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 202 Ebd. 203 Ebd.
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on des Urteils in der Kritik, in der sich eine Neuerfindung ankündigt, entspricht die Widerständigkeit des Chorischen. Der österreichische Philosoph Gerald Raunig schreibt dazu: „Entgegen der Vorstellung einer reinen kritischen Position, eines privilegierten Orts, an dem – und aus dem heraus – Überblick und Autorität des Urteils entstehen, geht es also zunächst um eine Aussetzung des Urteils.“204
Entgegen der Rede von der Autorität operieren chorische Verfahren, indem sie jenen privilegierten Standpunkt scheinbarer Kritik aufgeben und das Phänomen der Autorität selbst in Frage stellen. Während das repräsentative Chor-Modell an der Herstellung einer kollektiven Autorität arbeitet und gerade dadurch seine identitäre Legitimation bezieht, studieren chorische Verfahren das Autoritäre, um es zu durchdringen. Ein Widerstand des Chorischen wird dort denkbar, wo seine Verfahren dazu genutzt werden, das Phänomen der Autorität zunächst selbst körperlich nachzuvollziehen und zu verstehen. Während auctoritas auf Urheberschaft, Subjektivierung und Spezifizierung des Ursprungs verweist, meint das vom lateinischen Verb augeo für ,vermehren‘ hergeleitete Substantiv auctor eine Person, die etwas vermehrt oder mehrere nicht zwingend zusammengehörende Komponenten zusammenführt und damit verständlich macht. Genau das Verständnis dieser in der Subjektivierung von Chören enthaltenen Gewalt der Disziplinierung kann dann zur Grundlage werden, das eigene Verstehen auch für andere verständlich zu machen.205 Auf die entscheidende Erweiterung dieses Verständlichmachens hat Raunig in Bezug auf die Textkritik hingewiesen: „Der springende Punkt zwischen ,verstehen‘ und ,verständlich machen‘ ist die Relation zwischen einer passiven Fortsetzung der Auslegungstradition in den erlaubten Bahnen der Erkenntnis und dem ,Verständlichmachen‘ als einer definitiven Produktivität der Kritik. Kritik beruht also nicht nur auf der Aneignung von Sprachkompetenz, um Texte verstehen zu können, sie greift in die Textproduktion aktiv ein. Sie geht über brave Regelbefolgung genauso hinaus wie über sklavische Rekonstituierung des Ursprungstextes.“206
Raunigs Ausführungen können auf politisches Protesthandeln und die Anwendung chorischer Protestverfahren übertragen werden: Das Chorische übt Kritik an den autoritären Strukturen einer auf Macht und Identität basierenden Politik. Der Widerstand der in seiner Kritik aufscheint, unterscheidet weder Richtiges von Falschem, noch beurteilt er die Autorität, sondern setzt sie aus und richtet das eigene Handeln auf eine Neuzusammensetzung aus. Diese Bearbeitung des bereits Vorhandenen kann als produktiver Prozess bewertet werden, der die einfache Vorstellung von Widerstand als reagierendem Handeln um einen kreativen Schritt erweitert. Versäumen es Chöre sich mit ihrer eigenen Konstitution auseinanderzusetzen, werden sie wenig Widerstandspotenzial entwickeln. Um nicht der bloßen Reproduk204 Vgl. Gerald Raunig, „Was ist Kritik?“, in: Transversal – EIPCP Multilingual Webjournal (2004), abrufbar unter: http://eipcp.net/transversal/0808/raunig/de (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 205 Vgl. ebd. 206 Ebd.
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tion normativer Strukturen verhaftet zu bleiben, erscheint es gerade für politische Handlungen unausweichlich eigene Ausprägungen kontinuierlich zu hinterfragen. Der veritable Beitrag chorischer Protestformen kann darin liegen, die systematischen Vereinnahmungstendenzen des Chores zu erkennen, fragwürdige Disziplinierungsmechanismen freizulegen und die Instrumentalisierung unterdrückender Methoden nicht zu wiederholen. Die Entdeckung des Chorischen als diskursiver Praxis, die diesen Auftrag ernst nimmt, kann deshalb zum Werkzeug werden, um unreflektierte Gesetzmäßigkeiten des sozialen Miteinanders zu verändern. Mit chorischen Protestaktionen verbindet sich demnach die Hoffnung, politischen Wandel herbeizuführen. Wo Protestchöre selbst neue Wahrnehmungssituationen realisieren, die sich von bestehenden Verfahren kollektiven Austauschs abheben, nähern sie sich der Umsetzung dieses Wunsches an. Als politisches Verhalten überaus heterogener Akteur*innen können Protestchöre als temporäre Institutionalisierungen beschrieben werden, die es fremden Menschen ermöglichen, eine zeitgebundene, strategische Allianz einzugehen, die, wenn nicht der zweckgebundenen Artikulation, so dem Auffinden gemeinsam geteilter Interessen dient. Um in der politischen Arena als relevant wahrgenommen zu werden, wird der Protestchor als Kollektivakteur dazu genutzt, verstreute Aktionspotenziale zu bündeln. An die zeitweise Zusammenkunft als temporärer Institutionalisierung schließt sich die Gelegenheit einer Institutionskritik des Chores an. Der Begriff der Institutionskritik, der auf der Grundannahme einer spezifischen Wirkungsästhetik von Kunst beruht, verweist auf unterschiedliche Haltungen, Positionen und Arbeitsweisen, die Kunst insbesondere im Bereich der Bildenden Kunst für gewöhnlich eine epistemologische Funktion zuschreiben. Der deutsche Kunsthistoriker Johannes Meinhardt hat ,Institutionskritik‘ als Haltung innerhalb der Kunst beschrieben, die sich finde in „künstlerischen Arbeiten und Verfahrensweisen, welche die gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen der Herstellung und des Gebrauchs von Kunst analytisch untersuchen.“207 Institutionskritik kann sowohl institutionelle Orte als auch kulturelle Beschränkungen kritisieren. Die kritische Haltung bezieht sich dabei vielfach auf Verfahren der Analyse, der Enthüllung und Dekonstruktion. Kunst wird ein kritisches Potenzial zugeschrieben, vielfach allerdings auch kritisiert, dass Kunst dadurch auf ihre vermeintliche Kritikfähigkeit festgeschrieben werde. In der kommerziellen Sphäre der Kunstwelt dienen institutionskritische Ansätze dazu, die Mechanismen und Verfahren der ökonomischen Reproduktion kritischer Werke zu hinterfragen und auf die finanziellen Abhängigkeiten sozialer Transaktionen hinzuweisen.208 Die Institutionskritik ist in den letzten Jahrzehnten aufgrund einer geradezu inflationären Kritikbehauptung selbst in die Kritik geraten. Gleichwohl verbindet sich mit ihr eine spezifische Praxis, die sich der sensiblen Reflexion der eigenen Institution 207 Johannes Meinhardt, „Institutionskritik“, in: Hubertus Butin (Hrsg.), Dumonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2002, S. 126-130, S. 126. 208 Siehe dazu insb. Andrea Fraser, „Was ist Institutionskritik?“, in: Graw, Isabelle/Draxler, Helmut/Rottmann, André (Hrsg.), Erste Wahl. 20 Jahre ,Texte zur Kunst‘, Hamburg 2011, S. 73-78; Benjamin Buchloh, „From the Aesthetics of Administration to Institutional Critique“, in: L’art conceptuel, une perspective, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris 1990, S. 41-54.
Widerstand | 123
widmet. Gerade hier wird die Verbindung zum Chorischen als einer ähnlichen Arbeitsweise offenbar, die alternative Formen des Produzierens, Präsentierens und Rezipierens innerhalb wie außerhalb der bereits bestehenden Institution des Chores entwickelt. Das Potenzial chorischen Protests liegt offenkundig darin, den Chor nicht länger nur als Sprachrohr politischer Botschaften zu gebrauchen. Produktiver als Formulierungen scheinbar eindeutiger Parolen können chorische Protesthandlungen selbst Diskussionen darüber anregen, in welcher Weise das bisweilen etwas leichtfertig verwendete Attribut ,politisch‘ für die eigenen Aktionen wirklich greift. Dabei genügt es nicht, nur das Moment des Zusammen-Seins und GemeinsamHandelns im Chor zu exponieren oder das In-den-Chor-Einstimmen auszustellen. Die Politizität von Protest bestimmt sich nicht durch das Adressieren gesellschaftlicher Themen oder den Vollzug theatraler Handlungen im öffentlichen Raum allein. Der Vorteil des Chorischen besteht darin, dass chorische Kommunikationsverfahren die Frage der eigenen Politizität verhandeln und zwar unabhängig von der Tatsache, ob sie zugleich die Aufmerksamkeitsmerkmale der Chor-Form nutzen, um gesellschaftliche Sachverhalte darzustellen oder marginalisierte Interessen zu artikulieren. Als dionysische Kraft strömt das Chorische über den Bereich des Theaters hinaus und kann neue Erkenntnisse und Erfahrungen provozieren, in denen eine soziale Wirklichkeit ins Spiel einbricht. In der Figuration des Protestchors scheinen sich daher eine politische und eine künstlerische Praxis des Aufbegehrens zu begegnen. Die folgenden Kapitel fokussieren das Wie dieser Begegnungen. Wenn chorische Verfahren angewandt werden, deren Ausgestaltungen sich als bewegungsreiche, affektive Ereignisse vollziehen, die in ihrem Ausgang völlig offen sind, erobern Protestchöre ein Agitationsfeld außerhalb des Kunstraums. Damit wird eine chorische Praxis revitalisiert, die sich sogleich mit einer neuwertigen Politizität auflädt, da sie selbst als institutionelle Kritik auftritt. Anhand der sozialen Figurationen des Protestchors wird erforscht werden, ob sich mit chorischen Protestformen zugleich die Chance eröffnet, traditionelle Ordnungen der Repräsentation durch spielerisches Erproben neuer Arrangements aufzubrechen. Wenn für den deutschen Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann die Vermutung nahe liegt, dass das Politische „als eine Überwindung der Schau- und Höranordnung zugunsten einer Exploration des situativen Aspekts“209 ins Spiel kommt, könnte die Provokation der theatralischen Erfahrung des Chorischen entsprechend darin vermutet werden, geltende Wahrnehmungskonventionen zu erschüttern, zu stören, zu unterbrechen, zu unterwandern, temporär auszusetzen, zu verändern und dadurch Erfahrungen von Zeit und Raum zu transformieren. Um das Widerstandspotenzial des Chorischen in Abgrenzung zur Chor-Form im Folgenden weiter freizulegen, wird im nächsten Kapitel dezidiert auf Einar Schleefs Chor-Theater eingegangen, in dem sich die Widerstandskraft des Chores als eine intendierte und ostentative Loslösung tradierter Formen seit den späten 1980er Jahren unverkennbar andeutete. Schleefs Auseinandersetzung mit dem Chor soll als Rahmen maßgeblich dazu dienen, hinter der oberflächlichen Anmut der Chor-Form eine durch seine Identitätspolitik bedingte systematische Vereinnahmung zu erkennen und sie als Abdruck einer durch und durch bürgerlichen Tradition politischer Repräsentation zu markieren. 209 Lehmann, „Wie politisch ist postdramatisches Theater?“, S. 21.
II Chor
„Jeder Chor ist eine Herausforderung: für die Darsteller in Bezug auf das Sprechen, Rhythmisieren, aufeinander Hören; für den Zuhörer ist er ein akustisches wie optisches Abenteuer. Der Chor hat etwas Ungeheuerliches – er selbst ist geradezu ein Ungeheuer.“1
Die kulturelle Identität und das Konzept des Chores sind unauflöslich mit der Antike verwoben. Als Konvention und konstituierendes Element der griechischen Tragödie verbindet sich mit der Existenz des Chores die Frage nach dem Ursprung des Theaters selbst. Dieser herausgehobenen Bedeutung des antiken Chores steht seine unsichere Quellenlage gegenüber. Als kulturelle Praxis, die einst Musik, Sprache und Bewegung vereinte und sich später zum Kollektivakteur im Drama institutionalisierte, kann der Chor heute auf so gut wie keine gesicherte Tradition verweisen. Während fundierte Kenntnisse oder historisch rekonstruierbare Fakten vielfach fehlen, bieten fragmentarische Überlieferungen kaum zuverlässige Nachweise. Es mag an dieser rätselhaften Ausgangssituation liegen, warum der Chor bis heute als das „fremdeste, aus moderner Sicht unzugänglichste Element des antiken Dramas“ gilt.2 Eine Annäherung an den antiken Chor ist nur in Form einer Suchbewegung möglich. Dabei kann es nicht darum gehen, festschreiben zu wollen, was der Chor in der Antike einmal gewesen sein mag. Der antike Chor, so wie wir ihn aus der griechischen Tragödie zu kennen glauben, konstituierte sich – selbst in dem Zeitraum, den wir als Antike fassen – in einem kontinuierlichen Wandel von Aufführungsbedingungen. Die Rekonstruktion kultureller Entwicklungen des Chores verfolgt also nicht die Absicht, heterogene Meinungen und Bezüge zum Chor, die sich ebenso durch Widersprüche und über Umwege manifestieren, als eine homogene Geschichte darzustellen. Seit der Renaissance haben europäische Wissenschaftler*innen und Künstler*innen „beständig im Steinbruch der Antike gegraben“, „ihre Antike in wechselnden Ausformungen immer wieder neu erfunden“ und damit „neue Bilder und Kon1 2
Meister/Enzelberger/Schmitt, „Vorwort“, S. 10. Matthias Dreyer, „Archiv und Kollektiv. Griechische Tragödien als chorisches Theater bei Einar Schleef, Theatercombinat und Theodoros Terzopoulos“, in: Ernst Osterkamp (Hrsg.), Wissensästhetik. Wissen über die Antike in ästhetischer Vermittlung, Berlin 2008, S. 345367, S. 347.
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zepte von sich selbst und ihrem Ursprung geschaffen.“3 Die Wirkungsgeschichte der Antike, die im 19. Jahrhundert zur Projektionsfläche europäischer Identität wird, belegt, dass es nicht das eine Antikebild gibt, sondern je nach kultureller Setzung verschiedene Konzepte antiker Vergangenheit. Besonders stark zeigt sich im 19. Jahrhundert, wie das Interesse am Chor weniger den spezifischen Eigenschaften antiker Aufführungen galt, als der eigenen Selbstfindung, den modernen Ideen des Individuums sowie der kollektiven und nationalen Identität des Staates.4 Die griechische Tragödie wird zu einer Zeit wiederentdeckt, in der sich europäische Sehnsüchte mit den Erfahrungshorizonten der Neuen Welt mischen und Teil eines breit angelegten Versuchs werden, sich selbst gegen andere zu behaupten.5 Dieses Kapitel greift unterschiedliche Entwicklungslinien des Chores auf. Anstatt allein den Chor im antiken Drama zu fokussieren, soll der kulturellen Praxis des Chores nachgespürt werden. Mit dem Ziel weniger chronologisch als thematisch die Identitätspolitiken und Repräsentationsmechanismen der Chor-Form deutlich vom Chorischen abzuheben, werden auszugsweise verschiedene Stationen chorischer Praxis – theoretische Reflexionen zum antiken Chor, historische Debatten über seinen politischen Modell-Charakter und künstlerische Auseinandersetzungen mit chorischen Verfahren – beleuchtet. Im Zentrum dieser vielfältigen Zugänge stehen dabei die Transformation des antiken Chores, seine Wiederentdeckung als identitäres Programm politisch-ästhetischer Bildung im 19. Jahrhundert sowie die politischen Repräsentationsansprüche und künstlerischen Aneignungsversuche der Chor-Form im 20. Jahrhundert. Für Künstler wie Einar Schleef, der den antiken Chor-Gedanken in den 1980er Jahren aufgreift, stellt der Chores ein gesellschaftlich relevantes Phänomen dar, das neben Rückschlüssen zur Rezeption der Antike und ihrer Transformation durch die moderne Theatergeschichte vor allem aktuelle Bezüge zur Gegenwart ermöglicht. Ausgehend von Shakespeare, der den antiken Chor zerstört habe, zeichnet der Regisseur, Maler, Bühnenbildner und Schriftsteller in seinem 1997 publizierten Essay Droge Faust Parsifal nach, wie der Chor als dramatische Kollektivfigur durch Harmonisierungen und Bündelungen zunehmend von der modernen Bühne verdrängt wurde.6 In Gerhart Hauptmanns Die Weber komme es dagegen zur „Umkehrung der
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Erika Fischer-Lichte/Matthias Dreyer, „Antike Tragödie heute“, in: Dies. (Hrsg.), Antike Tragödie Heute. Vorträge und Materialien zum Antiken-Projekt des Deutschen Theaters, Berlin 2007, S. 8-15, S. 9. Siehe Simon Goldhill, „The Greek Chorus: Our German Eyes“, in: Billings/Budelmann/ Macintosh (Hrsg.), Choruses, Ancient and Modern, S. 35-51, S. 35. Das konzeptionelle Selbstbild der frühen europäischen Moderne findet in der griechischen Kultur jene „puren“, „westlichen“ Kategorien, die es im Zuge eines wachsenden Kolonialismus als Rechtfertigung für das Abwerten anderer Herkünfte instrumentalisiert. Vgl. Edith Hall, „Introduction: Why Greek Tragedy in the Late Twentieth Century?“, in: Dies./Macintosh, Fiona/Wrigley, Amanda (Hrsg.), Dionysus Since 69. Greek Tragedy at the Dawn of the Third Millennium, Oxford 2004, S. 1-46. Shakespeares strategische Individualisierung sei so „nicht bloßer schauspielerfreundlicher Zugewinn, sondern ein bedeutender inhaltlicher Verlust, den kein Protagonist wettmachen kann“ und als Chor-Verlust deshalb so fatal, weil damit „jede Figur auf eigenes Leid zu-
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antiken Konstellation“7 und damit zur Unterbrechung jener Verdrängung des Chores, der nun selbst zum Ausgestoßenen wird. In seiner Studie Theater der Zäsur: Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren hat sich der deutsche Theaterwissenschaftler Matthias Dreyer intensiv mit der Marginalität des Chores beschäftigt.8 Dreyer bestimmt darin als ein Hauptmerkmal des Chores seine häufig vorgebrachte Unaufführbarkeit, die er als „wichtiges theatergeschichtliches Dispositiv“ klassifiziert, das aus „Vorbehalten gegenüber dem Chor – dem Primat der Innerlichkeit, der Angst vor totalitärer Gewalt und der Historisierung des Klassikers – resultiert.“9 Während sich Dreyer nach der Wiederentdeckung der griechischen Tragödie im 19. Jahrhundert vordergründig auf Aufführungsbeispiele in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts bezieht, lässt sich bereits die kulturelle Spielpraxis des antiken Chores an der Schnittstelle von kultischem Ritual und antikem Drama als Geschichte einer kontinuierlichen Zurückdrängung chorischer Elemente rekonstruieren. Im Anschluss daran und an Schleefs Äußerungen kann der Chor selbst als Opfer der modernen Theaterentwicklung betrachtet werden. Dem Chor kommt die Rolle zu, sozial Marginalisierte zu repräsentieren.10 Zugleich scheint die Marginalität des Chores selbst ein Grund dafür zu sein, dass er vermehrt als Opfer in Erscheinung tritt.11 Mit Blick auf die Geschichte politischer Protest- und Auflehnungsbewegungen fällt auf, dass Chöre tendenziell als Repräsentant*innen der Ausgeschlossenen beschrieben oder Formationen des Kollektivs mit dem Kampf gegen das Establishment assoziiert wurden. Die unterschiedlich intensiv betonte Marginalität des Chores scheint der Ausgangspunkt einer sich fortschreibenden Vereinnahmung der identitätspolitischen Repräsentationsflächen des Chores zu sein. Schreibt sich also der seit jeher prekäre Status des Chores als Narrativ eines Wiedererlangens von Stärke fort? Als permanente Auseinandersetzung bildet der Chor innere Konflikte ab, wobei die Ambivalenz seiner Formen die Fragwürdigkeit einer stabilen Identität zu materirückgeworfen [ist], auch befreit von Verantwortung füreinander.“ Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, Frankfurt a.M. 1997, S. 13. 7 Ebd., S. 12. 8 Siehe Matthias Dreyer, „Verdrängtes Kollektiv – Zur Wiederkehr des Chors“ in: Ders, Theater der Zäsur: Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren, Paderborn 2014, S. 177-236. 9 Ebd., S. 180. 10 Vgl. dazu den Begriff social marginality des antiken Chores nach John Gould, „Tragedy and Collective Experience“, in: M. S. Silk (Hrsg.), Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond, Oxford 1996, S. 217-243. 11 Schleef beschreibt den Chor daher als Verflechtung von Krankheit, Drogensucht und Opferbereitschaft: „Der antike Chor ist ein erschreckendes Bild: Figuren rotten sich zusammen, stehen dicht bei dicht, suchen Schutz beieinander, obwohl sie einander energisch ablehnen, so, als verpeste die Nähe des anderen Menschen einem die Luft. Damit ist die Gruppe in sich gefährdet, sie wird jedem Angriff auf sich nachgeben, akzeptiert voreilig angstvoll ein notwendiges Opfer, stößt es aus, um sich freizukaufen. Obwohl sich der Chor des Verrats bewußt ist, korrigiert er seine Position nicht, bringt vielmehr das Opfer in die Position des eindeutig Schuldigen. Das ist nicht nur ein Aspekt des antiken Chores, sondern ein Vorgang, der sich jeden Tag wiederholt.“ Schleef, Droge Faust Parsifal, S. 14.
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alisieren scheint. Nach Dreyer ist der Chor bei Schleef demnach „niemals eine geschlossene Einheit, die in sich selbst ruht oder sich selbst genügt, sondern ein labiler, prekärer Verbund, der mit einer grundlegenden Gestörtheit, einem Mangel an Einheit zu kämpfen hat.“12 Als Suche nach konkreten Zuschreibungen und als Verlangen nach einer Form verdeutlicht die Opferschaft des Chores eine Art andauernden Kampf, der die Absenz eindeutiger Attribute aufzeigt: „Die Ambivalenz des Chors besteht demnach darin, dass er Opfer ist, aber selbst auch auf gewaltsame Weise Opfer hervorbringt.“, so Dreyer dazu.13 Der Chor steht damit „in einer steten, unheilbaren Spannung zum Individuum.“14 Diesen Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv bestimmt Schleef analog als Grundkonflikt der griechischen Tragödie. Er spricht von der antiken Konstellation „der Einzelfigur, des werdenden Individuums, das der Chor ausschließt.“15 Die Idee des Ausschließens und Ausgeschlossenseins präzisiert Lehmann überaus treffend mit der Beschreibung, dass der Chor bei Schleef „eine bedrohte Identität [sei], die gar kein Subjekt, keinen Halt hat, sondern lediglich in eben dieser Bewegung existiert, das Individuum als das Fremde, das Unzugehörige, sagen wir: als das Ungehörige zu bestimmen.“16 Dieses Kapitel verfolgt mit der Marginalisierung und neuerlichen Vereinnahmungstendenzen des Chores zugleich Schleefs Argumente zurück, dessen Interesse an der Antike und dem Chor eigenen Aussagen zufolge so groß war, um „den Chor, die Gemeinschaft der miteinander Arbeitenden, die Gemeinschaft der Figuren, die eine Sprache sprechen, die des Autors, wieder auf der Bühne zu beheimaten.“17 In Schleefs Chorverständnis deutet sich ein Widerstand gegen das Individuelle an, das jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Identitären ist. Im Gegensatz demonstriert Schleefs Theaterpraxis, die am Ende dieses Kapitels wiederum aufgegriffen werden soll, dass der Chor als Präsentationsform einer zwar bedrohten und dennoch kollektiven Identität nicht als postidentitäre Vorlage dienen kann. Vielmehr wird greifbar, wie der konstatierten Marginalität des Chores gleichsam Schleefs Faszination für die Machtlosen der Gesellschaft entspricht. In Analogie zum Chor der Antike, der als Figur selbst nie ins Zentrum der Macht vordringt, sondern seinen Platz nur vor dem Palast findet,18 versinnbildlichen für Schleef Drogensüchtige vor der Frankfurter Oper, wie sich heutige Auseinandersetzungen als beständiger „Konflikt mit dem Raumdispositiv der bürgerlichen Institutionen“ verfestigt haben.19
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Dreyer, Theater der Zäsur, S. 189. Ebd., S. 185. Ebd. Schleef, Droge Faust Parsifal, S. 8. Hans-Thies Lehmann, „Theater des Konflikts. ,Einar [email protected]‘“, in: Ders., Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, S. 192-211, S. 207. 17 Schleef, Droge Faust Parsifal, S. 10. 18 Siehe dazu auch Dreysse, Szene vor dem Palast, Berlin u.a. 1999. 19 Dreyer, Theater der Zäsur, S. 188. Aus diesem „Konflikt mit dem Raumdispositiv der bürgerlichen Institutionen“ ergab sich für Schleef, der als Theatermacher selbst an den institutionellen Rahmen staatlicher Theaterbetriebe gebunden war, zugleich ein Auftrag: Schleef musste sich immer auch am Ort seines Schaffens – dem Theater selbst – abarbeiten.
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Wie der Chor in der Antike sind die Ausgeschlossenen der Gesellschaft zwar in das Drama involviert, aber von konkreten Handlungsmöglichkeiten ausgeschlossen.20 Bereits hier wird deutlich, wie sich auch in Gegenwart von Krankheit, Unsicherheit und Bedrohung die Chor-Form als imaginiertes Repräsentationsmodell stabiler Gruppen-Identitäten geradezu antagonistisch dem postidentitären Widerstandspotenzial des Chorischen entgegenzustellen scheint. Schleefs Inszenierungen greifen diesen Widerspruch zwischen der Zurückdrängung des Chores und dem historischen Erbe einer umso vehementeren Wiederbehauptung starker Gruppen-Identitäten besonders eindrücklich auf und stimulieren Ende des 20. Jahrhunderts gewissermaßen radikalisiert Überlegungen zur chorischen Form. Schleef fragt, in welcher Weise sich der Chor auf einer Theaterbühne aus jenen zusammensetzen kann, die im Theater sonst nicht zur Sprache kommen. Indem der Chor neuerliche Partizipationschancen sicherstellt oder ausgegrenzte Minderheiten integriert, soll das Chor-Modell zu einem Instrument der Ermächtigung werden. Dabei steht gerade zur Disposition, ob der Chor als konfliktreiche Form ästhetischer Gewalt oder Verfahren vereinnahmender Störung auf diese Weise tatsächlich ein eigenes Protestpotenzial entwickelt. Um den Chor noch deutlicher vom Chorischen abzugrenzen und deren Verhältnis weiter zu klassifizieren, wird sich den unterschiedlichen kulturhistorischen Strängen des Chores unter den Aspekten Transformation, Identität und Repräsentation wie folgt genähert: Erstens soll unter dem Stichwort der Marginalisierung die schrittweise Zurückdrängung chorischer Praxis nachvollzogen werden. Anhand von Überlegungen zur Quellenlage des Chores, der Transformation chorischer Ritualität zum Drama und der fortschreitenden Institutionalisierung des Theaters soll das Fundament für den spezifischen Modellcharakter des Chores geebnet werden. Zweitens wird mit der Wiederentdeckung der griechischen Tragödie im 19. Jahrhundert ein weiterer Moment kontinuierlichen Wandels chorischer Praxis in den Blick genommen. Im Interesse steht hier die kulturelle Funktionalisierung des Chores im Rahmen der identitätspolitischen Projekte des aufstrebenden Bürgertums und die Generierung einer neuen bürgerlichen Öffentlichkeit. Drittens rücken am Beispiel der Sprechchorbewegung der 1920er Jahre mit Praktiken politisch-ästhetischer Bildung, Erziehung und Agitation zugleich die mit dem Chor verbundenen Strategien politischer Repräsentation in den Fokus, an denen sich sowohl das Programm einer kollektivierenden Subjektivierung von Arbeiter*innen als auch ein antagonistischer Gegenentwurf zum individualistischen Bürgertum abbildet. Als Kontrapunkt zu bürgerlichen Anschauungen und als eine Art Rehabilitation der sinnlich erfahrbaren Wirkungen des Chores wird abschließend das ChorTheater Einar Schleefs behandelt. Schleefs Chor-Theater kann klarstellen, was den Chor vom Chorischen trennt. Angeregt durch seine Theaterpraxis und den dort nachvollziehbaren Wirkungen des Chores soll die politische Relevanz einer teils widersprüchlichen und ambivalenten Widerstandspraxis des Chores gerade in Differenz zum Chorischen dargestellt werden.
20 Ebd., S. 189.
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1. TRANSFORMATION „The idea of a chorus as a member of the dramatis personae is strange to the modern mind, and so we lack the qualifications for a complete understanding of it. Also, we mostly read the choral songs from books, instead of seeing and hearing them in the theatre, while Greek drama was written in the first place for the spectators […].“21
Die Geschichte des griechischen Chores geht weiter zurück, als wir sie nachverfolgen können.22 Darüber hinaus spielt sie sich in einer Zeit vielfältiger Transformationen ab: Während ein kultureller Wandel von der Oralität zur Schriftkultur einsetzt, entwickeln sich gesellschaftliche Sippenverbände und Klanstrukturen zur neuen politischen Ordnung der Polis. Heute kann davon ausgegangen werden, dass chorische Tänze und Gesänge in der Antike seit jeher ein fundamentaler Bestandteil von Festen, Zeremonien und anderen ritualisierten Handlungen waren. Nach Meinung von Ulrike Haß besaß der Chor somit „einen überragenden Stellenwert im festlichen und kultischen Leben des antiken Griechenlands“.23 Es gilt als verlässlich, dass sich der Chor aus kultischen Tanz- und Bewegungsformen zum Theaterchor entwickelte.24 Bereits zur Zeit des frühen griechischen Theaters war er zentrales Ausdrucksmittel lyrisch verfasster Tragödien und Komödien. Dennoch ist unser heutiges Verständnis vom Chor maßgeblich durch die dramatischen Chöre der griechischen Tragödie geprägt, so dass seine rituellen Wurzeln und andere Bedeutungsebenen oft übersehen werden. Eine Fundierung dessen, was über den Zusammenschluss vereinigt Tanzender und Singender hinaus als relevante Signatur chorischer Praxis verstanden werden kann, sollte sich daher keineswegs allein auf die Rollenfigur des Chores innerhalb des antiken Dramas beschränken. Mit Hilfe einer etymologischen Annäherung an den Begriff choros können die medialen, materiellen, semiotischen und ästhetischen Qualitäten des Chores benannt und zugleich die performativen Ursprünge des Chorischen freigelegt werden. Die Herkunft des Chores zu befragen, heißt diese vielmehr in direkter Nähe zu Musik, Gesang und den dazu ausgeführten Bewegungen im ritualisierten Rahmen festlicher Anlässe, die meist zu Ehren einer Gottheit aufgeführt wurden, zu suchen.25 Lange vor Einführung der städtischen Dionysien in Athen sind „vielfältige Formen
21 Maarit Kaimio, The Chorus of Greek Drama within the Light of the Person and Number Used, Helsinki 1970, S. 10. 22 Vgl. Webster, The Greek Chorus, S. 200. 23 Ulrike Haß, „Chor“, in: Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat, Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 50-53, S. 50. 24 Siehe auch Bernhard Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie. Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2000. 25 Zum griechischen Verhältnis von Musik und Dichtung siehe Hermann Koller, Musik und Dichtung im alten Griechenland, Bern 1963.
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prädramatischer ,performances‘“26 nachweisbar, die sich unter anderem in einer expressiven Chorlyrik festschrieben und neben dem Tragischen auf weitere Fundamente verweisen. In der folgenden Auseinandersetzung mit dem Chor wird es daher weniger darum gehen, die „geistigen Voraussetzungen, die zu einer tragischen Weltsicht führten“ zu fokussieren,27 als vielmehr die Verdrängung jener vordramatischen Traditionen des Chores freizulegen, die ihn weniger als Rollenfigur, denn als überaus ereignisreiche Darstellungspraxis ausweisen. Als künstlerisches Verfahren und soziale Praxis menschlicher Begegnung, die kontingente Formen von Kollektivität zur Aufführung brachten, verbinden sich mit chorischen Interaktionen Prozesse ästhetischer Darstellung, die zugleich Rückschlüsse auf entscheidende politische Koordinationsfragen zulassen. Die Entwicklungsgeschichte des Chores verweist auf weitreichende kulturelle, politische und gesellschaftliche Transformationen. Die schrittweise Zurückdrängung des Chorischen in der vordramatischen Zeit, die sich dann bei den dramatischen Chören der klassischen Zeit fortsetzt, wirft die Frage auf, welche unmittelbaren Folgen die zunehmende Institutionalisierung des Theaters für chorische Spielweisen hatte. Wenn die Etablierung einzelner Schauspieler im Zusammenhang mit der folgenreichen Zurückdrängung des Chores steht, fragt sich, mit welchem Widerstandspotenzial sich die Chor-Form damit zugleich auflud. Begründet sich in der Marginalisierung des Chorischen der spätere Kampf um Anerkennung des Chores? 1.1 Etymologische Annäherung an den Chor Während die etymologischen Ursprünge des Wortes ,Chor‘ unklar bleiben, gibt die semantische Verwendung von choros (χορός) in alten Quellen und insbesondere in der Dichtkunst von Homer weniger Fragen auf. Das Wort choros bezeichnet dort sowohl den öffentlichen Tanzplatz, als auch den Rund- und Reigentanz, in dem sich Menschliches mit Göttlichem mischte. Später wurde jene Gruppe von Tanzenden und Singenden als Chor bezeichnet, die ihre Handlungen gemeinsam ausführten.28 Die verschiedenen Bedeutungsebenen von Handlung, Ort und beteiligten Menschen, die sich im Begriff choros bündeln, verweisen auf die kulturelle Interdependenz einer mit dem Chor verbundenen gemeinschaftlichen Praxis, die auf heutige Betrachter*innen fremd wirken mag. Während sich die Anfänge der chorischen Erfahrung der Griech*innen nicht präzise zurückdatieren lassen und über die wahren Ur26 Seidensticker, Das antike Theater, S. 11. Dort präzisiert er zugleich das kulturelle Umfeld für die spätere Entstehung des Chores wie folgt: „Es handelt sich um den in vielen Kulturen für die Entwicklung von Musik, Tanz und dramatischem Spiel bedeutungsvollen Kontext ländlicher Fruchtbarkeitsfeste mit ihren Opferritualen und mit magisch-mimetischen Tänzen und Gesängen, mit denen Familie, Clan und Dorfgemeinschaft versuchten, sich vor bösen Geistern zu schützen bzw. deren Hilfe herbeizuzwingen, den Jagderfolg zu sichern oder die Fruchtbarkeit ihrer Herden und Felder zu fördern.“ 27 Albin Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 1972, S. 21. 28 Zur Diskussion und Wandlung der Bedeutung des Terminus choros siehe auch Thrasybulos Georgiades, Musik und Rhythmus, S. 37ff.; Gregor Rohmann, Tanzwut: Kosmos, Kirche und Mensch in der Bedeutungsgeschichte eines mittelalterlichen Krankheitskonzepts, Göttingen 2013, S. 173.
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sprünge nur spekuliert werden kann, ist sicher, dass sich die Bedeutungsebene des Tanzes und der Bereich des Chorgesangs heute in einer Weise aufgespalten haben, wie sie in der Antike undenkbar waren. Um das analytische Potenzial des Chorischen freizulegen, soll der Zusammenhang der drei Bedeutungsebenen des Chores im Folgenden genauer untersucht werden. Im Anschluss soll eine Konzeption des Chorischen von jener ursprünglichen Einheit der drei Ebenen von Platz, Tanz und Gruppe her entwickelt werden. 1.1.1 Zur räumlichen Dimension des Chores – choros als Tanzplatz Wenngleich die genaue Etymologie des Chores nicht ausnahmslos rekonstruierbar ist, verdichten sich die Annahmen, dass die erste wesentliche Bedeutung von choros die Dimension des Raumes betrifft. Lange bevor dem Chor im antiken Drama eine institutionalisierte Rolle zukommt, führt der Begriff choros den Chor zurück zu einem durch Menschen geschaffenen Ort musikalischer Bewegtheit.29 Der Chor bezeichnet in dieser Lesart einen weiten, offenen Bereich oder eine meist klar definierte, abgegrenzte Fläche innerhalb einer Gemeinschaft, Siedlung oder Stadt, die Teil des zentralen Fest-, Versammlungs- oder Marktplatzes und damit oftmals deckungsgleich mit der Agora war.30 Als Ort der Begegnung wurde die Agora von vielen Menschen für die verschiedensten Anlässe genutzt und stellte folglich selbst einen überaus lebendigen und bewegten Ort dar.31 In archaischer Zeit fanden politische Veranstaltungen und religiöse Feste mit künstlerischen Darbietungen zunächst am gleichen sakralen Ort statt, dessen Funktionen erst später topografisch getrennt wurden.32 Schon in sehr früher Zeit brauchte man für die Chorgesänge und Tänze zu Ehren der Götter einen geeigneten Tanzplatz. Da Festtage eine immer größere Bedeutung erlangten, wuchs die 29 Damit besteht eine Nähe zwischen choros und orchēstra, die ursprünglich den Altar des griechischen Gottes Dionysos, eine Art Tanzplatz oder Fläche für kultische Tänze und Gesänge bildete und später im klassischen griechischen Theater zu einem festen architektonischen Bestandteil der Bühne wurde. 30 Zu Vorläufern dieser Tanzflächen siehe Lonsdale, Dance and Ritual Play, S. 115: „Although Minoan Crete was very different from the later Greek culture, echoes of the Minoan choros in Greek literature suggest that the idea of a quasi-sacred dancing ground had a lingering influence.“ Der deutsche Althistoriker Frank Kolb konnte an der Athener Agora nachweisen, dass die Orchestra als heiliger, oftmals dem Dionysos geweihter Tanzplatz mit der archaischen Agora, dem Ort der Volksversammlung, identisch war. Siehe Frank Kolb, Agora und Theater, Volks- und Festversammlung, Berlin 1981. 31 Zur Entwicklung der Agora als zentralem Platz für verschiedene Kulte, Tänze und politische Versammlungen siehe ebd. sowie Tonio Hölscher, Öffentliche Räume in frühen griechischen Städten, Heidelberg 1998; Ulf Kenzler, Studien zur Entwicklung und Struktur der griechischen Agora in archaischer und klassischer Zeit, Frankfurt a. M. u.a. 1999. 32 Siehe dazu Anton Bierl, Dionysos und die griechische Tragödie. Politische und ,metatheatralische‘ Aspekte im Text, Tübingen 1991, S. 51f: „Politik und der sakrale Kultakt des Chortanzes spielten sich also an demselben Ort, im Zentrum der Stadt ab und gehörten damit auch in denselben kultisch-sakralen Zusammenhang. Kult und Politik waren demnach in der griechischen Welt nicht wie in der heutigen Zeit zwei separate Instanzen, sondern sie bildeten eine untrennbare Einheit.“
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Notwendigkeit, die an den Feierlichkeiten beteiligen Menschen auf einem eigens für die verschiedenen Anlässe angelegten Tanzplatz zu organisieren.33 Verschiedene Quellen belegen, dass für den Tanzplatz unterschiedliche Bezeichnungen verwendet wurden. Pausanias gibt in seinen Beschreibungen Griechenlands aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. für die Spartaner an, dass dort aufgrund der außerordentlichen Bedeutung des Tanzes die gesamte Agora choros hieß.34 Durch Platons Apologie ist für das 4. Jahrhundert v. Chr. anzunehmen, dass der Platz, der in der Agora dem Tanzen vorbehalten war, orchēstra genannt wurde.35 Um Verwirrungen der hier erwähnten orchēstra auf dem Marktplatz mit jener für theatrale Bühnentänze im späteren Dionysos-Theater zu vermeiden, hat Steven H. Lonsdale klargestellt, dass beide Bereiche zwar wesensverwandt, zunächst jedoch nicht identisch waren: „Within the polis the dancing ground was fixed in the agora, and the term choros and orchēstra served equally to designate the area where dancing, often in a competitive nature took place. The choros and orchēstra were not synonymous with the agora, but were the most important part of it […].“36
Trotz ihres sakralen Charakters befanden sich die für Tänze vorgesehenen Plätze an öffentlichen Orten der Bürgergemeinde.37 Die Existenz eines eigenen Tanzplatzes war Zeichen von Wohlstand und Größe. Vor dem Hintergrund einer im Wettstreit stehenden Poliskultur diente die räumliche Dimensionalität des choros somit Aspekten der Repräsentation.38 Die gesellschaftliche Relevanz der Tänze war an der Errichtung und Nutzung von Tanzplätzen ablesbar.39 Neben der architektonischen Verankerung chorischer Praxis, die sich anhand der Errichtung öffentlicher, für Tänze vorgesehener Plätze nachweisen lässt, betonte die Expressivität chorischer Handlungen an 33 Siehe dazu auch Wilhelm Dörpfeld/Emil Reisch, Das griechische Theater. Beiträge zur Geschichte des Dionysos-Theaters in Athen und anderer griechischer Theater, Athen 1896, S. 366: „Für diese Feste musste demnach zunächst ein Platz vorhanden sein, auf dem eine Anzahl von Personen sich tanzend bewegen und Andere zuschauen konnten. Ein runder Tanzplatz, eine Orchestra, war mithin für die dithyrambisch-dramatischen Spiele der ältesten Zeit das erste Erfordernis.“ 34 Vgl. Pausanias, Beschreibungen Griechenlands, übers. v. Ernst Meyer, Zürich/Stuttgart 1967, S. 154. 35 Platon, Apologie des Sokrates, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1986, S. 37. 36 Lonsdale, Dance and Ritual Play, S. 119. 37 Zur Konzeption von Öffentlichkeit im antiken Griechenland siehe Peter Hövelborn, Öffentlicher Raum: Darstellung seines Wesens und Entwicklungsganges am Beispiel der Frühzeit, der frühen Hochkulturen sowie der europäischen Antike, Stuttgart 1982; Alex Gottesman, Politics and the Street in Democratic Athens, Cambridge 2014. 38 Vgl. Lonsdale, Dance and Ritual Play, S. 119. 39 Nach Dörpfeld und Reisch ist eine direkte Verbindung zwischen der frühen Form des Tanzplatzes und der später einsetzenden Institutionalisierung von Theaterbauten nicht ausgeschlossen. Denn als „die Zahl der Zuschauer wuchs, als das Fest glänzender und angesehener und die Chöre kunstvoller wurden, trat an die Veranstalter der Feste die Notwendigkeit heran, einen besonderen Zuschauerraum um den Tanzplatz herum herzustellen.“ Dörpfeld/Reisch, Das griechische Theater, S. 366.
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diesen rituellen Orten ihren hohen kulturellen Stellenwert. Die gemeinsamen Tänze ereigneten sich als chorische Bewegungsformationen in der Öffentlichkeit vor den Augen aller und nahmen dafür kommunalen Raum sichtbar in Anspruch. Diese kulturelle „Landnahme“ des Chores wird am Beispiel der territorialen Ausbreitung sowohl architektonischer Neuerungen als auch kultischer Prozessionen deutlich. Der britische Archäologe T. B. L. Webster hat anhand von Vasenmalereien des 7. Jahrhundert v. Chr. festgestellt, dass die darauf abgebildeten, in ein Himation gekleideten Figuren zu laufen scheinen. Da sie oft von einem Musiker begleitet werden, deutet er sie als eine Form des Chores und ihre Prozession als „a new form of chorus with a great future“.40 Auch der britische Althistoriker Richard Seaford hat am Beispiel öffentlicher Prozessionen der Antike beschrieben, wie sie als chorische Aufführungen im städtischen Raum das Territorium der Polis über den Tanzplatz hinaus besetzten.41 In direktem Zusammenhang mit den rituellen Prozessionen stand eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, in deren Folge sich durch das Wachstum urbaner Heiligtümer der Stadtraum in Bezug und im Verhältnis zur ländlichen Umgebung veränderte.42 In unmittelbarem Kontakt zu den geografischen Parametern des Ortes standen tanzende Chöre, die durch ihre körperlichen Aktivitäten den Aufführungsort als Bewegungsraum mit konstituierten. Durch ihre dynamischen Bewegungen machten sie die räumlichen Begrenzungen des vorgefundenen Raumes spürbar oder sprengten sie auf. Lonsdale hat dahinter ein anthropologisches Paradigma vermutet, wonach eine ganz entscheidende Funktion dieser Tänze darin bestand, „a sense of place“ zu etablieren und eine Grenze zu kontrollieren „by putting the feet in contact with the earth and circumscribing an area with a chain of human bodies.“43 1.1.2 Der Chor als Bewegungsformation – choros als tänzerische Darbietung Die zweite Bedeutung von choros betrifft in konsequenter Weise die durch eine organisierte Gruppe tatsächlich ausgeführten Tänze.44 Lonsdale hat sich in seiner Studie Dance and Ritual in Greek Religion intensiv mit den rituellen Ursprüngen des Chores befasst. Sein Interesse gilt dem Zusammenhang chorischer Formen des Rituals, den im Kult verorteten koordinierten Schrittfolgen und dynamischen Bewegungselementen der Tänze. Die beide Ebenen verbindende Semantik von choros klärt er wie folgt auf:
40 T. B. L. Webster, The Greek Chorus, London 1970, S. 8. 41 Vgl. Richard Seaford, „The Politics of the Mystic Chorus“, in: Billings, Joshua/Budelmann, Felix/Macintosh, Fiona (Hrsg.), Choruses, Ancient, and Modern, Oxford 2013, S. 261-279, S. 263. 42 Vgl. Richard Seaford, Reciprocity and Ritual. Homer and Tragedy in the Developing CityState, Oxford 1994, S. 236: „Social space is constructed around the opposite poles of urban centre and marginal sanctuary. The organization of cult creates the unity of territory with centre essential for the formation of the polis.“ Siehe dazu auch François de Polignac, Cults, Territory, and the Origins of the Greek City State, Chicago 1995. 43 Lonsdale, Dance and Ritual Play, S. 120. 44 Vgl. Bierl, Dionysos und die griechische Tragödie, S. 112f.
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„Choros and its derivatives are regularly used of the choreographic activity of divinities such as Dionysus, Apollo, or Artemis in divine prototypes of dance; when used in human contexts they refer to the specific type of collective dances usually performed in a ring in cults and festivals.“45
Meist einer besonderen Gottheit gewidmet waren chorische Tanzdarbietungen ein integraler Bestandteil von Maskentänzen und Dämonennachahmungen, die in mannigfaltiger Form aufgeführt in verschiedenen Brauchtümern wurzelten und in enger Beziehung zu den pädagogischen Vorstellungen und Idealen des klassischen Altertums standen.46 Platon zufolge gründeten die Ursprünge griechischer Tänze im instinktiven Verhalten der Menschen, Rede und Gesang mit erklärenden Bewegungen zu ergänzen.47 Gerade die Synchronizität tänzerischer Bewegungen und gesungener Worte betonte dabei den performativen Charakter des Chorischen. Zudem wurde die organisatorische Funktion der tänzerischen Bewegungselemente des Chores dort offenbar, wo sie unmittelbar an sprachliche Äußerungen und die musikalische Begleitung gekoppelt waren. Ihnen kam die Funktion zu, die gesungenen Wörter als metrische Einheiten zu kontrollieren.48 Die Tänze von Chören erscheinen so als genuin mimetische Performances, als Re-entactments mystischer Ereignisse durch das Ritual. Indem die Füße den Boden berührten und Kontakt zur Erde aufnahmen, markierten die Tänze eine Art territoriales Abstecken. Sie vollzogen sich als raumgreifende Aktivitäten, die die Aufmerksamkeit auf den durch rituelle Bewegungen aktivierten Ort lenkten. Diese Wechselbeziehung von Chorbewegung und Tanzraum kann an Reigentänzen (chorea, choreia oder auch khoreia) nachvollzogen werden, denen – wie die deutsche Archäologin Renate Tölle beschrieben hat – ebenso „ein gewisses Raumbestreben zugrunde liegt.“49 Als Quellen früher Formen des Tanzes hat Tölle eine Vielzahl illustrativer Reigendarstellungen auf griechischen Vasen untersucht. Sowohl stilistisch als auch inhaltlich finden sich auf den geometrischen Keramiken reichhaltige Reigenschilderungen – in großer Zahl etwa „friesförmige Reihungen“, die in ein „rhythmisches Ornamentgefüge“ eingebunden sind.50 Für die frühgriechische Zeit konstatiert Tölle „eine starke Verlebendigung des Reigenthemas, ein aktives Handeln, Tanzen, Klatschen und Springen; ein lebendiges Zusammenwirken von Musik und Bewegung, von Ursprung und Ausdruck des Tanzes.“51 Die mannigfaltigen Repräsentationen mehrerer Personen, die einheitliche Bewegungen vollführen, verweisen auf eine Kultur, in der der Reigentanz als kultischer Tanz zu Gesang eine wichtige Rolle einnahm und darauf, dass das Visuelle einen be45 Lonsdale, Dance and Ritual Play, S. 114. 46 Zahlreiche Beispiele belegen, dass es nicht die eine griechische Kultur gab, sondern sich die antike Vergangenheit der vordramatischen Zeit als pluralistische Kulturlandschaft darstellte, in der jede Polisgemeinschaft ganz eigene Ausdrucksformen pflegte. 47 Vgl. auch A. E. Haigh, The Attic Theatre. A Description of the Stage and the Theatre of the Athenians, and of the Dramatic Performances at Athens, Oxford 1907, Reprint New York 1969, S. 312. 48 Vgl. Webster, The Greek Chorus, S. 201. 49 Renate Tölle, Frühgriechische Reigentänze, Hamburg 1964, S. 58. 50 Ebd. S. 27. 51 Ebd. S. 29.
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sonderen Stellenwert einnahm, der seine Entsprechung auch in einer ausdrucksstarken Pantomime fand.52 Tölle macht deutlich, wie die figürlichen Darstellungen der Reihungen mit den tatsächlichen Reigentänzen korrespondiert haben mögen: „Die Grundform aller frühgriechischen Reigenschilderungen ist die Reihung; sie ist grundlegendes und tragendes Wesensmerkmal für die rhythmische Bewegung; und daher sind es im eigentlichen Sinne des Wortes Reigentänze.“53 Diese Erkenntnisse aus Analysen der bildlichen Kunst scheinen sich mit literarischen Quellen dieser Zeit zu decken. Eine frühe Beschreibung tänzerischer Elemente, die Aufschluss zur antiken Form des Reigens (chorea) vermittelt, findet sich im 18. Gesang von Homers Ilias: „Blühende Jünglinge dort und vielgefeierte Jungfraun / Tanzten den Ringeltanz, an der Hand einander sich haltend. / Schöne Gewand’ umschlossen die Jünglinge, hell wie des Öles / Sanfter Glanz, und die Mädchen verhüllete zarte Leinwand. / Jegliche Tänzerin schmückt’ ein lieblicher Kranz, und den Tänzern / Hingen goldene Dolche zur Seit’ an silbernen Riemen. / Kreisend hüpften sie bald mit schöngemessenen Tritten / Leicht herum, so wie oft die befestigte Scheibe der Töpfer / Sitzend mit prüfenden Händen herumdreht, ob sie auch laufe; / Bald dann hüpften sie wieder in Ordnungen gegeneinander. / Zahlreich stand das Gedräng’ um den lieblichen Reigen versammelt, / Innig erfreut; und zween nachahmende Tänzer im Kreise / Stimmten an den Gesang, und dreheten sich in der Mitte.“54
Homer schildert mit welcher Grazie der Ringeltanz die Teilnehmenden zusammenführte, Kontakte herstellte und die Freude der gemeinsamen Bewegungen ein verbindendes Miteinander erzeugte.55 Auch unter Berücksichtigung seiner poetischen Ausschmückungen, die die Tendenz haben, die schwungvolle Atmosphäre zu vergrößern,56 lässt sich erkennen, wie die Bewegungsabläufe des Reigens abgestimmten Mustern folgten. Der Ringeltanz schien einer Choreografie zu folgen, die ausführende und folgende Elemente arrangierte und den Tanzenden bekannt war. In einem Wechsel von Annäherung und Entfernung verbanden sich Sequenzen der Nachahmung und improvisierte Abfolgen.57 Schließlich wurden Bewegungen durch einsetzende Gesänge ergänzt, die eine Allianz von Körper und Stimme erzeugten.
52 Zur Entwicklung und Ausdifferenzierung von Reigen- und Kettentanzformen siehe auch Richard Wolfram, Reigen- und Kettentanzformen in Europa, Berlin 1986. 53 Tölle, Frühgriechische Reigentänze, S. 56. 54 Homer, Ilias, 18. Gesang, Vers 593-606, in: Homers Werke, Bd. 1, hg. v. Johann Heinrich Voss, Stuttgart/Tübingen 1814, S. 179. 55 Als Muse der Chorlyrik und des Tanzes verkörpert Terpsichore (‚die Reigenfrohe‘, ‚die Tanzfreudige‘) den Genuss und die Freude, die tänzerischen und musikalischen Handlungen zukam. Ihr Name rührt aus den griechischen Wörtern terpō [τέρπω] für ‚erfreuen‘ und ‚ergötzen‘ sowie choros [χορός] für ‚Reigen‘ oder ‚Tanz‘. 56 Das Sanfte, Schöne und Liebliche, das als lyrischer Untergrund in Homers Schilderungen anklingt, sollte im Hinblick auf seine Übersetzung(en) kritisch betrachtet werden. Es fragt sich, ob darin bereits nachträgliche Aneignungsversuche zu entdecken sind, die die Beschreibungen idealisieren oder in eine spezielle Richtung interpretieren. 57 Siehe Koller, Musik und Dichtung, S. 124.
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Das richtige Empfinden für Ordnung und Unordnung der Bewegungen, für Harmonie und Rhythmus der Tänze war ein wichtiger Indikator für die Zugehörigkeit zur antiken Polisgemeinschaft und zugleich Ausdruck guter Bildung.58 Der Chor lebte als erzieherische Methode die Kenntnisse des Reigentanzes vor und vermittelte im Rahmen einer pädagogischen Ausbildung wertvolle soziale und künstlerische Kompetenzen. Der Schweizer Gräzist und Kulturanthropologe Claude Calame hat in seiner detaillierten Analyse Les chœurs de jeunes filles en Grèce archaïque diesen zentralen Aspekt des Chores innerhalb der griechischen Kultur hervorgehoben.59 Als soziale Form der Interaktion war der Chor Teil einer kulturellen Praxis, die sowohl religiöse als auch ästhetische Werte verkörperte, repräsentierte und damit verstetigte. In seinem Spätwerk Nomoi erläutert Platon in Form eines fiktiven, literarisch gestalteten Gesprächs über Staatstheorie, das zugleich sein umfangreichstes Werk war, die religiöse Verankerung des Chorreigens und den direkten Zusammenhang zwischen dem Einfluss der Götter auf Bewegung, Rhythmus und Harmonie. Er schreibt: „Die Ordnung in der körperlichen Bewegung nennt man nun Rhythmus; und ebenso die Ordnung der Stimme, wenn das Hohe und das Tiefe in den Tönen sich gehörig verbindet, wird mit dem Namen Harmonie bezeichnet. Beides zusammen heißt man Chorreigen. Die Götter, sagten wir nun weiter, hätten aus Mitleid mit unserer Schwachheit uns den Apollon und die Musen geschenkt, um unsere Chortänze mitzumachen und anzuleiten; […].“60
Platon macht unmissverständlich deutlich, wie die Gemeinschaft der Polis ihre Götter ehrte und die freudenvollen Gesten chorischer Darbietung den sichtbaren Genuss religiöser Hingabe erfahrbar machten.61 Der besondere Stellenwert chorischer Tänze im gesellschaftlichen Gefüge der antiken Polis wird zusätzlich in Äußerungen Platons deutlich, in denen er den Maßstab guter Erziehung an die Fähigkeit guten und schönen Singens und Tanzens knüpft.62 Im Umkehrschluss kann angenommen werden, dass Platon unter einem ungebildeten Menschen einen ohne chorische Erfahrung verstand. 1.1.3 Das kollektive Band des Chores – choros als Gruppe der Darbietenden Die dritte Bedeutungsebene des Chores, die hier angesprochen sein soll, bezieht sich auf die Gemeinschaft der an ihm Beteiligten. In dieser Sichtweise wird unterstrichen, dass es sich bei Chören um koordinierte Körperformationen handelt, die gemeinsam getanzt und in unisono gesungen haben sollen.63 Die Verbindung der ersten beiden
58 Siehe dazu auch Bacon, „The Chorus in Greek Life and Drama“, S. 19: „[…] a share in a choral event is a sign of belonging.“ 59 Claude Calame, Les chœurs de jeunes filles en Grèce archaïque, Rom 1977. 60 Platon, Die Gesetze [Nomoi], in: Ders., Sämtliche Werke in drei Bänden, hg. v. Erich Loewenthal, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage der Berliner Ausgabe von 1940, Bd. 3, Darmstadt 2004, S. 215-664, S. 270. 61 Vgl. Wilson, The Athenian Institution of the Khoregia, S. 12. 62 Siehe Platon, Gesetze [Nomoi], S. 269-282. 63 Vgl. Haigh, The Attic Theatre, S. 319.
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Verständnisformen von choros als Platz und choros (oft auch chorea)64 für Tanz wird dort offenbar, wo beide in vorzugsweise ritualisierte Handlungen mehrerer Personen zu Gesang involviert waren und als soziale Praxis erfahren wurden. Selbst noch in der klassischen Polis kann die Bedeutung singender und tanzender Chor-Gruppen nicht hoch genug eingeschätzt werden, deren repräsentative Funktion darin bestand, die soziale Totalität der Polis zu verkörpern. Wenngleich die Anlässe variierten, wurden Chöre meist als homogene Gruppen zusammengestellt, deren äußeres Erscheinungsbild nach Meinung Helen H. Bacons Rückschlüsse auf die soziale Zusammensetzung zuließ.65 Die US-amerikanische Altertumswissenschaftlerin hat diese Sicht auf den Chor als „a discrete body, an ideal representation of a group or community“ 66 insofern eingeschränkt, als dass sie darauf hingewiesen hat, dass die Chormitglieder nicht die ganze Gemeinschaft repräsentierten, „but some segment of the community specially concerned in the event […].“67 Im Rahmen ritueller Feiern vermochte das chorische Zusammenspiel durchaus unterschiedliche Mitglieder der Polisgemeinschaft zusammenzubringen.68 Die kulturelle Essenz jener ,Choralität‘ war neben den angesprochenen gemeinschaftsstiftenden, erzieherischen, repräsentativen, selbst-referenziellen und damit immer auch auf ein Publikum verweisenden Aspekten in erster Linie im atmosphärischen Umfeld freudvoller Tänze und Feierlichkeiten zu suchen.69 Teil eines Chores zu werden, hieß in eine soziale Struktur eingebunden zu sein und die Freude an der Gemeinschaft zu teilen.70 Der religiöse als auch politische Charakter „der durch den χορός (choros) verkörperten Einheit von Sprache, Vers, Rhythmus, Musik und Tanz“71 war ablesbar an einer Vielzahl außeralltäglicher Feiern und Zeremonien, die abgehalten wurden, um besondere Gottheiten zu ehren. Die erhaltenen Namen dieser spezifischen Anlässe ermöglichen heute eine Differenzierung ganz unterschiedlicher
64 Der Begriff chorea ist auch in der Medizin gebräuchlich, wo er ein Symptom mehrerer Krankheiten beschreibt. Das Choreatische äußert sich als besondere Bewegungsstörung, die rasche Bewegungen der Extremitäten, Eruptionen des Rumpfes, Halses oder Gesichts zur Folge hat und als extrapyramidale Hyperkinesie ähnlich wie Tremor oder TouretteSyndrom unwillkürlich und unregelmäßig auftritt. 65 Vgl. Bacon, „The Chorus in Greek Life and Drama“, S. 9. 66 Lonsdale, Dance and Ritual Play, S. 120. 67 Bacon, „The Chorus in Greek Life and Drama“, S. 9. 68 Vgl. ebd., S. 6. Bacon spricht vom Chor des griechischen Dramas als „a social reality, rather than the artificial artistic convention.“ Zu anderen Beispielen früher Formen des Reigens, tanzender und singender Chöre im Rahmen feierlicher Anlässe siehe auch Franz Stoessl, Die Vorgeschichte des griechischen Theaters, Darmstadt 1987, S. 37-48. 69 In Anlehnung an Anastasia-Erasmia Peponi verwende ich den Begriff ,Choralität‘ bzw. chorality in ihrem Sinn „to denote the entire phenomenon of choral practices in Greece along with the various principles and ideologies embedded in them.“ Anastasia-Erasmia Peponi, „Theorizing the Chorus in Greece“, in: Billings/Budelmann/Macintosh (Hrsg.), Choruses, Ancient, and Modern, S. 15-34, S. 16. 70 Vgl. Joshua Billings, Felix Budelmann, Fiona Macintosh, „Introduction“, in: ebd., S. 1-11, S. 1. 71 Georgiades, Musik und Rhythmus, S. 11.
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Feierlichkeiten,72 zu denen Opferungen (thysia oder ta hiera), Wettbewerbe (agōn), Prozessionen (pompē) und chorische Aufführungen (choros) gehörten.73 Die verflochtene Semantik von choros als Tanzplatz und Reigentanz verdeutlicht zugleich die Interdependenz von öffentlichem Raum und tänzerischen Bewegungen, die sich im Phänomen des Chores als ereignisreichem Gruppenerlebnis verbanden. Der Platz wurde erst durch die konkreten Handlungen des Chor-Tanzes zu einer räumlichen Kategorie. Dabei spielte wiederum die Zeit eine konstitutive Rolle: Während der zeitlichen Ausdehnung des Reigens wurde die für den Tanz vorgesehene Fläche genutzt und in Anspruch genommen. Die andauernden Tänze eigneten sich einen Teil jener städtischen Urbanität an und gaben dem Ort dadurch erst seine spezifische Verwendung. In zweierlei Hinsicht können der durch den Chor konstituierte (Tanz-)Platz sowie die auf ihm aufgeführten Bewegungen als ephemer gelten: Erstens ließ erst der bewegungsvolle Ablauf der dargebotenen Kombinationen aus Drehungen, Umläufen und schwungvollen Schrittfolgen, also die besondere Dynamik der Bewegungen, den Tanzplatz entstehen – ohne eine Nutzung wäre er unbelebt und ohne Funktion geblieben. Zweitens erschufen Tanz und Musik einen ästhetischen Erfahrungsraum, der die lebhafte Fähigkeit körperlicher Ausdehnung des Chores als eine räumliche Ausbreitung weiter intensivierte. Der zusätzliche Einsatz von Stimmen und Musik führte auf der klanglichen Wahrnehmungsebene zu akustischen Erweiterungen. Das heißt, dass sich musikalische und stimmliche Phänomene vom geografischen Herkunftsort ihrer Entstehung lösten und in einen Hörraum strömten, der die Grenzen des für die chorischen Tänze vorgesehenen Platzes weiter dehnte. Mit der Produktion solcher Ereignisorte, die die geometrische Räumlichkeit verließen und als performative Erscheinungen weite Teile der Stadt mit einbezogen, ergab sich zudem das Potenzial einer Transformation der Beteiligten. An die Chortänze schloss sich die Möglichkeit außergewöhnlicher Erlebnisse, der Ekstase oder Befreiung an.74 Die tänzerischen und musikalischen Phänomene des choros implizierten eine andere Aufteilung des Raumes. Der Chor konnte dabei nicht nur die Erfahrung einer anderen Sinnlichkeit des Raumes stiften, sondern zudem eine potenziell andere Organisation des Gemeinsamen hervorbringen. Folglich demonstriert die Etymologie des Wortes choros, die als Folie für die folgende Untersuchung von Protesthandlungen dienen soll, wie sich (Tanz-)Plätze durch die auf ihnen produzierten Darbietungen permanent verändern und beständig neu (re-)konfigurieren lassen. Durch die Erfahrungen der Akteur*innen und die Interpretationen der Anwesenden (re-)konstruieren sich unterschiedliche Bezugsebenen 72 Der Zusammenhang feierlicher Anlässe und chorischer Aufführungen kann an der Bedeutung des Wortes heortē, dem griechischen Wort für Festival als freudiger religiöser Erfahrung, nachvollzogen werden. Siehe dazu auch Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Stuttgart 2005, S. 15-25. 73 Vgl. Lonsdale, Dance and Ritual Play, S. 113. 74 Siehe Walter Friedrich Otto, Die Musen. Und der göttliche Ursprung des Singen und Sagens, Darmstadt 1954, S. 77: „Im Tanz ist der Körper ganz er selbst, mit Haltung und Bewegung auf keine Einwirkung nach außen gerichtet, sondern nur sein eigen. Der Rhythmus, der ihn ergriffen hat, löst ihn aus den Banden, mit denen die Dinge ihn umstricken und beschweren, macht ihn frei und gibt ihn ganz sich selbst zurück.“
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immer auch abhängig von den wahrnehmenden Subjekten. Als koordinierte Gruppentänze in Kombination mit kollektiven Gesangseinlagen bilden Chöre spezifische Darstellungsformen aus, die besonders intensive Wirkungen auszulösen vermögen. Dabei wirken Chöre unmittelbar auf die beteiligten Mitglieder sowie Zuschauende ein, die sie als Aufführungen einer spezifischen Form von Gemeinschaft wahrnehmen können. 1.2 Problematische Quellenlage Über den antiken Chor zu sprechen und gesicherte Kenntnisse vorzutragen, gestaltet sich aufgrund der unzureichenden Quellenlage äußerst schwierig: Von den etwa 250 bekannten Dramentexten der Tragödie sind allein nur 33 und damit ein überaus geringer Anteil erhalten. Diese überaus heikle Informationslage vergrößert sich durch das Wissen, dass entscheidende Schriften wie Sophokles’ (496-406) Studie Über den Chor verloren gegangen sind und selbst die schriftlichen Zeugnisse, die durch Aristoteles (384-322) vorliegen, aufgrund seiner Lebensdaten nur den Beitrag eines indirekten Beobachters widerspiegeln. Aristoteles’ theoretische Behandlung des Chores, die allein seine dramatische Funktion in der Tragödie fokussiert, offenbart zudem kaum Anhaltspunkte zur spezifischen Ästhetik, Wirkungsweise und dem konkreten dramatischen Spiel des Chores innerhalb der Aufführungen. Nach Meinung des deutschen Altphilologen Bernd Seidensticker zwingt uns die Tatsache, „daß wir nur einen verschwindend kleinen Teil der tatsächlichen antiken Produktionen besitzen, zu größter Vorsicht bei Verallgemeinerungen; und das Fehlen von Regiebemerkungen verleiht jedem Versuch, die intendierte Inszenierung einer Szene zu rekonstruieren, hypothetischen Charakter.“75 Zur Rekonstruktion der performativen Aspekte des Chores – insbesondere der musikalischen Eigenart früher griechischer Dichtung – werden trotzdem immer wieder zwei unterschiedliche Quellenarten herangezogen. Erstens beziehen sich Untersuchungen auf Anmerkungen und Hinweise in Texten chorlyrischer oder dramatischer Dichtung, während zusätzlich bildliche Darstellungen der Vasenmalerei herangezogen werden. Zweitens nutzen Studien die nachträglichen Kommentare von Autoren des späten 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., um die vordramatischen Ursprünge des Chores zu erhellen.76 Es ist daher nicht verwunderlich, dass als Quellen mit interessanten Einblicken zum antiken Theater auch Platons (429-347) Staatsentwürfe Politeia und Nomoi sowie Aristotelesʼ Poetik, Rhetorik und Politik sowie für das römische Theater später Horaz’ Ars Poetica herangezogen wurden. Da eine groß angelegte Typologie des Chores ebenso fehlt wie eine zentrale Studie zu seiner Entstehungsgeschichte, kann sich ein Verständnis des Chores nur durch die Lektüre verstreuter Publikationen und eine Vielzahl fragmentarischer Zugänge vermitteln. Da weder
75 Seidensticker, Das antike Theater, S. 10. 76 Der US-amerikanische Klassische Philologe John Herington bescheinigt in Bezug auf dieses Anliegen und den Rekonstruktionsversuch einer längst vergangenen Theatertradition ganz optimistisch „no unbridgeable gap between the poetry and the drama of the Greeks“ John Herington, Poetry into Drama. Early Tragedy and the Greek Poetic Tradition, Los Angeles/London 1985, S. 39.
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eindeutige Tatsachen noch schlüssige Antworten zu Genese oder Charakteristika des Chores vorliegen, ergibt sich so ein eher reges Bild der Diskussion. Der unsicheren, geradezu spekulativen Forschungssituation77 steht auf der anderen Seite das außerordentlich große Interesse am antiken Chor als „Keimzelle der Tragödie“78, als ihre „fundamentale Konvention“79 oder als „the basis of a theater“80 gegenüber. Umso bedauerlicher ist es, dass über das tatsächliche Agieren vordramatischer Chorformationen und die späteren dramatischen Chöre im Rahmen der städtischen Dionysien, konkret also zu Aufführungen griechischer Dramen, nur auf Grundlage von Fragmenten spekuliert werden kann. Helen Foley schreibt dazu: „The only two vases possibly associated with the representation of choral performance in tragedy show one choral group of six figures dressed in military garb in rectangular formation (the Attic column krater in the Antikenmuseum, Basel, Basel B 5 415) and another group of women in a row, each separate pose (the calyx krater from Altamura, British Museum E467).“81
Es mögen bildliche Darstellungen chorischer Performances wie diese sein, die unsere Vorstellung des antiken Chores geprägt haben. Relativ beharrlich kursiert daher die Annahme, dass der tragische Chor der Griechen durch Bühnenkonventionen im Unterschied zu den Einzelcharakteren kaum initiativ in die Handlungen der Tragödie eingebunden war. Vorliegende Quellen gaben einerseits zu der Vermutung Anlass, dass der Chor als immobiler Kollektivkörper eher verbal als physisch intervenierte. 82 Die Reduzierung des antiken Chores auf eine rein sprachlich agierende Körperformation wurde anderseits jedoch auch vehement als Verkürzung seiner theatralen Bedeutung kritisiert. Wie der deutsche Theaterkritiker Siegfried Melchinger betont, ist die Bedeutung des Chorischen allein auf Grundlage der Stellung des Chores im Drama nicht zu erfassen: „Nichts führt zu größeren Mißverständnissen als die Auffassung, das Chorische wäre ,lyrisch‘ gewesen. Die Chöre hatten nicht nur einen dramatischen Stellenwert in der Struktur des Stückes […], sie waren nicht nur Folie zu der Aktion, die folgte […], sie waren auch in sich dramatisch: im crescendo oder diminuendo oder agitato ihrer Struktur. So wenig, wie sie lyrisch waren, so selten waren sie statuarisch.“83
77 Siehe dazu Helen Foleys Untersuchung zu Identitätsfragen des antiken Chores. Sie spricht dort von einem „highly speculative and preliminary stab at clarifying some aspects of one of the most elusive and to us incomprehensible aspects of Greek drama.“ Helen Foley, „Choral Identity in Greek Tragedy“, in: Classical Philology 98, No. 1 (2003), S. 1-30, S. 2. 78 Hellmut Flashar, Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit 1585-1990, München 1991, S. 23. 79 Siegfried Melchinger, Das Theater der Tragödie. Aischylos, Sophokles, Euripides auf der Bühne ihrer Zeit, München 1974, S. 62. 80 Hart, Mary Louise/Taplin, Oliver/Hall, Peter/Sellars, Peter/Stein, Peter/Koniordou, Lydia, „Ancient Greek Tragedy on the Stage“, in: Arion 11, No. 1 (2003), S. 125-175, S. 171. 81 Foley, „Choral Identity in Greek Tragedy“, S. 10. 82 Vgl. Ebd., S. 14. 83 Melchinger, Das Theater der Tragödie, S. 63.
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So vielfältig sich die Zugänge zur antiken Vergangenheit gestalten, so unterschiedlich fallen die Bewertungen zum antiken Chor aus. In ihrer Diversität entsprechen sie gleichsam den Ergebnissen, die der Rückgriff auf die Antike immer wieder hervorbringt. 1.3 Die Bändigung des Chorischen im Drama Als besonderer Teil einer Festkultur, in der mit 120 Tagen nahezu ein Drittel des Jahres Feiertage waren, standen vor allem die jährlichen Feiern zu Ehren des Gottes Dionysos – die Dionysien – im Zusammenhang mit der Aufführung freudiger Chortänze.84 Um den Gott des Rausches, der Ekstase, des Weines und der Verwandlung entwickelte sich früh ein orgiastischer Kult, so dass dieser „mit Chören geehrt, die als Satyrn verkleidet oder in Tiergestalt auftraten und das, was sie singend und tanzend vortrugen, auch mimetisch darstellten.“85 Das Fest, zu dem feierlich geschmückte Männer und Knaben gemeinsam tanzten und als Chor um den Altar sangen, wurde Ende März, im Monat Elaphebolion, zum Frühlingsanfang veranstaltet. Mit den chorischen Tänzen der Dionysien verband sich die Idee der Erneuerung. Als göttliche Intervention in den Alltag deutete der Chor darauf hin, dass während der Aufführungen, also im Zeitraum zwischen der Unterbrechung der alten Ordnung und der Wiederherstellung eines neuen Bezugrahmens, die Teilnehmenden besondere Verwandlungen durchliefen oder außergewöhnliche Erfahrungen machen konnten. Der Chor kann von Anbeginn als eine äußerst vitale Erscheinung in Zeiten des Wandels charakterisiert werden, der die Seele unter dem Einfluss von Wein, Tanz und Gesang unter göttlicher Aufsicht reorganisierte, kräftigte und neu erweckte.86 Die Dionysien übernahmen wie Seidensticker betont eine ausgesprochen wichtige gesellschaftliche Funktion: „Die dionysische Ekstase, das aus sich selbst und seiner gesellschaftlichen Rolle heraustreten, bedeutet Befreiung von den Fesseln der Rationalität, Aufgabe der Individualität und Verwandlung in einen anderen oder gar den Gott selbst. Mittel dieser ekstatischen Verwandlung sind Maske und Kostüm, Musik und mimetischer Tanz.“87
Im Rahmen der Dionysien wurde der Dithyrambus (auch Dithyrambos) als „eine Art Chorode, die dem Dionysos geweiht war“, 88, aufgeführt.89 Der Dithyrambus war als 84 Siehe dazu August Mommsen, Heortologie: Antiquarische Untersuchungen über die städtischen Feste der Athener, unveränd. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1864, Amsterdam 1968; Jon D. Mikalson, The Sacred and Civil Calendar of the Athenian Year, Princeton 2015. 85 Seidensticker, Das antike Theater, S. 13. 86 Vgl. Lonsdale, Dance and Ritual Play, S. 121. 87 Seidensticker, Das antike Theater, S. 13. 88 George Thomson, Aischylos und Athen. Eine Untersuchung der gesellschaftlichen Ursprünge des Dramas, Berlin 1985, S. 159. 89 Trotz der kläglichen Textmasse, die von den Chorliedern erhalten ist, kann der Wert des Dithyrambus als literarische Gattung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Zur Rekonstruktion der Gattungsgeschichte siehe Bernd Zimmermann, Dithyrambos. Geschichte einer Gattung, Berlin 2008.
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Loblied und Festgesang zu Ehren des Gottes Teil der griechischen Chorlyrik. Auch als Bestandteil anderer Feste fand er eine weite Verbreitung und war bis in die hellenistische Zeit von herausragender kultisch-religiöser, politischer und literarischer Bedeutung.90 Ein Chorführer sang hierbei von Mythen angereicherte Dichtungen vor, bevor die Gruppe diese wiederholte.91 Es gilt als wahrscheinlich, dass diese Wechselgesänge zunehmend eine dialogische Form annahmen. Vielfach wurde auch die Annahme geäußert, dass der Chorführer als Vorsänger des Dithyrambus temporär die Gottheit verkörperte und in der Rolle des Gottes zum Chor sprach.92 Der griechische Sänger Arion von Lesbos, der im 7. Jahrhundert v. Chr. Künstler am Hof des Tyrannen Periander von Korinth war, gilt als derjenige, der die Form des Dithyrambus verschriftlichte.93 Wenngleich keines seiner Lieder und Gedichte erhalten ist, soll er dazu beigetragen haben, dass sich die antike Chorlyrik vom einfachen Kultlied zur kultischen Dichtung entwickelte.94 Vielfach wurde angenommen, dass sich in die kultische Form des Dithyrambus weltliche Elemente mischten, aus denen die späteren Dramenformen hervorgegangen sind. Dafür spricht, dass der Dithyrambus neben Komödie und Tragödie, als eine der drei dionysischen Gattungen im Rahmen der Großen Dionysien und damit im Umfeld dramatischer Wettkämpfe kultiviert und weitergeführt wurde. Die Hypothese, dass der griechische Theaterchor aus solchen Tänzen und Gesängen für verschiedene Gottheiten entstanden sei, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts vehement durch eine Gruppe von Altertumswissenschaftler*innen – die Cambrigde Ritualists – formuliert. Ihr gemeinsames Ziel war es, die Ursprünge von Mythen und frühen Formen des klassischen Dramas im Ritual zu verorten. Die Cambridge Ritualists einte die Überzeugung, dass das, was eine Gemeinschaft begründete, nicht Vorstellungen, Lehren oder Mythen seien, sondern gemeinsam im Ritual vollzogene Handlungen. Auf Grundlage dieser Annahme versuchte Jane Ellen Harrison in Themis. A Study of the Social Origin of Greek Religion (1912) nachzuweisen, „dass der Dithyrambus, aus dem sich nach Aristoteles’ Aussagen die Tragödie entwickelte, nichts anderes darstellt als den Gesang zur Feier des eniautos daimon, als einen konstitutiven Bestandteil des eniautos daimon-Rituals.“95 Harrisons Ziel war es, die Hierarchie eines bis dahin vorgeordneten Mythos zu durchbrechen, dem das Ritual nur illustrierend nachstand. Zugleich stand ihr Bestreben – wie Fi90 Die Rekonstruktion des Dithyrambus wurde dennoch als „puzzeling and disappointing affair“ bezeichnet. A. W. Pickard-Cambridge, Dithyramb. Tragedy and Comedy, Oxford 1962, S. 58. 91 Die unendliche Vielfalt von Mythen und Göttern, die sich im Dithyrambus als Produkt lokaler Kulturen abbildet, bezeugt anhand unterschiedlicher Einflüsse den kulturellen Reichtum der Griechen. 92 Vgl. William Mullen, Choreia: Pindar and Dance, Princeton 1982, S. 11. 93 Herodot nannte ihn die Person, die „den Dithyrambos zu dem machte, was er in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts war: zu einem von einem Dichter verfassten Chorlied mythologischen Inhalts.“ Zimmermann, Dithyrambos, S. 27. 94 Zu Arions Einfluss gibt Pickard-Cambridge an, Arion „increased the range of subjectmatter and developed the part of the chorus as distinct from the exarchon.“ PickardCambridge, Dithyramb, S. 129. 95 Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 18.
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scher-Lichte betont – im Zusammenhang mit einer Neubewertung der griechischen Kultur: „Denn sie entzog der Überzeugung ihrer Zeitgenossen die Grundlage, dass die griechische Kultur, nach deren Vorbild und Standards sie ihre eigene Kultur modellierten, ihr Selbstbild und Selbstverständnis in den überlieferten Tempeln, Statuen und Texten artikuliert hatte, die sie als Ausdruck höchster Würde, ,edler Einfalt‘ und ,stiller Größe‘ lasen. Im Lichte von Harrisons Theorie erschienen die so bewunderten Texte der griechischen Tragödien und Komödien als Spätfolgen von rituellen Handlungen, mit denen – wie bei den ,Wilden‘, den ,primitiven Völkern‘ – ein Ritual zur Feier eines Jahreszeitengottes vollzogen wurde.“96
Die enorme Bedeutung des Dithyrambus verweist lange vor Etablierung der griechischen Tragödie im 6. Jahrhundert v. Chr. auf eine soziale Praxis des Chores, die im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen wie Prozessionen und anderer kultischer Handlungen exzessiv ausgelebt wurde. Die Klassische Philologie schenkte diesen vordramatischen Quellen in ihren Studien zu überlieferten Texten der Antike anfänglich wenig Beachtung. 97 Als Wissenschaftsdisziplin trug sie durch dramentheoretische Zugänge eher dazu bei, die performativen Qualitäten antiker Aufführungen weitestgehend zu vernachlässigen. Erst durch die Neubewertung der Cambridge Ritualists und ihre Würdigung der rituellen Ursprünge rückten in der Auseinandersetzung mit dem Dithyrambus verstärkt die performativen Eigenschaften des Chores in den Blick, die gerade für die gegenwärtige Forschung wieder von besonderem Interesse sind.98 Diese Untersuchung wird diesen Ansatz auf Protesthandlungen beziehen und dementsprechend davon ausgehen, dass sich chorische Proteste nicht allein durch die Motivationen, Vorstellungen und politischen Programme der Teilnehmenden begründen, sondern maßgeblich durch die während der Protestaktion gemeinsam vollzogenen Handlungen. Während mittlerweile Einigkeit über die Bedeutung des Dionysoskults herrscht, fehlt stichhaltiges Beweismaterial für die wichtige Phase zwischen der Aufspaltung des Dithyrambus und den ersten dramatischen Tragödienaufführungen. Die Forschung hat sich bei der Rekonstruktion dieser strittigen Phase immer wieder auf Aristoteles bezogen, der von einer Entwicklung der Kunst der Tragödie von den Vorsängern des Dithyrambus her spricht.99 Aristoteles beschreibt, wie die Tragödie „ursprünglich aus Improvisationen […] der Chorführer des Dithyram-
96 Ebd., S. 18. 97 Es sollte angemerkt werden, dass die Klassischen Philologie bei der Erforschung künstlerisch-literarischer Texte der Antike und durch wiederholten Rekurs auf ausgewählte textliche Quellen ganz spezifische Antikebilder aktiv mit erzeugt hat. 98 Siehe dazu Gregory Nagy, Poetry as Performance. Homer and Beyond, Cambridge 1996; Eva Stehle, Performance and Gender in Ancient Greece, Princeton 1997; Goldhill, Simon/ Osborne, Robin (Hrsg.), Performance and Athenian Democracy, Cambridge 1999; Anton Bierl, Der Chor in der alten Komödie. Ritual und Performativität, Berlin 2000; Barbara Kowalzig, Singing for the Gods. Performance of Myth and Ritual in Archaic and Classical Greece, Oxford 2007; Melinda Powers, Athenian Tragedy in Performance: A Guide to Contemporary Studies and Historical Debates, Iowa City 2014. 99 Aristoteles, Poetik, in: Ders., Werke, hg. v. Hellmut Flashar, Bd. 5, Berlin 2008. S. 6-8.
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bos“100 entstanden ist. Seine nachträglichen Schilderungen, wie die Tragödie herangereift sein könnte, wurden durch zahlreiche Erklärungsmodelle ergänzt. Ihr spekulativer Charakter lieferte jedoch keine neuen Fakten, sondern vertiefte nur mehr die bleibende Ungewissheit. 1.4 Die Institutionalisierung des Theaters als Zurückdrängung chorischer Praxis „Der tragische Konflikt besteht in einer grundlegenden Konstellation, dem Ausschluß des einzelnen, der Figur, aus dem Kollektiv, das heißt dem Chor. Die Figur ist in der griechischen Tragödie nicht Führer, der den Chor anleitet, sondern vielmehr bedeutet Figur zu werden stets, tragische Figur zu werden, das heißt für den Untergang bestimmt zu sein.“101
Die Entwicklung des literarischen Dramas aus Chortänzen scheint eng mit der Rolle und Funktion des Chorführers, dem exárchon, zusammenzuhängen. Dieser war der „vom Gottpriester des dionysischen thíasos abstammende Dichter-Führer des Tanzes und Gesanges des dithyrambischen Chores.“102 Jener Vorsänger und Vortänzer des dithyrambischen Chores löste sich von der Chor-Gruppe und trat dieser als selbständiger Schauspieler gegenüber.103 Seidensticker beschreibt wie sich diese wichtige Entwicklungsphase der griechischen Tragödie mit dem Namen des Thespis verband: Denn „[e]rst die diesem zugeschriebene Erfindung des Prologs (zur Einführung in die dargestellte Geschichte) und der monologischen Rede (für den Botenbericht und individuelle Reaktionen auf die Ereignisse) macht die prädramatische chorische ,performance‘ zum Drama.“104 Die Hinzunahme eines Schauspielers, der als Protagonist neben den Chor trat und als Mitspieler agierte, erscheint durchaus plausibel, bedenkt man die zunehmende
100 Ebd., S. 7. 101 Torsten Beyer, „Einar Schleef – Die Wiedergeburt des Chores als Kritik des bürgerlichen Trauerspiels“, abrufbar unter: http://www.theater-wissenschaft.de/einar-schleef-die-wie dergeburt-des-chores-als-kritik-des-buergerlichen-trauerspiels/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 102 Thomson, Aischylos und Athen, S. 192. 103 Thomson verfolgt die Transformation des Dithyrambus als Aufspaltung einer primitiven Form in zweierlei Richtungen: „An diesem entscheidenden Punkt seiner Entwicklung spaltete sich der primitive Dithyrambus, und die aufkommenden Formen entwickelten sich durch gegenseitige Entfremdung. […] In der einen Form hatte die Musik das Übergewicht über die Worte, der Führer wurde Spieler des Musikinstrumentes und das mimetische Element wurde unterdrückt. In der anderen Form wurden die Worte so vorherrschend, daß sie sich von der musikalischen Hülle frei machen konnten und der Führer zum Schauspieler wurde, später zu zwei und endlich dreien.“ Ebd., S. 182. 104 Seidensticker, Das antike Theater, S. 38.
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Ausbreitung der dramatischen Wettbewerbe in ganz Griechenland. 105 Das häufigere Spielen vor unterschiedlichen Zuschauer*innen hatte zur Folge, dass diese mit den alten, lokal verwurzelten Kulten weniger vertraut waren. Der österreichische Philologe Lesky Albin begründet die Funktion des Schauspielers neben dem Chor folglich als eine Art Erklärungshilfe: „Als der Chorgesang der alten Tragödie zu reicheren Mythen griff, die vom Hörer mehr an Voraussetzungen verlangten, lag ein Vorspruch nahe, der die stofflichen Grundlagen des folgenden Liedes klärte. Ein solcher konnte sich auch im Inneren des chorischen Gefüges finden, wenn ein neues Geschehnis an den Chor herangebracht, eine neue Stimmung geschaffen werden sollte.“106
Mit der Etablierung weiterer Protagonist*innen, die um weitere Dialogpartner*innen ergänzt wurden, deutet sich eine Entwicklung an, die die Rolle des Chores mehr und mehr zurückdrängte. Die Einführung eines zweiten Schauspielers revolutionierte in der Folge „die Beziehung zur Orchestra, weil er jetzt die Handlung durch die Schauspieler allein ohne Einschaltung des Chores entwickeln konnte.“107 Verlauf, Organisation und Geschichte der Städtischen Dionysien belegen, wie im Drama der Gesang kontinuierlich vermindert wurde und mit den Einzelschauspielern mehr und mehr das gesprochene Wort in den Vordergrund rückte.108 Der kulturelle Wandel, den der Chor von einer rituellen Handlung zur institutionalisierten Performance in einem festen Theatergebäude durchläuft, wird anhand der zunehmenden Errichtung fest angelegter Theaterbühnen darstellbar. Die Entwicklung des abendländischen Theaters kann anhand dieser Institutionalisierung des Theaterbetriebs nachvollzogen werden, die gleichsam die Transformation von einer rituellen, in der Gesellschaft gründenden Praxis hin zu einer Kommerzialisierung von Unterhaltung beschreibt. Neben der Etablierung von Schauspielwettbewerben verfestigte sich der Spielbetrieb durch den Bau dauerhafter Spielstätten.109 Zum öffentlichen Platz für chorische Aufführungen kamen nachträglich weitere Bauten hinzu, deren Errichtung zugleich als eine Verlagerung des Wertes chorischer Tänze und Gesänge gedeutet werden kann.110
105 Während das athenische Publikum geschlechtlich vielfältig war, durften auf der Bühne nur Männer als Schauspieler agieren. Sie übernahmen auch die Rollen von Frauengestalten wie Medea, Klytaimnestra oder Antigone. Vgl. ebd. S. 40. 106 Lesky, Dichtung der Hellenen, S. 53. 107 Thomson, Aischylos und Athen, S. 188. 108 Vgl. Joachim Latacz, Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen 1993, S. 58. 109 Für Pickard-Cambridge besteht kein Zweifel, dass „the provision made for performances, dramatic or lyric, in the Dionysiac precinct, must at first have consisted of an orchestra or dancing-ground, for which a level area must have been made in the sloping hill-side by terracing and levelling, or by cutting into slope, or both.“ A.W. Pickard-Cambridge, The Theatre of Dionysus in Athens, Oxford 1956, S. 5. 110 „A stage implies that it is no longer the chorus, with its ritual solemnity and its prophetic function, as embodying the spirit and soul of the poetsʼ teaching, that is the main interest of the audience, but the actors and their historic skill.“ Ebd., S. 71.
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Während im 4. Jahrhundert v. Chr. in ganz Griechenland zahlreiche Theater neu entstehen, zeugen die darin dargebotenen dramatischen Aufführungen von einer schrittweisen Zurücknahme chorischer Parts. Der Chor hat weniger Anteil an der dramatischen Handlung, was sich in den erhaltenen Dramenvorlagen anhand reduzierter Rollentexte des Chores nachweisen lässt. Dabei zeigt sich, „je weniger er an der Handlung teilnimmt, desto mehr Raum für Reflexion und Verallgemeinerung erhält der Chor. Gerade das reflektierende Element der Chorpartien scheint ein Erbe der vordramatischen Zeit zu sein: Die Gegenwart – im Chorlied der festliche Anlaß, in der Tragödie das Bühnengeschehen – wird auf einer höheren Ebene gedacht und gedeutet.“111 Während sich die alten Wechselgesänge zwischen Darstellenden und Chor reduzieren, wächst die Bedeutung von Einzeldarstellern, die als Solisten im antiken Drama immer größere Arien und Duette übernehmen. Ablesbar wird diese Entwicklung auch anhand der Verlagerung der Musik vom Ort des Chores, der Orchestra, auf die Bühne.112 Seidensticker bringt die abnehmende Relevanz des Chores zudem mit einer zunehmenden Kommerzialisierung des Theaters in Verbindung und schreibt: „Die Autoren trugen wahrscheinlich der Tatsache Rechnung, daß die Schauspielertruppen, die mit den Stücken auf Tournee gingen, weder große Chöre mitnehmen konnten noch am jeweiligen Standort genug Zeit hatten, komplexe Texte und Choreographien einzustudieren.“113 Frühe Formen dieser Kommerzialisierung des Theaters, die durch eine Zunahme fahrender Spielgruppen begleitet wurde, erforderten einen dezidiert pragmatischen Einsatz von Theatermitteln und waren mit personellen Einschränkungen verbunden. Indem Einzeldarsteller aufgrund ihrer höheren Mobilität und Flexibilität bevorzugt wurden, ergaben sich für künstlerische Aufführungen größer Gruppen unmittelbare Folgen. Logistische Faktoren und Gründe des Zeitmanagements erschwerten die praktikable Einbindung größerer Chöre auf Tourneen. Wie es scheint, waren die ökonomischen Erfordernisse an die chorische Praxis nicht mit der wachsenden Nachfrage und der ökonomischen Handlungslogik neuer Schauspielkonventionen kompatibel. Bevor im Anschluss ergründet werden soll, wie die Marginalität des Chores zu einer idealen Projektionsfläche werden konnte, deutet sich an dieser Stelle bereits eine gedankliche Rückkehr des Chorischen als spezifischer Form des Widerstands gegen jene Rationalisierungspraxis und Effizienzkriterien an, die im Folgenden anhand gegenwärtiger Protestbeispiele näher in den Blick genommen werden soll. 1.5 Modell-Charakter des antiken Chores Da von der Lebendigkeit des Chores kein authentisches Bild mehr zu gewinnen ist, kamen Autor*innen wie Lesky zu dem Schluss, die Geschichte der griechischen Tragödie endet „in einem Dunkel, das kaum da und dort spärlich erhellt“ werden kön-
111 Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie, S. 148. 112 Vgl. Haigh, The Attic Theatre, S. 286: „The old duets between actors and chorus are reduced both in seize and number, and their place is taken by solos and duets sung exclusively upon the stage.“ 113 Seidensticker, Das antike Theater, S. 45.
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ne.114 Wesentliche Eigenschaften chorischer Performanz – namentlich ihre transitorische Qualität, ihr ephemerer Charakter, die dargelegte Eigenart, dass sie sich zwischen Akteur*innen und Zuschauer*innen ereignet und ihr Verlauf zwar einstudiert, im Rahmen der tatsächlichen Darbietung allerdings durchaus variieren konnte – entrücken Aufführungen des antiken Chores heutigen Betrachter*innen noch weiter. Gleichwohl haben archäologische Ausgrabungen vorbehaltlos eine Reihe signifikanter Erkenntnisse über klassische griechische Theaterbauten geliefert und erlauben eine annähernd gute Rekonstruktion der Organisation von Produktionen des antiken Theaters.115 Erkenntnisse zur Größe der Orchestra geben etwa Anhaltspunkte, wie die Architektur des Aufführungsortes die Aufführung organisierte.116 Wenn auch durch Anfertigung architektonischer Nachbildungen die medialen Aufführungsbedingungen des antiken Chores rekonstruiert werden konnten, folgt aus seiner flüchtigen Materialität jedoch die unwiederbringliche Erkenntnis, dass konsistente Aussagen über die tatsächlichen Choreografien, die Wahrnehmung ihrer gegenständlichen, bildlichen oder figurativen Qualitäten und die daraus resultierenden Wirkungen nicht getroffen werden können. Antike Aufführungen sind gerade auch deshalb nicht rekonstruierbar, weil über die Rolle der Zuschauer*innen als wahrnehmendem Publikum, das durch Reaktionen, Wertungen, Kommentare und andere Beiträge den Verlauf der dargebotenen Vorstellungen fundamental mitprägte, keinerlei Kenntnisse vorliegen. Alle bisher vorgetragenen Beschreibungen zum antiken Chor zeigen, wie sich der gewonnene Informationsgehalt allein auf die Beantwortung organisatorischer Fragen beschränkte. In dieser Weise beschäftigte sich die Forschung mit der Anzahl der Mitglieder des Chores,117 seiner konkreten Zusammensetzung im Rahmen der Wettbewerbe und seiner Kostümierung,118 der Rekrutierung von Tänzern und Sängern und der Finanzierung durch den Choregen,119 dem Training120 oder mit Spekulationen 114 Lesky, Dichtung der Hellenen, S. 538. 115 Da griechische Theater oft umgebaut wurden und archäologische Zeugnisse zum großen Teil aus nachklassischer Zeit stammen, können keine gesicherten Kenntnisse über die entscheidende Phase des antiken Theaters geäußert werden. Für einen Überblick zum Stand von Ausgrabungen gegen Ende des 19. Jh. und der Erforschung des DionysosTheaters in Athen siehe Dörpfeld/Reisch, Das griechische Theater, Athen 1896. 116 Prominent wurde bspw. die Frage diskutiert, ob Schauspieler und Chor im griechischen Theater auf dem selben Boden gespielt haben oder ob es für die Protagonisten eine erhöhte Bühne gab. Wie die Orchestra als Tanzplatz innerhalb des Theaterbaus für kultische Tänze zu Ehren Dionysos genutzt wurde, präzisiert Bernd Seidensticker, indem er schildert wie „[v]on beiden Seiten […] breite Wege in die Orchestra [führten], auf denen die Chöre ein- und wieder auszogen und alle diejenigen Personen auftraten, die aus der näheren oder weiteren Entfernung kamen.“ Seidensticker, Das antike Theater, S. 28. 117 Vgl. Pickard-Cambridge, The Theatre of Dionysus, S. 32; Haigh, The Attic Theatre, S. 288-290. 118 Siehe ebd., S. 290-298. 119 Vgl. Wilson, The Athenian Institution of the Khoregia. The Chorus, the City and the Stage, Cambridge 2000. 120 Siehe dazu auch Seidensticker, Das antike Theater, S. 44: „Das Training der Chöre war zweifellos lang und hart. Die 15 bzw. 24 Choreuten sangen und rezitierten unisono. Es war sicherlich nicht einfach, die sprachlich und gedanklich hoch komplexen Chorlieder
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zum Alter der Chormitglieder. Dennoch ist es wie Seidensticker konstatiert, „trotz aller Versuche […] bisher nicht gelungen, den dunklen Weg von den frühen Chortänzen zum voll entwickelten Theaterbetrieb des 5. Jh. zu rekonstruieren.“121 Verstellt bleiben zentrale Aspekte chorischer Performanz, die sich an die Wahrnehmung von Musik und Tanz anschlossen. Wenngleich es weiterhin schwierig bleibt, detaillierte Aussagen in Bezug auf Anordnungen, Bewegungsabläufe und Formationen des antiken Chores zu treffen,122 wird dennoch deutlich, dass er neben der theatralen Darstellung einer Figur immer auch eigene, an die Existenz und Körper seiner Bestandteile gebundene Identitätsaspekte besaß. 123 Obwohl der antike Chor als performatives Element die Materialität der Aufführung in wesentlichen Teilen mitprägte, scheint seine spezifische Ereignishaftigkeit für uns heute nicht mehr rekonstruierbar. Es mag genau daran liegen, dass im zeitgenössischen Theater die Chorpartien bis auf wenige Ausnahmen nicht wie in antiken Aufführungen gesungen oder getanzt, sondern gesprochen werden.124 Damit versinnbildlicht der antike Chor in besonderem Maße den tiefen, trennenden Graben zwischen Vergangenheit und Gegenwart und wird zu einem – wie Friedrich Nietzsche es nannte – „flatternden Fetzen der antiken Ueberlieferungen“.125 Die Dürftigkeit der erhaltenen Quellen und ihr hypothetischer Charakter können beklagt oder als Chance begriffen werden. Wenn es vordergründig nicht mehr darum geht, die genauen Ursprünge des antiken Chores als eine unwiederbringlich verschüttete kulturelle Praxis zu rekonstruieren, wird es möglich, den Modell-Charakter des antiken Chores und die Weiterentwicklungen chorischer Strukturen etwa im neulateinischen Drama zu erkennen.126 Wie im Folgenden dargelegt werden soll, bildet der Chor im atmosphärischen Umfeld des Deutschen Idealismus die Grundlage für neuerliche Aneignungsversuche. Dabei zeigt sich, auf welch produktive Weise die sonderbare Fremdheit des antiken Chores vielfältige identitätspolitische Diskussionen hervorruft.
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so vorzutragen (und dazu auch noch zu tanzen), daß die Zuschauer den Text verstehen konnten.“ Ebd., S. 12. Siehe Foley, „Choral Identity in Greek Tragedy“, S. 10. Foley unterstreicht diesen Aspekt und seine Bedeutung für die in der Aufführung griechischer Tragödien realisierte Performativität des antiken Chores: „From the perspective of performance, however, choral identity was probably far more noticeable on the level of voice, costume, gesture, dance, and musical mode. Choruses are not by any generic definition incapable of action and important initiatives, even in late Euripides.“ Ebd., S. 24. Vgl. Seidensticker, Das antike Theater, S. 73. Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, in: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hrsg.), Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1 (KSA 1), Berlin/München/New York 1988, S. 9-156, S. 46. Zur Transformation des antiken Chores im neulateinischen Drama siehe insb. Volker Janning, Der Chor im neulateinischen Drama. Formen und Funktionen, Münster 2005.
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2. IDENTITÄT „Die Wiederentdeckung der Antike bietet die Möglichkeit, dem Ansturm des gänzlich Neuen zu widerstehen, den Standort des Ich wie des Anderen zu bestimmen und die Erscheinungen zu kategorisieren – einfach deshalb, weil die Idee von der Antike ein in sich geschlossenes, feststehendes Bezugssystem von Namen, Ereignissen, Ideen, Formen, Symbolen und Zitaten darstellt, das neben der biblischen Welt über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg gesicherter Bestandteil des europäischen Wissenskanons ist.“127
In Deutschland wird der antike Chor im 19. Jahrhundert im Zuge einer allgemeinen Rückbesinnung auf den wertvollen Erfahrungsgehalt der Antike wiederentdeckt, als Referenzpunkt erkannt und zunächst für theoretische Auseinandersetzungen herangezogen.128 Diskutiert wird seine Aufführbarkeit auf zeitgenössischen Bühnen ebenso wie Fragen des Verhältnisses Einzelner zur Gemeinschaft. In einer Zeit, in der auf geradezu obsessive Weise die Ursprünge der griechischen Kultur zurückverfolgt und vielfältige Bezüge zu antiken Quellen hergestellt werden,129 versucht die moderne westliche Zivilisation die Geheimnisse der griechischen Klassik zu entschlüsseln, in die Antike „einzudringen und möglichst alles noch Faßbare zu erfassen und ins Bewußtsein zu heben.“130 Auf diese Art tritt man dem antiken Chor nicht ohne nostalgische Absichten und eigene Sehnsüchte gegenüber. Als einem „particularly fruitful ground for thinking about the dialogue between ancient and modern experiences“ erlaubt die Beschäftigung mit der griechischen Tragödie und dem antiken Chor daher
127 Hagen Schulze, Die Identität Europas und die Wiederkehr der Antike, Bonn 1999, S. 4f. 128 Zu frühen Studien, die das immense Interesse am antiken Chor belegen, siehe Carl G. Albert, De Aeschyli choro supplicum, 1841; Albertus Henricus Arnoldus Ekker, De Choro Aeschyleo, 1849; Carolus Fridericus Reinhardus Schultze, De chori Graecorum tragici habitu externo, Berlin 1856; Richard Arnoldt, Die Chorpartien bei Aristophanes, Leipzig 1873; Christion Muff, De choro Persarum fabulae Aeschyleae, Halle 1878. Zu altertumswissenschaftlichen Studien zum attischen Theater siehe Gottlieb Carl Wilhelm Schneider, Das attische Theaterwesen. Zum besseren Verstehen der griechischen Dramatiker nach den Quellen dargestellt, Weimar 1835; Johann Heinrich Strack, Das altgriechische Theatergebäude. Nach sämmtlichen bekannten Überresten dargestellt auf neun Tafeln, Potsdam 1843; Friedrich Wieseler, Theatergebäude und Denkmäler des Bühnenwesens bei den Griechen und Römern, Göttingen 1851; Wilhelm Dörpfeld/Emil Reisch, Das griechische Theater: Beiträge zur Geschichte des Dionysos-Theaters in Athen und anderer griechischer Theater, Athen 1896. 129 Die Rekonstruktion einer antiken Spielpraxis des Chores basierte weitestgehend auf den Erkenntnissen der Klassischen Altertumswissenschaften und ihren Teilgebieten der Archäologie, der Alten Geschichte und der Klassischen Philologie, die allesamt im 19. Jahrhundert entstanden. 130 Burkert, „Kekropidensage und Arrhephoria“, S. 40.
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wichtige Einblicke in die Fremd- und Selbstbilder dieser Zeit.131 Neben einer generellen Wesensbestimmung des Vormaligen, die durch die Ausbildung weiterer Wissenschaftszweige zusätzlich angetrieben wird, zeichnen sich an den Auseinandersetzungen mit dem Chor immer deutlicher Identitätsfragen eines aufstrebenden Bürgertums ab.132 2.1 Theoretische Auseinandersetzung mit dem antiken Chor „The interest in the ancient Greek chorus is an enquiry not so much into ancient performance models, as into modern ideas of the self, action, and the state.“133
Die Diskussionsbeiträge einer Gruppe von Intellektuellen – namentlich Schiller, den Schlegel-Brüdern, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Wagner und Nietzsche – stehen in vielfältigen Wechselbeziehungen zu den neuen Erkenntnissen der Altertumswissenschaften. Im Anschluss an Johann Joachim Winckelmanns Idealisierung der Antike als modellhafter Institution und geschlossenem Bezugssystem haben ihre theoretischen Reflexionen zur antiken Vorvergangenheit unter dem Einfluss des deutschen Idealismus die moderne Konzeption der antiken Tragödie und des antiken Chores entscheidend mitgeprägt.134 Warum die griechische Tragödie als „höchste Kunstform“ zu einem integralen Bestandteil ihrer Philosophien wurde, kann im Wesen des antiken Dramas, dem ihm zugesprochenen tiefgründigen Sinngehalt und vor allem in jener Fähigkeit gesehen werden, sich als polymorpher Projektionsfläche mit der Gegenwart des 19. Jahrhunderts verbinden zu können. Die griechische Tragödie offenbarte etwas Essenzielles über die Konflikthaftigkeit des Menschen in einer Welt, in der die ethische Selbstpositionierung in Bezug zur Gemeinschaft als Sittlichkeit des Menschen insbesondere nach der Französischen Revolution eine zentrale Rolle spielte.135 Den unruhigen Wirren der politischen und teilweise kriegerischen Auseinandersetzungen stellte die Weimarer Klassik ein Programm ästhetischer Erziehung gegenüber: Kunst und Literatur sollten den Menschen zur Humanität geleiten. In einer Zeit, in der sich mit diesen Absichten Ideale wie Menschlichkeit, Toleranz und das Streben nach Harmonie verbanden, weckte die Figur des antiken Chores neuerliches Interesse. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem antiken Chor lässt sich dabei an den verschiedenartigen Positionierungen Hegels und Schelling sowie anhand der Transformation des antiken Chor-Modells durch 131 Billings/Budelmann/Macintosh, „Introduction“, S. 2. 132 Vgl. Jae-Min Lee, Theorie und Praxis des Chors in der Moderne, Frankfurt a.M. 2013, S. 169-204. 133 Goldhill, „The Greek Chorus“, S. 35. 134 Siehe Johann Joachim Winckelmann, Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. v. Walther Rehm, Berlin/New York 2002; Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik: Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840-1945, Berlin 2004; Ludwig Uhlig (Hrsg.), Griechenland als Ideal: Winckelmann und seine Rezeption in Deutschland, Tübingen 1988. 135 Goldhill, „The Greek Chorus“, S. 36.
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Schiller und Nietzsche nachzeichnen. Ihre unterschiedlichen Zugänge zu Beginn und gegen Ende des 19. Jahrhunderts ergründen die Differenz zwischen dem Wirkungspotenzial des Chorischen und dem Chor und bilden zugleich die entscheidende Transformationsphase eines sich wandelnden Antikebildes ab. 2.1.1 Hegel: Entwicklung der dramatischen Poesie Bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel interessiert sich in seinen Vorlesungen über die Ästhetik für die Bedeutung des griechischen Chores, den er als „geistige Szene“ mit einer Art Tempel vergleicht.136 Nicht nur durch die Referenz zur Architektur stellt Hegel die Fremdartigkeit des antiken Chores heraus, den er in Beziehung zu den Konventionen des Theaters seiner Zeit setzt.137 Hegels Äußerungen bestätigen ein generelles Interesse der Philosophen seiner Zeit am Individuellen.138 Indem er dem „einzelnen Heroen“ beispielsweise „das Volk als das fruchtbare Erdreich“ gegenüberstellt, „aus welchem die Individuen wie die Blumen und hervorragenden Bäume aus ihrem eigenen heimischen Boden emporwachsen und durch die Existenz desselben bedingt sind“,139 exemplifiziert Hegel die Interdependenz des Chores innerhalb einer klar hierarchisierten Ordnung. Auch in anderen Beiträgen wird deutlich, dass der Chor Bestandteil eines antagonistischen Modells wird und dort zumeist als Antipode zum eigentlich Wichtigen betrachtet wird: dem heldenhaften Individuum.140 Der studierte Theaterwissenschaftler Christian Horn hat daher erklärt, dass die Erneuerung des antiken Chores zu strukturellen Missverständnissen führen musste, da sich die „auf Allgemeingültigkeit zielende Rede des Chors […] nicht mit den individuellen Motiven der dramatis personae in Einklang bringen [ließ].“141 Die Fokussierung auf individuelle Handlungen oder Ansichten widersprach einer Konzeption des Chorischen als kollektiver Stimme. Das kann eine Erklärung dafür sein, warum dem großen Interesse an der griechischen Tragödie keine wirklich signifikante, in Publikationen nachweisbare Diskussion über den Erfahrungsgehalt des Chores gegenüberstand.142 Hegel veranschaulicht sein Interesse am Chor als moralischer Instanz, indem er schreibt, „daß der Chor in der Tat als das substantielle, höhere, von falschen Konflik136 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Die konkrete Entwicklung der dramatischen Poesie und ihrer Arten“, in: Ders., Werke, Bd. 15: Vorlesungen über die Ästhetik III, 9. Auflage, auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu editierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 2014, S. 538-574, S. 542. 137 Vgl. ebd. 138 Siehe Magnus Schlette, Die Idee der Selbstverwirklichung: Zur Grammatik des modernen Individualismus, Frankfurt a.M. 2013; Louis Dumont, Individualismus: Zur Ideologie der Moderne, Frankfurt a.M. 1991. 139 Hegel, „Entwicklung der dramatischen Poesie“, S. 541. 140 Auch andere Diskussionsbeispiele zur antiken Tragödie dokumentieren, wie der Chor zugunsten individueller Helden marginalisiert wurde. Siehe u.a. Latacz, Einführung in die griechische Tragödie, S. 58; Eva C. Huller, Griechisches Theater in Deutschland. Mythos und Theater bei Heiner Müller und Botho Strauß, Köln u.a. 2007, S. 340. 141 Christian Horn, Remythisierung und Entmythisierung. Deutschsprachige Antikedramen der klassischen Moderne, Karlsruhe 2007, S. 87. 142 Vgl. Goldhill, „The Greek Chorus“, S. 38.
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ten abmahnende, den Ausgang bedenkende Bewußtsein dasteht.“143 Der Chor übernahm die Funktion, die Zuschauer*innen mit einer Repräsentation ihrer selbst zu konfrontieren.144 Daneben bestimmt Hegel den Chor als „die wirkliche Substanz des sittlichen heroischen Lebens und Handelns […].“145 Damit charakterisiert Hegel die wesentliche Essenz des Chores als ein Regulativ wettstreitender Ideen, konkurrierender Kräfte und divergierender Energien. Er gesteht dem Chor eine sich selbst steuernde Funktion zu, die verschiedene Antriebe reguliert und extreme Ausbrüche durch mäßigende Gegenkräfte abzumildern weiß. 2.1.2 Schelling: Philosophie der Kunst Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling bezeichnet den Chor der griechischen Tragödie in seinen Ausführungen zur Philosophie der Kunst als „die herrlichste und durchaus von der erhabensten Kunst eingegebene Erfindung […].“146 Damit kennzeichnet er den künstlichen Charakter des Chores, der eine „hohe Erfindung“ darstelle, „weil er den groben Sinnen nicht schmeichelt, von dem gemeinen Verlangen nach Täuschung gänzlich hinweg- und den Zuschauer unmittelbar auf das höhere Gebiet der wahren Kunst und der symbolischen Darstellung erhebt.“147 Schelling verweist zudem auf die „mehrfache[n] Wirkungen“, die der Chor auszulösen vermag.148 Die Bestimmung des Chores als kunstvollem Instrument ist Schellings Auffassung nach „auch noch das, was in dem Zuschauer vorging, die Bewegung des Gemüths, die Theilnahme, die Reflexion, ihm vorweg zu nehmen, ihn auch in dieser Rücksicht nicht frei zu lassen, und dadurch ganz durch die Kunst zu fesseln.“149 Schelling sieht die Aufgabe des Chores nicht darin begründet, selbst zum Handelnden zu werden, da er sonst seine Bestimmung nicht erfüllen könne, nämlich „zu bewirken, daß die Gemüther der Zuhörer sich sammeln.“150 Das Maßvolle des Chores und sein erhabener Charakter drücken sich in Schellings Vorstellung des Chores als „objektivirte[r] und repräsentirte[r] Reflexion“151 der Zuschauer*innen aus. Schelling schreibt: „Der Chor ist einem großen Theile nach die objektivirte und repräsentirte Reflexion, die die Handlung begleitet. Wie nun die freie Contemplation auch des Furchtbaren und Schmerzvollen an und für sich schon über die erste Heftigkeit der Furcht und des Schmerzens erhebt, so war der Chor gleichsam ein stetiges Besänftigungs- und Versöhnungsmittel der Tragödie, wodurch 143 Hegel, „Entwicklung der dramatischen Poesie“, S. 541. 144 Zur Funktion des Chores für die Zuschauenden siehe auch Markus A. Gruber, Der Chor in den Tragödien Aischylos: Affekt und Reaktion, Tübingen 2009. 145 Hegel, „Entwicklung der dramatischen Poesie“, S. 541. 146 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, „Philosophie der Kunst. Besonderer Teil aus dem handschriftlichen Nachlaß“, in: Ders., Schellings Werke, nach der Originalausgabe in neuer Anordnung, hg. v. Manfred Schröter, 3. Ergänzungsband: Zur Philosophie der Kunst [1803-1817], München 1968, S. 135-387, S. 356. 147 Ebd. 148 Ebd. 149 Ebd., S. 357. 150 Ebd. 151 Ebd.
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der Zuschauer zur ruhigeren Betrachtung geleitet und von der Empfindung des Schmerzens gleichsam dadurch erleichtert wurde, daß sie in ein Objekt gelegt und in diesem schon gemäßigt vorgestellt wurde.“152
Die von Schelling unterstrichene „ganz symbolische Bedeutung des Chors“ sollte in seiner „Indifferenz und Unparteilichkeit“ die anschließende Rezeption des antiken Chores maßgeblich prägen.153 2.2 Transformation des chorischen Modells Neben Hegels und Schellings Reflexionen zum antiken Chor widmen sich mit Johann Christoph Friedrich von Schiller und Friedrich Wilhelm Nietzsche zwei weitere philosophische Protagonisten des 19. Jahrhunderts seiner Funktion und Bedeutung. In durchaus unterschiedlichen Lesarten stützen sich beide dabei zentral auf verfremdende sowie vereinnahmende Aspekte. Schiller hebt den reflektierenden Charakter des Chores und „die damit verbundene Durchbrechung der dramatischen Illusion“ heraus.154 Wenngleich er die gemeinschaftsstiftenden Qualitäten sowie die spezifische Sinnlichkeit seiner Gruppenaktionen betont, ist Schiller nicht an vorschnellen Identifikationen interessiert. Sein Verständnis unterstreicht weniger die verbindenden als die störenden Momente, die Distanz stiftenden Eigenschaften des Chores als Dramenfigur. Gleichsam deutet sich eine zweite Bedeutungsebene an, wenn Schiller nachdrücklich auf die gewaltige Energie, Kraft und Intensität des Chorkörpers hinweist. Die Akzentuierung dieser überwältigenden Sinnlichkeit des Chores findet ihren prominentesten Repräsentanten in Friedrich Nietzsche, der versucht seine musikalischen, kultisch-rituellen Elemente als verdrängte Charakteristika wiederzubeleben. Obwohl Nietzsche immer wieder vorgeworfen wurde, dass seine Untersuchung eher Ergebnis ästhetischer Spekulation als Produkt historischer Rekonstruktion gewesen sei, haben seine Überlegungen eine alternative Rezeption der Antike begründet, die im 20. Jahrhundert großen Einfluss auf die Entwicklung neuer Ästhetiken ausübte.155
152 Ebd. 153 Ebd., S. 358. Siehe auch Juichi Matsuyama, „Freiheit und Notwendigkeit. Zur Poetik und Philosophie des Tragischen bei Aristoteles und Schelling“, in: Hühn, Lore/Schwab, Philipp (Hrsg.), Die Philosophie des Tragischen: Schopenhauer – Schelling – Nietzsche, Berlin/Boston 2011, S. 223-246, S. 245. 154 Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie, S. 153. 155 Nietzsche selbst bezeichnet seine Erstlingsschrift im „Versuch einer Selbstkritik“ als „schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwütig und bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend, mißtrauisch selbst gegen die Schicklichkeit des Beweisens, als Buch für Eingeweihte […].“ Vgl. Nietzsche, KSA 1, S. 11-22, S. 14.
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2.2.1 Schiller: Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie Ähnlich wie Hegel und Schelling konfrontiert auch Friedrich von Schiller die eigene Gegenwart mit einer durchaus idealisierten Vorstellung der Antike. Schiller löst das klassische Ideal der griechischen Kultur aus der fernen Vergangenheit und verlegt es in die Zukunft. Das Vergangene bloß zu erinnern, ohne einen produktiven Nutzen im Kommenden zu suchen, lehnt er kategorisch ab. Schillers kritische Schriften sollen verdeutlichen, dass es nicht genügt, die Alten nur zu glorifizieren.156 Fortschritt bedeutet für Schiller vielmehr, von den Alten tatsächlich fortzuschreiten. Was sich als Schillers Einsicht in die notwendige Transformation des Alten hier bereits ankündigt, realisiert sich in unverkennbarer Weise in seinem Drama Die Braut von Messina und den sich anschließenden Reflexionen zum antiken Chor. Schiller verfasst die Die Braut von Messina im Jahr 1803 nach den Regeln des antiken Dramas und lässt darin, „was in der Moderne bis dahin noch keiner gewagt hat, einen Chor auftreten als beharrlichen Zeugen und Träger der Handlung.“157 Sein Drama kann als beispielhafter Versuch einer klassizistischen Re-Etablierung der antiken Tragödie gelesen werden. In der darin verfassten Vorrede Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie rechtfertigt Schiller die programmatische Wiedereinführung des tragischen Chores. Außer zur Erneuerung des antiken Chores, die er als Strategie zur Vermeidung des „Naturalism“ verteidigt, äußert sich Schiller unmissverständlich zum zwiespältigen Charakter des Chores: Obgleich der Chor der alten Tragödie ein natürliches Organ gewesen sei, das „aus der poetischen Gestalt des wirklichen Lebens“ folgte, wird er in der neuen Tragödie Schillers zu „einem Kunstorgan, der hilft die Poesie hervorbringen.“158 Für Schiller ist der Chor „selbst kein Individuum, sondern ein allgemeiner Begriff.“159 Damit nutzt Schiller den Chor bewusst als dramatischen Fremdkörper, als „ein Außending“, das die Nicht-Geschlossenheit des dramatischen Werkes exponiert: „nämlich dessen Angewiesenheit auf die hinzu-kommende ,theatralische Vorstellung‘.“160 Schiller ist der Auffassung, der Chor störe die vollständige Illusion und verhindere dadurch die bedingungslose Identifikation der Zuschauer*innen mit dem Bühnengeschehen und den Darsteller*innen. 161 Ohne ergänzende Begleitung von Tanz und Musik bleibe der Chor ein fremdes Element. Fehlten diese belebenden Elemente, sei die Fremdartigkeit des Chores kaum zu überwinden. Schiller schreibt: „So lange also dem Chor diese sinnliche Begleitung fehlt, so lange wird er in der
156 Siehe Friedrich Schiller, „Über Völkerwanderung, Kreuzzüge, Mittelalter“, in: Ders., Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Leipzig 1899, Bd. XI, S. 6f. 157 Rüdiger Safranski, Friedrich Schiller oder Die Erfahrung des Deutschen Idealismus, München 2004, S. 487. 158 Friedrich Schiller, „Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie“, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. v. Benno Wiese, Band 10, hg. v. Siegfried Seidel, Weimar 1980, S. 7-15, S. 11. 159 Ebd., S. 13. 160 Bettine Menke, „Wozu Schiller den Chor gebraucht...“, in: Menke, Bettine/Menke, Christoph (Hrsg.), Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, Berlin 2007, S. 72-100, S. 75. 161 Vgl. Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie, S. 151.
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Oeconomie des Trauerspiels als ein Aussending, als ein fremdartiger Körper und als ein Aufenthalt erscheinen, […].“162 Schiller spannt den Chor folglich als dramatische Einfügung und unterbrechende Störung ein. Die Tendenz des Chores, während der Handlung außerhalb dieser zu stehen, macht er dabei keineswegs als Nachteil geltend. Im Gegenteil: die Eigenschaften des Chores, der „nur den Gang der Handlung unterbricht, der die Täuschung stört, den Zuschauer erkältet“163, deutet er geradezu als neuen Vorteil. Da der Einsatz des Chores in den Aufführungen des Dramas Brüche provoziert, begünstigt er die Absonderung des Denkens und ermöglicht so Reflexionen über die Handlung. Dem Chor kommt damit eine trennende Funktion zu: er soll den Aktionsfluss unterbrechen und zeitliche Zwischenräume entstehen lassen.164 Als Element der Mäßigung, das „in die Sprache Leben“ und „Ruhe in die Handlung“ bringt,165 schreibt Schiller dem Chor eine eindeutig intervenierende Funktion zu, die weniger dem Fortgang der Handlung, als der Reflexion der Zuschauer*innen dient. Das Publikum nämlich soll „auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten“ und „sich immer klar und heiter von den Rührungen scheiden, die es erleidet.“166 Der Chor erzeugt Distanz zur Handlung, organisiert die Trennung der emotionalen und rationalen Wahrnehmung und intensiviert die sinnliche Vermittlung von Fremdheit. Neben den störenden Eigenschaften, die fremd wirken und Irritation hervorrufen, ist Schiller von der Gewalt des Chores kraft seiner Größe und Sprache fasziniert: Als „sinnlich mächtige Masse, welche durch ihre ausfüllende Gegenwart den Sinnen imponiert“, entwickelt der Chor mit seiner „Gewalt des Ausdrucks“ überaus einnehmende Wirkungen.167 Schillers Überlegungen zum Chor sind für diese Arbeit so entscheidend, weil sie die spezifische Ästhetik des Chores bereits als eine Ästhetik des Widerstands ausweisen. Ausgehend von der Frage, wie sich eine Wiedereinführung des antiken Chores auf den Spielverlauf und die ästhetische Erfahrung des Publikums auswirken würden, fundiert Schiller seine unverkennbare Wirkungsweise in einem Wechselspiel von Störung und Überwältigung, Fremdheit und Faszination als affirmative Intermezzi. Ihm folgend sind es geradezu jene Irritationen des Handlungsverlaufs, die der Chor arrangiert, und das Eingebettetsein in andere Handlungsvollzüge, die den Chor selbst organisieren. Wie diese wirkungsvollen Effekte des Chores im Rahmen politischer Aktionen konsequent eingesetzt werden können, wird an Beispielen chorischen Protests in den folgenden Kapiteln ausgiebig untersucht werden.
162 Schiller, „Gebrauch des Chors in der Tragödie“, S. 7. 163 Ebd., S. 7. 164 „In den Formeln von der durch den Chor geleisteten Unterbrechung und Störung treffen wir die geläufigen Stichworte einer avantgardistischen Lösung vom Postulat der Mimesis an. Es handelt sich demnach um das ,Fremd‘-werden dessen, was dem dramatischen Werk als dessen theatraler ,Vollzug‘ mit Schiller ebenso unabdingbar ist wie ein Hinzukommendes sich störend merklich macht.“ Menke, „Wozu Schiller den Chor gebraucht...“, S. 77. 165 Schiller, „Gebrauch des Chors in der Tragödie“, S. 14. 166 Ebd. 167 Ebd., S. 13.
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2.2.2 Nietzsche: Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik In einer Phase des 19. Jahrhunderts, in der sich der gesellschaftliche Fokus auf den Individuationsprozess des Menschen verlagert, erscheint im Frühjahr 1872 Friedrich Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.168 In seinem Erstlingswerk, das sich deutlich gegen das von den Altertumswissenschaften entworfene Bild des alten Griechenlands wendet, verbindet Nietzsche die Suche nach dem Ursprung der griechischen Tragödie mit der Frage nach dem primitiven Archetyp des tragischen Chores.169 Überzeugt, dass „die Tragödie aus dem Chor entstanden ist und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war“, gilt sein ganzes Interesse dem tragischen Chor als „dem eigentlichen Urdrama.“170 Nietzsche entwickelt eine Theorie der griechischen Tragödie, indem er zur Erklärung des Tragödienchors die Ur-Erscheinung des Satyrchors heranzieht. Der Chor der griechischen Tragödie soll – auf künstlich Weise und nachträglich eingesetzt – einen ursprünglich natürlichen Zustand vergegenwärtigen. Den Satyrchor beschreibt er als „Urbild des Menschen, […] als begeisterter Schwärmer, […] als mitleidender Genosse, […] als Weisheitsverkünder aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der Natur […].“171 Im Satyr spiegelt sich für Nietzsche der Mensch in seinem „Urbild“, dem Mitleid am Urprozess des Lebens: der Individuation. Indem der Chor sinnlich daran erinnert, soll er zum Träger einer rituellen Kontinuität werden, die Nietzsche wie folgt beschreibt: „Der dionysische Grieche will die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft – er sieht sich zum Satyr verzaubert. […] Die spätere Constitution des Tragödienchors ist die künstlerische Nachahmung jenes natürlichen Phänomens; […].“172 Was im Satyrchor aufscheint und sich auf der primitiven Stufe der Urtragödie als „Selbstspiegelung des dionysischen Menschen“173 andeutet, wird durch die Tragödie in tänzerische Bewegungen und Worte gesetzt. Damit existiert das „Grausen“ und die „wonnevolle Verzückung“ fort, die das Mitleiden des „Zerbrechens des principii individuationis“ hervorruft.174 168 In der Entwicklung des Menschen ist die Individuation als Entwicklungsschritt sowie zu bewältigender Konflikt zu verstehen, der erfordert, sich selbst innerhalb der Normen anderer bewusst zu werden, sich über sie hinwegzusetzen und zu eigenen Wertevorstellungen zu gelangen. Mit der Individuation klingt die Notwendigkeit an, von der Gemeinschaft fortzuschreiten, um in Distanz zu anderen sich selbst zu finden, eigene Fähigkeiten und Potenziale zu entfalten. 169 Nietzsche wendet sich gegen alles „Klassische“ und zerstreut polemisch die von den Wissenschaften verbreitete Freude, im Neuen immer nur das Alte zu erkennen. Siehe Theo Girshausen, Ursprungszeiten des Theaters: Das Theater der Antike, Berlin 1999, S. 70f: „Ganz deutlich wehren sich Nietzsche und die anderen mit ihm dagegen, indem sie eben – im Bild des Pessimistischen, des Religiösen, des Entgrenzenden, Furchtbaren und Dunklen – das Fremde der Antike als die ihr verbliebene Würde, als Anderes, Eigenes gegen die überall sich abzeichnenden Nivellierungsversuche stark machen.“ 170 Nietzsche, KSA 1, S. 52. 171 Ebd., S. 58. 172 Ebd., S. 59. 173 Ebd., S. 60. 174 Ebd., S. 28.
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Nietzsches Gedankengänge zur Entstehung der Tragödie sind eng mit einer Theorie kultureller Musikalität verbunden. Seine musikalische Deutung des Chores unterstreicht, dass es sich bei der Tragödie selbst um eine Form performativ hervorgebrachter Dichtung handelte – das Zusammenspiel chorischen Tanzes, chorischer Stimmlichkeit und ritueller Performance.175 Zur Veranschaulichung widerstreitender Wahrnehmungswelten bedient sich Nietzsche den Eigenschaften, die den griechischen Göttern Apollon und Dionysos zugeschriebenen werden. Das bipolare Begriffspaar des Apollinischen und Dionysischen beschreibt zwei gegensätzliche Charakterzüge des Menschen. Hierbei steht apollinisch für „maassvolle Begrenzung“, die „Freiheit von wilden Regungen“, eine „weisheitsvolle Ruhe“ und dionysisch für Rauschhaftigkeit, das „glühende Leben“ und „Ur-Eine“, einen alle Formen sprengenden Schöpfungsdrang, in dem Individualitäten zu einem großen, gemeinschaftlichen Ganzen verschmelzen.176 Den spezifischen Eigenschaften des Dionysischen, Rausch und Übermaß, ordnet Nietzsche die Aufhebung des principium individuationis und damit die Begünstigung eines kollektiven Zusammenschlusses zu. Die Lehre der Tragödie sei „die Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als Urgrundes des Uebels, die Kunst als die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.“177 Durch die einnehmende Kraft des Sinnlichen würden in der dionysischen Tragödie „die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen.“178 Nietzsche führt dazu weiter aus: „Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen Masse diese künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von einer solchen Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie sich innerlich eins weiss. Dieser Prozess des Tragödienchors ist das dramatische Urphänomen.“179
Der Chor der griechischen Tragödie verweist permanent auf diese in ihm fortlebende Erfahrung ursprünglichen Zusammenhalts. Während der Urgrund der Tragödie auf die Basis einer starken Gemeinschaft deutet, evozierten die Auseinandersetzungen mit dem antiken Chor Fragen, wie sie von der Ritualforschung und Soziologie um 1900 heftig diskutiert wurden. Dabei ging es darum, wie „aus einer Ansammlung von Individuen eine Gemeinschaft entstehen könne oder ob man nicht umgekehrt von der Annahme auszugehen habe, daß zuerst die Gemeinschaft war, aus der sich dann Individuen ausdifferenzierten.“180 Die Betonung des Rituellen und Rauschhaften setzte den maßvollen, apollinischen Elementen des Chores – wie sie sich in der Reduzierung chorischer Praxis zur 175 Nietzsche bezeichnet den Chor in Bezug auf die Anfänge der tragischen Kunst und Schiller in diesem Zug als „lebendige Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit, weil er – der Satyrchor – das Dasein wahrhaftiger, wirklicher, vollständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige Realität achtende Culturmensch.“ Nietzsche, KSA 1, S. 62f. 176 Ebd., S. 28-31. 177 Ebd., S. 73. 178 Ebd., S. 56. 179 Ebd., S. 61. 180 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 82f.
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bloßen Dramenfigur andeutete – eine Gegenkraft entgegen. Damit wurden die Beziehungen des Chores zu musikalischen Elementen wie Rhythmik, Dynamik und deren Verbindung zu körperlichen Vollzügen deutlich hervorgehoben, die „hier nicht nur als Objekt oder Ursprungsort und Medium von Symbolbildungsprozessen betrachtet, nicht nur als Oberfläche für und Produkt von kulturellen Einschreibungen, sondern auch und vor allem als leibliches In-der-Welt-Sein“181 betrachtet werden sollten. 2.3 Aneignungen des Chores als Programm bürgerlicher Öffentlichkeit Die Revolutionen und politischen Erhebungen von 1789 und 1848 orchestrieren die Debatten über den Chor und führen während einer der wohl entscheidendsten politischen Transformationsphasen der Gesellschaften Mitteleuropas zu einer sensibilisierten Wahrnehmung kollektiver Erscheinungen.182 Erstmals treten chorische Figurationen als politische Bewegungen auf. Spätestens seit der Französischen Revolution werden Kollektivkörper verstärkt als „Kraftzentrum des politischen Geschehens“ wahrgenommen.183 In diesem Zusammenhang verändert sich die Bedeutung des Gemeinsamen, was auch zu einem modifizierten Verständnis des Chores führt.184 Die politische Dimension des Chores wird dort deutlich, wo die antike Denkfigur nicht mehr nur ein theoretischer Referenzpunkt bleibt, sondern in praktischer Weise spezifische Erfahrungen der Gemeinschaft ermöglicht. Während der Chor der griechischen Tragödie im 18. und 19. Jahrhundert auf der Theaterbühne als befremdlich empfunden wird, realisiert sich die Wiederentdeckung chorischer Praxis viel stärker im Zusammenhang mit kollektiven Aktionen politisierter Akteur*innen außerhalb des bürgerlichen Theaters oder der Dramentheorie. Konzeptionalisierungen des Chores stehen seitdem viel eher in Verbindung zu einer sich zunehmend organisierenden Arbeiterschaft, die durch neue Protestaktionen in Form von Streiks und Demonstrationen versucht, politische Forderungen zu artikulieren. Es deutet sich daher an, wie neuerliche Repräsentationsformen des Chores die öffentliche Bühne in einer Phase
181 Erika Fischer-Lichte, „Verkörperung/embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen in eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie“, in: Dies./Horn, Christian/Warstat, Matthias (Hrsg.), Verkörperung, (Theatralität, Bd. 2), Tübingen 2001, S. 1125, S. 18. 182 Mitte des 19. Jahrhunderts tritt das wohlhabende Bürgertum endgültig durch politisch und wirtschaftlich einflussreiche Akteur*innen neben die Aristokratie. Spätestens ab 1848 wird die Bourgeoisie und damit im engeren Sinn das Großbürgertum, deren Aufstieg mit den politischen und sozialen Kämpfen seit der Französischen Revolution 1789 beginnt, zur ökonomisch herrschenden Klasse in Mitteleuropa. 183 Dreyer, Theater der Zäsur, S. 176. 184 Siehe Goldhill, „The Greek Chorus“, S. 36: „Through these political upheavals, there is a changing sense of what community, the crowd, the collective, the voice of the people, can mean, and this dynamic inevitably affects the conceptualization of the chorus, not just by virtue of a potential politicization of its group dynamics, but also, and perhaps more stridently, by virtue of the insistent impact of ideals of the freedom of the individual on the understanding of the heroes of tragedy in relation to the chorus.“
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betreten, in der sich die theoretischen Gedanken zum antiken Chor in Opposition zu individuellen Freiheiten darstellen oder unweigerlich mit der Idee der Nation verbunden werden. 2.3.1 Marseillaise Im Jahr 1789 bricht in Frankreich die große bürgerliche Revolution aus, deren Ziel es ist, Adelsprivilegien zu beseitigen, das Wahlrecht einzuführen, die Herrschergewalt durch eine Verfassung zu begrenzen und die absolutistische Macht des Königs in eine konstitutionelle Monarchie umzuwandeln. Die Führung gegen die feudal-absolutistische Ordnung übernimmt das wohlhabende Bürgertum – die Bourgeoisie, die sich im Gegensatz zur Arbeiterschaft bereits als revolutionäre Klasse zu organisieren weiß.185 Am 17. Juni 1789 konstituiert sich mit dem Dritten Stand die überwiegende Mehrheit des repräsentierten Bürgertums als verfassungsgebende Nationalversammlung. In der Nacht vom 3. auf den 4. August 1789 proklamiert sie die Gleichheit aller Bürger*innen und beschließt die Abschaffung aller Adelsprivilegien. In den Folgejahren geht es darum, die Errungenschaften der Revolution gegen den König und außenpolitische Aggressoren zu verteidigen. Am 20. April 1792 erklärt die konstitutionelle Regierung Frankreichs Franz I., König von Böhmen und Ungarn, den Krieg. In Straßburg verliest Bürgermeister Dietrich auf einer Militärparade unter Trommelwirbel und Trompetenschall den Regierungsbeschluss über die Kriegserklärung, bevor sich ein Menschenzug in Bewegung setzt und feierlich zur Melodie des bisher einzigen Revolutionsliedes durch die Stadt marschiert. Dietrich bittet den Offizier und Liederkomponisten Rouget de Lisle etwas zu schreiben, das nach den rekonstruierten Worten des Bürgermeisters „das Volk von der Richtigkeit und Gerechtigkeit unseres Kampfes überzeugt, ein Lied, das der heutigen Lage Rechnung trägt, dieser Stunde, wo die feindlichen Könige gegen uns die Fahnen ihrer Armeen erhoben haben […].“186 Daraufhin dichtet de Lisle in der darauffolgenden Nacht das heute als Marseillaise bekannte Kampflied.187 Am 29. April 1792 wird das neue Lied mit dem Titel „Le Chant de Guerre pour lʼarmée du Rhin“ der Öffentlichkeit präsentiert und von der Kapelle des Straßburger Nationalgarderegiments auf dem Platz vor dem Garnisonskommando gespielt. Ein Bericht der ersten öffentlichen Aufführung durch die Straßburger Militärmusiker*innen verdeutlicht das affektive Wirkungspotenzial des Liedes:
185 So schreibt Aleksej V. Efimow, dessen Perspektive deutlich als Position der sowjetischen Geschichtsforschung in der Mitte des 20. Jahrhunderts markiert sein soll, dass die Arbeiter*innenschaft zur Zeit der Französischen Revolution und „überhaupt die unteren Schichten der städtischen Bevölkerung, die ,plebejischen Elemente‘, in politischer Hinsicht noch nicht selbständig [waren]; noch folgten sie der revolutionären Bourgeoisie.“ Aleksej V. Efimov, Geschichte der Neuzeit 1789-1870, Institut f. Geschichte in d. Akad. d. Wiss. d. UdSSR, übers. v. Alfred Siggel, Berlin/Leipzig 1948, S. 25. 186 Zit. nach Gel, Internationale und Marseillaise, S. 266. 187 Nach František Gel habe es de Lisle innerhalb weniger Stunden geschafft, die Ideen der Zeit einzufangen und auf einen einzigen Punkt zu konzentrierten: „einen klingenden, tönenden, hallenden und schallenden, singenden Brennpunkt.“ Ebd., S. 267.
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„In dem Augenblick, als die Regimentskapelle gerade die Marseillaise spielt, marschiert ein zur Verstärkung des Grenzschutzes eingesetztes Bataillon inländischer Infanterie vorbei. Die müden Landser von der Loire, die durch halb Frankreich marschiert waren, heben die Köpfe, beschleunigen den Schritt und fassen neuen Tritt. Die Müdigkeit ist wie weggeblasen. Was ist das für ein Lied? Tausende Kehlen Singen: Freiheit, Freiheit, vielgeliebte / Steh uns bei und schirm dein Land […] Die Trommeln wirbeln, es schmettern die Fanfaren: Auf Bürger ans Gewehr! / Formiert des Volkes Heer! / Marschiert, marschiert […].“188
Die ungeheure Macht des Liedes erklärt sich aus der besonderen historischen Situation gegen Ende des 18. Jahrhunderts: „Frankreich war wie eine Resonanzplatte, wartend auf ein Lied von der gleichen Schwingungszahl.“189 Neben kompositorischen Details spielt die besondere Vortragsweise durch chorischen Gesang eine entscheidende Rolle. Die Marseillaise kombiniert eine beschwingte und animierende, hoffnungsvolle Melodie mit dem chorischen Gesang eines pathetisch aufgeladenen Texts, der die Bereitschaft zum selbstaufopfernden Freiheitskampf beschwört. Sieht man von melodischen Modulationen und gestalterischen Aspekten der Musik – etwa durch Fanfaren – ab, die die Tendenz haben, die Zuhörer*innen in ihr feierliches Arrangement hineinzuziehen und wirkungsvoll zu affizieren, entsteht ein zusätzlicher Motivationsschub des Liedes, wenn es chorisch gesungen wird. Vom Gleichklang geeinter Stimmen und dem militärischen Grundrhythmus getragen, vertont die Marseillaise den Appell, das gemeinsame Schicksal mit vereinten Kräften selbst in die Hand zu nehmen. Das Zusammenspiel von Musik und Gesang steigert dabei die emotionale Einbindung. Während der Chorgesang ein Gefühl der Einheit vermittelt und durch den stimmlichen Zusammenhalt geradezu überwältigend die Idee kollektiver Identität kommuniziert, scheint es, als würden auch bei den Zuhörenden neuerliche Kräfte entstehen. Dem Auftrag des Liedes entsprechend wird hier das ungeheuerliche Potenzial von Kampfliedern im militärischen Bereich deutlich: Die Macht des musikalischen Rhythmus folgt der Wirkungsabsicht, eine emotionale Ergriffenheit auszulösen, die die Menschen verbindet und zu essenziellen Kollektivierungen führt, um so außenstehende Gegner*innen abzuwehren. Die chorische Vortragsweise dient dabei der Konstruktion von Gemeinschaftsvorstellungen und ihrer sinnlich nachvollziehbaren Erfahrung. Dies wird umso stärker möglich, da sich die unmittelbare Identifikation der Singenden mit den vorgetragenen Strophen verbindet und sich ihre individuelle Situation programmatisch mit dem Schicksal der Nation verknüpft.190 Die mit der Aufführung der Marseillaise verbundenen chorischen Verfahren fügen sich damit in Prozesse der Codierung vorgestellter Gemeinschaften ein, die Zuschreibungen nationaler Kollektivität begünstigen.191 Dahinter werden Strategien deutlich, die „moderne
188 Ebd., S. 271. 189 Ebd., S. 268. 190 Zur Konstruktion nationaler Gemeinschaftsmythen siehe auch Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M. 1988; Ranger, Terence/Hobsbawm, Eric (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. 191 Siehe dazu auch Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution: Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1984.
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Gesellschaften auf der kulturellen Ebene integrieren und zugleich politisches Handeln legitimieren.“192 Es soll daran erinnert werden, dass sich das heutige Verständnis des Chores als einer großen, oft mit Laien besetzten Gesangsgruppe Anfang des 19. Jahrhunderts maßgeblich im atmosphärischen Umfeld der Französischen Revolution entwickelte.193 Vielfach wurde darauf hingewiesen, dass sich Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge mit der Entstehung des Bildungsbürgertums eine ganz neue musikalische Öffentlichkeit entfaltet. Im privaten Salon, bei chorischen Musikveranstaltungen oder öffentlichen Konzerten dient klassische Musik verstärkt dazu, sich von der „Trivialmusik“ und den „unteren Gesellschaftsschichten“ abzugrenzen.194 Die Entwicklung der Oper spielt mit neuerlichen Chorformationen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, da sie im musikalischen Bereich geradezu als Wiedererfindung der griechischen Tragödie verstanden werden kann.195 Fragen moderner Ästhetik werden im 19. Jahrhundert mit durchaus politischer Reichweite innerhalb der Oper diskutiert, etwa die Erfindung gemischter Chöre, die dem antiken Drama fremd waren.196 Am Umgang des Musiktheaters mit dem Chor manifestieren sich daher entscheidende Debatten. Im Verständnis des 19. Jahrhunderts ermöglicht die Musik den Ausdruck einer sonst verborgenen, wahrhaftigen Innerlichkeit.197 An192 Andreas Langenohl, „Das politische und das soziale Imaginäre. Demokratische Aporien öffentlicher Praktiken am Beispiel der Jugendorganisation Naschi in Russland“, in: Ders./ Schraten, Jürgen (Hrsg.), (Un-)Gleichzeitigkeiten: Die demokratische Frage im 21. Jahrhundert, Marburg 2011, S. 163-187, S. 166. 193 Nach Erkenntnissen der Musikwissenschaft ist die meist vor dem Spätbarock entstandene Vokalmusik solistisch aufgeführt worden, heute gilt sie aufgrund späterer Aufführungstraditionen oft als „Chormusik“. Zu den historischen Voraussetzungen des Opernchors sowie seiner Funktion in der zeitgenössischen Musiktheorie und Opernästhetik siehe ausführlicher Arnold Jacobshagen, Der Chor in der französischen Oper des späten Ancien Régime, Frankfurt a.M. 1997. 194 Siehe Irmgard Jungmann, Sozialgeschichte der klassischen Musik: Bildungsbürgerliche Musikanschauung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2008. 195 Vgl. Hellmut Flashar, „Die Anfänge der neuzeitlichen Schauspielmusik. Zum antiken Drama und zur Antike in der frühen Oper“, in: Ders., Eidola: Ausgewählte kleine Schriften, Amsterdam 1989, S. 553-561, S. 558; Siehe dazu auch Richard Wagner, Über die Bestimmung der Oper, Leipzig 1871. 196 Vgl. Flashar, Inszenierungen der Antike, S. 41. 197 Siehe Goldhill, „The Greek Chorus“, S. 42: „The chorusʼs role as commentator and as a medium for an audience to reach a new level of reflectiveness has been taken over by music itself. Music aims, not a specific, particular, definite feelings, but at feelings themselves […].“ Goldhill stellt die Verbindung zwischen Chor und Musik deutlich heraus, da das künstlerische Arrangement der Musik zu einem neuen Ort der Reflexion wird. Auch Richard Wagners Konzeption des Orchesters steht in Analogie zum griechischen Chor. Siehe dazu Wolfgang Schadewald, „Richard Wagner und die Griechen“, in: Ders., Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur, Bd. 2, Zürich/Stuttgart 1970, S. 343-364. Cosima Wagner schreibt am 16. Januar 1871 entsprechend in ihr Tagebuch: „Die Bedeutung des Orchesters, seine Stellung als antiker Chor, seinen ungeheuren Vorteil über letzteren, der mit Worten die Handlung bespricht, wäh-
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ders als im musikalischen Bereich, wo das Singen im Chor ein neues Forum bürgerlicher Öffentlichkeit konstituiert, zeigen sich beim Versuch, den antiken Chor ins neuzeitliche Sprechtheater zu integrieren signifikante Schwierigkeiten. 2.3.2 Die Unaufführbarkeit des Chores im 19. Jahrhundert Die griechische Tragödie wird in ihrer überlieferten Form vornehmlich als Dramentext, dass heißt nicht als Aufführung auf dem Theater, sondern in literarischer Form durch neue Übertragungen und Herausgaben wiederentdeckt. 198 Zahlreiche Neu-Übersetzungen belegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts insbesondere in Deutschland veritable Übersetzungsschwierigkeiten.199 Gerade in Szenen, in denen wie in der Abschlussszene von Die Perser affektive Ausbrüche oder ekstatische Wildheit dominieren, beschränkt sich die Sprache – wie der Schweizer Germanist Emil Staiger dargelegt hat – „auf Andeutungen, Stichworte gleichsam, die nur dazu da sind, Jammergeschrei, Entsetzensrufe und Wehelaute auszulösen.“ 200 Weiter schreibt er: „Und diese Wehelaute intoniert der Grieche so mannigfaltig, daß unser deutsches ,Weh‘ und ,Ach‘ und ,Oh‘ nicht aufzukommen vermag. Es blieb nur übrig, diese sprachliche Orchestrierung des äußersten Schmerzes unverändert herüberzunehmen und den Leser zu bitten, sich die Orgie der Verzweiflung in der gewaltigen szenischen Wirklichkeit vorzustellen.“ 201
Staiger weist darauf hin, dass die angesprochene Wildheit nicht ohne Schwierigkeiten in die deutsche Sprache übersetzt werden konnte. Auch weil davon ausgegangen wurde, dass sie dem Geschmack eines zeitgenössischen Publikums nicht entsprächen, erschienen die dramatischen Vorlagen antiker Dramen für die Bühne des 19. Jahrhunderts als ungeeignet. Der deutsche Klassische Philologe Hellmut Flashar hat daran erinnert, dass ausgehend vom Umstand einer theoretischen Erörterung griechischer Tragödien in akademischen Zirkeln nicht auf eine allgemeine Aufführungspraxis geschlossen werden kann.202
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rend das Orchester die Seele dieser Handlung uns gewährt, erklärt er [Richard Wagner] uns eingehend.“ Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd.1, hg. v. Martin Gregor-Dellin u. Dietrich Mack, München 1976/77, S. 342. Vgl. Flashar, Inszenierungen der Antike, S. 82f. Zur Rezeption der antiken Literatur in der Neuzeit, insb. zu Formen ihrer Aneignung durch Übersetzungen siehe Flashar, Eidola, S. 485-508. Emil Staiger, Aischylos. Die Perser, Stuttgart 2007, S. 97. Ebd., S. 97f. Siehe dazu Flashar, Eidola, S. 597: „Wenn man unter ,Entdeckung der griechischen Tragödien für die deutsche Bühne‘ die Aufführung einer griechischen Tragödie auf einer öffentlichen Bühne versteht, der eine Übersetzung (nicht Bearbeitung oder Nachdichtung) zugrunde liegt, so ist ein derartiges Ereignis erst 10 Jahre nach Hegels Tod (1831) zu verzeichnen. Hegel hat also nie eine griechische Tragödie auf dem Theater gesehen; gleichwohl ist der Vorgang der ,Entdeckung der griechischen Tragödie auf der deutschen Bühne‘ in dem vielschichtigen Geflecht der Komponenten die vorbereitend ein derartiges Ereignis schließlich heranreifen ließen, ohne Hegel kaum denkbar.“
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Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts kann konstatiert werden, dass „werktreue“ Inszenierungen griechischer Tragödien bis auf eine Ausnahme gänzlich fehlten.203 Dabei hatte Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik die Bedeutung des griechischen Chores höchstselbst in den zeitgenössischen Diskurs eingebracht und gefragt, ob und wie man den Chor in die moderne Tragödie einführen könne. Zwar habe man „das Bedürfnis solch einer substantiellen Grundlage gefühlt und sie doch zugleich nicht recht anzubringen und einzufügen gewußt, weil man die Natur des echt Tragischen und die Notwendigkeit des Chors für den Standpunkt der griechischen Tragödie nicht tief genug zu fassen verstand.“204
Insbesondere weil die Figur des Chores im Theater des 19. Jahrhunderts den konventionellen Seh- und gängigen Spielgewohnheiten zuwider lief, wurden griechische Tragödien nur in stark bearbeiteter Form aufgeführt.205 Die Tendenz, sich dem antiken Dramenmaterial anzunähern, indem man es dem jeweiligen Zeitgeschmack anpasste, entsprach einem allgemeinen Trend: durch Kürzungen und moderne Harmonisierungen versuchte man, den antiken Stoffen habhaft zu werden und dem Publikum entgegenzukommen. Entsprechend fielen am 19. Februar 1803 die Reaktionen des Publikums aus, als Schillers Braut von Messina auf einer öffentlichen Lesung ihre Premiere erlebte. Die verhaltene Resonanz der Anwesenden glich nicht annähernd jener Faszination Schillers. Das ablehnende Verhalten des Publikums zeigte, dass Schillers Versuch den antiken Chor wiederbeleben zu wollen, der konventionellen Bühnenpraxis diametral entgegenstand.206 Ganz anders 203 Eine besondere Allianz zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Erschließung einer griechischen Tragödie stellt die Aufführung der Antigone am 28.10.1841 im Hoftheater des Neuen Palais zu Potsdam dar. Zahlreiche Fachleute werden vom preußischen König engagiert, um die Aufführung nach griechischem Vorbild zu rekonstruieren. Die verwendete Übersetzung Jakob Christian Donners, die das Versmaß des Originals beibehält, verdeutlicht diesen Anspruch. Zu weiteren Besonderheiten dieser ersten „werkgetreuen“ Wieder-Aufführung einer griechischen Tragödie in Deutschland siehe Flashar, Inszenierungen der Antike, S. 69-75; Erika Fischer-Lichte, „Berliner Antikeprojekte. 150 Jahre Theatergeschichte“, in: Dies./Dreyer, Antike Tragödie Heute, S. 111-140; Erika FischerLichte, „Politicizing Antigone“, in: Wilmer, Stephen/Zukauskaite, Audrone (Hrsg.), Interrogating Antigone in Postmodern Philosophy & Criticism, Oxford 2010, S. 329-352. 204 Hegel, „Entwicklung der dramatischen Poesie“, S. 540f. 205 Goethe unternimmt zu Beginn des 19. Jahrhunderts an seinem Weimarer Hoftheater mit Ion (1802) und Antigone (1809) erstmalig den Versuch, wieder antike Tragödien auf eine deutsche Bühne zu bringen. Beide erscheinen auf seiner Experimentierbühne in stark bearbeiteten Adaptionen. Vgl. auch Fiona Macintosh, „Tragedy in Performance: Nineteenth- and Twentieth-Century Productions“, in: P. E. Easterling (Hrsg.), The Cambridge Companion to Greek Tragedy, Cambridge 1997, S. 284-323, S. 286. Zur Bedeutung der Weimarer Experimentierbühne siehe auch Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, S. 148. 206 In einer Kritik vom 10.03.1803 heißt es bei Körner: „Die Protagonisten, die vor dem Chor agieren, sind die lebende Dissonanz. Sie lösen sich als Einzelstimmen aus dem
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fiel hingegen das Urteil Goethes aus, der Schillers Mut bewunderte, „die Erwartungen des Publikums dermaßen zu enttäuschen.“207 Schillers Versuch einer Wiedereinführung des antiken Chores gingen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts voraus, die im Theaterbetrieb zur Herausbildung einer realistisch-psychologischen Schauspielkunst führten. Die Wiederentdeckung der griechischen Tragödie und die Ablehnung des antiken Chores auf den Bühnen dieser Zeit sollte daher in enger Verbindung mit der Etablierung eines neuen Schauspielstils betrachtet werden. In dessen Zentrum stand nicht mehr die literarische Rollenfigur, sondern das Vermögen der Schauspieler*innen durch die Gestaltung eines Charakters psychologische Wahrheit zu erzeugen.208 Die neue Schauspielkunst sollte dem meist männlichen Hauptdarsteller dabei helfen, „sein leibliches In-der-Welt-Sein, seinen phänomenalen Körper auf der Bühne zum Verschwinden zu bringen, indem er ihn möglichst vollständig in einen Text aus Zeichen für Gefühle, seelische Zustände etc. einer Rollenfigur umformte.“209 Dagegen stellten Aufführungen des Chores gerade die phänomenale Körperlichkeit eines aus mehreren Menschen bestehenden Ensembles aus. Dadurch trugen sie in besonderem Maße dazu bei, die Einfühlung in eine Rollenfigur zu erschweren. Der Chor der griechischen Tragödie wurde auch wegen dieser Betonung des Körperlichen, seiner besonderen Erscheinung als kollektiver Zusammenkunft, die eine Einfühlung in eine einzelne Heldenfigur unmöglich machte und den Stellenwert des Individuellen umso mehr irritierte, als befremdlich empfunden. Das mangelnde Interesse am Chor und die fehlende Aufführungspraxis chorischen Theaters im 19. Jahrhundert spiegeln so das Bild einer Gesellschaft wider, die sich verstärkt dem Individuellen zuwandte. Während die Einzelleistungen von Schauspielpersönlichkeiten gefeiert wurden, traten Belange des Kollektiven weiter in den Hintergrund. Selbst im Rahmen antiker Tragödien konnte chorisches Theater im 19. Jahrhundert keine weitreichende Aufführungspraxis erlangen.210 Die starken Bearbeitungstendenzen verdeutlichen ebenso wie zahlreiche Streichungen, dass ein einfacher Zugang zum griechischen Drama gerade nicht bestand und dass die Ursache dafür die Figur des Chores selbst war. Der Chor konnte in einer Zeit allgemeiner Verunsicherung nur wenig Identifikationspotenzial entwickeln. Auf den Theaterbühnen wurde der Chor abgelehnt, weil er das Individuum beunruhigte, statt es mit eindeutigen
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Chor, entwickeln ihr dissonantes Spiel, das Drama ihrer Verwicklungen, und werden wieder im Unisono des Chores untergehen.“ Zit. nach Safranski, Friedrich Schiller, S. 487f. Safranski, Friedrich Schiller, S. 489. Zur Entwicklung der neuen Schauspielkunst siehe Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, S. 116-142. Fischer-Lichte, „Verkörperung/embodiment“, S. 12. Max Kalbeck schreibt am 19.06.1881 in der Morgenpost, die antike Tragödie könne „nicht nur in der äußeren Gestaltung, sondern auch ihrer inneren Motivierung nach ein modernes Publikum nicht erwärmen“ und fügt zusätzlich an, dass „außer Zweifel gesetzt [sei], daß die antike Tragödie auf dem wirklichen Theater überhaupt nichts zu suchen habe und daß diesem aus allen Experimenten mit antiken Dramen keinerlei Gewinn erwachsen könne.“ Max Kalbeck, Morgenpost vom 19.06.1881.
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Identifikationsangeboten zu versorgen. Statt Antwort auf die heikle Frage nach dem eigenen Selbst zu geben, irritierte seine Kollektivität.211 Weil der antike Chor innerhalb eines zeitspezifischen, politischen Kosmos wiederentdeckt und eben darin konzeptualisiert wurde, ergaben sich Konflikte zwischen modernen Ideen des Selbst und Vorstellungen kollektiven Handelns. Statt auf dem Theater sichtbar zu werden, eroberte sich der Chor im 19. Jahrhundert andere Öffentlichkeiten: Im Zuge eines anwachsenden Nationalismus verknüpfte sich die Idee des Chores mit vaterländischen Elementen. In den Auseinandersetzungen Richard Wagners mit der Antike zeigen sich diese Spannungen zwischen Vorstellungen des Chores als idealisierter Stimme des Volkes und nationalistischen Ideen des Volksgeistes. Die zahlreichen nationalen Initiativen zur Zeit des Vormärz – vielfältige bürgerliche Unabhängigkeitserhebungen und demokratische Freiheitsbestrebungen – arbeiteten den Sehnsüchten nach kollektiver Identität und nationaler Einheit in der Geschlossenheit chorischen Gesangs wiederum deutlich zu.212 Generell kann an dieser Stelle bereits festgehalten werden, dass der nachträgliche Blick auf den Chor der Antike sein Potenzial – je nach Standpunkt und selten neutral – vergrößert, verklärt oder mystifiziert hat. Die Sicht auf das, was die lebendigen Ursprünge des Chores gewesen sein könnten, wurden durch moderne Imaginationen zusätzlich verstellt. Vordramatische Provenienzen des Chorischen wurden vernachlässigt, weil man meist nur den antiken Tragödienchor fokussierte. Erst im 20. Jahrhundert entstehen aus der neuerlichen Auseinandersetzung mit chorischen Formen kreative Impulse. In der künstlerischen Beschäftigung mit dem Chor entwickeln sich durch Verfahren bewusster Distanzierung oder intendierter Annäherung intensive Debatten auch dadurch, dass die sinnlichen Wirkungsweisen des Chorischen immer wieder neu in Beziehung zum jeweils eigenen historischen Standpunkt und den gesellschaftlichen Besonderheiten der Zeit gesetzt werden.
211 Vgl. Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, S. 185. 212 Für die Nationaltheaterbewegung galt das Theater als Versammlungsort bürgerlicher Öffentlichkeit. Ziel der Bewegung war im Anschluss einer Homogenisierung durch Literatur, eine konkrete Sprachzugehörigkeit zu betonen. Mit dieser Vorstellung übereinstimmend gründete Schillers Vision einer durch das Theater geschaffenen Gemeinschaft aus „einem Geschlecht“ auch in idealisierten Vorstellungen des antiken Theaters als Zusammenkunft der polis im theatron.
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3. REPRÄSENTATION „Wer einmal in späteren Jahren die Geschichte des Sprechchors schreiben will, muß die Geschichte der Nachkriegszeit schreiben. Der Sprechchor muß und kann nur aus einer Masse herauswachsen, die bewegt ist, ihre Ziele kennt und sich dafür mit ihrer ganzen Kraft einsetzt.“213
Seit der Antike verbindet sich mit der kulturellen Reichweite des Chores immer schon eine politische Dimension, deren unweigerlich repräsentativen Aspekte sich angefangen von der großen Bedeutung der Dionysien darstellen lässt. Diese Festspiele zu Ehren des Gottes Dionysos entwickelten sich in Athen erst im 6. Jahrhundert v. Chr. in einer Phase tiefgreifender demokratischer Transformationen zu einem städtischen Fest.214 Es finden sich Belege, dass Thespis den Tragödienpreis um 534 v. Chr. erhalten haben soll, als Peisistratos die offiziellen Wettkämpfe einführte. Nachdem Athen ab 510 v. Chr. tyrannenfrei war, wurden die Städtischen Dionysien zum Zweck der Selbstrepräsentation fortgeführt. Die Gründung der Großen Dionysien hängt in dieser Zeit mit einer Politik zusammen, die durch religions- und kulturpolitische Maßnahmen die Vorrechte des Adels beschneiden wollte. Thomson berichtet, dass Peisistratos dieses Ziel erreichte, indem er „den Kulten derjenigen Volksschichten, deren Interessen er vertrat, amtliche Förderung und Unterstützung angedeihen ließ – vor allem der Dionysosverehrung.“215 Eine institutionelle Wiederbelebung der Dionysoskulte „aus einer primitiven Form agrarischer Magie“ 216 eignete sich für ein solches Vorgehen, weil sie volkstümlich und nicht aristokratisch waren. Die Kulte feierten die Fruchtbarkeit des Bodens, weshalb sie vor allem in der Bauernschaft Bestand hatten und eine Wirkung gegen den landbesitzenden Adel entfalteten.217 Auch der deutsche Klassische Philologe Bernhard Zimmermann hat dargelegt, wie sich mit der Gründung der Großen Dionysien und der Reformierung der Panathenäen durch Peististratos daher eine doppelte Absicht verband: „Da die beiden Feste im Zentrum der Macht des Tyrannen, in Athen, stattfanden, zogen sie das Volk vom Land in die Stadt und führten ihm die Bedeutung, den Einfluß und Reichtum des Tyrannen vor Augen. Somit hat die Einführung eines zentralen Festes eine antiaristokratische Stoßrichtung, weil dadurch alte Kulte und Feste zurückgedrängt wurden und die Bindung des
213 Alfred Kern, „Kleine Chronik. Der gespaltene Mensch“, in: Leipziger Volkszeitung vom 24.01.1928. 214 Vgl. Wilhelm Schmid/Otto Stählin, Die Geschichte der griechischen Literatur, München 1974, S. 25. 215 Thomson, Aischylos und Athen, S. 137. 216 Ebd., S. 159. 217 Zum engen Zusammenhang zwischen Tragödie und Politik, insb. der Bedeutung der Feste in Athen siehe auch Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, S. 54-74.
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Volkes an den Adel gelockert wurde, dessen Einfluß häufig in lokalen, gentilizischen Kulten wurzelte.“218
Als angesehenes Fest erlangten die Städtischen Dionysien überregionale Strahlkraft. Die demokratische Stadt Athen identifizierte sich in besonderem Maße mit chorischer Kultur.219 Der herausgehobene Stellenwert chorischer Aufführungen als gemeinsamer darstellerischer Leistung wurde immer wieder durch die mit Ansehen verbundene, öffentlich anerkannte Aufgabe hervorgehoben, einen tragischen Chor zu haben, zu lehren, ihm beizuwohnen, ihn zu beobachten oder selbst Teil eines solchen Chores werden zu können. Die symbolische Dimension der Repräsentation verweist auf die spezifische Nutzung von Bildern, Symbolen, Ritualen, Gesten und Worten, die nutzbar gemacht wurden, um die Akzeptanz und Legitimation einer politischen Ordnung zu gewährleisten oder in einem Netzwerk anderer, in Wettbewerb stehender Stadtstaaten kulturelle Identitäten aufzuführen und abzubilden. In Bezug auf die antike Polis wird deutlich, wie der Chor als Handlung politischer Repräsentation konstitutiv für den Zusammenhalt der politischen Gemeinschaft war. Während der institutionelle Charakter der antiken Chor-Praxis sich in nahezu alle Lebensbereiche der Stadt verzweigte,220 versuchten unterschiedliche politische Interessenvertreter*innen ab Mitte des 19. Jahrhunderts an diese lebensnahen Zugänge anzuschließen, indem sie den Chor im Auftrag ihrer Programmatiken als repräsentativen politischen Kollektivkörper reinszenierten. Dabei fällt auf, dass chorische Formen – ungeachtet spektakulärer Massen-Inszenierungen antiker Dramen durch Max Reinhardt, in denen die Verhandlung kollektiver Belange mit Chören um 1910 ganz zentral wird – nicht in die Hof- und Staatstheater vordringen.221 Matthias Dreyer hat darauf hingewiesen, dass sich damit die bereits erwähnte Zurückweisung des Chores auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts fortsetzt. Während die Kunsttheater-Bewegung „als demonstrativer Protest gegen die gängige Theaterpraxis“222 versuchte, sich von den Traditionen bürgerlichen Illusionstheaters zu emanzipieren, zeigen Reinhardts 218 Zimmermann, Dithyrambos, S. 33. 219 Wilson hat die kulturelle Bedeutung des Chores am Beispiel griechischer Vornamen wie Khorokles, Khoroniko, Khoronike oder Khoregos illustriert. Die angenommene Motivation dieser Namensgebungen geht vom hohen Stellenwert des Chores aus. Siehe Peter Wilson, The Athenian Institution of the Khoregia. The Chorus, the City and the Stage, Cambridge 2000, S. 3. Während die Namensgebung im Privaten auf eine gewisse Individualität hindeutet, die sich mit Wünschen für eine gute chorische Ausbildung verbinden lässt, weist Walter Burkert auf Folgendes hin: „[…] während die Griechen solche Freude an Eigennamen haben, daß sie Namenskataloge zu einer Form der Poesie erhoben haben, wird kein Glied des tragischen Chors jemals mit einem individuellen Namen benannt.“ Burkert, „Griechische Tragödie und Opferritual“, in: Ders., Wilder Ursprung, S. 13-39, S. 26. 220 Die khoregia organisierte chorische Auftritte, bestimmte über Aufführungsregeln und bezeichnete im antiken Athen zugleich die Aufgaben des Sponsors eines lyrischen oder dramatischen Chores. Zur intensiveren Auseinandersetzung mit dem institutionellen Charakter der khoregia (auch choregia) siehe Wilson, Athenian Institution of Khoregia. 221 Vgl. Dreyer, Theater der Zäsur, S. 183. 222 Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters, S. 236.
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Antike-Aufführungen im Berliner Zirkus Schumann, dass „eine Erneuerung innerhalb der alten Theatergebäude schwerlich möglich war.“223 Im Zuge der Arbeiter*innenbewegung und vor dem Hintergrund neuer Gewerkschafts- und Parteigründungen stößt die chorische Form hingegen auf den Nährboden neuer politischer Mobilisierungen. Am Beispiel der Sprechchorbewegung soll gezeigt werden, wie chorische Formen genutzt wurden, um Politik erfahrbar zu machen, ein kollektives Verständnis politischer Ordnung zu vermitteln oder grundlegende Fragen zur Konstitution institutioneller Anordnungen auszulösen. Im Wechselspiel von Symbolizität und Performativität wird der Chor auf vielfältige Weise regelrecht eingesetzt, um Werte und Prinzipien des Zusammenlebens zu installieren. Im Wissen um diese Instrumentalisierungen bildet Schleefs Chor-Theater der 1980er Jahre dann den Ausgangspunkt für neue Überlegungen zum besonderen Widerstandspotenzial des Chorischen, dessen Anwendung in den späteren Protestbeispielen neu evaluiert werden soll. Vorab gilt jedoch zu klären, wie der Chor erstens als politischer Kollektivkörper gezielt genutzt wurde, um emotionale Zugänge zu Nation, Partei oder anderen politischen Organisationen zu schaffen. Zweitens fragt sich, wie ein postdramatisches Verständnis des Chores ihn als metatheatrale Theaterformen politisch neu auflädt. 3.1 Der Chor als repräsentativer politischer Kollektivkörper Die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zeigen, wie sich die Geschichte des Chores in und außerhalb des Theaters vor allem als politische Theatralisierung und dramatische Politisierung weiter fortschreibt.224 Während es zunächst so wirkt, als würde es durch die Theateravantgarde zu einer Renaissance des Chores auf dem Theater kommen, zeigt sich aus einer deutschen Perspektive – insbesondere in den 1920er Jahren, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und seiner Aufarbeitung in den Nachkriegsjahren –, wie sich chorische Formen auf neuartige Weise in politische Auseinandersetzungen einschreiben. Reinhardts spektakuläre Inszenierungen antiker Dramen hatten bereits vor dem Ersten Weltkrieg demonstriert, wie es durch monumentale Sprechchorinszenierungen mit Masse-Chören außerhalb der etablierten Theater zu neuen ästhetischen Experimenten kam. In seinen Inszenierungen griff Reinhardt die Faszination anonymer Menschenansammlungen auf, die in den metropolitanen Zentren sichtbar wurden und neue Fragen nach sozialem Zusammenhalt und der Organisation großstädtischen Zusammenlebens evozierten. Den Chor stellte Reinhardt durch Einsatz hunderter Statist*innen als beeindruckende Menschenmenge dar, die im Zuschauer*innenraum verteilt inmitten des Publikums agierte. 225 Kritiker*innen machten Reinhardt den Vorwurf, er würde die dynamisierenden Effekte des Chores instrumentalisieren und den Chor im Rahmen des Theaterereignisses strategisch nutzen, um ein überwälti223 Dreyer, Theater der Zäsur, S. 177f. 224 Zur Geschichte chorischen Theaters auf der Bühne des 20. Jahrhundert siehe Detlev Baur, Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts: Typologie des theatralen Mittels Chor, Tübingen 1999; Kurzenberger, Der kollektive Prozess des Theaters, Bielefeld 2009. 225 Siehe dazu auch Peter W. Marx, Max Reinhardt: Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur, Tübingen 2006, S. 83-117.
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gendes Monumentaltheater mit rauschhaften Masse-Chören zu inszenieren. Der Chor symbolisiere die Massen, verkörpere sie jedoch nicht. Den Chor in dieser Weise allein wirkungsästhetisch zu instrumentalisieren, stellte für die Kultursozialist*innen ein Versäumnis dar, das eklatant das politische Potenzial des Chores verkannte. Sie sahen chorische Formen als Ausdrucks- und Darstellungsweise einer linksorientierten Politik erst dann verwirklicht, wenn politische Gesinnung und künstlerisches Schaffen in ihr zusammenfielen.226 Gleichwohl schienen Reinhardts beeindruckende Inszenierungen wirkungsvoll vorzugeben, was der Arbeiter*innenbewegung fehlte: Sie demonstrierten, wie der antike Chor zur neuerlichen Vorlage politischer Repräsentation werden konnte. Sie ließen erahnen, wie er im Verlaufe des 20. Jahrhunderts von unterschiedlichen politischen Strömungen vereinnahmt und „neuartig in den Begriff Volk aufgelöst und zusammengefaßt“ wurde.227 3.1.1 Sozialistische Sprechchorbewegung Die Feste der sozialistischen Arbeiter*innenbewegung waren vor 1914 vorwiegend durch Rezitationen und Vorträge bürgerlicher Kunst geprägt. Quellen zu ihrer Ausgestaltung und zur rezitierten Literatur durch Berufskünstler*innen belegen, dass die Kulturpolitik der SPD bis zu diesem Zeitpunkt noch stark auf die Vermittlung bürgerlicher Kunstformen bedacht war. Wenngleich chorische Gruppenrezitationen bereits Teil einer sozialistischen Festkultur waren, fehlte es an geeigneten Formaten, um sich durch eigene proletarische Gattungen vom Programm der politischen Gegner*innen abzusetzen. Die Bühnenorganisation zahlreicher Feierstunden stellte das Dilemma sinnbildlich aus: Wie konnte man die eigenen Mitglieder zu selbständigem Handeln aktivieren, anstatt professionellen Schauspieler*innen und Agitator*innen die Bühne zu überlassen?228 Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten die Kultursozialist*innen ganz bewusst eine Traditionslinie vom Chor der antiken Tragödie zum proletarischen Sprechchor herzustellen. Erst nach 1918 entwickelte sich der Sprechchor so zu einer „selbständigen lyrisch-dramatischen Form des proletarischen Laientheaters“.229 Zur historischen Ausgangssituation schlussfolgert Jon Clark: „Die gesellschaftspolitische und massenpsychologische Grundlage der Arbeitersprechchorbewegung der Weimarer Republik war ohne Zweifel das neue Selbstbewußtsein des deutschen Proletariats, das 1918-1919 aus den Massenkämpfen in den wichtigsten deutschen Großstädten hervorgegangen war.“230 In den von Verunsicherung geprägten Nachkriegsjahren und zu Beginn der 1920er Jahre schien der Sprechchor als „Massenstimme der Revolution“ geradezu nachzuhallen.231 Die Sprechchorbewegung der Weimarer Republik verortete sich dabei in einem bereits erprobten System der Arbeiter*innenbildung, das speziell auf die 226 Vgl. Yvonne Hardt, Politische Körper. Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, Münster 2004, S. 265. 227 Heinz Herald, Max Reinhardt. Bildnis eines Theatermannes, Hamburg 1953, S. 36. 228 Vgl. Jon Clark, Bruno Schönlank und die Arbeitersprechchor-Bewegung, Köln 1984, S. 72f. 229 Ebd., S. 72. 230 Ebd., S. 73. 231 Vgl. Bruno Schönlank, in: Junge Menschen, 1925, S. 30.
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Bedürfnisse von Arbeiter*innen zugeschnitten war und den Chor als „Teil einer umfassenden Bewusstseinsschulung“232 zur Realisierung des ,neuen Menschenʻ nutzte. Neben der Arbeiter*innenpresse und den Arbeiter*innenbibliotheken wurde das Arbeiter*innentheater zu den tauglichsten und bedeutendsten kulturellen Massenbildungsmitteln gezählt. Es bezog sich auf den Chor der Antike nicht nur als partizipatorischer Institution der Bürger*innen, sondern eignete ihn sich programmatisch an, damit „jene autarke kultische Verbundenheit in neuer Form wieder auferstand“ und „Darsteller und Volk in einem gemeinsamen Kreis des Erlebens bannte.“233 Die Kultursozialist*innen beriefen sich auf das dramatische Genre des Sprechchors, um ein proletarisches Massengefühl zu beleben oder erst herzustellen – eine gewollt produzierte Analogie, die sich nach dem studierten Sozialwissenschaftler Uwe Hornauer als hergestellte Verbindung „theatergeschichtlich nicht ganz zu Unrecht“ vollzog, wenngleich er einräumt, dass „der griechische Tragödienchor nur bedingt ein Sprechchor war.“234 Bereits in den 1920er Jahren versuchte der deutsche Sprechchortheoretiker Adolf Johannesson die Idee des Sprechchors in der klassischen Antike zu fundieren. In Opposition zur Aneignung des antiken Dramas durch die herrschende Klasse proklamiert er als rechtmäßigen Erben des antiken Chores die Arbeiter*innenschaft. Seiner politischen Gesinnung folgend schreibt er dazu: „Nicht mehr Heldentaten einer bevorzugten Schicht wurden besungen, sondern auf den großen Festen, die vom Staat angeordnet waren, verbunden mit öffentlichen Gottesdiensten, war das Wirkungsfeld des Chores.“235 Für Johannesson hingen die Errichtung der Demokratie in Athen und die Entmachtung des Adels unmittelbar zusammen. Dabei betont er, dass antike Chöre auf freien Plätzen, unter freiem Himmel und als selbständig Handelnde auftraten. An eine Wiedergeburt des Chores knüpft er die Hoffnung, dass sich die Arbeiter*innenschaft durch Bewusstwerdung ihrer kollektiven Kräfte eine machtvolle Position zurückerobert. Zu diesem Zweck parallelisiert Johannesson „die historische Situation der Geburtsstunde des attischen Chores, dessen Sitz im Leben und operative Funktion mit der, des aus dem proletarischen Sprechchor zu entwickelnden neuen Theaters eines künftigen, kollektiven Zeitalters […].“236 Mit der Absicht eine neue Form genuiner Arbeiter*innenkunst auszubilden, hatten Sprechchöre ihren festen Platz im Programm des Sozialistischen Kulturbunds, der Arbeiterjugend, der Kinderfreunde, der Arbeiterwohlfahrt, des Arbeitersängerbunds, des Arbeitersportbunds und der Volksbühne. Dort kamen sie bei Weihefestspielen, Arbeiter*innen- und Turnfesten gezielt zum Einsatz.237 Der Chor sollte unter den Arbeiter*innen – vielfältig und an unterschiedlichen Fronten eingesetzt – Gemein232 Uwe Hornauer, Laienspiel und Massenchor. Das Arbeitertheater der Kultursozialisten in der Weimarer Republik, Köln 1985, S. 154. 233 Oswald Bauer, „Neue Wege des Theaters“, in: Kulturwille, 1. Jg., Nr. 2 (1924), S. 19-20, S. 20. 234 Hornauer, Laienspiel und Massenchor, S. 165. 235 Adolf Johannesson, Leitfaden für Sprechchöre, Berlin 1927, S. 8. 236 Ebd. 237 Zu den dramatischen Grundlagen der Sprechchor-Bewegung und ihrer Transformation von einer Laienkunst zu einer selbständigen Gattung siehe auch Hornauer, Laienspiel und Massechor, Köln 1985.
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schaftsgefühle herstellen, die sozialistische Idee beleben und eine sozialistische Kollektivierung antizipieren. Der chorischen Form kam dabei der Vorteil zugute, Massen verkörpern zu können, ihren Gemütsbewegungen Ausdruck zu verleihen und „die Darsteller und [das] Volk in einem gemeinsamen Kreis des Erlebens“ zu bannen.238 Im Rahmen von Feiern war ein zentrales Anliegen der Organisator*innen, die Festgemeinschaft durch den Chor nicht in Akteur*innen und Zuschauer*innen zu spalten, sondern den gemeinschaftlichen Charakter zu betonen. Die Euphorie um den Sprechchor und das Interesse an seinen Wirkungsweisen ist anhand zahlreicher Aufführungen im Rahmen sozialdemokratischer als auch kommunistischer Veranstaltungen wie Sprechchorleiterkonferenzen oder Ausschreibungen für Chorwerke sowie an der intensiven Debatte über die Theorie des Sprechchors belegbar. Durch Vertreter wie Bruno Schönlank, Kurt Eisner oder Ernst Toller wurde die Arbeiter*innensprechchorbewegung innerhalb der deutschen Sozialdemokratie der Weimarer Republik zu einer eigenständigen Form des proletarischen Laientheaters.239 An Schönlanks vier Hauptwerken für den Sprechchor Erlösung (1920), Großstadt (1922), Der gespaltene Mensch (1927) und Wir wollen zusammen marschieren (1932) lassen sich wichtige historische Etappen der Weimarer Republik – die revolutionären Nachkriegsjahre, die Inflationskrise, die Phase der Stabilität und der Aufstieg des Faschismus – nachempfinden.240 Die Ausbildung besonderer Sprechchöre als neuer Massenkunstform wurde auch propagiert, indem Funktionär*innen wiederholt betonten, dass sie Ausdruck eines neuen politischen Gestaltungswillens sei und unmittelbar aus der Arbeiter*innenschaft hervorgegangen wäre.241 Damit eröffnet die historische Genese der Sprechchorbewegung aufschlussreiche Einblicke in die politische Selbstfindung der Linken, die sich durch Ausformung eines eigenen Kulturprogramms stärker von anderen politischen Strömungen abzugrenzen versuchte.242 Die ästhetisch-politische Funktion des Sprechchors diente schließlich nicht nur dazu, Solidaritätsgefühle zu erzeugen, sondern lag gerade in der öffentlichkeitswirksamen Darstellung eines Einheitswillens des Proletariats begründet. Oswald Bauer betonte entsprechend, dass die Sprechchorbewegung in eine kämpferische Ideologie eingebunden war, die die selbstbezogenen Auswüchse des Kapitalismus aufzeigen wollte, indem sie wieder das Massenerlebnis in den Mittelpunkt stellte, „von dem sich die kapitalistische Kultur mehr und mehr abgewendet [hatte], weil deren Charakteristikum die Einzelpersönlichkeit [war].“243
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Ebd., S. 154. Zu weiteren bedeutenden Repräsentanten zählen Leo Kestenberg und Albert Florath. Vgl. Clark, Bruno Schönlank, S. 24. Vgl. Hardt, Politische Körper, S. 264. Vgl. Hornauer, Laienspiel und Massenchor, S. 163. Bauer, „Neue Wege des Theaters“, S. 20.
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3.1.2 Bewegungschöre: chorische Körper als Erlebnis von Gemeinschaft „Die Improvisation und das Schwingen sind die essentiellen Elemente des Chores. Der Rhythmus des Atmens, der sich auseinander- und zusammenziehenden Körper spiegelt sich nicht in den Bewegungen der Einzelnen wider, sondern auch in den Formationen der Gruppe. Das organisch, leicht Wirkende, der Fluss des Lebens, der Rhythmus von Kommen und Gehen ist das Ziel der Bewegung.“244
Im Zusammenhang mit einer Wiederaufnahme chorischer Formen im Theater, der sozialistischen Sprechchorbewegung und vor dem Hintergrund einer weit verbreiteten Laientanzbewegung entwickeln sich in der Zeit der Weimarer Republik auch sogenannte Bewegungschöre heraus. Die deutsche Tanzwissenschaftlerin Yvonne Hardt hat rekonstruiert, wie der Ausgangspunkt dieser chorischen Bewegungsformen sowohl in der rhythmischen Gymnastik gründet, als auch mit der Entwicklung moderner Tanzformen in Verbindung gebracht werden kann.245 Die Bewegungschöre standen ihrer Untersuchung nach „im Schatten der Sprechchorbewegung, die in der Weimarer Republik einen wahren Aufschwung erfuhr, und ohne die die weite Verbreitung der Bewegungschöre wohl nicht stattgefunden hätte.“246 Als praktischer Wegbereiter des Bewegungschors gilt bis heute der ungarische Tänzer, Choreograf und Tanztheoretiker Rudolf von Laban, der das einfache Prinzip des Mitmachens durch Nachahmung in den Massen- und Laientanz einführte. Konkret sah Labans raumrhythmische Bewegungslehre, die Choreutik, vor, dass eine Gruppe den Bewegungen einer vortanzenden Person folgte und sich an deren Bewegungsarten anpasste, indem Richtungen und Dynamiken aufgenommen und selbst ausgeführt wurden. Hardt stellt für die Bewegungschöre der 1920er Jahre heraus, dass es vordergründig nicht allein um das Kopieren von Bewegungen ging, sondern das „Sich-zueinander-in-Beziehung-Setzen“ der Tänzer*innen gleichbedeutend im Zentrum stand.247 Den besonderen Erlebniseffekt der Bewegungschöre zeichnete ein ständiger Wechsel von Nähe und Distanz aus. So entstanden flexible Raumanordnungen, die eine Dichte der Gruppe erzeugen konnten und nicht nur Ordnungsstrukturen betonten, sondern Berührungspunkte.248
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Hardt, Politische Körper, S. 224. Ebd., S. 205. Ebd., S. 211. Zu den Bewegungsformen dieser durch Reform-Gedanken angestoßenen neuen Tanzkunst schreibt Yvonne Hardt: „Im Prinzip konnten sie recht schnell von Nichttänzern aufgegriffen werden, weil sie durch die mimetische und aufeinander bezogene, also relationale Bewegungsanordnung der einzelnen Tänzer untereinander, die Möglichkeit zur eigenständigen Ausgestaltung der Bewegung zuließen. Das gemeinsame Bewegen und Sich-zueinander-ins-Verhältnis-setzen, […] war zumindest theoretisch wichtiger als das Erlernen von Bewegungsabfolgen und Synchronisation.“ Ebd., S. 207. 248 Vgl. ebd., S. 208f.
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Große Popularität erreichten Bewegungschöre, weil sie sich ideal in zeitgenössische Diskurse über Körperkultur und Gemeinschaftsfragen einfügten. Wie an aktuellen Protestbeispielen nachgewiesen werden soll, traten auch die Bewegungschöre als Gruppen- und Massenphänomene auf, um „den öffentlichen Raum in einer heterogenen und demokratischen Form zu erobern.“249 Der eigene Körper wurde für befreiende Gesten mobilisiert, um Formen körperlicher Disziplinierung in Frage zu stellen, die zunehmend als Übel und Grundbedingung für die Veränderung der Gesellschaft anerkannt wurden.250 Der Bewegungschor „basierte demnach nicht wie die Reigenund Volkstänze auf einer alten Tradition, die vermeintlich mehr der Verdrängung und Kompensation des Alltagslebens als der Gestaltung einer neuen Lebensweise dienten.“251 Vielmehr verband der laienhafte Gruppentanz kollektives Streben mit einer körperlich erfahrbaren Praxis. Partizipation und Mitbestimmung waren bereits in den 1920er Jahren demokratische Ideale, die selbstbewusst einfordert wurden und innerhalb von Tänzen „nur des Tanzens wegen“252 erlebt werden sollten. Wenngleich der Bewegungschor eine überaus spezifische Erfahrung der Gemeinschaft ermöglichte, blieb die Ausgestaltung der einzelnen Bewegungen individuell und „stark durch die einzelnen körperlichen Fähigkeiten und Prägungen des Körpers beeinflusst.“253 In diesem Wechselspiel aus Selbsterfahrung in der Gruppe und überwältigendem Ausdruck nach außen verortete sich der Bewegungschor als prozesshafte Bewegungsformation, deren Ausmaß an Synchronizität durch das Zusammenspiel mannigfaltiger Bewegungssequenzen, alternierender Tempi und divergierender Dynamiken bestimmt werden konnte. Als „ideale Form […], um Masse und Gemeinschaft simultan zu formen als auch zu repräsentieren“254, wurden bewusst neue Spielräume im Freien gesucht, die als Weiterentwicklung der klassischen Guckkastenbühne des Theaters eine Vereinigung von Darsteller*innen und Publikum begünstigen sollten. Diesem Versuch und der daraus resultierenden Praxis der Bewegungschöre wurde schließlich eine politische Dimension zuerkannt, in der sich „das Verhältnis von Körperbewegungen, Massenerfahrung und die Selbstbezogenheit von chorischen Bewegungen“ wechselseitig durchdrangen.255 Zum 150. Geburtstag des Mannheimer Nationaltheaters inszenierte Laban im Jahr 1929 einen Bewegungs- und Sprechchor mit 500 Tänzer*innen. Wenige Monate später führte er in Wien zur „Woche des Gewerbes“ einen Massentanz mit 10.000 Beteiligten auf. Die Bewegungschöre Labans und seiner Schüler*innen256 wurden zu Fest-
249 Ebd., S. 210. 250 Siehe dazu auch ebd., S. 220: „In der Chorarbeit verband sich somit eine sakrale Interpretation des gemeinsamen Tanzens, die die Reinigung des Menschen wollte, mit einer pragmatischen Möglichkeit, Gemeinschaft als prozessual zu konstituieren, als geführt und doch als gestärkt und eigenständig zu erleben.“ 251 Ebd., S. 216f. 252 Ebd., S. 216. 253 Ebd., S. 208. 254 Ebd., S. 206. 255 Ebd., S. 207. 256 Die Labanschülerin Mary Wigman gilt als wichtige Wegbereiterin des modernen Ausdruckstanzes. Wigmans Chorische Studien vermitteln einen lebhaften Eindruck in ihr
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spielen und anderen Anlässen aufgeführt, bei denen sie nie völlig losgelöst von politischen Kontexten ihrer Zeit nur künstlerische Inszenierungen waren, sondern stets einen politischen Zusammenhang zum Anlass ihrer Aufführung herstellten und vom Publikum entsprechend interpretiert wurden. Konzeptionelle Überschneidungen ergaben sich mit dem Programm der Kultursozialist*innen insbesondere dort, wo bewusst Grenzen zwischen Zuschauenden und Agierenden aufgehoben werden sollten.257 Unabhängig von intendierten Wirkungsabsichten riefen die Bewegungschöre ebenso wie die Sprechchorbewegung außerordentliche Reaktionen hervor. Der deutsche Sport- und Politikwissenschaftler Jörg Wetterich hat in seiner Studie zur Bewegungskultur und Körpererziehung in der sozialistischen Jugendarbeit dabei zwei wesentliche Wirkungsebenen herausgearbeitet: Der Bewegungschor wirkte zum einen nach innen durch die symbolische Inszenierung des politischen Kampfes und das Erleben von Gemeinschaft. Zum anderen demonstrierte er nach außen den neuen, kämpferisch entschlossenen Habitus der Arbeiterjugendbewegung.258 Eindeutiger als Sprechchöre auf Theaterbühnen dieser Zeit veranschaulichte die Sprechchorbewegung, wie sich der Chor als politischer Körper formieren ließ und als solcher inszeniert oder instrumentalisiert werden konnte. Ebenso kann anhand der Transformation zum Sprechbewegungschor aufgezeigt werden, wie Chöre als inszenierte und bewegte Massekörper zum festen Bestandteil politischer Feste wurden.259 Diese Entwicklung stand nach Ende des Ersten Weltkriegs im Zusammenhang mit einer veränderten Festkultur, bei der es deutlicher als zuvor zur Etablierung von Masse-Elementen und zur Betonung performativer Aktionen kam. Statt politischer Programme und Parolen sorgte die Darstellung tatsächlicher Bewegungen für die Eroberung neuer öffentlicher Räume.260 Die Art und Weise aber, wie der Chor als politischer Gruppenakteur in den verschiedensten Fällen gegen seine individuellen Bestandteile arbeitete, indem er gleichgerichtet agierte, in unisono sprach und sein Publikum in überwältigendem Ton vereinnahmte, wirkte zugleich bedenklich. Trotz des Wunsches mit den Gemeinschaftserlebnissen des Chores eine humane und soziale Utopie zu realisieren, bestand die Gefahr in einen völkisch-nationalen Mythos abzutauchen. In dieser Weise bemächtigten sich die Nationalsozialist*innen bei der Inszenierung gigantischer Masse-
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Schaffen, in deren Zentrum die Suche nach von Musik unabhängigen Bewegungen und selbständigem Körperausdruck stand. Vgl. Hardt, Politische Körper, S. 248. Vgl. Jörg Wetterich, Bewegungskultur und Körpererziehung in der sozialistischen Jugendarbeit, 1893 bis 1933. Lebensstile und Bewegungskonzepte im Schnittpunkt von Arbeitersportbewegung und Jugendbewegung, Münster 1993, S. 229. Zur Symbolik der Arbeiter*innenbewegung siehe auch Gottfried Korff, „Rote Fahne und geballte Faust. Zur Symbolik der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik“, in: Dietmar Petzina (Hrsg.), Fahnen, Fäuste, Körper. Symbole und Kultur der Arbeiterbewegung, Essen 1986, S. 27-60. Siehe Warstat, Theatrale Gemeinschaften, S. 95: „Die festliche Gemeinschaft […] war weniger auf gemeinsamen programmatischen Forderungen gegründet als auf einer verbindenden Atmosphäre, einer Wärme, die mit großer physischer Intensität erfahren wurde.“
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Formationen, etwa den Nürnberger Reichsparteitagen, chorischer Formen und pervertierten die Idee des Chores im Bild der gleichgeschalteten völkischen Gemeinschaft.261 Kultur- wie Nationalsozialist*innen versuchten durch politische Masseninszenierungen und rauschhafte Vereinigungserlebnisse in Arbeitermassenspielen oder Revolutionsspektakeln, bei Festspielen, Freilichtaufführungen und in Chordramen in durchaus ähnlicher Weise auf überwältigende Vergemeinschaftungen hinzuwirken. Dabei muss sich der Chor als ein von außen angetragenes Gemeinschaftsmodell zwangsläufig der Kritik aussetzen. Denn bei allen Gegensätzen der politischen Gesinnung wurde in beiderlei Fällen von Anbeginn „auf eine intensive Identifikation der Zuschauer mit den dargestellten Chören hingearbeitet, die in ihrer Einheit und Geschlossenheit als ideale Repräsentanten der Masse Anerkennung finden sollten.“262 Für diese Untersuchung ergibt sich gerade hier jedoch die Möglichkeit, den Unterschied zwischen der Chor-Form und dem Chorischen noch einmal ganz deutlich hervorzuheben: Der Einsatz des Chores erschöpft sich in Fragen der Gruppenzugehörigkeit und ihrer Darstellung. Die Form des Chores wird instrumentalisiert, wenn sie eine kollektive Identität behauptet, deren identitätspolitisches Ziel dadurch bestimmt wird, kulturelle Diversität zu verhindern. Der Versuch, die Marginalität der eigenen sozialen Gruppe mittels Chor-Form zu überwinden, Schwäche in Stärke umzuwandeln, manifestiert einerseits zwar die Idee vom modernen Subjekt, das darauf abzielt, sich von seiner sozialen Herkunft oder kultureller Determiniertheit zu emanzipieren. Durch die Machtgeste des Chores werden andererseits die Mechanismen, die zu struktureller Ungerechtigkeit führen, selbst allerdings nicht berührt oder verändert. Sowohl den Prozessen politischer Repräsentation, einer Politik der Anerkennung als auch einer mit der Chor-Form verbundenen generellen Identitätspolitik muss somit kritisch begegnet werden. Die Widerstandsfähigkeit des Chores muss schließlich ganz in Frage gestellt werden, wenn sich seine Machtpolitik nur durch den Ausschluss oder die Angleichung von Vielfalt begründet. Das Widerstandspotenzial des Chorischen scheint dagegen dort auf, wo die im Chor angelegten Gemeinschaftsstrukturen selbstkritisch befragt werden, um darin angelegte Ausgrenzungsmechanismen zu markieren oder bewusst werden zu lassen. Der offensichtliche Mangel der beschriebenen Vereinnahmungstendenz des Chores fußt folglich darauf, aus der Überwindung eigener Schwäche eine Ermächtigung abzuleiten, die nur als scheinbarer Protest taugt. Die Problematik repräsentativer politischer Kollektivkörper verdeutlicht ein grundlegendes Problem jedweder Identitätspolitik und damit nicht nur des Chores: Wenn kulturspezifische Besonderheiten der Herkunft, der politischen Gesinnung oder Unterscheidungen von Menschen nach Kategorien wie Rasse irreduzibel zu Ausschlusskriterien werden, anstatt in universellen Menschenrechten aufzugehen, können sie von jedem gebraucht, von Gegner*innen aber eben auch missbraucht werden. Damit zeigt sich, dass das Behaupten 261 Zur Instrumentalisierung chorischer Formationen unter der Herrschaft der Nationalsozialist*innen im Rahmen politischer Masseninszenierungen in Thingspielen, auf Reichsparteitagen und dem weiten Feld politischer Propaganda siehe Hannelore Wolff, Volksabstimmung auf der Bühne? Das Massentheater als Mittel politischer Agitation, Frankfurt a.M. u.a. 1985. 262 Warstat, „Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe“, S. 18.
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von Identität „fatalerweise auch gute Argumente für jene [liefert], die identitätspolitisch eine Leitkultur einfordern und damit gerade auf die Ablehnung von Vielfalt abzielen.“263 Die machtpolitische Instrumentalisierung der im Chor angelegten Gemeinschaftsstrukturen sorgte schließlich dafür, dass die Bilder und Stereotype des Kollektiven in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hochgradig vorbelastet waren. Neue Zugänge im künstlerischen wie politischen Bereich mussten sich nach dem Zweiten Weltkrieg erst an diesem schwierigen Erbe abarbeiten.264 Es mag durch diese historische Ausgangslage begründet sein, warum es in Deutschland erst in den 1980er Jahren durch Einar Schleef zur Entwicklung eines weiteren innovativen Reflexionsansatzes zum Chor kommt, der dessen ambivalente Gewalt künstlerisch neu verhandelt. 3.2 Schleefs Chor-Theater als Störfaktor der Repräsentation Schleef hebt sich von anderen Theatermacher*innen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab, da ihm die Tragödie nicht mehr als gesicherter Kunstraum gilt, sondern der Chor zum ausschlaggebenden Mittel wird, um dem Publikum den sicheren Abstand zum Geschehen zu nehmen. Schleef bricht mit der Tragödienauffassung des deutschen Idealismus, dem die Tragödie als Gipfelpunkt ästhetischer Gestaltung gilt und dem zufolge die gemäßigte Kraft des Apollinischen ein ausgewogenes Arrangement ursprünglicher Triebkräfte realisieren soll. Im Gegensatz dazu zielt Schleefs Chor-Theater keineswegs darauf, die dionysische Wut, Kraft und Energie des Chorischen zu bändigen, damit sie als formalisierte Leidenschaft zu ertragen wären. Contenance, Ausgewogenheit und Zurückhaltung in der Tradition Winckelmanns oder des Formschönen bei Schiller interessieren Schleef nicht. Kein Maß, keine Kontrolle, keine Form, sondern Verausgabung, Überforderung und abgründige Emotionen bestimmen die Aufführungen seiner Chöre, in denen er das Suspendierte und Verdrängte wieder hervorholt. 3.2.1 Der Chor als produktive Störung Die Inszenierung Mütter, die im Februar 1986 ihre Premiere feiert, ist ein vielbesprochenes Theaterbeispiel, das Schleefs theoretische Überlegungen zum Chor mit Leben füllt.265 Sie steht paradigmatisch für eine postdramatische Neuinterpretation des Chores, der sich nicht mehr in die repräsentative Ordnung des Theaters einfügt, sondern 263 Adam Soboczynski, „Vielfalt von oben?“, in: DIE ZEIT vom 24.11.2016. 264 Versuche, die mit Bewegungssprechchören zusammenhängenden kulturellen Errungenschaften fortzuführen, scheiterten auch aufgrund der Pervertierung der Massenkultur durch die völkische Ideologie der Nationalsozialist*innen. In Westdeutschland kommt die politische Kulturarbeit der Linken nach 1945 durch systematische Abgrenzung zur DDR nahezu ganz zum Erliegen. Die neu gegründete DDR sieht sich indessen „nicht als Erbin kultureller und politischer Errungenschaften der Weimarer Republik, schon gar nicht wollte sie sich mit dem vermeintlich reformerischen Ansatz der SPD, in dessen Kontext ein Großteil der Kulturarbeit der Linken stattgefunden hatte, in Verbindung setzen lassen.“ Hardt, Politische Körper, S. 308f. 265 Siehe zuletzt Erika Fischer-Lichte, Tragedy’s Endurance. Performances of Greek Tragedies and Cultural Identity in Germany Since 1800, Oxford 2017.
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diese irritiert, indem er die Aufmerksamkeit immer wieder auf sich selbst lenkt. Im ersten Teil erscheint darin ein Chor aus sieben älteren, gebrechlich wirkenden und verschleierten Frauen. Immer wenn sie mit schwachen Stimmen etwas zu sagen beginnen, sinken sie ermattet zu Boden und verharren dann in einer sonderbaren Kriechhaltung. Während die Frauen anfänglich noch synchron sprechen, sitzen sie bald auf Stühlen im Bühnenhintergrund, um phrasenhaft flüsternd, einzeln vor sich hin zu parlieren. Die Frauen wirken verwirrt und schlafen schließlich eine nach der anderen ein. Schon zu Beginn tritt der Chor hier weder durch eine Kollektivstimme, noch durch selbstbewusstes Einnehmen des Raumes in Erscheinung. Auf vielfältige Weise macht Schleefs Inszenierung – eine Verknüpfung der dramatischen Vorlagen Sieben gegen Theben von Aischylos und Die Bittflehenden von Euripides – im weiteren Verlauf erfahrbar, wie der Chor durch sein eigentümliches Verhalten den Handlungsverlauf kontinuierlich stört. Der Fortgang der Aufführung wird etwa durch abrupte Wechsel zwischen sehr lauten Szenen und Momenten völliger Stille beeinträchtigt. Mit der Störung im Handlungsgeschehen korrespondiert die sprachliche Organisation des Chores: Verse werden zerdehnt, rhythmisch gestückelt oder durch Repetitionen so sehr verfremdet, dass verhindert wird, dass den Objekten und Ereignissen der Aufführung eindeutige Bedeutungen zugeschrieben, sie „als etwas“ identifiziert werden können. Insbesondere die chorische Form erscheint als „Störfaktor der bestehenden Theaterinstitution sowie dessen Raum- und Repräsentationsordnung.“266 Der Chor entwickelt durch seine befremdliche Körperlichkeit eine subversive Kraft: Er repräsentiert die Marginalisierten nicht mehr, sondern bedroht selbst die theatrale Ordnung der Repräsentation.267 Wie sich dieses Un-passende des Chores in der Inszenierung weiter verstärkt, demonstriert die kollektive Klage-Szene, die den Höhepunkt des ersten Teils der Aufführung bildet. Nachdem die argivischen Mütter erreicht haben, dass ihre Söhne bestattet werden können, beklagen sie ihre Toten. In dieser Szene vergrößert Schleef den Chor auf insgesamt 25 Frauen, überwiegend Laiendarstellerinnen, die durch ihre tatsächlichen Migrationserfahrungen der kollektiven Klage auf der Bühne ganz eigene, mitunter als „fremd“ wahrgenommene Zugänge beisteuern. Kniend beginnen die Frauen in zwei Reihen an einer etwa acht Meter großen Einlassung im Bühnenboden frontal zu den Zuschauenden aufgereiht mit einer Klagezeremonie, die sich je nach Aufführungstag bis zu vierzig Minuten hinzieht. Dabei rufen sie – die Hände ineinander gefaltet und gen Himmel hebend, klatschend und in einem reigenartigen Singsang verhaftet – unter schwarzen Schleiern hervor die Klagelaute „Ai ai! Io ai!“. Dazu schwingen sie mit ihren Oberkörpern hin und her oder lassen ihre Körper entfesselt beben, was den klanglichen Vortrag dramatisch intensiviert.268 Die extreme Dauer der Klage und ihre rhythmisierten, stimmlichen Wellen steigern sich schließlich zu einem akustischen Exzess, dessen scharfem, unerbittlichem Rhythmus sich das Publikum kaum entziehen kann. Entsprechend direkt, zum Teil aggressiv reagieren die
266 Dreyer, Theater der Zäsur, S. 191. 267 Vgl. ebd., S. 194. 268 „Fugenartig griffen einzelne, wiederholte Sätze und die scheinbar endlosen Klagelaute ineinander, verschoben sich gegeneinander, drohten in ein dissonantes Chaos zu entgleiten, wobei sich die einzelnen Akteure im Klageruf gegenseitig überboten.“ Ebd., S. 196.
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Zuschauer*innen mit Zwischenrufen, einige verlassen den Saal, andere bleiben völlig erschöpft und ermattet zurück.269 Schleefs Inszenierung verdeutlicht auf drei Ebenen die spezifische Gewalt des Chores.270 Erstens bemächtigte sich der sprachliche Chor-Vortrag dem Körper. Die stimmlichen Äußerungen der Chöre waren in so eigentümlicher Weise „synkopiert, zerrissen, zerhackt, in die sonderbarsten Rhythmen gepreßt […]“, dass die Sprache zu einem Impulsgeber wurde, der zugleich die körperlichen Vollzüge zu dirigieren begann.271 Der Körper passte sich dem Rhythmus der Sprache an, die Bewegungen folgten den dynamischen Sprüngen der Klage. Während die Sprache in diesen Momenten den Körper beherrschte, dominierte die Semantik die körperlichen Handlungen des Chores.272 Zweitens demonstrierte das Klageritual, wie sich in Umkehrung der Körper der Sprache bemächtigte und selbst zu Sprache wurde.273 Was die Chorfrauen mit angestrengtem Atem genau sagten, verschwand hinter der körperlichen Inanspruchnahme ihres Klagens: Die heftigen, versetzten, panischen Schreie zerrten an ihren Körpern. Deutlich hör- und sichtbar rief das individuelle, sich teilweise zu einem synchronen Wimmern vereinigende und dann wiederum zerfallende Geheul bei den Klagenden wie bei den Zuschauer*innen unmittelbare Schmerzen hervor. Dem irrationalen Geschrei und ausgiebigen Gezeter konnte kein Sinn mehr beigemessen werden. Da der Kummer der Frauen nicht mehr in Worte zu fassen war, konnte sich ihr unfassbares Leid nicht mehr durch das Verständnissystem der Sprache entäußern. Im wieder und wieder erklingenden Kanon der Klagelaute lösten sich Sprache und Bedeutungen weiter auf und „[j]eder Sinn, jede Form, jede Vernunft [ging] im allgemeinen archaischen Geröhre unter.“274 Da Sprache an die Normativität einer Kultur gebunden ist, konnte der Moment, in dem dieses System in der Aufführung verlassen wurde, als subversiver Augenblick erscheinen.275 269 Vgl. Warstat, „Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe“, S. 20. 270 Vgl. Patrick Primavesi, „Gewalt der Darstellung: Zur Inszenierung antike Tragödien im (post)modernen Theater“, in: Seidensticker, Bernd/Vöhler, Martin (Hrsg.), Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik, Berlin 2006, S. 185-219, insb. S. 203. 271 Benjamin Henrichs, „Stöhn heul kreisch blök krächz jaul stotter murmel“, in: DIE ZEIT vom 28.02.1986. 272 Es entstand der Eindruck, dass bei Schleef nicht das antike Theater dominiere, sondern die Tragik zwischen Körper und Sprache. Als Verbindungsglied zwischen sprachlicher und körperlicher Ebene übertrug die Stimmlichkeit des Chores die sinnlichen Wirkungen der Klage. Die affektive Dimension der Stimmen vergrößerte sich, umso mehr sich die Rhythmen der Sprache in die Körper einschrieben. 273 Entsprechend hieß es in Henrichs Kritik: Jeder „,stöhnt, heult kreischt blökt krächzt jault stottert murmelt‘, und zwar nach Leibeskräften.“ Ebd. 274 Ebd. 275 Die flüchtigen, paralinguistischen Instanzen, in denen die Sprache verloren und wiedergewonnen werden musste, offenbarten die Chance für etwas Neues. Dort, wo die dienende Funktion der Sprache durchbrochen wurde und sich Unaussprechliches auf anderen Wegen entäußerte, ergaben sich alternative Zugänge, Grundbedingungen für möglichen Wandel.
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Drittens wurde mit Auflösung des Chores als greifbarer Form die Dichotomie von Körper und Geist gestört.276 Die der Tragödientheorie zu Grunde liegende Dialektik von Affekt und Form, der auch Nietzsches Verständnis der Tragödie als „ausbalancierte Ökonomie formgebender und formsprengender Faktoren“ entsprach,277 wurde durch das Spannungsverhältnis zwischen Logos und Lautlichkeit, wenn der Körper gegen die Formgebung des Figürlichen ankämpfte, fundamental in Frage gestellt. In Schleefs Inszenierung ging so „der stimmlich entfesselte Affekt […] über die Bindung an den dramatischen Kontext und eine spezifische Gruppe hinaus und [wurde] trägerlos.“278 Schleefs Aufführung widersetzte sich eindeutigen Kategorisierungen, indem der Chor weder einem historisch überlieferten Bild, noch einer fiktiven Figur erkennbar zugeordnet werden konnte. Form- und Fassungslosigkeit wurden infolgedessen zu einem strategischen Motor, der gegen kulturelle Prägungen rebellierte und den bis in die Antike zurückreichenden Dualismus von Körper und Geist irritierte. Die Irritation manifestierte sich umso eindringlicher am Versuch, die Schmerzen der Chorklage verstehen zu wollen.279 Als Phänomen, das Körper- und Sprachliches in einem empfindsamen und bedeutungsvollen Sprachkörper vereinte, rief der Chor permanent die intuitive Kluft zwischen mentalem Innenleben und physischer Realität auf. Der Chor machte das Leib-Seele-Problem als Grundpfeiler einer Philosophie des Geistes in seiner Erschütterung erfahrbar. 3.2.2 Die Sinnlichkeit des Kollektiven In Schleefs Chortheater zeigte sich ,Kollektivitätʻ als Grundlage eines theatralen Prozesses mit gesellschaftlicher Reichweite und in einer Ambivalenz, in der sich Momente des Aufbruchs und der Gewalt vermengten. Schleef theatralisierte die ohnehin konfliktuöse Situation zwischen Chor und Einzelfiguren weiter, indem er die beschriebenen Auseinandersetzungen betonte und zwischen Bühne und Publikum verhandelte. Seine Chöre überwältigten und verstörten. Durch die Akzentuiertheit des Sprechens konnten die Schleefschen Chöre faszinieren und die Zuschauer*innen mitreißen; durch ihren verausgabenden körperlichen Einsatz aber auch Befremden auslösen. Der unerbittliche Rhythmus erschütterte dann ein Publikum, das die Chöre als Fremdkörper wahrnahm. Nicht selten sorgten Schleefs Chöre für vernichtende Kritiken oder riefen den Vorwurf einer faschistoiden Ästhetik hervor.280 Schleef selbst kritisierte diese einseitigen Interpretationen des Chores seiner Zeit: „Chor-Bildung und Chor-Einsatz werden heute ausschließlich politisch interpretiert, gehören einer linken oder rechten totalitären Gesinnung an. Die Irritierung und Erregung, die von einer 276 An das Leib-Seele-Problem (auch Körper-Geist-Problem) schließt sich eine weitreichende geisteswissenschaftliche Debatte an. Siehe dazu Hermann Schmitz, Die Weltspaltung und ihre Überwindung, Rostock 2012. 277 Dreyer, Theater der Zäsur, S. 207. 278 Ebd., S. 204. 279 In einer Besprechung der Inszenierung hieß es: „Verstanden haben wir nichts, gelernt aber wieder einiges: „Io“ heißt Schmerz, „Ai Ai“ etwa dasselbe, […].“ Henrichs, „Stöhn heul kreisch“, in: DIE ZEIT vom 28.02.1986. 280 Zur Entkräftigung dieser Anschuldigung siehe Dreyer, Theater der Zäsur, S. 213f.
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Gruppe gemeinsam sprechender Menschen ausgehen, werden nur noch als erschreckende Bedrohung empfunden, die an längst überwundene Zustände erinnert.“281
Schleefs Chöre wurden – auch vor dem Hintergrund einer bis dahin gänzlich anderen Aufführungspraxis chorischen Theaters – als intensive Konfrontationen empfunden und riefen beim Großteil des Publikums Widerstand und Ablehnung hervor. Während uneingeschränkter Wohlgefallen äußerst selten zu diagnostizieren war, lösten sie jedoch eine spezifische Ergriffenheit aus. Im positiven wie negativen Sinn wirkte Schleefs Chor-Theater auf eine ganz spezielle Weise affektiv und überwältigend, so dass man sich der Wirkung seiner Chöre – weder in die eine noch die andere Richtung – entziehen konnte. Matthias Warstat zufolge findet sich allerdings auch bei Schleef die Tendenz wieder, Gemeinschaft als etwas zu denken, das von außen eingenommen werden kann: „In der Aufführung begegnet das Publikum dem Chor und wird von dessen rhythmischem Sprechen verunsichert, abgestoßen, attackiert oder mitgerissen. Aus der Perspektive des wahrnehmenden Subjekts ist der Chor auch bei Schleef eine Gemeinschaft, die von außen kommt – um dann als etwas Fremdes, Bedrohliches abgewehrt, manchmal aber auch angenommen bzw. internalisiert zu werden.“282
Andere sehen Schleefs Chöre als weniger abgeschlossene Entitäten. Günther Heeg und Ulrike Haß betonen etwa die bewegende Vielheit und das Relationale der ambivalenten Kollektivformationen. So thematisiert Heeg die „unabschließbare Bewegung aus Ausstoßen und Ausgestoßensein, Opfern und Geopfertwerden“ und damit ein „Konfliktfeld ohne Aussicht auf (Er)Lösung.“283 Haß spricht von Schleefs Chorformation als Figur, „die sich in ihrer Pluralität nicht zum Objekt des Blicks eignet.“284 Schleefs Neuerfindung des Chores resultiert nicht aus einer Nachahmung der antiken Aufführungspraxis, sondern aus einer „Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten ihrer Übertragung auf das moderne Theater.“285 Genau aus dieser Reibung ergeben sich mannigfaltige Anknüpfungspunkte für eine Praxis chorischen Protests. So fragt sich in Anlehnung an das chorische Theater Einar Schleefs, wie aktuelle Protestformen zwar Bezüge zum antiken Chor herstellen, ihn dennoch nicht imitieren, sondern über dessen Nachahmung hinausgehen. Wenn Schleef von Marginalisierten, Drogensüchtigen, Geflüchteten oder der „Zerreißspannung“ schreibt, die die antike Tragödie definiere und „sich heute in Radikalen-Aufmärschen“ artikuliere, 286 klingen seine Ausführungen in Anbetracht aktueller Protest-Phänomene wie Pegida überaus relevant. 281 Schleef, Droge Faust Parsifal, S. 8. 282 Warstat, „Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe“, S. 20. 283 Günther Heeg, „Einsamkeit. Schnittstelle“, in: Oberender, Thomas/Ulrike, Haß (Hrsg.), Krieg der Propheten. Zur Zukunft des Politischen II, Berlin 2004, S. 56-88, S. 63. 284 Haß, „Chor“, S. 51. 285 Dreyer, Theater der Zäsur, S. 196. 286 Schleef, Droge Faust Parsifal, S. 19.
182 | Chor
3.2.3 Der Chor als konfliktreiche, antibürgerliche Form in Auflösung In Schleefs Auseinandersetzung mit der chorischen Form ist der tragische Konflikt nicht – wie es einer faschistischen Ästhetik entsprechen würde – zugunsten einer Masse getilgt, sondern bleibt beständig existenziell und damit ungemein aktuell. Dabei übernimmt der Chor, gerade indem er labil, gefährdet und prekär erscheint, eine besondere Funktion. Eine entscheidende Kategorie Schleefs „Theater des Konflikts“287 ist demnach die Krankheit des Chores, die in zweierlei Hinsicht auf notwendiges Handeln hindeutet: Zum einen ist der Chor eine unbestimmte Gemeinschaft, der immer ein tragischer Konflikt eingeschrieben ist. Das kontinuierliche Ausgestoßensein und Ausstoßen bietet eine Erklärung dafür, warum sich der Chor nie als feste Entität konstituiert. Zum anderen ist der Chor in bewegungsvolle Prozesse des Werdens eingeschlossen, in denen sich mit der Organisation der gemeinsamen Verfassung postidentitäre Strukturen ebenso andeuten wie ein transformatives Potenzial für Wandel. Schleef inszenierte den Chor als beharrlichen Störfaktor der Repräsentation, indem er den Chor selbst als antibürgerliche Form stilisierte. Sein chorisches Theater enttäuschte etwa in Die Mütter ein Publikum, das identifizierbare Zeichen und eindeutige Botschaften suchte. Im Gegenteil ließen seine Aufführungen keine Beruhigung oder Vergewisserung zu, sondern trugen den konfliktreichen Antagonismus zwischen Individuum und Gemeinschaft beständig aus. Grundlage dieser gestörten Identifikationschancen stellte die Tragödie dar, die selbst einen Prozess des Aufbegehrens abbildet. Entsprechend konnte anhand der mit der Entwicklung der Tragödie verbundenen Entstehung des Chores gezeigt werden, wie in der antiken Tragödie das Subjekt die Bühne betritt und sich dort gegen eine mythische Ordnung von schicksalhafter Gewalt absetzt. Die Tragödie selbst beschreibt daher eine Zäsur, in der sich das Subjekt emanzipiert. Schleef weitet diese emanzipatorische Perspektive, die Lehmann für das Subjekt benennt,288 auf das Kollektiv aus. Der Chor dient ihm dazu, die Individuation als Tragödie des Einzelnen auszuweisen, der Teil des Ganzen und Mitglied der Gesellschaft ist, ihr gleichzeitig jedoch auch entgegensteht. Dieses zerreißende Dilemma, das einen zentralen Konflikt des Menschen ausmache, kann für Schleef nicht ohne den Chor dargestellt werden. Wenngleich sich andeutet, dass die Erfahrung von Gemeinschaft eine Utopie bleiben muss, bezieht sich die Auseinandersetzung auf bürgerliche Identitätskonzepte, ohne anzugeben, was diese trotz aller dargestellten Konflikthaftigkeit ersetzen könnte. Schleefs Idee eines konsumierbaren und doch nicht vollständig kontrollierbaren Zusatzes, der Droge, wirkt nur als schwacher Trost und wenig zufriedenstellender Lösungsansatz. Ließe sich der Antagonismus zwischen Individuum und Gemeinschaft auflösen, eine Entgrenzung Einzelner und zugleich ihre Teilnahme an der Gemeinschaft ermöglichen, wenn der Konflikt nicht länger an identitätspolitische Kategorien gebunden bleibt?
287 Schmidt, Tragödie als Bühnenform, S. 16f. 288 Lehmann spricht in diesem Zug von einem „Tempus des Subjekts“ und schreibt: „Der Schauspieler hält gleichsam die Zeit des Mythos an, indem er sie mit seiner Stimme und seinem Körper skandiert […].“ Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos, Stuttgart 1991, S. 60.
Repräsentation | 183
3.2.4 Der Chor als ästhetische Gewalt Schleefs Chöre machten auf erschreckende Weise die gewaltvollen Eigendynamiken des Chores erfahrbar. Sie konfrontierten das Publikum offensiv mit der Gewalt chorischer Resonanzverstärkung und führten vor, wie sich die Marginalität des Chores umkehren kann, wenn alle Choristen gemeinsam einen Text sprechen und sich die Wirkung des Vorgetragenen um ein Vielfaches vergrößert. Im Kunstrahmen des Theaters stellte Schleef die ästhetische Gewalt des Sprechens als körperlichen Sprachakt aus und steuerte bewusst jenes Unbehagen an, das sich hinter der physisch messbaren Bündelung akustischer Schallwellen verbirgt. Es kann angenommen werden, dass Schleef dadurch durchaus die bedrohlichen Auswirkungen von Prozessen der Gleichschaltung vergegenwärtigen wollte, die Rosa als Prozesse des Aufschaukelns beschrieben und in krassester Steigerung mit dem Begriff der Resonanzkatastrophe bezeichnet hat.289 Neben synchronisierten Bewegungsabläufen des Gleichschritts und militärischer Ordnung kamen den Wirkungen der Sprache weitreichende Bedeutungen zu, die Schleef in zwei Richtungen dachte: eine positive, genussvolle und eine weniger erfreuliche, schmerzerregende. So unterstrich er, dass „Ausformulieren von Sprache etwas mit Genuß zu tun hat, auch mit schmerzvermehrendem, nämlich wie schmerzvermehrend man den Nagel ins Fleisch treibt.“290 An anderer Stelle schreibt er: „Sich dem Sog des Gedichts, der Musik zu widersetzten, verhindert Genuß, schränkt ihn ein.“291 Bezieht man Schleefs Idee des Sogs auf den sprachlichen Vortrag des Chores und die daraus resultierenden sinnlichen Wirkungen, kann dahinter ein dynamisches Mitgehen, die Möglichkeit einer einnehmenden Überwältigung bei Zuschauer*innen vermutet werden. Denn „[d]aß Sog Sog ist, erfährt jeder, wenn er nicht mehr Subjekt, sondern Objekt der Welle ist.“292 Durch Verfahren sprachlicher und körperlicher Selbstbehauptung kann sich in der chorischen Form – selbst im scheinbar schwachen Moment der Klage – ein Akt der Emanzipation verbergen. Auch Dreyer zufolge ist das wütende Klagen dann „weniger eine Erfahrung der Ohnmacht, sondern ein Akt des Aufbegehrens, ein Aufbruchsereignis, mit dem der Chor auch gegen seine Marginalisierung angeht. In der Äußerung von Schmerz erlangt der Chor eine Möglichkeit, hervorzutreten.“293 Schleefs Chöre stilisierten sich als Fremdkörper, die die Wirkungsebenen des Ästhetischen und Politischen notwendigerweise aufeinander bezogen. In dieser Weise versuchte Schleef, die tragische Form des antiken Chores nicht zu imitieren, sondern zu aktualisieren. Die Aufführung des Chores war bei Schleef daher „weder ein Reenactment des antiken Rituals, noch wird sie in die lebensweltliche oder ästhetische Konvention integriert, vielmehr stellt sie ein Ereignis sui generis dar.“294 Idealisierungen der Antike als Vorbild moderner Demokratie wurden dort negiert, wo der
289 290 291 292 293 294
Vgl. Rosa, Resonanz, S. 283. Schleef, Droge Faust Parsifal, S. 116. Ebd., S. 119. Ebd. Dreyer, Theater der Zäsur, S. 200. Ebd., S. 197.
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Chor keine intakte Gemeinschaft darstellte, sondern ihre Störungen und Fehler, die Schleef in seiner Theorie mit dem Begriff des „Kranken“ in Verbindung brachte. Durch die inszenierte Fremdheit des Chores wurden zugleich die Narrative der westlichen Zivilisationsgeschichte dekonstruiert und für einen neuen Erfahrungsraum geöffnet. Alle Beteiligten der Aufführung mussten eigene Positionen als Teil oder Ausgeschlossene einer Gemeinschaft finden. Der Chor wurde selbst als eine Art chorischer Protestraum erfahren, in dem über Themen verhandelt wurde, die jenseits gesellschaftlichen Konsenses lagen. In ähnlicher Weise wie Schleef nicht zwischen dem Chor als ästhetischem Phänomen und realen politischen Gruppierungen differenzierte, wurde die politische Wirkung der Chor-Form deutlich hervorgehoben. An die scheinbare Unaufführbarkeit des Chores koppelte sich im Prozess der Chor-Werdung, im Chorischen also, die latente Ahnung einer bedeutungsvollen politischen Kraft, die als ständiges Ringen um eine Form offenbar wurde. Probe, Versuch und Experiment kennzeichnen die außerordentliche Potenzialität des Chorischen. Wenn man den Chor in Anlehnung an Giorgio Agambens und Jean-Luc Nancys Gedanken zur ,kommenden Gemeinschaft‘ neu denkt, seine restaurative Rolle zurückstellt und ihn nicht länger als Rollen-Figur entwirft, wird es möglich, den Chor als etwas diesen Traditionen Vorgängiges zu konzipieren.295 Mit dem Chor verbindet sich dann zugleich die Aufgabe eines Werdens: Das Chorische ist im Sinne Nancys dann stets der ‚kommende Chor‘, der „nicht ins Werk gesetzt werden kann, der niemals sein wird.“296 Bei Schleef behauptet sich der Chor gegen seine Verdrängung. Er probt den Aufstand und affiziert, indem er sich als Figuration des Widerstands sinnlich spürbar aufführt und sich das Publikum seiner nicht entziehen kann. Am Beispiel des dionysischen Pathos hat Dreyer jedoch dargestellt, wie der Chor dabei in seinem eigenen Kosmos gefangen bleibt: „Der Chor – also auch das Kollektiv oder die Gemeinschaft – kann sich nicht befreien, ohne seiner eigenen Gewalt zu unterliegen. […] Die kollektive Gewalt stellt die Macht dar, die Verhältnisse zu ändern; umgekehrt verursacht das pathetisch geladene kollektive Aufbegehren jene Gewalt, gegen die sie sich wendet.“297 Der Chor operiert mit der Macht der Ausgeschlossen, die in der Lage sind, einen besonderen Beziehungsmodus herzustellen, sich als Ausnahmezustand zu materialisieren. Diese machtvolle Dynamik entwickelt allerdings nicht nur befreiende Kräfte, sondern wirkt in ihrer Vehemenz immer auf den gesamten Chor-Körper zurück. Der Chor verweist damit auf eine Geschichte des Kollektiven als Spannungsverhältnis aus historischer Gewalt und befreienden Bewegungen. Selbst wenn Chöre darauf drängen, im Bereich des Gegenhegemonialen zu operieren, fragt sich, ob sie sich nicht angreifbar machen, wenn sie vordergründig die ästhetische Macht der Überwältigung nutzen. Bisher wurde deutlich, dass sich die Geschichte des Chores als Geschichte der Formen und Techniken zur Organisation von Kollektiven nicht nur im Theater schreibt. Im Hinblick auf die politische Organisation des Gemeinsamen deuten sich Verbindungen zwischen einer politischen Protestgeschichte und künstlerischen Ver295 Siehe Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2003. 296 Beyer, „Einar Schleef“. 297 Dreyer, Theater der Zäsur, S. 219.
Repräsentation | 185
fahren des Chores an. In Auseinandersetzung mit der Wirkungsgeschichte chorischer Formen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Proteste politische Veränderung subversiv und glaubwürdig nur auf Grundlage einer selbstzentrierten, institutionellen Kritik antizipieren können. Im Anschluss an die bisher dargestellte Entwicklungsgeschichte des Chores und seine politische Instrumentalisierung muss sich eine aktuelle chorische Praxis demnach auch mit den eigenen Darstellungsverfahren auseinandersetzen. Um zu dieser selbstreflexiven Grundhaltung gegenüber eigenen Verfahrensweisen zu finden, soll im Folgenden die wechselvolle Geschichte des Protestierens in den Mittelpunkt rücken. Dabei steht im Zentrum, welche Transformationen in der Bewegungsgeschichte erkennbar werden, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts dazu führen, dass gerade chorische Protestverfahren durch die Fokussierung ihrer eigenen Prozesshaftigkeit eine kritische Praxis politischen Handelns ermöglichen.
III Protest
„Für Gesellschaften, die eine Krise durchmachen – und was ist ein so beschleunigter Prozeß des Wandels, der in die Grundlagen der Ordnung einschneidet, anderes als eine Krise? –, für solche Gesellschaften macht es viel aus, wieweit sie politische Möglichkeiten der Zukunft schon in der Gegenwart zum Objekt offenen politischen Streits zu machen vermögen.“1
Proteste werden als Handlungen von Menschen konzipiert, die im privaten Rahmen ebenso wie als öffentliche Ereignisse Kritik an bestehenden Verhältnissen üben, indem sie durch verbalisierte Appelle oder in Form körperlicher Verweigerung Ablehnung an konkreten Zuständen offenbar werden lassen. Proteste kommunizieren Oppositionshaltungen, insofern sie sich mit eindeutig prägnanten Botschaften an eine breit angelegte, möglichst allgemeine Öffentlichkeit richten. Proteste entspringen dabei nicht nur dem Bedürfnis, Einspruch zu formulieren, sondern zielen darauf, ihn wahrnehmbar zu bekunden. Das öffentliche Protestieren gegenüber Sachverhalten verweist damit einerseits auf die Existenz unterschiedlicher politischer Standpunkte, die Teil konfliktueller gesellschaftlicher Stimmungen werden können. Andererseits bündeln Proteste Meinungen, die Akteur*innen in Bündnissen und Interessengemeinschaften konkretisieren und erscheinen dann als meist zugespitzte Widerspruchshandlungen, die sich als ausschnitthafte Beiträge einer Vielfalt unterschiedlicher Positionen präsentieren. Meist als koordinierte Aktionen organisiert verbinden sich mit dem Interventionscharakter von Protesten spontane Markierungen oder temporäre Brüche mit normativen Strukturen. Je nach Ausmaß der Ablehnung können unterschiedliche Intensitäten von Protesthandlungen differenziert werden. Protestformen werden so beispielsweise nach dem Grad der Verweigerungshaltung und der Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt unterschieden. Nicht nur mit dem Ziel Widerstand zu erzeugen, sondern systemische Ungerechtigkeiten sichtbar werden zu lassen, operieren Protestierende ideengeleitet und wirkungsorientiert. Als öffentliche Zeug*innen vertreten Pro1
Christian Meier, „Zustände wie im alten Rom? Eine andere Epoche des Übergangs und der Ratlosigkeit“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 51. Jg., Nr. 580 (1997), S. 569-580, S. 570.
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testierende Positionen, stehen absichtsvoll ein, verkünden laut, sprechen im Jetzt aus, was noch nicht ist oder mahnen die gesellschaftliche Relevanz ihrer Anliegen an. Augenscheinlich visieren Proteste in ihren Vollzügen zukünftigen Wandel an. Während sich von individuellen Protestformen zu Protestaktionen schwarmartiger Kollektive zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine breite Palette möglicher Ausdrucksformen von Protest erahnen lässt, liegt die Vermutung nahe, dass sich Formen, Mittel und Strategien wie Protest ausgedrückt wird, in unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten verschieben. Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, wie die Art und Weise Protest zu äußern und das Verständnis von Protest als „Verklammung von strategisch-kalkuliertem und expressivem Verhalten“2 mannigfaltigen Transformationsprozessen unterworfen ist. Als spezifische Form politischen Handelns scheint sich Protest aus einer Koalition mit sozialen Bewegungen zu lösen und gänzlich von institutionellen Strukturen politischer Organisation zu befreien. Sind Proteste zunächst ganz allgemein als politische Handlungen im öffentlichen Raum konzeptualisiert, gilt es im Folgenden, das transformative Potenzial von Protest als gegenwärtiges Bewegung-Sein herauszuarbeiten und zu überlegen, wie diese Qualität, die ihren Antrieb wesentlich aus einer performativen Praxis schöpft, durch theaterwissenschaftliche Methoden analytisch gefasst werden kann. Aus der Etymologie des Wortes ,protestieren‘ ergeben sich mit der Betonung besonderer Darstellungsweisen öffentlichen Bekundens und akzentuierten Darbietens zentrale Untersuchungsgegenstände der Theaterwissenschaft. Bisher wurde den stark performativen Dimensionen von Protest, an die sich unmittelbar Fragen nach den konkreten Formen von Protesthandlungen anschließen, aus der sozialwissenschaftlichen Protest- und Bewegungsforschung allerdings nur unzureichende Aufmerksamkeit geschenkt. Auf den drei Ebenen Bewegung, Affekt, Ereignis spürt dieses Kapitel dieser Leerstelle nach. Dabei geht es um die Leitfrage, auf welche Weise heutige Protestakteur*innen eigene Bewegungen initiieren, die die traditionellen Eigenschaften sozialer Bewegungen konfigurieren. Indem sie sich von institutionellen Rahmen lossagen, stellen gegenwärtige Protestbewegungen weniger politische Systeme als ihre eigenen Vorgehensweisen immer häufiger in Frage. Um also zu klären, wie sich Protestierende Formen der Subjektivierung entgegenstellen, Mechanismen politischer Repräsentation und identitärer Zugehörigkeit kritisch dekonstruieren – folglich intervenieren, indem sie selbst zu Bewegung werden –, soll wie folgt vorgegangen werden: Erstens wird sich dem Verständnis von Protest entlang der Entwicklung politischer Bewegungen genähert. Da ein direkter Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Spannungen, sozialen Konflikten und konkreten Auflehnungsbewegungen zu bestehen scheint, haben historische Protestereignisse gezeigt, wie die Artikulation und Demonstration von Widerstandshandlungen weitreichende Bewegungen auszulösen vermochte.3 Waren die Sklav*innenaufstände der Antike und auch die Bauern2
3
Alf Lüdtke, „Protest – oder: Die Faszination des Spektakulären. Zur Analyse alltäglicher Widersetzlichkeit“, in: Volkmann, Heinrich/Bergmann, Jürgen (Hrsg.), Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichsgründung, Opladen 1984, S. 325-341, S. 329. Mit der Speyerer Protestation steht ein historisches Ereignis am Beginn dieses Kapitels, das es ermöglicht, den eigenen europäischen Standpunkt zu reflektieren. Es sei daher angemerkt, dass sich diese Arbeit ihrer durchaus eurozentristischen Perspektive bewusst ist, in-
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revolten des frühen 16. Jahrhunderts als vormoderne historische Bewegungen noch um die Wiederherstellung alter Ordnungen bemüht, deutet sich mit der Reformation der Aufbruch in eine neue Zeit an. Im Zentrum steht dann die enge Verbindung des Protestbegriffs mit dem der sozialen Bewegung sowie die Frage, warum situationsbedingte Möglichkeiten der Mobilisierung erst in der Moderne entstehen. Welche Reichweiten und Grenzen offenbart der Bewegungsbegriff für die Analyse von Protest? Welche Chancen für die Beschreibung politischen Wandels birgt er? Zweitens sollen mit dem Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen die Transformation historischer Auflehnungs- und Organisationsformen und identitätspolitische Neuerungen in den Mittelpunkt rücken. Ein Blick auf künstlerische Strömungen des 20. Jahrhunderts soll erhellen, wie insbesondere in den 1960er Jahren innovative Impulse und subtile Formen des Widerstands gerade in theatralen Kunstfeldern vorbereitet werden. Indem sie die Gesellschaft neu inszenierten oder zu einem Machtkampf mit gesellschaftlichen Ordnungen aufforderten, ergaben sich im Zuge einer Politisierung von Kunst vielfältige Wechselwirkungen kritischer Künstler*innen, die zum Teil selbst als Protestbewegungen in Erscheinung traten. Zugleich werden die wissenschaftlichen Zugänge der zu dieser Zeit aufkommenden Protestund Bewegungsforschung zusammengetragen und ein Einblick in deren soziologische Theoriebildung gewährt. Hier fragt sich, welche Defizite bei der Erforschung von Protesten erkennbar werden. Welches Potenzial offenbart im Gegensatz zu den überwiegend rationalistischen Erklärungsmodellen der Protest- und Bewegungsforschung eine Fokussierung der affektiven Dimensionen von Protesthandlungen? Drittens rückt – abseits des Verlangens, Protestbewegungen klassifizieren zu wollen – die besondere Ereignishaftigkeit von Protesten, Protest als Ereignis, ins Zentrum. Während es dann darum geht, den Wandel von Protestformen als Proteststrategien zu Beginn des 21. Jahrhunderts darzustellen, wird die Frage gestreift, wie die Kulturgeschichte des Protestierens selbst kontinuierlichen Entwicklungen fortschreitender Medialisierung unterworfen ist und andauernd von richtungsweisenden Transformationen im Kommunikationsverhalten flankiert wird. Mit Blick auf die sich tiefgreifend verändernden Verfahren medialer Visualisierung und Repräsentation von Protest ergeben sich unaufhörlich neue Fragen, die dazu auffordern, das Verhältnis ereignishafter Protestszenarien, ihrer Aufführung und Mediatisierung neu auszuloten. Dort, wo Protestieren maßgeblich an die Entwicklung professionalisierter Berichterstattung oder die Reorganisation der öffentlichen Sphäre gebunden bleibt, fragt sich, welche Widerstandsfelder sich Proteste abseits der Produktion spektakulärer Bilder und ihrer visuellen Verankerung überhaupt (zurück)erobern können. Bleibt Protest an die Etablierung eigener Institutionen gebunden, um durch verfestigte Strukturen der Kollaboration dauerhaft wirken zu können? Welche analytischen Chancen ergeben sich, wenn Protestereignisse als Aufführungen begriffen werden? Und welchen Beitrag kann die Theaterwissenschaft für die Untersuchung von Protessofern, als dass es im Folgenden zunächst nur um die Rekonstruktion eines Protestbegriffs gehen kann. Im Bewusstsein um die Beschränkungen und Grenzen dieser Perspektive wird es daher nicht darum gehen können, die eklatanten Widersprüche und Defizite zwischen einer Ideengeschichte der Demokratie und der in ihr auf verschiedene Weisen gelebten Wirklichkeiten aufzudecken.
190 | Protestchöre. Zu einer neuen Ästhetik des Widerstands
ten leisten, um das politische Handeln pluraler Akteur*innen zu erklären, das zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht länger an etablierte Einflusssphären oder bereits bestehende Institutionen gebunden scheint?
1. BEWEGUNG „Indem Bewegungen Bewegungen lenken und koordinieren, indem sie sie umlenken und anders koordinieren, können sie auch qualitative Veränderungen, die Auflösung alter und die Entstehung neuer Phänomene und Ordnungen anstoßen. In jedem Fall aber lassen sie mit jeder Richtungsänderung, jeder Wendung, die sie einander geben, die Auflösbarkeit des Alten und die Eventualität des Neuen evident werden.“4
Die in der Etymologie des Wortes ,Protestʻ angelegten Bedeutungen sind mannigfaltig und entziehen sich ähnlich wie die vielfältigen Ausdrucksformen von Protest einer generalisierenden Zusammenfassung. Dennoch zeigt die Geschichtsschreibung, wie sich öffentliche Protestereignisse als verbale und nonverbale Widerspruchshandlungen über das individuelle Bekunden hinaus zu systematischen Bewegungen verdichten lassen oder als solche durch die Protest- und Bewegungsforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachträglich zusammengefasst wurden.5 Der Versuch politische Bewegungen zu systematisieren, birgt aus theaterwissenschaftlicher Perspektive eine Reihe von Problemen. Kritisch erscheint vor allem die Tatsache, unter ,Bewegungʻ die abstrakte Formierung politischer Subjekte zu verstehen. Dadurch wird der Blick von konkreten körperlichen Aktionen abgelenkt, die Protestieren im herkömmlichen Sinn gleichsam als eine Praxis der Ko-Präsenz von Akteur*innen und Zuschauer*innen auszeichnet. Werden die körperlichen Vollzüge des Protestierens vernachlässigt, wird auch der Körper als tatsächlicher Agent von Protesthandlungen und seine Fähigkeit, koordiniert mit anderen zu handeln, nur sträflich beachtet. Vielfältige Beispiele der Protestgeschichte zeigen jedoch, wie Protestierende das Potenzial gemeinsamen körperlichen Handelns erkannten, um in Form von Massenaktionen mit vielen Teilnehmenden die Aufmerksamkeit auf Anliegen marginalisier-
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Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels, „Übertragungen. Eine Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), SchwarmEmotion, S. 7-63, S. 8. Zu einer allgemeinen Übersicht sozialer Bewegungen siehe Joachim Raschke (Hrsg.), Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriss, Frankfurt a.M./New York 1985; Della Porta, Donatella/Kriesi, Hanspeter/Rucht, Dieter (Hrsg.), Social Movements in a Globalizing World, London/Hampshire 1999; Charles Tilly, Social Movements: 17682004, Boulder 2005; Thomas Kern, Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen, Mechanismen, Wiesbaden 2008; Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a.M./New York 2008.
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ter Interessengruppen zu richten.6 Protest konnte Druck vor allem dann erzeugen, wenn Gleichgesinnte den Impuls einer gemeinschaftlichen Bewegung nutzten, um politischen Einfluss auf Entscheidungsträger*innen auszuüben oder durch direkte Aktionen konkrete Veränderungen herbeizuführen. Eine etymologische Annäherung an den Protestbegriff verdeutlicht, wie ,protestieren‘ in seiner Eigenschaft sowohl Unmut, Ablehnung oder Einspruch gegen etwas zu äußern, als auch in der Art und Weise für Ideen, Meinungen und Überzeugungen einzutreten, immer schon stark performative Eigenschaften vereinte.7 Bereits im spätmittelhochdeutschen Verb ,protestieren‘ findet sich die Bedeutung ,erklären, darlegenʻ, deren Wurzeln auf das lateinische prōtestārī zurückgehen, das für ,Zeugnis ablegen, öffentlich beweisen, dartunʻ steht. Das testārī in prōtestārī hebt als Wortkern deutlich die aktionistische Dimension des ,Bezeugens, Bekundens, Versicherns und Beweisensʻ hervor. Von besonderem Interesse erscheint, dass ,Protest‘ im 16. Jahrhundert auf eine gängige Praxis in der Kaufmannszunft verweist und damit auf eine sehr frühe Verflechtung von Kapital und Krise hindeutet.8 Im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache heißt es: „Die Verwendung des Verbs in der Kaufmannssprache ,Annahme oder Zahlung eines Wechsels verweigern‘ (16. Jh.) geht auf (ebenfalls aus dem Lat. stammendes) ital. protestare ,Verwahrung einlegen, erklären, versichern‘ zurück, das im genannten Sinne schon früh in der Geschäftssprache üblich wird. – Protest m. ,Beurkundung über die Verweigerung der Annahme oder Zahlung eines Wechsels‘ (16. Jh.), entlehnt als Wort der Kaufmannssprache aus gleichbed. ital. protesto, auch ,Verwahrung, Einspruch‘, gebildet zu ital. protestare (s. oben).“9
Die juristische Dimension von Protest als einem rechtsgültigen Akt des Einspruchs im Handelswesen erweitert sich zur Zeit der Reformation vor dem Hintergrund eines offensichtlichen Medienwandels. Als öffentliche Darlegung und Begründung einer 6
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Zu einer Kritik an der Protestforschung, die das Kriterium der Zahl für die Bedeutsamkeit sozialer Bewegungen heranzieht und deren Politizität am Mitgliederumfang bemisst, siehe Paul Wilkinson, Soziale Bewegungen. Von Rousseau bis Castro, München 1974, S. 17: „Einige der interessantesten Bewegungen begannen als kleine Minderheiten und blieben kleine Minderheiten. Ihre ,Bedeutsamkeit‘ liegt nicht in der Rekrutierung großer Bataillone, sondern darin, daß sie Träger von Ideen, daß sie Vorboten kultureller und intellektueller Entwicklungen waren.“ Die Etymologie soll hier ursprüngliche Bedeutungsdimensionen sowie frühere Einsatzbereiche des Protestbegriffs freilegen. Durch die Berufung auf eine angenommene Herkunft des Wortes ,Protestʻ soll sie als objektiver sprachlicher Sachverhalt auch der eigenen Argumentation dienen. Zur Bedeutung und Anwendung von Protest im Handelswesen siehe auch Ebeling, Christoph Daniel/Brodhagen, Peter Heinrich Christoph (Hrsg.), Gottfried Christian Bohns wohlerfahrener Kaufmann, Hamburg 1789, S. 502f; Friedrich Heinrich Wilhelm Ihring, Der praktische Kaufmann, oder Anweisung zur gesammten Handelswissenschaft, Halle 1801, S. 140. Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS), „protestieren“, abrufbar unter: http://www.dwds.de/wb/protestieren#et1 (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
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abweichenden Meinung wird Protest wie im Fall der Kaufleute nicht mehr nur als offizielles Schriftstück ausgehändigt, übersandt oder verlesen.10 An historischen Protestereignissen wie der Protestation zu Speyer kann gezeigt werden, wie sich Verfahren des Einspruchs über die üblichen Rechtsmittel des Protests hinaus erweitern. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts scheint sich daher ein wegweisender Wendepunkt in der Bedeutungsgeschichte des Protests anzudeuten. Vor dem Hintergrund einer bis zu diesem Zeitpunkt vornehmlich schriftlich entäußerten Protestkultur kündigt sich zur Zeit der Reformation an, wie Protesthandlungen über das bis dahin gewöhnliche Maß des Einspruchs hinausgehen und in Folge selbst tiefgreifende Veränderungen auslösen. Der historische Hintergrund der Speyerer Protestation ist folgender: Im Jahr 1529 tagt unter Leitung König Ferdinands, dem Bruder Kaiser Karl V., der zweite Reichstag zu Speyer. Den Reichsstädten und Ländern im Heiligen Römischen Reich, die die Reformation vollzogen hatten, war bereits im Reichsabschied von 1526 Rechtssicherheit zugesagt worden. Da die Reformation die politischen Akteure spaltet, zu erheblichen Spannungen führt und den Frieden des Landes bedroht, soll der alte Beschluss auf Druck des Kaisers zurückgenommen werden. Gegen die Aufhebung des Reichsabschieds von 1526 protestiert am 19. April 1529 eine evangelische Minderheit von sechs deutschen Fürsten und 14 Reichsstädten. Die Protestation wehrte sich gegen die gesetzmäßige Überlegenheit des Stärkeren. Im Namen des Gewissens argumentierten die Protestanten gegen eine unwiderrufliche Ordnung, die nur durch gesetztes Recht galt. Ihr Protest formulierte demnach nicht mehr nur eigene Wünsche, sondern forderte zu einer Aussetzung des Allgemeingültigen auf.11 Gerade dort, wo das Handeln der Protestanten die Betonung der eigenen Position verließ, sie nicht mehr Ausnahmen gegen das Recht einforderten, sondern Ansprüche formulierten, die eine In-Fragestellung des gesamten (Glaubens-)Systems samt tiefgreifender Destabilisierungen bewirken konnten, verwies ihr Agieren auf eine Politisierung ihres Protests: Ihr Protestieren war der Rede nach nicht mehr nur öffentliches Bekunden, sondern äußerte sich in einem ,modernen‘
10 Eine Vielzahl solcher Protestationsschriften mit Darlegungen unterschiedlicher Einsprüche findet sich in politischen Journalen dieser Zeit, die auch zu anderen entscheidenden Fragen in Buchform veröffentlicht wurden. Siehe etwa Johann Michael Weißbeck, Protestationsschrift: oder exemplarische Widerlegung einiger Stellen und Perioden der Kapellmeister Voglerischen Tonwissenschaft und Tonsetzkunst, 1783; Friedrich Christoph Dahlmann (Hrsg.), Die Protestation und Entlassung der sieben Göttinger Professoren, Leipzig 1838; Jacob Grimm, Jacob Grimm über seine Entlassung, Basel 1838. 11 Daniel Schenkel hat die Protestation in Speyer als Ausgangspunkt für eine allgemeine Charakterisierung des Protestantismus herangezogen. Ihre Bedeutung sieht der Vertreter des theologischen Liberalismus ausdrücklich im Angriff auf Prinzipien, die vor der Reformation noch galten: „Nun war […] die Religion nach hergebrachter […] Anschauung lediglich eine Angelegenheit der Repräsentativkirche. Das Recht des Subjektes, sey es eines collektiven, sey es eines individuellen, gegenüber dem Rechte der öffentlich anerkannten kirchlichen Autorität war in keiner Weise bis jetzt zugestanden.“ Daniel Schenkel, „Protestantismus“, in: Real-Enzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, hg. v. Johann Jakob Herzog, Bd. 12, Gotha 1859, S. 251-264, S. 252.
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Sinn explizit als Widersprechen, als Widerspruch gegen einschränkende Verbote normativer Strukturen.12 Mit der Berufung auf das Gewissen kam eine Bewegung in Gang, die den „Einsatzpunkt einer Entwicklung darstellt, den Grundimpuls, der dann erst in der Aufklärung und im Deutschen Idealismus zu sich selbst kommt, und der auf die Befreiung des religiösen Individuums von allen Instanzen der Fremdbestimmung in seinem Gottverhältnis führt.“13 Die Protestation zu Speyer stellt auch heute noch ein bedeutendes historisches Ereignis dar, das auf der einen Seite zeigt, wie Protest als Teil einer Bewegung in Erscheinung tritt und auf der anderen Seite deutlich macht, dass Protestieren mehr als ein selbstdarstellerisches Mittel der Empörung ist. Über das bloße Ausdrücken oppositionellen Verhaltens hinaus besitzen Proteste, die sich gegen Ordnungen traditioneller Herrschaft richten, selbst Agency.14 Ausgehend von der Speyerer Protestation ist es einer anfänglichen Protestbewegung durch weitere Schritte der Institutionalisierung gelungen, langfristige, bis heute sichtbare und dadurch überaus nachhaltige Wirkungen zu verstetigen. Die Etablierung des Protestantismus initiierte eine einschneidende Erneuerung des Christentums und der europäischen Kultur, die sich über nationale Grenzen hinweg in die Geschichte von Kirche und Staat gleichermaßen einschrieb. Institutionen und Individuen wurden seitdem mit neuen Fragen konfrontiert, deren politische Tragweite dadurch erwuchs, dass dem Bestehenden etwas Neues an die Seite gestellt wurde und sich aus der reformatorischen Bewegung eine eigene protestantische Glaubenskultur und Kirche bilden konnte.15 Dieser letzte Punkt der Verfestigung zunächst kleiner Initiativen schien lange Zeit als entscheidendes Merkmal für die historische Bewertung politischer Bewegungen. Da ,Protestʻ allerdings einer der Begriffe ist, die „trotz der durchgehaltenen Identität des Wortkörpers ihren temporalen Bedeutungsstreifen wechseln“,16 soll der Protestbegriff selbst zunächst inhaltlich durchdrungen und begriffsgeschichtlich analysiert werden. Um ihn als wichtigen Indikator der Sozialgeschichte zu verorten, sollen sein Sprachgebrauch, seine Bedeutungen und Bedeutetes sowie seine Nähe zu Bewegungsbegriffen der Neuzeit erfasst werden. 12 Vgl. Notger Slenczka, „Neuzeitliche Freiheit oder ursprüngliche Bindung? Zu einem Paradigmenwechsel in der Reformations- und Lutherdeutung“, in: Ders./Sparn, Walter (Hrsg.), Luthers Erben. Studien zur Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie Luthers, Festschrift für Jörg Baur zum 75. Geburtstag, Tübingen 2005, S. 205-244, S. 211. 13 Ebd. 14 Zum Begriff ,Agency‘, der hier im Sinne einer Befähigung zum gemeinsamen Handeln gebraucht wird, siehe aktuell auch Michael Bratman, Shared Agency. A Planning Theory of Acting Together, Oxford 2013; Sumi Madhok, Rethinking Agency. Developmentalism, Gender and Rights, London 2013; Als genereller Überblick zur Vielfalt von AgencyKonzepten siehe Stephanie Bethmann (Hrsg.), Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit, Weinheim 2012. 15 Vgl. Irene Dingel, „Die Speyerer Protestation von 1529 in ihren geschichtlichen Zusammenhängen“, in: Evangelische Kirche der Pfalz (Hrsg.), Protestantische Pfalz Texte, Speyer 2004, S. 19-32. 16 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 341.
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Im Anschluss wird es nicht darum gehen, eine Geschichte des Protests zusammenzufassen, die versuchte die Vielfalt möglicher Darstellungsformen mit einem einheitlichen Bedeutungskern zu synchronisieren. Im Gegenteil soll mit der Fokussierung von Bewegungen des Sozialen ein Umfeld nachgezeichnet werden, das den politischen Nährboden bereitete, auf dem Protest in der Moderne erstmals zum Ausdruck bürgerlichen Engagements werden konnte. Die historische Entwicklung spezifischer Protestformen wirkte unmittelbar auf politische Situationen und soziale Strukturen ein, gerade weil sie sie als veränderbar erkannte. Wie im Folgenden dargelegt wird, beschreibt ihre Rekonstruktion einen Transformationsprozess, an dessen Ende – so die These dieses Kapitels – Protest sich als freie Ausdrucksform selbst erst aus identitätspolitischen Zwängen emanzipiert. 1.1 Die Verzeitlichung der Geschichte in der Moderne Blickt man aus heutiger Sicht auf die Zeit der Reformation zurück, verortet sie sich auf einem gedanklichen Zeitstrahl der europäischen Geschichte im Spätmittelalter und damit zu einer Zeit, in der politische Transformationen neue soziale Kräfte entstehen lassen, welche die Neuzeit einläuten. Der folgenschwere Beginn der Reformation bringt neben der Spaltung der christlichen Glaubensgemeinschaft vielfältige Umwälzungen im wirtschaftlichen und kulturellen Leben mit sich.17 Während sich alte Ordnungen zersetzen, löst sich das aufscheinende bürgerliche Subjekt aus kirchlichen und sozialen Bindungen. Während ein mittelalterliches Imperium zerfällt, bilden sich neue Nationalstaaten heraus. Insbesondere die Bauernaufstände dieser Zeit geben der kritischen Lage ein Gesicht.18 Namentlich Martin Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen aus dem Jahr 1520 und seine Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche aus dem Jahr 1522 stehen im Zusammenhang mit dem Aufbegehren der dörflichen Bevölkerung. Luthers Wirken beunruhigt die Herrschenden, da es dem Unrechtsempfinden der Menschen in die Hände spielt,19 neue Spannungen erzeugt und schließlich 17 Zum Zusammenhang von Reformation und Geldwirtschaft, neuen Formen der Religiosität um 1500 unter der Leitmetapher des ,schlechten Geldes‘ siehe Philipp Robinson Rössner, Deflation – Devaluation – Rebellion. Geld im Zeitalter der Reformation, Stuttgart 2012. Hier sei auch an Max Webers kontrovers diskutierte Schrift zur Bedeutung der protestantischen Ethik für die Entwicklung des modernen Kapitalismus erinnert, siehe dazu Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1920 [1904/05]. 18 Der Deutsche Bauernkrieg (1524-1526) ist prominentes Beispiel einer Vielzahl sozialer Unruhen dieser Zeit. Er zeigt, wie sich Themen sozialer Ungleichheit und Einflüsse der reformatorischen Bewegung verbanden. Ausgehend vom süddeutschen Raum gab es zeitgleich eine Reihe ähnlicher Erhebungen in Österreich und der Schweiz. Die aufständischen Aktionen ländlicher Bevölkerungsschichten gegen die Obrigkeit traten nicht plötzlich auf. Die Unruhen bildeten sich als wiederkehrende Widerstandsaktionen heraus, die tiefgreifende gesellschaftliche Spannungen zu Tage förderten. 19 In einer Zeit wirtschaftlicher Not, in der das soziale Elend durch die als ungerecht wahrgenommene Herrschaft von Kirche und Staat als umso größer empfunden wurde, hatten Luthers Schriften zugleich eine Bildungsfunktion. Die „einfachen Leute“ konnten in der Übersetzung des Neuen Testaments nun nachlesen und erkennen, wie Adel und Klerus mit
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zur Distanzierung der evangelischen Stände von der römisch-katholischen Kirche führt. Nach Auffassung des Kaisers muss die Reformation zur Wahrung von Frieden und Einheit im Reich verhindert werden. Im Wormser Edikt von 1521 wird über Luther die Reichsacht verhängt und die Verbreitung seiner Schriften verboten. Johannes Kühn fasst die Stimmung wie folgt zusammen: „In der religiösen Frage hatte sich das Neue verselbständigt. Es beanspruchte eigenen Lebensraum und drohte, ihn zu erweitern. Aber das Alte wollte nicht weichen. Bei der engen Verknüpftheit des religiösen, gesellschaftlichen, politischen Lebens bedeutete das Neue eine Revolution.“20
Brüche und Erosionen bestimmen das Bild dieser Zeit, in der etwas Neues nach Vorne drängt und sich verselbständigt.21 Ohne den religiösen Überbau ergab sich die Chance, das eigene Leben selbst zu gestalten. Dieter Rucht formuliert entsprechend: „erst mit der ungeheuerlichen Idee, mit der Tradition, und darin mag jegliche Gottesvorstellung eingeschlossen sein, definitiv brechen zu können, wird der Weg frei für die Moderne, frei für eine von Menschen ersonnene und durch sie zu verwirklichende neue Gesellschaft […].“22 Diese neue Vorstellung, Gesellschaft als ein zu gestaltendes politisches Projekt zu begreifen, setzt sich zur Zeit der Reformation damit zu einem Zeitpunkt durch, an dem eine neue Erfahrung der Geschichte selbst zur Voraussetzung für einen grundlegenden Wandel wird. Entscheidende Parameter verschieben sich, indem sich die „neue Zeit“ im Kontrast zur vorangegangenen darstellt und diese Absetzung auch sprachlich verwendet wird. Faktisch kommt es zur Neuausrichtung des eigenen Standpunkts, der wiederum die zukünftige Geschichtsschreibung prägt. Der Historiker Reinhart Koselleck hat im Zuge seiner Überlegungen zur Semantik neuzeitlicher Bewegungsbegriffe in der Geschichtstheorie auf die Unterscheidung zwischen der sich ereignenden Geschichte und ihrer sprachlichen Artikulation als einer nachträglichen Fixierung hingewiesen. Die Bedeutung der Sprache im Prozess der Geschichtsschreibung präzisiert er als eine doppelte Differenz „zwischen einer sich vollziehenden Geschichte und ihrer sprachlichen Ermöglichung sowie zwischen einer vergangenen Geschichte und ihrer sprachlichen Wiedergabe.“23 Koselleck verdeutlicht die These vom Wandel der Geschichtserfahrung am Beispiel der faktischen Rückdatierung der Neuzeit aus dem 19. Jahrhundert durch die Gebrüder Grimm auf etwa vier Jahrhunderte davor.24 Er schreibt, der „bündige Begriff ,Neuzeit‘ hat sich
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„dem Willen Gottes“ Ansprüche zu ihrem Nachteil rechtfertigten. Dagegen spielte Luther den politisch wie ökonomisch Unterlegenen den Trumpf einer Ethik der Freiheit in die Karten. Johannes Kühn, Die Geschichte des Speyrer Reichstags 1529, Leipzig 1929, S. 190. Wenn Kühn in diesem Zusammenhang den Begriff der Revolution ins Spiel bringt, verwendet er ihn in seiner heutigen Bedeutung als gewaltige Umwälzung, die sich erst im späten 16. Jahrhundert durchsetzt. Bis dahin bezeichnete Revolution die Umdrehung der Planeten und anderer Himmelskörper in der Astronomie. Rucht, „Gesellschaft als Projekt“, S. 16. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 300f. Zum Begriff ,Neuzeit‘ und der Semantik moderner Bewegungsbegriffe, etwa jenem der Epochenschwelle um 1500, siehe Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 300-348.
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erst durchgesetzt, nachdem rund vier Jahrhunderte vergangen waren, die er als Einheit umfassen sollte.“25 Auf diese Weise wird dem Neuen retrospektiv der Sinn von etwas ganz Anderem und dadurch ein qualitativer Anspruch beigemengt, der dem Neuen zugleich „einen epochalen Zeitcharakter zumißt.“26 Geschichtsschreibung ist nicht länger als bloße Aneinanderreihung von Ereignissen zu denken. Koselleck schreibt: „Die Zeit bleibt nicht nur die Form, in der sich alle Geschichten abspielen, sie gewinnt selber eine geschichtliche Qualität. Nicht mehr in der Zeit, sondern durch die Zeit vollzieht sich dann die Geschichte. Die Zeit wird dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte selber.“27 Während die Zeit selbst zum Motor der Geschichte wird, kann Geschichte erfahren werden, indem Zeit nicht einfach vergeht, sondern sich in ganz besonderer Weise so und nicht anders vollzieht. Diese neue Zeiterfahrung der Geschichte intensiviert sich, indem Zeit – wie Hartmut Rosa es formuliert – „selbst nicht mehr als statisch, sondern als bewegt erlebt wird“.28 Dabei kristallisiert sich für den deutschen Soziologen eine „immer stärker abzeichnende neue Wahrnehmung des individuellen und kollektiven In-die-Zeit-gestellt-Seins“29 heraus. Diese Verzeitlichung der Geschichte ist für die Entwicklung der Protestgeschichte so bedeutend, da sich mit der Formulierung neuzeitlicher Geschichtsphilosophien die Erkenntnis verbindet, die Bewegung der Geschichte nicht länger als gegeben hinzunehmen, sondern selbst mitzubestimmen. Protest stellt fortan eine ganz eigene Bewegungsform dar, die als Bewegtheit die Umgebungen von Menschen organisiert, Aushandlungsprozesse initiiert und durch eigendynamische Wendungen auf eine Neudefinition geltender Ordnungen hinwirkt.30 Im Rahmen dieses neuen Geschichtsverständnisses verbindet sich mit Protest zugleich die Idee politischer Bewegungen als Organisationsform all jener Motivationen, die nun (zunächst theoretisch) im Stande sind, folgenreiche Veränderungen herbeizuführen. Während sich der Bewegungsbegriff politisch und sozial weiter auflädt, können Bewegungen nun auch als Gegenbewegungen gedacht werden, die außerhalb der etablierten gesellschaftlichen und politischen Institutionen agieren. Bewegung stellt sich fortan als verzeitlichte Kategorie dar, indem sie „an einen emphatischen Fortschrittsbegriff gekoppelt ist.“31 Die enge Verflechtung einer in Bewegung geratenen Geschichte und Protest als politischer Reaktion wird also dort deutlich, wo beide die Möglichkeit einer grundlegenden Umstrukturierung von Gesellschaft implizieren und die Infragestellung bestehender Ordnungen als reelle Chance begreifen und nutzen. Wie Rosa es in seiner Studie zur Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne fasst, wird das, was wir unter ,Gesellschaft‘ verstehen, an dieser Stelle letztlich „zu
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Ebd., S. 302f. Ebd., S. 310. Ebd., S. 321. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2012, S. 398. 29 Ebd., S. 397. 30 Vgl. Gunter Gebauer, „Ordnung und Erinnerung. Menschliche Bewegung in der Perspektive der historischen Anthropologie“, in: Klein (Hrsg.), Bewegung, S. 23-41, S. 25. 31 Klein, „Bewegung und Moderne“, S. 14.
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einem gemäß den Prinzipien der Geschichtsentwicklung in der Zeit zu gestaltenden politischen Auftrag.“32 1.2 Revolutionäre Bewegungen „Der semantische Kampf, um politische oder soziale Positionen zu definieren und kraft der Definition aufrecht zu erhalten oder durchzusetzen, gehört freilich zu allen Krisenzeiten, die wir durch Schriftquellen kennen. Seit der Französischen Revolution hat sich dieser Kampf verschärft und strukturell verändert: Begriffe dienen nicht mehr nur, Vorgegebenheiten so oder so zu erfassen, sie greifen aus in die Zukunft.“33
Anhand eines neuen allgemeinen Bewegungsbegriffs, der im 18. Jahrhundert als Gegenbegriff zum Bürgerkrieg stilisiert wird, dechiffriert Koselleck die Verbindungen zwischen Moderne und weiteren Bewegungsmetaphoriken.34 Da das Gewaltmonopol durch konstitutionelle oder staatliche Herrschaftsstrukturen bestimmt ist, werden alle Kampfhandlungen gegen existierende Ordnungen als widerrechtliche Aggressionen verstanden. So kann sich ,Bürgerkrieg‘ beispielsweise als Gegenbegriff zu ,Staat‘ etablieren, während ,soziale Unruhen‘ und ,Aufstände‘ dagegen „als Rebellion verstanden und niedergeschlagen [werden]“, da man – wie Koselleck unter Rekurs auf Hannah Arendt anmerkt – über kein Wort verfügte, das „einen Umschwung bezeichnet hätte, in dem die Untertanen selbst zu Herrschern werden.“35 Der Bedeutungs- und Funktionswandel, den der Bewegungsbegriff Ende des 18. Jahrhunderts durchläuft, kann in Anlehnung an den der Revolution erfasst werden. Als Modewort der Aufklärer*innen diente auch dieser – wie Koselleck weiter ausführt – dazu, alles Neue zu beschreiben: „Der ursprünglich naturale Begriff und als solcher transhistorische Begriff weitete seine partielle metaphorische Bedeutung aus: alles und jedes wurde von ihm erfaßt. Die Bewegung trat aus ihrem naturalen Hintergrund in die Aktualität des Alltags. Besonders der Bereich einer genuin menschlichen Geschichte wurde freigelegt, indem er mit ,Revolution‘ schlechthin kontaminiert wurde.“36
Während die Moderne von Beobachter*innen als permanente Revolution, als bewegtes Zeitalter wahrgenommen wurde, entwickelte sich der Revolutionsbegriff zum „festen Bestandteil des großen Narrativs der westlichen Neuzeit.“37 Arendt, die den
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Rosa, Beschleunigung, S. 400. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 113. Ebd., S. 74. Zit. nach ebd. Ebd. Rudolf Schlögl, „Revolutionsmedien – Medienrevolutionen. Was Historiker daran interessiert“, in: Grampp, Sven/Kirchmann, Kay/Sandl, Marcus/Ders./Wiebel, Eva (Hrsg.), Revo-
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engen Zusammenhang von Krieg und Revolution betonte, arbeitete beider Nähe zur Gewalt heraus. Sie legte zugleich dar, wie „der Akzent des Weltgeschehens sich mehr und mehr von dem Ereignis des Krieges auf das der Revolution zu verlagern scheint […].“38 Viel irritierender für eine eindeutige Differenzierung beider Begriffe erscheint darüber hinaus die Paradoxie einer temporalen Ambiguität: Im Revolutions- sowie im Protestbegriff scheinen Ereignisbegriff und Prozessbegriff zusammenzufallen. Für Koselleck hat aus diesem Grund das historische Ereignis der Französischen Revolution den Revolutionsbegriff selbst erst zum „geschichtsphilosophischen Zielbegriff und politischen Aktionsbegriff“ umgeprägt und gezeigt, wie die politische Semantik „einen Verständnisschlüssel“ liefert, ohne den „die Phänomene der Vergangenheit heute nicht begriffen werden können.“39 Von besonderer Bedeutung für die Analyse von Protesten stellt sich die diachrone Qualität der Revolution auch deshalb dar, weil seit der Französischen Revolution der Revolutionsbegriff selbst zu einem ästhetischen Konzept geworden ist. Eine mediale Verflechtung von Politischem und Ästhetischem wird in Folge der Französischen Revolution dort offenbar, wo sich die politische Instrumentalisierung des Ästhetischen und die Ästhetisierung des Politischen wechselseitig durchdringen.40 Seit der Französischen Revolution entwerfen sich Protestbewegungen bewusst als politische Auflehnungsbewegungen, indem sie die „agitatorischen, appellativen und memorativen Potenziale der Künste“ instrumentalisieren, um neue Wertvorstellungen „in ikonischer, performativer oder literarischer Form zu stilisieren und zu legitimieren.“ 41 So wie die Revolution ein Modewort des 18. Jahrhunderts war, kann für den Begriff der Bewegung behauptet werden, dass er es im 19. Jahrhundert wird. Im Umfeld der industriellen Revolution verschiebt sich das Augenmerk auf mechanisierte Prozesse der Arbeit, neue Möglichkeiten der Personenbeförderung, des Verkehrs und der Organisation des Lebens in den wachsenden Großstädten. Für weite Teile der europäischen Bevölkerung setzt die Erfahrung des Fortschritts tatsächliche körperliche Bewegungen in Fabriken voraus, wobei sich selbstverständlich nicht jeder Bewegungsbeitrag in unmittelbares Fortschreiten übersetzen lässt. Der britische Politikwissenschaftler Paul Wilkinson bringt die generelle Stimmung dieser Zeit daher wie folgt mit dem Bewegungsbegriff zusammen:
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lutionsmedien – Medienrevolution, Konstanz 2008, S. 19-25, S. 21; Siehe auch Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Frankfurt a.M. 1969. Hannah Arendt, Über die Revolution, München 2011, S. 19. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 113. Das Wechselspiel von Kunst und Revolution beschränkt sich dabei „keineswegs auf die politische Instrumentalisierung des Ästhetischen, sondern umfasst durchaus auch die der revolutionären Praxis selbst immanente Ästhetik, die Tendenz zur Selbstästhetisierung, die letztlich zu einer wechselseitigen Durchdringung beider Bereiche führt.“ Kay Kirchmann/Marcus Sandl, „Einleitung“, in: Grampp et al. (Hrsg.), Revolutionsmedien – Medienrevolution, S. 9-17, S. 11. Ebd., S. 10f.
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„Bei den Historikern und Literaten des frühen 19. Jahrhunderts kam der Ausdruck ,Bewegung‘ deshalb gut an, weil er an die neuerdings modisch und zusehends einflußreichen physikalischen und mechanischen Wissenschaften denken ließ. Mit seinem Beiklang von Dynamik, Stärke und Kraft bot das Wort den Historikern und Sozialphilosophen und -kritikern ein Analogon von außergewöhnlicher Anziehungskraft.“42
Nicht nur als physikalische Tatsache faszinieren neue Mobilitätsphänomene. Bewegung etabliert sich explizit als soziales und kulturelles Konzept zu einer Zeit, in der die Individualisierung neue Möglichkeiten der Selbstentfaltung suggeriert und die Technisierung von Arbeitsprozessen zusätzliche Freizeit schafft. Bis der Bewegungsbegriff als historisch-sozialer Begriff von der Soziologie übernommen und als Metapher für politisches Handeln genutzt wird,43 wirkt der produktive Doppelcharakter von Bewegung fort, die „zugleich Individuierung provoziert und das Subjekt in die Weltordnung einführt.“ 44 Menschliche Bewegungen sind von außen geformt, normativen Mustern unterworfen und als strukturierte Lebensweisen in bestehende Ordnungen eingefügt.45 Diesen Tendenzen der Einformung stehen in gleicher Weise jedoch Momente der Befreiung gegenüber.46 Auch Gabriele Klein weist auf die Verschränkung zwischen Moderne und Bewegung hin, aus der wesentliche Dynamiken entstehen, die neben der Abkehr organischer Bewegungsprozesse verstärkt Fragmentarisches und Diskontinuitäten betonen.47 Bewegung definiert sie als Begriff der Potenz, der die Möglichkeit in den Dingen betone. Als relationales Phänomen trete ,Bewegung‘ nur im Plural auf und deute als kulturwissenschaftliches Movens auf unterschiedliche Motivationen im Raum. Politisch ausgedeutet verweist die Anwesenheit verschiedener Positionen zugleich auf die Aussicht ihres Aufeinandertreffens oder Auseinandertretens. Bewegungen erscheinen insofern a priori politisch, als dass ihr kontingentes Sein – d.h. die Wahrscheinlichkeit ihrer Koalition oder Kollision – Kontroversen nicht ausschließt. Mit ihrer prinzipiellen Offenheit und schwer vorhersagbaren Ausrichtung erhöhen unterschiedliche Bewegungen die Wahrscheinlichkeit von Konflikten. Als „zentrale Metapher für das Selbstverständnis der Moderne“48 verbinden sich mit dem Bewegungsbegriff daher Gelegenheiten, traditionelle Haltungen zu modifizieren. Durch das relativierende oder korrigierende Eingreifen in bestehende Anordnungen sowie das konstruktive Erzeugen neuer Bewegungen kann eine kulturelle Praxis der Bewegung selbst Einfluss auf gesellschaftliche Konzepte ausüben. Als konkrete körperliche Bewegungen und Ausdrucksmittel sozialer Bewegungen manifestieren 42 Wilkinson, Soziale Bewegungen, S. 9. 43 Siehe dazu Michael Th. Greven, „Was bewegt sich in sozialen Bewegungen? Bewegungsmetaphorik und politisches Handeln“, in: Klein (Hrsg.), Bewegung, S. 217-237, S. 217. 44 Klein, „Bewegung und Moderne“, S. 15. 45 Siehe Gebauer, „Ordnung und Erinnerung“, S. 24. 46 Menschliche Bewegungen passen umgekehrt „die Welt dem Menschen an, insofern sie diese ordnen. In ihnen entstehen Regularitäten der Welt des Individuums, eine erste Form sozialer Ordnung und ein Vorverständnis, das sich unterhalb von Sprache und Texten bildet.“ Ebd., S. 24. 47 Vgl. Klein, „Bewegung und Moderne“, S. 7. 48 Ebd.
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Proteste „Korrespondenzen von äußerer Bewegung, innerer Haltung und schließlich auch sozialer Positionierung.“49 Innerhalb eines sozialen Kommunikationsraums ist der Protestbegriff durch die Entäußerung innerer Bewegtheit in Form wahrnehmbarer körperlicher Bewegungen äußerst eng mit dem Begriff der sozialen Bewegung verknüpft. In der Moderne werden soziale Bewegungen zu relevanten Akteur*innen politischen und sozialen Wandels, auch indem sie als Materialisierung kontingenter Streitsachen in Erscheinung treten. Soziale Bewegungen sind für die Definition von Protest deshalb wichtig, weil sie einen organisatorischen Rahmen festlegen, in dem Proteste vornehmlich stattfinden. Durch eine Differenzierung beider Begriffe soll es im Folgenden möglich sein, zum einen soziale Bewegungen und zum anderen Protest als soziale Bewegtheit zu unterscheiden, die heute kaum mehr an eindeutige Organisationsstrukturen gebunden ist. 1.3 Zum Begriff der sozialen Bewegung „Bis hin zu den Neuen Sozialen Bewegungen, die im Anschluss an die 68er Revolte entstehen, begreifen sich denn auch nahezu alle politischen Gruppierungen und Strömungen der Moderne selbst als Bewegungen.“50
Der Begriff der sozialen Bewegung wird auf Grundlage der dargestellten Verzeitlichung der Geschichte erst in der Moderne wirklich anwendbar. Indem Bewegungen als bestimmte Aktivitäten von Gruppen selbst als Charakteristikum der Moderne erkannt werden und in den Mittelpunkt der Wissenschaften rücken, wird es der Forschung möglich, eine Differenzierung zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften vorzunehmen. Entlang gleicher, ähnlicher oder ganz unterschiedlicher Entwicklungen haben Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaftler*innen den Begriff ,soziale Bewegung‘ als flexiblen Arbeitsbegriff genutzt, um den wechselvollen Wandel religiöser Strömungen, nationalistischer Kampagnen, ethischer oder sozialer Bewegungen zu erklären. Ihre Typologisierungen haben dabei den Verlauf sozialer Bewegungen wie jene der Arbeiter*innenbewegung mitunter entscheidend mitgeprägt.51 Die Schwierigkeit einheitlicher Bestimmungen manifestiert sich besonders eindrücklich an der Herausforderung einer wissenschaftlichen Präzisierung von Begriffen. Unter Historiker*innen, Soziolog*innen, Sozialanthropolog*innen, Politolog*innen und Psycholog*innen konnte über lange Zeit kein Konsens darüber gefunden werden, was über die verschiedenen Disziplinen hinweg als soziale Bewegung gelten könne.52 Der deutsche Ökonom und Staatsrechtler Lorenz von Stein war einer der 49 Klein, „Bewegung denken“, S. 140. 50 Rosa, Beschleunigung, S. 401. 51 Beschreibungen und Bewertungen unterschiedlicher Bewegungen befinden sich selbst in einem stetigen Wandel und stellen sich zu verschiedenen Zeiten teilweise ganz anders dar. Siehe dazu u.a. Charles Tilly, Contentious Performances, Cambridge 2008. 52 Bevor sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Protest- und Bewegungsforschung dieser Aufgabe zu widmen beginnt, fehlt es an einer wissenschaftlichen Disziplin,
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ersten, der in seiner 1850 veröffentlichten Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich eine wissenschaftliche Definition des Begriffs anvisierte. Von der Vorstellung geleitet, dass der Grund für politische Veränderungen in der Struktur der Gesellschaft zu suchen sei, schrieb er: „Indem nun das Wesen des Lebens ein beständiges Ringen des persönlichen, selbstbestimmten Elements mit dem Unpersönlichen, dem Natürlichen enthält, so ergibt sich, daß der Inhalt des Lebens der menschlichen Gemeinschaft ein beständiger Kampf des Staates mit der Gesellschaft, der Gesellschaft mit dem Staat sein muß.“53 Mit der Unzufriedenheit des Proletariats und dem Aktionspotenzial der Massen fokussierte von Stein die entscheidenden Phänomene seiner Zeit als Klassenkonflikte. Die automatische Verbindung sozialer Bewegung mit der Arbeiter*innenbewegung war seither prägend für eine Sozialismusgeschichtsschreibung, die danach fragte, inwieweit die sogenannte Arbeiter*innenklasse in die Gesellschaft integrierbar sei. Die frühzeitige Nähe der sozialen Bewegung mit dem Klassenkampf der Arbeiter*innenbewegung begründete damit eine Tradition, die die Bewegungen der Arbeiter*innen zugleich als konstitutiv für die begriffliche Fassung der sozialen Bewegung ansah.54 Der deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies, der die Intentionalität sozialer Gruppen fokussierte, leistete einen ebenso wichtigen Beitrag für weitere Diskussionen zu sozialen Bewegungen. Wenngleich er den Bewegungsbegriff selbst nicht direkt verwendete, legte er mit dem Konzept der ,sozialen Samtschaft‘ ein Erklärungsmodell vor, das den Akzent auf die sozio-psychischen Aspekte bewussten Wollens verschob. Auch Tönniesʼ Konzept vermied es jedoch, den Begriff der sozialen Bewegung von dem der proletarischen Bewegung in Industriestaaten zu lösen.55 Erst der deutschamerikanische Soziologe Rudolf Heberle weitete in Social Movements: An Introduction to Political Sociology soziale Bewegungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf politische Bewegungen außerhalb der Arbeiter*innenbewegung aus.56 Be-
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die einen allgemeinen Begriff, essenzielle Merkmale und den heuristischen Wert sozialer Bewegungen hätte spezifizieren können. Zu Aufgaben und Fragestellungen der Protestund Bewegungsforschung siehe ausführlicher Kap. III 2.2. Lorenz von Stein, Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 1: Der Begriff der Gesellschaft und die sociale Geschichte der französischen Revolution bis zum Jahr 1830, Leipzig 1850, S. 32. Diese Schule reicht folgenreich bis zu Werner Sombart fort, der die soziale Bewegung zum „Inbegriff aller Emanzipationsbestrebungen des Proletariats“ verengte. Werner Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung, Jena 1908, S. 1; Siehe dazu auch Ders., Die Bewegung, Jena 1924. Den Bewegungsbegriff verwendete Sombart synonym mit dem des proletarischen Sozialismus. Vgl. Wilkinson, Soziale Bewegungen, S. 21. Heberle blieb der deutschen Forschungstradition insofern treu, als dass er das charakteristische Hauptmerkmal sozialer Bewegung an ihrer Radikalität ausrichtete, Veränderungen in Gesellschaftsordnungen insb. durch eine Neuverteilung des Eigentums und der Arbeitsverhältnisse zu provozieren. Vgl. Rudolf Heberle, Social Movements. An Introduction to Political Sociology, New York 1951, S. 6.
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deutend erscheint die erstmalige Betonung der losen Organisation sozialer Bewegungen als „groups of a peculiar structure, not easy to grasp.“57 Die wechselvollen Prägungen, die der Begriff der sozialen Bewegung im Laufe der Zeit und in verschiedenen Kontexten erhielt, spiegeln sich im Brennglas der Wissenschaften. Ihre Disziplinen haben sich mit vielfältigen Theorien zu sozialen Bewegungen auch den Phänomenen des Protests zu nähern versucht. Immer stärker vom erkennbaren Wunsch angetrieben auch zukünftige Folgen vorhersagen zu können, zeigte sich dabei einerseits, wie die durch die Jahrhunderte variierenden Vorstellungen von Protest zugleich die politischen Konzepte ihrer Zeit spiegelten, in deren Ausformungen sich Widerstand gegen bestehende Strukturen ebenso zeigte wie die Befürwortung alternativer Formen gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Andererseits wurde die enge Verschränkung einer Protest- als Bewegungsforschung sowie die ungenaue Differenzierung von Protest als eigenständigem Ausdrucksmittel deutlich. Als Instrument politischer Artikulation wurde Protest bisher überwiegend nur als Mittel sozialer Bewegungen und daher nur im Handlungsspektrum bereits etablierter politischer Organisationsformen untersucht.58 Wenngleich die politische Relevanz, die Proteste gegenwärtig auch und gerade außerhalb sozialer Bewegungen beanspruchen, zunehmend erkannt wird, gilt es, sich Protesten als einer eigenständigen politischen Kommunikationspraxis, die sich spezifischer Darstellungs- und Ausdrucksweisen bedient, noch gezielter zuzuwenden. Die Chance einer theaterwissenschaftlichen Untersuchung von Protest liegt dabei weniger darin, eine Reihe sich aufeinander beziehender Proteste als Bewegung zu beschreiben, sondern die Bewegungen der Protestierenden in ihrer zeitlichen Dimension als körperliche Handlungen im Raum zu analysieren. Die Theaterwissenschaft bietet dazu das theoretische und sprachliche Instrumentarium, um die verschiedenen Ebenen der Darstellung, Wahrnehmung und Erzeugung von Bedeutungen zu differenzieren. Indem Bewegung als relationales Phänomen gedacht wird, rückt die Perspektive des Beobachtens von Protesten stärker in den Blick. Bei der Analyse bewegungsreicher Interaktionen, die Protesthandlungen auszeichnen, bedarf es eines diskursiven Vokabulars, das selbst etablierte Begrifflichkeiten immer wieder neu hinterfragt. Bewegte Phänomene, figurative Bewegungen, transitorische Formierungen und rhythmische Körperbewegungen, die Protestformen klassifizieren, können so auf ihre Wirkungen hin untersucht werden. Dort, wo die raumzeitliche Gestaltung des Protestierens ins Visier genommen wird und Bewegung als motorisch-kinetisches Ereignis analysiert wird, geraten zudem Aspekte der Dynamik, Verlangsamung oder Beschleunigung in den Blick, die wiederum in Beziehung zu Vorstellungen genereller Veränderung, des Wandels oder der Transformation gesetzt werden können. 57 Ebd., S. 8. Heberle unterschied zwar soziale Bewegungen und kooperative Gruppen, hielt allerdings an der Idee sozialer Klassen fest, die als Sozialstrukturen Interaktionsmöglichkeiten, Prozesse gemeinsamer Willensbildung und Sozialisierungschancen vorprägten. 58 Gherairi schreibt, dass „Protest als solches unter dem Stichwort Soziale Bewegung oder social movement gut erforscht erscheint. Das Augenmerk ist dabei klar auf Soziale Bewegungen gerichtet und Protest ist aus dieser Perspektive nur ein Mittel derselben […].“ Jasmina Gherairi, Persuasion durch Protest. Protest als Form erfolgsorientierter, strategischer Kommunikation, Wiesbaden 2015, S. 5.
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Politische Bewegungen nicht allein als generelle Spannungen zu Ordnungen des Seins zu konzipieren, bringt den Vorteil mit sich, das konkrete Zusammenspiel von Motorik und Sensorik körperlicher Protesthandlungen zu fokussieren. Zudem wird es möglich, Bewegung selbst als ein wichtiges Organisationsmedium von Protest zu begreifen, das bei der Koordination kollektiven Verhaltens, etwa bei der Fähigkeit zur Synchronisierung verschiedener Akteur*innen oder ihrer Bewegungsabläufe, eine entscheidende Rolle spielt. Protest soll folglich als raum-zeitliches Bewegungsereignis untersucht und dabei spezifische Körpertechniken seiner Erzeugung im Blick behalten werden, um mit dem In-Bewegung-Setzen potenzieller Zuschauer*innen und ihrer Involvierung sodann die affektiven Reaktionen von Protest als kommunikative Dimension von Bewegung mitzudenken.
2. AFFEKT „Im weitesten Sinne kann man unter Affekt das verstehen, was vom Potenzial, nach allem was ein Körper sagt oder macht, übrig bleibt. Es ist ein stetiger körperlicher Rest. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, ist dieser stetige Rest ein Exzess. Es ist wie eine Reserve an Potenzial beziehungsweise an Neuheit und Kreativität, die zusammen mit jeder tatsächlichen Bedeutungsproduktion durch Sprache oder in der Ausführung einer nützlichen Funktion erfahren wird.“59
Die Begriffsbestimmung sozialer Bewegungen erhielt eine Präzisierung durch die Übereinkunft, dass gerade solche Bewegungen als soziale Bewegungen klassifiziert werden, die ausschließlich in oder erst seit der Moderne möglich werden. Mit der Postmoderne verbindet sich die These, dass es keine stabilen Fundamente sozialer Entwicklung mehr geben kann.60 Es erscheint logisch, dass diese Veränderung allgemeiner Parameter unmittelbare Folgen für die Eigenschaften von Protest nach sich zieht. Konkret bedeutete das Ende des Zweiten Weltkriegs für zahlreiche europäische Länder in allen gesellschaftlichen Bereichen eine besonders einschneidende Zäsur. Als in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa erstmals sozialistische Parteien an die Macht kommen, verändert sich in der industrialisierten Welt die gesellschaftliche Positionierung der Arbeiter*innenbewegung grundlegend: Während sich Gewerkschaften als feste Verhandlungspartner*innen von Staat und Wirtschaft etablieren, erscheint die nachhaltige Umsetzung der Agenda der Arbeiter*innenbewegung erstmals realisierbar. Nicht allein an einer grundlegenden Neuausrichtung der Beziehung zwischen organisierter Arbeiter*innenschaft, Gesellschaft und Staat interessiert, bringen neue soziale Bewegungen das traditionelle Verhältnis von Politik und Kunst ins Wanken. In
59 Massumi, Ontomacht, S. 31. 60 Siehe u.a. Hall, Stuart/Gay, Paul du (Hrsg.), Questions of Cultural Identity, London 2009.
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größter Nähe zu den Künsten werden politische Aktionen wie die spektakuläre Besetzungsaktionen des Théâtre National de l’Odéon in Paris im Mai 1968 entworfen, die künstlerische Impulse der Aktionskunst oder der Situationistischen Internationale dieser Zeit aufnehmen.61 Mit dem Impuls von 1968 verbindet sich die Hoffnung, dass „die neuen Bewegungen den inzwischen institutionell ruhig gestellten Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital verschieben und neu beleben würden […].“62 Die durch diesen Wunsch aktivierte Zivilgesellschaft entwickelt ein „kohärentes Narrativ über den inhärenten Zusammenhang von Frieden, Menschenrechten, Multikulturalismus, Geschlecht und Umwelt.“63 Mit dem Aufkommen der ,Neuen Sozialen Bewegungen‘ beginnt an mehreren Fronten und insbesondere in Opposition zu bürgerlichen Traditionen ein Kampf um identitäre Selbstdefinition. Was die Neuen Sozialen Bewegungen über alle Unterschiede hinweg vereint, sind neue, horizontale Organisationsformen und die Orientierung am Konzept radikaler Demokratie. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, versucht die in den 1970er Jahren entstehende Protest- und Bewegungsforschung ausgehend vom 20. Jahrhundert das Verhältnis von Protestmobilisierung und Protestformen weiter zu klären. Neben sozialen Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen widmet sie sich den organisatorischen Strukturen sozialer Bewegungen. Während die sozialwissenschaftliche Forschung dezidiert nach den Auswirkungen fragt, die der Zusammenschluss individueller Akteur*innen auf politische Entscheidungsprozesse haben kann, stand die Bedeutung von Gefühlen und eine Auseinandersetzung mit identitätskritischen Positionen bisher weniger im Zentrum. Protest wurde überwiegend als zweck-rationales Handeln konzeptualisiert, innere Empfindungen oder die Betroffenheit der Protestierenden wurden von der soziologischen Theorie dagegen weitestgehend vernachlässigt. Leidenschaften und Stimmungen, die Proteste zugleich ausdrücken wie auslösen, wurden zugunsten rationalistischer Ansätze kaum berücksichtigt. Und selbst dort, wo Affekte eine Rolle für die Mobilisierung von Menschen spielten, tauchten sie als Theoretisierungen minderwertiger, unbeherrschbarer Emotionen auf, die als unkontrolliert und gefährlich beschrieben wurden. Während das menschliche Gefühlsleben und Fragen identitärer Verortung bei der Erforschung von Protest eine untergeordnete Rolle spielten, war indessen von Interesse, über welche Ressourcen soziale Akteur*innen verfügen mussten und welche Strategien sie zur Umsetzung ihrer Ziele verfolgten. Mit dem Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen soll untersucht werden, wie erstens insbesondere künstlerische Formate ab den 1960er Jahren im Rahmen der performance art wegweisende Impulse erzeugt, um traditionelle Begriffe der Kunst in Frage zu stellen und gesellschaftliche Normen in Bewegung zu versetzen. Deutete sich hier bereits an, welche politische Widerstandskraft gerade auch ästhetische Ver61 Personelle Verbindungen zwischen Situationist*innen und der 68er-Bewegung bestanden in Deutschland am markantesten durch Dieter Kunzelmann, in Frankreich durch Raoul Vaneigem, René Viénet, aber auch durch Guy Debord selbst. 62 Haunss, „Bewegungsforschung“, S. 32. 63 Helmut K. Anheier, „Umbrüche II: Organisationen im Widerstand: Organisationsmöglichkeiten der Civil Society“, in: Ayad Al-Ani, Widerstand in Organisationen. Organisationen im Widerstand: Virtuelle Plattformen, Edupunks und der nachfolgende Staat, Wiesbaden 2013, S. 207-213, S. 209.
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fahren des Protestierens entwickeln konnten? Zweitens wird die Entstehung der Protestforschung in den Blick rücken und gefragt werden, mit welchen Auffassungen von Emotionalität die bis heute sozialwissenschaftlich dominierte Erforschung von Protest operiert. Neben der Darstellung soziologischer Theorien politischer Bewegungen gilt es dabei insbesondere auf die offensichtlichen Defizite der verschiedenen Erklärungsmodelle hinzuweisen. Drittens stellt sich die Frage, welchen Beitrag eine Neubewertung der affektiven Dimensionen von Protestphänomenen leisten kann. Wie kann gerade ein theaterwissenschaftlicher Zugang eine neuerliche Auseinandersetzung zwischen Gefühls- und Verstandshandlungen initiieren oder Antagonismen wie jene zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, Affekt und Kognition produktiv in die eigene Argumentation integrieren? 2.1. Neue Soziale Bewegungen Die Neuen Sozialen Bewegungen fordern Ende der 1960er Jahre zu einer gesamtgesellschaftlichen Emanzipation und grundlegenden Auseinandersetzung mit allem Vorherigen auf.64 Die begriffliche Konkretisierung, die die Begriffsbestimmung der Neuen Sozialen Bewegungen vornimmt, weist auf eine Verschiebung der Protestmotive von sozialen und politischen zu identitätspolitischen Motivationen hin. War die Student*innenbewegung der 1960er Jahre noch von rationaler Systemkritik dominiert, treten Forderungen nach einer radikalen Umgestaltung des Staates zugunsten eines verstärkt emotional motivierten Aktivismus in den Hintergrund. Als Ausdrucksmittel sozialer Bewegungen dienen Protestformen dieser Zeit zunehmend dazu, um kollektive Identitätsmuster zu inszenieren und auf die Verteidigung oder Verbesserung individueller Lebensformen hinzuwirken. Politische Ziele verbinden sich deutlicher als vorher mit Darstellungs- und Ausdrucksweisen von Werten und Lebensstilen. Solcherart entfalten die Neuen Sozialen Bewegungen ihre Wirkung „nicht in der Eroberung der Macht im Staate, sondern in der Veränderung alltäglicher Lebenspraxen.“65 Die spezifische Form der Identitätspolitik, die vor allem in den Neuen Sozialen Bewegungen auszumachen war, ging von einer vorgegebenen Identität aus, die als Konglomerat von Merkmalen eine gemeinsame Geschichte implizierte. Die Konstruktion dieser emanzipatorisch gedachten Identitätspolitiken kann am Beispielen des Feminismus oder des Antikolonialismus und ihrer Kategorien der „Frauen“ oder „Schwarzen“ nachverfolgt werden. Der Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner hat unter Rekurs auf den französischen Psychiater und Schriftsteller Frantz Fanon betont, dass bei der „leidenschaftlichen Suche“ nach imaginären Wurzeln weniger das Ausmaß und die Beschaffenheit der Funde entscheidend war, als „vielmehr der eröffnete Weg für den selbstbestimmten Umgang mit den aufgezwungenen Tatsa-
64 Für Überblicksdarstellungen zu Neuen Sozialen Bewegungen siehe Klein, Ansgar/Legrand, Hans-Josef/Leif, Thomas (Hrsg.), Neue Soziale Bewegungen. Impulse, Bilanzen, Perspektiven, Opladen 1999; Snow, David A./Soule, Sarah Anne/Kriesi, Hanspeter (Hrsg.), The Blackwell Companion to Social Movements, Oxford 2004. 65 Haunss, „Bewegungsforschung“, S. 32.
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chen.“66 Bei der Konstitution emanzipatorisch gedachter Identitäten lässt sich eine Verbindung zwischen dem Vorgehen der Neuen Sozialen Bewegungen und der mit dem Chor assoziierten bürgerlichen Tradition der Antikerezeption ausmachen: Beiden ging es um die Suche, Ausgrabung und (Wieder-)Aneignung eines überhistorischen Referenzpunkts, der für die Etablierung einer gemeinsamen Verbundenheit genutzt werden sollte.67 Anleitet von der Frage, wodurch spezifische Formen der Unterdrückung zustande kommen und wie diese Situationen umgangen werden können, führte die Analyse zu der Einsicht, dass das grundlegende Problem oftmals mit der zuschreibenden Stigmatisierung der eigenen Gruppe als „die Anderen“ beginnt. Der Mechanismus dieser Fremdbestimmung zieht sich als Narrativ daher durch die Geschichte von Auflehnungs- und Emanzipationsbewegungen: Marginalisierte Gruppen existieren nur als Objekt ihrer Unterdrücker*innen; der Subjektstatus wird ihnen vorenthalten, da sie selbst nicht über gesellschaftlichen Besitz, diskursive Ressourcen und die entsprechende Definitionsmacht verfügen. Am Beispiel der Freiheitsbewegung, der Black Power Bewegung oder des Feminismus kann das daraus abgeleitete Ziel emanzipatorischer Bewegungen nachvollzogen werden, jene verwehrten und vorenthaltenen Ressourcen und Möglichkeiten zurückzuerobern oder überhaupt erst zu erhalten. Durch die positive Umdeutung negativer Zuschreibungen sollen in der Gruppe der Marginalisierten die verbindenden Merkmale betont werden. Anstatt länger darauf zu hoffen, dass Unterdrückung und Diskriminierung nachlassen, entscheidet man sich für den Appell an die eigene Kraft. Indem das Eigene nun besonders betont und die Zusammengehörigkeit herausgestellt wird, soll die Herstellung einer kollektiven Identität dabei helfen, sich als politische Akteur*innen zu etablieren. In ihrer Studie Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren hat Dorothea Kraus dargelegt, welche Strategien im politischen Kampf dazu angewandt wurden und in welcher Beziehung sie zur Zeit der „long sixties“68 standen, in der zugleich eine Neubestimmung des Verhältnisses von Kunst und Politischem festzustellen ist. Sichtbar wird dieser Wandel unter anderem daran, dass zunehmend Kunst- und Ausstellungsorte für Protestkundgebungen genutzt werden. Einerseits wird das Theater als Institution und öffentlicher Raum herausgefordert und sein Auftrag im gesellschaftlichen Gefüge neu verhandelt. Andererseits setzt 66 Jens Kastner, „,Kein Wesen, sondern Positionierung‘: Zur Geschichte der Identitätspolitik“, in: Arranca!, Nr. 19 (2000), S. 6-11, abrufbar unter: http://www.postanarchismus.net/ texte/kastner_identitaetspolitik.htm (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 67 Damit deutet sich an, dass auch die Neuen Sozialen Bewegungen – so sehr sie um Abgrenzung und Distanzierung bemüht waren – selbst in einer durchaus bürgerlichen Tradition standen. 68 Der Begriff der long sixties beschreibt eine grundlegende Transformationsphase, in der eine Akkumulation paralleler Entwicklungen festzustellen ist, die zu strukturverändernden, institutionellen und ideologischen Verschiebungen führt und mit tiefgreifenden wirtschaftlichen Veränderungen koinzidiert. So treffen amerikanischer Wohlstand und wirtschaftlicher Aufschwung in Europa auf die Bürger*innenrechts- und Student*innenbewegung, die Autoritäten ganz neu herausfordern. Vgl. dazu Arthur Marwick, The Sixties: Cultural Revolution in Britain, France, Italy and the United States, Oxford 1998.
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in den 1960er Jahren in verschiedenen westlichen Kulturen eine generelle Auseinandersetzung mit dem Theaterbegriff ein, die eine Abkehr vom fest etablierten Literaturtheater und bürgerlichen Vorstellungen des Theaters zur Folge hat. Neue künstlerische Gruppen propagieren freies Spiel, ziehen aus den klassischen Theatergebäuden und erobern neue Spielstätten wie Straßen und Plätze, Fabriken, Galerien und Parks. Unkonventionelle Kooperationen, die zu Arbeits- und Lebensgemeinschaften werden, erzeugen neue theatrale Gattungen, die nachträglich als Happenings, Aktions- und Performance-Kunst bezeichnet werden. Allgemein steht der englische Begriff performance art für eine Kunst, die nicht mehr der Produktion von Kunstwerken gilt, sondern dem Akt des Vollziehens. Durch performative Praktiken werden Körper und Bewegungen selbst zum Gegenstand, Mittel und Agenten ästhetischer Auseinandersetzung.69 Der Performance-Begriff wird in dieser Zeit auch dadurch politisch aufgeladen, dass der Körper als „source of political activity“70 neu entdeckt wird. Indem Performances die spezifischen Bedingungen untersuchen, unter denen die Konstituierung politischer Körper möglich wird, können sie im Sinne des Aktivisten und Tänzers Randy Martin selbst als politischer Akt verstanden werden.71 In Abgrenzung zu alten Theatervorstellungen und durch Aufruf zum Bruch mit bürgerlichen Konventionen tragen Performances seit den 1960er Jahren in besonderer Weise dazu bei, politische Programme zu formulieren. Beeinflusst von Nietzsche, McLuhan und Artaud versucht etwa der US-amerikanische Theaterregisseur Richard Schechner seine Begeisterung für Anthropologie und das lebensnahe Theater der Griechen in ein Theater neuer Darstellungsformen zu integrieren. Interessiert an der Bedeutung von Ritualen arbeitet seine Truppe „The Performance Group“ wieder an einer direkten Verbindung zum sozialen Leben. In seinem Aufsatz „Actuals: Primitive Ritual and Performance Theory“ formuliert Schechner fünf unerlässliche Eigenschaften für das Theater. Neben der Betonung des prozessualen Charakters der Performance, in der etwas hier und jetzt geschieht, unterstreicht er den situativen Wert von Momenten des Austauschs. Wettbewerb, Initiierung und die spezifische Nutzung des Raums sind drei weitere Kategorien, die dafür sorgen sollen, dass im Laufe eines Ereignisses etwas auf dem Spiel steht, ein Rollenwechsel für die Zuschauenden ermöglicht und der vorgefundene Raum organisch genutzt wird.72
69 Zur Differenzierung der Begriffe ,Performance‘, ,Performanz‘ und ,Performativität‘ siehe Klaus W. Hempfer, „Performance, Performanz, Performativität. Einige Unterscheidungen zur Ausdifferenzierung eines Theoriefeldes“, in: Ders./Volbers, Jörg (Hrsg.), Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2011, S. 13-42. 70 Randy Martin, Performance as Political Act. The Embodied Self, New York 1990, S. 2. 71 Vgl. ebd. S. 6. 72 Vgl. Richard Schechner, „Actuals: Primitive Ritual and Performance Theory“, in: Theatre Quarterly 1, No. 2 (1971), S. 49-65; Siehe auch Ders., Performance Theory, New York/ London 1977, S. 50f.
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Mit dem Wiedererstarken von Gemeinschaftsvorstellungen kommt es in den 1960er und 70er Jahren zu einer Anthropologisierung von performance.73 Die Bildung von Gemeinschaften verbindet sich mit der Absicht, das ästhetische Spiel in ein soziales Ereignis zu transformieren. Kritische Stimmen betonten jedoch, dass die Mehrheit der theoretischen Referenzen, die für die neue performative Praxis herangezogen werden, aus kolonialen Fächern wie der Ethnologie stammen, ohne an ihre Verstrickungen in der Kolonialzeit hinzuweisen.74 Trotz dieser berechtigten Kritik kann zwischen der performativen Wende in den Künsten und der historischen Entwicklung von Protestformen ein Zusammenhang hergestellt werden. Die performative Wende ab den 1960er Jahren verwischte die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst, indem sie ein rituelles Theater favorisierte, in dem sich eine generelle Kritik am starken Individualismus der Industriegesellschaft mit neuen Gemeinschaftserfahrungen verband. Neue Verbindungen zwischen theatralem Handeln und dem öffentlichen Raum ließen theatrale Formen der Aktions- und Performancekunst zu einem wichtigen Teil politischer Proteststrategien werden. 75 Die von Schechner und anderen Performance-Künstlern angewandten Inszenierungsstrategien experimentierten mit unterschiedlichen Formen der Zuschauer*innenpartizipation. Ihr avantgardistischer Ansatz wurde in einem neuen Verhältnis zur Kontingenz deutlich, die als prinzipielle Offenheit der Handlungsvollzüge in den Performances absichtlich hergestellt werden sollte. Damit wurden Darstellungsverläufe nicht mehr durchgeplant, sondern offene, nicht vorhersehbare Ausgänge anvisiert, wobei sich „das Interesse von einer möglichen Kontrolle des Systems zu seinem besonderen Modus der Autopoiesis“ verschob.76 Es steht außer Zweifel, dass künstlerische Performances politische Protestereignisse und Darstellungsformen immer wieder inspirierten. Beide erscheinen als experimentelle Versammlungsformen, in denen Künstler*innen und Aktivist*innen Aushandlungsprozesse erforschen, um mithilfe zusätzlicher Stimuli Rollenwechsel zu initiieren oder Beziehungen neu auszuhandeln.77 Trotz aller Innovation in den Verfahren wird allerdings deutlich, dass die politischen Kämpfe der Neuen Sozialen Bewegungen in den 1970er und 1980er Jahren Kämpfe um Identität waren. Sie betrafen neben Fragen der Ethnizität sexuelle Orientierungen und spezifische Lebensweisen, stellten durch ihre eigenen Identitätspolitiken den Topos kollektiver Identität selbst jedoch nie in Frage. 73 Siehe dazu auch Viktor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M. 1995; Ders., Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M. 2005. 74 Kai van Eikels hat darauf hingewiesen, dass es fragwürdig anmutet, wenn für cultural performance Gemeinschaftskonzepte aus vorindustriellen Gesellschaften herangezogen werden: „Mit der Offenheit von Theorien, die im Wesentlichen beruhigen, gesteht eine anthropologisch orientierte Performance-Forschung zu, dass die Gemeinschaft anlässlich des Kunstereignisses in ihrer Fragilität, ihrer Riskanz und Kontingenz erfahren und reflektiert werden könne.“ van Eikels, Kunst des Kollektiven, S. 24f. 75 Siehe Kraus, Theater-Proteste, S. 14. 76 Fischer-Lichte, Die Ästhetik des Performativen, S. 61. 77 Siehe dazu Jill Dolan, Geographies of Learning: Theory and Practice, Activism and Performance, Durham 2001, S. 47-64.
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2.2 Beginn der Protest- und Bewegungsforschung Der Beginn der sozialen Bewegungsforschung Ende der 1970er sowie der Versuch sie Mitte der 1980er Jahre als akademische Disziplin zu etablieren, hängen in Deutschland direkt mit dem Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen zusammen. Für die junge Disziplin stehen in dieser Zeit zunächst ganz gegenwärtige soziale Bewegungen wie die Frauen-, Friedens-, Ökologie- oder Antiatomkraftbewegung im Zentrum des Interesses und damit zeitspezifische Aktionsformen zivilen Widerstands, der sozialen Verteidigung, zivilen Ungehorsams.78 Einerseits bilden die Neuen Sozialen Bewegungen in der Forschung den vorrangigen Untersuchungsgegenstand, der gegenüber anderen, „alten“ historischen Bewegungen abgegrenzt wird. Andererseits wird der Begriff der Neuen Sozialen Bewegung von Aktivist*innen selbst als Kampfbegriff mobilisiert und Teil neuer Proteststrategien.79 Im Rückblick waren die Unternehmungen der Protest- und Bewegungsforschung zum einen bestrebt, die Protestformen sozialer Bewegungen in verschiedene Typologien einzuordnen. 80 Die bürgerlich-emanzipatorischen Bewegungen, die sich zunächst gegen die Herrschaft des Absolutismus richteten, wurden von einer zweiten Welle zur Zeit der Industrialisierung in Form der Arbeiter*innenbewegung und einer dritten Protestwelle der Neuen Sozialen Bewegungen unterschieden. Zum anderen widmete sich die Bewegungsforschung vergleichenden Analysen, die historische Entwicklungen kollektiven Verhaltens ebenso untersuchten wie kulturelle Transfers und internationale Verflechtungen von Protestkulturen. Die Geschichte der Protestforschung ist nicht zuletzt durch das Forschungsjournal Soziale Bewegungen gut dokumentiert, das seit 20 Jahren die Ergebnisse der Bewegungsforschung veröffentlicht. Vielfach wurde dort der Vorwurf geäußert, dass dem außergewöhnlich großen Interesse an der Entstehung von Protesten, seinen Entwicklungen und Auswirkungen bislang eine kaum ausreichend institutionalisierte Forschung gegenübersteht.81 Der Vernetzung derjenigen, die im breiten Feld der Bewegungsforschung aktiv waren, diente lange Zeit allein der „Arbeitskreis Soziale Bewegungen“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. Unter seinem 78 Die Friedensforschung vermittelt beispielhaft ein Verständnis dieser Zeit. Siehe Theodor Ebert (Hrsg.), Ziviler Widerstand. Fallstudien zur gewaltfreien, direkten Aktion aus der innenpolitischen Friedens- und Konfliktforschung, Düsseldorf 1970; Ders., Soziale Verteidigung. Historische Erfahrungen und Grundzüge der Strategie, Waldkirch 1981; Ders., Ziviler Ungehorsam. Von der APO zur Friedensbewegung, Waldkirch 1984. 79 Siehe dazu Ulrike C. Wasmuht (Hrsg.), Alternativen zur alten Politik. Neue soziale Bewegungen in der Diskussion, Darmstadt 1989. 80 Zu generellen Klassifizierungen siehe Dieter Rucht, „Zur Organisation der neuen sozialen Bewegungen“, in: Falter, Jürgen W./Fenner, Christian/Greven, Michael Th. (Hrsg.), Politische Willensbildung und Interessenvermittlung, Opladen 1984, S. 609-620; Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt a.M./ New York 1985; Thomas Balister, Straßenprotest. Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1979 und 1989, Münster 1996. 81 Zur aktuellen Lage der Protestforschung in Deutschland siehe Peter Ullrich, „Viel Protest – wenig Forschung. Zu- und Gegenstand sozialwissenschaftlicher Protest- und Bewegungsforschung in der Bundesrepublik“, in: Soziologie 42, Nr. 3 (2013), S. 290-304.
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Dach waren seit Mitte der 1980er Jahre Politik- und Sozialwissenschaftler*innen organisiert, die soziale Bewegungen mit unterschiedlichen Methoden und theoretischen Ansätzen analysierten.82 Erst durch die Gründung des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung im Jahr 2013 wurde schließlich sowohl der hohen gesellschaftlichen Bedeutung von Protestereignissen in Deutschland als auch dem gewachsenen medialen Interesse Rechnung getragen. Ins Leben gerufen wurde das Institut von Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen aus dem zu diesem Zweck gegründeten Berliner Verein für Protest- und Bewegungsforschung.83 Das Institut hinterfragt laut Aussage der Initiator*innen „nicht nur mediales Schablonenwissen über den Protest, sondern auch das Meinen der Bewegten“ sowie „im besten Fall diejenigen Konstitutionsbedingungen, Dynamiken und Folgen von Protest, die aus der Innensicht oft kaum deutlich werden.“84 Der Wunsch, besser auf spontane Protestereignisse reagieren zu können, verbindet sich hier mit dem Anliegen, Dynamiken einzuschätzen und unvorhersehbare Entwicklungen friedlich mitzugestalten. Der nachvollziehbare Wunsch einer weiteren Institutionalisierung der Protestforschung erklärt sich vor allem daraus, dass ausgehend vom individuellen Willen Protest zu äußern, unvorhersehbare Ereignisse im öffentlichen Raum hervorgebracht werden können, die kollektive Dynamiken entfesseln und soziale Sprengkraft entwickeln.85 Protest ist daher immer auch „mit der Entstehung einer spezifischen – prekären, unwahrscheinlichen – sozialen Struktur verbunden“,86 deren Kenntnis den bedrohlichen, weil unbekannten Momenten des Protests präventiv entgegenwirken kann. Letztlich liegt die Aufgabe der Protest- und Bewegungsforschung darin, mithilfe soziologischer Theorien Modelle zu entwickeln, die mit den Worten des deutschen Soziologen Andreas Pettenkoffer auch den „eigenständigen Effekten, die Protestbewegungen in Prozessen kulturellen Wandels haben können“, nachspüren.87 So kommt der gegenwärtigen Protestforschung umso stärker die Aufgabe zu, Prozesse kulturellen Wandels zu erklären, „in denen zunächst, für
82 Die Konstitution des Arbeitskreises verweist unter anderem auf zwei grundsätzliche Probleme der deutschen Forschungslandschaft: Weder wurden an den Universitäten Lehrstühle zu Themen politischer Mobilisierung verankert, noch ist das Thema sozialer Bewegungen in der Lehre präsent. Eine Ausnahme stellt das Institut für soziale Bewegungen (ISB) der Ruhr-Universität Bochum dar. Die Geschichte des Instituts zeigt jedoch, wie durch besondere Berücksichtigung der Geschichte des Ruhrgebiets eine Öffnung für Bewegungsthemen jenseits der Arbeiter*innenbewegung erst relativ spät erfolgte. Zur problematischen Lage einer kaum vorhandenen Institutionalisierung von Bewegungsthemen im akademischen Umfeld siehe auch: http://sozialebewegungen.wordpress.com (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 83 Zu den Gründungsmitgliedern des Vereins und des Instituts zählen u.a. Donatella della Porta, Klaus Eder, Roland Roth, Dieter Rucht und Rupert Graf Strachwitz. 84 Ullrich, „Wissenschaft vom Protest“. 85 Vor dem Erfahrungshintergrund der 1960er Jahre und einer Reihe gescheiterter Großprojekte ist das Interesse an Prognosen zu Beginn des 21. Jahrhunderts weiter gestiegen. 86 Pettenkofer, Radikaler Protest, S. 7. 87 Ebd., S. 8.
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die Protestteilnehmer, Veränderungen des Selbst- und Weltverhältnisses einander wechselseitig bedingen.“88 2.2.1 Soziologische Theorie politischer Bewegungen Der Verlauf soziologischer Theoriebildung zeigt, dass überwiegend rationalistische Erklärungsmodelle entwickelt wurden, um Protest als Mittel legitimer Interessenverfolgung zu analysieren. Dabei wurde die Reichweite der affektiven Dimension des Protestierens zugunsten reflexiven und lernenden Verhaltens, struktureller oder politisch-administrativer Besonderheiten sozialer Organisation weitestgehend ausgeblendet. Mit explizitem Fokus auf politische Prozesse und soziale Akteur*innen war die Theoriebildung zu politischen Bewegungen zunächst in den Politischen Wissenschaften und der Soziologie beheimatet und agierte darüber hinaus kaum interdisziplinär. Ein erster wichtiger Ankerpunkt der politischen Bewegungsforschung findet sich in der Weiterentwicklung von Hegels Theorie des Fortschritts in Karl Marxʼ und Friedrich Engels sozialer Evolutionstheorie, die mit dem ,historischen Materialismus‘ vereinfacht gesagt versuchte, Gesellschaft und Geschichte stärker auf einander zu beziehen, indem sie gesellschaftliche Entwicklungen als Verteilungs- oder Klassenkämpfe darstellte. Die in den ökonomischen Produktionsbedingungen angelegten Spannungen sollten ihrer Theorie zufolge revolutionäre Bewegungen initiieren, radikale Umbrüche auslösen und schließlich zu einem höheren Entwicklungsniveau führen.89 Die Ursachen für Protest sahen ihre Anhänger*innen vordergründig in den strukturellen Verwerfungen und sozialen Spannungen der Gesellschaft präfiguriert. Ein zweiter Strang der politischen Bewegungsforschung, der insbesondere die in den 1960er Jahren einsetzende amerikanische Forschung prägte, war die unter anderem vom französischen Sozialpsychologen Gustave Le Bon begründete Massenpsychologie.90 Sie fokussierte Ängste und Affekte, die individuelles Verhalten in sozialen Massenerscheinungen beeinflussten und ging von der Annahme aus, dass Suggestion und Ansteckungsphänomene rationales Handeln verhinderten oder gar zum Verlust der Selbstkontrolle führten.91 Im Zuge des Strukturfunktionalismus’ entwickelte der US-amerikanische Soziologe Neil J. Smelsers in den 1960er Jahre mit der Theorie kollektiven Verhaltens ein sozialpsychologisches Stufenmodell für sozialen Wandel, in dem Unzufriedenheit Spannungen erzeugte, die sich in Unruhen und öffentlichen Konflikten entluden. In den 1970er Jahren kam es mit der Ressourcenmobilisierungstheorie zu einem Paradigmenwechsel, der die Irrationalität sozialer Bewegungen erstmals in Frage
88 Ebd., S. 12. 89 Die Geschichte der deutschen Arbeiter*innenbewegung belegt, wie die Lehre vom wissenschaftlichen Sozialismus Mitte des 19. Jahrhunderts zur Grundlage des Kampfes der revolutionären Arbeiter*innenbewegung wurde und anschließend zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) führte. 90 Siehe dazu Gustav Le Bon, Psychologie der Massen, [Psychologie des Foules (1895)], Stuttgart 2008. 91 Die Entwicklung dieses Ansatzes diente nach dem Zweiten Weltkrieg dazu, die totalitären Bewegungen des Faschismus, insb. seine Massenphänomene, nachträglich zu erklären.
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stellte.92 Das Erkenntnisinteresse verschob sich von der Entstehung sozialer Bewegungen auf die Mechanismen konkreter Mobilisierungen von Protest. Bis in die 1980er Jahre hatte dieser Ansatz, der davon ausging, „dass die Akteure ihre Mittel im Hinblick auf bestimmte Ziele zumeist wohlkalkuliert einsetzen“,93 eine hegemoniale Stellung inne. Framing-Theorien ergänzten schrittweise die Theorien politischer Gelegenheitsstrukturen, wodurch der Einfluss politischer Rahmenbedingungen für Proteste in den Fokus rückte und ein genereller Trend deutlich wurde: „Die Perspektive verschob sich dabei langsam weg von einzelnen Bewegungsorganisationen und Bewegungen hin zur Analyse von Protestereignissen und Protestwellen.“ 94 Andreas Pettenkofer hat in seiner Studie Radikaler Protest. Zur soziologischen Theorie politischer Bewegungen einen weiteren wichtigen Beitrag für die Protestforschung geliefert. In seiner Zusammenführung verschiedener Theorieansätze der Disziplin fordert er, Protestbewegungen nicht länger nur als Repräsentation bereits bestehender kultureller Muster anzusehen, sondern in ihnen die Potenzialität wirkungsvoller Innovation zu entdecken. Sein Vorwurf an die soziologische Theorie ist, dass diese oft nicht erklärt, „inwieweit solche sozialen Strukturen unmittelbar – durch eine Eigendynamik, die sie selbst hervorbringen – den Wandel kultureller Muster befördern.“95 Auf der Suche nach einem neuen Erklärungsmodell diskutiert Pettenkofer unterschiedliche Ausprägungen des in der Protestforschung vorherrschenden rationalistischen Paradigmas. Um einen alternativen Erklärungsansatz zu entwickeln, geht er zurück zu klassischen Positionen der soziologischen Theorie, die Rationalisierungszuschreibungen überwiegend vermeiden.96 Kritik übt er an der gängigen Forschungspraxis, Teilnehmende von Protestbewegungen darauf zu reduzieren, nur rational auf Gelegenheiten zu reagieren. Pettenkofer konstatiert: „In der spezialisierten Protestforschung dominieren zur Zeit keine Theorien über Kooperationsprobleme rationaler Egoisten. Das ,Political Process Model‘ – derzeit Standardmodell der Protestforschung – konzentriert sich zunächst auf die Ebene der Organisationen. Die Protestteilnehmer werden hier, zumindest implizit, als rationale Altruisten betrachtet, die sich für Kollektivgüter engagieren, wenn sie dies für aussichtsreich halten und ihnen die ,Kosten‘, die etwa durch staatliche Repression entstehen, nicht zu hoch erscheinen.“97
Problematisch sei insbesondere jene „Normalisierungsrhetorik, die Protest immer schon an jenes Idealbild ,rationalen‘ – zweckgerichteten, reflektierten, im Zweifel: 92 Siehe John D. McCarthy/Mayer N. Zald, „Resource Mobilization and Social Movements: A Partial Theory“, in: American Journal of Sociology 82, No. 6 (1977), S. 1212-1241; Mayer N. Zald (Hrsg.), Social Movements in an Organizational Society: Collected Essays, New Brunswick 1987. 93 Kern, Soziale Bewegungen, S. 11. 94 Ebd. 95 Pettenkofer, Radikaler Protest, S. 7. 96 Hierzu zählen Schriften von Max Weber und Émile Durkheim, dem Begründer der Religionssoziologie, sowie Referenzen des Sozialphilosophen und früheren Sozialpsychologen George Herbert Mead, der als Vertreter des Symbolischen Interaktionismus gilt. 97 Pettenkofer, Radikaler Protest, S. 33.
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gemäßigten – politischen Handelns assimiliert, das auch für die parsonianische Tradition maßgeblich ist […].“98 Pettenkofer stellt dem Standardmodell der Protestforschung mit der Parsonsschen Traditionslinie genau jene andere sozialtheoretische Perspektive gegenüber, die Protestphänomene nach Kategorien der klassischen Religionssoziologen – etwa Max Weber und Émile Durkheim – deutet.99 Die verschiedenen Arbeiten des US-amerikanischen Soziologen Talcott Parsons, die maßgeblich durch Durkheims Anomiekonzept beeinflusst wurden, sind für diese Schule prägend. Der klassischen Modernisierungstheorie folgend konzipierte Parsons soziale Bewegungen als „Bedrohung moderner Differenzierungsstrukturen“100 und folgte damit der Annahme, dass Modernisierungsprozesse strukturelle Spannungen erzeugen, deren unzureichende Integration zwangsläufig zu Anomien wie Protesten führen müsse. Damit betrieb er eine Pathologisierung von Protest, die das Erscheinen sozialer Bewegungen von Erklärungen kulturellen Wandels löste. In den 1970er Jahren bilden sich mit dem Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen neue soziologische Erklärungsmodelle heraus, die sich an einer erneuten Auseinandersetzung mit den Theorien Émile Durkheims manifestieren.101 Die neuere Protestforschung sieht in Protestbewegungen wieder verstärkt Motoren von Modernisierung und fundiert diese Perspektive durch Erklärungen eines neuen Rationalismus.102 Im amerikanischen Sprachraum liefern soziologische Untersuchungen über symbolische Interaktionen neue Interpretationen, indem sie als relevante Variablen viel stärker die expressiven Dispositive von Protesthandlungen herausstellen. Bei der Rekonstruktion der amerikanischen Debatte um die älteren Gründungstexte aus den 1970er und 80er Jahren stellt Pettenkofer allerdings fest, dass auch dort „ein bestimmtes Set von rationalistischen Verkürzungen immer von Neuem wiederkehrt“.103 Trotz anschließender Kritik an allgemeinen Rational-Choice-Theorien und den Versuchen einer kultursoziologischen Erweiterung erhebt Pettenkofer hinsichtlich einer Pathologisierung von Protestformen auch für die aktuelle Forschungssituation folgenden Vorwurf:
98 Ebd., S. 10. 99 Vgl. ebd., S. 10f. 100 Ebd., S. 21. Vgl. auch Talcott Parsons, The Structure of Social Action, New York 1937; Ders., The Social System, London 1951; Ders./A. Shils, Edward (Hrsg.), Toward a General Theory of Action [1951], New Brunswick/London 2001; Auch die Untersuchung des Parsons-Schüler Neil Smelser zur Entstehung der Arbeiter*innenbewegung im 19. Jahrhundert folgt diesem Verständnis, siehe Neil Smelser, Theorie des kollektiven Verhaltens [Theory of Collective Behaviour (1962)], 1972. 101 Siehe insb. Émile Durkheim, Der Selbstmord [Le suicide (1897)], Frankfurt a.M. 2008; Ders., Die elementaren Formen des religiösen Lebens [Les formes élémentaires de la vie religieuse (1912)], Frankfurt a.M. 2001. 102 Deutlich wird diese Tendenz in Mancur Olsons Studie Logic of Collective Action, die sich zwar mit rationalen Akteur*innen auseinandersetzt, kollektives Handeln allerdings nicht länger nur als egoistische Nutzenmaximierung der Beteiligten erklärt. Siehe Mancur Olson, The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups, Cambridge 1971. 103 Pettenkofer, Radikaler Protest, S. 13.
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„Die neuere Protestforschung hat sich vom binären Schema der alten Anomietheorie kollektiven Protests – der Gegenüberstellung eines aktiven, geordneten, zweckrationalen und im Zweifel nicht gewalttätigen politischen Handelns auf der einen Seite, eines passiv-reaktiven, unorganisierten, nichtinstrumentellen und aus all diesen Gründen pathologischen politischen Handelns auf der anderen Seite – nicht gelöst.“104
Pettenkofers Befund weist auf einen deutlichen Missstand der soziologischen Erforschung von Protesten hin, der zugleich als ein Auftrag zu dessen Überwindung interpretiert werden kann. Diese Untersuchung schlägt daher vor, stärker kulturwissenschaftliche Ansätze zu integrieren, die es ermöglichen sollen, das Schema der alten Anomietheorie kollektiven Protests durch die Würdigung der tatsächlichen Handlungsvollzüge kollektiver Akteur*innen zu überwinden. 2.2.2 Kulturwissenschaftliche Ansätze Als inspirierendes Beispiel einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung bisher überwiegend rationalistischer Forschungsansätze kann für diese Studie die Umarbeitung des Parsonsschen Ansatzes durch den amerikanischen Soziologen Jeffrey C. Alexander gelten.105 Wie Pettenkofer übt auch Alexander Kritik an Theorien, die politischen Protest allein als zweckrationales Handeln erklären. Alexander interessiert, wie Menschen soziale oder kulturelle Performances erzeugen, in denen sie sich durch individuelle oder kollektive Handlungen in sozialen Situationen vor anderen darstellen.106 Dabei dekonstruiert Alexander die Rhetorik sozialer Bewegungen und stellt unter anderem idealisierte Ansprüche und Ziele fest, die einen utopischen Begriff der Gemeinschaft verwenden.107 Einen weiteren Ansatz, der deutlicher die performativen Eigenschaften von Protest ins Zentrum rückt, hat der US-amerikanische Historiker, Politologe und Soziologe Charles Tilly vorgelegt. Neben Tillys Publikation Contentious Performances, in der er den Performance-Begriff explizit auf soziale Unruhen anwendet,108 ist für diese Arbeit im Hinblick auf die affektiven Dimensionen von Protest seine Schrift Popular Contention in Great Britain 1758–1834 von besonderer Relevanz. Darin lokalisiert Tilly die Geburt der sozialen Bewegung in einer Zeitspanne zwischen 1750 und 1840, in der sich altehrwürdige Formen des Widerspruchs verschieben: von Brandschatzungen, öffentlichen Demütigungen, körperlichen Misshandlungen, 104 Ebd., S. 103. 105 Ende der 1980er Jahre erarbeitet Alexander in Auseinandersetzung mit Parsons’ strukturellem Funktionalismus, durch Re-Lektüre von Durkheims Religionssoziologie und im Zuge des einsetzenden cultural turns ein allgemeines Programm zur Untersuchung politischer Konflikte. Sein kultursoziologisches Konzept betont, dass Ideen und symbolische Handlungen einen unabhängigen Einfluss auf soziale Institutionen, Politik und Kultur haben können. 106 Siehe dazu auch Jeffrey C. Alexander, The Performance of Politics, Oxford 2011, S. xii: „My argument is that democratic struggle for power is not much determined by demography or even substantive issues and that it’s not very rational, either. Political struggle is moral and emotional. It’s about ,meaning‘, about symbolically ,constructing‘ […].“ 107 Vgl. Jeffrey C. Alexander, The Civil Sphere, Oxford 2006, S. 230. 108 Vgl. Charles Tilly, Contentious Performances, Cambridge 2008.
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Schmähungen und Beschimpfungen hin zu öffentlichen Märschen, Petitionen und Versammlungen.109 Tilly betont die tiefgreifende Bedeutung der in dieser Periode wahrnehmbaren Transformation kollektiven Handelns, nicht ohne seine Analyse der Ausdrucks- und Darstellungsformen von Protestereignissen in einen direkten Zusammenhang mit den fundamentalen Veränderungen der Industrialisierung zu setzen. Beruhend auf einem Katalog von mehr als 8.000 contentious gatherings und auf Basis vielfältiger Beschreibungen von Volksprotesten, die er aus britischen Archiven und historischen Monografien zusammengetragen hat, erläutert Tilly entscheidende Transformationsetappen politischer Partizipation. Dabei stellt er grundlegende Veränderungen in der Art und Weise fest, wie Menschen Anlässe für gemeinsame Aktion erfinden und in welcher Form sie kollektive Ansprüche gegen Autoritäten vermehrt öffentlich artikulieren. Dabei sei folgender Trend auszumachen: die Unmittelbarkeit affektiver Rage verschiebe sich zugunsten der demonstrativen Aufführung repräsentativer Protesthandlungen.110 Tillys umfangreiche Dokumentation, die am Beispiel Großbritanniens gesellschaftliche Dynamiken für den gesamten europäischen Raum zu identifizieren versucht, manifestiert dabei einen entscheidenden Wandel: Die Verschiebung der Konfliktlinien konkreter Konfrontationen auf der persönlichen Ebene führt zu neuen Protestformen, die im 19. Jahrhundert physische Attacken ersetzen. Repräsentative Formen des Protestierens lösen gewaltvolle Revolten ab, wie am anschaulichen Beispiel der Massendemonstration als neu kultivierter Form der Empörung ablesbar wird: „An die Stelle der direkten Konfrontation trat nun in verstärktem Maße die öffentliche Präsentation der Bewegung als würdig, einig, zahlreich und engagiert.“111 Während das Interesse an der individuellen Ebene der Protestierenden in der gegenwärtigen Forschung in den Hintergrund rückt, geraten neue Formen des Austauschs und der kollektiven Entscheidungsfindung in den Mittelpunkt. Insbesondere der Collective-Identity-Ansatz, der eine Ergänzung zum Framing-Ansatz darstellt, betrachtet kollektive Identität als zentrales Kriterium für soziale Bewegungen. Dieser Ansatz untersucht daher weniger die Organisationsstrukturen politischer Bewegungen, sondern die Frage, wie sich soziale Bewegungen durch grundlegende Differenzierung zwischen „Wir“ und „Die“ als kollektive, handlungsfähige Akteur*innen konstituieren. Bei der Erzeugung dieser kollektiven Identität rücken einerseits diskursive Praktiken in den Blick und damit die Frage, wie durch den Einsatz von Sprache und Narration gemeinsame Zugehörigkeiten entstehen. Andererseits werden konkrete Praktiken analysiert, um zu ermitteln, wie sich die Gruppen-Identität in ge109 Charles Tilly, Popular Contention in Great Britain 1758–1834, Cambridge/London 1995, S. 340-375. 110 Tilly erhellt die Bedeutung von Protest im Zusammenhang mit dem Begriff der sozialen Bewegung. Er argumentiert, dass soziale Bewegungen eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit anderen Formen politischer Meinungsäußerung wie Wahlen, Streiks und Revolutionen teilen. Zusätzlich weisen sie jedoch distinktive Eigenschaften auf, die sie als nachhaltige, kollektiv organisierte, öffentliche Anstrengungen von anderen Formen politischen Handelns unterscheiden. Soziale Bewegungen zeichneten sich so durch ein Bewegungsrepertoire aus, das als Kombination verschiedener politischer Aktionen auftrete. 111 Haunss, „Bewegungsforschung“, S. 37.
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meinsamen Ritualen, Symbolen oder Moden ausdrückt. Da der Collective-IdentityAnsatz Bewegungen primär aus der Innenperspektive heraus untersucht, wurde dem Verfahren vorgeworfen, dass es Außenbezüge oft übersehe und daher vorschnell zu Generalisierungen neige. In Anbetracht der Beobachtung, dass zeitgenössische Protestakteur*innen deutlich weniger identitätspolitisch agieren oder kaum mehr konkrete Anliegen vortragen, erscheint es umso problematischer, dass das Hauptaugenmerk der Protest- und Bewegungsforschung unverändert auf die Motivationen der Teilnehmenden gerichtet bleibt. In der zuletzt um den deutschen Politikwissenschaftler Franz Walter publizierten Studie Die neue Macht der Bürger wirft ein Artikel die konkrete Frage auf, wie Protest aktuell erforscht werden kann. Der Kern der Protestforschung im deutschsprachigen Raum wird dort anhand einer ihrer zentralen Fragestellungen verankert: „Unter welchen Bedingungen sind Menschen bereit, persönliche Ressourcen zu investieren, um sich für oder gegen etwas einzusetzen und damit die Gesellschaft mitzugestalten?“ 112 Während das Konzept ,politischer Gelegenheiten‘ diesen unterschiedlichen Motivationen der Protestierenden nachspürt,113 zielt dieses wie auch die zuvor genannten Erklärungsmodelle der soziologischen Theorie „auf eine allgemeine Konzeptualisierung der Rolle, die nicht rationalistisch integrierbare Momente bei der Konstitution von Kollektivakteuren und entsprechend in Prozessen sozialen Wandels spielen.“114 Auf diese Weise laufen alle diese Modelle jedoch Gefahr, wiederum nur auf rationalistische Erklärungsstrategien zurückzugreifen und gerade die hochgradig affektiven Dimensionen von Protesthandlungen zu vernachlässigen.115 2.3 Affektiver Protest In Abgrenzung zum Mainstream der Protest- und Bewegungsforschung ist diese Arbeit nicht an rationalistischen Erklärungen politischen Protests interessiert, sondern fokussiert unter Rekurs auf das Modell des antiken Chores die Affektivität partizipatorischer Entäußerungsformen. Nicht die Logik kollektiven Handelns oder die Produktion sozialer Bewegungen als „Form unwahrscheinlicher Ordnungsbildung“116 sollen dabei im Vordergrund stehen, sondern die affektiven Qualitäten des öffentlichen Charakters von Protest als einer spezifischen Bewegungsstrategie. Der Fokus auf affektive Charakteristika von Protest ermöglicht es ferner, identitätspolitische Antriebe zunächst zurückzustellen. Protest erscheint mit seinen affektiven Verlautbarungen, die in ungefesselter Gewalt gipfeln können, in Opposition zur mechanisch-rational geordneten Welt. Mit einem erweiterten Affektbegriff scheint die Möglichkeit auf, die überwiegend auf Iden112 Klecha/Marg/Butzlaff, „Wie erforscht man Protest?“, S. 20. 113 Zur Theorie politischer Gelegenheiten siehe Robert K. Merton, „Social Structure and Anomie“, in: American Sociological Review 3, No. 5 (1938), S. 672-682; Ders., Social Theory and Social Structure, Glencoe 1957. 114 Pettenkofer, Radikaler Protest, S. 10. 115 Aktuelle Studien belegen diesen rationalistischen Ansatz. Siehe dazu Simon Teune, Corridors of Action. Protest Rationalities and the Channeling of Anti-summit Repertoires, 2013. 116 Pettenkofer, Radikaler Protest, S. 24.
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titätskonzepten beruhenden Definitionen von Protest zu erweitern. An der Schnittstelle theatraler Politik und politischer Bewegungskunst ermöglicht der AffektBegriff die Zusammenhänge von Intensität, Wirkung, Atmosphäre, Kinästhetik und Rührung zu beleuchten. Als besondere Qualität des Fühlens verbindet sich mit Affekten ein körperlicher Ausdruck und eine motivationale Dimension. Benannt wird der Affekt nach seiner emotionalen Ausprägung, die er in Gang bringt und der er sprachlich zugeordnet wird.117 Proteste machen durch die Darstellung und Inszenierung von Affekten emotionale Grundstimmungen und Motivationen von Protestierenden erfahrbar. Sie entäußern gefühlte innere Bewegungen, die rührend, aufwühlend und stimulierend wirken können. Proteste präsentieren affektive Haltungen und provozieren, insofern sie Beobachtende dazu auffordern, Stellung zu beziehen oder sich gegenüber den dargebotenen Stimmungen zu positionieren. Affektiver Protest kann das Gegenüber dazu zwingen, sich einer Übertragung emotionaler Betroffenheit zu widersetzen, diese zu ertragen oder zumindest darauf zu reagieren. Affekte gehören damit zu den unmittelbaren Bestandteilen eines Bewegungsbilds des Protests. Wie Bewegungen deuten Affekte erstens auf affektive Entäußerungen emotionaler Prädispositionen, die durch Verfahren der Präsentation als Gestimmtheiten öffentlich kundgetan werden. Zweitens verweisen sie auf das potenzielle Affiziertsein einer allgemeinen Öffentlichkeit oder Reaktionen der konkreten entscheidungs- oder handlungsmächtigen Instanzen, denen sie sich entgegensetzen. Drittens geht es immer auch um die Adressierten, die zum Teil nur als zufällige Zuschauer*innen von Protesten überwältigt, abgestoßen, in jedem Falle aber konfrontiert oder berührt werden sollen. Proteste als Ereignisse affektiver Beziehungen zu konzipieren, hat zur Folge, dass es zum einen möglich wird, Relationen zu fokussieren, die Momente der Differenz und Alterität kennen. Empfindungen produzieren Beziehungen, deren Ausformungen unter Gleichgestimmten umso stärker sind, da sie sich ohne Differenzen gleichgerichtet ausbreiten und potenzieren können. Zum anderen rücken affektive Konfigurationen ins Blickfeld, die genau nach den gegensätzlichen Potenzialen und konfliktiösen Empfindungsräumen fragen. In Protesten werden Konflikte offenbar, die als „Quelle starker emotioneller Kraft“ wirken.118 Die Affektstrukturen, die Proteste in vielfältiger Form zur Aufführung bringen, treffen dabei auf bereits vorherrschende Stimmungen, also auf ähnliche oder andere Gestimmtheiten, die sich gegenseitig abstoßen, anpassen oder verstärken können. Die Politizität des Affekts manifestiert sich dabei gerade darin, dass nicht das eine oder das andere, auch nicht die Pluralität der Empfindungen empfunden wird, sondern die Differenz zwischen ihnen. Proteste werden als affektive Zurschaustellung von Empörung produziert, die nicht nur in Gestalt des Affekts auftritt, sondern als Gefühl, Zwangsgedanke oder Motiv. Im Anschluss an die seit Mitte der 1990er Jahre entstandenen Rezeptionstheorien ästhetischer Affekte und im Zuge eines emotional turn in den Kulturwissen117 Durch sprachliche Attribute kann die Qualität von Gemütsbewegung zusätzlich spezifiziert werden. Als affektiv oder emotional wird konsequenterweise ein Verhalten beschrieben, das überwiegend von Gemütserregungen und weniger von kognitiven Prozessen bestimmt wird. 118 Hardt, Politische Körper, S. 229.
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schaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann Protest als eine Kulturtechnik der Emotionalisierung angesehen werden,119 die dazu dient, Gefühle mittels melodramatischer Bilder zu verkörpern.120 Affekte werden durch Gesten der Übertreibung inszeniert, um spezifische Bewegungsbilder zu generieren.121 Ein weiter gefasstes Konzept des Affektbegriffs, das diesen nicht einfach auf Emotionen reduziert, sondern an die Bewegungen des Körpers und letztlich an die Prozesshaftigkeit seiner Konstituierung koppelt, entwickelt Brian Massumi in Ontomacht: Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen. Für Massumi sind Emotionen der „eher unvollständige Ausdruck eines Affekts“122 und damit zu oberflächlich, um die Tiefe möglicher Erfahrungen des Menschen abzubilden. In Differenz zur Emotion, die Massumi als „Ausdruck des Affekts in Gesten und in Sprache“ bzw. als „sein konventioneller, kodierter Ausdruck“123 versteht, konzipiert er Affekte nicht als tendenziöse Reflexe, sondern als „eine virtuelle Ko-Präsenz des Potenzials.“124 Für diese theaterwissenschaftliche Untersuchung ist die Affekttheorie Massumis deshalb so relevant, weil sie eine relationale Sicht für Aufführungssituationen von Protestereignissen betont. Dies zeigt sich deutlich an Massumi Unterstreichung, dass affektive Relationen, Ströme und Zirkulationen dem theatralen Geschehen des Protests und damit der Hervorbringung von Akteur*innen und Zuschauer*innen vorausgehen. In deutlicher Nähe zur prozessphilosophischen Metaphysik des britischen Philosophen Alfred North Whitehead, für den sich der Affekt als eine virtuelle Kraft materialisiert, „durch welche sich eine Ansammlung von Tendenzen als reines Fühlen ausdrückt“125 , entwickelt Massumi eine Affekttheorie, in der ein Körper nur selten mit seiner affektiven Dimension übereinstimmt. Massumi betont eine Relationalität des Affekts, die über das Identitäre hinausgeht und uns mit anderen verbindet.126 Die bereits auf Spinoza zurückgehende Beobachtung, dass der Affekt eine mögliche Verbindung zu anderen herstelle, drückt Massumi wie folgt aus: „Mit intensiviertem Affekt entsteht ein starkes Gefühl, in den größeren Kontext eingebettet zu sein – ein verstärktes Gefühl, zu anderen Menschen
119 Vgl. Thomas Anz, „Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung“, in: Eibl, Karl/ Mellmann, Katja/Zymner, Rüdiger (Hrsg.), Im Rücken der Kulturen, Paderborn 2007, S. 207-239. 120 Zu neueren Ansätzen der Bewegungsformung, die die politische Dimension der Emotionen aufgreifen siehe Klein, Ansgar/Nullmeier, Frank (Hrsg.), Masse – Macht – Emotionen. Zu einer politischen Soziologie der Emotionen, Opladen/Wiesbaden 1999. 121 Dieser Bewegungscharakter des Affekts, der für Protesthandlungen eine weitere Dynamisierung seiner Bewegungspotenziale bedeutet, weitet sich „auf eine Spannbreite von Bewegungsfigurationen aus: Figuren der Brechung, Hemmung und Dispersion sowie der Kontraktion und Prägnanz.“ Pischel, Orchestrierung der Empfindungen, S. 48. 122 Massumi, Ontomacht, S. 28. 123 Ebd., S. 54 124 Ebd., S. 29. 125 Erin Manning, „Das Ereignis des Schreibens: Brian Massumi und die Politik des Affekts“, in: ebd., S. 7-23, S. 13. 126 Massumi, Ontomacht, S. 29: „Im Affekt sind wir niemals allein.“
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und anderen Orten zu gehören.“127 Auch Proteste stellen Verbindungen zwischen Menschen her. Sie beschreiben Handlungen, die uns selbst übersteigen. Die Affektivität von Protesten verdeutlicht dabei die Potenzialität von Bewegungen, normative Beschränkungen herauszufordern – insbesondere dort, wo Kultur nicht länger als Affektkontrolle verstanden wird. Wenn Massumi den Affekt bereits als „immanente Kollektivität“ fasst, in der „die Virtualität die Aktualität trifft – in dem Ereignis des Werdens“128 , dann erscheinen Protestereignisse, die Empörung betonen und zur Aufführung bringen, in doppelter Hinsicht als eine Steigerung affektiver Ereignisse. In Konflikten vermitteln affektive Protesthandlungen nicht nur divergierende Positionen, sondern werden als ästhetische Erfahrungen präsent, sicht- und spürbar. Für Massumi ist die Unmittelbarkeit des Affekts nicht gleichzusetzen mit Selbstpräsenz. Dahinter steht vielmehr ein Konzept von Freiheit und die Möglichkeit eine Auswahl zu treffen, frei zu entscheiden, was unter den vielen möglichen Zuständen realisiert werden soll: immer in Bewegung, nie wirklich fixiert, sondern stets in einen Prozess des Wandels inbegriffen. Auch Erin Manning hat diesen Perspektivwechsel hervorgehoben, wenn sie in Bezug auf den Affekt schreibt, dass dieser „Resonanzeffekte im Ereignis und durch den gesamten Erfahrungsnexus […] eine Mannigfaltigkeit des Werdens“ schaffe.129 Die Affektivität von Protesten fungiert somit als eine Verdichtung des Zeigens, „da sich in der Zeitlichkeit der Zuschaueraffektivität immer auch das positive Moment einer prägnanten Sichtbarkeit konstituiert.“130 Massumis Gedanken sind für eine Analyse von Protesten deshalb so interessant, weil sie eine alternative Sichtweise ermöglichen, wie sie die Protest- und Bewegungsforschung bisher nicht eingenommen hat. Mit seiner Konzeption des Affekts kann die Analyse von Protesten unmittelbar mit Fragen ihrer Formfindung in Verbindung gebracht werden.131 Massumis Idee von Affektivität als Potenzialität, die als affektive Wirkmächtigkeit auf Protestereignisse übertragen werden kann, deutet zudem auf einen generellen gesellschaftlichen wie politischen Wandel hin, der durch die Untersuchungen der Protest- und Bewegungsforschung gestützt wird. So schreibt Massumi: „Der Affekt ist inzwischen wesentlich wichtiger zum Verständnis von Macht, selbst bei streng definierter Staatsmacht, als Konzepte wie Ideologie. Unmittelbare Affektmodulation nimmt den Platz althergebrachter Ideologien ein.“132 Die Affektivität des Protests kann als orchestrierte Empfindungsbewegung beschrieben werden, in deren Verlaufsformen auch gegenläufige Emotionen herausstechen oder sich selbst erst in Abgrenzung zu anderen Gefühlsstimmungen konstituieren.133 Für die sich anschließende Analyse ermöglicht die Reflexion der affektiven Dimensionen des Protests, jene zuvor beschriebenen Bewegungsimpulse nicht nur vordergründig auf der Ebene rationaler Logiken zu untersuchen. Statt inhaltlichen 127 128 129 130 131
Ebd., S. 30. Manning, „Ereignis des Schreibens“, S. 13. Ebd. Pischel, Orchestrierung der Empfindungen, S. 21. Erin Manning erläutert Massumis Affektverständnis, indem sie einleitend schreibt: „Der Affekt ist das Wie die Kraft der Form entsteht. Ein Körper existiert niemals vor der Begegnung mit einem Affekt.“ Manning, „Ereignis des Schreibens“, S. 13. 132 Massumi, Ontomacht, S. 55. 133 Vgl. Pischel, Orchestrierung der Empfindungen, S. 21.
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und narrativen Strängen würdigt die Investigation affektiver Resonanz die relationalen, heterogenen und zum Teil unkonventionellen Darstellungseffekte von Protest. Damit rücken Erfahrungen des kommunikativen Wie einer aufsehenerregenden Bewegtheit in den Blick, die als affektive Politik des Chorischen in den Fallbeispielen weiter ausdifferenziert werden soll. Da die Attraktivität des Affekts schließlich nicht von seiner medialen Vermittlung hergedacht wird, die zu erheblichen Unschärfen und weiteren Dramatisierungen führen würde, scheint es empfehlenswert, sich den Protestszenarien nicht mit einem repräsentativen Affektbegriff zu nähern, sondern sie im Ereignis selbst und damit inmitten einer betont performativen Praxis zu verorten, die jedweder bildlichen Fixierung zunächst skeptisch gegenübersteht.
3. EREIGNIS „Die Kräfte, die in der Geschichte am Werk sind, gehorchen weder einer Bestimmung noch einer Mechanik, sondern nur den Zufällen des Kampfes. Sie manifestieren sich nicht als sukzessive Ausprägungen einer ursprünglichen Absicht und nehmen auch nicht die Gestalt von Ergebnissen an, sondern erscheinen stets nur als das einzigartige Zufällige des Ereignisses.“134
Eine Verbindung zwischen dem Ereignisbegriff und Protestbewegungen ist zunehmend dort auszumachen, wo sich Proteste als Ereignisse entwerfen oder selbst unmittelbare Reaktionen auf Ereignisse darstellen. Wie die Ergebnisse der Protest- und Bewegungsforschung betonen, befreien sich Protestierende gegen Ende des 20. Jahrhunderts von den Beschränkungen etablierter sozialer Bewegungen. Während sich Protest als kollektive Artikulationspraxis von Widerstand im vergangenen Jahrhundert traditionell gegen Regierungen richtete und dadurch vordringlich die nationale Ebene adressierte, ersetzt ein neuer, global ausgerichteter Diskurs um das Humanitäre den alten um soziale Gerechtigkeit.135 Neue Dynamiken resultieren aus der transnationalen Arbeit sogenannter Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die als zivilgesellschaftliche Interessenverbünde in deutlich stärkerer Abgrenzung zu staatlichen Akteur*innen für eine neue Phase der Bürger*innenbeteiligung stehen.136 Der ökonomische Erfolg auf den globalen Märkten, der in den 1990er Jahren zu neuen internationalen Interdependenzen führt, befeuert zugleich die kritischen Stim-
134 Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, S. 180. 135 della Porta/Caiani, Social Movements & Europeanization, S. 12. 136 Beachtliche internationale Abkommen wie das multilaterale Rom-Statut vom 17.07.1998, mit dessen Unterzeichnung der Internationale Strafgerichtshof ins Leben gerufen wird, zeigen, wie sich durch den Druck zivilgesellschaftlichen Engagements neue Chancen für politischen Wandel ergeben.
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men einer zunehmend global agierenden Zivilgesellschaft.137 Gegen einen von Wirtschaftsinteressen geleiteten Herrschaftsdiskurs führender Industrienationen richten sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts globalisierungskritische Bewegungen wie Attac, Greenpeace oder das Netzwerk Peoples Global Action (PGA), die die Argumentation einer Politik der Wohlstandssicherung kritisch als Verschleierung neo-liberaler Imperative dechiffrieren.138 Um auf eklatante Fehlentwicklungen hinzuweisen, erschaffen sie am Rande von Weltwirtschaftsforen und internationalen Gipfeln von Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO) aufsehenerregende Protestereignisse. Die Heterogenität der Initiativen, vielfältige Ziele und unterschiedliche Forderungen veranschaulichen, wie sich Aktivist*innen gegen die Behauptung des politisch Unvermeidlichen richten. Im Gegensatz stellen ihre Aktionen die von der Politik dargestellte Ausweglosigkeit radikal in Frage.139 Durch die konfrontationsfreudige Demonstration der eigenen Handlungsbereitschaft befeuern neue Protestformen eine widerständige Praxis, die darauf zielt, ,das Politischeʻ notwendigerweise wiederzubeleben. Noch vor Beginn des neuen Millenniums wird im Jahr 1999 durch die Protestereignisse rund um den WTO-Gipfel in Seattle diese neue Phase eingeläutet: Die Verhandlungen im dortigen Washington State Convention Center werden am 30. November 1999 von massiven und zugleich kontroversen Straßendemonstrationen überschattet.140 Weltweite Aufmerksamkeit erzielen die Proteste in Seattle durch medial 137 Gerade weil in Krisenzeiten trotz immenser Gewinne wiederum eine reflexartige Infragestellung sozialer Zugeständnisse festzustellen ist, fordern Linke wie Bourdieu umso vehementer, soziale Errungenschaften „zu universalisieren, sie über den ganzen Erdkreis zu verbreiten […].“ Hingegen habe ein „Jargon der Globalität“ die Frage des richtigen Wirtschaftens dominiert und mit falschen Argumenten wachsender Freiheit lange Zeit Prozesse der Deregulierung legitimiert. Pierre Bourdieu, „Die fortschrittlichen Kräfte“, in: Ders./Debons, Claude/Hensche, Detlef/Lutz, Burkart et al. (Hrsg.), Perspektiven des Protests. Initiativen für einen europäischen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 1997, S. 11-25, S. 14. 138 Globalisierungskritische Bewegungen begreifen sich nicht mehr als Organisationen, sondern als Plattformen, auf denen sich verschiedene Interessengruppen und Strömungen synchronisieren, um vielfältige Interessen zu verfolgen. Zum Selbstverständnis dieser Bündnisse zwischen Netzwerk, NGO und Bewegung liegt ein Thesenpapier der globalisierungskritischen Bewegung Attac vor. Darin schreibt die Gruppe, dass sie einerseits selbst Züge einer Bewegung habe, andererseits aber auch festere und auf dauerhafte Stabilität ausgelegte Organisationsstrukturen aufweise. Sich dieser Einflüsse bewusst schlussfolgern die Autor*innen, dass es kurzsichtig wäre, „die Bewegungsorientierung zu verabsolutieren und die institutionell verfestigten Strukturen gegen die Bewegungselemente auszuspielen.“ Vgl. www.attac.de/fileadmin/user_upload/bundesebene/attac-struk turen/Attac_Selbstverstaendnis.pdf (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 139 Angela Merkels vielzitierte Äußerung zur Alternativlosigkeit der Euro-Rettung („Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“) aus dem Jahr 2011 steht in der Tradition einer solchen Politik, die jede Diskussion – im speziellen Fall eine Debatte über fiskalpolitische Lösungen der Euro-Krise – im Vornherein unterbindet. 140 Selbst vorsichtige Schätzungen gingen von mindestens 40.000 Demonstrant*innen aus, die die Teilnehmer*innen der Konferenz durch zunächst friedliche Blockaden daran hinderten, das Tagungsgebäude zu erreichen. Die Polizei sollte die Aktivist*innen daraufhin vertreiben. Als Maskierte begannen Scheiben von Geschäften einzuschlagen, eskalierte
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gestreute Bilder der Eskalation sowie neue Aktionsformen, die von Widerstandsbewegungen wie Reclaim the Streets in Großbritannien oder durch das Direct Action Network maßgeblich beeinflusst sind.141 Als beispielhaftes Protestereignis zeigt der „Battle of Seattle“, wie produktiv sich durch den Einsatz neuer Medientechnologien Prozesse der Rekrutierung, Mobilisierung und Planung erstmals verbinden.142 Im konkreten Fall vereinfacht das Internet die Synchronisation simultaner Aktionen. Weltweit finden an unterschiedlichen Orten Demonstrationen gegen die Politik der WTO statt.143 Neben der internationalen Koordination ermöglicht das Internet zudem eine effektivere Aufteilung von Arbeitsschritten während der Protestaktionen.144 Der Erfolg der neuen Taktiken, die Online- und Offline-Strategien verbinden, hat Auswirkungen für alle weiteren, danach folgenden Protestereignisse.145 Als einschneidende Zäsur und gravierender Rückschlag für die humanitäre Agenda prägen zwei weitere Ereignisse den Beginn des 21. Jahrhunderts: Der G8Gipfel in der italienischen Stadt Genua im Juli 2001 wird von schweren Auseinandersetzungen zwischen Globalisierungsgegner*innen und der italienischen Polizei überschattet.146 Da in den Gefechten hunderte Personen verletzt werden und der Aktivist Carlo Giuliani von einem Polizisten erschossen wird, steht Genua als mahnendes Beispiel für die Eskalation von Protesten und ein Ausufern der Gewalt, das in Folge zu einer Militarisierung der Ordnungskräfte und neuen Sicherheitskonzepten führt.147 Die Aufarbeitung der Ereignisse um den tragischen Tod Giulianis dauern bis heute an.
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die Lage. Schließlich kam es zu heftigen Ausschreitungen, die zum Abbruch der Beratungen führten. Zur Wiederaneignung städtischen Raums der Widerstandsbewegung Reclaim the Streets, die durch tanzartige Blockaden und karnevaleske Interventionen im öffentlichen Raum Stadtzentren blockiert, siehe auch Naomi Klein, No Logo. No Space, No Choice, No Jobs, New York 2001. Unter dem Motto „Sitzen ist fürʼn Arsch! Rumstehen nervt! Gehen ist öde! Tanzen ist cool!“ verfolgt die Tanzguerilla aus Berlin ähnliche Ziele, siehe dazu www.tanzguerilla.de (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). Unter dem Motto „A Global Day of Action“ wurden die Aktionen wesentlich durch die Webseite www.seattle-wto.org unterstützt. Carty bezeichnet die Proteste in Seattle daher auch als ein „first major example of the significance of the Internet in terms of the intersection between online and offline mobilising.“ Carty, Wired and Mobilizing, S. 2. Zur Aktion wurde in zehn Sprachen aufgerufen und eine Liste mit lokalen Kontakten zur Verfügung gestellt. Vgl. Don Tapscott/David Ticoll, The Naked Corporation. How The Age Of Transparency Will Revolutionize Business, New York 2003, S. 30. Vgl. Carty, Wired and Mobilizing, S. 2. Die Proteste in Seattle setzten „a pattern that was followed by demonstrations in nearly every major summit over the next few years […].“ Ebd. Die Ereignisse von Genua hat Carlo A. Bachschmidt in der Dokumentation Black Block aufgearbeitet; siehe auch Peter Ullrich, Gegner der Globalisierung? Protest-Mobilisierung zum G8-Gipfel in Genua, Schkeuditz 2003. Das in den 1970er Jahren vorherrschende Konzept des Negotiated management, das auf das Management von Protesten durch Verhandlungen setzte, wurde ab dem Jahr 2001 durch polizeiliche Taktiken des Summit policing abgelöst. Veranstaltungsorte für Großveranstaltungen mit Eskalationspotenzial werden seitdem so gewählt, das sie in entlege-
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Auch die Terroranschläge des 11. September 2001 haben die Welt wie kein anderes Ereignis im Mark erschüttert, verstört und verändert.148 Um der eigenen Fassungslosigkeit zu begegnen und die eigene Souveränität wiederzuerlangen, leitet die US-Regierung nach diesem „Angriff auf die westliche Zivilisation“ zahlreiche innenpolitische Maßnahmen ein.149 Politische Schlagworte wie die „Achse des Bösen“ führen durch Wiederbelebung des Freund-Feind-Schemas zu einer Radikalisierung neuer Konfliktlinien. Die souveränitätsorientierte Rhetorik der US-Politik führt nach dem Schock zu unilateralen Aktionen. In den Folgejahren verdrängen völkerrechtlich nicht legitimierte Kriege in Afghanistan und Irak eine breite Bündnis-Politik in den Internationalen Beziehungen.150 Protestforscher wie Dieter Rucht beschreiben, wie im Zuge all dieser Ereignisse in westlichen Gesellschaften die „Eingriffstiefe“ sozialer Proteste abnimmt, große antisystemische Bewegungen an Radikalität und Bedeutung verlieren, dafür allerdings eine quantitative Zunahme „bewegungsförmiger Proteste“ auszumachen ist.151 Am Beispiel der Antiglobalisierungsbewegung kann belegt werden, wie flexibel sich seit Mitte der 1990er Jahre unterschiedliche Kooperationsgruppen für begrenzte Zeiträume und partielle Aktionsbündnisse organisieren lassen. Ausgehend von den Tute Bianche (den „weißen Overalls“) in Italien oder der Bewegung der Zapatista in Mexiko, kann über die Antiglobalisierungsproteste 1999 in Seattle und 2001 in Genua (Disobbedienti), die Massenproteste 2001 in Argentinien, die großen Demonstrationswellen 2004 gegen die Hartz-Gesetze in Deutschland, die Unruhen 2005 in Paris und 2011 in London ein fließender Übergang zu Stuttgart 21, dem Arabischen Frühling, der Occupy-Bewegung und den aktuellen Protestereignissen im Anschluss an
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nen Gegenden gut abgesichert werden können. Im Zusammenhang mit dem Summit policing wurde vielfach von einer „autoritär-repressiven Wende“ im Verhalten gegenüber Protestierenden gesprochen. Peter Ullrich hat bspw. angedeutet, wie „durch den gewaltprophylaktischen Druck durch Vorkontrollen, Armierung, extensive Videoaufnahmen, einschließende Begleitung und andere Maßnahmen die Grenzen zwischen Prävention und Repression“ verschwimmen. Vgl. Peter Ullrich, „Das repressive Moment der Krise: Erleben wir eine Rückkehr autoritärer Konfliktlösungen?“, in: WZB Mitteilungen, Nr. 137 (2012), S. 35-37. Abrufbar unter: https://www.wzb.eu/sites/default/files/publikationen/ wzb_mitteilungen/35-37.pdf (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018); Siehe auch della Porta, Donatella/Reiter, Herbert (Hrsg.), Policing Protest. The Control of Mass Demonstrations in Western Democracies, Minneapolis 1998. Siehe Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001, Würzburg 2004. Ein sicherheitspolitischer Reflex führt zur Verschärfung von Gesetzen. Es werden „AntiTerror-Ermittlungen“ aufgenommen und unter Hochdruck alles darangesetzt, die Drahtzieher*innen der Anschläge ausfindig zu machen. Siehe dazu George Leaman, „Iraq, American Empire, and the War on Terrorism“, in: Metaphilosophy 35, No. 3 (2004), Special Issue: The Philosophical Challenge of September 11, hg. v. Tom Rockmore und Joseph Margolis, S. 234-248. Vgl. Rucht, „Gesellschaft als Projekt“, S. 20. Als spezielle Protest-Formate, die die internationalen Gipfel begleiteten, wurden sogenannte counter-summits (Gegengipfel) und social forums (Sozialforen) organisiert. Vgl. della Porta/Caiani, Social Movements & Europeanization, S. 165.
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die Wahl des neuen US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump oder die #MeToo-Bewegung hergestellt werden. Unter dem Stichwort ,Ereignis‘ soll versucht werden, den gegen Ende des 20. Jahrhunderts einsetzenden Transformationsprozess zu einem mehr und mehr situativen Protestverhalten nachzuvollziehen und überlegt werden, welche Konsequenzen sich für die Analyse gegenwärtiger Protestereignisse daraus ergeben. Was zeichnet die neuen Protestbewegungen aus? Welche Zusammenhänge sind zwischen dem Protest- und dem Ereignisbegriff auszumachen? Können Protestereignisse als Aufführungen beschrieben und analysiert werden? 3.1 Protest und Ereignisbegriff „Sobald sich ein Ereignis aktualisiert, entsteht ein Kompositionsfeld […]. Hier wird eine andere Erfahrungsebene erreicht, eine, die im strengen Sinne nicht mehr länger affektiv ist. Auf dieser Ebene bilden sich Verbindungsknoten heraus, die sich als ein bestimmter Körper, als ein fertiges Kunstwerk, als eine relationale Architektur, als eine politische Intervention oder als eine mikrofaschistische Bewegung manifestieren können.“152
Unter der Prämisse, dass Protestierende heute zunehmend selbst Ereignisse erschaffen, geht diese Arbeit davon aus, dass sich Protest als ein spezifisches Kommunikationsverfahren ereignet, das erst manifest wird, „wenn es im öffentlichen Raum als soziales Ereignis performiert wird.“153 Grundgedanke der Performativitätsforschung ist dabei, dass „die Bedeutung von Dingen, Körpern oder Sachverhalten nicht feststeht, sondern erst im Vollzug durch Handlungen zwischen den Aufführenden, dem Publikum und dem Setting austariert werden.“154 Für Protesthandlungen spielt der Ereignischarakter aufgrund seiner Einmaligkeit, der weniger kontrollierbaren Sprache und Körper sowie der situativen Konstruktion von Erfahrungswerten und Bedeutungen einen strategischen Vorteil: Ereignisse können im Besonderen dort auftreten, wo sich etwas unerwartet zeigt und die Präsenz der spezifischen Materialität des Protests umso mehr mit gesellschaftlichen Strukturen kollidiert. Die weniger fixierte Organisationsstruktur von Protest, die seine Vollzüge umso mehr als ereignisorientiertes Handeln ausweist, verdeutlicht die aktuelle Nähe von Protest- und Ereignisbegriff. In nahezu allen Wissenschaftsdisziplinen ist der Ereignisbegriff ein viel diskutierter Terminus, der allgemein das Auftreten eines beobachtbaren Gegenstands bezeichnet. Beim Ereignis handelt es sich im ursprünglichen Sinn des Wortes um ein Geschehen, das ,vor Augen tritt‘, das ,eräugt‘ wird. Indem der Topos ,Ereignis‘ in den Naturwissenschaften im Zusammenhang mit der Raumzeit der Relativitätstheorie ei152 Manning, „Ereignis des Schreibens“, S. 14. 153 Gherairi, Persuasion durch Protest, S. 215. 154 Frank Bösch, „Ereignisse, Performanz und Medien in historischer Perspektive“, in: Ders./ Schmidt, Patrick (Hrsg.), Medialisierte Ereignisse. Performanz, Inszenierung und Medien seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 2010, S. 7-30, S. 11.
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ne entscheidende Rolle spielt oder in der Publizistik Ereignismerkmale in Bezug auf Nachrichtenwerte diskutiert werden,155 gilt der Ereignisbegriff als zentrale Kategorie moderner Philosophie.156 Unter dem Stichwort „Eventisierung“157 wurden zuletzt gesellschaftliche Entwicklungen fokussiert, in deren Folge immer mehr Bereiche „unseres gesellschaftlichen Miteinanders mit einer bestimmten Art kultureller Erlebnisangebote durchzogen und sozusagen verspaßt werden.“158 Während die Kommerzialisierung von Kultur in dieser Lesart stark kritisiert wird, versteht Foucault unter „Evenementalisierung“ auch neue Möglichkeitsräume, die die Evidenz linearkausaler Narrationen – wie sie die repräsentative Politik kontinuierlich reproduziert – unterbrechen.159 In Anlehnung an die Spätphilosophie Schellings nimmt der Ereignisbegriff besonders im Werk des deutschen Philosophen Martin Heidegger eine prominente Stellung ein. 160 Anders als in der sprachanalytischen Philosophie Davidsons wird ,Ereignis‘ nicht mehr mit ,Handlung‘ gleichgesetzt, sondern wird als etwas konzipiert, das „von sich aus, ohne die Intervention menschlicher Absichten, geschieht, […] als Aussetzung einer etablierten Seinsordnung.“161 Ereignisse zeichnen sich mit anderen Worten dadurch aus, dass sie historische Abläufe unterbrechen: Sie intervenieren in vorgegebene Ordnungen, ohne zwangsläufig aus den Situationen der Geschehensverläufe hergeleitet werden zu können.162 Ereignisse, die sich nicht voraussagen lassen und plötzlich auftreten, erscheinen nur in Form wahrnehmbarer Wirkungen. Diese Qualität kennzeichnet den von Heidegger erwähnten „unausmessbaren“ und in doppelter Hinsicht „unberechenbaren“
155 Siehe Christiane Eilders, Nachrichtenfaktoren und Rezeption: Eine empirische Analyse zur Auswahl und Verarbeitung politischer Information, Opladen 1997; Hans Mathias Kepplinger, „Der Ereignisbegriff in der Publizistikwissenschaft“, in: Publizistik, 46. Jg., Nr. 2 (2001), S. 117-139. 156 Siehe dazu Slavoj Žižek, Was ist ein Ereignis?, Frankfurt a.M. 2014. 157 Siehe Eisermann, Uwe/Winnen, Lothar/Wrobel, Alexander (Hrsg.), Praxisorientiertes Eventmanagement: Events erfolgreich planen, umsetzen und bewerten, Wiesbaden, 2014. Ronald Hitzler, Eventisierung. Drei Fallstudien zum marketingstrategischen Massenspaß, Wiesbaden 2011. 158 Hitzler, Eventisierung, S. 19. 159 Vgl. Michel Foucault, „Diskussion vom 20. Mai 1978“, in: Ders., Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, Frankfurt a.M. 2009, S. 248-265, S. 253. 160 Siehe Hühn, Lore/Jantzen, Jörg (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), Stuttgart 2010. 161 Andreas Hetzel, „Das reine Ereignis. Philosophische Reaktionen auf den 11. September“, in: Lorenz (Hrsg.), Narrative des Entsetzens, S. 267-286, S. 268. 162 Heidegger verwendet den Ereignisbegriff, um historische Schnittpunkte und geschichtliche Übergänge zu markieren, ohne auf ideologisch vorbelastete Termini wie ,Idealismus‘ oder ,Materialismus‘ zurückgreifen zu müssen. Neben gewöhnlichen Bedeutungen des Ereignisses als Prozess und Differenzierungsgeschehen verweist Heidegger auf die etymologische Verbindung zwischen ,ereignen‘ und ,eignen‘. Daher meint ,Ereignis‘ bei Heidegger eine ,Verselbstung‘, ein Er-Eignis, das sich als grundlegende Idee in seine Philosophie des menschlichen Seins und Daseins einfügt.
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strategischen Mehrwert,163 den das Ereignishafte für Proteste entwickelt. In dem Maße, in dem Ereignisse das Kontingente herausfordern, erschaffen Proteste gleichsam kontingente Zeit-Räume, in denen Bewährtes neu zur Disposition gestellt wird, Veränderlichkeit nicht nur markiert, sondern programmatisch angesteuert und umgesetzt werden soll. Damit wird das Ereignis – und in Analogie dazu das Protestereignis – wie der deutsche Sozialphilosoph Andreas Hetzel schreibt als „unmögliches, monströses und ver-rücktes […] zugleich zur Möglichkeitsbedingung von Neuem; es bindet sich eng an die menschliche Freiheit, an das den Menschen als solchen auszeichnende Vermögen, anfangen zu können.“164 In der Tradition Nietzsches Dekonstruktion der christlichen Moral hat Foucault das Ereignis zur Grundlage seiner genealogischen Geschichtsschreibung gemacht. In seinem Text „Theatrum philosophicum“ nennt er für den Bereich der Geisteswissenschaften drei große Versuche der jüngeren Vergangenheit, Ereignisse zu denken: den Neopositivismus, die Phänomenologie und die Geschichtsphilosophie. Der Neopositivismus habe die Ebene des Ereignisses mit dem Zustand der Dinge verwechselt und sei daher gezwungen gewesen, „es tief in den Körper hineinzuverlegen, einen materiellen Prozess daraus zu machen und sich mehr oder weniger explizit auf einen Physikalismus einzulassen.“165 Die Phänomenologie habe das Ereignis ferner im Verhältnis zum Sinn verschoben, indem sie das nackte Ereignis „als Fels der Faktizität, stumme Trägheit des Geschehenden“ isoliert oder ihm eine vorgängige Bedeutung unterstellt habe, woraus sich „in jedem Fall eine Logik der Bedeutung, eine Grammatik der ersten Person, eine Metaphysik des Bewusstseins“ ergab.166 Zur Geschichtsphilosophie urteilt Foucault nicht minder kritisch, dass sie das Ereignis letztlich in den Kreislauf der Zeit eingeschlossen habe. Foucault bestimmt alle drei Strömungen also dadurch, dass sie ,das Ereignis‘ verfehlten. 167 Zum Ereignisbegriff fügt er schließlich selbst an: „Das Ereignis ist genau das, was der Folge des Phantasmas stets entgeht – der Mangel, in dem sich seine Wiederholung zeigt, das kein Original und keine Nachahmung kennt und daher frei von Zwängen der Ähnlichkeit ist. Eine verkleidete Wiederholung also, stets neue Masken, die nichts verbergen; Trugbilder ohne Verschleierung, fadenscheinige Lumpen, zwischen denen keine Nacktheit sichtbar wird; reine Differenz.“168
Foucaults Versuch den Ereignisbegriff sprachlich zu erfassen und als „verkleidete Wiederholung“ oder „reine Differenz“ zu beschreiben, bedient sich mit seinen „stets neue[n] Masken“ einem überaus theatralen Vokabular. Die Betonung der einzigarti163 Martin Heidegger, „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“, in: Ders., Gesamtausgabe 65, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1989, S. 7. Auch Badious Ereignisbegriff unterstreicht als konstitutives Merkmal des Ereignisses das Unberechenbare, Unvorhersehbares, die Singularität der jeweiligen Situation. Siehe Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, Zürich 2016. 164 Hetzel, „Das reine Ereignis“, S. 268. 165 Foucault, „Theatrum philosophicum“, S. 103. 166 Ebd. 167 Ebd., S. 104. 168 Ebd.
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gen Singularität, die Ereignisse manifestiere und die Foucault ebenso wie Heidegger unterstreicht, rückt das Ereignis in unmittelbare Nähe zum Begriff der Aufführung. Ein vergleichbarer Wesenszug von Aufführungen ist, dass sie sich selbst nicht als Werk, sondern als Ereignis realisieren, das auf die grundlegende Neudefinition von Verhältnissen hinwirken kann.169 Neben der Möglichkeit von Rollenwechseln können sie so „eine Reflexion über ihre materiellen und institutionellen Voraussetzungen in Gang setzen.“170 Hierbei deutet sich an, wie eben dieses Anschieben von Überlegungen über die materiellen und institutionellen Gegebenheiten Protesthandlungen und künstlerische Verfahren verbindet. Beide wollen vermeintliche Gewissheiten intentional irritieren. Protestbewegungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts schöpfen ihre Kraft daher vornehmlich daraus, sich reflexiv und distanziert zum eigenen Inszenierungscharakter zu verhalten oder selbst in Frage zu stellen. 3.2. Postidentitäre Protestbewegungen im 21. Jahrhundert „Die repräsentativen Flächen – und Massendemokratien der Moderne entwickelten sich vor dem Hintergrund eines dynamischen Geschichtsverständnisses, nach dem insbesondere die Gesetzgebung kein ein für allemal zu vollziehender Akt, keine gleichsam zeitlose Festlegung, sondern eine im Prozess der Geschichte progressiv den Gang der gesellschaftlichen Entfaltung steuernde, kontinuierliche Aufgabe ist.“171
Aus Sicht der Protestforschung zeigt die Mobilisierung neuer Protestbewegungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Reihe allgemeiner Entwicklungen auf, die erst über einen längeren Zeitraum sowie in Abgrenzung zu anderen politischen Bewegungsformen sichtbar werden: Erstens zeichnen sich Proteste gegenwärtig weniger durch feste Organisationsstrukturen als durch ereignisorientiertes Handeln aus. Tendenziell ist darüber hinaus eine wachsende Bereitschaft zur öffentlichen Konfrontation auszumachen. Protestierende wissen heute, dass sie, um wirkungsvoll zu sein, Gelegenheiten spontan ergreifen müssen.172 Zweitens kann unter dem Stichwort der „Bewegungsgesellschaft“173 eine Entwicklung zusammengefasst werden, die den Bedeutungswandel von Protest als zunehmend anerkannte Partizipationsform politischen Handelns darstellt und den gefühlten Trend einer Zunahme von Themen und Anlässen für soziale Proteste durch
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Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 28. Warstat et al., „Applied Theatre“, S. 7. Rosa, Beschleunigung, S. 391. Siehe dazu auch Carty, Wired and Mobilizing, S. 12: „[…] opportunities are indeed situational, fluid, and volatile because they depend on the way actors perceive and define the situation, and then decide what action should be taken.“ 173 Siehe Friedhelm Neidhardt/Dieter Rucht, „Auf dem Weg in die ,Bewegungsgesellschaft‘? Über die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen“, in: Soziale Welt, 44. Jg., Nr. 3 (1993), S. 305-326.
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einen sozialwissenschaftlichen Begriff zusätzlich bekräftigt.174 Während die Bereitschaft zu protestieren in allen westlichen Gesellschaften nach Ende des Zweiten Weltkriegs nachweislich zugenommen hat,175 stoßen Proteste „als Instrument zur Artikulation und Durchsetzung von Ansprüchen an die Gesellschaft […] immer mehr auf Akzeptanz.“176 Dabei sind Verschiebungen auf Seiten der Akteur*innen zu verzeichnen: Protest ist nicht mehr nur Ausdruck benachteiligter, unterdrückter oder marginalisierter Menschen, sondern erfährt eine breite, wachsende Anwendung auch in etablierten Gruppen. Drittens ist eine weltweite Ausbreitung transnationaler Protestbewegungen nachweisbar, die sich durch gesteigerte Netzwerkstrukturen auszeichnet. Waren die ersten modernen sozialen Bewegungen noch auf Nordamerika und Europa beschränkt, zeigt sich heute, dass Protestbewegungen – bis auf wenige Ausnahmen, die auf die Unterdrückung in totalitären Regimen zurückzuführen sind – ein wichtiger Teil der zivilgesellschaftlichen, politischen Praxis geworden sind. Als sich untereinander verzweigende Netzwerke arbeiten Protestbewegungen projektbezogen und lassen in Arbeitsprozessen neue Flexibilitäten erkennen. Während soziale Bewegungen früher überwiegend national organisiert und durch eindeutig abgrenzbare kollektive Identitäten bestimmt waren, werden gegenwärtig Kooperationsmodelle offenbar, die sowohl in institutioneller als auch geografischer Hinsicht weniger feste Strukturen aufweisen.177 Noch die Neuen Sozialen Bewegungen demonstrierten, wie durch spezifische Gruppenmerkmale das Eigene besonders betont wird und sich politische Akteur*innen durch die Herstellung einer kollektiven Identität etablieren. Neben dem Kritikpunkt, dass ein solch identitätspolitisches Vorgehen vormals negativer Zuschreibungen geradezu naturalisieren würde, liegt die politische Brisanz dieser „alten“ Identitätspolitik, für die das repräsentative Chor-Modell steht, in den Ausschlussmechanismen jedweder identitären Verortung begründet: Die Konstituierung einer Gruppen-Identität führt dazu, dass sich Unterdrückung fortsetzt, insofern andere Marginalisierte wiederum nicht repräsentiert werden können und folglich ausgeschlossen werden.
174 Vgl. Rucht, „Gesellschaft als Projekt“, S. 15. Zwar wurden global agierende, internationale Institutionen geschaffen, die die internationale Politik auf Grundlage trans- und supranationaler Kooperationen regeln, nur erscheinen deren Entscheidungsprozesse aus gesellschaftlicher Sicht wenig legitim, weil Entscheidungsmodelle des exekutiven Multilateralismus an einer Politik festhalten, die – anders als es die Neuen Medien für weite gesellschaftliche Bereiche eingeführt haben – nach wie vor unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. 175 Vgl. Doug McAdam, „The Future of Social Movements“, in: Giugni, Marco/Ders./Tilly, Charles (Hrsg.), From Contention to Democracy, Lanham 1998, S. 229-246. 176 Kern, Soziale Bewegungen, S. 15. 177 Der Bedeutungszuwachs von trans- und supranationalen Institutionen stellt die Legitimation des Nationalstaats zusätzlich vor neue Herausforderungen. Siehe Michael Zürn/ Martin Binder/Matthias Ecker-Ehrhardt/Katrin Radtke, „Politische Ordnungsbildung wider Willen“, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 14. Jg., Nr. 1 (2007), S. 129164.
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Da unter Einfluss postmoderner Ansätze, die vorgängige Einheit von Identität gänzlich in Frage gestellt oder zumindest problematisiert wird, soll mit dem Konzept des Chorischen gerade auf die Erosionen und Fragmentarisierungen der sozialen Welt abgehoben und versucht werden, diese für eine Revitalisierung des Politischen positiv umzuwerten. Während im Laufe dieser Untersuchung gezeigt werden soll, wie das Chorische in gegenwärtigen Protestbewegungen als postidentitäres Verfahren dazu genutzt wird, das Phantasma der Autonomie zu transzendieren, deutet sich an, welche Mechanismen postidentitäre Proteststrategien im 21. Jahrhundert zunehmend umgehen: Sie verzichten auf kohärentes Auftreten, lehnen konsistente Behauptungen ab und sind keineswegs mehr auf das kontinuierliche Ringen um Sichtbarkeit angelegt. Mit dem Argument, dass Herrschaft im extremen Fall darauf abzielt, Identitäten zu zerstören, wurde dem Kampf um Identität ein widerständiges Potenzial zuerkannt. Indem politische Aktivist*innen heute postidentitäre Strategien verfolgen, versuchen sie der Herrschaft selbst ihren Angriffspunkt zu nehmen. Die Frage, wie zeitgenössische Protestformen organisiert sind, ist so zentral, weil in der Offenheit gegenüber Prozessen des Gestaltens, eine Ereignishaftigkeit der Selbstbefragung erkannt werden kann, die das bisherige Narrativ einer identitätspolitischen Kulturgeschichte des Protestierens mittels Selbstermächtigung in eine neue Richtung lenkt. Statt die eigene Unterlegenheit zu überwinden, indem man als starkes Kollektiv durch die Stärke einer kollektiven Gruppenidentität in Erscheinung tritt, favorisieren es heutige Aktivist*innen, schwache Identitäten selbst als eine strategische Stärke zu betrachten. Marchart lokalisiert dementsprechend ein neues, identitätskritisches Verständnis sozialen Protests. Er argumentiert, dass sich gerade in neuen Formen der Selbstbefragung und Selbstinfragestellung politischer Akteur*innen, die dem traditionellen Verständnis politischer Mobilisation nicht mehr entsprechen, etwas Neues ankündigt.178 Bisher galt, „dass die politische Schlagkraft einer Bewegung in direkt proportionalem Verhältnis zu ihrer Geschlossenheit, zumindest aber zur Stärke ihrer kollektiven Identität stünde.“179 Gegen diese bisherige Identitätspolitik politischer Bewegungen verteidigt Marchart gewissermaßen konterintuitiv, dass die politische Kraft sozialer Akteur*innen heute maßgeblich darin bestehe, sich selbst sowie eigene Ausschlussmechanismen zu hinterfragen und dadurch das zu unterlaufen, was früher noch die Identitätspolitik der Neuen Sozialen Bewegungen ausgemacht hat.180 Auch Protestforscher wie Dieter Rucht haben erkannt, dass aktuelle soziale Bewegungen zur Ausbildung einer vergleichsweise schwachen Form kollektiver Identität tendieren. In seinem Artikel „The Strength of Weak Identities“ deutet Rucht schwache Identität als strategischen Vorteil, da sie die Schlagkraft einer Bewegung erhöhe und sich „situatives Engagement“ für das Mobilisierungspotenzial entsprechend als funktional erweise. Die Entstehung eines Wir-Gefühls ist heute keine Grundvoraussetzung mehr, um auf Basis geteilter Werte und Überzeugungen zu handeln. Indem sich Identität heute nur noch schwach ausbilde, erhöhe sich die kommunikative Reichweite von Gruppen. Protestbewegungen würden zu Beginn des 21.
178 Siehe Marchart, Prekarisierungsgesellschaft, S. 219-230. 179 Ebd., S. 222. 180 Vgl. ebd., S. 219.
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Jahrhunderts dadurch auch eine geringere Angriffsfläche bieten. Zudem erleichterten schwache Identitäten Allianzen zwischen heterogenen Milieus.181 Während Rucht argumentiert, dass diese schwache Bewegungsidentität heute „funktional geradezu zwingend“ sei,182 hat Marchart angemahnt, dass es nicht zufrieden stellt, schwache Identitäten nur hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit, also wiederum in Bezug auf Ressourcenmobilisierung oder die Nutzung von Gelegenheitsstrukturen zu untersuchen.183 Funktionalistische Ansätze übersähen nach Marchart drei wichtige Aspekte: Erstens, dass gerade in der Ausbildung paradoxer Identitätsstrukturen eine Radikalität von Bewegungsakteur*innen zu entdecken sei, die reguläre Konzepte von Identität unterlaufen; zweitens, dass es nicht nur um situatives Engagement geht, sondern um eine „sehr viel tiefer greifende Verschiebung in den dominanten Subjektivierungsformen der westlichen Gesellschaften: eine Verschiebung hin zu jener auch politische Subjektivierungsweisen berührenden projektbasierten Polis.“184 Und drittens, dass eine demokratiepolitische Dimension auszumachen sei, die „nicht unter Funktions- und Opportunitätsgesichtspunkten betrachtet werden kann.“185 Im Anschluss an Marchart wird deutlich, dass sich Protestbewegungen Prozessen der Subjektivierung zunehmend entziehen. Indem sie sich horizontal, egalitär und basisdemokratisch organisieren, auf Inklusion und Anschlussfähigkeit setzen, stellen sie sich Ausschlussmechanismen genauso entgegen wie Benennungs- oder Identifikationszwängen. Gerade chorische Praktiken – so die These dieser Arbeit – helfen als spezifische Organisationsverfahren des Protestierens, Protest selbst als eine solche Praxis zu etablieren, die sich den Bindungen identitärer Zuschreibung widersetzt. Gerade weil Protestbewegungen kaum mehr über institutionelle Strukturen verfügen, die über die Aktionen hinaus Planungssicherheit garantieren, fokussiert ihr Aktionskern die Gegenwärtigkeit des jeweils aktuellen Ereignisses. Um in der öffentlichen Wahrnehmung überhaupt in Erscheinung zu treten und dort als ereignishaft zu erscheinen, stellen Protestbewegungen ihre Singularität auch durch den strategischen Einsatz medialer Wiedergabeverfahren und Medientechnologien aus. 186 Auf allen Ebenen werden so die Signaturen des Ereignishaften genutzt, um sich als Intervention zu inszenieren oder durch Praktiken der Unterbrechungen bestehende politische,
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Vgl. ebd., S. 222. Rucht, „Weak Identities“, S. 74. Vgl. Marchart, Prekarisierungsgesellschaft, S. 223. Ebd. Ebd. Bereits Heberle stellte die besonderen Darstellungsanforderungen an Protestbewegungen heraus, indem er schrieb: „A protest movement needs to be shrill, obstreperous, undignified, and careless of the pattern of existing legitimacy which it is seeking to destroy in the interest of a new pattern which is waiting to emerge.“ Rudolf Heberle, „Types and Functions of Social Movements“, in: David Sills (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, New York 1968, S. 439-444, S. 439.
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soziale und kulturelle Systeme anzuhalten, zu suspendieren oder völlig außer Kraft zu setzen.187 Proteste verweisen als von Menschen ausgeführte Aktionen auf Handlungen, deren Ereignischarakter durch die konkrete raum-zeitliche Fixierung von Interaktionen bestimmt wird. Das Ereignishafte einer Protestsituation deutet zum einen auf spezifische theatrale Aspekte, die in der medialen Reproduktion des Ereignisses weitere Beachtung versprechen und als hervorgehoben wahrgenommen werden können.188 Zum anderen lassen Protestierende performative Situationen entstehen, in denen in wohl überlegter Weise zum Teil vorstrukturierte Aktionen (Inszenierung) umgesetzt werden oder sich weniger koordinierte und vorhersehbare Handlungen (Aufführung) ereignen, die von einem Publikum (Wahrnehmung) als funktional erkannt oder weniger bedeutungsvoll gedeutet, in jedem Fall aber wahrgenommen werden. Schließlich bedeutet diese performative Qualität von Protesten nicht, „etwas wird getan, sondern heißt, ein Tun wird ,aufgeführt‘.“189 3.3 Protest als Aufführung „Das Ereignis – Verwunderung, Sieg oder Niederlage, Tod, – ist stets Wirkung, ist stets Ergebnis des Zusammenstoßes, der Vermischung oder Trennung von Körpern; doch diese Wirkung ist selbst niemals etwas Körperliches, sie ist eine ungreifbare, unzugängliche Schlacht […].“190
In chorischen Aufführungen realisiert sich heute die historische Differenz unterschiedlicher Forderungen von Protest. Zwischen den Ansprüchen der Neuen Sozialen Bewegung nach identitärer Selbstdefinition und den gegenwärtigen identitätskritischen Bewegungen lassen sich deutliche Unterschiede ausmachen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts richten sich spezifische Protestformen gegen Einsperrungen identitärer Kategorien und unterziehen die vormals selbstgewählte oder von außen aufgezwungene Identität einer Befragung. In gegenwärtigen Aufführungen von Protest deuten sich durch Anwendung chorischer Verfahren nicht nur Kämpfe gegen Herrschaft und Ausbeutung an, sondern Widerstand gegen jene „gouvernementalen Machttechnologien, die Individuen in Subjekte verwandeln und in Kategorien der kollektiven Identität einweisen.“191 Im Hinblick auf die vielfältigen Transformationen politischer Bewegungen, neue postidentitäre Ausprägungen, die Vermeidung repräsentativer Organe, das Abrücken 187 Vgl. Warstat et al., „Applied Theatre“, S. 11. Zu Konzeption und Reichweite des Interventionsbegriffs siehe Ders./Julius Heinicke/Joy Kristin Kalu/Janina Möbius/Natascha Siouzouli, „Interventionen“, in: Dies., Theater als Intervention, S. 28-50. 188 Kraus betont den „präsentativ-performative[n] Aspekt des öffentlichen Zur-SchauStellens von – direkt, auditiv, örtlich oder dinglich – hervorgehobenen körperlichen Akten als strukturelle Komponente“ theatralen Handelns. Kraus, Theater-Proteste, S. 20. 189 Krämer, „Sprache – Stimme – Schrift“, S. 331. 190 Foucault, „Theatrum philosophicum“, S. 101. 191 Marchart, Prekarisierungsgesellschaft, S. 226.
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von Modellen der Interessenvertretung zugunsten konsensueller Entscheidungen, wird es erforderlich die bisherigen Methoden der Protest- und Bewegungsforschung zu erweitern. Gerade weil Protestierende aktuell keine klaren Motivationen mehr äußern, eindeutige Forderungskataloge hervorbringen oder die Behauptung einer kollektiven Identität als Erklärung ihres Handelns fungiert, erfordert die zeitgenössische Analyse von Protest noch dringlicher das prozesshafte Zusammenspiel von Handeln und Wahrnehmen in den Blick zu nehmen, in dem erst „Wirkungen erzeugt, Bedeutungen generiert und Beziehungen ausgehandelt werden.“192 Proteste im Folgenden als Ereignisse zu bestimmen und als Aufführungen zu analysieren, ermöglicht den Fokus auf Neubestimmungen dieser Zustände, auf ein anderes Erleben und sinnliches Erfahrbarmachen zu legen. Durch Fokussierung der Aufführungsdimension von Protest soll eine theaterwissenschaftliche Methode zum Einsatz kommen, um die angenommene Veränderung identitärer Kräfteverhältnisse an verschiedenen Formen theatraler Darstellung beschreibbar zu machen. Das aufmerksame Beobachten verschiedener Vollzugsebenen von Protest soll es neben der Verschriftlichung und Diskussion ästhetischer Erfahrungen zugleich ermöglichen, eigene Wahrnehmungsprozesse zu reflektieren. 3.3.1 Fischer-Lichtes Aufführungsbegriff Proteste als politisches Handeln und in diesem Sinne als Aufführungen zu konzipieren, bedeutet nicht, sie als Ereignisse zu begreifen, in denen sich Protestierende allein durch kritische Forderungen vordergründig selbst aufführen. Der Aufführungsbegriff soll nicht dazu verleiten, Proteste als „Spiel“ oder etwas „Künstliches“ aufzufassen, das im Gegensatz oder außerhalb der „Realität“ stattfindet. Im Gegenteil soll der Aufführungscharakter betonen, dass sich Proteste innerhalb einer als Realität wahrgenommenen Gegenwart ereignen und als performative Prozesse einmalig und unwiederholbar sind, „weil ihre spezifische Körperlichkeit, Lautlichkeit und Räumlichkeit nur an einem speziellen Ort, zu einer speziellen Zeit und für je konkrete Personen Bestand hat.“193 Überschneidungen zwischen Protest und Theater finden sich also dort, wo politische Protestaktionen soziale Situationen erschaffen, die Akteur*innen und Zuschauer*innen innerhalb eines theatralen Geschehens einbinden,194 ein Charakteristikum, das der Begründer der deutschen Theaterwissenschaft Max Herrmann als Wesenszug des Theaters festgehalten hatte. Er schrieb: „[Der] Ursinn des Theaters […] beruht darin, daß das Theater ein soziales Spiel war, – ein Spiel Aller für Alle. Ein Spiel, in dem Alle Teilnehmer sind – Teilnehmer und Zuschauer. […]
192 Horn/Warstat, „Politik als Aufführung“, S. 396. 193 Ebd. 194 Mithilfe des Begriffs der Theatralisierung lässt sich auch unterscheiden, was genau die Differenz zwischen alltäglichen Situationen und theatralen Aufführungen ausmacht. Der Begriff ,Theatralität‘, der verschiedene Aufführungsarten einschließt – vom traditionellen Theater bis zu Inszenierungen außerhalb der Kunst – ist eine unmittelbare Folge einer Erweiterung des Theaterbegriffs.
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Das Publikum ist als mitspielender Faktor beteiligt. Das Publikum ist sozusagen Schöpfer der Theaterkunst. “195
Herrmann richtete sein Interesse auf das Verhältnis von Schauspieler*innen und Zuschauer*innen. Mit seiner Suche nach dem „Ursinn des Theaters“ verband sich die Vorstellung, alle Anwesenden an einer Spielsituation zu beteiligen, um ihnen auch die Verantwortung für deren Entwicklung zu übertragen. Das Publikum sollte aus der passiven Rolle des Zuschauens befreit und befähigt werden, das Geschehen selbst in eine bestimmte Richtung zu lenken, wenn nicht gänzlich zu verändern, so durch sein Zutun oder die bloße Anwesenheit zumindest zu beeinflussen. Bezieht man Herrmanns radikale Neubestimmung des Verhältnisses von Darstellenden und Zuschauenden auf die hier anvisierten Protestaktionen, ergibt sich zunächst eine deutliche Differenz. Der Spielbegriff, den Herrmann anwendet, scheint den realen Situationen des „wirklichen“ Lebens zu widersprechen. Dabei meint ,Spiel‘ hier nicht vordergründig Täuschung oder Schein, sondern Aushandlungen mit offenem Ende, Prozesse der Interaktion und der gemeinsamen Beschäftigung, in denen Befindlichkeiten ausgetauscht und Positionen verhandelt werden.196 Diese neue Sichtweise auf das Verhältnis von Zuschauenden und Darstellenden ist für eine Konzeption der theatralen Qualitäten von Protest wesensbestimmend. Herrmanns Verständnis negiert die Vorstellung passiver, bloß rezipierender Zuschauer*innen. Vielmehr gründet seine Konzeption des Theaters geradezu auf der Beteiligung vormals passiver Empfänger*innen. Herrmanns Antizipation aktiver und beteiligter Zuschauer*innen kann produktiv auf die politische Ebene übertragen werden. Gerade wenn es darum geht, eine Idee von Bürger*innen zu entwerfen, die nicht mehr nur als Teil einer anonymen Masse gedacht werden und rein rezeptiv vorgefasste Entscheidungen politischer Eliten empfangen, fallen Herrmanns Auslegungen der Zuschauer*innen mit einer gedanklichen Aktivierung von Bürger*innen zusammen. Als Konsequenz ergibt sich, Zuschauende wie Bürger*innen mit eigenen Erfahrungen einzubeziehen, damit sie sich als aktiv Involvierte an der kreativen Gestaltung des Politischen beteiligen. Das Politische stellt sich als diese Vermittlung dar, als ein Austarieren von Rollen und Beiträgen, deren Prozesshaftigkeit durch den Verlauf der Aufführungen gespiegelt wird. Gerade in ihrer Gegenwärtigkeit sind Aufführungen bedeutsam, wenn sie Verbundenheit nicht nur abbilden, sondern Verbindungen in der Aufführung des Protestereignisses herstellen. Es erscheint daher hilfreich, die Analyse von Protesten an jene von Aufführungen anzupassen, um sie zum einen als Ereignisse besser zu verstehen. Zum anderen soll es der Aufführungsbegriff erleichtern, die wirkungsästhetische Dimension einer unmittelbaren Verschaltung von Mittel und Zweck, die sich in Protesten praktisch vollzieht, nachzuvollziehen.
195 Max Herrmann, „Über die Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Instituts“, in: Helmar Klier (Hrsg.), Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum, Darmstadt 1981, S. 15-24, S. 19. 196 Zur Kritik eines Verständnisses von Inszenierung, das verkürzt als Verfahren der Täuschung konzipiert wird, siehe auch Erika Fischer-Lichte, „Politik als Inszenierung“, in: Schriftenreihe des Niedersächsischen Landtages, Nr. 45, Hannover 2002, S. 7-22.
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Der Aufführungsbegriff, den Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen entwickelt, gründet auf der Begegnung von Menschen. Fischer-Lichte zufolge konstituiert das relationale Zusammenkommen von Akteur*innen und Zuschauer*innen einen Zustand der körperlichen Ko-Präsenz, der als Interaktion wirkt, bei der sich „alle Beteiligten zu einer bestimmten Zeit am selben Ort einfinden, um dort an einem spezifischen Programm von Aktivitäten teilzunehmen – entweder als Akteur oder als Zuschauer, wobei die Rollen von Akteuren und Zuschauern wechseln können, so dass dieselbe Person für eine bestimmte Zeitspanne als Akteur und für eine andere als Zuschauer agiert.“197 Fischer-Lichte steht in einer Traditionslinie, die Aufführungen anhand der leiblichen Ko-Präsenz von Zuschauer*innen und Akteur*innen als Gemeinschaftserfahrung entwirft und ihre gemeinschaftsstiftenden Qualitäten ins Zentrum rückt.198 Im Anschluss an Herrmanns Theaterverständnis von einem Spiel, in dem alle Teilnehmende sind, fundiert Fischer-Lichte den Begriff der Aufführung jedoch in bewusster Abgrenzung zum amerikanisch geprägten Performance-Begriff.199 Die Aufführung zeichnet sich nicht durch einen Werk-, sondern einen Ereignischarakter aus. Fischer-Lichte zufolge „bringt die Aufführung kein von ihr gesondertes Produkt hervor, sondern sich selbst.“200 Im Unterschied zur Inszenierung von Protesten, realisiert sich die Aufführung von Protest als einmalig und unwiederholbar. Die Aufführung von Protest entzieht sich der vollständigen Verfügungsgewalt einer einzigen Instanz, Person oder Macht. Weder der Ablauf, noch die Bedeutungen, die Teilnehmer*innen dem Protestereignis beimessen, lassen sich im Vorfeld bestimmen. Fischer-Lichte hat diese spezifische Art der Kontingenz – und damit die besondere Qualität des Zufälligen und Unvorhersagbaren der Aufführung, die ebenso bei Protestereignissen wirksam wird – in ihrer Ästhetik des Performativen am Beispiel der Interaktionen von Akteur*innen und Zuschauer*innen in Aufführungen als „autopoietische feedback-Schleife“ beschrieben.201 In Bezug auf die teilnehmenden Erfahrungen in Aufführungen führt sie aus: „Jeder bestimmt sie mit und läßt sich zugleich von ihr bestimmen, ohne dass ein einzelner volle Verfügungsgewalt über sie hätte.“202 Die aus diesen Überlegungen resultierende politische Dimension des Aufführungsbegriffs gründet auf Fischer-Lichtes Beobachtung, dass alle an der Aufführung Beteiligten diese zugleich mitbestimmen – weder völlig autonom noch völlig fremdbestimmt, sondern relational und eingebunden in ein System vielfältiger Beziehun197 Erika Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft, Tübingen 2010, S. 24. 198 Fischer-Lichte entwickelt die leibliche Ko-Präsenz von Akteur*innen und Zuschauer*innen als eine Art körperliche Intersubjektivität. Dabei fragt sich, mit welchem Gemeinschafts- und Subjektbegriff diese Forschung hantiert. Vielfach wurde ein allzu fester Subjektbegriff problematisiert, da er die Reichweite des Performativen selbst nicht auf den Körper als sein Material beziehe. 199 Siehe dazu auch Erika Fischer-Lichte, „Die verwandelnde Kraft der Aufführung“ in: Fischer-Lichte, Erika/Czirak, Adam/Jost, Torsten/Richarz, Frank/Tecklenburg, Nina (Hrsg.), Die Aufführung: Diskurs – Macht – Analyse, München 2012, S. 11-26. 200 Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft, S. 24. 201 Siehe Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S.71-82. 202 Ebd., S. 268.
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gen. Bezieht man diese Aussagen auf Protestereignisse wird deutlich, dass diese in besonders intensiver Weise dazu tendieren, die Potenzialität mannigfaltiger Beziehungen auszuhandeln, Relationen neu zu bestimmen, Machtkämpfe auszufechten, Gemeinschaften zu bilden und wiederum aufzulösen. Die Anwendung des Aufführungsbegriffs auf Protesthandlungen löst zum einen spezifische Fragestellungen aus. Werden Proteste als Aufführungen untersucht, ergeben sich zum anderen verschiedenartige analytische Konsequenzen: Erstens rückt die Ko-Präsenz von Akteur*innen und Zuschauer*innen in den Mittelpunkt der Analyse, wobei sich die Aufmerksamkeit zugleich auf die medialen Bedingungen verschiebt und auf die spezifischen Bedingungen der Vermittlung von Protest richtet, die sich nicht nur aus der gleichzeitigen Anwesenheit der Beteiligten ergeben. Zweitens betont der Aufführungsbegriff die Flüchtigkeit von Protestereignissen, die in ihrer Prozesshaftigkeit ergebnisoffen sind. Durch die Beteiligung unterschiedlicher Personen können sich in ihrem Fortlauf ungeahnte Reaktionen ergeben und zu unvorhersehbaren Konsequenzen führen. Drittens thematisiert der Aufführungsbegriff die semiotische Dimension von Ereignissen und damit die Hervorbringung von Bedeutungen, die sich an die Wahrnehmung von Zeichen anschließt. Hierbei berühren, erörtern oder verhandeln Proteste immer auch das Verhältnis von Präsenz und Repräsentation mitunter neu. Viertens ergründet der Begriff der Aufführung die Qualität der Ereignishaftigkeit von Protesten als ästhetische Erfahrung. In Bezug auf Protestereignisse muss dann gefragt werden, welche besonderen Erfahrungen Proteste ermöglichen und wie sie sich von anderen Situationen des alltäglichen Lebens unterscheiden. Fischer-Lichtes Konzept der Aufführung bietet den Vorteil, den Aufführungsbegriff als heuristisches Instrument für die Analyse von Protesten zu nutzen und die Untersuchung von Protesthandlungen als Aufführungen entsprechend zu gliedern. So kann die spezifische Materialität von Protest als ein dynamischer Prozess oder die Aufführung von Widerstand als ein Wechselspiel von Aktion und Reaktion zwischen Akteur*innen und Zuschauer*innen viel besser in den Blick genommen werden. Ferner gestattet es der Aufführungsbegriff, Protestereignisse als Momente hervorgehobenen Erlebens zu klassifizieren. Als Ereignisse, in denen sich der Modus der Wahrnehmung verschiebt, in denen Erlebnisse auf besonders intensive Weise erfahren werden, in denen der Aspekt des Wahrnehmens mitunter absoluten Vorrang erhält, ermöglichen Proteste eine spezifische Art der Erfahrung, die von ihrer Aufführung mitbestimmt wird. Protesthandlungen als Aufführungen zu fassen, ermöglicht es also, ihre Ereignishaftigkeit als besondere Art ästhetischer Erfahrung herauszustellen, in der sich die Beteiligten als potenzielle Subjekte erfahren, die Verläufe mitbestimmen und zugleich von ihnen bestimmt werden. Proteste in dieser Weise als Aufführungen zu untersuchen, schließt den Vorteil ein, den soziologischen Ansatz der Bewegungsforschung zu erweitern. 3.3.2 Mediatisierung und erweiterter Aufführungsbegriff Die bisher beschriebenen Transformationen im Protestverhalten, die Protest heute als eine sowohl ereignisorientierte als auch zunehmend selbstreflexive Praxis ausweisen, scheinen an die tiefgreifenden Veränderungen der medialen Konstruktion von Ereignissen gebunden zu sein. Der Begriff des Ereignisses, der etymologisch auf die Sichtbarmachung eines Vorganges verweist, steht in enger Korrelation zur Geschichte medialer Kommunikation, Konzeptionen der Öffentlichkeit und dem Strukturwan-
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del spezifischer Medientechniken. Das Konzept der Mediatisierung, das die Rolle der Medienkommunikation im gesellschaftlichen Wandel erforscht, kann die besondere Relation zwischen technischen, zunehmend digitalen Medien und Aufführungen neu zu verorten. In einer Zeit, in der Informations- und Kommunikationstechnologien gegenwärtig scheinbar jede Dimension von Gesellschaft vermitteln,203 ergibt sich der Bedarf, den konstituierenden Wert der Ko-Präsenz in Aufführungen neu zu bestimmen. Das vom deutschen Kommunikationswissenschaftler Friedrich Krotz entwickelte Konzept der Mediatisierung reagiert auf diese umfassenden Veränderungen gesellschaftlicher Kommunikation, in deren Folge sich immer neue Medien in immer neuen Formen ausdifferenzieren.204 Der Ansatz der Mediatisierung, der neben Individualisierung, Kommerzialisierung und Globalisierung selbst als ein „Metaprozess der Prägung der Moderne“ verstanden wird,205 versucht die Verbreitung von Medien, Medienkommunikation und mediale Entgrenzungen als deren Folge zu verbinden. Krotz schreibt: „Zeitlich stehen alle Medien insgesamt, aber auch jedes einzelne in immer größerer Anzahl zu allen Zeitpunkten zur Verfügung und bieten immer dauerhafter Inhalte an. Räumlich finden sich Medien an immer mehr Orten und sie verbinden zu immer mehr Orten – potenziell oder tatsächlich. Und schließlich sozial und in ihrem Sinnbezug entgrenzen sich Medien, weil sie allein oder in Kombination in immer mehr Situationen und Kontexten, mit immer mehr Absichten und Motiven verwendet werden, und zwar sowohl kommunikator- als auch rezeptionsseitig.“206
Krotz’ Betrachtung der Mediatisierung ermöglicht, das Wechselverhältnis von Medien- bzw. Kommunikationswandel und Gesellschafts- und Kulturwandel in ihrer Bezogenheit zu durchdringen. Mediatisierung bezeichnet nach Krotz also einen Prozess, der heute in der digitalisierten Kommunikation kumuliert, allerdings einen generellen sozialen Wandel aufzeigt, der für die vorliegende Arbeit immer auch in Beziehung zur Geschichte von Auflehnungsbewegungen gesetzt werden kann. An diesem Punkt wird deutlich, wie der spezifische Blick auf die Protestgeschichte allgemeine Entwicklungen menschlicher Kommunikationserfahrung spiegelt. Die Veränderungen in der Art und Weise, wie Menschen aktuell protestieren, hängt konsequenterweise mit der Entwicklung neuer Kommunikationsmedien und immer komplexeren Kommunikationsformen zusammen.
203 Vgl. Sonia Livingstone, „On the Mediation of Everything“, in: Journal of Communication 59, No. 1 (2009), S. 1-18, S. 1f. 204 Vgl. Friedrich Krotz, Die Mediatisierung des kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien, Wiesbaden 2001, S. 19. 205 Vgl. Andreas Hepp/Maren Hartmann, „Mediatisierung als Metaprozess: Der analytische Zugang von Friedrich Krotz zur Mediatisierung der Alltagswelt“, in: Dies. (Hrsg.), Die Mediatisierung der Alltagswelt, Wiesbaden 2010, S. 9-18, S. 9. 206 Krotz, Mediatisierung kommunikativen Handelns, S. 22.
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Wie Protestierende zu einem je spezifischen Zeitpunkt Sichtbarkeit herzustellen versuchen, ist unmittelbar an technische Mittel der Kommunikation gebunden.207 Es soll demnach ausdrücklich berücksichtigt werden, dass für die ereignishafte Verdichtung von Protesten durchaus ein spezifischer Medieneinsatz und -gebrauch verantwortlich ist.208 Wenn technische Instrumente menschlicher Kommunikation heute dazu führen, dass sich die Verfügbarkeit und Dauerhaftigkeit von Protesten durch mediale Repräsentationen nicht mehr nur auf die Aufführung beschränkt, erfordert dies umso mehr, den beschriebenen Aufführungsbegriff zu erweitern. So wie der Aufführungsbegriff das Verständnis von (Medien-)Kommunikation als symbolischem Handeln erweitert, führt eine Berücksichtigung der Mediatisierung dazu, den Aufführungsbegriff für das 21. Jahrhundert und erwartbare weitere mediale Transformationen zu modifizieren. Sicherlich ist richtig, dass sich in Zeiten enträumlichter und entkörperlichter Kommunikation ein an die gleichzeitige körperliche Anwesenheit ihrer Mitglieder gebundener Aufführungsbegriff durch die Betonung des Hier und Jetzt mit einer gewissen Widerständigkeit auflädt. Dennoch scheint es notwendig, Aufführungen außerhalb des Theaters oder anderer Kunstbereiche heute selbst als weitere Bedingung für mögliche Mediatisierungen zu konzipieren. Aufführungen stellen Prozesse dar, die Mediatisierungen geradezu auslösen, unterstützen und vorantreiben. In der deutschen Theaterwissenschaft wurde zuletzt intensiv über eine mögliche Erweiterung des Aufführungsbegriffs diskutiert.209 Seine Neudefinition wird angestrebt, indem die Aufführung selbst als spezifisches Dispositiv gedeutet wird, das aus anderen, gesellschaftlichen Dispositiven hervorgeht.210 In dieser Lesart soll stärker die Verflechtung der Aufführung mit anderen gesellschaftlichen Prädispositionen zum Ausdruck gebracht werden. Es wird argumentiert, dass Aufführungen gesell207 Zu überlegen ist hier auch, inwiefern der Einsatz spezifischer Medienformate die mediale Berichterstattung in Form von Narrativierungen, Ikonisierungen und Topoisierungen noch begünstigt. 208 Vor der Analyse von Protestereignissen sollte geklärt werden, von welchem Medienbegriff im Konkreten ausgegangen wird – ob etwa allein die technischen Mittel der Kommunikation mit einem entfernten Publikum Beachtung finden oder sich ,Medialität‘ bei der Hervorbringung des Ereignisses auch auf die Körper der Aufführenden und des Publikums bezieht. 209 Diese Auseinandersetzung findet überwiegend in Bezug auf bereits bestehende Aufführungsbegriffe – die Aufführung als Text (Fischer-Lichte), die Aufführung als Erfahrung (Schechner), die Aufführung als Ereignis (Fischer-Lichte/Müller-Schöll) – statt. 210 Für eine Erweiterung des Aufführungsbegriffs argumentiert auch die jüngere Tanzforschung, um deutlicher die Herstellungsverfahren einer zur Aufführung bestimmten künstlerischen Produktion hervorzuheben, die Verbindung von Text und Kontext oder allgemeine Rahmungen von Aufführungen zu untersuchen. Damit rücken Arbeitsprozesse als Praktiken künstlerischen Arbeitens sowie deren Sozialität in den Fokus. Angetrieben werden diese Neuausrichtungen von der Überzeugung, dass Fragen wie, wann, wo und was zusammengearbeitet wird, aus produktionsanalytischer Sicht zentral für die Produktion des Ästhetischen sind. Vgl. Brandstetter, Gabriele/Klein, Gabriele (Hrsg.), Methoden der Tanzwissenschaft: Modellanalysen zu Pina Bauschs ,Le Sacre du Printemps/Das Frühlingsopfer‘, Bielefeld 2015, S. 127f.
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schaftliche Dispositive zwar spielerisch dekonstruieren können, durch diese selbst allerdings auch erst hervorgebracht werden. Ziel eines erweiterten Aufführungsbegriffs ist im Zuge der angedeuteten Mediatisierungsprozesse auch, die Herausbildung spezifischer Aufführungsformate noch genauer im Wechselspiel historischer, gesellschaftlicher, institutioneller und ästhetischer Bedingungen zu verorten.211 Obgleich Fischer-Lichte der Aufführung zuspricht, dass es in ihrem Vollzug möglich werde, Rollenwechsel zu erfahren oder die Erzeugung von Bedeutungen neu auszuhandeln, bleibt fraglich, inwiefern in Aufführungen eine an Subjektpositionen gebundene Ausformung von Identität verhandelt wird. Wie können sich Aufführungen gegen ihre eigenen gouvernementalen Einsperrungen wenden? Wie kann in Analogie eine chorische Protestpraxis die Forderung nach autonomer Selbstbestimmung dadurch erweitern, dass sie identitätspolitische Konstrukte neuartig sabotiert? Zwischen Diskussionen um einen erweiterten Aufführungsbegriff und den im Folgenden untersuchten Protestbeispielen kann ein Bezug hergestellt werden, wo im Zentrum von Aufführungsformaten und Organisationsformen mit dem Chorischen immer stärker Fragen des Dysfunktionalen oder Nicht-Identitären stehen. Das Chorische kann in Anschluss an den italienischen Philosophen Giorgio Agamben selbst als ein Dispositiv gedacht werden, das sich zu bestimmten Zeiten als Antwort auf die Dysfunktionalität einer Ordnung herausbildet, um Probleme in gesellschaftlichen und kulturellen Ordnungen zu lösen.212 Es ist nicht zu leugnen, dass sich das Chorische dabei auch als Machttechnologie oder Regulierungssystem von Wissen entäußern kann. Potenziell ist es jedoch produktiv ausgerichtet, insofern es jene Energien gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse nicht verschleiert, sondern ein Netz zwischen diskursiven und nichtdiskursiven Elementen knüpft, deren Knotenpunkte es wachsam beobachtet. Das Chorische konstituiert sich folglich als Wissens- und Handlungsraum der darin involvierten Subjekte. Im Unterschied zum Chor akzentuiert das Chorische genau jene Eigenschaft des Dispositivs, dessen konstituierenden Elemente in ihm nie ganz aufgehen. Der maßgebliche Unterschied des Chorischen zum Chor besteht also darin, dass chorische Prozesse nie vollständig zur abgeschlossenen Ordnung einer fixierten Struktur finden. Für die praktische Analyse chorischer Protestformen bedeutet dies zum einen, Fischer-Lichtes Aufführungsbegriff als Grundlage zu nehmen, um Protestierende nicht nur im Sinn des symbolischen Interaktionismus als kommunikativ Handelnde aufzufassen. Vielmehr soll der Aufführungsbegriff zunächst erlauben, innerhalb von Protesthandlungen die performative Dimension chorischer Formen als Hervorbringungen zu analysieren, die eine spezifisch verkörperte Materialität von Protest zur Darstellung bringen und ihren eigenen Wahrnehmungsraum durch die leibliche KoPräsenz von Akteur*innen und Zuschauer*innen im Vollzug selbst erst erzeugen. Zum anderen ergibt sich der Auftrag, die Aufführung von Protestchören und damit das Chorische selbst als ein Dispositiv zu betrachten und die konkreten Produktionsverhältnisse der jeweiligen Aufführung in den Blick zu nehmen. Wie die Konzeption des Chorischen nahelegt, gründet seine soziale Reichweite nicht allein auf der Ko211 Vgl. dazu die Diskussionen der Konferenz „Theater als Dispositiv: Dysfunktion, Fiktion und Wissen im Dispositiv der darstellenden Kunst“, Tagung des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft, Justus-Liebig-Universität Gießen am 05.-06.12.2014. 212 Vgl. Giorgio Agamben, Was ist ein Dispositiv?, Zürich/Berlin 2008.
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Präsenz der Involvierten, sondern lässt zu, dass auch die nachträgliche Rezeption medialer Repräsentationen von Protestereignissen, wenn doch andere, so zumindest ästhetische Erfahrungen zulässt. Um zu klären, wie sich Proteste als soziale, politische, ästhetische und zugleich körperliche Prozesse ereignen, in deren Verlauf Beziehungen ausgehandelt, Machtverhältnisse aktualisiert, Gemeinschaften gebildet und wieder aufgelöst werden, werden in den nächsten Kapiteln drei konkrete Protestbeispiele ausführlicher besprochen. Chorische Protestformationen grenzen das weite Feld möglicher Protesthandlungen weiter ein. Sie garantieren, deutlicher körperliche Abstimmungsverfahren, Phänomene des Rhythmus, spezifische Techniken der Koordination sowie strategische Bewegungen in Bezug auf die Generierung von Bedeutungen in den Blick zu nehmen. Zugleich präsentiert der Chor nicht nur eine Gedankenfigur, die Politisches mit Künstlerischem verbindet. Als Figur des Theaters, die einer konkreten sozialen Praxis entspringt, mischen sich in Wahrnehmungen des Chores Ordnungen der Präsenz und der Repräsentation.213 Die Frage des Repräsentativen erscheint sowohl auf der politischen als auch auf der ästhetischen Ebene gerade auch deshalb so interessant, weil es in den Protesten ja meist um den Teil geht, der „in den offiziellen Verfahren der Repräsentation nicht zählt und deshalb eigene Verfahren erfindet, um sich Gehör zu verschaffen.“214 Da eine Reflexion der Form nach wie vor eine entscheidende Alternative zu einer Untersuchung von Wirkung bietet,215 soll der Blick auf gänzlich unterschiedliche Protestbeispiele zum einen die Vielfalt möglicher Vorgehensweisen von Protestchören darstellen. Zum anderen soll anhand der Auswahl eine Entwicklung dargestellt werden, die sich als ein Wandel chorischer Protesthandlungen und der entsprechenden Widerstandspraxis beschreiben lässt: Von der theatralen Form des Chores und seiner vordergründig sinnlichen Darstellung von Ablehnung, Überwältigung, Vereinnahmung und Irritation geraten mit dem Chorischen immer stärker Prozesse der Selbstbefragung in das Blickfeld der Protestierenden. Heute scheint es immer weniger um die Artikulation von Widerstand oder die Hervorbringung starker Gemeinschaften als Chor zu gehen, als um die Infragestellung der materiellen Bedingungen des Erscheinens und der eigenen institutionellen Rahmenbedingungen des Protests.
213 Das Oszillieren der Wahrnehmung zwischen der Konzentration auf ein Phänomen in seiner Selbstbezüglichkeit und Assoziationen, die es auszulösen vermag, nennt FischerLichte die Wahrnehmungsordnung der Präsenz. Siehe Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft, S. 55: „Den Leib und die Dinge in ihrer spezifischen Präsenz wahrzunehmen, heißt allerdings nicht, sie als bedeutungslos wahrzunehmen. Es heißt vielmehr, alle diese Phänomene als etwas wahrzunehmen. Es handelt sich dabei nicht um einen unspezifischen Reiz, um ein bloßes Sinnesdatum, sondern um die Wahrnehmung von etwas als etwas.“ 214 Kai van Eikels, „Wie bleibende Wirkung entfalten? Von den Rändern der Aufführung in Theater und politischer Bewegung“, abrufbar unter: https://kunstdeskollektiven.files.word press.com/2012/05/kve-wie_bleibende_wirkung_entfalten.pdf, S. 6 (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 215 Vgl. Warstat et al., „Applied Theatre“, S. 21.
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Um diese Behauptung zu verifizieren, werden im Folgenden die drei eingangs kurz vorgestellten und sehr unterschiedlichen Protestbeispiele „Stuttgart 21“, Aktionen des „Stillen Widerstands“ und chorische Verfahren der Occupy-Bewegung im Fokus stehen. Mit den unterschiedlichen analytischen Schwerpunkten Stimme, Körper und Raum soll sich dem verschiedenartigen Einsatz chorischer Abstimmungs-, Planungs- und Organisationsverfahren angenähert werden. So sehr die Unterschiedlichkeit dieser Beispiele im Vorfeld betont wird, kann als Gemeinsamkeit ihre Erfolglosigkeit konstatiert werden. Alle Beispiele zeichnen sich dadurch aus, dass sie die selbstgesteckten politischen Ziele in gewisser Weise verfehlt haben. Umso interessanter scheint für diese Untersuchung hinsichtlich eines veränderten Widerstandsbegriffs zu fragen, wie sich trotz vordergründigen Scheiterns in den chorischen Praktiken und Verfahren des Protestierens politische Ziele der Bewegungen verwirklichten. Je nachdem, wie man Erfolg definiert, relativiert sich womöglich das Narrativ, dass Dysfunktionalität und Mangel zu Widerstand und Protest führen müssen. Bevor Parameter wie Erfolg, Nutzen und Wirksamkeit schlussendlich neu eruiert werden und gefragt wird, was von den chorischen Bewegungen politisch zu erwarten ist, steht mit „Stuttgart 21“ als erstes ein deutschsprachiges Beispiel im Fokus. Eingebunden in eine rechtsstaatliche Ordnung und als betont regionales Projekt, in dessen Auseinandersetzung klare Gegner*innen auszumachen sind und dessen Wirkungskreis eine überschaubare Reichweite beschreibt, grenzt sich das Protestbeispiel „Stuttgart 21“ aus mehreren Gründen deutlich von den anderen ab. Zum einen herrscht in Stuttgart ein eigentümlicher Zusammenhang zwischen Chor-Aufführungen im Staatstheater und dem späteren Einsatz vergleichbarer Protestchöre vor. Zum anderen handelt es sich um relativ homogene, „bürgerliche“ Akteur*innen, die mit forciertem Stimmeneinsatz den Chor als Ausdrucksmittel einer vereinten Gegner*innenschaft instrumentalisieren. Wie gezeigt werden soll, steht dabei eine Identitätspolitik des Chores im Vordergrund, der kein Forum für politische Auseinandersetzung mehr darstellt, sondern als Sprachrohr einer geschlossenen Gegner*innenschaft die Pluralität von Meinungen einschränkt. Das Beispiel kann als repräsentativ für chorische Verbünde angesehen werden, die eine affirmative Proteststrategie der Selbstermächtigung verfolgen, bei der es um den Kampf um Anerkennung marginalisierter Positionen geht. Der Protest von Lärm- und Sprechchören richtet sich entsprechend an der Erzeugung von Präsenz, Sichtbarkeit und dem Gehört-Werden-Wollen aus. Insofern entspricht die ChorForm hier eher einer konventionellen Proteststrategie, deren Verständnis auf Autorität und Gefolgschaft angelegt ist. Statt in eine kritische Auseinandersetzung mit dem einigen Entstehungsprozess zu treten, fungiert die Chor-Form als disziplinierendes Artikulationsmodell von Protest. So steht „Stuttgart 21“ als Ausgangspunkt, um im Anschluss eben jene Entwicklung aufzuzeigen, die nicht nur eine Ausweitung von regionalen zu internationalen Protestbewegungen beschreibt, sondern sich an der Abkehr starker Protestchöre zugunsten selbstreflexiver Praktiken des Chorischen illustrieren lässt. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, erwächst die politische Relevanz chorischer Vollzüge in Protesthandlungen entsprechend nicht mehr durch die dramatisierte Vergemeinschaftung pluraler Akteur*innen, sondern durch chorische Kommunikationsweisen der Selbstbefragung.
IV Stuttgart 21
„Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik notwendigerweise ins Spiel; denn Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind.“1
Als politische Vertreter*innen am 2. Februar 2010 im Stuttgarter Hauptbahnhof zum Baustart des Bahn-Projekts „Stuttgart 21“ symbolisch einen Prellbock aus den Gleisen heben, ist das der Beginn heftiger, lang andauernder Proteste. Der offen zu Tage tretende Konflikt gegen Abriss und Neubau des Bahnhofs verändert auf einschneidende Weise das gesellschaftliche Miteinander in Stuttgart: Montagsdemonstrationen, Schweigemärsche, Menschenketten, Unterschriftensammlungen und Sitzblockaden prägen die Atmosphäre in der Stadt, schaffen einerseits ein „Gemeinschaftserlebnis besonderer Art“,2 führten andererseits allerdings auch dazu, dass sich die Stimmung zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen des Bauprojekts zunehmend verhärtet. Schon bevor die Proteste gegen „Stuttgart 21“ über die Stadtgrenzen hinaus in Erscheinung treten, wird das Bauvorhaben in der baden-württembergischen Landeshauptstadt über viele Jahre kontrovers diskutiert und früh als „eines der umstrittensten Infrastrukturprojekte in Deutschland“ beschrieben.3 Eine besonders sensible Stelle ist dort auszumachen, wo das offizielle Planungsverfahren die gefühlte Mehrheitsmeinung der Bürger*innen, ihren Wunsch nach mehr Partizipation und Mitbestimmung, zu missachten scheint. Die Stuttgarter*innen wollen sich nicht um jeden Preis einen neuen Bahnhof vorsetzen lassen.4 Ein alle Bevölkerungsschichten erfas1 2
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Arendt, Vita activa, S. 11. Uwe Stuckenbrock, „Das Projekt ,Stuttgart 21‘ im zeitlichen Überblick“, in: Brettschneider, Frank/Schuster, Wolfgang (Hrsg.), Stuttgart 21 – Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz, Wiesbaden 2013, S. 15-76, S. 43. Frank Brettschneider/Wolfgang Schuster, „Einleitung: ,Stuttgart 21‘ – Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz“, in: Dies. (Hrsg.), Stuttgart 21, S. 9-14, S. 7. Seit den ersten Plänen für die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs waren die prognostizierten Kosten von etwa 2,6 Milliarden Euro im Jahr 1994 auf 4,088 Milliarden Euro in 2009 angestiegen. Im Verlauf der Protestereignisse zeigte sich, dass die Verantwortlichen weitere Erhöhungen der Baukosten eingestehen mussten, was zusätzliche Protestmaßnahmen zur Folge hatte.
242 | Protestchöre. Zu einer neuen Ästhetik des Widerstands
sender Protest deutet auf die politische Aktivierung eines breiten sozialen Spektrums. Im engagierten Widerstand der Bürger*innen und mit ihren vielfältigen Protestaktionen verbindet sich ein radikaler Demokratieanspruch, der zugleich als Ablehnung repräsentativer Politik verstanden werden kann. Das Motto der Proteste lautet daher: „Nichts für uns, ohne uns!“ Als die Proteste im Frühjahr 2010 immer lauter werden, der Widerstand in der Stadt unüberhörbar und sich aus dem kollektiven Einspruch weitreichende Dynamiken entwickeln, sind viele Beobachter*innen von der Tatsache überrascht, dass sich gerade in Stuttgart „Wutbürger“ in Sprechchören organisieren, um gegen den Bau eines Bahnhofs zu demonstrieren.5 Bei der Initiierung chorischer Verfahren spielt der Theaterregisseur Volker Lösch eine besondere Rolle. Als die Proteste an Fahrt aufnehmen, tritt er neben seiner Arbeit am Stuttgarter Schauspielhaus auch außerhalb des Theaters immer öfter als Protagonist gegen „Stuttgart 21“ in Erscheinung. Löschs Theaterarbeiten mit Bürger- und Laienchören hatten den Regisseur einem breiten Publikum bekannt gemacht. 6 Immer stärker unterstützt er die Protestbewegung, bringt die Kraft chorischen Sprechens auf die Straße und liefert auf Protestkundgebungen prononcierte Beiträge zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem BahnProjekt. Ab dem 28. Juli 2010 stellen sogenannte „Schwabenstreiche“ ein neues Protestformat vor, das darauf zielt, täglich lautstark den Stadtraum zu beschallen. Durch das Verfahren kollektiven Lärmens versuchen die Bahnhofsgegner*innen, die etablierten Strategien und Techniken des Widerstands zu erweitern und die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Die „Schwabenstreiche“ ließen eine Verbindung zwischen der Lautstärke des Protestierens und der affektiven Aufladung der Protestierenden spürbar werden. Die Regelmäßigkeit und Heftigkeit der zum Teil chorisch produzierten Lautkulisse sorgte für kontroverse Reaktionen. Nicht ohne Grund schloss sich an die Aktionen der „Schwabenstreiche“ eine allgemeine Debatte über das Verhalten der Protestierenden und die Verhältnismäßigkeit ihrer Gegenwehr an. Sowohl die Brisanz der Reaktionen als auch die allgemeine Emotionalität der Protestierenden gerieten in der öffentlichen Auseinandersetzung auf den Prüfstand. Als eine Folge der Stuttgarter Proteste wurde in deutschen Printmedien ausgiebig über die Motive, Mentalitäten und Marotten des sogenannten „Wutbürgers“ diskutiert. Als die Proteste gegen „Stuttgart 21“ spätestens im Sommer 2010 in das Blickfeld einer breiten Öffentlichkeit rückten und über Monate die mediale Berichterstat5
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Rucht äußerte sich im Gespräch mit Hannah Beitzer als „sehr erstaunt, wie viele Leute in einer eigentlich eher konservativen Region die sogenannten Aktionen des zivilen Ungehorsams im Internet unterstützen und teilweise auch daran teilnehmen, etwa mit Sitzblockaden.“ Vgl. Dieter Rucht mit Hannah Beitzer im Interview „Trotz und Widerstand“, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.10.2010. Immer wieder hatten Löschs Chorproduktionen am Stuttgarter Schauspielhaus dafür gesorgt, bestimmte Grundwerte des Publikums zu erschüttern. Intendant Hasko Weber beschrieb in Folge das Gefühl, dass sich in der Bürger*innenschaft etwas zu bewegen begann. Vgl. Hasko Weber, „Es ist Probe! Über Volker Lösch“, in: Bochow, Jörg/Trobitz, Ingrid/Weber, Hasko (Hrsg.), Im Zeichen der Faust. Schauspiel Stuttgart – Intendanz Hasko Weber 2005-2013, Berlin 2013, S. 52.
Stuttgart 21 | 243
tung in Deutschland mitbestimmten, war die Verwunderung umso größer, da die Stadt im Schwabenland bisher eher als „Sinnbild bürgerlicher Kultur“ galt.7 Der Widerstand gegen das regionale Bauprojekt erregte insbesondere durch die Ereignisse am 30. September 2010 nationale und internationale Aufmerksamkeit. Die Konfrontation der Protestbewegung mit Polizeikräften im Stuttgarter Schlossgarten lieferte verstörende Bilder. Dieser als „Schwarzer Donnerstag“ bezeichnete Tag, der mit Schüler*innenstreiks und Demonstrationen begann, endete mit der Räumung des Schlossgartens und dem Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray. 116 Menschen wurden dabei verletzt.8 Die Heftigkeit der Gewalt manifestierte die Eskalation der Auseinandersetzung und leitete den Versuch einer „Schlichtung“ durch den deutschen Politiker Heiner Geißler ein. Durch genauen Blick auf chorische Verfahren des Protestierens, die Widerstand zunächst als kollektiven Gemeinschaftssound erfahrbar machten, soll sich der analytische Fokus dieses Kapitels auf die Akustik des Protests und damit auf die Lautlichkeit der öffentlich hervorgebrachten Einsprüche konzentrieren. Es soll diskutiert werden, in welcher Weise lautmalerische Verfahren des Lärmens, Schreiens und Sprechens angewandt wurden, um spezifische Präsenzeffekte zu erzielen. An die Untersuchung, wie durch chorische Verfahren kollektive Hörräume des Protests erzeugt wurden, schließen sich Fragen zur Vorgehensweise als einem spezifischen Verfahren politischer Repräsentation an, mit dem sich eine identitätspolitische Agenda der Protestierenden in „Bürgerchören“ verband. Wie es schien, lag das durchaus irritierende Schauspiel des Protests weniger an der zusätzlich dargebotenen Affektivität, sondern am Widerspruch die repräsentative Demokratie gerade durch ein Stellvertreter*innenmodell des Chores erneuern zu wollen. Um diesen Beobachtungen im Folgenden ausführlicher nachzugehen, soll erstens untersucht werden, warum sich 16 Jahre nach der ersten Rahmenvereinbarung zu „Stuttgart 21“ die Empörung der Stuttgarter*innen in so heftigen Protesten entlud. Um zu klären, warum die Medien zu einem ganz spezifischen Zeitpunkt über die Widerstandsaktionen zu berichten begannen, soll eine Chronologie der Ereignisse zunächst Einblicke in das Anschwellen des Konflikts geben. Die Rekonstruktion wichtiger Etappen des Projekts soll einerseits dabei helfen, die Narrative einer Protestentwicklung nachzuzeichnen und es andererseits ermöglichen, vereinzelte Protestaktionen innerhalb einer längerfristigen Genese von Protesten zu verorten. Die damit verbundene Erwartung zielt auf eine Dekonstruktion gerade solcher Protestdynamiken, deren Ereignisdarstellung die tatsächliche Reichweite der Proteste mitunter vergrößerte. Durch das Überblicken eines längeren Zeitraums, in dem unterschiedliche Aspekte der öffentlichen Diskussion sichtbar werden, soll dem Wirkungsan7
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Vielfach wurde versucht Temperament und Eigenheiten der Stuttgarter*innen als besondere Mischung aus Konservatismus und Offenheit darzustellen. Sibylle Berg beschreibt die Stuttgarter*innen als „seltsame Menschen“: „Auf den ersten Blick wie gutmütige Geographielehrer viele, mit einem großen Ungehorsam, auf den zweiten Blick. Dem Misstrauen gegenüber der Obrigkeit, dem Nichthinnehmen. Überraschend, diese Stuttgarter.“ Sibylle Berg, „Der Zehnte Anfang“, in: Bochow/Trobitz/Weber, Im Zeichen der Faust, S. 116. Vgl. Josef-Otto Freudenreich, „Stuttgart 21-Räumung: Bürgerkrieg im Schlossgarten“, in: SPIEGEL ONLINE vom 30.09.2010; „Pfefferspray gegen Demonstranten“, in: Süddeutsche Zeitung Online vom 30.09.2010.
244 | Protestchöre. Zu einer neuen Ästhetik des Widerstands
spruch der Protestierenden und einer auf das Spektakuläre setzenden Berichterstattung entgegengetreten werden. Zweitens soll als zentralem Anliegen dieser Arbeit erkundet werden, welche Aufgabe, Funktion und Wirkungsmacht in den Protesten gegen „Stuttgart 21“ den sogenannten „Bürgerchören“ zukam. Auf welche Weise verflochten sich in „Bürgerchören“ Strategien politischen Aktivismus mit künstlerischen Verfahren? Inwieweit waren die „Bürgerchöre“ als betont theatrales Darstellungsmittel des Protests in der Lage, Widerstand zu erzeugen? Wurde die chorische Form genutzt, um tatsächlich direktere Formen demokratischer Teilhabe zu realisieren? Oder wurde die Chor-Form instrumentalisiert, um die Intensität vorhandener Empörung zu inszenieren? Diente der Chor vordringlich also dazu, eine kollektive Identität der Bürger*innen zu etablieren, die mittels Affirmation Gegenmacht erzeugen sollte? Drittens rückt mit den „Schwabenstreichen“ ein chorisches Protestverfahren kollektiven Lärmens ins Zentrum, das maßgeblich dazu beitrug, den Antagonismus des Konflikts zu bekräftigen. Welche Intentionen verbanden sich mit der Erzeugung dieser akustischen Widerstandsform? Wie wirkte das chorische Lärmen der „Schwabenstreiche“ auf Menschen, die die täglichen Wutkonzerte wahrnahmen? Wie offen und verhandlungsbereit präsentierten sich die Protestierenden? Wurde neben der gerichteten Entäußerung kollektiver Betroffenheit überhaupt das selbstreflexive Potenzial des Chorischen genutzt? Viertens soll durch Auseinandersetzung mit dem Begriff des „Wutbürgers“ erkundet werden, in welcher Beziehung die Erzeugung lautlicher Präsenz zur dargestellten Emotionalität der Proteste stand. Wie sich zeigen lässt, können die „Bürgerchöre“ und „Schwabenstreiche“ als spezifische Ausdrucksweisen von Emotionalität mit der zusätzlichen Dramatisierung von Empörung in Verbindung gebracht werden. In den Protestereignissen generierte die chorische Produktion lautlichen Widerstands überwältigende Kräfte, die Beobachter*innen den Eindruck vermittelten, dass die vereint als Protestchor agierende Gegner*innenschaft antidemokratische Züge entwickelte. War das Chorische in den Protesten also überhaupt darauf angelegt, Resonanz als eine Antwortbeziehung zu erzeugen? Schlug die Bedeutung des Chores als Partizipationsgarant und demokratisches Forum ins Gegenteil um? Stand das chorische Wüten seinem politischen Anspruch letztlich sogar im Wege?
1. CHRONOLOGIE Die „Erfindung“ des Projekts „Stuttgart 21“ kann bis in die 1980er Jahre zurückverfolgt werden. Das sich hinter dem Namen verbergende verkehrspolitische Ziel, Stuttgart internationalen Standards entsprechend an das europäische Bahn-Hochgeschwindigkeitsnetz anzuschließen, hatte langjährige Fachdiskussionen um mögliche Lösungsansätze zur Folge. Im Zentrum der Überlegungen stand die Frage, wie Stuttgart Verknüpfungspunkt des europäischen Schienenschnellverkehrsnetzes und der berührenden nationalen, regionalen und lokalen Personenverkehrsschienennetze bleiben könne. Zugleich ging es um die Problematik erhöhter Kapazitäten, die durch eine Unterquerung des Hauptbahnhofs beantwortet werden sollte. Die frühe Geschichte des Projekts bildet das Ringen um eine zukunftsgerechte Lösung ab, ein Abwegen
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von Verträglichkeit und Kosten. Zahlreiche Stellungnahmen, Untersuchungen, Gespräche mit Fachbehörden und Verbänden gingen dem Bahn-Projekt voraus. Niemand konnte zu Beginn voraussehen, wie sehr sich in der Folgezeit das politische Umfeld verändern, welche Folgen die Globalisierung der Wirtschaft und die Entwicklung der internationalen Finanzströme auf die Staatshaushalte haben würde. Dem langen Planungs- und Vorbereitungsprozess war insofern unterschwellig bereits eingeschrieben, dass die Zielvorstellungen aus den 1980er Jahren immer wieder in Frage gestellt und angepasst werden mussten.9 Am 18. April 1994 stellen der damalige Bahn-Chef Heinz Dürr, Ministerpräsident Erwin Teufel, Oberbürgermeister Manfred Rommel sowie die Verkehrsminister Matthias Wissmann (Bund) und Hermann Schaufler (Land) das Projekt auf einer Pressekonferenz in Stuttgart offiziell vor. Daraufhin geben die Deutsche Bahn AG (DB), der Bund, das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart im Juni eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. Die Ergebnisse dieser Diskussion, an der etwa einhundert Fachleute mitwirken, werden am 16. Januar 1995 auf einer Landespressekonferenz vorgestellt: Das Projekt wird als machbar beurteilt.10 Im November 1995 schließen Bund, Land, Stadt, Regionalverband und DB eine Rahmenvereinbarung zur Entwicklung und Förderung des Projekts.11 Das sich anschließende Raumordnungsverfahren und eine Umweltvertäglichkeitsprüfung werden 1997 erfolgreich abgeschlossen. Nach überraschendem Planungsstopp im selben Jahr, der mit unkalkulierbaren Mehrkosten und der ungeklärten Finanzierungslage begründet wird, können ebenso unvorhergesehen eine Einigung erzielt und weitere Ergänzungsvereinbarungen unterzeichnet werden. Im November erhält das Düsseldorfer Architekt*innenbüro von Christoph Ingenhoven den Zuschlag für den Entwurf eines unterirdischen Durchgangsbahnhofs mit großen Lichtaugen. Die unsichere Finanzierungslage führt 1998 abermals dazu, dass Bahn-Chef Johannes Ludewig das Projekt stoppt und in einer Wirtschaftsprüfung neu bewerten lässt. In daraufhin folgenden Diskussionen wird versucht, die Verteilung der Kosten zu klären. Zusätzliche Nachverhandlungen verzögern den anvisierten Planungsab9
Als Leiter der Städtebaulichen Planung hat Uwe Stuckenbrock das Projekt „Stuttgart 21“ von Anfang an begleitet. Stuckenbrock unterscheidet zwischen dem Verkehrs- und dem Städtebauprojekt „Stuttgart 21“. Seiner Meinung nach sei „Stuttgart 21“ einer „Logik eines allgemeinen Erkenntnis- und Gestaltungsprozesses“ gefolgt. Er zeigt, wie Mitte des Jahres 1990 der Städtebau Eingang in das Bahn-Projekt fand, was „insofern nicht selbstverständlich [war], als das Kerngeschäft der Deutschen Bahn AG nicht in der Stadtentwicklung und dem Grundstückshandel besteht […].“ Diese Entwicklung war insofern von Bedeutung, da „Stuttgart 21“ als eigenwirtschaftliches Projekt der DB AG zur Neuordnung des Stuttgarter Bahnknotens fortan aus den Teilprojekten „Bahnprojekt Stuttgart 21“ und dem „StädtebauProjekt“ weitergeführt wurde. Stuckenbrock, „Das Projekt ,Stuttgart 21‘“, S. 19. 10 Ein grundsätzlicher Entschluss über das Projekt, dessen Finanzierung noch nicht geklärt war, sollte spätestens Anfang 1996 getroffen werden. Ab dem Zeitpunkt der definitiven Entscheidung rechnete man mit mindestens sechs sich anschließenden Jahren Planungsund acht Jahren Bauzeit. Der Baubeginn wurde für Anfang 2001 anvisiert, die Inbetriebnahme für 2008. 11 Im Verlauf fortschreitender Planungen wurde die Rahmenvereinbarung mehrfach modifiziert.
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lauf. Erst am 14. März 2001 genehmigt der Aufsichtsrat der DB das Projekt. In der Folge schließen die DB, das Land, die Landeshauptstadt und der Regionalverband im Juli eine Vereinbarung zur weiteren Zusammenarbeit zur Realisierung des Projekts Stuttgart 21/Neubaustrecke Wendlingen – Ulm, die die Rahmenvereinbarung von November 1995 ergänzt. Im Oktober 2001 beginnt das Planfeststellungsverfahren.12 Mit dem Ziel, relevante Einwendungen und Stellungnahmen frühzeitig zu ergründen, wird bei einem mündlichen Termin die Sachlage aus unterschiedlichen Perspektiven erörtert. Das Eisenbahn-Bundesamt prüft als Planfeststellungsbehörde verschiedene Alternativen im Bahnknoten Stuttgart.13 In seinem Beschluss stellt das Amt fest, „dass die Kombinations- und Verlegungslösungen schlechter zu bewerten sind als die Beibehaltungslösungen“ 14 und gegenüber der Antragsplanung entsprechend keine gravierenden Nachteile zu erkennen seien. Vielmehr trage die beantragte Planung am meisten zur Reduktion der Schallemissionen bei und beinhalte zudem städtebauliche Entwicklungsmöglichkeiten. Abschließend räumt die Behörde jedoch ein, „dränge sich keine der geprüften Alternativen als zur Verwirklichung der Planung besser geeignet auf.“15 Eine Wirtschaftlichkeitsberechnung der Bahn ergibt im Juli 2004 Mehrkosten von 2,8 Milliarden Euro. Daraufhin kommt es zu drei Klagen gegen den geplanten Umbau des Hauptbahnhofs, die das oberste Verwaltungsgericht Baden-Württembergs im April 2006 abweist. Derweil greift in der Spielzeit 2005/2006 der Theaterregisseur Volker Lösch in seiner Inszenierung Faust 21 die Vorgänge um das geplante Bauprojekt auf. Ausgehend von den Landgewinnungsplänen in Goethes Faust II zieht er eine Linie zu „Stuttgart 21“. Die Inszenierung belegt, dass das Thema bereits im Jahr 2006 in der Öffentlichkeit diskutiert wird, ohne dass sich bis zum Abriss des Nordflügels größer Widerstand regt.16 Gegen die lauter werdende Forderung, in dieser strittigen Sache die Bürger*innen zu befragen, gibt Oberbürgermeister Wolfgang Schuster im September 2007 in einer Pressemitteilung seine Ablehnung eines Bürger*innenentscheids bekannt. In der Folge kommt es auf dem Marktplatz zur ersten öffentlichen Demonstration gegen das
12 Dieser Verwaltungsschritt für besondere Bauvorhaben diente nicht nur der Feststellung eines Plans, der andere behördliche Genehmigungen, Bewilligungen oder Zustimmungen ersetzte, sondern zielte auf eine umfassende Beteiligung von Bürger*innen und Behörden, deren Belange durch das Vorhaben gleichermaßen betroffen waren. 13 Zu den Gegenvorschlägen gehörten die Beibehaltung des Kopfbahnhofs, eine Kombination eines neuen Durchgangsbahnhof für den Fernverkehr mit Beibehalt des vorhandenen Bahnhofs für den Regional- und Nahverkehr, die Verlegung des Fern- oder Hauptbahnhofs aus der Innenstadt sowie ein neuer Durchgangsbahnhof anstelle des Kopfbahnhofs. 14 Eisenbahnbundesamt Stuttgart, Planfeststellungsbeschluss PFA 1.1 Talquerung mit neuem Hauptbahnhof, Stuttgart 2005, S. 201. 15 Ebd., S. 203. 16 Weber bezeichnete die Inszenierung nachträglich als ersten Schritt, „mit dem Volker Lösch als Vertreter einer Gegenbewegung politisch in Erscheinung getreten ist.“ Hasko Weber, „Im Zeichen der Faust. Hasko Weber, Jörg Bochow und Ingrid Trobitz im Gespräch mit Otto Paul Burkhardt“, in: Bochow/Trobitz/Weber, Im Zeichen der Faust, S. 6-15, S. 11.
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Bahn-Projekt mit bis zu 4000 Menschen.17 Am 20. Dezember 2007 lehnt auch der Gemeinderat der Landeshauptstadt einen Bürger*innenentscheid, der sich gegen Grundsatzbeschlüsse des Gemeinderats aus den Jahren 1995 (Rahmenvereinbarung) und 2001 (Ergänzungsvereinbarung) richtet, mit 45 zu 15 Stimmen ab. Auch wenn sich mit über 60.000 Unterschriften dreimal mehr Unterzeichnende als notwendig gegen das Milliardenprojekt in der Stadt engagieren, wird ein Bürger*innenentscheid als rechtlich nicht zulässig abgelehnt.18 Im Sommer 2008 räumt die Landesregierung erstmals Mehrkosten bei „Stuttgart 21“ ein.19 Wenige Monate später spricht der Bundesrechnungshof sogar von Mehrkosten von mehr als zwei Milliarden Euro. Trotz dieser Entwicklung unterzeichnen Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) und Bahn-Vorstand Stefan Garber am 2. April 2009 die Finanzierungsvereinbarung. Als Bahn-Chef Rüdiger Grube am 8. November 2009 die „Sollbruchstelle“ für „Stuttgart 21“ mit 4,53 Milliarden Euro angibt, zeigt sich, dass die Frage der tatsächlichen Kosten weiterhin nicht abschließend geklärt ist.20 1.1 Vom sichtbaren Protest bis zur „Schlichtung“ Ungeachtet der schon vor Baubeginn steigenden Kosten, erfolgt knapp 16 Jahre nach der ersten Rahmenvereinbarung zu „Stuttgart 21“ am 2. Februar 2010 der offizielle Baubeginn mit einem symbolischen Akt. Durch zwei Regionalbahnen von störenden Protestierenden auf dem Nachbargleis abgeschirmt, heben politische Vertreter*innen von Bund, Land und Kommune einen Prellbock aus den Gleisen des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Ein Bild dieses „Baustarts“ in der WELT spricht Bände: Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wird der erste Spatenstich allein für die Medien inszeniert. Der offizielle Baubeginn stellt zugleich den Beginn heftiger Proteste dar, die sich zur politischen Protestbewegung Stuttgart 21 verfestigen.21 Während die Projektleitung im Folgenden immer wieder betont, dass alle Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß eingehalten wurden, ertönt immer lauter der Vorwurf, das Projekt sei unter Ausschluss der Öffentlichkeit entwickelt, von oben durchgedrückt worden und solle trotz Kostenexplosionen ohne öffentliche Debatte 17 Der Protest richtete sich explizit gegen Schuster und dessen Aussagen aus dem Wahlkampf 2004. Damals hatte er angekündigt, sich für einen Bürger*innenentscheid zu „Stuttgart 21“ einzusetzen, wenn Stuttgart „deutliche Mehrkosten“ zu tragen hätte. Nachdem die Stadt 2007 für die Finanzierung des Bahn-Projekts weitere 84,46 Millionen Euro zusagte hatte, wurde Schuster nun Wortbruch vorgeworfen. 18 Entsprechend der Gemeindeordnung für Baden-Württemberg wurde die Ablehnung damit begründet, dass eine Antragsfrist von sechs Wochen nach Veröffentlichung der Gemeinderatsbeschlüsse verfristet war. Eine Aufhebung der bereits wirksamen Vereinbarungen war zudem unzulässig, weil sie eine dem Gemeinderat vorbehaltene finanzielle Grundsatzentscheidung betraf. 19 Das Vorhaben sollte zu diesem Zeitpunkt insgesamt 3,076 Milliarden Euro kosten. 20 Zuletzt wurde im Januar 2018 bekannt, dass die DB die Kosten für „Stuttgart 21“ auf insgesamt 8,2 Milliarden Euro berechnet. Außerdem soll der Bahnknoten vier Jahre später als geplant erst im Jahr 2025 in Betrieb gehen. 21 Vgl. „Spatenstich für den Bahnhofsneubau Stuttgart 21“, in: DIE WELT vom 02.02.2010.
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umgesetzt werden. Während die Teilnehmer*innenzahlen auf den wöchentlichen „Montagsdemonstrationen“ kontinuierlich anwachsen, 22 planen Aktionsbündnisse zusätzliche Großdemonstrationen. Die Regelmäßigkeit und Intensität der lokal begrenzten Proteste gewinnt zunehmend auch überregionale Aufmerksamkeit. Vor dem geplanten Abriss des alten Nordflügels wird spürbar, wie sich der Widerstand weiter verdichtet. Als Bahn-Chef Rüdiger Grube für die Schnellbahntrasse nach Ulm Ende Juli 2010 eine weitere Kostensteigerung um 865 Millionen Euro bekannt gibt, folgt die Reaktion der Gegner*innen direkt am nächsten Tag.23 Am 28. Juli 2010 ereignet sich um 19 Uhr der erste „Schwabenstreich“, der fortan als tägliches Lärmkonzert stattfindet und eine neue Radikalität des Protestierens einführt. Durch ein Gutachten für das Umweltbundesamt, das für „Stuttgart 21“ und die neue Schnellbahntrasse eine weitere Kostenexplosion von bis zu 11 Milliarden Euro vorhersagt, radikalisieren sich die Proteste kurz vor dem geplanten Abriss des alten Nordflügels weiter.24 Mit einem Schweigemarsch unter dem Motto „Alles gesagt – Nichts gehört“ versucht die Gegenbewegung am 20. August 2010 noch einmal auf sich aufmerksam zu machen. Langsamen Schritts zieht der überwiegend in schwarz gekleidete Demonstrationszug in einem 40-minütigen Marsch quer durch die Stadt. Trotz deutlichen Widerstands werden am 25. August 2010 die Abrissarbeiten am Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs begonnen. Der Rückbau des gesamten Gebäudeteils, der Voraussetzung für nachfolgende Baumaßnahmen am unterirdischen Bahnhof ist, schafft neue Tatsachen, die die Empörung der Protestierenden weiter anheizen. Am 27. August 2010 findet als Reaktion auf den begonnenen Abriss eine Großdemonstration unter dem Motto „Weg mit Stuttgart 21“ statt. Mit 30.000 bis 50.000 geschätzten Beteiligten ist es die bis dahin größte Demonstration in Stuttgart. Großdemonstrationen, Kundgebungen und Menschenketten bestimmen das Leben in der Stadt. Dem sich verfestigenden Widerstand gegen „Stuttgart 21“ begegnet die Polizei mit einem erhöhten Kräfteeinsatz. Um die dauergestressten Stuttgarter Kolleg*innen zu entlasten und wegen der von Polizeichef Stumpf charakterisierten großen „Emotionalität des bürgerlichen Spektrums“25, werden aus anderen Bundesländern Polizeikräfte hinzugezogen.
22 Durch die Adaption des Namens verorteten sich die Stuttgarter „Montagsdemonstrationen“ in einer klaren Traditionslinie politischen Widerstands. Die Präsenz vieler tausender Menschen auf der Straße sollte zum politischen Druckmittel werden und vielfältige Diskussionen auslösen. Kritisch ist anzumerken, dass mittlerweile auch andere (überwiegend identitäre und rechte) Protestbewegungen den Begriff der „Montagsdemonstration“ instrumentalisieren, um auf dubiosen „Mahnwachen für den Frieden“ oder „Montagsspaziergängen“ angebliche Repräsentationsansprüche „des Volkes“ zu markieren. 23 Damit waren nun allein die Mehrkosten auf insgesamt 2,9 Milliarden Euro angestiegen. 24 Siehe Bundesumweltamt (Hrsg.), Schienennetz 2025/2030: Ausbaukonzeption für einen leistungsfähigen Schienengüterverkehr in Deutschland, Dessau-Roßlau 2010, S.153. Diese Publikation ist ausschließlich als Download verfügbar unter: http://www.uba.de/uba-infomedien/4005.html (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 25 Zit. nach Reiner Ruf, „Einflussnahme oder nur ein Wutausbruch?“, in: Stuttgarter Zeitung vom 09.05.2014.
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Nach Wochen friedlicher Demonstrationen eskaliert der Konflikt am 30. September 2010. Während Polizist*innen das Fällen erster Bäume im Schlossgarten absichern, stehen die Beamt*innen nach einem Schülerstreik einer immer größer werdenden Menge von Demonstrant*innen gegenüber. Irgendwann gerät die Aktion „völlig aus dem Ruder“.26 Es kommt zur gewaltsamen Räumung mit Wasserwerfern und dem Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray. Der Tag wird durch die Ereignisse im Schlossgarten zum „Schwarzen Donnerstag“. Beobachter*innen beurteilen, Stuttgart befinde sich in einem „Ausnahmezustand“.27 Das harsche Eingreifen der Polizei, das zu 116 Verletzten führt, wird scharf kritisiert. Dietrich Wagner wird „das Gesicht des Widerstands“28 gegen „Stuttgart 21“. Das Bild seiner blutenden Augen infolge des Einsatzes von Wasserwerfern findet sich in den nächsten Tagen auf zahlreichen Titelblättern regionaler und überregionaler Zeitungen. Seine durch den Polizeieinsatz bedingte Erblindung wird in den Medien als dramatischer Höhepunkt der Proteste inszeniert.29 Während die politische Führung in der öffentlichen Debatte unter Druck gerät und sich zunehmend der Frage stellen muss, ob der harte Polizeieinsatz gegen die Protestierenden verhältnismäßig oder gar politisch gewollt war, bleibt die Stuttgarter Bevölkerung in der Bahnhofsfrage tief gespalten.30 Die Großdemonstrationen und Kundgebungen gegen „Stuttgart 21“ setzen sich am 1. Oktober 2010 ungemindert fort. Als Reaktion auf die heftige Eskalation am Vortag versammeln sich wieder mehrere Zehntausend im Schlossgarten. Fotografien, die die Stimmung dieses Tages dokumentieren, zeigen Menschen, die entrüstet sind, Fassungslosigkeit ist ihren Gesichtern zu entnehmen. Dass ihre beharrlichen Formen zivilen Ungehorsams und die bis zuletzt friedlichen Demonstrationen solche gewaltsamen Gegenreaktionen der Polizeikräfte provozieren, ist für viele völlig unverständlich und nicht vertretbar. Während sich das bereits vorhandene Maß der Empörung weiter vergrößert, wächst der Druck auf die politischen Akteur*innen. Auf der Großdemonstration am 9. Oktober 2010 protestieren laut Polizei 65.000 Menschen. Den Veranstalter*innen zufolge sind es bis zu 100.000 Menschen, die es nun gegen „Stuttgart 21“ und den Polizeieinsatz am „Schwarzen Donnerstag“ auf den Schlossplatz treibt. 1.2 Die „Schlichtung“ unter Leitung von Heiner Geißler Um die Situation zu beruhigen und die Gegner an einen Tisch zu bekommen, wird von Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) Mitte Oktober der ehemalige CDUGeneralsekretär Heiner Geißler als Schlichter ins Gespräch gebracht. In acht Schlichtungsrunden soll der „Streit der Straße“ an einen Verhandlungstisch im Rathaus verlagert werden. Zwischen dem 22. Oktober und dem 27. November 2010 diskutieren 26 Vgl. Oliver im Masche, „Strafbefehl gegen Stuttgarter Ex-Polizeichef“, in: Stuttgarter Nachrichten vom 09.03.2015. 27 Dagmar Deckstein, „Bahnbrechender Ernstfall“, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.10.2010. 28 Roman Deininger, „,Als ob sich der Mörder selbst freispricht‘“, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.09.2011. 29 Vgl. „Stuttgart-21-Protest: Wasserwerfer-Opfer bleibt auf einem Auge blind“, in: SPIEGEL ONLINE vom 13.10.2010. 30 Siehe Simone von Kaiser, „Schwarzer Donnerstag“, in: DER SPIEGEL vom 30.10.2010.
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Befürworter*innen und Gegner*innen die Leistungsfähigkeit ihrer Konzepte.31 Die Verhandlungen werden vom Fernsehsender phoenix live übertragen. Der Ereignisund Dokumentationskanal der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten erreicht seine bis dahin zweithöchste Einschaltquote. Geißler tritt mit dem Ziel an, zu einer Befriedung der Auseinandersetzung beizutragen und „durch Versachlichung und eine neue Form unmittelbarer Demokratie wieder ein Stück Glaubwürdigkeit und mehr Vertrauen für die Demokratie zurückzugewinnen.“32 Geißler zufolge gelingt es der Schlichtung, „durch den transparenten Faktencheck eine umfassende Information der Öffentlichkeit und eine Versachlichung der Diskussion“ herbeizuführen. Andererseits gibt er zu, dass „die Einigung auf ein bestimmtes Bahnhofprojekt […] nicht erreicht worden“ ist. 33 In seinem Schlichterspruch vom 30. November 2010 spricht sich Geißler für die Fortführung des Projekts aus, fordert aber deutliche Nachbesserungen.34 Der Schlichterspruch, der nach Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 13. Februar 2012 rechtlich nicht bindend ist, führt dennoch zu einer raschen Beruhigung der Protestsituation. Zugleich markiert er einen Wendepunkt in der allgemeinen Bewertung des Bahn-Projekts. Meinungsumfragen geben nach der Schlichtung ein Stimmungsbild wieder, aus dem abzulesen ist, dass der Anteil der Befürworter*innen ansteigt.35 Derweil setzt der Landtag auf Antrag der SPD-Fraktion einen Untersuchungsausschuss zum umstrittenen Polizeieinsatz vom 30. September 2010 ein. 1.3 Landtagswahl und Volksabstimmung in Baden-Württemberg Die Landtagswahl am 27. März 2011 findet in einer weniger aggressiven aber immer noch angespannten Lage statt. Neben bildungs-, energie- und umweltpolitischen Themen spielt die Positionierung der Parteien zu „Stuttgart 21“ im Landtagswahl-
31 Weitere Informationen mit allen Protokollen finden sich auf den Informationsseiten der Schlichtung unter: http://www.schlichtung-s21.de/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 32 Heiner Geißler, „Schlichtung Stuttgart 21 PLUS“ vom 30.11.2010. 33 Heiner Geißler, „Einleitung“, in: Ders./SMA u. Partner AG (Hrsg.), Frieden in Stuttgart. Eine Kompromiss-Lösung zur Befriedung der Auseinandersetzung um Stuttgart 21, Stuttgart 2011, S. 1. 34 Der Kompromissvorschlag „Stuttgart 21 plus“ sah sieben Verbesserungen vor, u.a. einen Stresstest zur Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs. Als Lösungsansatz brachte Geißler eine Kombination aus einem 4-gleisigen Durchgangsbahnhof und einem 10- bis 12gleisigen Kopfbahnhof ins Spiel. 35 Siehe Forschungsgruppe Wahlen (Version vom 30.11.2010 im Internet Archiv), Infratest dimap LänderTREND Baden-Württemberg Dezember 2010, Forschungsgruppe Wahlen. Die allgemeine Bewertung des Bahn-Projekts unterlag kontinuierlichen Veränderungen. Einer Umfrage von TNS-Emnid für die Wochenzeitung Kontext und die tageszeitung aus dem Jahr 2013 zufolge, sprachen sich mittlerweile 54 % der Baden-Württemberger*innen gegen das Bahn-Projekt aus. Nur noch 39 % befürworteten zu diesem Zeitpunkt das Vorhaben. Bei der Volksabstimmung im November 2011 hatten noch 59 % für den unterirdischen Durchgangsbahnhof gestimmt.
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kampf eine herausragende Rolle.36 Während die bisherigen Regierungsparteien (CDU und FDP) das Projekt befürworten, wird es von den Grünen, Linken und Piraten abgelehnt. Die SPD unterstützt das Projekt zwar, verknüpft die Diskussion darum allerdings mit der Idee eines Volksentscheids. Generell wird die Frage, wie durch Senkung der Hürden für Volksentscheide Formen direkter Demokratie revitalisiert werden können, zu einem zentralen Wahlkampfanliegen der politisch linken Parteien. Wenngleich die CDU mit 39 % der Stimmen als stärkste Kraft aus den Landtagswahlen hervorgeht, zählt sie doch zu den großen Verlierer*innen. Die alte Landesregierung aus CDU und FDP wird durch das Wähler*innenvotum abgestraft, das in vielerlei Hinsicht als „historisch“ bewertet wird. Zum einen führt das Ergebnis der Landtagswahl zu einem Regierungswechsel, der es der CDU zum ersten Mal seit 1953 nicht mehr ermöglicht, den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg zu stellen. Zum anderen erreichen die Grünen mit 36 Sitzen einen Sitz mehr als die SPD, was dazu führt, dass Winfried Kretschmann am 12. Mai 2011 zum ersten grünen Ministerpräsidenten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gewählt wird. Um den Streit um „Stuttgart 21“ zu befrieden, plant die neue grün-rote Regierung durch eine für den 27. November 2011 geplante Volksabstimmung, die Meinung der Bürger*innen einzuholen. 58,9 Prozent der abgegebenen Stimmen sprechen sich bei der Befragung gegen einen Ausstieg des Landes aus der Finanzierung und damit für das Projekt „Stuttgart 21“ aus. Die dargestellte Entwicklung des Bauprojekts verweist auf die Relationalität von Ereignissen, die nachträglich verschiedenen Phase zugeordnet werden können. Dabei zeigt sich über einen längeren Zeitraum der Betrachtung, wie bewegungsintensive von weniger affektiven Phasen abgelöst werden. Nur in besonderen Zeiträumen verdichten sich Aktion und Reaktion so sehr, dass sie unmittelbar aufeinander folgen und sich schwer steuerbare Dynamiken ergeben. Das Projekt „Stuttgart 21“ existiert bis zum Beginn eines weithin sichtbaren Protests bereits mehrere Jahrzehnte. Es wird deutlich, dass das Auf und Ab der öffentlichen Aufmerksamkeit zu unterschiedlichen Zeitpunkten ganz verschiedene Ausprägungen aufwies. Auf Grundlage der hier geschilderten Projekt-Chronologie sollen im Folgenden einzelne Aktionen des Protests ins Zentrum rücken. Die umrissene Projekthistorie dient als Hintergrund der Analyse dazu, den Fokus der Untersuchung auf die erste Phase des Protests – die Zeit zwischen Baubeginn im Februar 2010 und Schlichtung Mitte Oktober 2010 – zu beschränken. Beantwortet werden soll, auf welche Weise in dieser Zeit präsenzerzeugende Strategien des Chores zum Einsatz kamen. Wie konnte durch Techniken der Dramatisierung insbesondere in dieser Phase ein affektiver Resonanzraum entstehen, der die Reichweite der Protestbewegung maßgeblich erweiterte?
36 Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima infolge schwerer Erdbeben in Japan am 11.03.2011 rückte auch die Debatte über einen Atomausstieg in Deutschland ins Zentrum der Wahlkampfthemen.
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2. DIE „BÜRGERCHÖRE“ „Es entsteht ein Sog, eine Kraft, die alle unweigerlich in Bewegung setzt. Diese Kraft fordert die Spieler, steigert ihren Mut, sich zu entäußern und ihre gesamte Energie auf einen Punkt hin zu bündeln. Diese Kraft regt disparate Gruppen an, eine Gemeinschaft zu bilden, chorisch zu sprechen und zu agieren.“37
Als am 31. Oktober 2003 die Orestie des Aischylos in der Regie von Volker Lösch im Dresdner Staatsschauspielhaus ihre Premiere feierte, war dies der Beginn einer weitreichenden Wiederbelebung und sich fortsetzenden Auseinandersetzung mit chorischen Strukturen im zeitgenössischen Theater.38 Gemeinsam mit dem Chorleiter Bernd Freytag, einem ehemaligen Choristen Einar Schleefs, formte Lösch einen Laienchor aus 33 Bürger*innen der Stadt Dresden.39 Mit diesem partizipatorischen Ansatz versuchte die Inszenierung ganz bewusst an die Tradition des Chores im antiken Theater anzuknüpfen.40 Während andere zeitgenössische Aufführungen griechischer Tragödien den Chor vielfach einsetzen, um politische Gemeinschaften nur darzustellen, versucht Lösch die Entfremdung des Theaters von den Menschen inhaltlich aufzugreifen und durch eine Wiederbelebung des Chores mit „echten“ Bürger*innen zu überwinden. Indem er Stadtbewohner*innen als Laiendarsteller*innen in seine Inszenierungen integriert, markiert er die direkte Verbindungslinie zum antiken Tragödienchor. Auf diese Weise versucht Lösch das partizipatorische Element des antiken Theaters zu reaktivieren. Mit seinen „Bürgerchören“ befragt er solidarische Gemeinschaftsvorstellungen, die mehr und mehr zur Disposition stehen und zwar jenseits ihrer bloßen Abbildung und Repräsentation.41
37 Weber, „Es ist Probe!“, S. 52. 38 Für eine überaus hilfreiche Zusammenfassung bedeutender Inszenierungen der Orestie des Aischylos im Theater der Gegenwart siehe Anton Bierl, Die Orestie des Aischylos auf der modernen Bühne. Theoretische Konzeption und ihre szenische Realisierung, Stuttgart 1997. 39 Freytag wirkte in zehn von insgesamt vierzehn Chor-Produktionen Einar Schleefs mit. Als Chorleiter brachte er diese persönlichen Erfahrungen in die Inszenierung mit ein. Vgl. Freytag, „Wo ist die Störung?“, S. 6. 40 Schon bei der Dresdner Premiere wurde der Einbezug von Menschen aus der Stadt des Aufführungsortes als ausdrückliche Besonderheit der Inszenierungen hervorgehoben. Der Chor der Dresdner Bürger*innen wurde in den Rezensionen als „Hauptdarsteller“ und „Organ der Bürger“ gefeiert. Lösch wurde bescheinigt, er bringe die Zuschauer*innen aus ihrer passiven Haltung „exemplarisch auf die Bühne […].“ Vgl. Gabriele Gorgas, „Gewagt gewonnen“, in: Sächsische Zeitung vom 03.11.2003. Zudem wurde die Anreicherung der theatralen Darstellung durch die „Erfahrungen aus ihrer eigenen Lebenspraxis“ gelobt. Vgl. Erika Stephan, in: Theater heute, Nr. 12 (2003), S. 17. 41 Lösch habe versucht, „den Chor – wirksamer als gewöhnlich in Antike-Inszenierungen – wie einen Doppelagenten zu installieren: als Vertreter des Publikums auf der Bühne und
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Seit der Dresdner Orestie im Jahr 2003 hat Lösch seine künstlerische Arbeit mit nicht ausgebildeten Schauspieler*innen in Laienchor-Projekten in unterschiedlichen Städten wiederholt: So arbeitete der Regisseur in Die Dresdner Weber (2004) mit einem Chor aus Arbeitslosen, in Faust 21 (2006) mit einem Chor aus Stuttgart-21Gegner*innen, in Medea (2007) mit einem Chor aus Migrantinnen, in Marat (2008) mit einem Hartz-IV-Chor aus Hamburg, in Wut (2009) mit einem Chor türkischstämmiger Männer und in Berlin Alexanderplatz (2009) mit einem Chor aus Gefangenen.42 In diesen Inszenierungen bestand die „Methode Lösch“43 zum einen darin, Laiendarsteller*innen zu bühnentauglichen Sprechchören zusammenzuführen. Zum anderen verdeutlichen die Beispiele, wie Löschs Interesse besonderen sozialen Randgruppen gilt und er jeweils auf „die Erniedrigten und Beleidigten, die Ausgeschlossenen und Abgehängten“ zurückgreift, um sie jedes Mal anders als besonders prägnante Chorformationen anzuordnen.44 An die chorische Darstellung gesellschaftlich benachteiligter Personengruppen schließen sich vielfältige Auseinandersetzungen zu unterschiedlichen sozialen Themen an. Zum einen deutet sich an, wie sich das an die Chor-Form gebundene Narrativ einer notwendigen Überwindung der Marginalität scheinbar fortschreibt. Zum anderen zeigt sich, wie Löschs einfache Unterteilung von Opfern und Gegner*innen – zuletzt besonders in Auseinandersetzung mit den Chören der Pegida-Bewegung in Graf Öderland (2015) – neuerlich herausgefordert wird.45 Wie die Titel seiner Theaterproduktionen bis zuletzt illustrieren, besteht Löschs Arbeitsweise darin, „einen literarischen Text als Scharnier für chorische Gegenwartsdiskurse zu nehmen.“ 46 Löschs Aufführungen folgen keinem vorgefertigten Textmaterial oder dramatischen Vorlagen. Vielmehr fließen persönliche Erlebnisse der Chormitglieder, Beiträge ihres Alltags, individuelle Schicksale, Meinungen und Wortmeldungen aus Interviews, kurzum das Expertenwissen der Chorist*innen, in die Arbeiten mit ein, die „in der Regel selbst geschaffene Textgebilde aus Recherche-
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zugleich Vermittler der ,staatsbürgerlichen Dimension‘ im Parkett.“ Nikolaus Merck, „Staatsschauspiel/Theater im Pfalzbau Aischylosʼ Orestie in der Regie von Volker Lösch“, in: Theater der Zeit, Nr. 12 (2003), S. 38. Lösch arbeitete in Die Ratten (2014) mit alleinerziehenden Müttern in Düsseldorf zusammen. Sein Theaterprojekt Waffenschweine (2014) thematisierte schlagende Verbindungen und Burschenschaften. In Nathan (2016) stellte er mithilfe eines Bonner Bürger*innenchors, bestehend aus jungen Muslim*innen, Gläubigen und Nichtgläubigen, Lessings Versöhnungsplädoyer zur Diskussion. Zuletzt inszenierte er in Kleiner Mann - was nun? (2018) die Aktualität sozialer Fragen in Mannheim. Vgl. Joachim Lange, „Die Methode des Volker Lösch“, in: Thüringische Landeszeitung vom 04.12.2014. Dirk Pilz, „Zwischen Lidl und Lenin“, in: nachtkritik vom 24.10.2008. „Viele Stücke, die ich bisher inszeniert habe, hatten einen klaren Gegner, immer ein ungerechtes System. Die Straftäter, die Prostituierten, die Sinti und Roma, sie waren die Opfer von Strukturen, eines Systems. Doch hier in Dresden haben wir es mit zwei Lagern in ein und derselben Gesellschaft zu tun, die einander gegenüberstehen. Feindlich. Auf Augenhöhe. Im Bürgertum! Pegida durchdringt diese Stadtgesellschaft, und niemand weiß: Gehört der da dazu? Oder die da?“ Volker Lösch zit. nach Martin Machowecz, „Bespuckt und verflucht“, in: DIE ZEIT vom 22.10.2015. Dirk Pilz, „Die Chormaschine“, in: Berliner Zeitung vom 08.03.2006.
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und anderen Quellen“ entstehen lassen.47 Nach eigenen Worten möchte der Regisseur seine Aufführungen durch die chorische Methode „mit heutigen Assoziationen versehen“, indem er versucht, dramatische Stoffe „aufzuladen“ und „ins Verhältnis zu setzen zum Heute“.48 Nach Meinung des Intendanten Hasko Weber liegt hier die Kernkompetenz Volker Löschs, der es in außergewöhnlicher Weise beherrsche, „[d]ieses Zusammenspiel zu animieren und eine Konstellation unterschiedlichster Personen energetisch aufzuladen […].“49 Als künstlerische Handschrift und Repräsentation einer anderen Lebenswirklichkeit auf der Theaterbühne setzt Lösch seine Auseinandersetzung mit Chören auch in Stuttgart fort. In der Spielzeit 2005/2006 wird er Hausregisseur und Mitglied der künstlerischen Leitung am Schauspiel Stuttgart, wo seine Arbeitsweise auf einen in vielerlei Hinsicht aussichtsreichen Nährboden trifft. Zum einen ist Stuttgart als Stadt im Schwabenland Sinnbild einer bürgerlichen Kultur, in der bereits ein breites Netzwerk aus Vereinen und chorischen Verbünden besteht. 50 Zum anderen bietet die künftige Metropolenregion genügend sozialen Brennstoff: 40 Prozent der Bevölkerung haben hier einen Migrationshintergrund und auch das anstehende Infrastrukturprojekt lässt bereits deutliche Spannungen erkennen. In bekannter Manier nutzt Lösch in Stuttgart die Form des Chores als ein Vehikel, um das Theater zu öffnen und mit dem Leben der Menschen „da draußen“ zu verbinden. Die Dramaturgin Beate Seidel charakterisiert Löschs Theaterpraxis in diesem Licht unter dem Stichwort „Bürgertheater“, das die Bürger*innen auf die Bühne holt, um Theater „nicht nur für sie, sondern auch mit ihnen“ zu spielen, als eine „wirkungsvolle (oft auch preiswerte) Vernetzung“, die „so manchen Riss, der zwischen dem Publikum und seinem Theater klafft“, schließt.51 Darüber hinaus betont sie, wolle „Bürgerchortheater“ – wie es in Stuttgart erprobt und ausgebaut werde – noch etwas anderes: „Es begreift Theater aus seinem politischen und demokratischen Ursprung heraus und nimmt den Bürgerchor als das, was er am Anfang der europäischen Theatergeschichte einmal war: ein Chor der Polisbürger, der sich des Dramas bediente, um sich im Spiel der irdischen und göttlichen Welt und des eigenen Standorts zu vergewissern.“52
Mit der Inszenierung Faust 21, die am 25. Februar 2006 Premiere hat, hebt Lösch gleich zu Beginn seiner Amtszeit ein soziales Stück städtischer Realität auf die Bühne, indem er die regionalen Kontroversen um das anstehende Bahn-Projekt „Stuttgart 47 Weber, „Im Zeichen der Faust“, S. 14. 48 „Wie viel Prostitution steckt im Bürgertum?“ Volker Lösch im Gespräch mit Susanne Burkhardt, in: Deutschlandradio Kultur vom 09.12.2010. 49 Weber, „Es ist Probe!“, S. 52. 50 Die Rolle des Chores in Stuttgart manifestiert sich an zahlreichen Singvereinen. Zu den ältesten zählen u.a. der Stuttgarter Liederkranz (gegr. 1824), der Kolping-Chor Stuttgart (gegr. 1872 als Gesangsabteilung des Katholischen Gesellenvereins Stuttgart) und die Untertürkheimer Kantorei (gegr. 1892 als Evangelischer Kirchenchor Untertürkheim). 51 Beate Seidel, „Bürgertheater“, in: Bochow/Trobitz/Weber, Im Zeichen der Faust, S. 138140, S. 138. 52 Ebd.
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21“ aufgreift. In der Inszenierung bilden 19 Laiendarsteller*innen und 10 Schauspieler*innen des Ensembles einen vielstimmigen Faust-Chor, der als „Stellvertreter der Öffentlichkeit“ fungiert.53 Auf diese Weise stellt Lösch „die gesammelten Antworten zur Debatte, indem er sie chorisch ins Parkett donnern“ lässt.54 Löschs künstlerische Arbeit am Theater und der anschwellende Konflikt um „Stuttgart 21“ verbinden sich im Jahr 2010 auf neuerliche Weise. Während die Bahnhofsgegner*innen immer lauter, renitenter und beharrlicher gegen den Abriss des alten Bahnhofsgebäudes demonstrieren, schließt sich Lösch der Protestbewegung an. Neben ihm unterstützt als weitere „Galionsfigur des Widerstands“ der bekannte Schauspieler Walter Sittler die Protestaktionen.55 Beide treten öffentlichkeitswirksam gegen „Stuttgart 21“ auf, geben Interviews und sind immer wieder auf Kundgebungen gegen den Abriss präsent. Um die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit auf die Anliegen der Protestierenden zu lenken, initiieren Lösch und Sittler medienwirksame Protestaktionen, die keinen Zweifel daran lassen, dass sich der gesellschaftspolitische Anspruch der im Theaterfach geschulten Männer nicht auf ihre künstlerische Arbeit beschränkt: Sie animieren neue Protestformate, die die etablierten Strategien des Widerstands erweitern. Neben akustischen Verfahren des Einspruchs, zählen vor allem Sprechchorformationen dazu, die offensichtlich an Löschs Theaterpraxis anschließen. Im Sommer 2010 bemüht sich Lösch, einen neuen „Bürgerchor“ zu gründen und dessen Auftritte als Mittel des Protests gegen „Stuttgart 21“ einzusetzen. Seinem Aufruf folgen etwa einhundert Interessierte, von denen circa zwanzig aus diversen anderen Lösch-Chören stammen.56 Neu ist, dass die Teilnahme am „Bürgerchor“ allen Engagierten mit der entsprechenden Einstellung gegen das Bahn-Projekt offensteht. Anders als in früheren Theaterproduktionen sollen heterogene Chor-Gruppen entstehen, die ein breites politisches Widerstandsbündnis abbilden.57 Dennoch zeigt sich, dass gerade frühere Chorist*innen wie Ulrike Kahle-Steinweh, die im Jahr 2007 in Löschs Produktion Manifeste des Widerstands mitwirkte, zu Aktivist*innen im neu gegründeten „Bürgerchor“ gegen „Stuttgart 21“ werden.58
53 Dirk Pilz, „Die Chormaschine“, in: Berliner Zeitung vom 08.03.2006. 54 Ebd. 55 Der Bekanntheitsgrad von Sittler war von strategischem Wert für die Öffentlichkeitswirkung der Protestbewegung. Viele sahen in ihn neben Lösch eine „Ikone des zivilen Ungehorsams“. Vgl. Josef-Otto Freudenreich, „Lasst es krachen, lasst es fetzen!“, in: Frankfurter Rundschau vom 26.08.2010. 56 Vgl. Ulrike Kahle-Steinweh, „Von der Lust, auf Topfdeckel zu schlagen“, in: Theater heute, Nr. 11 (2010), S. 47-51, S. 50. 57 Es bleibt zu fragen, ob es den „Bürgerchören“ gelang, ein Bild gesellschaftlicher Vielfalt abzubilden oder ob nur wiederum ganz spezifische Gruppen von Menschen an den Choraktionen teilnahmen. 58 Kahle-Steinweh stellt ihr Protesthandeln in einen direkten Zusammenhang zur vorherigen Mitarbeit an Löschs Chortheaterproduktion und schildert, wie die Chorarbeit im Theater sie auf die Proteste vorbereitet habe: „Wir lernten, komplizierte Rhythmen schlagen. Wir lernten, ohne Scheu durch die engen Zuschauerreihen zu tanzen, ,reclaim the streets!‘ Mehr noch, die Zuschauer zu bereden, mit Körpereinsatz zu umgarnen, zu überzeugen von stra-
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In den Protesten gegen „Stuttgart 21“ kommt es zur Ausweitung der chorischen „Methode Lösch“. Die politische Kraft der „Bürgerchöre“ wird nun als spezifische Technik politischen Aktivismus genutzt. Wie es scheint, bereitete in Stuttgart das ästhetische Spiel des Theaters – sein Experimentieren mit Formen des Austauschs – das bürgerliche Engagement der Straße geradezu vor. Hatte die theatrale Praxis der Chorformationen dazu beigetragen, dass sich der Protest durch chorische Verfahren intensivieren konnte? Welches politische Potenzial konnten die „Bürgerchöre“ außerhalb des Theaters entwickeln? Welche mitunter neuen Verfahren des Chorischen traten in den Protesten zu Tage? Welche unerwarteten Dynamiken ergaben sich auf der Straße? Da sich der Protest gegen eine Veränderung des vertrauten Stadtbildes richtete, fragt sich auch, ob sich die Gegner*innen bei ihrem Widerstand gegen Erneuerungsprozesse nicht ohne Grund der Form des Chores bedienten. Sollte die neuerliche Symbolkraft des Chores die re-aktiven, restriktiven und konservativen Nuancen des Protests betonen? Welche mit dem Chor verbundenen Hoffnungen und Sehnsüchte wurden hier inszeniert oder gar instrumentalisiert? Welche Bedeutungen sollten die Aufführungen der „Bürgerchöre“ auslösen? Konnte der Chor den politischen Anspruch einer Re-Artikulation von Teilhabe einlösen? Welche Folgen ergaben sich aus der Theatralisierung des Protests durch einen Theaterregisseur und Verfahren, die die Energie bürgerschaftlichen Engagements und das Hervorbringen des Gemeinsamen wiederum in eine dramatische Form zwängten? 2.1 Chorische Strafanzeige: Der Chor als Aufmerksamkeitsgarant Am 7. August 2010 tritt Volker Löschs „Bürgerchor“ im Rahmen einer Großdemonstration gegen „Stuttgart 21“ vor dem Bauzaun des zum Abriss freigegebenen Nordflügels des denkmalgeschützten Bonatz-Bahnhofs auf.59 Ein vom „Demokanal gegen Stuttgart 21“ am 8. August 2010 auf YouTube hochgeladenes Video dokumentiert, wie etwa 70 Menschen als Chorformation in sechs langgezogenen und hintereinander angeordneten Reihen frontal vor den anderen Demonstrant*innen positioniert sind. Die zur Rekonstruktion der Protestereignisse in Stuttgart zur Verfügung stehenden Augenzeugenvideos zeichnen sich durch eine eigene Ästhetik aus, an die sich Diskussionen ihrer Verifizierbarkeit anschließen. Es fragt sich, wie diese Clips die spezifischen Möglichkeiten des Audiovisuellen hinsichtlich der Erzeugung von Evidenz, Erkenntnis und Emotionen nutzen. Die in diesem Kapitel herangezogenen Videodokumente zeichnen sich durch keinerlei Schnitte aus, d.h. die Abläufe der Protestveranstaltungen sind ohne Unterbrechung, sichtbare Montage und in einer Einstellung durchgängig gefilmt. Trotz einiger sehr wackliger Sequenzen, die als Beleg für die vermeintliche Authentizität der Aktionen gelten können, ermöglichen es die tegischer und lustvoller Hausbesetzung.“ Kahle-Steinweh, „Von der Lust, auf Topfdeckel zu schlagen“, S. 50. 59 Die Analyse folgt der filmischen Aufnahme „Volker Löschs Stuttgarter Bürger-Chor: Anzeige gegen Oettinger, Schuster, Wopperer“, die am 08.08.2010 vom „Demokanal gegen Stuttgart 21“ auf YouTube hochgeladen wurde. Das Video ist abrufbar unter: http:// www.youtube.com/watch?v=ibuqQubvf8o (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
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Clips durch Schwenks in die Zuschauermenge, zum einen den genauen Ablauf der Veranstaltungen zu rekonstruieren und zum anderen die Reaktionen des Publikums mit einzubeziehen. Die hinteren Chorist*innen stehen erhöht auf der Ladefläche eines LKWs, dessen Plane entfernt wurde und nun den Blick auf die improvisierte Bühne freigibt. Lösch steht ganz in schwarz gekleidet auf einem kleinen Podest mit dem Rücken zum Publikum vor dem Chor. Während die Mitglieder des Chores ein Blatt Papier im DINA4-Format in den Händen halten, adressiert Löschs linke Hand wie ein Dirigent*innenstab die Chorgruppe. Mit einer wippenden und zugleich auffordernden Handbewegung, die durch ein stimmloses „Und“ unterstützt wird, gibt Lösch den Einsatz. Geschlossen beginnt der Chor als Gruppe zu sprechen. Der sprachliche Vortrag konfrontiert das durch Anwesenheit der anderen Protestierenden herrschende Stimmengewirr mit einer eigentümlichen Klarheit. Der gerichtete Gleichklang, der sich als dirigierte Aussprache vieler einzelner Stimmen entäußert, stellt dem sonoren Rauschen des öffentlichen Platzes eine organisierte Kollektivstimme gegenüber. Viele Chorist*innen schauen konzentriert auf ihre Zettel. Kraftvoll formen sie ihre Silben und pressen Wort für Wort ausdrucksschwanger und mit komprimierter Schärfe heraus. Selbst für Zuschauer*innen der filmischen Aufnahme der Aktion ist es erstaunlich, wie stark sich die Aufmerksamkeit auf den sprachlichen Vortrag des Chores richtet: Die Wortmelodie der Chorist*innen folgt einem sonderbaren Rhythmus, der nicht dem alltäglichen Sprachgebrauch entstammt. Mehrfach im Satz unterbrechen die Chormitglieder den Sprachfluss. Damit jede Zeile mit größtmöglicher Erregung abschließen kann, führt Chorleiter Lösch den „Bürgerchor“ immer wieder an Zäsuren. Mit einer einhaltenden Handbewegung unterbricht er an diesen Punkten den Vortrag. Man bemerkt durch die geschulten Bewegungen des Dirigierens, wie Lösch die Konsequenzen der Sprechweise des Chores voraussieht und genau weiß, welche Wirkungen erzielt werden sollen. Die Performance des Protestchors folgt einem klaren Schema: Chorleiter Lösch führt die Gruppe an, der Chor folgt seinem Dirigat. Löschs ausgestreckte Handfläche stoppt dann beispielsweise für einige Sekunden den Redefluss des Chores, der so in Pausen neue Energie sammelt. Wiederholt gibt Lösch dann durch ein erneutes „Und“ wieder den Einsatz zum Sprechen. Wenn längere Sätze schnell hintereinander ausgesprochen werden sollen und ein Abfall der Spannung spürbar wird, treibt Lösch die Chorist*innen mit einer wedelnden Handbewegung zum schnelleren Sprechen an. So wie er einerseits versucht das Tempo anzuziehen, achtet er andererseits besonders auf die Einhaltung der Sprechpausen. Die Bedeutung der Zäsur scheint darin zu liegen, dass die Gruppe im Falle des Auseinanderdriftens sprachlicher Synchronizität durch sie zu einem gemeinsamen Rhythmus zurückfindet und Kraft für die nächsten Formulierungen schöpfen kann. Auf diese Weise leitet Lösch die wütenden Parolen des Chores an, der den Text einer Strafanzeige gegen Günther H. Oettinger, Jeannette Wopperer, Hartmut Mehdorn, Rüdiger Grube und Wolfgang Schuster skandiert. Chorisches Sprechen einer einnehmenden Synchronizität zuzuführen, erfordert aufwendige Spracharbeit. Gerade der Umgang mit nicht-professionellen Schauspieler*innen, die keine besondere Sprachausbildung vorweisen, stellt Versuche chorischen Sprechens vor besondere Herausforderungen. Der öffentliche Raum des
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Marktplatzes manifestiert zudem ganz andere mediale Bedingungen als eine Theaterbühne, was Auswirkungen auf die konkreten Raumerfahrungen und Wahrnehmungsweisen hat und das akzentuierte Sprechen des Chores weiter erschwert. So besteht die Gefahr – und Lösch ist sich dieser Situation durchaus bewusst –, dass der gewollte Effekt kraftvollen Sprechens durch den Protestchor verpufft. Dass der Chor das Arrangement dieser Rede geprobt haben muss, zeigt sich daran, dass Satzteile von verschiedenen Einzelgruppen gesprochen werden. Im Verlauf der Aufführung werden manche Nebensätze nur von Frauen, andere Erläuterungen nur von Männern gesprochen. Wenn nur einige Mitglieder oder kleinere Teilgruppen des Chores sprechen, bleibt unklar, wer eigentlich spricht. Die Rede kann dann einem sprechenden Subjekt nicht mehr eindeutig zugeordnet werden. Die Stimmenpräsenz der gesamten Chor-Gruppe verhindert die Lokalisierung einzelner Sprecher*innen, so dass die Formation des Chores seine Mitglieder vor eindeutigen Identifizierungen schützt. Lösch erreicht durch die kontinuierlichen Veränderungen der Sprachmelodie, Wechsel im Arrangement des Chores, variierende Sequenzen von Ton, Tempo und Rhythmus, dass sich die Aufmerksamkeit des Publikums intensiviert. Als der „Bürgerchor“ die durchkomponierte, sprachmelodisch rhythmisierte Passage dann ein zweites Mal vorträgt – die Erstattung der Strafanzeige nun kraftvoll skandiert und kurz vor der Zäsur mit dem Namen des Stuttgarter Oberbürgermeisters Schuster endet – jubelt das Publikum. Die Demonstrierenden, die den Vortrag aufmerksam verfolgt haben, sind hörbar mitgerissen. Unter dem Applaus, dem Tröten und Pfeifen der Zuhörer*innen wenden die Chorist*innen in einer synchronisierten Geste ihre Textblätter. In diesem Augenblick verbindet sich die kollektive Kraft des Gesagten mit dem einnehmenden Eindruck größtmöglicher Geschlossenheit. 2.1.1 Dramatisierte Affektivität: Der „Bürgerchor“ als Wutchor Der Text, den die Chorist*innen einstudiert haben, schildert Ereignisse im Verfahrensablauf des Bahn-Projekts „Stuttgart 21“, die bisher in der öffentlichen Wahrnehmung keine große Rolle gespielt haben. Aus einem „Geheimgutachten“ zitiert der Chor lauthals, deklamatorisch und überdeutlich die negativen Adjektive „unterdimensioniert“ und „störanfällig“. Zwischen den verschiedenen Ausführungen brüllt der Chor Schimpfworte, die vom Publikum lachend aufgenommen werden. Als Beobachter*in spürt man, wie sich durch die Aussprache der Ausdrücke einerseits eine bereits vorhandene Wut entlädt. Andererseits kann der Einsatz der Schimpfwörter als Methode des Theaters dekonstruiert werden, die durch Verwendung von Subtexten dazu dient, den sprachlichen Vortrag auf einem aggressiven Level zu halten.60 In der Ergänzung aufeinander abgestimmter und sich gegenseitig steigender Wortbeiträge spielen sich kleinere Chor-Gruppen innerhalb des Chores die Rede wie einen Ball zu. Als es um die Kosten des Bauprojekts geht, wird die Bezifferung der Summe von „8 Milliarden Euro“ viermal wiederholt. Jedes Mal klingt der Ausruf entsetzter. Die innere Empörung der Chorist*innen ist sinnlich zu fassen und gewinnt hier das Potenzial sich als gesteigerte Frustration auf die Zuschauer*innen zu übertragen. In den 60 Zum Subtext als Schauspieltechnik und Verhandlung mimetischer Gestaltungsprinzipien siehe auch Roesner, Theater als Musik, S. 266. Zum Begriff ,Subtext‘ und den Potenzialen der Suggestion siehe Krishna Rayan, Text and Sub-Text. Suggestion in Literature, London 1987.
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kurzen Zäsuren zwischen den Wiederholungen heizt Lösch die Chorist*innen durch provokante Reizungen weiter an. Seine Funktion als Chorführer tritt dann ganz offensichtlich zu Tage, wenn er den Chor zwischendurch anstachelnd fragt: „Kann das denn wahr sein?“ In den Unterbrechungen des Chores entsteht ein stiller Dialog zwischen Chor und Chorleiter, der seinen Chorist*innen in diesen kurzen Sequenzen verschiedene Subtexte vorgibt. Allein wenn Lösch auf das wütende Gebrüll des Chores in dessen Pausen mit: „So eine Scheiße!“ antwortet, dient das augenscheinlich dazu, sich in die Wutsituation hineinzufühlen, der eigenen Betroffenheit nachzuspüren, sich seiner vorhandenen Emotionalität zu versichern oder die Situation einer bereits erfahrenen Verärgerung wachzurufen, um das vergegenwärtigte Gefühl der Enttäuschung offen herauszubrüllen. Diese Aufführungstechnik des Wütens wird durch die Inszenierung des Chores gestützt und vergrößert. 2.1.2 Ästhetisierte Synchronizität: Die brüchige Sprachgewalt des Chores In den kurzen Sequenzen, die der Darstellung zorniger Erregung gelten, funktioniert die chorische Sprechweise als eine Methode der Intensivierung. In den längeren Parts allerdings zerfleddern nicht selten die sprachlichen Ausführungen des Chores. Einige Chorist*innen sprechen schneller als andere, so dass der Eindruck entsteht, dass sie einander ins Wort fallen. Wenn die Gruppe in solchen Momenten zu keiner gemeinsamen Aussprache findet, entsteht ein sonores Rauschen. Das Gesagte ist dann kaum hörbar oder nur schwer verständlich. Auch spricht der „Bürgerchor“ dann wenig synchron: Er verfehlt Betonungen und produziert sprachlich bedingte Störeffekte, die keinen harmonischen Klang, sondern eine Diffusion der anvisierten Kollektivakustik provozieren. Die beim Gleichklang von Singchören als angenehm empfundene Synchronizität stellt sich dann nicht ein. Generell wirkt der unpersönliche Ton, der entsteht, da sich eine Vielzahl von Stimmen überlagern und zu einer Kollektivstimme mischen, befremdlich. Die fehlende Klarheit der sprachlichen Hervorbringungen erschwert es, als konkretes Gegenüber eindeutige Sprecher*innen zu lokalisieren. Dagegen fordert die Irritation die Zuhörenden zu neuer Aufmerksamkeit heraus. Auffällig sind zudem Momente, in denen die inhaltliche Erzählung des Chores völlig hinter dessen stimmliche Performance zurücktritt. Dann verlagert sich die Aufmerksamkeit des Publikums ganz und gar auf die Art und Weise des sprachlichen Vortrags, das Wie der koordinierten Rhythmik. Das Wissen, dass es sich bei der aufgeführten Empörung des „Bürgerchors“ um eine kunstvoll arrangierte, dramatisierte Aktion im Rahmen einer Protestveranstaltung handelt, trägt zu dieser Verschiebung weiter bei.61 Da die Aufführung des Chores diese Dramatisierung scheinbar anstrebt, ihr Ziel manchmal jedoch verfehlt, versetzt sie Beobachter*innen in eine merkwürdige Spannung, die auf einer Angst des Scheiterns, einer Furcht vor weiteren Aussetzern, sprachlicher Dissonanz oder einfach weiteren Fehlern des Chores gründet.62
61 „Ich denke, dass wir dem Theater, das uns da gespielt wird und für ein paar Wenige nur veranstaltet wird, massives Theater entgegensetzen müssen.“ Volker Lösch im Interview nach der Pressekonferenz zum Erscheinen des Buches Empört Euch-weiter! am 03.04.2013. 62 Zu den Effekten, die das bewusste Ausspielen „nicht-perfekter“ Darstellungen haben kann, siehe Jens Roselt, „Die Arbeit am Nicht-Perfekten“ in: Fischer-Lichte, Erika/Gronau, Bar-
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Als Zuschauer*in erkennt man einerseits das gesetzte Ziel der chorischen Deklamation und spürt andererseits zugleich die Differenz zur „geleisteten“ Darbietung. Das vielfach unbeholfen wirkende Scheitern vergrößert sich durch das idealisierte Streben nach Synchronizität. Durch Setzung dieses erkennbaren Maßstabs – eindrücklich bebildert durch das engagierte Dirigat Löschs – intensiviert sich die Empfindsamkeit für das Fehlerhafte. Das Ausscheren einzelner Chorist*innen aus dem Sprachfluss der Gruppe kann keinem Mitglied des Chores individuell zugerechnet werden. Sprachliche Fehltritte betreffen die Erscheinung des Chores als Ganzem. Neben dem Verfehlen intendierter Wirkungen wirkt das Nicht-Perfekte des „Bürgerchors“ wiederum verbindend. Die temporäre Taktlosigkeit der laienhaften Sprachamateur*innen wirkt auf Ebene der Identifikation insofern ausgleichend, als dass die Zuhörenden jedem Missgeschick etwas Menschliches beimessen können. Als Beobachter*in nimmt man die sprachlichen Fauxpas des „Bürgerchors“ verständnisvoll auf. Auch das Empfinden von Mitleid erzeugt dabei eine gewisse Nähe zu den Akteur*innen, die sich sichtbar Mühe geben. So entsteht durch die Offensichtlichkeit des Makelhaften dennoch ein überwiegend sympathischer Eindruck des Protestchors. 2.2 Affektive Resonanz: Die Arbeit des „Bürgerchors“ am Wir Am 3. September 2010 tritt Lösch mit chorischer Unterstützung zur Eröffnung einer weiteren friedlichen Großdemonstration gegen „Stuttgart 21“ auf, bevor ein Demonstrationszug mit mehreren zehntausend Teilnehmer*innen durch die Stuttgarter Innenstadt aufbricht.63 Die Filmaufnahmen von Walter Steiger dokumentieren das annähernd gleiche Setting: einen weiteren Auftritt des „Bürgerchors“ im mittleren Schlossgarten unweit des Hauptbahnhofs.64 Die links vor der Bühne positionierte Kamera schwenkt vom linkem Rand über den Chor zu Lösch, der vor einer LKWBühne steht, auf der ungefähr zwanzig Chorist*innen stehen. Viele der Männer und Frauen unterschiedlichen Alters tragen grüne T-Shirts und blaue Jeans, was den Eindruck eines annähernd einheitlichen Kostüms erzeugt. Chorleiter Lösch trägt wie zuvor schwarze Kleidung. Vor dem Wagen stehen in zwei weiteren Reihen und umringt von Fotografen und Kameraleuten circa zwanzig zusätzliche Chormitglieder. Als die Kamera in die anwesende Menschenmenge schwenkt, wird deutlich, dass sich im Schlossgarten mehrere Tausend Demonstrant*innen versammelt haben. An den Plakaten, Fahnen und Aufklebern ist abzulesen, dass es sich größtenteils um Gegner*innen des Projekts und damit um Sympathisant*innen des „Bürgerchors“ bara/Schouten, Sabine/Weiler, Christel (Hrsg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2003, S. 28-38. 63 Die Zahlen der Teilnehmer*innen variieren je nach Quelle mitunter stark. Während die Veranstalter*innen 60.000 Teilnehmende angaben, sprachen Polizei- und Medienberichte von 30.000. 64 Die Analyse folgt der Auswertung einer filmischen Aufnahme der Protestaktion, die am 05.09.2010 unter dem Titel „Bürgerchor und Schwabenstreich am 03.09.2010“ von Walter Steiger auf YouTube hochgeladen wurde. Das Video, das auch im Archiv der Initiative „K21“ abrufbar ist, findet sich dort unter: https://www.youtube.com/watch?v=acvYCgt 2bF8 (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
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handelt. Ein Zaun separiert die Demonstrierenden von Lösch und die auf der erhöhten Bühne platzierten Chorist*innen. Es ist anzunehmen, dass diese Trennung des „Bürgerchors“ von den restlichen Protestierenden der Sicherheit dient. Zugleich entsteht dadurch ein abgekanzelter Bühnenbereich, der als Vorbühne wie eine antike Orchestra zwar direkt an das Publikum grenzt, durch die Absperrung jedoch eine deutliche Trennung beider Gruppen hervorruft.65 Lösch hat das erste Wort. Er spricht in ein Mikrofon und bittet die Gekommenen um ein paar Minuten Ruhe. Unmittelbar danach setzt er zu einer Rede an, in der er sich dem Publikum als „Dr. Rüdiger Grube“ vorstellt. Er sagt, er wolle ein „Gesprächsangebot zum Runden Tisch“ wiederholen und soll von den Kollegen Mappus und Ramsauer grüßen. Schnell macht der Inhalt sowie die Art und Weise des Gesagten deutlich, dass der Regisseur hier nicht selbst spricht, sondern in der Rolle von Bahn-Chef Rüdiger Grube. Als ausgebildeter Schauspieler leiht Lösch der Figur des Bahn-Chefs seinen Körper, um ihr im Rahmen der Protestkundgebung zu einer szenischen Anwesenheit zu verhelfen. Die mimetische Verwandlung unterstützt Lösch durch eine ausladende Sprachweise und einen bewegungsreichen Deklamationsstil.66 Die Reaktionen des Publikums lassen nicht lange auf sich warten: Die Menge buht und pfeift den dargestellten Gegner freimütig aus. In diesen Lärm der Empörung fällt der Auftakt des „Bürgerchors“, dessen Rede als Replik auf die Ausführungen Löschs zunächst nicht sehr gut zu verstehen ist. Lösch hat sich mittlerweile dem hinter ihm stehenden Chor zugewandt und fordert ihn durch ein etwas hilfloses Schütteln seiner Hände und Arme zu einem beherzteren Beginn auf. Das Gesagte aber geht im Lärm des Publikums, dem lautstarken Pfeifen, Buhen und Klatschen völlig unter. Im Kontrast zum zaghaften Auftreten der Chorist*innen spricht Lösch mit geschulter Stimme. Seine Vorschläge werden wieder und wieder vom Sprechchor unterbrochen, der mit immer kräftigerer Stimme, dadurch lauter und zugleich geeinter auf die Ausführungen reagiert. Es entsteht eine Art Wechselgespräch, ein Dialog also, in dem der „Bürgerchor“ auf die fadenscheinigen Entschuldigungen der Rollenfigur Grube reagiert. Während Lösch die Situation in Parodie auf den „Politikersprech“ als „unumstößlich“ beschreibt, formuliert der Chor präzise Bedingungen für ein mögliches Gesprächsangebot. Das vorgetragene Gespräch führt den Antagonismus und die klaren Differenzen in der Bahnhofsfrage vor.67 Zudem führt das szenische Spiel eine Aussprache beider Seiten auf, die als tatsächliches Gespräch zwischen den unterschiedlichen Lagern noch immer fehlt. Auf Grubes Vorschlag den Nord- und Südflügel nach Fertigstellung des Bahnhofs wiederaufzubauen, reagiert das Publikum mit langanhaltendem, wütendem Pfeifen, spöttischem Lachen und abfälligem Buhen – ein Konzert verachtender Ableh65 Zum Zusammenhang von Chor und Bühne, den räumlichen Qualitäten des Chores und generellen Überlegungen zur griechischen Bühne siehe ausführlicher Kap. II 1.1.1. 66 Zum Begriff ,Deklamation‘ und der Erneuerung seiner antiken Parameter siehe auch Anita Traninger, Disputation, Deklamation, Dialog: Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus, Stuttgart 2012, S. 111-236. 67 Exemplarisch dafür steht der folgende Wortwechsel: Grube: „Die Sache ist entschieden. Es gibt Verträge.“ Chor: „Es wird noch nicht richtig gebaut. Deshalb ist alles umkehrbar. Nichts ist entschieden!“
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nung. Die Demonstrant*innen skandieren so laut, dass die folgende Replik des Chores akustisch gänzlich im Stimmengewirr untergeht. Daraufhin unterbricht Lösch – nun wieder in seiner Funktion als Chorführer – den Antwortversuch des Chores. Er ruft: „Nochmal, stopp, nochmal, stopp!“ und alle Chorist*innen verstummen. Nach einem kurzen Atemzug gibt Lösch einen erneuten Einsatz und die Chorgruppe intoniert umso energischer. Dazu fuchtelt Lösch betriebsam mit der linken Hand, als wolle er dem Sprechchor durch die eigenen Bewegungen zusätzlich Nachdruck verleihen. Das dynamische Mitgehen von Löschs Körper, der mit den Worten des Chores im Gleichtakt vor und zurück wippt, verdeutlicht seine Involviertheit. Löschs zackige Handbewegungen wirken wie anschiebende Gesten, die dem „Bürgerchor“ Mut zusprechen möchten. Sie verraten außerdem, dass der zaghafte Ausdruck und die geringe Lautstärke des Chores nicht den Ansprüchen einer gelungenen Performance entspricht. An dieser Stelle wird offenbar, dass das Potenzial des Chores noch nicht vollständig ausgeschöpft ist. 2.2.1 Zur fragwürdigen Identität des „Bürgerchors“: Wer ist der Chor? Während das überaus heterogene Publikum Löschs Ausführungen durch eine Vielzahl lautstarker Reaktionen kommentiert, seiner Entrüstung über das Gesagte anhaltend und geräuschvoll Ausdruck verleiht, wirken die einstudierten Repliken des „Bürgerchors“ akustisch geradezu verschüchtert. Als Repräsentant einer noch viel größeren Versammlung von Gegner*innen spricht der Protestchor trotz seiner exponierten Stellung auf der Bühne und trotz der großen Zahl von etwa 60 ChorMitgliedern mit nur schwacher Stimme. Im öffentlichen Raum ist der „Bürgerchor“ inmitten der anderen Demonstrant*innen zwar sichtbar, allerdings fehlt den sprachlichen Widerparts die notwendige Lautstärke und Durchsetzungskraft. Wie es scheint, verhindern die Sprachregeln der Chor-Form gerade, sich ausreichendes Gehör zu verschaffen. Dieser Eindruck verstärkt sich, da die affektive Betroffenheit des „Bürgerchors“ einstudiert und im Vergleich zur spontanen Rage der Publikumsmenge überaus gewollt und künstlich wirkt.68 Auf diese Weise erscheint der „Bürgerchor“ nicht als Abbild tatsächlicher Stuttgart-21-Gegner*innen, sondern selbst wie eine eigentümliche Rollenfigur.69 Durch die Anordnung des Chores auf der provisorischen LKW-Bühne und die frontal davorstehenden Demonstrant*innen wird diese Konfrontation zwischen „Bürgerchor“ und Publikum auch visuell deutlich. Lösch steht zwischen diesen zwei voneinander getrennten und hinsichtlich ihrer politischen Gestimmtheit doch so ähnlichen Gruppen. Der „Bürgerchor“ scheint das anwesende Publikum aus Protestierenden zu spiegeln, da er nicht aus Schauspieler*innen besteht, sondern gleichwertig aus den zahlreich Anwesenden. Dennoch sorgt gerade sein zusätzliches HerausgehobenSein aus der Menschenmenge – das künstliche Arrangement der Chor-Form – für weitere Verwirrungen.
68 Das Artifizielle offenbart sich durch Löschs Schauspiel und die künstlerische Gestaltung der Rede. 69 Zum Rollenbegriff und seiner Transformation im modernen bürgerlichen Literaturtheater siehe Ulrike Haß, „Rolle“, in: Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat, Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 300-306, S. 303.
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Die Irritation wird greifbar, wenn Lösch sich häufig im Wechsel zu den Demonstrant*innen dreht und sich dann wieder dem „Bürgerchor“ zuwendet. Seine wiederholten Richtungswechsel verraten die eigene Unsicherheit: Zu wem soll er eigentlich sprechen? Ist der „Bürgerchor“ sein Ansprechpartner oder sind es die Demonstrant*innen? Seine Ansprache richtet er zunächst an die vielen Menschen der Kundgebung, um sich dann wieder dem Chor zuzuwenden. Noch bevor der „Bürgerchor“ zur Rede ansetzen kann, entladen aber die anderen Protestierenden ihre Frustration durch lautes Tönen. Das Publikum im Schlossgarten demonstriert seine Empörung unmittelbar durch Pfeifen, Buhen und Grölen, d.h. durch direkte stimmliche Verlautbarungen, die die Ebene der sprachlichen Verhandelbarkeit bereits verlassen haben. Im Gegensatz dazu versucht der „Bürgerchor“ seine Wut in Worte zu kleiden, die auswendig gelernt sind und im Vergleich zur plötzlichen Reaktionsschnelle der anderen Protestteilnehmenden, der Spontaneität ihrer Empörungsbekundungen, völlig unpassend erscheinen. Vor diesem laut tönenden Publikum verfehlt der „Bürgerchor“ seine Wirkung. Gerade die Formzwänge des Chores scheinen die Rebellion des „Bürgerchors“ auszubremsen. Mehr noch als das mäßigende Ebenmaß der chorischen Sprachgemeinschaft, welches den freien Lauf der Emotionen verhindert, scheinen die Regeln chorischen Sprechens den „Bürgerchor“ vor besondere Herausforderungen zu stellen. Dagegen ziehen die unermüdlichen und ungefilterten Reaktionen der anwesenden Demonstrant*innen alle Aufmerksamkeit auf sich. Der „wahre“ Chor aus Bürger*innen, der sich hier präsentiert, konstituiert sich als wütendes Kollektiv nicht auf der Bühne, sondern vor ihr, auf der anderen Seite der Absperrung. So trifft der zur gespielten Aktion aufgestellte „Bürgerchor“ auf ein Publikum, das ihm ebenbürtig ist und viel freier und wirkungsvoller auf Löschs Darstellung von Grube reagiert. 2.2.2 Der „Bürgerchor“ als Vergegenwärtigung der Empörung Fragt man nach den Wirkungsabsichten Löschs, der als Regisseur so viel Expertise mit der Aufführung von Chören bewiesen hat, kommt eine Reihe weiterer Fragen auf: Bedarf es auf politischen Protestveranstaltung dem künstlichen Arrangement des Chores? Was tut der „Bürgerchor“ hier eigentlich? Soll er eine kollektive Identität der Gegner*innen stiften oder die Geschlossenheit ihrer Gemeinschaft repräsentieren? Eine Beantwortung dieser Fragen wird in einem weiteren Moment der Protestaktion greifbar, der einen Übergang markiert und ganz deutlich macht, dass der „Bürgerchor“ hier nicht wie Lösch eine Rolle spielt, sondern für sich selbst spricht. Um zu klären, welche Funktion der „Bürgerchor“ aus Protestierenden auf einer Bühne vor einem Publikum aus Protestierenden, die scheinbar selbst einen Protestchor bilden, überhaupt noch hat, ist es notwendig, sich den weiteren Verlauf von Rede und Gegenrede anzuschauen. Mit der Zeit wird die Sprachgewalt des Chores hinsichtlich seiner kollektiv gebündelten Lautstärke und zuzüglich einer nachdrücklichen und geradezu insistierenden Hartnäckigkeit immer klarer. Es entsteht der Eindruck, dass die Ausführungen der Chorist*innen synchroner gesprochen werden. Einige Mitglieder beginnen die Aussprache ihrer Worte zusätzlich mit schmetternden Handbewegungen zu unterstützen. Immer wieder treten aus dem sonoren Gruppenklang einzelne, sehr schrille Stimmen hervor. Die sehr hohe Tonlage dieser Stimmen verrät – mehr als der Inhalt der Rede – etwas über die affektive Betroffenheit der Sprechenden, die die leiden-
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schaftlich aufgebrachte Rede mit all ihrer innerlichen Wut befeuern. Einige Chorist*innen sind mittlerweile so sehr aufgebracht, dass ihre Stimmen immer wieder brechen. Durch die engagierte und zunehmend energische Ausdrucksweise erhält das Gesagte eine überaus persönliche Dimension. Dem Publikum wird unmittelbar deutlich, dass es sich bei dem Vortrag des Chores nicht allein um die Vertonung eines dramatischen Textes handelt. Vielmehr spüren die Zuhörer*innen am Eifer der Rede, dem körperlichen Stimmeinsatz und der Aufladung der Worte, dass der „Bürgerchor“ Meinungen kundtut, die in erster Linie den Überzeugungen der Chorist*innen entsprechen. Immer deutlicher wird, dass der gemeinsame Auftritt und die Form der Protestaktion einem tief empfundenen politischen Engagement entspringen. Durch die gleichzeitige Anwesenheit kann die politische Einstellung der Gruppe auf viel intensivere Weise geteilt, dadurch bekräftigt und nach außen kommuniziert werden. Das szenische Arrangement des Chores wird in dieser Betrachtungsweise zu einem Vehikel und Katalysator, der es erzürnten Bürger*innen als organisierter Körperschaft ermöglicht, ihre Stimme zu erheben und vor anderen zu sprechen. Dadurch wird ein sehr viel direkterer Zugang zur affektiven Betroffenheit der Protestierenden möglich. Gleichwohl bleibt unmissverständlich klar, dass es sich bei dem Dialog zwischen „Bürgerchor“ und Lösch um eine szenische Aufbereitung handelt, in der sich eine reale Oppositionshaltung mit Verfahren ihrer Fiktionalisierung mischt. Die Darbietung einer Konfrontation mit dem ausgemachten Widersacher dramatisiert zusätzlich die Protestsituation, in der die Positionen von Befürworter*innen und Gegner*innen exemplarisch aufgeführt werden. So behauptet Lösch als Bahn-Chef Grube, dass alles schon entschieden sei, der „Bürgerchor“ antwortet ihm: „Nichts ist entschieden!“ Im szenischen Schlagabtausch werden die verschiedenen Denkweisen der Akteur*innen und unterschiedliche Bewertungen der Vorgänge offenbar. Ziel des spielerischen Wortgefechts ist keineswegs jedoch, Verständnis für die andere Position zu entwickeln. Vielmehr dient das Skript dazu, den bereits bestehenden Antagonismus ein weiteres Mal öffentlich zu bekunden. Das Protestschauspiel richtet sich an ein vielfältiges Publikum und erfüllt nach außen gerichtet eine wichtige Darstellungsfunktion. Zugleich ermöglicht es den Protestierenden, sich ihrer Wut zu versichern. Im gemeinsamen Erleben kann die eigene Empörung wiederholt kommuniziert und nach außen gerichtet werden, sich vor Ort durch den Zusammenschluss des Protestchors wiederum bekräftigen. Während des Protestereignisses dient die (Wieder-)Aufführung des Konflikts dazu, die Auseinandersetzung mit den Gegner*innen und alle emotionalen Instanzen des Protests zu vergegenwärtigen. Wie bei Formen des Reenactment hilft die performative Wiederholung der Konfliktsituation, die historische Distanz zwischen vergangenen Ereignissen, vertanen Gesprächschancen und einer fraglichen Gegenwart auszusetzen.70 Dieses Reenactment des „Bürgerchors“ zielt nicht darauf die Vergangenheit zu verändern. Vielmehr inszeniert Lösch die Protestsituation selbst als ein gegenwärtig zu erlebendes Ereignis, das medial verwertbare Bilder des Konflikts zur Aufführung bringt, indem es die kollektive Identität der Gegner*innen als Gemein70 Der Begriff ,Reenactement‘ bezieht sich auf das „Nachstellen eines vergangenen Ereignisses, in dessen Vollzug Historie als Präsenz erlebt werden soll.“ Ulf Otto, „Reenactment“, in: Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat, Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 287-290, S. 287.
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schaft durch Ausschluss Andersdenkender bekräftigt. Mit der wiederholten Aufführung der Auseinandersetzung verbindet sich schließlich der Versuch, den gegenwärtigen Konflikt zu aktualisieren.71 An dem Punkt einer neuerlichen Kontextualisierung wird in der konkreten Protestsituation spürbar, wie die Wiederholung der Auseinandersetzung als ihre Veränderbarkeit inszeniert wird. Der Protest des „Bürgerchors“ macht unmissverständlich deutlich, dass sich die Situation als verfahren darstellt. Wenngleich der eigene Beitrag hinsichtlich einer Lösung des Konflikts nicht diskutiert wird, appelliert sein Auftritt an die Chance einer Veränderung durch das Handeln anderer. 2.3 Protest- und Kulturzug in Berlin: Zu Übertragungstendenzen des „Bürgerchors“ Ein weiterer besonders spektakulärer Aktionstag, der als drittes Beispiel eines „Bürgerchors“ im Rahmen der Proteste gegen „Stuttgart 21“ behandelt werden soll, war für den 26. Oktober 2010 vorgesehen. Der Protest verlässt an diesem Tag die Stadt Stuttgart, um mit einem „Kultur-Protest-Sonderzug“ nach Berlin zu rollen.72 Morgens werden in der Hauptstadt 600 Stuttgart-21-Gegner*innen erwartet, „um Merkel & Co den Marsch zu blasen und die BerlinerInnen über ihren Widerstand gegen Stuttgart 21 zu informieren.“ 73 Neben symbolischen Protestaktionen wie einem „Zug zur Schweizer Botschaft“ oder dem Pflanzen einer „Widerstandskastanie“ ist für 10 Uhr die Probe des „Bürgerchors“ mit Volker Lösch angekündigt.74 Dem Programmblatt ist zu entnehmen, dass dafür noch Interessierte gesucht werden.75 Ab 17 Uhr soll der „Bürgerchor“ auf der Abschlusskundgebung des Aktionstages vor der DB-Zentrale am Potsdamer Platz auftreten.76
71 Zum Potenzial von Wiederholungen siehe auch Joy Kristin Kalu, Ästhetik der Wiederholung: Die US-amerikanische Neo-Avantgarde und ihre Performances, Bielefeld 2013. 72 Organisiert wurde der „Protest-Kultur-Zug“ von Stuttgart nach Berlin durch das „Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21“ und die „AnStifter“. Über die Aktion informierte der OnlineBlog „Schwabenstreich Berlin“, der speziell in Berlin Protestaktionen gegen „Stuttgart 21“ organisierte. Jeden Mittwoch um 18.45 Uhr trafen sich dort Aktivist*innen zu einem „Schwabenstreich“ vor der Bundeszentrale der DB. 73 https://schwabenstreichberlin.wordpress.com/stuttgarter-protest-kultur-zug/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 74 Vgl. ebd. Weitere Informationen zum Protestzug gab es auch auf den Internetseiten von Attac oder den Aktionsgruppen „Bei Abriss Aufstand“ und den „Parkschützern“. 75 „Wer Interesse hat, am Bürgerchor mitzumachen (Probe ca. 10-13 Uhr, Probenbühne der Schaubühne, Saalmannstr. 11, Berlin-Reinickendorf), sendet bitte eine kurze Mail an […].“ Der Aufruf wurde im Internet mehrfach verbreitet und geteilt. Vgl. https://schwabenstreich berlin.wordpress.com/stuttgarter-protest-kultur-zug/; http://worldparkday.blogspot.de/2010 _10_01_archi-ve.html (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 76 Vgl. Peter Nowak, „Großer Bahnhof gegen ,Stuttgart 21‘“, in: taz vom 22.10.2010.
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2.3.1 Fest der Demokratie Ein am 27. Oktober 2010 auf YouTube hochgeladenes Video mit dem Titel „Stuttgart 21 - Stimme des Volkes von Volker Lösch am 26.10.2010 in Berlin“ dokumentiert, dass Lösch am frühen Abend wie angekündigt auf der Bühne der finalen Großdemonstration steht.77 In das Grölen, Buhen, Pfeifen und Rasseln der Versammelten hinein erklärt er für die Berliner*innen: „Wir machen in Stuttgart derzeit Politik auf der Straße, da in unserem Landtag keine ernstzunehmende mehr stattfindet.“ In seine Rede stimmt gleich im zweiten Satz der „Bürgerchor“ ein: „Massendemos, Schwabenstreiche, Flashmobs, ziviler Ungehorsam, Diskussionsforen, Aktionsbündnisse, Sitzblockaden, Bürgerchöre, Fest der Demokratie!“, erklingt es unisono aus einer Vielzahl von Mündern. Die Mitglieder des Chores stehen als verteilte Gruppe vor der Bühne. Den Text, den sie sprechen, lesen sie von Zetteln ab. Die sie filmende Kamera zoomt auf eine junge Frau, die ein Plakat mit der Aufschrift: „Der Stuttgarter Frühling kommt“ hochhält. Es dämmert bereits, als die Kamera über die Menge im dunkler werdenden Abendlicht schwenkt. Umso klarer erschallt der Text des Chores: „Wir sind das Volk!“ Die anwesenden Demonstrant*innen bejubeln sich selbst und die Aufführung des „Bürgerchors“ gleichermaßen: Man hört Glockengeläut, Tröten, Applaus. Als „Fest der Demokratie“ unterstrich der Titel der Veranstaltung die direktdemokratischen Ansprüche. Mit der Parole „Wir sind das Volk“ versuchten die Protestierenden, offensiv an das Narrativ der „Friedlichen Revolution“ und die erfolgreichen Umbrüche in der ehemaligen DDR im Jahr 1989 anzuschließen.78 Vielfältige Diskussionen löste jedoch die Legitimität politischer Repräsentation durch die wiederkehrende Parole „Wir sind das Volk“ aus. Zum einen ganz offensichtlich daher, weil die Definitionsmacht der Aussage immer einen Ausschluss von Menschen bedingt, die nicht zum Volk dazu gehören sollen – gerade deshalb wurde der Slogan im Nachhinein von rechten Protestbewegungen wie Pegida vereinnahmt. Zum anderen auch daher, weil sich gerade fragen ließ, inwiefern die Mehrheit des Volkswillens überhaupt darstellbar ist. Reicht das Bild der protestierenden Menge allein aus, um die Meinung einer Mehrheit zu repräsentieren? Nachdem Lösch in Berlin weitere Sätze zur Lage in Stuttgart äußert, skandiert sein Chor standfest, eindeutig angriffslustig und zackig: „Wessen Bahnhof? Unserer Bahnhof! Wessen Straßen? Unsere Straßen! Wessen Stadt? Unsere Stadt!“ Lösch stellt in einer kurzen Ansprache klar, worum es den Gegner*innen geht. Sein Vortrag wird zwischendurch von chorisch gesprochenen Parolen der Menge ergänzt. Ihr Wortlaut wird durch aufgestellte Mikrofone verstärkt. Als die Kamera ein weiteres Mal vom linken zum rechten Rand des Chores schwenkt, wird die beachtliche Menge 77 Die Analyse folgt der Auswertung einer filmischen Aufnahme der Protestaktion, die am 27.10.2010 unter dem Titel „Stuttgart 21 - Stimme des Volkes von Volker Lösch am 26.10.2010 in Berlin“ von einem User namens KiekeMa Berlin auf YouTube hochgeladen wurde. Das Video findet sich dort unter: http://www.youtube.com/watch?v=wI02fHVTz VQ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 78 Ab November 2009 dienten „Montagsdemonstrationen“ in Stuttgart dazu, die eigene Protestbewegung im Anschluss an ein bereits bestehendes, erfolgreiches Beispiel zivilgesellschaftlicher Umwälzung zu entwerfen. Mit der Präsenz tausender Menschen auf der Straße wurde die Menge zu einem politischen Druckmittel.
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von über 50 Chorist*innen deutlich. Der „Bürgerchor“, der in mehreren, äußerst breiten Reihen aufgestellt ist, nimmt durch seine körperliche Anwesenheit einen Teil des Potsdamer Platzes ein. Im Vergleich zu den vorherigen Protestaktionen fällt auf, dass der „Bürgerchor“ einheitlicher als in den zuvor besprochenen Beispielen agiert und äußerst kraftvoll und synchron auftritt. Das rhythmisierte Sprechen führt zu akzentuierten Betonungen, bei denen einzelne Wörter lebhaft herausgestellt werden, nachklingen und so besondere Signalwirkungen entfalten. Es mag an der Routine der Chormitglieder liegen, die schon in verschiedenen Chorformationen mitgewirkt haben und an der Erfahrung, die sie somit gesammelt haben. Dies würde begründen, warum die sprachliche Darbietung des in Berlin auftretenden „Bürgerchors“ so akzentuiert und selbstbewusst klingt, viel anschaulicher und energischer wirkt. Auch die ausreichende Probenzeit am Morgen kann ein Grund sein, warum der kollektive Sprachkörper dieses Mal so bestimmt, einig und konzentriert auftritt. 2.3.2 Zur Übertragung affektiver Resonanz Welche Konsequenzen die Organisation chorischen Sprechens hinsichtlich einer Aktivierung des Publikums haben kann, zeigt sich im weiteren Fortgang der Aktion: Während des Auftritts fordert Lösch den „Bürgerchor“ in einer Sprechpause zum Umblättern auf. Wieder ertönt zustimmender Jubel und fröhliches Grölen im Publikum. Der Chor führt fort: „Wir, aufgeklärte und gut informierte Bürger, Teil des politischen Gemeinwesens, haben keine Lust mehr, uns autoritär Entscheidungen aufzwingen zu lassen.“ Der Sprechchor thematisiert die eigene Identität, indem er sich selbst nennt und seine Sätze im Pluralis Majestatis formuliert.79 Er erhebt einen Anspruch auf Macht, während er gleichzeitig eine von außen aufgedrängte Autorität ablehnt. Es folgt ein Wechsel von Aussagen des „Bürgerchors“ und anschließender Jubel des Publikums. Durch dieses Hin und Her verstärken sich vorhandene Aktionspotenziale. Die Dynamik der chorischen Rede wird vom Publikum aufgegriffen und durch gleichwertige Reaktionen auf einem energetischen Level gehalten oder sogar noch gesteigert. Der Chor heizt das Publikum an und die Stimmung wird immer euphorischer. Der Protestchor skandiert: „Mappus weg, Mappus weg!“ und plötzlich überträgt sich der chorische Ausruf auf das Publikum: Anwesende Demonstrant*innen stimmen ein und wiederholen, was der „Bürgerchor“ mit stark rhythmisierter Betonung ausruft. Es entsteht ein Echo, das sich auf dem Potsdamer Platz ausbreitet. Indem andere Demonstrierende die Parolen des „Bürgerchors“ zeitlich versetzt wiederholen, werden die Worte akustisch weitergetragen. Die chorische Empörung des „Bürgerchors“ dehnt sich auf die anwesende Menge und im Nachhall der Zuschauer*innen weiter aus. Hier entsteht ein Gefühl der Kollektivität, das zugleich bedrohliche Reaktionen hervorruft. Für einen kurzen Moment kann man sich dem Eindruck nicht erwehren, 79 Während über den Chor im Singular gesprochen wird, sprechen die Chorist*innen von sich selbst in der Wir-Form. Auf diese Weise erzeugen Selbstbeschreibungen von Chören ambivalente Aussagen, die irritierende Reaktionen hervorrufen. Siehe Ulrike Haß, „Woher kommt der Chor“, S. 14: „Der Chor ist eine vielstimmige Figur, eine Form, aber er ist kein Subjekt. Er kann sich nicht zu einer Eins zusammenschließen, er ist per se uneinheitlich.“
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dass die synchronisierte Menge plötzlich wie gleichgeschaltet wirkt. Das Individuelle, Abweichende, Differente und damit die Möglichkeit, inmitten der Menge einer anderen Meinung zu sein, verschwindet unter dem erschaudernden Gleichklang der Demonstrationsteilnehmenden. Löschs Taktik, den „Bürgerchor“ und dessen rhythmisierten chorischen Vortrag zu nutzen, um die Menschen mitzureißen, geht auf. Neben der Erzeugung von Aufmerksamkeit für die politischen Anliegen der Stuttgart-21-Gegner*innen fragt sich, ob sich die solchermaßen gebrauchten chorischen Verfahren und ihre politischen Potenziale durch die Instrumentalisierung der Form nicht wiederum abschwächen. Operierten die „Bürgerchöre“ bereits in Stuttgart mit einer rein sinnlichen Überwältigungsstrategie? Während sich die Chöre nach antikem Vorbild zwar aus Bürgern der Stadt rekrutierten, fanden ihre persönlichen Meinungen in den gesprochenen Chorpassagen zugunsten stilisierter Texte kaum Ausdruck. Der Vorwurf, der sich hier andeutet und im Folgenden an einer weiteren Protestform noch eklatanter zum Vorschein kommt, ist dem Eindruck geschuldet, dass die chorische Form eine Identitätspolitik verfolgt, die politische Vielfalt gerade unterbindet. Indem er mit Verfahren der Angleichung und des Ausschlusses operiert und dadurch versucht an das Narrativ der Selbstermächtigung anzuknüpfen, macht sich der Chor zugleich angreifbar. Der Chor aus Bürger*innen dient dazu, sinnbildlich sowie lautstark eine scheinbare Mehrheitsmeinung auszudrücken, ohne dabei selbst die Potenziale des Chorischen als selbstreflexivem, offenem Wahrnehmungsmodus zu würdigen. Chorische Protestverfahren, denen es allein um diese Herstellung von Gegen-Macht geht, ohne die Legitimität der bestehenden Herrschaftsmechanismen durch Ausschlussverfahren selbst in Frage zu stellen, werden ihrem demokratischen Anspruch allerdings nur bedingt gerecht. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn sich das politische Potenzial von Protestchören durch re-aktives Handeln immer auf bereits bestehende Strukturen bezieht, ohne Normatives selbst zu befragen. Die Auftritte der „Bürgerchöre“ belegen, dass der Einsatz der Chor-Form tatsächlich weniger dem Auftrag diente, diskursive Auseinandersetzungen über das gesellschaftliche Miteinander anzustoßen. Ohne größere Reflexionen der eigenen Praxis wurde geradezu verpasst, das eigene Tun und daher das Wie eigenen Handelns zu politisieren. Dagegen sollte der Protestchor die eigene Schwäche durch Verfahren der Kollektivierung in Stärke umzuwandeln, womit sich eine bürgerliche Tradition der politischen Ermächtigung fortzuschreiben schien. Dabei fragt sich doch, wie subversiv Protestchöre überhaupt sein können, wenn sie allein darauf drängen, GegenMacht zu erzeugen, ohne die machtvolle Kehrseite ihres Widerstands zu reflektieren. Um das vorab entwickelte Modell des Chorischen im Hinblick auf eine „RePolitisierung der Stimme“ zu überprüfen, die im Zusammenhang mit chorischen Verfahren immer wieder mit anklingt, soll im Anschluss das Protestformat des sogenannten „Schwabenstreichs“ genauer in den Blick genommen werden.
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3. DER „SCHWABENSTREICH“ „Die Anwesenheit der Schrift beruht auf Wiederholung, die des Lautes auf Singularität, deren Zeitmodus entsprechend auf dem Perfekt, der Nachträglichkeit, ihrer hingegen auf der Gegenwart, dem Augenblick.“80
Der Schwabenstreich bezeichnet im deutschen Sprachraum überwiegend eine ungeschickte oder törichte Handlung. Diese negativ konnotierte Bedeutung findet ihren historischen Ursprung in den Erzählungen Die Sieben Schwaben und geht zurück auf ein Meisterlied von Hans Sachs aus dem Jahr 1545. Die Abenteuer der darin als tölpelhaft dargestellten Charaktere dienten als Stoff für Theaterstücke und fanden eine weite Verbreitung in Schwank- und Märchenbüchern.81 Sie begründeten zugleich den Spott über die Schwaben, der ihnen als Volksgruppe besondere Eigenschaften wie Sparsamkeit zuwies und sie nachhaltig zur Zielscheibe von Verhöhnungen machte. Bis heute findet der Schwabenstreich als alberne Handlungsweise Eingang in Festtagsumzüge, wo er zum Beispiel in den Narrensprüngen der schwäbisch-alemannischen Fastnacht weiterhin szenisch dargestellt wird.82 Ganz anders wird der Ausdruck dagegen im schwäbischen Sprachraum verwendet, wo er eine wagemutige Handlung bezeichnet. Die Aktion des Schwabenstreichs geht in dieser Lesart von einer intellektuellen Überlegenheit der Handelnden aus, die für diese einen vorteilhaften Ausgang begünstigt. Diese schwäbische Verwendung hat ihren Ursprung in einer Sage aus dem 12. Jahrhundert, die davon berichtet, wie ein Ritter von Türken angegriffen wird, sich heftig wehrt und mit seinem Schwert die Körper der Gegner spaltet. Im 19. Jahrhundert griff der schwäbische Dichter Johann Ludwig Uhland die rühmliche Sage in seiner Ballade Schwäbische Kunde auf.83 Der landläufig eher negativen Konnotation des Schwabenstreichs setzte er eine Heldengeschichte entgegen, die einem breiten Publikum bekannt wurde. Interessant ist, dass auf diese Weise die negative Bedeutung des Wortes am sprichwörtlichen Ort des Spotts, in Schwaben selbst, positiv umgewertet wurde. Ende Juli 2010 erfährt der Schwabenstreich innerhalb der Protestereignisse gegen „Stuttgart 21“ eine weitere Aktualisierung, indem er initiiert durch Walter Sittler und Volker Lösch im Rahmen einer Demonstration auf dem Stuttgarter Marktplatz als
80 Mersch, Was sich zeigt, S. 118. 81 In den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ist der Schwank ab der Zweitauflage von 1819 nach einer Version aus Hans Wilhelm Kirchhofs Wendunmuth (Von neun Schwaben ein histori) und einer von Johannes Bolte (Zwei Flugblätter von den sieben Schwaben) verzeichnet. Im Jahr 1887 schuf Karl Millöcker zudem die Operette Die sieben Schwaben. 82 Werner Mezger, Das große Buch der schwäbisch-alemannischen Fastnacht. Ursprünge, Entwicklungen und Erscheinungsformen organisierter Narretei in Südwestdeutschland, Stuttgart 1999; Wulf Wager (Hrsg.), Schwäbisch-alemannische Fasnet in alten Bilder, Bd. 1 u. 2, Tübingen 2003. 83 Siehe Ludwig Uhland, Schwäbische Kunde, Marbach am Neckar 1962.
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Protestformat neuartig ins Leben gerufen wird. Wie im Folgenden dargelegt werden soll, hatte das chorische Verfahren einen Anteil an der kontroversen Debatte um den „Wutbürger“ – unter anderem daher, da sich die affektive Resonanz des Chorischen hier nicht als Antwortbeziehung, sondern als Echo zu entäußern schien. 3.1 Die Auftakt-Kundgebung zum „Schwabenstreich“ in Stuttgart Am 28. Juli 2010 stehen Lösch und Sittler vor ungefähr 1.000 Menschen auf dem Stuttgarter Marktplatz. Während die Anwesenden dort friedlich gegen „Stuttgart 21“ demonstrieren, hat die Polizei bereits den Haupteingang des in unmittelbarer Nähe liegenden Rathauses abgeriegelt. Eine Videoaufzeichnung der Veranstaltung dokumentiert, wie Lösch die Demonstrant*innen begrüßt, die mit lautem Applaus und trällernden Pfeifen antworten. Der etwa 9-minütige Videoclip, der noch am selben Tag auf YouTube eingestellt wird, zeigt, wie Lösch eine Erklärung zur aktuellen Lage verliest und damit die – wie er es nennt – „entscheidende Phase des Protests“ einläutet.84 Die vorliegende Aufnahme ist aus der Perspektive des Publikums gefilmt. Es kann daher angenommen werden, dass die Person, die gefilmt hat, selbst aus den Reihen der Demonstrant*innen stammt. Zunächst gilt der Fokus des Objektivs den zwei Initiatoren Lösch und Sittler, die etwas erhöht auf ein paar Stufen zwischen dem Stuttgarter Rathaus und der anwesenden Menge stehen. Lösch hält ein Mikrofon in der Hand, das seine Rede durch Lautsprecher, die auf dem Platz verteilt sind, akustisch verstärkt. Sein kurzer Vortrag fasst die aktuelle Konfliktsituation aus Sicht der Bahnhofsgegner*innen zusammen. Durch langen Beifall und zustimmendes Grölen, Pfeifen und Gejohle wird seine Rede durch die Demonstrationsteilnehmer*innen immer wieder unterbrochen. Schilderungen über die Pläne der Befürworter*innen des Bahn-Projekts werden umgehend mit Buh-Rufen kommentiert. Die akustische Interaktion sorgt dafür, dass der Marktplatz von den Protestierenden lautstark in Beschlag genommen wird. Dann übernimmt Sittler das Mikrofon und motiviert die Versammelten, nun täglich klar zu machen, dass sie das Bahnvorhaben ablehnen. Konkret sagt er: „Gerade jetzt müssen wir täglich präsent bleiben, täglich klar machen, dass wir dieses Wahnsinnsprojekt nicht wollen und so lange weitermachen, bis ,Stuttgart 21‘ in der jetzigen Form gescheitert ist.“85 Anschließend führt Lösch aus, dass der neu aufgelegte „Schwabenstreich“ genau diesem Auftrag diene, den Protest zu verstetigen. Das neue Protest-Format kann daher als nächster Schritt einer Radikalisierung verstanden werden: Ohne vorherige Anmeldung oder aufwendige Vorbereitung soll die über Monate ausgebreitete Sichtbarkeit der Proteste nun um eine akustische Komponente erweitert werden. Sittler erklärt: „Wir werden uns ab heute, einmal täglich, überall in der Stadt hörbar machen und damit unseren Protest dauerhaft etablieren.“ Lösch und Sittler 84 Die Schilderungen des Ereignisses folgen hier der filmischen Dokumentation der Kundgebung „Schwabenstreich – Kundgebung gegen Stuttgart 21 – 28.07.2010 – 1. Teil“ vom 28.07.2010, abrufbar unter: http://www.youtube.com/watch?v=4YKKekHjmhc (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 85 Die Wiedergabe dieses Wortlauts und weiterer Zitate folgt hier einer Transkription der filmischen Dokumentation.
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appellieren an die Gegner*innen „von sofort an jeden Tag 60 Sekunden Lärm und Krach gegen ,Stuttgart 21‘ zu machen.“86 Regelmäßig soll die Aktion von nun an täglich um 19 Uhr überall in der Stadt zu hören sein. Sittler betont, dass alle mitmachen können, „egal wo er oder sie gerade sitzt, steht oder fährt – egal ob jung oder alt.“ Beide Redner animieren die Gegner*innen ihrer Oppositionshaltung lautstark Ausdruck zu verleihen. Durch ungehaltenes, öffentliches Lärmen sollen sie fortan unterstreichen, dass es jetzt der Wut eines friedlichen aber lauten Protests bedarf. Dazu sollen die Demonstrant*innen wie Lösch sagt, „Krach machen, Lärm produzieren, infernalisch laut sein.“ Vor dem Auftakt des ersten „Schwabenstreichs“ stellt Lösch die einzelnen Klangkörper und Lärminstrumente vor: Pfeifen, Kuhglocken, Vuvuzelas, Blechblasinstrumente, Trommeln und Ratschen werden einzeln aufgerufen und kurz angespielt. Die Kamera zeigt den mit Menschen gefüllten Marktplatz. Vor dem Einsatz zum „Schwabenstreich“ gibt Lösch ein paar letzte Hinweise: „Vor jedem Krach sollte absolute Stille sein, dann wirkt der Krach besser.“ und „Nach 60 Sekunden hören wir auf, dann bejubeln wir uns selber.“ Mit welchen Mitteln Lösch die Menge animiert, zeigt sich auch daran, dass er die Anwesenden zusätzlich anheizt: „Lasst es krachen, fetzen, knallen!“ und „Ihr müsst alles geben, 60 Sekunden sind extrem lang, wir haben das gestern mal probiert.“ Ein zweites YouTube-Video dokumentiert die letzten Minuten vor dem Auftakt.87 Die filmende Person steht wieder inmitten der Demonstrierenden, diesmal jedoch an einer anderen Stelle, was eine neue Perspektive auf das Geschehen eröffnet. Lösch fordert kurz vor 19 Uhr die Anwesenden zur Ruhe auf: „Bitte Ruhe!“, wiederholt er zweimal in das Mikrofon. Es ist zu vernehmen, wie erst ein Raunen durch die Menge geht und sich die Menschenmenge dann deutlich beruhigt. Das Bild der vielen Anwesenden, die als präsente Gruppe völlig still sind, vergrößert die Spannung auf das angekündigte Ereignis. 3.2 Der erste „Schwabenstreich“ als „Empörung der Unerhörten“ 88 In Löschs Countdown, der von zehn herunterzählt, mischen sich um Punkt 19 Uhr unweit des Stuttgarter Marktplatzes die Kirchenglocken der Stiftskirche. Während die Glocken in hellem Klang die volle Stunde feiern, zählt Lösch „vier, drei, zwei, eins...“ herunter. Sein abschließendes „Go“ ist als akustischer Startschuss kaum mehr vernehmbar, denn sofort wird er vom polyfonen Lärmen der Anwesenden überstimmt, die das eben noch hörbare Glockengeläut völlig übertönen. Die versammelte Menge erzeugt auf vielfältige Weise – im konkreten Ablauf ohne erkennbare Organisation und doch zeitlich genauestens koordiniert – Krach.
86 Thomas Braun, „Lass es krachen, fetzen, knallen!“, in: Stuttgarter Zeitung vom 29.07.2010. 87 Die Analyse folgt der Auswertung einer filmischen Aufnahme der Protestaktion, die am 29.07.2010 vom „Demokanal gegen Stuttgart 21“ unter dem Titel „Schwabenstreich Teil 2 – Der LÄÄÄÄRRRMMMM“ auf YouTube hochgeladen wurde. Das Video ist abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=hts2Uf8JSro (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 88 Martin Kaul, „Täglich ein Schwabenstreich“, in: taz vom 06.08.2010.
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Der Protestchor erwächst aus der Zusammenführung verschiedener körperlicher und instrumenteller Beiträge: Viele Menschen fangen aus voller Kehle an zu schreien. Sie brüllen nach Leibeskräften, bläken dumpf oder buhen tief. Andere kreischen schrill, stoßen fiepsige Töne aus oder geben sonderbare Laute von sich. Viele pfeifen schallend durch den Mund. Andere klatschen einfach in die Hände. Was genau die Einzelnen von sich geben, verschwimmt in einem Meer dissonanter Töne. So entsteht ein Konzert ohrenbetäubender Laute, das über den Marktplatz hallt und den vorgefundenen Ort verändert. Passant*innen reagieren verwirrt, erschrecken sich, gehen instinktiv auf Distanz oder nehmen reflexartig eine Abwehrhaltung ein. Das affirmative Lärmspektakel löst bei denen, die es überrascht, allgegenwärtige Verwunderung aus. Wo der bloße Körper- und Stimmeinsatz nicht ausreichend Krach verspricht, wird das Lärmspektrum mit zusätzlichen Instrumenten erhöht. Klangkörper wie Trommeln, Tonnen oder Töpfe unterstützen die Lautstärke des kollektiv produzierten Protestkonzerts. Dass diese Gerätschaften mitgebracht wurden und nun zum Krachmachen bereitstehen, verweist darauf, dass die vorausgegangenen Aufrufe zur Beteiligung erfolgreich waren.89 Alle von Lösch zuvor vorgestellten Instrumente kommen jetzt markerschütternd und schallend zum Einsatz. Es gibt Blechbläser*innen zu hören, darunter der besonders wiedererkennbare Klang von Posaunen und Trompeten. Ratschen, Schnarren und hölzerne Schrapinstrumente erzeugen ebenfalls besonders hervorstechende Lärmeffekte.90 Andere Protestteilnehmer*innen schlagen auf eiserne Kuhglocken, Stahlpfannen und andere metallene Gegenstände. Alles, was grellen Lärm erzeugt, die Sinne reizt und verstörend wirkt, scheint erlaubt. Da die Wut der Protestierenden den Eifer des Lärmens weiter anheizt, tönt die Menge mit unausweichlicher Kraft. Der Protestchor erzeugt einen einnehmenden und zugleich bedrohlich lärmenden Sound. Die akustisch wahrnehmbare Aggressivität der Szenerie wirkt auf einschüchternde Weise wie die Vertonung des Sprachbilds „blinder Wut“. 3.3 Infernalischer Lärm: Zur auditiven Addition verschiedener Klangteppiche Löschs Animation, infernalisch laut zu sein, zeigt Wirkung. Die Addition der verschiedenen Instrumente, Stimmen und damit die Zusammenführung unterschiedlicher Tonhöhen, -folgen, -intensitäten führt auf dem Stuttgarter Marktplatz zu einem
89 Unter dem Titel „,Schwabenstreich‘ 28.7. 18:45 auf dem Marktplatz Stuttgart“ publizierte Fritz Mielert auf der Internetseite des Aktionsbündnisses „Bei-Abriss-Aufstand“ am Vortag folgenden Aufruf: „Walter Sittler und Volker Lösch hatten die Idee eines Schwabenstreichs. Bitte bringt zur Veranstaltung lautmachende Lärminstrumente mit!“, abrufbar unter: http://www.bei-abriss-auf-stand.de/2010/07/27/schwabenstreich-28-7-1845-auf-dem-m arktplatz-stuttgart/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 90 Das ratternde Federblätter und das laute Knattern machen die Ratsche zum idealen Effektinstrument. Historisch ist der Einsatz von Rätschen oder Schnarren nicht nur als Alarmsignal etwa im Weinbau belegt, wo sie dazu dient, gefräßige Vögel zu vertreiben. Vielfach wurden und werden Ratschen auch heute noch zum Karneval, zur Fastnacht oder bei Karfreitagsprozessionen eingesetzt.
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ungewöhnlichen Arrangement, das spürbare Folgen für die Generierung von Aufmerksamkeit hat. Im sinnlichen Nachspüren der sich vielfach überlagernden Klangebenen wird der Zusammenhang zwischen der Produktion unüberhörbarer Lautlichkeit und der Erzeugung akustischer Präsenz-Effekte virulent. Während sich einige Klangnuancen harmonisch ergänzen, stechen andere Tonfarben und Lautmittel besonders schrill hervor. 3.3.1 Trillerpfeifen Als Signalinstrument, das der Weitergabe von Rhythmen und Laut-Signalen dient, ist die Trillerpfeife im Bereich des Sports, aber auch auf Kundgebungen und Demonstrationen überaus präsent. Die besondere Funktionalität entwickelt das durch den Mund mit Atemluft angeblasene Instrument durch seine spezifische Wirkungsweise, die expansive Reichweiten in den Hörraum ermöglicht: Die bewegliche Kugel im Resonanzraum der Trillerpfeife erzeugt regelmäßig wiederkehrende Querschnittsveränderungen, die Variationen der Tonhöhe zur Folge haben. Als Konsequenz erkennt das menschliche Ohr mindestens zwei erklingende Töne gleichzeitig, die sich durch eine eng nebeneinander liegende Tonhöhe auszeichnen. Das produzierte Schallereignis wird durch weitere Interferenzen und Dissonanzen oft als schrill und unangenehm wahrgenommen. So ergeben sich einerseits die signalwirkenden Qualitäten des Instruments, andererseits kann sich der Schalldruck und die Lautstärke einer Trillerpfeife – gerade in der Nähe des Ohres – so stark erhöhen, dass die Schmerzgrenze erreicht wird. Diese Reizfunktion der Pfeife wird in Situationen des Protests, in denen die Produktion einer penetrierenden Präsenz erwünscht ist, ausgespielt und durch die Vervielfältigung chorischen Gebrauchs strategisch genutzt. Vor dem Hintergrund, dass die Trillerpfeife gerade auch im militärischen Bereich oder von Ordnungskräften wie der Polizei mit disziplinierender Absicht zum Einsatz kommt, kann ihre Verwendung im öffentlichen Raum zugleich als selbstermächtigende Geste der Protestierenden verstanden werden.91 3.3.2 Vuvuzelas Auch die aus dem Fußballkontext bekannte Vuvuzela kommt beim „Schwabenstreich“ in Stuttgart immer wieder deutlich hörbar zum Einsatz.92 Das ursprünglich aus einer langen Röhre bestehende Blechblasinstrument mit integriertem Trichtermundstück am engeren Ende ist darauf ausgelegt, den Grundton der Naturtonreihe in sehr hoher Lautstärke zu spielen. Die Fähigkeit der Vuvuzela, in einem Abstand von einem Meter Schalldruckpegel von 120 dB(A) zu erzeugen (direkt am Schalltrichter sogar bis zu 131 dB(A)), entfaltet auf dem Stuttgarter Marktplatz unüberhörbar großen Lärm. Die ohrenbetäubende Wucht der Vuvuzela dominiert die auditive Wahrnehmung. 91 Die Redewendung „nach jemandes Pfeife tanzen“, die dafür steht, dass man einer Art blindem Gehorsam folgend alles tut, was andere verlangen, verweist noch auf diese Verbindung zwischen einem tonangebenden Musikinstrument und dem Befolgen von Bewegungen etwa beim Tanz. 92 Das Instrument wurde zur Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika im Jahr 2010 als FanArtikel populär und gilt seitdem nicht mehr nur als Massenphänomen der südafrikanischen Fankultur.
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Als Lärminstrument erreicht die Vuvuzela ohne Schwierigkeiten akustische und gesundheitsgefährdende Grenzwerte. Nicht ohne Grund kam es in Deutschland im Zuge ihres massiven Gebrauchs im Jahr 2010 zu einer Debatte um den Lärmschutz. 93 Die dargestellten Eigenschaften und Wirkungen der Vuvuzela waren ein Grund für Beschränkungen, die ihren Gebrauch mittlerweile regulieren. Die europäische Fußballunion UEFA sprach am 1. September 2010 sogar ein generelles Vuvuzela-Verbot für alle ihre Spiele aus. Offiziell begründete sie diesen Schritt nicht nur damit, dass das Instrument die Atmosphäre bei Fußballspielen in einer Art und Weise verändere, die nicht zur europäischen Fußballkultur und -tradition passe. In der Erklärung hieß es: „The magic of football consists of the two-way exchange of emotions between the pitch and the stands, where the public can transmit a full range of feelings to the players. However, UEFA is of the view that the vuvuzelas would completely change the atmosphere, drowning supporter emotions and detracting from the experience of the game.“94
Wesentlicher Kritikpunkt war dabei nicht nur, dass die Vuvuzela andere Meinungsbekundungen wie Fangesänge und Jubel einfach übertönte,95 sondern dass sie den Austausch unterschiedlicher Emotionen verhindere, indem sie einseitig dominant die Atmosphäre des Wettstreits verändere. Diese einseitig akustische Dominanz, die keine Nuancen mehr zuließ und an keine inhaltliche Auseinandersetzung oder politische Diskussion mehr denken ließ, kam auch während der „Schwabenstreiche“ zum Tragen. Der Grundton der Vuvuzela, der oft mit dem Trompetenlaut eines Elefanten verglichen wird, klingt in großen Arenen oder Fußballstadien kollektiv eingesetzt wie ein Hornissen-Schwarm. Als orchestrale Lärmkulisse vermochte die Polyfonie der Vuvuzelas auf dem Stuttgarter Marktplatz daher spezifische Assoziationen vermitteln, die den rein sinnlichen Eindruck des Klanges zusätzlich verschärften und dazu führten, dass das kollektive Poltern einen noch bedrohlicheren Charakter entwickelte. 3.3.3 Sprechchöre Als geeignete Störelemente reihen sich zusätzlich zu Instrumenten verschiedene Sprechchorformationen in das Lärmen der Protestkundgebung ein. In seiner Rede hatte Lösch zuvor aufgezählt, welche verschiedenen Aktionsformen in den „Schwabenstreich“ einstimmen können: „Gründet Sprechchöre, schreit, singt, ruft durch Megaphone, bildet Flashmobs.“ Im „Schwabenstreich“ vereinen sich die genannten Protestformate. Auch die für politische Agitationen häufig eingesetzte Wirkung chorischen Sprechens kommt als menschlich verstärkte Form des Lautsprechens zum Einsatz.
93 Vgl. Stefan Merx, „Deutsche drosseln die Vuvuzela“, in: DIE ZEIT vom 26.06.2010. 94 Siehe dazu die Erklärung „UEFA rules against vuvuzela use“, abrufbar unter: http://www.u efa.org/-protecting-the-game/securi-ty/news/newsid=1521821.html (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 95 Christian Gödecke, „Vuvuzela-Lärm: Nervtrötende Dröhnung“, in: DER SPIEGEL vom 12.06.2010.
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Schon vor Beginn des „Schwabenstreichs“ hatte ein Sprechchor „Schmähungen gegen OB Wolfgang Schuster und Regierungschef Stefan Mappus abgesetzt.“96 Am 28. Juli 2010 operiert einer der bereits ausführlicher besprochenen „Bürgerchöre“ in der Funktion eines Schmähchors als eine Art Anheizer für den kurz bevorstehenden „Schwabenstreich“. Es ist nicht ganz klar, ob dieser Prolog die Protestierenden einstimmen, ihnen die Kraft des Kollektiven aufzeigen oder ein noch gewaltigeres Lautkonzert aller beflügeln soll. Dagegen spricht, dass Lösch die 150 Bürger*innen, die „eine kleine Probe“ gemacht haben, wenig euphorisch einleitet und mit seiner Einführung die Erwartungen auf deren Auftritt weiter mindert. Lösch sagt: „Sie werden wahrscheinlich nichts davon hören, weil wir so viele sind.“ Lösch weiß um die ästhetischen Wirkungen verschiedener Darstellungsweisen. Mitunter ist seine Zurückhaltung also seinem Anspruch als erfahrener Theaterregisseur geschuldet, der einerseits die Potenziale chorischen Sprechens kennt, andererseits um das harte Training weiß, das solchen Wirkungen vorausgeht. In verschiedene Kleingruppen unterteilt stehen die „Bürgerchöre“ an unterschiedlichen Standorten auf dem Platz verteilt und geben innerhalb der anwesenden Menge stehend „Kostproben“ ihrer einstudierten Parolen. Löschs Befürchtung, dass die Chöre zu leise sind, erweist sich als nicht unbegründet. Die erwartete Wirkung des „Bürgerchors“ bleibt aus. Kraftlos, wenig abgestimmt und geradezu fade können die kleinen ChorGruppen in der großen Menge der sie umgebenden Demonstrant*innen nicht viel Durchsetzungskraft entwickeln. So ambivalent die Wirkungen des Schmähchors vor dem „Schwabenstreich“ im Einzelnen sind, fügen sie sich um 19 Uhr als veritabler Beitrag in den akustischen Tumult des „Schwabenstreichs“ ein. Die vorab beschriebene Fremdheit und Ambiguität chorischen Sprechens entwickelt im instrumentalen, lautklanglichen Gebrüll eine zusätzliche Steigerung der Störungseffekte. Durch die Addition der verschiedenen sprachlichen Chor-Gruppen und unter Hinzunahme der instrumentalen Gerätschaften entwickeln die „Bürgerchöre“ für das Lärmkonzert einen kraftvollen Beitrag. Ungeachtet der Tatsache, ob ihre Botschaften verstanden werden, fügen sich die Stimmen den nicht-sprachlichen Klangbeiträgen hinzu. Dadurch ergänzen sich sowohl inhaltsvolle Bedeutungen als auch andere Tonhöhen, die sich durch die unterschiedlichen Sprachstimmen des chorischen Arrangements ergeben. Ein weiterer Vorteil für die akustische Streuung des Protests ergibt sich durch die strategische Verteilung der chorischen Kleingruppen. Mehr als 13 dieser Einheiten stimmen an unterschiedlichen Standorten positioniert frei in das Lärmen der anderen ein. Während die Chor-Gruppen mit ihren einzeln vorgetragenen Äußerungen wenig Aufmerksamkeit erzeugen, verstärkt sich ihre Durchsetzungskraft durch das zeitgleiche Entäußern ihrer räumlich verteilten Schmähungen. Jedes kleine „SprachZentrum“ schleudert die einstudierten Parolen koordiniert heraus, versucht sich im Lärm der anderen durchzusetzen und unterstützt durch die zugleich bedeutungsvoll aufgeladenen sprachlichen Äußerungen das Arrangement des sich nun täglich wiederholenden „Schwabenstreichs“.
96 Michael Isenberg, „Infernalischer Lärm gegen das Bahnprojekt“, in: Stuttgarter Zeitung vom 28.07.2010.
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3.4 Auditive Körperlichkeit: Zur sensitiven Produktion des Lärms Aufmerksamen Beobachter*innen der filmischen Wiedergabe des „Schwabenstreichs“ vom 28. Juli 2010 wird nicht entgehen, wie das Erzeugen lauter Töne zugleich die Körper der Anwesenden beansprucht. Das gilt für sprachliche ebenso wie für nicht-sprachliche Hervorbringungen. Die Körper arbeiten, um die Klänge aus verschiedenen Instrumenten und Klangkörpern hervorzulocken. Hände klopfen mit Schlägern auf Töpfe. Oberkörper beugen sich nach vorn, um die Klangproduktion durch Stoßbewegungen zu unterstützen. Viele Versammelte stampfen mit den Füßen, einige hüpfen, andere wippen. Münder sind weit aufgerissen, die Hände nach vorne gestreckt, die Finger gespreizt. So verschiedenartig die Klänge, so unterschiedlich präsentieren sich die diese Laute hervorbringenden Körper: Manche sind gänzlich angespannt, krampfen unter der Anstrengung, anderen sieht man die Freude und Leichtigkeit an, mit der ihre Körper Töne und Klänge erzeugen. Alle Instanzen und Regionen des Körpers versuchen das Lautsein zu unterstützen. Mit zunehmender Dauer macht sich bei den meisten doch die Anstrengung bemerkbar. Wenngleich einige Schreihälse ihr Gebrüll unterbrechen müssen, um kurz durchzuatmen und Kraft zu holen, bleibt der Klangteppich kontinuierlich bestehen. Im Wissen um die Mitwirkung der anderen ermöglicht die chorische Organisation, dass Einzelne kurz aus dem Lärmen aussteigen und danach wieder einsteigen. Das starke Wirkungspotenzial der Lautlichkeit auf alle im Schallbereich des „Schwabenstreichs“ befindlichen phänomenalen Körper wird insbesondere dadurch deutlich, dass die Laute, die von Körpern unterstützt produziert werden, auch in diese und andere sie wahrnehmende Körper eindringen. Viele Kinder halten sich beispielsweise die Ohren zu, um sich vor dem Lärm zu schützen, ohne dabei ihr eigenes Gebrüll zu unterbrechen. Es zeigt sich, wie das Eindringen akustischer Reize im Körper Reaktionen hervorruft. Der Krach tangiert die Körper nicht nur, sondern löst physiologische und affektive Wirkungen wie einen beschleunigten Puls aus. Auch Gänsehaut, Schauder oder Ablehnung können hervorgerufen werden, ebenso wie Erinnerungen, die dann durch Klangsignale neu vergegenwärtigt werden. Insbesondere das Phänomen des Schreiens bildet eine Lautlichkeit jenseits der Sprachübermittlung ab, die starke Bezüge zum Chor entwickelt, wo dieser ursprünglich kein Sprechchor war. Auch Geräusche, die wie Scharren, Grummeln, Pfeifen zusätzlich durch den Körper hervorgebracht werden, verweisen auf die Erzeugung von Lärm als einem Prozess, der der Anstrengung einzelner Körper bedarf: Sie spannen sich an, atmen Luft ein und pressen sie heraus. Ob die Stimme eingesetzt wird, um Worte zu formen oder die Lippen für Gesangseinlagen gebraucht werden, ob Geräusche durch Instrumente oder körperliche Techniken hervorgerufen werden, immer ist der Körper Miterzeuger der Lautlichkeit und – dieser ausgesetzt – zugleich ihr Empfänger.
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3.5 Klang-Dramaturgie: Ein- und Auswirkungen der Krachmacherei Die Dramaturgie des Klanges, die die Aktionen des „Schwabenstreichs“ als Proteststrategie nutzen, basiert auf der Flüchtigkeit des Verklingens: Aus der Stille des Raumes taucht das gemeinsam hervorgebrachte Lärmkonzert des Protestchors auf. Für die Dauer einer Minute bleibt es mit Dissonanzen und Harmonien bestehen, entwickelt als aggressive Geste verstörenden Krachs eine spezifische Länge und verklingt. Die Akustik des „Schwabenstreichs“ wirkt unmittelbar auf Wahrnehmende ein. Klänge erreichen die Zuhörenden, dringen in sie ein, re-sonieren in den Körpern des Publikums wie der Akteur*innen. Die chorisch hervorgebrachte Lautlichkeit des Protests erzeugt äußerst dichte sinnliche Wirkungen, intensive Stimmungen und sensorische Störungen, denen man sich – egal ob sie aufgenommen, abgelehnt oder einfach nur erspürt werden – kaum entziehen kann. Neben diesen Ebenen des Lautlichen zielen die Aktionen des „Schwabenstreichs“ jedoch keineswegs dazu, ein diskursives Verfahren zu etablieren, das sich mit der eigenen Herstellung auseinandersetzt. Vielmehr visiert der Protestchor die Provokation einer übergriffigen Resonanz an. Das Chorische entäußert sich allein durch jenes Zusammenspiel ungewöhnlich höher Töne, in das die Komposition und Addition der Lautstärken sowie die Loslösung einer ans Verstehen gebundenen Sprache mit einfällt. Neben der Produktion von Klängen verdeutlichen die konkreten Handlungen der Protestierenden, wie ihr koordiniertes Protestkonzert unmittelbar auf Körper einwirkt und dazu führt, dass die Artikulation des Akustischen unmissverständlich als Widerstand erfahren wird oder selbst Widerstände hervorruft.97 Umso unangenehmer, auffälliger und sonderbarer der schrille Klangteppich des „Schwabenstreichs“ war, umso mehr trug er dazu bei, dass sich für die ihm Ausgesetzten ein spezifisches Raumgefühl vermittelte. Die Medialität der verschiedenen chorischen Inseln hatte ebenso wie die pointierte Kooperation des Lärmens einen wesentlichen Anteil an der Vergrößerung, Streuung und Vervielfältigung der auf dem Marktplatz verteilten Klangerzeugnisse. Indem sich der Protestchor deutlich vernehmbar im Hör-Raum der Stadt bemerkbar machte, andere Laute überlagerte oder gar verdrängte und für einen begrenzten Zeitraum die Akustik der Innenstadt dominierte, verwandelte er die städtische Topografie und veränderte die Wahrnehmung darin in seinem Sinne. Durch die akustischen Interventionen eigneten sich die Protestierenden den beliebten Treffpunkt inmitten des Stadtzentrums unmittelbar an, nahmen ihn für 60 Sekunden akustisch ein und rückten so „näher ans Rathaus heran.“98 Der „Schwabenstreich“ transformierte den vorgefunden Ort, indem er ihn von dessen Zweck entfremdete. Ein Verweilen, Bummeln oder Einkaufen im Stadtzentrum schien bei diesem Höllenlärm nicht mehr möglich. Der aggressive Krach, das infernalische Ge-
97 Insbesondere sprachlose Verlautbarungen der Stimme vermögen dabei zutiefst physische Reaktionen auszulösen. Siehe dazu Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft, S. 50: „Wer den Schrei eines Menschen vernimmt, wer ihn seufzen, stöhnen, schluchzen oder lachen hört, wird dies als spezifische Verkörperungsprozesse wahrnehmen, in denen eine je besondere Körperlichkeit hervorgebracht wird.“ 98 Braun, „Lass es krachen“.
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schrei, kurzum der unüberhörbare Radau vertrieb viele Menschen, die von dem Krawall überrascht wurden und ängstlich das Weite suchten. Die Tumulte des „Schwabenstreichs“ machten Widerstand nicht nur erfahrbar, indem sie sinnliche Reaktionen hervorriefen, die sich aus der spezifischen materiellen Qualität des Lärms ergaben. Der vertonte Ärger wurde von Zuhörer*innen vielmehr als ein konkretes Zeichen des Protests interpretiert, an das sich vielfältige Bedeutungen anschlossen. In erster Linie sollte der „Schwabenstreich“ die Ablehnung der Bahnhofsgegner*innen zum Ausdruck bringen, ihre Betroffenheit und Wut artikulieren und zusätzlich die Emotionalität in dieser Streitsache öffentlich ausstellen. Der „Schwabenstreich“ kann schließlich als ein besonders „markanter Moment“ 99 im Protestverlauf gedeutet werden. Der akustische Widerstand schien jenen bedeutungsvollen Augenblick aufzuführen, in dem die deutlich hörbare Empörung der Protestierenden nicht mehr mit Worten ausgedrückt werden konnte. Der Versuch einer sprachlichen Vermittlung zwischen Gegner*innen und Befürworter*innen war an seine Grenzen gestoßen. In den „Schwabenstreichen“ lösten sich die Stimmen der Protestierenden von der Ebene sprachlicher Vermittlung. Dazu wurde auf ein ChorModell der Vergemeinschaftung zurückgegriffen, das als Verfahren der Differenzierung offensichtlich dazu genutzt wurde, um sich von anderen abzugrenzen. Die politische Konfrontation wurde mittels gemeinschaftsbildender und zugleich separierender Praktiken des Chores vorangetrieben. Der identitätspolitische Kampf der Bewegung Stuttgart 21 entwarf sich also betont in Opposition zum gesellschaftlich diskutierten Bahnhofsneubau. Als Interessengemeinschaft konstituierte sich eine kollektive Identität durch Ablehnung bereits bestehender Positionen und durch den Versuch, sich als bisher marginalisierte Gruppe selbst zu ermächtigen. Die symbolische Politik der „Bürgerchöre“ und „Schwabenstreiche“ arbeitete an der Betonung und Visualisierung dieser Gruppenzugehörigkeit, die zwar ein starkes Wir-Gefühl erzeugte, dafür allerdings mit Mechanismen der Ausgrenzung operierte. Im Folgenden sorgte die Rezeption solcher Szenen – letztlich auch durch eine weitere Polarisierung, Reproduktion und Streuung der Medien – für eine weitere Verschärfung des Konflikts. Der identitätspolitische Kampf der Gegner*innen, die mit den genannten Aktionsformaten versuchten, sich auf gemeinsame Werte zu verpflichten, sorgte gerade auch wegen der Heftigkeit ihres Protests immer wieder für Diskussionen. Umso mehr, da es die Demonstrierenden scheinbar als Akt der Emanzipation empfanden, durch ihr wütendes Auftreten eindeutige und unübersehbare Merkmale ihrer Bewegung auszubilden. Statt mit dem Chorischen interne Interaktionsprozesse in den Blick zu nehmen, zielte die Chor-Form auf die Etablierung einer dominanten Gruppe. Bevor abschließend zu klären sein wird, welches Verständnis von Widerstand hier vorlag, deutet sich mit der sogenannten Wutbürger-Debatte bereits an, welche politischen Chancen durch die Privilegierung des alten Chor-Modells vertan wurden.
99 Jens Roselt, Phänomenologie des Theaters, München 2008.
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4. DER „WUTBÜRGER“ „C’est vrai, les raisons de s’indigner peuvent paraître aujourd’hui moins nettes ou le monde trop complexe. […] Mais dans ce monde, il y a des choses insupportables. Pour le voir, il faut bien regarder, chercher. Je dis aux jeunes: cherchez un peu, vous allez trouver.“100
Die Debatte um den „Wutbürger“ zeigte im Anschluss an die Protestaktionen der „Bürgerchöre“ und „Schwabenstreiche“, wie in der medialen Berichterstattung die Kommunikation, Aufführung und Bewertung von Wut als wichtigster Antrieb für das Protestverhalten der Bürger*innen öffentlich diskutiert wurde. Mit der Konzentration auf diesen Affekt verband sich eine Charakterisierung der Protestierenden, die diese als vornehmlich selbstbezogen und egoistisch darstellte. An der Kontroverse um den „Wutbürger“ lässt sich die ganze Widersprüchlichkeit der chorischen Widerstandspraxis auffächern. Sie führt vor Augen, wie das politische Handeln der Stuttgarter*innen gerade vom Chorischen wegführte. Statt die chorischen Verfahren als wachsamen und selbstreflexiven Prozess des eigenen politischen Handelns zu nutzen, wurde die affektive Resonanz der Chöre instrumentalisiert, um eine antagonistische Gegenposition zu behaupten, die durch die Exploration der Wut keine Diskussion mehr zuließ. Als die Gesellschaft für deutsche Sprache den „Wutbürger“ zum „Wort des Jahres 2010“ wählte, war dafür nicht die Häufigkeit des Ausdrucks, sondern seine Signifikanz und Popularität entscheidend.101 Einen Anteil daran, dass sich der Begriff zum medialen Schlagwort entwickelte und noch vor „Stuttgart 21“ zum „Wort des Jahres“ gewählt wurde, hatte der Essay „Der Wutbürger“ des Journalisten Dirk Kurbjuweit im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL.102 In seinem Artikel beschrieb er den „Wutbürger“ als Protagonisten einer neuen Protestkultur. Laut Meinung des Autors würden vornehmlich ältere und wohlhabende, in jedem Fall konservative Menschen gegen einen politischen Regierungsstil protestierten, den sie als Willkür empfanden.103
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Stéphane Hessel, Indignez Vous!, Barcelona 2011, S. 14. In ihrer Erklärung begründete die Gesellschaft für deutsche Sprache die Wahl, das Wort dokumentiere „ein großes Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, über ihre Wahlentscheidung hinaus ein Mitspracherecht bei gesellschaftlich und politisch relevanten Projekten zu haben“. Vgl. Gesellschaft für deutsche Sprache (Hrsg.), „Pressemitteilung: ,Wutbürger‘ zum Wort des Jahres 2010 gewählt“ vom 17.12.2010. Abrufbar unter: http://gfds.de/wutbuerger-zum-wort-des-jahres-2010-gewaehlt/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). Siehe Dirk Kurbjuweit, „Der Wutbürger. Stuttgart 21 und die Sarrazin-Debatte: Warum die Deutschen so viel protestieren“, in: DER SPIEGEL vom 11.10.2010, S. 26-27. „Die Wutbürger sind zu einem großen Teil ältere Menschen, und wer alt ist, denkt wenig an die Zukunft. Ihm bleiben noch zehn oder zwanzig Jahre, die will er angenehm verbringen […]. Der Bau des Bahnhofs vergällt ihm das Leben, von dem neuen Bahnhof selbst wird er nicht mehr viel haben. Er ist saturiert, er hat keine großen Ziele mehr,
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Kurbjuweits Artikel suggerierte, dass es einen Zusammenhang zwischen der Rückständigkeit älterer Menschen und ihrer fanatischen Gegner*innenschaft gebe. Hinter der „nackten Wut“, die den „Wutbürger“ antreibe, entdeckte der SPIEGELAutor einen wehrhaften Widerstand gegen allgemeinen Wandel und Fortschritt. Sein Skeptizismus sei Folge einer bedrohten Mitte, wodurch die bürgerliche Kraft selbst zum gefährlichen Störelement der Demokratie geworden sei.104 In der öffentlichen Diskussion wurde das Verhalten der Protestierenden jedoch nicht nur als antibürgerlich gebrandmarkt, sondern rief auch völlig konträre Bewertungen hervor.105 Es scheint daher notwendig, die bürgerliche Tradition des Chores, die sich in den Protestverfahren gleichsam abbildete, mit den völlig konträren Positionen antibürgerlichen Verhaltens zu konfrontieren. Bevor Kurbjuweits Behauptungen näher diskutiert werden, deutet sich an, dass der Autor selbst zu einer Verwischung durchaus unterschiedlicher Ebenen des Bürgerlichen beitrug. Alexander Schlager weis entsprechend auf folgendes hin: „Wenn in der Deutung der Protestbewegung oft davon gesprochen wird, diese sei „bürgerlich“, dann steckt darin eine richtige Beschreibung, die von den meisten jedoch falsch verstanden wird. Nicht der Unmut des bourgeois artikuliert sich hier. Es ist der citoyen, der gegen seine Entmachtung auf die Straße geht und die Revitalisierung der Demokratie und des Politischen überhaupt einfordert und praktiziert.“106
Bei der Frage, warum die Proteste gegen „Stuttgart 21“ so große Aufmerksamkeit auf sich zogen, spielte die Konzeption des „Bürgers“ mit all seinen Rechten und Pflichten eine entscheidende Rolle. In Abgrenzung zu den zuschreibenden Attributen des „Bürgerlichen“, mit denen die Protestaktionen immer wieder etikettiert wurden, entwickelte dagegen die Wiederentdeckung des Bürgerschaftlichen für die Protestierenden eine besondere Signifikanz. Bevor die Wutbürger-Debatte zum Ausgangspunkt für die Überlegung gemacht wird, welche Diskreditierung bürgerlichen Engagements sich an die Betonung blinden Wütens anschloss, erscheint es notwendig, bürgerschaftliches Engagement und Vorstellungen vom Bürgertum als einer historischen Vergesellschaftungsform von Mittelschichten deutlich voneinander zu trennen. Auch heute noch ist der Bürger*innenbegriff auf staatlicher Ebene an das Staatsbürger*innenrecht und damit an das Konzept der Staatsbürger*innenschaft (ius sanguinis) gekoppelt. Der Austragungsort des Protests in der Landeshauptstadt Stuttgart verwies auf die kommunale Ebene. In den Kommunen wird der Bürger*innenbegriff in den Gemeindeordnungen zwar unterschiedlich umschrieben und
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strebt nicht, sondern erhält, verteidigt den Status quo, ihm graut vor dem Wandel.“ Ebd., S. 27. Ebd. Vgl. Barbara Supp, „Die Mutbürger“, in: DER SPIEGEL vom 18.10.2010, S. 42-43; Adam Soboczynski, „Wir Antidemokraten. Der Wutbürger ist nicht konservativ, er ist reaktionär“, in: DIE ZEIT vom 02.12.2010; Harald Welzer, „Die Zukunft wird sehr kleinteilig sein“, in: taz vom 23.10.2010. Alexander Schlager, „Die Proteste gegen Stuttgart 21. Analyse und Schlussfolgerungen für linke Politik“, in: Hildebrandt, Cornelia/Tügel, Nelli (Hrsg.), Der Herbst der ,Wutbürger‘. Soziale Kämpfe in Zeiten der Krise, Berlin 2010, S. 13-27, S. 24.
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doch mit festen Eigenschaften versehen, die Rechte und Pflichten ausweisen und zudem vergegenwärtigen, dass nicht alle Einwohner*innen einer Stadt zugleich ihr Bürger*innenrecht besitzen. Damit steht der Bürger*innenbegriff neben seiner zivilgesellschaftlichen Konnotation nicht allein für politische Teilhabe, sondern auch für ein politisches Instrument des Ausschlusses.107 In Stuttgart ließ die Härte der Auseinandersetzung vermuten, dass sich der massive Widerstand nicht gegen das Bahnprojekt allein richtete, sondern zu großen Teilen gegen den prinzipiellen Umgang mit den Interessen der Bürger*innen. Viele Gegner*innen beschrieben wiederholt das Gefühl, bei der Projektplanung und damit bereits im Vorfeld der Baumaßnahmen nicht gehört worden zu sein. Ihr Vorwurf richtete sich gegen ein Verhalten der politischen Entscheidungsträger*innen, die ihre Teilhabe verhindert und dadurch einen Vertrauensverlust in politische Institutionen begünstigt hätten. Mit der Überprüfung des gesamten Verfahrens in Form einer Volksabstimmung forderten die Protestierenden offenkundig mehr demokratische Mitbestimmung ein. Wiederkehrend betonten die Gegner*innen, was für sie tatsächlich auf dem Spiel stand. Es ging nicht nur um einen Bahnhof, sondern um grundsätzliche Fragen, die sich mit seinem Bau verbanden: In welche Richtung sollte sich zukünftig das Gemeinwesen und die in ihm mit verhandelnden Werte bewegen? Während auch der Effizienznutzen des unterirdischen Bahnhofs zur Disposition stand, verband sich mit ökologischen Überlegungen zugleich die Frage, was die Gemeinschaft der Gemeinde überhaupt als Fortschritt betrachtete. Welche Großprojekte waren wirklich notwendig und sinnvoll? Und wie sollten die Bürger*innen an solchen Entscheidungen beteiligt werden? Da es letztlich um die Wiederaneignung einer Definitionsmacht des Souveräns zu gehen schien, spielte die Verbindung zu chorischen Protestverfahren als Strategie affektiver Widerständigkeit eine besondere Rolle. Während die breite Bürger*innenbeteiligung durch chorische Formationen getragen wurde, entstand der Eindruck, dass das gedankliche Modell des Chores hier als Brücke zur antiken Vorvergangenheit dienen sollte, um die historischen Wurzeln des Bürger*innenbegriffs zu reaktivieren.108 Die Chor-Form wütenden Protests schien in direktem Zusammenhang zum Bürger*innenbegriff zu stehen. Diente die chorische Darstellung von Wut am Sitz 107
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Auf der kommunalen Ebene umfasst die Definition von Bürger*innen all jene, die nach Artikel 116 des Grundgesetzes Deutsche sind oder die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedsstaates der Europäischen Union besitzen, das 18. Lebensjahr (in einigen Ländern das 16. Lebensjahr) vollendet haben und seit mindestens drei Monaten in der Gemeinde wohnen. Bürger*innen haben alle Rechte und Pflichten von Einwohner*innen, zusätzlich jedoch das aktive und passive Stimmrecht bei Gemeinderatswahlen und sonstigen Gemeindeangelegenheiten wie Bürger*innenbegehren oder Bürger*innenentscheiden. In Differenz zum Bürger*innenbegriff dient die Rede von „Mitbürger*innen“ häufig der Unterscheidung vollrechtlicher Deutscher und eingeschränkt berechtigter NichtDeutscher. Im antiken Griechenland verweist der Bürgerbegriff auf die Zeit der athenischen Demokratie des 5. Jahrhunderts, in der nur männliche Bürger bei Gerichten, Volksversammlungen und wichtigen Fragen der Polis mitwirkten. Als Bürger (griechisch πολίτης – polites) galt derjenige, der zur Stadt (der Polis) gehörte.
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der Landesregierung dazu, im Zentrum der Macht symbolisch eine demokratische Mehrheit zu markieren? Welche berechtigten Zweifel gab es gegenüber den affektiven Dynamiken des Chores? Fungierte die Dramatisierung affektiven Verhaltens neuerlichen Ansprüchen politischer Repräsentation? Oder bescheinigte das entstandene Medienecho und die Wutbürger-Debatte letztlich den Erfolg der Proteststrategie der Bahnhofsgegner*innen? 4.1 Bürgerliche Wut vs. Empörung Durch die vielfältigen Protestaktionen, die durch die verschiedensten Aktionsbündnisse ins Leben gerufen wurden und über Wochen hinweg ausdauernd und beharrlich in das Alltagsleben der Stadt Stuttgart intervenierten, entstand der Eindruck, dass gerade chorische Verfahren des Einspruchs, wie sie die „Bürgerchöre“ oder „Schwabenstreiche“ exemplarisch vorführten, zu einer Verschärfung des Antagonismus zwischen Gegner*innen und Befürworter*innen der Bahnhofspläne beigetragen hatten. Die berechtigte Frage, was die Empörung der Menschen hatte zu Wut werden lassen, wurde scheinbar auch dadurch verstellt, dass der sachlichen Bewertung der Situation die verurteilende Anschauung des Affekts ,Wut‘ vorausging. In der abendländischen Tradition, deren Geistesgeschichte lange Zeit von einer fundamentalen Opposition von Körper und Geist bestimmt war, zählt der Affekt der Wut zu den minderwertigen körperlichen Eigenschaften.109 Wut gilt als eine unberechenbare und haltlose Emotion, die nur durch den geistigen Einsatz der Vernunft gezähmt und gezügelt werden kann, ja muss.110 Wut ist weniger distanziert und nicht selten mit der Weitergabe einer impulsiven Geladenheit verbunden. Die Ursachen von Wut sind vielfältig und können in kleineren Kränkungen begründet oder durch massives Unrechtsempfinden ausgelöst sein. Wut ist folglich meist selbst eine Reaktion auf Vorangegangenes und kann zum Versuch werden, das Erleiden fremdbestimmter Einflüsse zu überwinden und passives Betroffensein umzukehren. An das innere Empfinden von Wut schließen sich spezifische Darstellungstechniken und konventionelle Lesarten ihres Ausdrucks an, die je nach kulturellem Kontext variieren. Vielfach wird Wut zugleich als renitentes Verhalten wahrgenommen. Das sprachbildliche „Anschwellen“ von Wut lenkt die Aufmerksamkeit auf die expansiven Eigenschaften dieses in unmittelbarer Relation zum Körper stehenden Affekts. Damit man nicht „vor Wut platzt“, muss sie „herausgelassen“, ihr „Luft gemacht“ 109
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Zur Auseinandersetzung mit der Zwei-Welten-Lehre bzw. des Leib-Seele-Problems in der Philosophiegeschichte und ihrer Diskussion siehe René Descartes, Die Passionen der Seele. [Die Beschreibung des menschlichen Körpers und aller seiner Funktionen], Hamburg 2014; Henri Bergson, Materie und Gedächtnis: Versuch über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 2015; Bernd Waß, Das Leib-Seele-Problem und die Metaphysik des Materiellen: Ontologische und erkenntnistheoretische Untersuchungen, Berlin 2013. Mit ,Wut‘ verbindet man entsprechend sichtbare, meist laute Emotionen in Form impulsiven körperlichen Verhaltens. Durch ein erhöhtes Energiepotenzial vermag Wut bei Menschen selbst aggressive Reaktionen hervorzurufen. Als schwer beherrschbar hebt sich Wut durch eindeutige Zeichen und meist heftigere Ausprägungen von anderen ihr nahestehenden Emotionen wie Ärger oder Zorn ab.
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werden. Mit Entäußerungen von Wut verbinden sich körperliche Ausbrüche.111 Für Beobachter*innen, die Situationen anders wahrnehmen, von ihnen emotional anders betroffen sind, folglich eine andere affektive Gestimmtheit aufweisen, werden Wutausbrüche in Differenz zur eigenen Gemütsverfassung nicht selten als Übertreibung wahrgenommen. Was in Stuttgart als „Wut der Bürger“ in Erscheinung trat oder nachträglich als solche beschrieben wurde, war – wie die Auftritte der „Bürgerchöre“ zeigen – das Aufführungsergebnis einer weiteren Dramatisierung des Affekts. Im Vergleich zu Empörung, die zu maßvollem politischen Handeln weniger in Konflikt steht, trat Wut als beängstigender Affekt des Irrationalen auf. Das wütende Zürnen der Bahnhofsgegner*innen galt einigen Beobachter*innen als politisches Verhalten, das die Schwelle einer vernünftigen politischen Auseinandersetzung bereits überschritten hatte. Wut stand dieser Sichtweise zufolge in Opposition zu einer noch verhandlungsbereiten Empörung, indem sie jedwede Diskussionsbereitschaft durch eine unerschütterliche Kombination aus Resistenz und Renitenz negierte. In seiner radikalen Kampfschrift Indignez Vous! appelliert der französische Publizist Stéphane Hessel im Oktober 2010 an die junge Generation die gewaltlose Revolte und Formen zivilen Ungehorsams als legitime Mittel der Intervention in herrschende Verhältnisse zu begreifen. In deutlicher Differenz zur Wut bestimmt Hessel in seinem Manifest als Antrieb für jene wachsenden Garantien progressiver Freiheit die Empörung.112 Wenn Hessel von Empörung und nicht von Wut spricht, unterscheidet er die beiden Affekte in signifikanter Weise.113 Diese Differenzierung ist deshalb so entscheidend, da sich nach Meinung des deutschen Philosophen Ralf Konersmann „die Empörung nicht als persönliche Betroffenheit inszenieren muss. Sie ist frei, sie ist egalitär, sie bleibt offen für politisches Augenmaß und wählt ihre Anlässe selbst. Während die Wut immer nur um denjenigen kreist, der sich ihr hingibt, bleibt die Empörung an die Sache selbst ge-
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Zur körperlichen Dimension widerständigen Ausbrechens siehe auch Vilém Flusser, Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, Frankfurt a.M. 1998, S. 92: „Anders gesagt, wir sind einem äußeren Druck unterworfen, drücken dagegen, und der Körper ist Eindruck des Außen und Ausdruck des Innen; oder, wir sind Subjekt, die Welt ist Objekt, und der Körper die Grenze dazwischen.“ Hessel, Indignez Vous!, S. 11: „Le motif de base de la Résistance était lʼindignation. Nous, vétérans des mouvements de résistance et des forces combattantes de la France libre, nous appelons les jeunes générations à faire vivre, transmettre, lʼhéritage de la Résistance et ses idéaux. Nous leur disons: prenez le relais, indignez-vous!“ Hessel versteht Empörung als notwendige Impulsgeberin und erforderliche Voraussetzung für politische Interventionen. Als Konsequenz der Empörung steht für Hessel eine „responsabilité de lʼhomme“, eine menschliche Verantwortung und humanitäre Notwendigkeit, sich zu engagieren, um Schaden und Unterdrückung abzuwenden. Hessels Appell, der Aktivismus als verändernde Kraft einfordert, lautet daher: „À ceux et celles qui feront le XXIe siècle, nous disons avec notre affection: ,Créer, cʼest résister. Résister, cʼest créer.‘“ Vgl. ebd., S. 22.
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bunden und hat nichts zu fürchten – es sei denn die Lethargie. Die Empörung, und nicht die Wut, ist die legitime Erbin der Kritik.“114
Wenngleich sich sowohl Wut als auch Empörung als „Korrespondenzen von äußerer Bewegung, innerer Haltung und schließlich auch sozialer Positionierung“ darstellen,115 wird dem Affekt der Wut eine rationale Bewertung von Situationen immer wieder abgesprochen. Während der Empörung in der politischen Diskussion eine „Handlungsneigung“ zugesprochen wird, gilt Wut als selbstgenügsame Praxis.116 Dort, wo Wut reflexive Überprüfungen eigenen Handelns unmöglich macht, fragt sich analog für chorische Protestverfahren, die vordergründig der explorativen Darstellung wütenden Verhaltens durch gebündelte Chorformationen dienen, ob sie die Fähigkeit verlieren, den Vollzug der eigenen politischen Praxis – etwa in Form institutioneller Kritik – kritisch zu hinterfragen. Wenn Protestchöre wie der „Bürgerchor“ in Berlin durch ihre sprachliche Organisation und die starke Rhythmisierung ihrer Rede eine derart affektive Resonanz erzeugen, die sich auf das Publikum überträgt, scheint ein Chor-Modell, das die eigenen Antriebe im Inneren geschweige denn Übertragungen auf weitere Kreise noch regulativ behandeln kann, an seine Grenzen zu stoßen. Wut zielt demnach nicht mehr auf theoretische Aufklärung, entäußert sich nicht mehr über „gemeinsam geschaffene und geteilte Formen der Thematisierung sozialer Probleme und ihrer möglichen Lösungen“117 und operiert daher nicht mehr im Rahmen praktischer Veränderung.118 Es bleibt zu klären, ob die Protestierenden allein als Wütende handelten oder die Wirkungen ihres Protestierens nicht gerade in der bewussten Aufführung chorischer Wut und den anvisierten Reaktionen darauf begründet lagen.
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Ralf Konersmann, „Die Widerspenstigkeit der Wutbürger“, in: Hamburger Abendblatt vom 31.03.2011. Klein, „Bewegung denken“, S. 140. Matthias Iser, Empörung und Fortschritt: Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York 2008, S. 8. Winter, Widerstand im Netz, S. 34. Vgl. Iser, Empörung und Fortschritt, S. 18.
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4.2 Der „Wutbürger“ als Bedrohung des demokratischen Systems „Wut ist kein produktiver Zustand. Wer wütend ist, hat keine Nerven übrig, um zu überlegen, wem man warum eigentlich böse ist, sondern schlägt wild um sich. Trifft die Falschen. Wer wütend ist, ist meistens ungerecht.“119
Wie Kurbjuweit kritisierte auch Konersmann die „neue, postkritische Wut“ als „Fanatismus der Saturierten“.120 Der Philosoph beanstandete, dass das öffentliche Wüten im Politischen keine konstruktive Kraft sei, sondern „rechthaberisch, starrsinnig, selbstgerecht, hysterisch“.121 Allgemein hätten sich die Ausdrucksformen von Kritik heute so sehr verändert, dass sich Ärger und Wut immer ähnlicher geworden seien.122 Konersmann mahnte an, dass Zorn und Groll politisches Augenmaß nicht ersetzen dürften. Zur eigenwilligen Sprache, der spezifischen Symbolik und Dramaturgie der „Wutbürger“ schrieb er: „Auf der Bühne des wutbürgerlichen Weltbildes herrscht eine klare Hierarchie zwischen ,denen da oben‘ und den Gerechten hier unten, die nicht die Macht, dafür aber die Moral auf ihrer Seite wissen.“123 Die Anwendung chorischer Verfahren diente in Stuttgart dazu eine ChorGemeinschaft aus Gegner*innen zu etablieren, die den Antagonismus des Konflikts bekräftigte. Wenn Konersmann die klare Hierarchie des wutbürgerlichen Weltbilds kritisierte, kann seinem Unbehagen also dort statt gegeben werden, wo es gerade diese Chor-Form war, die als Metapher demokratischer Partizipation agierte, eine scheinbare Wiederbelebung partizipatorischer Elemente gelebter Demokratie anvisierte, letztlich als theatrale Protestform allerdings vordergründig darauf drängte, ihr Publikum emotional zu umspielen. Als leichtfertige Strategie, die nicht auf Meinungsvielfalt, sondern die Kommunikation einer einzigen Richtung angelegt war, wirkte der Protestchor durch seine überwältigenden Eigenschaften umso dubioser und schien eine ernstgemeinte politische Auseinandersetzung geradezu zu verhindern. Die Debatte um den „Wutbürger“ belegt, wie im Nachgang der Protestaktionen und im Zuge ihrer politischen Bewertung diskursiv wiederum eine scharfe Trennung zwischen vernunftorientiertem Verhalten und affektiven Protestgesten gezogen wurde. Folglich beschrieb Konersmann das grundsätzliche Problem als eines der Wut selbst, die Einstellungen vorgebe und „denjenigen, der sie teilt, immer schon und unter allen Umständen“ ins Recht setze.124 Weiter führte er aus: „Auf seiner eigenen Bühne ist der Wütende, und nur er allein, im Besitz der Wahrheit, der Ausschluss selbst des leisesten Zweifels ist garantiert. Im Gegenzug bringt die Wut den Abstand 119 120 121 122 123 124
Sibylle Hamann, „Wer ein bisschen Mut aufbringt, der kann sich viel Wut sparen“, in: Die Presse vom 14.09.2011. Konersmann, „Widerspenstigkeit der Wutbürger“. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd.
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zwischen ihm und den großen Problemen der Welt da draußen zum Verschwinden und gestattet es ihm, unmittelbar und zu seinen Bedingungen an ihnen teilzuhaben.“125
Konersmann spricht von der Bühne der Wütenden und nutzt als Metapher selbst einen Ort theatraler Darstellung. Neben der Würdigung der performativen Verfahren, die Proteste immer mit auszeichnen, verfolgt er den Gedanken, dass es sich bei der öffentlichen Darbietung von Wut selbst um das Produkt eines theatralen Vorgangs der Protestierenden handeln könnte, allerdings nicht weiter. Die Analyse des „Schwabenstreichs“ legt jedoch gerade die Argumentation nahe, dass es sich beim Gefühl der Wut, das in den Protesten gegen „Stuttgart 21“ zur Aufführung gelangte, nicht um einen rohen Affekt handelte. Vielmehr verdeutlicht das chorische Arrangement, dass es den Gegner*innen durchaus bewusst um die Darstellung einer instrumentalisierten Leidenschaft ging, deren Äußerung nie zwecklos war. Die durch chorische Verfahren vergegenwärtigte Erfahrung der Wut erlangte in Stuttgart demnach den Stellenwert eines ästhetischen oder ästhetisierten Gefühls, das bereits bei Friedrich Schiller eine politische und kulturkritische Position implizierte, insofern es die Kluft zwischen Bürger*innen und Staat zu überwinden vermochte.126 Was sich bei Schiller mit der Idee der Nation und einem Gefühl der Zusammengehörigkeit qua Staatsbürger*innenschaft verband, äußerte sich in den Stuttgarter Protesten allerdings als deutliche Opposition zwischen Bürger*innen und staatlichen Repräsentant*innen. Wenngleich die emotional geführten Debatten und wütenden Anfeindungen in Stuttgart durchaus das Potenzial hatten, zu einer (Wieder-)Entfremdung von Bürger*innen und Staat beizutragen, schien die starke Affektivität der Ablehnung wiederum neue, sehr direkte Bindungen zu offenbaren. Drückte sich gerade in dieser wütenden Opposition zu etwas eine neue Verbundenheit aus? Wenn die Protestierenden hingegen eine ähnlich gerichtete emotionale Grundstimmung teilten, fragt sich umso dringlicher, wie aufmerksam sie dann überhaupt noch für eine faire und offene Auseinandersetzung mit Andersdenkenden und Andersfühlenden sein konnten. Generell darf nicht vergessen werden, dass die Aktionen der „Bürgerchöre“ und „Schwabenstreiche“ eingebettet waren in eine Vielzahl anderer Protestformate, die stärker genutzt wurden, um sich inhaltlich mit der Bahnhofsfrage auseinanderzusetzen.127 Es sollte also durchaus relativiert werden: Die Aktionen waren keineswegs nur darauf angelegt, diffuse Unzufriedenheit zu bündeln oder serielle Kollektivität in eine aktivistische zu überführen. Wenngleich eine spezifische emotionale Grundhaltung durchaus als Motor gemeinschaftsstiftender Aktion genutzt wurde, stand deren nachträglicher Diskursivierung innerhalb anderer Protestformate nichts im Wege.
125 126 127
Ebd. Vgl. Doris Kolesch, „Gefühl“, in: Fischer-Lichte/Dies./Warstat, Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 123-128, S. 127. Die beharrliche Kritik, die etwa in Redebeiträgen anderer Kundgebungen immer wieder auftauchte, richtete sich gegen gefälschte Kapazitätsdaten, planerische Defizite und finanzielle Unwägbarkeiten des Projekts. Wiederholt wurde die Ablehnung des BahnProjekts in einen größeren, makroökonomischen Zusammenhang falscher Wachstumsversprechen eingebettet.
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In der medialen Berichterstattung wurden allerdings weniger die Redebeiträge auf Kundgebungen aufgegriffen, als die spektakulären Szenen chorischen Protests. In allen Videodokumenten zeigte sich, wie neben Protestierenden zum Teil professionelle Filmteams die Aktionen dokumentierten. Sie trugen über das situative Ereignis hinaus zur weiteren Distribution der Protestszenen bei. Gleichsam präsentierten sich die hier untersuchten Protestchöre als anschlussfähige Veranstaltungen, weil ihre Theatralität daran beteiligt war, dass sich die mit der Chor-Form in Verbindung stehende Erzeugung affektiver Resonanzräume in mediale Repräsentationen ausdehnte. Die chorischen Protestformen gaben in besonderer Weise einen Rahmen vor, um die Aufführung von Wut als kollektives, gemeinschaftsstiftendes Phänomen zu inszenieren. Die Reaktivierung zivilgesellschaftlicher Kräfte, die als Korrektiv einer für falsch erachteten Politik in Erscheinung traten und ihrem Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit nachkamen, um in einer öffentlich geführten Diskussion einen Standpunkt zu vertreten, kann dabei durchaus gewürdigt werden. Mit dem Empfinden von Wut ging bei den Stuttgarter*innen zudem das implizite Wissen einher, dass nicht nur die eigene, sondern auch die Verletzung anderer einen Anlass der Empörung darstellte.128 Wenngleich Wut als Vergegenwärtigung des Selbst zunächst auf das Individuum bezogen war, wirkte sie in den „Schwabenstreichen“ für die Protestierenden zunächst verbindend. Bei der Frage, ob die Chöre als theatrale Protestformen die Zuschauer*innen letztlich nur emotional umspielten, wurde völlig ausgeklammert, welches Potenzial dem Affekt gleichsam zukam. Er diente dazu, einen zivilgesellschaftlichen Standpunkt zu vertreten, der in Folge für eine politische Auseinandersetzung hätte genutzt werden können. Durch die bloße Fokussierung auf den Affekt der Wut und seine Bewertung nach einem vorher bereits festgelegten Urteilssystem wurde die provokante Behauptung eines bürgerlichen Anspruchs als Gefahr dämonisiert und völlig das darin enthaltene Potenzial einer Revitalisierung der politischen Debatte ausgeklammert. Wie es schien, lag eine entscheidende Schwierigkeit bei der Einschätzung wütenden Verhaltens in der problematischen Evaluation des Affekts von außen. Wut wurde von Anfang an mit negativen Bedeutungen aufgeladen und moralisiert. Dadurch wurde übersehen, dass sich hinter der chorischen Wut eine durchaus konfrontative Affektstrategie des Protests verbarg. 4.3 Wut als Proteststrategie: (Aufführungs-)Formen antizipierten Wandels Es steht außer Frage, dass der Affekt der Wut in Kombination mit der Etablierung von Sprech- und Lärmchören in Stuttgart entscheidend daran beteiligt war, sowohl ein spezifisches Bild der Proteste zu erzeugen als auch die Wahrnehmung des Widerstands entscheidend mitzulenken.129 Indem sich in den „Schwabenstreichen“ Verfahren einer deutlich hörbaren Produktion und öffentlichen Darstellung von Wut ver-
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Vgl. Iser, Empörung und Fortschritt, S. 8. So sehr Kurbjuweits Stilisierung des „Wutbürgers“ kritisiert werden kann, verweisen seine Schilderungen zugleich auf die unmittelbare Aufmerksamkeit generierenden Eigenschaften heftigen Wütens.
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banden, wurde der spektakuläre Aufführungscharakter des Affekts als Vehikel genutzt, um daneben zugleich die konkreten Absichten der Aktivist*innen zu transportieren. Wie die Wutbürger-Debatte gezeigt hat, löste die Rezeption von Wut hastige Zuschreibungen der Gegner*innen aus. Die Erfahrung und Wahrnehmung von Wut war ein wichtiges Mittel, um sich zunächst die Aufmerksamkeit zu sichern und dann den Antagonismus des Konflikts offenkundig zu kommunizieren und für alle Beteiligten, d.h. für die Akteur*innen und Zuschauer*innen, Produzent*innen und Rezipient*innen, Erzeuger*innen und Betroffene, nicht nur gedanklich, sondern zugleich sinnlich zu vermitteln. Da Wut auf beiden Seiten und in beide Richtungen Oppositionshaltungen erzeugte, wurden politische Diskussionen reaktiviert. Den wütenden Protesten war etwas Übergriffiges eingeschrieben, das strategischen Charakter aufwies. Die krawalligen „Schwabenstreiche“ waren keinesfalls Situationen, in die sich Unbeteiligte freiwillig hinein begaben. Vielmehr erzeugten die Protestierenden durch die sich täglich wiederholenden Lärm-Proteste Geschehnisse, die einem widerfuhren, die Menschen an unterschiedlichen Orten überraschten oder meist ungewollt zustießen. Protest wurde als lautliche Aggression im öffentlichen Raum an fremde Zuhörer*innen herangetragen, konfrontierte sie mit verstörendem Verhalten oder ließ sie in andere Stimmungslandschaften eintauchen.130 Daraus folgte allerdings nicht, dass sich die Wut der Protestierenden automatisch übertrug oder das chorische Lärmen zwangsläufig zu Ansteckungen führte.131 Im Gegenteil stimulierte die lautmalerische und resonanzerzwingende Atmosphäre eher neuerliche Gegenwehr. Diese Erfahrung schloss vielfach ein, dass man sich nachrangig auch mit den politischen Anliegen der Bewegung auseinandersetzte.132 Statt allein mit rationalen politischen Aussagen zu argumentieren, kam es in den Stuttgarter Protesten zur kollektiven Aufführung und bewussten Zurschaustellung von Wut, was eine ganz spezifische Widerstandspraxis konstituierte. Zum einen wurde der negativ konnotierte Affekt als emotionaler Extremzustand instrumentalisiert, um sich einem erwartbaren, politisch oder sozial geforderten Verhalten in der Öffentlichkeit zu widersetzen, indem man seinen Codes, Konventionen und Regularien eben gerade nicht entsprach.133 Zum anderen wurde die lautliche Erzeugung und 130
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Fischer-Lichte betont insb. das atmosphärische Wirkungspotenzial von Lauten, Geräuschen, Klängen und Musik, die allesamt „das wahrnehmende Subjekt umfangen, umhüllen und in seinen Leib eindringen. Der Körper kann so zum Resonanzkörper für die gehörten Laute werden, mit ihnen mitschwingen; […].“ Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 207. Zum Begriff der Ansteckung und einer kritischen Reflexion seines metaphorischen Gebrauchs in gegenwärtigen ästhetischen Diskursen siehe Suthor, Nicola/Schaub, Mirjam (Hrsg.), Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München 2004. Zur Beziehung von Atmosphären und performativen Räumen sowie zur Relevanz von Atmosphären bei der Erzeugung spezifischer Raumqualitäten siehe auch Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 200-209; Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995. War das Theater zu einer besonderen Zeit das Medium für die Einübung von Affekten und Schulungsort gemäßigter Sozialisation bzw. spezifisch geforderter gesellschaftlicher Körperregeln, wurde die Straße nun zu einer Bühne, auf der geltende Regeln der Zurückhaltung, bürgerlicher Contenance und Affektregulierung aufgehoben wurden.
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chorische Streuung von Wut dazu genutzt, andere Teilnehmer*innen sinnlich zu affizieren, anzustoßen, zu erschüttern und im besten Fall auch politisch zu mobilisieren. Da die wesenseigenen Qualitäten der Empfindsamkeit unser Verhältnis zur Welt bestimmen, verknüpfte sich im Moment der Einfühlung, mit dem Nachempfinden der Wut der Protestierenden, zugleich ein Perspektivwechsel – und damit die Möglichkeit einer anderen Bewertung der Situation. Die sinnliche Erregung machte das Vorgesetzte zum Eigenen, löste neuerliche Abstoßungsreaktionen aus oder ermöglichte ein erleichtertes Eintauchen in die andere Gedankenwelt. Dort, wo die andere Positionierung nicht argumentativ begriffen, sondern im körperlichen Vollzug nachempfunden wurde, erschien die affektive Rezeption wütenden Protests zugleich als Möglichkeit einer differenzierten Wahrnehmung, als Beginn eines Wandels, der ein stärker einfühlendes Verstehen ebenso wie eine übergriffige Beeinflussung bedeuten konnte.134 Das Gefühl der Wut erschien somit als eine Aktualisierung, die politische Veränderungen auslösen konnte. An ihre Empfindsamkeit schloss sich die Chance an, neue Erfahrungen zu machen und Positionen neu auszuhandeln. In den Aktionen des „Schwabenstreichs“ entäußerte sich Wut als eine starke körperliche und zugleich machtvolle Erfahrung, die dafür sorgte, dass eine vorgegebene Situation unterbrochen und in ihrem Verlauf hörbar verändert wurde. Indem ihre öffentliche Darstellung das Publikum insbesondere durch die Ausspielung lautlicher Effekte erschreckte, trat die positive Dimension der Wut als Rekonfiguration einer Situation hervor.135 Da Wut sofort Urteile einfordert, zeichnet sie sich durch eine besondere Zeitlichkeit aus. Meist fehlt die Zeit, um angemessen und überlegt auf Wut zu reagieren. Wut war in Stuttgart insofern mit einem Denken verbunden, das „durch eine Art unmittelbarer Beurteilung des Affekts, durch eine Bewertung der potenziellen Entwicklungen und situationsbezogener Ergebnisse, im Körper statt[fand].“136 Die ästhetische Erfahrung von Wut konnte zu einem Motor für Veränderungen werden, wo sie die von ihr Konfrontierten zu Reaktionen nötigte, wo sie Prozesse beschleunigte oder Situationen dazu zwang, „sich um die Unterbrechung neu zu organisieren und so oder so mit der Intensität umzugehen.“137 Die dargestellten Protestereignisse belegen, dass es der Bewegung Stuttgart 21 vordergründig um die Wiederaneignung einer politischen Welt ging, die den Bürger*innen scheinbar entzogen wurde oder zu entgleiten schien. Der chorische Protest war Ausdruck dieses zivilgesellschaftlichen Anspruchs. Im vereinten Auftreten wollten die Gegner*innen von „Stuttgart 21“ zeigen, dass es auch in der repräsentativen Demokratie Verfahren gab, die zwar alle verfahrenstechnischen Schritte eingehalten 134
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Mit Bezug zu Schiller verdeutlicht Doris Kolesch diese Potenzialität des Gefühls: „Während Verstand und Vernunft auf die Einheit des Gegebenen abheben, bleibt das Gefühl der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen verpflichtet. Es kann so zum seelischen Organ einer ganzheitlichen Vergegenwärtigung von Selbst und Welt werden.“ Kolesch, „Gefühl“, S. 127. Wut zwingt „der Situation Aufmerksamkeit auf, sie erzwingt eine Pause, die so mit Intensität angefüllt ist, dass sie oftmals zu extrem ist, um in Worte gefasst werden zu können.“ Massumi, Ontomacht, S. 32. Ebd., S. 33. Ebd., S. 32.
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und doch keinen Rückhalt in der Bevölkerung hatten. Mit dem Erscheinen von Protestchören verband sich der Appell an die Politik, eine Legitimation des Projekts nachzuholen. Die vielfach geäußerte Kritik der „Bürgerchöre“ lautete deshalb, dass die aktuelle Praxis der Politik, anstatt sich am Gemeinwohl zu orientieren, nicht mehr dem Menschen diene, sondern „nur noch ein deprimierend durchsichtiges Feilschen um Macht“ sei.138 Gleichsam wurde deutlich, dass die Protestierenden durch die Mittel ihres Protests selbst auf ein Chor-Modell der Vergemeinschaftung zurückgriffen, das dafür vorgesehen war, sich als machtvolle Gegner*innenschaft zu inszenieren. Hinter dem massenhaften Aufschrei der „Schwabenstreiche“ und der chorisch hervorgebrachten Wut verbarg sich eine durchaus konfrontative Affektstrategie des Protests, die darauf drängte, Gegen-Macht zu erzeugen. Die Form des Chores wurde als Verfahren politischer Konfrontation genutzt, um sich deutlich von anderen abzugrenzen. Durch die Betonung der Anwesenheit von Bürger*innen als Chiffre für das Gemeinwohl wurden die separierenden Praktiken dieses identitätspolitischen Kampfes mehr als deutlich. Die Proteste gegen „Stuttgart 21“ können als identitätspolitische Bewegung beschrieben werden, insofern politische Anliegen der Bewegung an die Identität der Bürger*innen geknüpft wurden. Die „Bürgerchöre“ dienten dazu, die Legitimität politischen Handelns als „Bürgerpflicht“ zu inszenieren und auf Basis kollektiver Ablehnung ein starkes Wir-Gefühl unter den Protestierenden zu erzeugen. Die Anwendung chorischer Verfahren etablierte in Stuttgart also Chor-Gemeinschaften aus Gegner*innen, die weniger Lösungsversuche als den Antagonismus des Konflikts bekräftigen sollten. Die Protestchöre in Stuttgart waren trotz des Vorwurfs einer anti-bürgerlichen Praxis eindeutig einer bürgerlichen Tradition zuzuordnen. Es wurde deutlich sich, wie der Chor als Metapher demokratischer Partizipation für die scheinbare Wiederbelebung partizipatorischer Elemente gelebter Demokratie und damit die Ermächtigung jener bürgerschaftlichen Pflichten der citoyen instrumentalisiert wurde. Als Stellvertreter-Modell setzte sich der Chor dort der Kritik aus, wo er selbst wiederum auf Mechanismen der Ausgrenzung, bürgerliche Abgrenzungs- und Ermächtigungslogiken der bourgeois zurückgriff. Einerseits war durchaus zu begrüßen, dass Bürger*innen der Stadt Stuttgart ein Bauprojekt zum Ausgangspunkt ihres politischen Handelns machten, sich selbst als Teil einer Gemeinschaft begriffen und ihre Meinung einbrachten. Andererseits muss die Art und Weise kritisiert werden, wie der Forderung nach neuen Formen radikaler Demokratie mittels affirmativen Chorformationen entsprochen wurde. Die berechtigten Zweifel richten sich gegen eine Instrumentalisierung des Chores, der den Anschein erweckte, demokratische Bürger*innen würden sich aktiv als Teilnehmende eines kollektiven Unternehmens einbringen.139 Dabei stellte der Protestchor als Zusammenschluss einer vereinigten Gegner*innenschaft seine Mitglieder als einheitliches Subjekt vor. Er verstellte plurale Positionen, verhinderte die Artikulation eines Ensembles von Subjektpositionen und stand dem politischen Austausch 138 139
Volker Lösch, „this is politics“, Rede auf der 200. Montagsdemonstration am 02.12.2013. Vgl. Mouffe, „Preface: Democratic Politics Today“, S. 24.
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von Argumenten, den das dargestellte Modell des Chorischen offensichtlich anvisierte, geradezu entgegen. In den folgenden Beispielen deutet sich im Gegensatz dazu an, wie Protestierende chorische Protestverfahren nicht mehr nur vordergründig zur explorativen Darstellung geschlossener Gemeinschaften anwenden, sondern zur kritischen Selbstbefragung der eigenen politischen Praxis. Ganz anders als in Stuttgart zeigt das nächste Beispiel, wie politische Forderungen von Körpern aufgestellt werden können, ohne laut und schrill sein zu müssen. Statt als konzentriertes Körperkollektiv und arrangierter Sprachkörper aufzutreten und geeint mit einer Stimme zu sprechen, rücken in den ägyptischen Protestaktionen des „Stillen Widerstands“ choreografierte Protesthandlungen in den Mittelpunkt, die sich widersetzten, indem allein schon ihr Fortbestehen und Andauern im öffentlichen Raum den Staat zu delegitimieren drohte. Im Vorfeld der ägyptischen Revolution kommt dem Beispiel aus heutiger Sicht ein wichtiger Stellenwert zu, da es intensiv die Frage des Übergangs privaten Widerstands in die Öffentlichkeit aufgreift. Es kann nicht unterschlagen werden, dass sich die großen Hoffnungen auf einen politischen Wandel in Ägypten, die an den politischen Umsturz im Frühjahr 2011 geknüpft wurden, mittlerweile mehr als relativiert haben. Dennoch steht zur Disposition, wie die betont gewaltfreien Aktionen des „Stillen Widerstands“ eine zivilgesellschaftliche Emanzipation vorbereiteten, indem sie Fragen der Organisation des Gemeinsamen aufgriffen und durch ihr Handeln fragten, wie das koordinierte Erscheinen von Körpern und die Mediatisierung körperlicher Anwesenheit selbst zu einem Kampfplatz werden können. Das folgende Beispiel steht exemplarisch für Protesthandlungen, die sich in Umgebungen ereignen, in denen der öffentliche Raum nicht bereits vorhanden oder als solcher anerkannt ist, sondern ebenso umkämpft wie die Körper, die in ihm erscheinen. Mit Erscheinungsräumen, in denen der öffentliche Charakter des Raumes gerade zur Debatte steht, lädt das folgende Beispiel dazu ein, mit der Demonstration von Körpern genauer die leiblichen Dimensionen des Handelns zu betrachten. Es repräsentiert, „wie Körper in ihrer Pluralität die Öffentlichkeit beanspruchen und das Öffentliche dadurch finden und hervorbringen, dass sie die stoffliche Seite ihrer materiellen Umgebung erfassen und umgestalten.“140 Gerade da der Erscheinungsraum der Öffentlichkeit nicht vorgegeben und mit einem uneingeschränkten Versammlungsrecht ausgestattet, sondern umkämpft war, kommt dem Beispiel die Funktion zu, das hohe Maß an Reflexivität, Selbstbefragung und Diskussion über das Vorgehen der Teilnehmenden darzustellen. Außerhalb einer demokratischen Grundordnung agierten die Aktivist*innen gegen die staatliche Autorität, Willkürherrschaft und den Polizeistaat, indem sie sich nicht zu einem Chor ebenbürtiger Gegner*innen formten. Statt körperlicher Konzentration kamen chorische Verfahren der Zerstreuung zum Einsatz, die das Versammlungsverbot umgehen sollten. In den Choreografien von Körpern, deren Arrangement eine plurale Vielfalt und Gleichberechtigung offenbar werden ließ, wurde eine neue Strategie erkennbar: Nicht mehr das Streben nach Gegen-Macht durch autoritäres Auftreten bestimmte das Handeln der Protestierenden, sondern die Offenlegung ihrer Verwundbarkeit. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich das Chorische als Koordination heterogener Gruppen von Menschen entäußern kann, die keiner Autorität mehr unterstanden. 140
Butler, Theorie der Versammlung, S. 98.
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Weniger die eindeutige Artikulation klarer Anliegen schien dabei im Vordergrund zu stehen, als die ästhetische Wirkung von Stillstand und Schweigen, die bedeutungsoffen und aktivierend wirkten und ein selbstregulatives und anschlussfähiges Körperkollektiv erzeugten, das handelte, indem es erschien.
V Stiller Widerstand in Kairo
„A body exposed to the open and public environment and to politics of Otherness and the dynamics of distance and appropriation is a body at war.“1
Als im Januar 2011 mehrere Zehntausend Ägypter*innen auf den Tahrir-Platz in Kairo stürmten, sollte das der Ausgangspunkt einer hoffnungsvollen Revolution werden, an die sich berechtigte Wünsche politischen Wandels knüpften. Der vielfältige Einsatz künstlerischer Mittel zeigte, wie in den Protesten neuartige Verbindungen von Kunst und Politik entstanden. Die spontanen Choreografien von Körpern im öffentlichen Raum vermittelten den Eindruck provisorischer Bühnen, die zu experimentellen Orten politischer Aushandlungen wurden.2 Insbesondere chorische Arrangements des Protests trugen bereits vor den Tagen des Umbruchs zur Verkörperung neuer Formen radikaler Demokratie bei.3 Ägypten spielte innerhalb der besonders eindrücklichen Protestwelle, die sich Anfang des Jahres 2011 im nordafrikanischen Raum ereignete, eine herausragende Bedeutung, 4 da die gewalttätigen und zum Teil friedlichen Erhebungen wie in Tunesien, Libyen oder Yemen zum Machtwechsel der politischen Eliten führten. Die Begriffe ,Arabischer Frühling‘5, ,Arabellion‘6, ,Arabische Revolution‘7 oder die eng1 2 3
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Nora Amin, Migrating the Feminine, Berlin 2015, S. 15. Siehe Bundeszentrale für Politische Bildung (Hrsg.), Atlas des Arabischen Frühlings. Eine Weltregion im Umbruch, Bonn 2016, insb. S. 150-201. Ein anschauliches Beispiel explizit chorischer Aktionsformen stellt das von Salam Yousry im Jahr 2010 initiierte „The Choir Project“ dar, das allen Interessierten offenstand. Im dem Workshop diente die Chor-Form dazu Anklagen, Beschwerden oder Utopien zu formulieren, die sonst nicht zur Sprache kamen. Im Mai 2010 trat unter dem Titel „Cairo Complaints Choir“ erstmalig ein Beschwerde-Chor in der Town House Art Gallery in Kairo auf. Siehe dazu die Website des Projekts: http://choirproject.net/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). Neben Unruhen in Bahrain und Syrien gab es größere Proteste in Algerien, Iraq, Jordanien, Kuwait, Marokko, Israel und Sudan. Vgl. Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Der Arabische Frühling: Hintergründe und Analysen, Wiesbaden 2013. Vgl. Jünemann, Annette/Zorob, Anja (Hrsg.), Arabellions: Zur Vielfalt von Protest und Revolte im Nahen Osten und Nordafrika, Wiesbaden 2013.
294 | Protestchöre. Zu einer neuen Ästhetik des Widerstands
lischsprachigen Äquivalente ,Arab Spring‘8 und ,Arab Uprising‘9 versuchten diese Reihe von Protesten zusammenzufassen.10 Als Narrative wurden sie kontrovers diskutiert und bleiben umstritten.11 Am Beispiel Ägyptens wurde deutlich, wie schwer es der Führung des Landes fiel, die sich selbst als Verkörperung einer Revolution begriff, „mit Zeichen der Dissidenz, sozialer Unzufriedenheit und Protest, gar Ansätzen zu Aufruhr und Rebellion umzugehen.“12 Wie die Vorgängerregierungen sicherte sich das Mubarak-Regime seine Souveränität durch die 1958 erlassenen Notstandsgesetze, die nachweislich den Status eines „permanenten Ausnahmezustands“ festschrieben.13 Giorgio Agambens Reflexionen zum Ausnahmezustand, in dem das Recht nur als Provisorium zur Aufrechterhaltung einer Ordnung dient und im Grunde jedwede Rechtsgültigkeit suspendiert, materialisierte sich in der staatlichen Praxis Ägyptens.14 Seitdem Hosni Mubarak im Jahr 1981 die Führung des Landes übernahm, sorgten Referenden, in denen die Zustimmung jeweils über 90 Prozent lag, für eine Fassade der Legitimität. Während Mubarak für Analyst*innen und Sicherheitsexpert*innen vieler westlicher Nationen als Stabilitätsanker in einer ohnehin krisengeschüttelten 7 8 9 10
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Vgl. Peyman Javaher Haghighi, Arabellion: Die arabische Revolution für Freiheit und Brot von Kairo bis Damaskus, Münster 2013. Vgl. John Davis, The Arab Spring and Arab Thaw: Unfinished Revolutions and the Quest for Democracy, Farnham 2013. Vgl. Gilbert Achcar, The People Want: A Radical Exploration of the Arab Uprising, London 2013. Siehe Abd-ar-Raḥmān Mahā, Egypt’s Long Revolution: Protest Movements and Uprisings, London 2015; Fawaz A. Gerges (Hrsg.), The New Middle East: Protest and Revolution in the Arab World, Cambridge 2014; Ǧalāl Aḥmad Amīn, Whatever Happened to the Egyptian Revolution?, Kairo 2013; David M. Faris, Dissent and Revolution in a Digital Age: Social Media, Blogging and Activism in Egypt, London 2013. Kritisiert wurde eine postkoloniale Praxis, die die Proteste von außen deutete und Zuschreibungen vornahm, die als Teil politischer Strategien ausländischer Regierungen und liberaler Demokratiemodelle angesehen wurden. Vgl. Larbi Sadiki (Hrsg.), Routledge Handbook of the Arab Spring: Rethinking Democratization, London 2015; Mehran Kamrava (Hrsg.), Beyond the Arab Spring: The Evolving Ruling Bargain in the Middle East, London 2014; Muasher Marwan, The Second Arab Awakening and the Battle for Pluralism, New Haven 2014. Wolfgang Kraushaar, Der Aufruhr der Ausgebildeten. Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung, Hamburg 2012, S. 42. Die Geschichte Ägyptens liest sich wie eine Aneinanderreihung illegitimer Machtwechsel und militärischer Revolutionen. Die Dynastie Muhammad Alis, die als Gründer des modernen Ägyptens gilt, wird 1805 mit dem Rücktritt des Gouverneurs Pascha durchgesetzt. Nach der Revolution vom 23. Juli 1952 übernimmt das Militär die Herrschaft und bestimmt, dass Muhammad Nagib der erste Präsident und Ägypten eine Republik wird. Sein Nachfolger Gamal Abdel Nasser, der eine Politik des panarabischen Nationalismus verfolgt, legt den Grundstein für Repressionen und Autokratie. Ohne Wahlen folgt ihm sein Stellvertreter Muhammad Anwar as-Sadat im Jahr 1970 nach. Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002.
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Region galt, wuchs in Ägypten die Hoffnungslosigkeit. Die Situation verschlimmerte sich, da 40 Prozent der ägyptischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten. Während die Bürger*innen Repressionen der Staatssicherheit und anderer Behörden ausgesetzt waren, herrschten statt bürgerlichen Freiheiten Gewalt, Einschüchterungen und Furcht vor.15 Wael Ghonim, der später zu einem Protagonisten der Protestbewegung gemacht wurde, beschrieb die Lage vor den Massenprotesten als eine „Kultur der Angst“ 16, in der „Widerstand in Gedanken“17 zwar möglich war, sich dieser jedoch noch nicht entäußern konnte.18 Ghonim, der mit seinem Buch revolution 2.0. Wie wir mit der ägyptischen Revolution die Welt verändern als Chronist der Protestereignisse und ihrer Entstehung gelten kann, schilderte zugleich, wie sich die ungewisse Ausgangssituation zunehmend veränderte: „Aus der Hoffnungslosigkeit wurde Wut. Die Zeit war reif für eine Revolution, auch wenn uns der Gedanke Angst machte.“19 Am Tag der Polizei, einem offiziellen Feiertag, ziehen am 25. Januar 2011 in Kairo morgens zehntausende Demonstrant*innen vom Obersten Gericht zum Parlament. Auch in Städten wie Alexandria oder Aswan ereignen sich an diesem „Day of Anger“ ähnliche Protest. Der Tag wird von verschiedenen Oppositionsgruppen bewusst ausgewählt, da der Nationaltag der Polizei besonders symbolträchtig ist, um unter anderem gegen die Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte zu protestieren.20 Während bis zu 30.000 Polizeikräfte das Stadtzentrum von Kairo sichern, entwickeln die verschiedenen Märsche dieses Tages einen regelrechten Sog, der immer mehr Menschen auf die Straßen zieht.21 Auf dem Tahrir-Platz setzt sich ab dem Abend eine wachsende Protestmenge öffentlich und mit außergewöhnlichem Mut – nicht ohne Konfrontationen zwischen Demonstrant*innen und Polizeikräften – der repressiven Staatsgewalt entgegen.22 Die 15 Die ägyptische Theaterregisseurin, Performerin und Aktivistin Nora Amin schrieb, dass bereits das Anliegen einer öffentlichen Straßenperformance als Akt der Rebellion gewertet wurde, „synonymous to taking over the streets and re-appropriating the land.“ Nora Amin, „Theatre and Political Transformation in Post-revolutionary Egypt: The Model of ,An Enemy of the People‘“, unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 2016. 16 Wael Ghonim, revolution 2.0. Wie wir mit der ägyptischen Revolution die Welt verändern, Berlin 2012, S. 46. 17 Ebd., S. 59. 18 Siehe ebd., S. 46: „Wir beschweren uns […], aber weiter zu gehen trauten wir uns damals nicht.“ 19 Ebd., S. 49. 20 Weitere Forderungen der Widerstandsgruppen waren der Rücktritt des Innenministers, die Wiederherstellung eines fairen Mindestlohnes, ein Ende der ägyptischen Notstandsgesetze sowie die Einführung einer beschränkten Amtszeit des Präsidenten. 21 Vgl. Patricia Bauer/Bertold Schweitzer, „Egyptian Revolution 2011: Mechanisms of Violence and Non-violence“, in: Preiss, Bert/Brunner, Claudia (Hrsg.), Democracy in Crisis. The Dynamics of Civil Protest and Civil Resistance, Zürich/Berlin 2013, S. 309-328, S. 319. 22 Auf Flugblättern fordern die Demonstranten den Sturz des Regimes, die Aufhebung der Notstandsgesetze, Freiheit, Gerechtigkeit, eine neue, nicht-militärische Regierung sowie eine konstruktive Administration. Vgl. Anonym, Kayfa tathour bi-hadaa’’ia. Ma’ aloum-
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leibliche Anwesenheit der etwa 15.000 Besetzer*innen des Tahrir-Platzes lässt erahnen, dass hier etwas angestoßen werden soll, das nachhaltige Veränderungen geradezu unausweichlich macht. Die Präsenz der Menschen in den Straßen schafft ein bewegendes Momentum und zeugt schon am ersten Protesttag vom starken Willen der Demonstrant*innen. Für das Regime geht von der enormen Anzahl physisch anwesender und sich sichtbar widersetzender Bürger*innen eine reelle Gefahr aus. Die konkrete Bedrohung besteht in den unvorhersehbaren Dynamiken der vielen Menschen, die sich als Masse formieren und sich einer von außen gesteuerten Zerstreuung verwehren. Mit der Unberechenbarkeit dieser Massenaufläufe und dem Argument ihres Gefahrenpotenzials für Leib und Leben legitimiert die politische Führung das sofortige, harte Eingreifen der Ordnungskräfte. Bei Versammlungen in den folgenden Tagen geht die Polizei zum Teil brutal gegen Demonstrant*innen vor. Die Bilder teilweise brutaler Straßenschlachten werden von ausländischen TV-Sendern übertragen und führen dazu, „dass sich immer größere Teile der Bevölkerung hinter die Demonstranten stellten.“23 Dem „Day of Anger“ folgt ein „Day of Rage“ und am 1. Februar 2011 der „March of Millions“.24 Der in Jordanien geborene Soziologe Mohammed Bamyeh schildert als Augenzeuge der Protestereignisse die besondere Atmosphäre dieser Tage, in denen sich immer mehr Menschen dazu ermutigt fühlen, sich als kritische Masse zu versammeln, wie folgt: „Während der folgenden anderthalb Wochen kamen fast überall in Ägypten Millionen auf den Straßen zusammen, und man konnte fast physisch wahrnehmen, wie ein hohes Ethos – Gemeinsinn, Solidarität, Fürsorglichkeit, Respekt für die Würde aller, ein Gefühl persönlicher Verantwortlichkeit für alle – aus dem Verschwinden des Staates entstand.“25
Während sich Menschen im ganzen Land mit den Demonstrierenden solidarisieren und sich selbst Märschen anschließen, wird der Tahrir-Platz zum zentralen Schauplatz der Proteste, von dem für zahlreiche andere Protestbewegungen eine Signalwirkung ausgeht.26 Neben der ikonografischen Bedeutung des Tahrir-Platzes dient die sichtbare Präsenz der Ägypter*innen in den Straßen augenscheinlich dazu, die Sphäre des öffentlichen Raumes zurückzugewinnen. Die Narrativierung der Ereignisse be-
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aat wa-taktikaat haamma [How to Protest Intelligently: Important Information and Tactics], Flugblatt, verteilt im Januar 2011 in Kairo, Arabisches Original und Auszüge einer englischen Übersetzung sind abrufbar unter: http://theacemag.wordpress.com/2011/02/13/ egyptian-protest-pamphlet-how-to-protest-intelligently-translation/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). Kraushaar, Der Aufruhr der Ausgebildeten, S. 35. Siehe Philip Caulfield, „Egyptians gather in Tahrir Square for ‛march of millions’ as Mubarak’s hold on nation weakens“, in: Daily News vom 01.02.2011. Mohammed Bamyeh, „Kairo, die Siegreiche. Zeichen und Wunder der ägyptischen Revolution vom Februar 2011“, in: Lettre International, 24. Jg., Nr. 92 (2011), S. 19. Der mehrspurige Kreisverkehr mit Grünfläche in der Mitte war nach dem Sturz der Monarchie durch Offiziere im Juli 1952 auf „Midan at-Tahrir“ („Platz der Befreiung“) umbenannt worden und seitdem immer wieder Schauplatz größerer Protestereignisse geworden (z.B. „Brotunruhen“ im Jahr 1977).
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tont, dass sich die Ägypter*innen in einer nicht nur metaphorischen Weise ihr Land wieder aneigneten. Hinter Formulierungen, denen zufolge sich das ägyptische Volk gegen seine politische Führung erhob, standen konkrete körperliche Handlungen von Akteur*innen, deren Relevanz für die tatsächliche Analyse und Bewertung politischen Aktivismus in der Protestforschung bisher nur unzureichend fokussiert wurde. Die US-amerikanische Tanzwissenschaftlerin Susan Leigh Foster hat in ihrem Essay „Choreographies of Protest“ herausgearbeitet, dass klassische Theorien politischen Protests die Relevanz des Körpers bisher nur unzureichend würdigen. Zum einen hätten sie den Körper zu einem irrationalen Agenten konzeptionalisiert, dessen Antrieb von Ärger und Rage dominiert nur schwerlich zu kontrollieren sei; zum anderen hätten sie den Körper zu einem Instrument kalkulierter Interessen deklassiert, das allein der Maximierung des Wirkungsgrades diene. Foster fordert daher, die Bedeutung des Körpers „as an articulate signifying agent“ ernst zu nehmen und darüber hinaus jene an ihn gebundene Taktiken zu bedenken, die Protestdynamiken zugleich steuerten.27 Unter dem Stichwort „Choreografien des Protests“ fokussiert dieses Kapitel choreografierte Ordnungen von Körpern im öffentlichen Raum sowie das außerordentliche Potenzial dieser Protest hervorbringenden Körper, Normen, Regeln und Weisungen im öffentlichen Raum zu stören, zu unterlaufen und zu verändern. Die Bedeutung des Chorischen wird als analytisches Werkzeug dabei dort relevant, wo das dargestellte Modell des Chorischen die qualitativen Eigenschaften des Chores nutzt, um eine differenzierte Analyse der körperlichen Materialität der Protestaktionen jeweils auch in Beziehung zu lautlichen und räumlichen Phänomenen zu setzen. Bevor die Weltöffentlichkeit erfuhr, dass sich in Ägypten Menschen in bisher ungeahntem Ausmaß versammelten, weisen frühere Aktionen von Widerstandsbewegungen darauf hin, dass sich die Massenproteste nicht gänzlich unerwartet und spontan ereigneten. Im Gegensatz zu den gewaltsamen Konfrontationen auf dem TahrirPlatz bezeugen Mobilisierungen von Aktivist*innen vor dem 25. Januar 2011, wie sich der Aufstand vorbereitete und Protestbewegungen mit neuen Protestformen experimentierten. Die neue Herangehensweise dieser jungen Initiativen visierte nicht mehr die Selbstbehauptung eines zuvor ausgeschlossenen Volkskörpers an, sondern zielte auf die Herstellung von Fragwürdigkeit, Irritation und Zerstreuung. Bereits am 18. und 25. Juni sowie am 9. und 23. Juli 2010 fanden in Kairo, Alexandria und anderen ägyptischen Städten vier Aktionen des sogenannten „Stillen Widerstands“ (Silent Stands) statt. Die vielfach über das Internet vorbereiteten Aktionen ließen von Anbeginn ein gänzlich anderes Vorgehen erkennen: In den Abstimmungen, Diskussionsbeiträgen und letztlich auch den Aktionen des „Stillen Widerstands“ zeigte sich eine kontinuierliche Selbstbefragung. Die Aktivist*innen teilten zwar gemeinsame Motivationen, auch gaben sie sich und ihrer Bewegung einen konkreten Namen, dennoch verzichteten sie auf die sprachliche Kommunikation eindeutig politischer Botschaften. Wenngleich ein Grund dafür in der Furcht vor Repressionen des Staates vermutet werden kann, deutet sich im vorsichtigen Vortasten der Aktivist*innen eine neue subversive Proteststrategie an. Ziel war dabei nicht mehr, Protest als Affirmation einer straken Gegenposition zu behaupten, sondern ein In27 Susan Leigh Foster, „Choreographies of Protest“, in: Theatre Journal 55 (2003), S. 395412, S. 396.
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Fragestellen des richtigen Weges zuzulassen. In den Aktionen vermittelte sich der Widerstand gegen das Regime umso mehr als ästhetische Erfahrung des Protestereignisses und deren Wirkungen gegen die verhassten Mechanismen politischer Repräsentation. Die Proteste inszenierten in besonderer Weise die Körper der Protestierenden. Ihre politischen Mobilisierungen stellten zunächst friedliche Zusammenkünfte dar, die Forderungen nach demokratischen Veränderungen durch den bewussten Verzicht auf Mittel der Gewalt unterstrichen. Die Kraft des Protests entstand weniger durch Praktiken der Dominanz, als dadurch, dass die Demonstrierenden ihre Körper in koordinierter Weise öffentlich in Erscheinung treten ließen. Das widerständige Potenzial der dargebotenen Körper-Ensemble wurde nicht als frappierende Form der Sichtbarmachung, als Präsenz eines widerständigen Volkskörpers erfahren, den das Herrschaftssystem bislang gezielt unterdrückte. Dagegen entäußerte sich die antiautoritäre Strategie der Aktivist*innen in zerstreuten Menschenketten stiller Bewegungslosigkeit. In diesem Kapitel soll untersucht werden, welche Irritationen und Störungen die theatrale Erfahrung der Protestaktionen gerade durch den konkreten Körpereinsatz der Protestierenden auslöste. Wie es schien, bildete die Aktion mehr ab als ein Zeichen symbolischer Solidarität. Eine Analyse der choreografierten Körperbilder des Protests soll daher einerseits veranschaulichen, wie und wogegen sich die chorisch agierenden Körper wendeten. Andererseits fragt sich, wie im Vollzug der körperlichen Handlungen fremdbestimmte Konventionen und Beschränkungen des Körpers radikal aufgerufen und als veränderlich dargestellt wurden.28 Konnten die szenischen Aktionen selbst zu einem geeigneten Mittel des Widerstands werden? Konnte das Stillstellen der Körper als machtvolle Geste erfahren werden und die Inszenierung kollektiven Stillstands wiederum als selbstbewusster Akt politischen Handelns? Um zu ergründen, wie das Chorische die materielle und symbolische Konstitution des öffentlichen Raums transformierte, soll wie folgt vorgegangen werden: Erstens rückt die Konstituierung oppositioneller Gruppierungen in den Blick, die sich als Protestbewegungen im Internet vorbereiteten und ausgehend vom virtuellen Raum erst durch eine Art Übergang im öffentlichen Raum sichtbar wurden. Zweitens sollen verschiedene Aktionen des „Stillen Widerstands“ rekonstruiert und dabei detailliert die kollektiven Körperarrangements der Protestierenden beschrieben werden. Es wird untersucht, welche Bewegungen, Haltungen und Anordnungen dabei sichtbar wurden. Welcher Absprachen bedurfte es für das Gelingen der Choreografien? Drittens wird das Chorische als Wechselspiel zwischen Kollektiv-Körperlichkeit und Zerstreuung in den Blick genommen, deren Verhältnis im öffentlichen Raum zusätzliche Spannungen hervorzurufen schien. Auf welche Weise reflektierten die Aktionen gesellschaftliche Verfassungen, Fremd- und Selbstbilder? Viertens fragt sich im Hinblick auf spezielle Formen des Stillstands, wie Prozesse der kollektiven Stillstellung der Protestaktionen zu zusätzlicher Geltung verhalfen. Was taten die Körper der Protestierenden und wogegen richtete sich ihre Bewegungslosigkeit? Vermochte die körperliche Darstellung von Stillstand in gegebene soziale Strukturen einzugreifen? 28 Vgl. Pnina Werbner/Martin Webb/Kathryn Spellman-Poots, „Introduction“, in: (Dies.), The Political Aesthetics of Global Protest. The Arab Spring and Beyond, Edinburgh 2014, S. 127, S. 1.
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Fünftens wird abschließend die Sinnlichkeit des Schweigens thematisiert und geklärt werden, welche Bedeutungen sich an die Stille der Protestierenden anschlossen. Welche Wirkung löste die Wortlosigkeit bei den Zuschauenden der Aktion aus? Bildete die Verwirrung über die stillen und bewegungslosen Körper einen Widerstandsmoment ab, der sich durch die kollektive Organisation im öffentlichen Raum als körperliches Gegenkonzept zur herrschenden Unterdrückungspraxis des rigiden ägyptischen Regimes noch vergrößerte?
1. AUFTRITT „Je eher es einem gelingt, Menschen für eine Aufgabe zu begeistern, desto größer wird der Erfolg sein. Einige Jahre später erschien es mir selbstverständlich, diese Philosophie auf politischen und sozialen Aktivismus anzuwenden.“29
Spürbar und vermehrt konstituieren sich in Ägypten bereits vor Januar 2011 oppositionelle Gruppen. Trotz ihrer geringen Größe und fehlender Zusammenhänge verweisen einzelne Aktionen und neue Initiativen auf erste Ansätze eines beginnenden Wandels. Wenngleich verstreute Protestereignisse noch nicht von der Kraft einer Massenbewegung zeugen, finden sich Akteur*innen zu ersten Aktionen zusammen, die sich zum Schutz der Mitglieder vorerst in der halböffentlichen Sphäre des Internets ereignen. Von hier ausgehend belegen zaghafte Versuche von Versammlungen, wie die im Virtuellen angestoßenen Mobilisierungen als politische Kräfte erkannt und durch fragmentarisches, plötzliches Erscheinen in der Öffentlichkeit dann auch sichtbar gegen das Regime auftreten. Anhand der zunehmenden Verlagerung von Protestaktionen in den öffentlichen Raum kann nachgezeichnet werden, wie der Zusammenschluss verschiedener Oppositionsgruppen zur „Nationalen Vereinigung für den Wandel“ eine neue Phase der Proteste einläutet, in der sich erstens Protestaktionen zusätzlich verschränken; zweitens neue politische Akteur*innen sichtbar radikalisieren und drittens chorische Aktionen zusätzlich zu kollektivem Auftreten ermutigen. 1.1 Das Chorische als Zusammenkunft: Zur Konstitution oppositioneller Gruppierungen Neben der einflussreichsten oppositionellen Kraft, der Muslimbruderschaft, betreten in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts weitere Protagonist*innen die politische Bühne Ägyptens.30 Im Jahr 2004 gründet eine Gruppe oppositioneller Aktivist*innen
29 Ghonim, revolution 2.0., S. 44f. 30 Zur Rolle der Islamistischen Opposition siehe Ibrahim El-Houdaiby „Islamism in and after Egypt’s Revolution“, in: Korany, Bahgat/El-Mahdi, Rabab (Hrsg.), Arab Spring in Egypt: Revolution and Beyond, Kairo 2012, S. 125-152.
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die Ägyptische Bewegung für den Wandel Kefaja („es reicht“).31 Die Gruppierung hat zunächst weder eine besonders große Anhänger*innenschaft, noch erfährt sie nennenswerte zivilgesellschaftliche Unterstützung. Ihr Erscheinen wird dennoch als bedeutender psychologischer Beitrag bewertet, denn „allein durch ihren Mut zum Protest trug Kefaja dazu bei, eine psychologische Mauer einzureißen.“32 Indem neue politische Akteur*innen zusammentreten, verändert sich das Klima, wodurch vermehrt Kritik an der politischen Führung geübt wird. Nach Streikwellen in den Jahren 2006 und 2007, an denen über 20.000 Demonstrant*innen mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit teilnehmen, kommt es am 6. April 2008 zu einem weiteren Streikaufruf durch Arbeiter*innen in einer Textilfabrik in Mahalla. Während sich an den tatsächlichen Demonstrationen nur wenige hundert Menschen beteiligen, erreicht eine Facebook-Gruppe 70.000 Unterstützer*innen. Als neues Kommunikationsforum stimuliert das Internet durch die anonyme Nutzung und alternative Techniken des Veröffentlichens neue Formate des Widerstands. In Folge gründet sich eine weitere Jugendbewegung, die mit den Möglichkeiten dieser neuen Medien vertraut ist und sich nach dem Tag der erfolgreichen Mobilisierung benennt. Die Jugendbewegung des 6. Aprils ist in Ägypten die erste Protestbewegung, die die Infrastrukturen des Internets nutzt und soziale Medien offensiv in ihre Mobilisierungsmethoden einbezieht. Durch die strategische Nutzung von Facebook und Twitter, von Blogs, Chat-Rooms und Online-Foren können ohne größeres Risiko Verbindungen zwischen früher nicht verbundenen Personen hergestellt werden.33 Wie Akteur*innen durch Petitionen kollektiven Druck erzeugen und erstmals eine öffentliche Positionierung gegen das Regime erkennen lassen, belegt die Entwicklung dieser Jugendbewegung, in deren Verlauf sich Phasen stärkeren Protests mit ruhigeren ohne großes Aktionspotenzial abwechseln.34 Während sich die Körper der Protestierenden bei temporären Aktionen aus der berechtigten Sorge um Leib und Leben anfänglich nur kurzzeitig in den öffentlichen Raum einschreiben, sorgt im Schutz der Illegalität unter anderem eine wachsende Anzahl von Graffitis für bleibende Botschaften der Rage.35 31 Der vollständige Name der Bewegung lautet el-Haraka el-masriyya min agl et-taghyir. Da sich neben Kifaja, Kifaya und Kefaya die Kurzform Kefaja eingebürgert hat, wird im Folgenden die Schreibweise Kefaja verwendet. 32 Ghonim, revolution 2.0, S. 51. 33 Vgl. Christoph Sanders, „Building Resistance: Dynamics of Egyptian Youth Activism in Non-Violent Movements between 2001 and 2011“, in: Preiss/Brunner (Hrsg.), Democracy in Crisis, S. 155-182, S. 169. 34 Da Versuche größere Demonstrationen zu organisieren zum Teil fehlschlug, änderte die Bewegung ihre Taktik „by implementing less risky flash mobs in Cairene neighborhoods during which activists were singing, marching, drawing graffiti and disappearing again.“ Ebd., S. 172. 35 Der Protestforscher Sidney Tarrow beschreibt, wie die Wirkungsweise dieser Störungen einer „more indirect logic“ folgte und sich in Form eines disruptiven Aktivismus von anderen gewaltbereiten Protestformaten des Terrorismus oder von Guerilla-Taktiken unterschied. Vgl. Sidney Tarrow, Power in Movement. Social Movement and Contentious Politics, Cambridge 2011, S. 101.
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Wie viele andere junge Menschen experimentiert Wael Ghonim, Gründer der Webseite IslamWay.com,36 mit den neuen Möglichkeiten des Internets. Auf seiner täglich von zehntausenden Nutzer*innen besuchten Internetseite können sich muslimische Menschen mit anderen Gläubigen vernetzen und von einem Webmaster hochgeladenes Audiomaterial abrufen, das überwiegend religiöse Predigten, Vorlesungen und Rezitationen des Koran beinhaltet.37 Ghonim erahnt früh das Potenzial virtueller Netzwerke, die neue Formen der Konnektivität erzeugen und gemeinsame Gruppen-Identitäten etablieren können. Er betont diese außerordentliche Bedeutung insbesondere im totalitären Ägypten, wo es mit Gefahren verbunden war, ein Selbstbewusstsein für eigenverantwortliches Handelns zu entwickeln und „die psychologische Schwelle der Angst zu überwinden.“38 Am 6. Juni 2010 – und damit gut ein halbes Jahr vor den ersten Massenprotesten im Januar 2011 – wird der 28-Jährige Khaled Said von zwei Geheimpolizisten in Alexandria erschlagen.39 Sofort kursieren grausame Bilder des blutig niedergestreckten Mannes im Internet. Die Bilder, die unmissverständlich die körperlichen Misshandlungen des Verletzten zeigen und vorgeben, diese zu dokumentieren,40 schockieren, emotionalisieren und sorgen gerade bei Menschen im Alter des Opfers für Fassungslosigkeit. Während offizielle Regierungsstellen eine Mystifizierung Saids ablehnen und die falsche Wiedergabe des Tathergangs kritisieren, reagieren Regimekritiker*innen empört und wütend.41 Für sie materialisiert das Ereignis eindringlich die Gewalt eines korrupten Systems, das Unterdrückung praktiziert und dabei die Tötung seiner Staatsbürger*innen nicht ausschließt.42 Zwar verurteilen einige Oppositionspolitiker*innen die Geschehnisse, in den offiziellen staatlichen Medien aber spielt der Vorfall keine größere Rolle. Während so der Eindruck entsteht, dass die staatlichen Medien den Zwischenfall absichtlich herunterspielen, werden die Ereignisse umso mehr im Internet diskutiert. Auch Wael Ghonim erfährt über das Internet von dem Vorfall. Da der Mann in seinem Alter ist, möchte Ghonim seine Trauer und Empörung teilen. Er entschließt sich eine Facebook-Gruppe zu gründen und nennt sie Kullena Khaled Said („Wir 36 Ghonim arbeitete später als Mitarbeiter von Google in Dubai und wird Betreuer der ersten offiziellen Facebook-Seite des ägyptischen Politikers und Hoffnungsträgers El Baradei. 37 Vgl. Ghonim, revolution 2.0, S. 29. 38 Ebd., S. 70. 39 In englischen Quellen findet sich für den Namen Khaled Said häufig die Schreibweise Khaled Saeed. 40 Zur Manipulation und Glaubwürdigkeit von Bildern siehe Ludger Schwarte, Pikturale Evidenz: Zur Wahrheitsfähigkeit der Bilder, Paderborn 2015. Zur Reichweite visueller Darstellungen siehe auch Ders. (Hrsg.), Bild-Performanz, München 2011. 41 Vgl. Amro Ali, „Saeeds Revolution: De-Mythologizing Khaled Saeed“, in: http://www.jad aliyya.com/Details/26148/Saeeds-of-Revolution-De-Mythologizing-Khaled-Saeed (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 42 Internationale Organisationen wie Amnesty International reagierten auf den Vorfall, siehe dazu eine Pressemitteilung von Amnesty International (Hrsg.), „Egypt: Amnesty International Urges Egypt Government to Investigate Brutal Killing of Young Man“, abrufbar unter: https://www.amnestyusa.org/press-releases/egypt-amnesty-international-urges-egypt-g overnment-to-investigate-brutal-killing-of-young-man/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
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sind alle Khaled Said“).43 Fortan schreibt er im Namen Saids, postet Kommentare zum Stand der Ermittlungen und nimmt die Rolle eines anonymen Administrators ein. 1.2 Auf der Schwelle der Sichtbarkeit: Das In-Erscheinung-Treten politischer Akteur*innen Am 11. Juni 2010 versuchen Demonstrant*innen am Rande von Saids Begräbnis öffentlich ihren Unmut zu äußern. Die brutale Verhaftung der Aktivist*innen durch Polizeikräfte wird von anderen Anwesenden gefilmt und ins Internet gestellt. Die Produktion und Diffusion dieser Selbstaufnahmen folgt der Logik einer neuen Massenöffentlichkeit: selbstdokumentarisch dienen die durch Smartphones aufgenommenen Videos dazu, eine wechselseitige Zeugenschaft zu instalieren. Nachdem sich der technische Fortschritt gegenwärtig immer stärker an der weiterentwickelten Funktionalität von Smartphones abbilden lässt, sind die Zugangs- und Produktionsschwellen digitaler Bilder und Filme beinahe gänzlich gefallen. Alle, die über die notwendige Technik und das Wissen ihrer Anwendung verfügen, können heute sogenannte citizen evidence videos produzieren und diese unmittelbar versenden, veröffentlichen und teilen.44 Mit dem Anspruch das unverhältnismäßig harte Vorgehen der Sicherheitskräfte zu dokumentieren, entstehen belastende Bilder der Festnahmen am Rande der Trauerfeier für Said. Um sich selbst in ein antagonistisches Verhältnis zum staatlichen Gegner zu setzen, werden sie ins Internet gestellt, wo sie weiter zirkulieren und vielfältig gestreut unter jungen Internetnutzer*innen diskutiert werden.45 Der Druck auf das Regime wächst, da Aufzeichnungen von Augenzeug*innen immer häufiger ähnliche Vergehen dokumentieren. Die Clips lösen eine affektive Betroffenheit aus, die sich auf die Zuschauenden überträgt und sie motiviert, sich gegen die Aggressivität des Regimes zur Wehr zu setzen. Die sozialen Netzwerke stellen dafür den geeigneten Rahmen zur Verfügung: In bewusster Distanz zur Staatsmacht kann sich hier eine
43 Zugleich richtet Ghonim die neue Website www.elshaheeed.org („Der Märtyrer“) ein, auf der Gedichte, Artikel und Grafiken veröffentlicht werden. Co-Administrator der Seite „Kullena Khaled Said“ wird Abdel Rahman Mansour. 44 Aufgezeichnete Bewegungsbilder, die durch neue, mobile Gebrauchstechniken entstehen, reihen sich als selbstproduzierte Medienformate in neue Formen des „Videoaktivismus“, der „blogosphäre“ oder des „click-tivism“. Verfahren des „Videografierens“ als intentionaler, aktivistisch motivierter Vervielfältigung realer (Protest-)Situationen und ihres Erscheinens als Bild wurden zuletzt u.a. als Intensivierung von Gegenwart und zeitgenössische Form der Erfahrungsverdichtung untersucht. Siehe dazu Oliver Langewitz (Hrsg.), Film und Internet: Über die Nutzung von Film- und Videocontent im Web 2.0, Göttingen 2008. 45 Zuletzt wurde Kritik an jenen zum Teil unkritischen Kommunikationsabläufen in sozialen Netzwerken lauter. Sie gründet darauf, dass die rasante Verbreitung von Informationen teilweise völlig unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Quellen geschieht. Andererseits erschweren staatliche Quellen, die in unruhigen Zeiten verzerrt über Proteste berichten, sowie selektiv überlieferte oder unterdrückte Informationen aus gelenkten Medienapparaten, eindeutige Einschätzungen von Protestereignissen.
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kritische Jugend zusammenfinden und solidarisieren, ohne dass ihr Protest im Internet eine reelle Verfolgung durch die Strafbehörden fürchten muss. Mit der emanzipatorischen Wirkung in virtuellen Freiräumen entsteht die Potenzialität eines eingreifenden aktivistischen Handelns im realen Raum.46 Wie an dieser Verbindung gearbeitet und versucht wird die Schwelle zwischen virtuellem und realem Protest zu schließen, zeigt sich, als Ghonim die Mitglieder seiner Facebook-Gruppe auffordert, sich mit einem Schild mit der Aufschrift „Kullena Khaled Said“ zu fotografieren und dieses auf die Gruppen-Seite hochzuladen. Hunderte beteiligen sich, posten ihre Fotografien, veröffentlichen ihre Unterstützung und geben der Bewegung so ein Gesicht. Für die Teilnehmer*innen bedeutet das Zeigen ihres Gesichts einen gewaltigen Schritt: Indem sie sich selbst präsentieren, im wahrsten Sinne ihren Kopf hinhalten, treten sie aus der sie bisher schützenden Anonymität heraus. Die Teilnahme an der Aktion kam einem nachzuverfolgenden Bekenntnis gleich und war mit dem Risiko verbunden, nun durch staatliche Stellen verfolgt werden zu können. Auch für Ghonim stellt die Aktion ein großes Wagnis dar. Da eine breite Mitwirkung zunächst nicht gewiss scheint, feiert er den Erfolg und die überraschende Beteiligung der vielen Menschen umso mehr. Er schreibt: „Die Bilder wirkten wie Zauberei. Mitglieder dankten sich gegenseitig für ihren Mut und ihre Solidarität. Die Bewunderung und die positiven Reaktionen ermutigten noch mehr Mitglieder, ihre Bilder zu veröffentlichen. Die Tatsache, dass das Regime in keiner Weise zurückgeschlagen hatte, machte es für viele ebenfalls leichter, sich zu beteiligen. Die Mauern der Angst wurden langsam eingerissen.“47
Die Tatsache, dass einige einen gewagten Schritt gingen, beflügelte andere, es ihnen gleich zu tun. Gemeinsam zu handeln, bedeutete Schutz, der ermutigte und animierte. Hier zeigte sich, wie eine Facebook-Gruppe imstande war, eine politische Community aufzubauen, die das, was dort veröffentlicht wurde, interessierte, die die Beiträge las, mitverfolgte und darauf reagierte. Die Aktion verbreitete sich im Internet und wurde insbesondere auch von im Ausland lebenden Ägypter*innen wahrgenommen und unterstützt.
46 Vgl. dazu Ghonim, revolution 2.0, S. 95: „Die virtuelle Welt schien eher außerhalb der Reichweite des unterdrückerischen Regimes, und die vielen trauten sich deswegen, den Mund aufzumachen. Die schwierigere Aufgabe bestand jedoch weiter, nämlich, den Kampf aus der virtuellen Welt in die echte zu überführen.“ 47 Ebd., S. 98.
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1.3 Stiller Protest als Aktion politischen Handelns: Auftritt einer neuen Protestbewegung „Any event that would have taken place in the public outdoor space was to be considered an act of public provocation, unrest and incitation to obstruct order. In this sense the artistic actions were – in the mind of the regime – equal to the political actions and as dangerous as a protest. National security was controlling any initiative to break this rule.“48
Nach der Foto-Aktion auf Facebook beginnen die Gruppen-Mitglieder, sich Gedanken darüber zu machen, wie zukünftige Protestformate aussehen können. Im gemeinsamen Chat bringen sie Ideen ein, die ein breites Spektrum abbilden und davon zeugen, dass man einerseits weitergehen, andererseits allerdings nicht zu provokativ auftreten möchte. Auf der Internetseite „Kullena Khaled Said“ werden angemessene Aktionsformate und deren Grenzen intensiv diskutiert. Der entscheidende Vorschlag kommt vom 26-jährigen Mohamed Eisa aus Alexandria, der mit Blick auf eine einfach realisierbare Protestform schreibt: „Was, wenn wir uns alle am Freitag an der Küste in Alexandria treffen? Wir könnten mit dem Rücken zur Straße aufs Meer schauen und uns an den Händen halten und stumm unsere Ablehnung der Ungerechtigkeit ausdrücken, die Khaled Said widerfahren ist. Wir sollten versuchen, den Abschnitt zwischen der Bibliothek von Alexandria und Muntazah abzudecken. Keine Demonstration, sondern ein stiller Ausdruck der Ablehnung.“49
Am 14. Juni 2010 postet Ghonim den per Email erhaltenen Vorschlag auf der Facebook-Seite. Die Reaktionen sind positiv, auch weil – wie Ghonim später schreibt – „die Aktion keine typische politische Demonstration werden sollte.“50 Ghonim richtet für den 18. Juni 2010 eine Veranstaltung auf Facebook ein, der er den Titel „Stiller Widerstand“ gibt. Durch die Wahl des Titels gibt er den Teilnehmenden zu verstehen, „dass sie weder skandieren noch Plakate oder Flaggen hochhalten sollten.“51 Den genauen Absprachen zufolge sieht die Aktion vor, dass sich die Teilnehmer*innen bei Sonnenuntergang entlang der Küstenstraße zwischen der Bibliothek von Alexandria bis nach Muntazah aufstellen und etwa eine halbe Stunde lang in Form einer Menschenkette verharren. Es ist vorgesehen, dass die Akteur*innen in Armeslänge zueinander still auf das Meer blicken oder beten. Ghonim betont im Vorfeld mehrfach, dass der „Stille Widerstand“ eine friedliche Form des Protests darstellt, die Konfrontationen mit der Staatsmacht bewusst vermeiden will und bezeichnet ihn als „die stärkste Botschaft, die wir unserer Regierung senden können. Sie besagt, dass wir ihre Praktiken ablehnen und gleichzeitig friedlich sind.“52 48 49 50 51 52
Amin, „Theatre and Political Transformation in Post-revolutionary Egypt“. Zit. nach Ghonim, revolution 2.0, S. 99. Ebd. Ebd. Ebd., S. 100.
Auftritt | 305
Bis zum Tag des Protestereignisses und bevor die Mobilisierungen aus dem virtuellen Raum erstmals auf die Straße finden, dient das Internet dazu, für Unterstützung zu werben. So werden weitere Sympathisant*innen zum Facebook-Event eingeladen und wichtige Informationen zu Veranstaltungsort, Uhrzeit und Ablauf der geplanten Aktion ständig aktualisiert. Damit die Protestaktion bekannt und verbreitet wird, werden alle Mitglieder aufgefordert, eine Pressemitteilung an Freund*innen weiterzuleiten. Alle zur Verfügung stehenden Netzwerke werden aktiviert, um zusätzliche Personenkreise zu mobilisieren. Weiterhin werden alternative Pläne offen diskutiert und die Stimmung durch Prognosen weiter angeheizt. Immer wieder wird in kontroversen Kommentaren auch Ablehnung und Kritik geäußert, die sich darauf fokussiert, dass die Aktion zu wirkungslos und zu passiv wirken könnte. Andere Stimmen versuchen den Teilnehmenden euphorisch Mut zu machen. So schreibt Ghonim selbst: „Wisst ihr, was genial an dieser Idee ist? Dass wir keine Organisation sind […] und wir sind keine Partei […] wir haben keinen anderen Beweggrund, als dass wir auf zivilisierte Weise unsere Meinung ausdrücken wollen […] sie ist auch großartig, weil wir uns gar nicht kennen und keine Demonstration abhalten werden […] ich schwöre, dass die ganze Welt über die Facebook-Jugend staunen wird.“53
Während die eigene Bewegung nicht ohne Skeptizismus reflektiert wird und bis zur Umsetzung die Angst vor einem Misserfolg deutlich mitschwingt, verbindet sich mit dem anvisierten Symbolcharakter der Aktion der Wunsch durch die starke Betonung einer visuellen Botschaft, die Aufmerksamkeit weiterer Medien zu erregen.
2. DIE AKTIONEN „I saw it after the first silent stand we called for in Alexandria, and the large number of people who attended. That was a surprise for me and Wael. It was amazing how people believed in something and acted on it. Consequently we had the responsibility of doing a real thing.“54
Der erste „Stille Widerstand“ findet am 18. Juni 2010 in Kairo und Alexandria statt. Ghonims Bericht vom diesem Tag zeugt von der Ungewissheit über das Gelingen der Protestaktion.55 An diesem Freitagnachmittag herrscht kurz vor 17 Uhr Enttäuschung
53 Ebd., S. 101. 54 Abdel Rahman Mansour im Interview mit Jadaliyya, abrufbar unter: http://vimeo.com /58170048 (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 55 Um sich entlang der Niluferstraße an der Aktion zu beteiligen, müssen die Teilnehmenden ihren Platz vor dem Computer verlassen. Im Moment des tatsächlichen Protests wird ohne die Unterstützung des technischen Netzwerkes zudem die Schwierigkeit offenbar, Quellen und Informationen über den Stand der Ereignisse zu koordinieren.
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vor: Von stillem Widerstand ist in Kairo nichts zu sehen. Ghonim schlussfolgert, „dass das Innenministerium unsere Aktivitäten auf Facebook genau verfolgt und sich auf diesen Tag vorbereitet hatte. Sicherheitskräfte waren entlang der Uferpromenade postiert. Sie hatten einige Bereiche abgesperrt und auch den Tahrir-Platz in der Mitte der Stadt gesichert.“56 Aus Alexandria wird berichtet, dass die Beteiligung an der Aktion nach dem Nachmittagsgebet zunimmt, wenngleich auch dort Sicherheitskräfte verhindern, dass in schwarz gekleidete Menschen Zugang zu den anderen Demonstrant*innen erhalten. Über Twitter teilt und veröffentlicht Ghonim auch positive Nachrichten und Meldungen von anderen Protestierenden: „Es gibt Nachrichten, dass circa 20 Leute in der Gegend um den Tahrir-Platz sind […] Aber die Sicherheitskräfte treiben alle Gruppen mit mehr als 3 Personen auseinander […] Leute, lasst dies nicht zu einer Demonstration werden, wir müssen uns alle an den Plan halten, damit der Tag friedlich zu Ende geht.“57
Ghonim appelliert an die Teilnehmer*innen, sich mittels verstreuter Anordnungen und in Form der vorher geplanten Menschenkette aufzustellen, die die Körper zwar in maßvollem Abstand und doch sichtbar organisiert anordnet. Kurz nach 19 Uhr beginnen Aktionsteilnehmer*innen erste eigene Bilder hochzuladen. Nachträglich schicken immer mehr Sympathisierende, Zuschauende und Augenzeug*innen der Aktion persönliche Fotos, individuelle Eindrücke und Beweise der Widerstandsaktion dieses Tages. Um einen Eindruck der Protestaktion zu vermitteln und weitere Befürworter*innen zu einer zukünftigen Teilnahme zu ermutigen, stellt Ghonim die Kommentare, Fotos, Wortmeldungen und Zitate auf die Seite der Facebook-Gruppe. Ghonim räumt zwar ein, dass die Zahlen der Teilnehmer*innen „nicht sonderlich hoch waren“, dennoch hebt er hervor, dass es im Grunde unmöglich war, „die Wirkung einer Kette schwarzgekleideter, stummer Männer und Frauen zu ignorieren.“58 Zu den Hilfsmitteln, die zur Rekonstruktion des Protestereignisses herangezogen werden können, zählt ein knapp einminütiges Video, das am 20. Juni 2010 auf YouTube hochgeladen wird.59 Der Clip zeigt den mutmaßlichen Beginn der Aktion und liefert wichtige Indizien zu den beteiligten Akteur*innen. Wenngleich es die Disparität zwischen der medialen Wiedergabe des Ereignisses und den Erfahrungen der Teilnehmenden bannt, stiftet es einen Eindruck der Szenerie am Schauplatz: Die Kamera filmt von der Straße aus das Herankommen einer Gruppe überwiegend in schwarz gekleideter junger Menschen auf der Uferstraße von Alexandria. Durch das Geländer der Promenade, das tiefe Schatten auf den Gehweg wirft, erahnt man das hinter einem von der tiefstehenden Sonne bestrahlten Strand gelegene Meer. In Schrittgeschwindigkeit und in Augenhöhe filmt die Kamera in einigem Abstand vor der Gruppe ihren Aufzug. Deutlich fängt sie den Lärm des Straßenverkehrs und das Rauschen des Windes ein. Der schlechte Ton und die Perspektive der filmenden Per56 57 58 59
Ghonim, revolution 2.0, S. 106f. Ebd., S. 108. Ebd., S. 109. Der Videoclip „Alexandria Silent Protest for Khaled Said“ ist abrufbar unter: https://www. youtube.com/watch?v=YCwKTWJE8ac (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
Die Aktionen | 307
son lassen darauf schließen, dass die Aufnahme von einer Handykamera der Aktionsteilnehmer*innen stammt. Nach etwa 20 Sekunden und einem kurzen Zoom auf die von einer Dreierreihe angeführte Gruppe stoppt die filmende Person und lässt die Menschen an sich vorbeiziehen. Hintereinander und jeweils in einigem Abstand voneinander getrennt ziehen die überwiegend jungen Menschen in einer deutlich als zusammenhängender Reihe erkennbaren Formation vorüber. Ihre gezielten Schritte drücken Tatkraft aus. Die überwiegende Mehrheit der Aktivist*innen trägt komplett schwarze, zumindest aber dunkle Kleidung, viele zudem Sonnenbrille, Basecaps oder schwarze Schleier als Kopfbedeckung. Kurz vor dem Ende des Clips zieht vor der Reihe eine Gruppe älterer Herren in Bundfaltenhosen und hellen Hemden vorbei. Nicht nur ihr Alter, sondern insbesondere ihre Kleidung lassen sie deutlich in Kontrast zu den einheitlich in schwarz gekleideten Protestierenden treten. Als sich die Männer zu unterhalten beginnen, fällt zudem auf, in welcher Stille die Protestformation hinter ihnen vorbeizieht. Als der Clip abrupt stoppt, haben etwa 50 Personen in einer Reihe die Kamera passiert und es scheint, als ob der Zug noch nicht einmal zu Ende ist. Neben diesem kurzen Film zeugen Fotografien, die im Nachgang hochgeladen wurden, vom Fortgang der Aktion. Die Bilder zeigen junge Menschen in schwarzer Kleidung, die im Abstand von mehreren Metern zueinander aufgereiht an der Brüstung des Gehwegs stehen. Einige Männer tragen Basecaps, einige der Frauen Kopftücher, andere stützen sich mit ihren Händen auf die steinerne Ufermauer. Es fällt nicht schwer die Dokumente zu verbinden. Ungeachtet kleinerer Unterschiede in der körperlichen Haltung verbindet alle Teilnehmenden die einheitliche Ausrichtung ihrer Körper und Gesichter gen Meer, dem Verkehr und dem Treiben der Stadt den Rücken zugekehrt. Die fotografischen Dokumente der Aktion bezeugen, wie durch die spezifische Aufstellung der Protestierenden eine Art Menschenkette entstanden ist, ein langes Band auf dem Gehweg der Uferpromenade. Neben der Darstellung dieser besonderen Choreografie des Protests vermitteln die fotografischen Abbildungen einen Eindruck davon, welche Wirkung von der kollektiven Geste ausgegangen sein muss. Für Passant*innen, die ungewollt zu Zeug*innen der Aktion wurden, muss sich ein ambivalentes Bild von Eindrücken und Reaktionsmöglichkeiten ergeben haben. Zum einen generierte das Protestereignis Aufmerksamkeit und zog das Interesse und die Blicke der Passant*innen an. Zum anderen konnten durch die Präsenz dieses unerwarteten kollektiven Verhaltens, der abgestimmten Choreografie im öffentlichen Raum, Irritationen und verstörende Wirkungen ausgelöst werden. In diesem Wechselspiel aus Faszination und Verstörung schuf die Aktion in den lebhaften Abendstunden eine Situation, die die Atmosphäre des Ortes transformierte. Dem Fluss des Feierabendverkehrs und dem bunten Treiben stellte die koordinierte Aufreihung bewegungslos verharrender Menschen einen stillen menschlichen Widerstand entgegen, der für Beobachter*innen eine Stimmung erzeugte, die eindringlich und bedrückend wirkte und sofort Fragen aufwarf. Für Zeug*innen der Aktion war unklar, was das konkrete Anliegen der Aktivist*innen war. Da hier nicht wie sonst auf politischen Protestveranstaltungen Plakate, Schilder, Sprechchöre oder andere Ausdrucksmittel benutzt wurden, standen für Außenstehende keine eindeutigen Erklärungen bereit. Umso schwerer fiel es, eine Motivation der Aktion zu erkennen und die durch sie evozierten Erfahrungen zuzu-
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ordnen. Da die Protestaktion selbst keine Bezüge herstellte, ließ sie Zuschauer*innen irritiert zurück. Im Moment der Verstörung auf sich selbst zurückgeworfen wurden die Rezipient*innen jedoch zugleich auch aktiviert. Denn umso ruhevoller die Protestierenden ihren „Stillen Widerstand“ ausführten, umso mehr sie sich für einen begrenzten Zeitraum aus dem aktiven Leben zurückzogen, oblag das Handeln und die Konstitution von Bedeutung dem Publikum. Für die Teilnehmenden ergab sich in der Aufführungssituation des Protests – konkret durch die spezifische Medialität der Ko-Präsenz im Moment des gemeinsamen Zusammenstehens – die Möglichkeit, horizontale Formen der Partizipation hervorzubringen.60 Mehr als die Uniformität der Kleidung oder die Ähnlichkeit der Posen erzeugte die Tatsache, dass man – ohne einander zwangsläufig kennen zu müssen – gemeinsam für etwas einstand, ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit.61 Der Initiator Ghonim sprach von Solidaritätsgefühlen, die die Teilnehmer*innen überkamen und die Aktion zu einem „neuen sozialen Umfeld“ machten.62 In einer Atmosphäre der Kooperation konstituierte sich ein neuer sozialer Raum, in dem selbstgewählte Regeln galten. Im Gegensatz zur Hierarchie des politischen Systems strebte die Aktion eine Gleichberechtigung zwischen ihren Teilnehmenden an. Wer sich den Zielen der Aktion verbunden fühlte, wurde unabhängig von Geschlecht, Alter oder sozialer Herkunft einbezogen.63 Durch diese Offenheit sollte eine horizontale Form der Teilhabe praktiziert werden, die Inklusion schuf und die Umsetzung einer veränderten Praxis gemeinsamen Miteinanders präsentierte. In Abgrenzung zum Kontrollsystem der Staatssicherheit wurde so beispielsweise auch die Anonymität der Teilnehmer*innen akzeptiert. Die Aktion brachte durch ihr Schweigen eine Meinung zum Ausdruck, die für sich selbst stand und keiner weiteren Erklärung durch eine Führungspersönlichkeit bedurfte.64 Dadurch unterstrich sie umso deutlicher die Differenz zum ägyptischen Politikstil, der im Alltag Grundrechte einschränkte, exzessive Gewalt, Vetternwirtschaft und Korruption privilegierte und damit soziale Ungerechtigkeit fortwährend reproduzierte.65 Im Gegensatz zu anderen Protestformen etablierte der „Stille Widerstand“ einen programmatischen Abstand zur Tendenz ideologischer Vereinnah60 Zu den Dynamiken politischer Partizipation in der Arabischen Welt siehe auch Amr Hamzawy/Marina Ottaway, Getting to Pluralism – Political Actors in the Arab World, Washington 2009. 61 Siehe dazu Ghonim, revolution 2.0, S. 111: „Jeder Teilnehmer stand stumm neben jemandem, den er oder sie höchstwahrscheinlich nicht kannte. Sie wussten lediglich, dass sie beide Mitglieder einer Seite im Internet waren und sie an die gleiche Sache glaubten. Sie standen einen Meter auseinander und trugen schwarz.“ 62 Ebd. 63 Es bleibt festzustellen, dass eine gewisse Homogenität der Protestierenden vor allem in Bezug auf ihr Alter dennoch bestand. Trotzdem es sich bei den Teilnehmenden überwiegend um jüngere Menschen handelte, stand eine Teilnahme jedoch allen offen. 64 Vgl. Amr Hamzawy, „From Dictatorship to Democracy“, in: The Cairo Review of Political Affaires, abrufbar unter: https://www.thecairoreview.com/q-a/from-dictatorship-to-democr acy/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 65 Vgl. Amin, Migrating the Feminine, S. 32f.
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mung.66 In friedlicher und besonnener Weise produzierte er ausdrucksstarke Bilder und konnte neue Akteur*innen und Sympathisant*innen hinzugewinnen. Darunter konnten Menschen sein, die bisher politisch wenig aktiv waren oder solche, denen eine parteipolitische Vereinnahmung ähnlicher Protestaktionen einen Zugang bisher erschwert hatte.67 Nach der tatsächlichen Beteiligung im öffentlichen Raum verlängerte sich die Aktion durch ihre nachträgliche Auswertung und Besprechung in den sozialen Medien. Teilnehmer*innen schickten Bilder der Aktion, die von Ghonim hochgeladen und weitergeleitet wurden. So verlagerte sich der Epilog der Aktion zurück in den virtuellen Raum der Facebook-Gruppe. Von dort dehnte sich das Ereignis in das „öffentliche“ Forum des Internets aus, wo die tatsächliche Aktion intensive Auseinandersetzungen über die gemachten Erfahrungen stimulierte. Bilder wurden ausgetauscht, Eindrücke geschildert und einander für den Mut gedankt, wodurch sich die Aktion des „Stillen Widerstands“ sowie Eindrücke der Beteiligten verselbständigten und noch mehr Menschen erreichten. Die fragmentierten Erfahrungen einzelner Teilnehmer*innen fügten sich mit bildlichen Verweisen und sehr persönlichen Beschreibungen der Aktion zur einer Art Collage zusammen. Erst im Nachhinein wurde die tatsächliche Reichweite und Wirkung der Aktion erkennbar. Das Internet fungierte dabei als nachgeordnetes Evaluationsinstrument, das die strategische Zerstreutheit der Aktion kompensierte. Nachweislich bündelte es Quellen und lieferte zusätzliche Zeugnisse der Selbstbestätigung, die für die Motivation der Bewegung und für die Überwindung angelernter Angst von großer psychologischer Bedeutung waren. Wie Lina Khatib, Politikwissenschaftlerin und ehemalige Direktorin des Carnegie Middle East Center in Beirut, heraushebt, spielt dabei der Kampf um Bilder und ihre Deutungshoheit insbesondere im Mittleren Osten eine besondere Rolle. Sie schreibt: „The image is at the heart of political struggle, which has become an endless process of images battling, reversing, erasing and replacing other images […]. Political struggle, then, is an inherently visually productive process. It is also visual to a large degree: It is a struggle over presence, over visibility.“68
Ghonim bestätigte, dass Bilder junger Menschen mit emporgehobenen Armen oder aufgereihte Teilnehmer*innen in stiller Gebetspose wesentlich mehr Reaktionen hervorriefen als die verschriftlichte Diskussion auf der Facebook-Seite. Auch die Medien begannen über die Aktion zu berichten, denn „die Art, wie sich alle aufstellten, sorgt[e] für die größtmögliche Wirkung im Verhältnis zur Anzahl der Anwesenden. 66 Dem ägyptischen Politikwissenschaftler Amr Hamzawy zufolge fügten die neuen Formen „Stillen Widerstands“ den bisherigen Ausdrucksweisen politischen Aktivismus eine weitere informelle Ebene hinzu: „This layer is informal. Itʼs not being influenced greatly by opposition groups, nor by ideologies. Itʼs therefore dynamic, and issue-based.“ Vgl. Amr Hamzawy zit. nach Noha El-Hennawy, „We are all Khaled Saeed: Redefining political demonstration in Egypt“, in: Egypt Independent vom 04.08.2010. 67 Vgl. Ghonim, revolution 2.0, S. 111. 68 Lina Khatib, Image Politics in the Middle East: The Role of the Visual in Political Struggle, London 2013, S. 1.
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Sie ließ sie größer erscheinen, als sie tatsächlich war.“69 Als nach der Aktion die Besucher*innenzahlen auf der Facebook-Seite rasant ansteigen, ist das für Ghonim ein gutes Zeichen: „Für mich war die Botschaft eindeutig: Aktionen auf der Straße führten zu mehr Interaktion unter den Mitgliedern, was wiederum lebenswichtig für das Fortbestehen der Seite war.“70 2.1 Die zweite Aktion „Stillen Widerstands“ Am 25. Juni 2010 sollte eine Woche später nach dem Freitagsgebet und vor Sonnenuntergang die zweite Aktion des „Stillen Widerstands“ stattfinden. Für diesen Tag hatten auch andere politische Gruppen Demonstrationen angekündigt. Der Plan sah vor, die Widerstandsaktionen auf insgesamt zehn Städte in Ägypten auszuweiten. Politische Bewegungen wie Kefaja, die Nationale Vereinigung für den Wandel, die Jugend der Gerechtigkeit und Freiheit und die Jugendbewegung des 6. Aprils hatten zugesagt, sich an den Protestaktionen zu beteiligen.71 Um alle Initiativen zu bündeln, richtet Ghonim wieder eine Veranstaltung auf Facebook ein. Da durch den Zusammenschluss mit einer weitaus größeren Beteiligung zu rechnen war und das Protestereignis diesmal noch größere Anforderungen an die Koordination der Teilnehmer*innen stellte, appelliert Ghonim im Vorfeld an alle Beteiligten, die Aktion nicht durch Eskalationen zu gefährden. Auf der Veranstaltungsseite auf Facebook veröffentlicht er folgende Erklärung: „Wir versichern jedoch: Dies ist ein Stiller Widerstand. Keine Demonstrationen, keine Sprechchöre, keine Schilder. Dies ist keine politische Aktion. Es ist eine humanitäre Aktion, aus Solidarität mit den Folteropfern in den Gefängnissen […].“72 Während es in Alexandria vor der Sidi Gaber Moschee zu ersten Massendemonstrationen mit wütenden Sprechchören, Schildern und ägyptischen Flaggen gegen die Folterung von Khaled Said kommt,73 wählen die Teilnehmer*innen des „Stillen Widerstands“ eine andere Ausdrucksform des Protests. Der Text zum Videoclip „Standing Up For Khalid Said“, der am 26. Juni 2010 auf YouTube hochgeladen wird,74 betont diese Differenz: 69 Ghonim, revolution 2.0, S. 110. 70 Ebd., S. 115. 71 Auch ägyptische Politiker*innen wie El Baradei beteiligen sich an der Aktion. Siehe dazu ebd., S. 127: „ElBaradei beteiligte sich an der Menschenkette entlang der Küstenstraße und trug wie alle Aktivisten schwarz, unter ihnen auch Dr. Ayman Nour und die bekannte Radio- und Fernsehmoderatorin Bothaina Kamel. Es war ein großartiger Augenblick, von der Kamera festgehalten, und obwohl die Facebook-Seite nie dazu gedacht war, ElBaradei als Symbol des Wandels darzustellen, postete ich das Foto, das ihn gemeinsam mit den anderen als Glied der Menschenkette zeigt.“ 72 Zit. nach Ghonim, revolution 2.0, S. 120. 73 Der Fotojournalist David Degner, der als Augenzeuge selbst ein Video der Massenproteste auf YouTube hochlud, bezeichnet die Proteste dort als „one of the first that I have seen with so many people.“ Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=yX-yhn1Qskk (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 74 Am 07.07.2010 wurde auf der englischen Website www.elshaheeed.co.uk ein weiterer Clip mit dem Titel „Standing Up For Khalid Said“ und folgendem Appell gepostet: „We must
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„After a day of protests in Alexandria Egypt, sparked by anger and sadness about the recent killing of Khalid Said, allegedly beaten to death by police near his home, thousands of youth from across the country follow a Facebook call to stand in silence and solidarity.“75
Die filmische Collage kombiniert von verschiedenen Standorten aus aufgenommen unterschiedliche Szenen des Protests. Wenngleich sie keine nachvollziehbare Chronologie der Ereignisse präsentiert, gibt sie dennoch wichtige Einblicke in die Darstellungsweise des „Stillen Widerstands“. Nach dem kurz eingeblendeten Text, der den Grund der Aktion nennt,76 fokussiert die Kamera kurz einen am Himmel fliegenden Drachen, um dann herauszuzoomen auf die städtische Umgebung. Die viel befahrene Uferstraße wird rechts von hochgeschossigen Häusern, links vom Strand und dem Meer gesäumt. Das Video reiht im Folgenden für wenige Sekunden verschiedene Einstellungen aneinander. Sie alle zeigen jüngere, in schwarz gekleidete Demonstrant*innen, die in arrangiertem Abstand von wenigen Metern zueinander direkt an der kniehohen Brüstung der Uferpromenade stehen. Viele haben die Arme vor dem Körper verschränkt, ihre Haltung ist aufrecht, der Blick gen Meer gerichtet. Die folgende Einstellung filmt die tiefstehende Sonne, vor der sich deutlich die schwarzen Silhouetten stillstehender Frauen abzeichnen. Während ihre Körper in völliger Ruhe verharren, verursacht allein das Wehen des Windes eine Bewegung, die ihre Schleier wie eine Verlängerung ihres Schattens flattern lässt. Auf diese Weise entsteht eine gespenstische Szenerie, die auf Passant*innen einen irritierenden Eindruck hinterlassen haben muss. Insbesondere die über dem Meer untergehende Sonne stiftet eine ganz besondere Atmosphäre, die an eine Abschiedsszene erinnert. Dann zoomt die Kamera auf das Gesicht einer jungen Frau, deren Blick starr auf das Meer gerichtet ist, was ihr einen traurigen Ausdruck verleiht. Nur ihr Schleier weht im Wind, während sie sich der äußeren Welt gänzlich verschlossen hat. Still in sich gekehrt, verweilt sie in dieser mahnenden und zugleich rätselhaften Pose. Nach etwa einer halben Minute setzt im Video eine musikalische Untermalung durch Gitarrenmusik ein. Selbst für Betrachter*innen, denen es gelingt, diese melancholische Musik auszublenden und sich nicht auf ihren Pathos einzulassen, wird die folgende Sequenz einen sonderbaren Eindruck hinterlassen: In einer Kamerafahrt die Uferstraße entlang, wahrscheinlich aus einem Auto heraus aufgenommen, wird durch die räumliche Verschiebung des Standpunkts plötzlich die tatsächliche Länge der Menschenkette offenbar. Die Körper der Protestierenden scheinen die gesamte Corniche zu besetzen. Im Gegenlicht der untergehenden Sonne werden die Demonstrant*innen aus dieser Perspektive zu einem kollektiven Tableau schwarzer Silhouetten. all stand up for Khaled Said and every single Egyptian who was or will be attacked. We must unite to stop the violence. Only this way we will force everyone to respect us.“ Vgl. http://www.elshaheeed.co.uk/2010/07/07/standing-up-for-khalid-said/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 75 Siehe https://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=BrKi02AEYos (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 76 Dort stand geschrieben: „[I]n honor and memory of Khalid Said and in protest of the Police brutality“.
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In der filmischen Abfolge wird die in der Fahrt ausgestellte Konnektivität der kollektiv arrangierten Körper durch Schnitte immer wieder unterbrochen, die in kurzem Wechsel einzelne Portraits der Teilnehmenden zeigen. Aus dem Gesamtbild der anonymisierten Gemeinschaft konfrontieren diese Close-Ups die Betrachter*innen plötzlich mit individuellen Gesichtern.77 Aus den Zwischenräumen der Menschenkette heraus aufgenommen, präsentiert der Blick der Kamera einzelne Profile der Teilnehmer*innen. Ihre Gestik scheint jedweder Bewegung beraubt, was die Gesichter wie versteinert wirken lässt. Mit dieser Wahrnehmung korrespondiert ihr starrer, auf einen fernen Punkt fixierter Blick, der spürbar eine bestürzende Hoffnungslosigkeit kommuniziert. Eine junge Frau betet stumm, ihre Lippen bewegen sich lautlos. Eine andere steht mit gesenktem Kopf da, wieder eine andere mit geschlossenen Augen scheinbar ganz in sich gekehrt. Diese jungen Menschen demonstrieren, ohne dass ihr Schmerz erklärbar nach außen dringen kann. Sie stehen zwar zusammen, aus ihrer gemeinsamen Anwesenheit ergibt sich jedoch keine Lösung. Was hier die ästhetische Wahrnehmung der Situation bestimmt, ist die Erfahrung dieses traurigen Moments, der von der Expressivität bedrückender Stille lebt. Gerade in diesem Punkt – dem stoischen Nicht-Agieren und Innehalten – hebt sich das Handeln chorisch Protestierender von Aktionen rasender Wut ab. Im Gegensatz zu Massenkundgebungen, auf denen überschäumende Affekte regieren, wirkt diese Aktion wie eine Unterbrechung des gefühlten Wunsches nach Vergeltung. Der „Stille Widerstand“ stellt zur Wut der rasenden Menge einen Abstand her. Indem die Akteur*innen überaus kontrolliert und zurückgenommen agieren und doch einer gemeinsamen Ordnung folgen, setzen sie Augenblicken höchster Rage eine moralische und politische Überlegenheit entgegen.78 Die Aktion erzeugt eine Zäsur. Sie antwortet auf den vorschnellen Wunsch nach Selbstjustiz durch einen beunruhigend wirkenden Moment äußerster Ruhe. Durch den Erfolg der ersten beiden Aktionen wurde deutlich, welches Mobilisierungspotenzial die Menschenketten hatten. Ghonim resümiert: „[…] wir mochten nicht skandiert oder Schilder getragen haben, doch wir konnten Schweigen in Kraft umwandeln.“79 Insbesondere den Neuen Medien kam als einer Art reflexiven Arm des sozialen Körpers eine herausragende Bedeutung zu.80 Die Funktion der Mediatisierung der Protestaktion begründete sich nicht allein durch die Dokumentation der Ereignisse. Vielmehr wurden die Medieninhalte selbst zu einer sozialen Kraft, die die öffentliche Meinung beeinflusste. Vor allem die dokumentierten Zusammenstöße mit Ordnungskräften sorgten immer wieder für rege Diskussionen im Netz.81 Im Verhältnis zu den friedlichen Aktionen wirkte die Aggressivität der Sicherheitskräfte unbegründet hart. Durch diesen Kontrast führte das System seine Repression unweigerlich
77 Den Einblick, den die Kamera hier gewehrt, konnten Passant*innen auf dem Uferweg nur erhalten, wenn sie sich zwischen die Menschenkette stellten und damit unweigerlich selbst Teil der Kette wurden. Der Großteil der Betrachter*innen war hingegen mit einer choreografierten Reihe von Rücken konfrontiert. 78 Vgl. Foster, „Choreographies of Protest“, S. 400. 79 Ghonim, revolution 2.0, S. 133. 80 Vgl. Foster, „Choreographies of Protest“, S. 405. 81 Vgl. Ghonim, revolution 2.0, S. 134f.
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selbst vor. Die zunehmend öffentliche Diskussion darüber führte zur Mobilisierung weiterer Teilnehmer*innen.82 Für viele Menschen, die Angst hatten, öffentlich zu demonstrieren oder politische Parolen zu rufen, offerierte der „Stille Widerstand“ eine Protestform, die weniger riskant schien. Durch einfachen Zugang konnten Sympathisierende als Teilnehmer*innen hinzugewonnen werden. Außerdem waren keine größeren Vorbereitungen nötig, um sich an der Protestchoreografie „Stillen Widerstands“ zu beteiligen. Da die vereinbarten Posen keiner großen Einstudierung bedurften, hatte diese Protestform nachweislich das Potenzial durch jeden einzelnen Teilnehmenden und die sichtbare Zusammengehörigkeit der Beteiligten eine umso größere Wirkung zu erzielen. 2.2 Der Jahrestag der Revolution Zwei Wochen nach einem hier nicht näher besprochenen dritten Aktionstag fällt der Freitag am 23. Juli 2010 mit dem nationalen Feiertag der Revolution von 1952 zusammen. Für diesen Tag kündigt Ghonim auf der Facebook-Seite die vierte Aktion des „Stillen Widerstands“ an. Aufgrund des besonderen Tages nennt er die Veranstaltung diesmal „Revolution des Schweigens“.83 Als Ghonim im Vorfeld der vierten Aktion den Film „V wie Vendetta“ sieht, nutzt er die Analogie der filmischen Handlung und versucht einen direkten Zusammenhang zur aktuellen Lage in Ägypten herzustellen. Er schwärmt: „Um für die Revolution der Stille zu werben, postete ich sogar Ausschnitte aus dem Film. […] Ich lud den Film aus dem Internet herunter und schnitt eine wichtige Szene aus: V bricht bei einem Fernsehsender ein, unterbricht die Propaganda, erscheint live auf Sendung und wendet sich an die Menschen, um ihnen ihre wahre Lage vor Augen zu führen. Ich übersetzte die Rede, in der er seine Mitbürger dazu auffordert, am 5. November in einem Aufstand gegen das Unrecht auf die Straße zu gehen. Ich erinnere mich an diesen Satz: ,Wer einen Schuldigen sucht, der muss nur in den Spiegel sehen.‘ Ich veränderte den Satz etwas und passte ihn an, als Aufruf an die Ägypter, am 23. Juli in aller Stille an einer Revolution gegen die Korruption des Innenministeriums teilzunehmen.“84
Es ist schwer zu beurteilen, ob der vom Film inspirierte Aufruf dazu führt, dass sich die Dynamik des Widerstands weiter verschärft. Entgegen dem Wunsch, die Aktion im gewohnt geordneten Arrangement durchzuführen, wollen einige sie mit einem kollektiven Marsch zum Elternhaus von Khaled Said verbinden. Statt der breiten Promenade der Uferstraße wird so eine enge Seitenstraße zum neuen Ort des Protests. Ghonims Bericht belegt, wie der veränderte geografische Raum die Anwesenden völlig neu anordnet. Durch die aktive Prozession und eine größere Anzahl von
82 Sara Omar, eine 23-jährige Teilnehmerin der Proteste in Alexandria, äußerte: „A silent protest usually has a higher number of participants than a regular one because anyone could join in just by standing next to us.“ Zit. nach Noha El-Hennawy, „We are all Khaled Saeed: Redefining political demonstration in Egypt“, in: Egypt Independent vom 04.08.2010. 83 Siehe Ghonim, revolution 2.0, S. 137. 84 Ebd., S. 138f.
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Teilnehmer*innen ist an eine ruhevolle Aufreihung nicht mehr zu denken. Ghonim schreibt: „Der Marsch erreichte Khaled Saids Zuhause und die enge Seitenstraße war brechend voll von Demonstranten. Die Sprechchöre begannen mit ,Kullena Khaled Said‘ und Rufen nach Gerechtigkeit. Dann wurden sie zu Attacken auf den Innenminister, Habib el-Adly: ,Wäre Khaled Ministersohn, würde el-Adly exekutiert.‘ Der Ton wurde rasch schärfer und bald war der bekannte Anti-Regime-Chor zu hören: ,Nieder, nieder mit Hosni Mubarak.‘“85
Anstelle einer konzentrierten Aktion des Stillstands kam das Chorische nicht mehr als maßvolle Choreografie bewegungsloser Körper zur Aufführung. Im Gegenteil schien sich die bisher unterdrückte Empörung durch wütendes Anklagen zu entladen. Einerseits ermöglichte es der Sprechchor hier, sich dem Moment der emotionalisierten Kritik frei hinzugeben und im Schutz der Gruppe einen Emanzipationsschub zu erfahren, um endlich frei die Meinung zu äußern. Andererseits war das lautstarke Protestieren im Sprechchor von einer grenzwertigen Affektivität durchdrungen. Vor allem im Gegensatz zum ursprünglichen Charakter des „Stillen Widerstands“ fiel es umso schwerer, nicht der rauschhaften Gefahr des Unkontrollierbaren zu unterliegen. Die Aktivist*innen riskierten festgenommen zu werden. Indem die vorab gewählten Arrangements aufgegeben wurden, drückte sich etwas aus, dass in den späteren Protesten im Januar 2011 virulent zu Tage trat: Die Rückeroberung der Straßen und die Bereitschaft seinen eigenen verletzlichen Körper dafür einzusetzen, war Ausdruck einer finalen Hoffnungslosigkeit. Alle Zuversicht, dass sich Ägypten durch politische Oppositionsgruppen reformieren oder demokratisieren ließe, waren zutiefst erschüttert. Ab dem 23. Juli 2010 veränderten sich die Aktionen „Stillen Widerstands“ maßgeblich, indem das bisherige Maß der Zurückhaltung durch die Wahl autoritärer Ausdrucksmittel des Protests überschritten wurde, von denen man sich im Vorfeld bewusst abgrenzen wollte. Beim Marsch zum Elternhaus von Khaled Said kamen kollektive Verlautbarungen zum Einsatz, die sich chorischer Formen des Sprechens bedienten und deren sprachliche Rhythmisierungen zum Motor einer weiteren Radikalisierung der Proteste wurden.86 Das veränderte Protestverhalten der Aktivist*innen beschrieb eine Entwicklung im Einsatz chorischer Mittel, die von den bedeutungsoffenen Strategien des „Stillen Widerstands“ abrückten. Für die Protestierenden stand in einer besonderen politischen Situation virulent zur Disposition, die mahnende Zurückhaltung in direkten Aktionismus münden zu lassen. Ungeachtet dieser Dynamik soll im Folgenden geklärt werden, ob der Erfolg des Chorischen bei den Aktionen des „Stillen Widerstands“ – auch im Gegensatz zur chorischen Lautstärke in Stuttgart – jedoch gerade im ruhevollen, antiautoritären, nicht auf Gegen-Macht angelegten Arrangement der kollektiven Choreografien bewegungsloser Körper lag.
85 Ebd., S. 140f. 86 Entsprechend lösten die Aktionen des 23. Juli 2010 bei den Mitgliedern der Facebook-Seite heftige Diskussionen über das weitere Vorgehen aus. Sollte man die Stille des Schweigens aufgeben? Oder waren ruhevolle Aktionen unkalkulierbarer Bewegtheit vorzuziehen?
Das Chorische | 315
3. DAS CHORISCHE „Like any agent of social change, it forges its own agenda and responds to a particular history. The body then cannot be reduced to a mere reflection of what it opposes. It does not take shape simply as the consequence of control and domination but it also organizes an experience beyond the quarters of social control.“87
Die ersten Aktionen „Stillen Widerstands“ hatten ein Wirkungspotenzial erkennen lassen, das zum einen durch die ästhetische Erfahrung einer konkreten Protestsituation ausgelöst wurde. Zum anderen sorgten eindrückliche Bilder und Filme im Internet vor allem im Nachgang der Aktionen dafür, dass sich nachhaltige Wirkungen auch indirekt ergaben. Im Gegensatz zur Geräuschkulisse anderer Protestformate wurde Widerstand in der aufgeführten Stille als sichtbare Praxis von Körpern offenbar. Das chorische Zusammenwirken konstituierte sich als taktisches Zwischenspiel, das sowohl das kollektive Bündnis der Einzelkörper als auch deren kooperatives NichtHandeln betonte. Das Chorische bildete sich durch die beschriebene Aussetzung von Körperbewegungen und Sprachgebrauch als ein abgesprochenes System körperlichen Verhaltens aus. Es entstand als prozessorientiertes Verfahren kollektiver Akteur*innen, die einen Zustand zerstreuter Synchronizität anstrebten, an dessen Wahrnehmung sich die Frage anschloss, wodurch Kollektivität hergestellt und zugleich wiederum unterwandert wurde. 3.1 Der Protestchor als kollektives Körperbündnis Die Visualisierung des Gemeinsamen wurde in den Aktionen des „Stillen Widerstands“ überwiegend durch die gleiche Haltung, d.h. durch die kollektive Pose mit gleichwertig ausgerichtetem Blick zum Meer sowie durch die Einheitlichkeit der Kleidung erreicht. Die Gruppen-Kohärenz wurde zum einen also durch die Vervielfältigung eines einheitlichen Erscheinungsbildes deutlich. Zum anderen stellte die sichtbar synchronisierte Bewegungslosigkeit der Körper ein interrelationales Gefüge her. Die Choreografie der Aktion ließ die Protestierenden nicht nur in einer Ruhehaltung verharren, sondern verwies durch das Arrangement gleicher Posen zugleich auf ein körperliches Ordnungsgefüge abgestimmten Gruppenhandelns. Die spezielle Form der Anordnung wies keine hohe Komplexität auf, sondern war auf das Essenzielle, das (Körper-)Eigene reduziert. Anstatt im Verlauf der Aktion individuelle Körperformen zu vergleichen, verlagerte sich der beobachtende Blick vom Einzelkörper als Agens zum Gruppenkörper. Der Protestchor entstand hier wesentlich durch die Verschiebung der Wahrnehmungsperspektive auf den Kollektivkörper als einem Beziehungsfeld von Körpern, das auf ein zusammenhängendes Organisationsprinzip zwischen unterschiedlichen Bewegungs- bzw. Körperstrukturen hindeutete. Die kompositorische Struktur des Protestchors konstituierte sich als räumliches 87 Martin, Performance as Political Act, S. 2.
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Netz aus körperlich stillgestellten und lautlich still stehenden Statuen, die sich kontrapunktisch in die Raum-Zeit des vorgefundenen Ortes einschrieben. Die Ruhe des Stillstehens und die Stille des Schweigens deuteten dabei umso mehr auf die gruppenbildenden Prozesse der Synchronisierung hin. Voraussetzung dieses Abstimmungsprozesses, der gleichsam das Erscheinen des Protestchors konstituierte, war das zeitlich begrenzte, lose und doch gegenseitige Einstimmen oder auch Einpendeln der rhythmisch durchaus verschiedenen Eigenzeiten der Demonstrierenden. Zusätzlich offenbarte ihr Erscheinen ein choreografisches Wissen, das die Teilnehmer*innen der Aktion teilten und das ihrem Protesthandeln als Bewegungswissen vorausging. Damit ihr Protest sichtbare Wirkungen entfaltete, war er an Prozesse der körperlichen Koordination, sinnlicher wie symbolischer Vermittlung und geeignete mediale Rahmungen gebunden.88 Die in der Aktion aufgeführten körperlichen Abstimmungen richteten sich als Botschaften nicht nur nach außen. Vielmehr gründeten sie dort, wo Entscheidungen, wie man Dinge organisieren wollte, getroffen wurden, d.h. insbesondere unter den Teilnehmenden der Aktion und damit im Inneren des Protestchors. 3.2 Zerstreuung Auffällig an den Aktionen „Stillen Widerstands“ war, dass während des stillen Beisammenstehens keinerlei Berührungen zwischen den Mitgliedern des Protestchors auszumachen waren. Dadurch unterlief die gemeinsam dargebotene Körperlichkeit das autoritäre Diktat der Notstandsgesetze. Mit der spezifischen Form der distanzierten Aneinanderreihung sollte eine „Ansammlung von Menschen“ im öffentlichen Raum verhindert werden, die als Pulk oder Haufen von den Sicherheitskräften sofort auseinander getrieben worden wären. Wie in den FAQs der englischen Website www.elshaheeed.co.uk nachzulesen ist, dienten die detaillierten Absprachen vor den Protesten und die spezifische Darstellungsweise des „Stillen Widerstands“ als Vorkehrungen, um die durch die ägyptischen Notstandsgesetze verbotenen Massenversammlungen gezielt zu umgehen: „Thousands of Egyptians stood in long chains along Egypt’s seafronts in several cities spaced five metres apart. All Egyptians stood silently or quietly read their Qur’ans or Bibles. This way, we expected, we will not be breaking the emergency law that bans assemblies (of 5 people or more!), bans demonstrations, slogans, etc, etc. We will just stand silent upset wearing black clothes. Black because we are sad for what happened to our country, and to what is happening daily to our people.“89
Das Aktionsbündnis verfolgte das Ziel, eine wirkmächtige Formation zu erzeugen, die Aufsehen erregen konnte, ohne eine Angriffsfläche zu bieten. Eine subversive Praxis installierten sie, indem sie sich Angriffen von außen entzogen. Die Aktionen des „Stillen Widerstands“ gaben Ägypter*innen die Möglichkeit, ihre Empörung zu 88 Der Begriff der medialen Rahmung bezieht sich hier vordergründig auf den Ort der Protestaktion im öffentlichen Raum als einer frei zugänglichen, viel frequentierten, urbanen Umgebung und die sich ausgehend von dieser Öffentlichkeit ableitenden Parameter. 89 http://www.elshaheeed.co.uk/faq/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
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äußern, ohne ein zu hohes Risiko eingehen zu müssen.90 Durch die nicht-gewalttätige Direktheit der Aktion eigneten sich junge Menschen den öffentlichen Raum erstmals als eigene politische Arena an,91 was durchaus einem Spiel mit den Autoritäten gleichkam und Spannungen erzeugte, die in den Körperformationen bereits angelegt schienen. 3.3 Spannungen Trotzdem sich die Körper der Beteiligten weder berührten noch direkt verbunden waren, entstand eine wahrnehmbare Verbundenheit zwischen den Teilnehmenden, die wie durch ein unsichtbares Band in Kontakt zu stehen schienen, ohne dass es einer reellen körperlichen Berührung bedurfte. Durch die spezifische Nutzung des geografischen Raumes und die Integration seiner vorgefundenen Architektur kam es zu einer neuartigen Positionierung der Körper. Die Lesbarkeit dieser Körperbilder, insbesondere ihre Korporealität muss explizit auch im Zusammenhang mit den sich wandelnden Machtstrukturen gelesen werden. Denn die Aktivist*innen erzeugten eine Installation horizontalen Beisammenstehens, der Beobachter*innen durchaus weitere Bedeutungen beimessen konnten und die sie in Verbindung zu aktuellen politischen Ereignissen setzten. In den Aktionen des „Stillen Widerstands“ wurden die Wahrnehmungsebenen, die für das Theater als Hör- und Schauraum so konstituierend sind, in unterschiedlicher Weise instrumentalisiert. Spannungen entstanden einerseits zwischen Formen des Stillstands als einer körperlich produzierten und darum vornehmlich visuell wahrnehmbaren Bewegungslosigkeit und andererseits durch die provozierte Geräuschlosigkeit, das konsequente, aktive Schweigen. Beide Elemente – Stillstand als Stillstellung und Schweigen als Stille – wurden so genutzt, um auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen Irritationen und Störungen hervorzurufen, die den politischen Widerstand durch die Gestaltung neuer Wahrnehmungssituationen vor allem sinnlich erfahrbar machten.
4. STILLSTAND Die stillen Widerstandsaktionen in Kairo und anderen ägyptischen Städten demonstrierten im Sommer 2010 etwa zeitgleich zu den Protesten in Stuttgart, welche politische Kraft die choreografierte Stillstellung körperlicher Bewegungen im öffentlichen Raum erzeugen konnte. In den letzten Stunden des Tages konstituierte sich der Protestchor nicht als laute Szenerie zivilgesellschaftlicher Selbstermächtigung, sondern als bedeutungsoffene und bewegungslose Reihe stummer Statuen. Die Kunstfertigkeit des performativen Gebildes, welches als raum-zeitliches Muster die Promenade zierte, ermöglichte es Beobachter*innen eine Potenzialität zu erahnen, die von der kinästhetischen Vernetzung des ruhenden Körperarrangements auszugehen schien.
90 Vgl. Sanders, „Building Resistance“, S. 175. 91 Vgl. Amr Hamzawy, „From Dictatorship to Democracy“.
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4.1 Die Sinnlichkeit des Stillstands Ohne Frage war die Aktion, in der Art und Weise wie sie aufgeführt wurde, dafür gemacht, um gesehen zu werden und die Aufmerksamkeit der Passant*innen auf sich zu ziehen. Den dafür nötigen Effekt generierte sie, indem sie die Sinne direkter ansprach als Worte. Es kann spekuliert werden, dass sich die Performativität des Stillstands sogar offensiv gegen den versprachlichten Machtdiskurs des alten Regimes entwarf.92 Im Kontrast zu den stillgestellten Körpern der Protestierenden traten der öffentliche Raum und die Umgebung der Stadt als umso bewegter hervor. Die körperliche Bewegungslosigkeit des Protestchors wirkte in erster Linie als eine Handlungsunterbrechung, die die Zeit im Raum stillzustellen schien. Entgegen der aktivistischen Natur politischen Handelns, entäußerte sich das Aktivistische gerade durch das Unterlassen bzw. das Aussetzen regulärer Szenen des Aufstands. Im Moment der Stillstellung kamen Bewegungen allerdings nur scheinbar zum Erliegen. Damit die politische Bewegung als statische Gruppe in Erscheinung treten konnte, waren intensive körperliche Handlungen, ein regulatives, selbstbeschränkendes Verharren notwendig. Die Aktion führte vor Augen, welche muskulär angespannten Aufund Ausrichtungen notwendig waren, um Bewegungslosigkeit in lebendigen Körpern herzustellen.93 Zwar inszenierten sich die Demonstrierenden explizit durch ein Aussetzen von Aktion als „aktive Passivität“,94 dennoch verbarg sich hinter dem Stillstand eine aktivistische Zustandsveränderung, bei der sich Antizipation und Aussetzung nicht ausschlossen. 4.1.1 Handlungsunterbrechung als Kollektivierung Die Szenen der Stasis, die die Aktionen „Stillen Widerstands“ produzierten, riefen durch den spezifischen Einsatz leiblicher Körper besondere Formen der Kollektivierung hervor. Die Versammlung des Stillstands offenbarte eine kollektive Kraft. Das Verbindende entstand maßgeblich durch die synchronisierte Stillstellung der Körper der Protestierenden, die als Ruhigstellung des individuellen, körperlichen Bewegungsvokabulars erfahrbar wurde. In dem Moment, in dem Beobachter*innen die Ko-Präsenz der vielen zueinander in Bezug stehenden Körper wahrnahmen, wurde zugleich die egalitäre Ko-Existenz der Demonstrierenden fühlbar. Das Gefühl des Zusammenseins wurde dadurch verstärkt, wortwörtlich gemeinsam für etwas einzustehen. Die Aktion war durch ihre gemeinsame Organisation in der Lage, das physi92 Siehe auch Amin, „Theatre and Political Transformation in Post-revolutionary Egypt“, Berlin 2016: „We expected new practises, a form of militancy in performance, reenactments and a shift from the old coded conventions rooted in social hypocrisy and in the state controlled ideological propaganda.“ 93 Exemplarisch führte William Forsythe diesen Vorgang vor, als er in der Installation „Towards the Diagnostic Gaze“ auf Betonstelen jeweils neun Staubwedel aus Straußenfedern verteilte. Eine Aufschrift am Sockel forderte das Publikum auf, diese in die Hand zu nehmen, um sie „mit ausgestrecktem Arm in vollkommener Ruhe“ vor sich zu halten. Vgl. William Forsythe, Towards the Diagnostic Gaze, Choreographic Objects, Albertinum Dresden, 2013. 94 Martin Seel, Aktive Passivität: Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt a.M. 2014.
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kalische Moment der Anwesenheit zusätzlich durch ein spirituelles Band zu transzendieren und ein neues Gefühl kollektiver Identität und Würde zu stimulieren. Die aktive Teilhabe von Frauen intensivierte dabei umso vehementer die starke Opposition gegen den Machthaber Mubarak, der als Vaterfigur das alte patriarchalische System verkörperte. 4.1.2 Stillstand als temporäre Gegenmacht Die Kontrolliertheit der Körper ließ eine durchaus dynamisch operierende Bewegungslosigkeit entstehen, die einen Anspruch demonstrierte und eine Art Androhung beinhaltete. Die stille Ruhe, in der die Protestierenden verharrten, gab ihnen eine machtvolle Position, von der aus eine Vielzahl weiterer Handlungsmöglichkeiten – eine Handlungsmacht im Sinne von Agency – aufschien. Macht ergab sich durch die Stillstellung von Bewegungen, die es Körpern durch den bildhaften Ausdruck trotzdem ermöglichte, Botschaften zu kommunizieren.95 Der kollektive Charakter der Gebärde verstärkte dabei die Behauptung einer Gegen-Macht, insofern sich Macht hier im Agambenschen Sinne als ein Vermögen des Nicht-Tuns offenbarte, als Macht, „mit einem Tun aufzuhören oder das Machen überhaupt stillzustellen.“96 Ein neues Verständnis von Macht offenbarte sich im Anschluss an Le Bon nicht mehr durch die Bedrohlichkeit einer unkontrollierten Wut der Massen, sondern durch eine kontrollierte Aktion, in der sich Langsamkeit, verharrendes Stocken und Aspekte eines ausdehnenden Stillstands als koordinierte Extension des Protestkörpers ergänzten. Gerade weil die offiziellen Medien und Politiker*innen die Widerstandsbewegung bewusst ignorierten, sich weigerten, die Aktionen dieser und anderer oppositioneller Gruppierungen auch nur zu erwähnen, konnte eine politische Praxis, die mit diesen Ausschlussmechanismen operierte, geradezu vorgeführt werden. Im Angesicht staatlicher Repression konnte das gemeinsame Versammeln, Teilhaben oder Beobachten der Aktion durch Passant*innen zugleich als anerkennende Beachtung der Protestbewegung und insofern als Akt des Widerstands erfahren werden. Das gemeinsame Zuschauen im öffentlichen Raum öffnete ein Fenster, einen geteilten Horizont, der Verbindungen zum kollektiven Trauma der ägyptischen Gesellschaft herstellte und einen Weg zu Heilung und Überleben wies. 4.2 Bedeutungsangebote choreografierten Stillstellens Beobachter*innen der Aktion wird es schwergefallen sein, in den stillen, ruhenden Positionen der Aktivist*innen etwas Aggressives zu entdecken. Im Gegenteil: Die Körper, die sich hier auch den staatlichen Gegner*innen zeigten und entgegenstellten, präsentierten sich in ihrer ganzen Verletzlichkeit. Für die Ordnungskräfte wäre es ein Leichtes gewesen, die Versammlung aufzulösen, die Aktivist*innen festzunehmen oder zu entfernen. Trotzdem die Demonstrant*innen es nicht vermieden, ihre sensible Verwundbarkeit auszustellen, bildeten sie keineswegs nur ein schwaches 95 Vgl. Butler, Haß spricht, S. 63. 96 Georges Didi-Huberman, „,Puissance de ne pas‘ ou la politique de lʼarrêt“, Vortrag im Rahmen der Konferenz „Ästhetik des Stillstands“ des Forschungsprojekts „Stillstand: Szenen der Stasis und Latenz“ im DFG-Schwerpunktprogramm 1688 „Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne“ am 29.01.2016 in Düsseldorf.
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Körperkollektiv. Die Formation des Protestchors entwickelte eine emergente körperliche Praxis, die die choreografische Ordnung des öffentlichen Raums veränderte und zugleich fordernd in Erscheinung trat. Wenngleich nicht alle Befürworter*innen automatisch an der Aktion teilnahmen, konnten Passant*innen ihre tatsächliche Realisation als mutig einstufen, da sie öffentlich stattfand. Der Stillstand wurde weniger als Angst denn als unterschwellige Kampfansage verstanden, die ambivalente Reaktionen auslöste. Während sich im Protestereignis – ungeachtet der Intentionen der Aktivist*innen – auch ganz andere als die geplanten Wirkungen ergeben konnten, trug die Stillstellung der Bewegungen als körperliche Selbst-Affirmation dazu bei, eine neue kollektive Identität der Protestierenden als freie Bürger*innen zu behaupten. Ebenso wurden geltende Machtverhältnisse aufgerufen, bewusst markiert und offensiv als Form politischen Stillstands ausgestellt.97 Berücksichtigt man zusätzlich die religiöse Konnotation der Protestaktion, bei der viele Teilnehmende mit verschränkten oder zusammengefalteten Händen in einer Art stillen Gebetspose verharrten, verortet sich die kollektive Darbietung scheinbar verletzlicher Körper wiederum neu. Anders als im europäischen Kontext entwickelte in der überwiegend islamisch geprägten, ägyptischen Öffentlichkeit das Zeigen des Körpers im öffentlichen Raum eine besondere politische Relevanz. Die Brisanz des Körperlichen schien insbesondere dort auf, wo sie anders in Erscheinung trat als man es nach geltenden Konventionen und gesellschaftlichen Regeln für sie vorsah.98 Die Körper der Demonstrant*innen wurden in den Protestaktionen zu politischen Werkzeugen, die Allianzen erzeugten und Gleichheit herstellten. Dabei konnten Bedeutungen generiert werden, die der geschlechtsspezifischen Körperpolitik einer sonst patriarchal dominierten Umgebung zuwiderliefen.99 Die kollektive Autorenschaft wurde dadurch betont, dass sich alle kaum bewegten oder sprachen und unter den Anwesenden insbesondere auch Frauen gleichberechtigt an den Aktionen teilnahmen.100 Unübersehbar verwiesen die aufgereihten Körper auf die Körperlichkeit sozialen und politischen Handelns. Damit wurden sie zu Agent*innen, die durch Verfahren der sinnlichen und sinnstiftenden Vermittlung Beziehungen zwischen Kontinuität, Stillstand und Erneuerung herzustellen vermochten. Die Aktionen des „Stillen Widerstands“ stellten die Situation einer latenten Ruhigstellung dar, in der für das Publikum durch den Moment der Irritation zur Disposi97
Zum kontroversen Zusammenhang politischen Stillstands in der islamischen Welt siehe auch Dan Diner, Versiegelte Zeit: Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin 2006. 98 Zur Diskussion von Privatheit und Öffentlichkeit in muslimisch geprägten Gesellschaften und einem anderen kulturellen Verständnis von Körpern im öffentlichen Raum siehe Ludwig Ammann, „Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation“, in: Göle, Nilüfer/Ammann, Ludwig (Hrsg.), Islam in Sicht: Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum, Bielefeld 2004, S. 69-117. 99 Vgl. Judith Butler, „Körperallianzen und die Politik der Straße“, in: Dies., Theorie der Versammlung, Berlin 2016, S. 91-132. 100 Zur besonderen Rolle der Frau in der ägyptischen Gesellschaft siehe Nora Amin, Migrating The Feminine, Berlin 2015; Maria Holt, Women, Islam, and Resistance in the Arab World, Boulder 2013.
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tion stand, inwiefern diese selbstgewählt oder als verordnet anzusehen war. Im diktatorischen Regime, das systematische Unterdrückung praktizierte, war die Wahrnehmung der Aktion mit Verboten, staatlicher Zensur, fehlender Meinungsfreiheit, organisierten Einschüchterungen und Folter konnotiert. Die stillgestellten Körper der Demonstrierenden potenzierten das Stereotyp einer erzwungenen Passivität und ließen im Moment der Bewegungslosigkeit die notwendigen Kräfte für diese Ruhigstellung spürbar werden. Unmittelbar verwiesen sie als Aggressor auf das MubarakRegime, das durch die Kontrolle des Sicherheitsapparats und ein System staatlicher Medien diskursive Formen der Kritik gewaltsam unterdrückte. Statt das Recht auf Versammlungsfreiheit zu garantieren, entschied die herrschende politische Führung in vorgegebener Weise über die „richtigen“ Diskurse und stellte diese als „,Zwangs‘Narrationen“101 selbst her. In einer solch repressiven Atmosphäre wurde die Visualisierung verordneter Ruhigstellung und die Darstellung erzwungenen Schweigens zu einem „Ort des möglichen Widerstands gegen solche diskursive Diskursregime und ihre normalisierenden Effekte […].“102 Wie sich dabei zeigte, konnten akustische Aspekte der Stille als Formen ausgestellten Schweigens die visuellen Phänomene des Stillstands noch intensivierten.
5. SCHWEIGEN Neben der weitgehenden Stillstellung körperlicher Bewegungen nutzen die Protestierenden anstelle des chorischen Ausdrucks rufender Stimmen die Kraft kollektiven Schweigens. Die Ästhetik des Schweigens, die in den wiederholten Aktionen des „Stillen Widerstands“ als Darstellungsverfahren des Protests gewählt wurde, schien zunächst in Opposition zur gewohnten Vielstimmigkeit des Chores als akustischer Opposition zu stehen. Das Schweigen der Gruppe setzte performativ geradezu eine Politik der Stimmlosigkeit um, die im deutlichen Kontrast zur Pluralität von Stimmen stand, mit denen man das Politische für gewöhnlich assoziiert. Da die Stimme als Erfahrungsraum des Protests wahrnehmbar fehlte, positionierte sich das Schweigen im Gegensatz zu anderen akustischen Phänomenen und metaphorischen Bedeutungen wie der „Stimme des Volkes“. Dennoch offenbarte auch das Ausbleiben der Rede einen politischen Zusammenhang, in dem sich Ausdrucksebenen verschoben und das Schweigen zu einer mehrdeutigen Denkfigur wurde.103 5.1 Die Sinnlichkeit kollektiven Schweigens In den Aktionen resultierte die Sinnlichkeit des Schweigens aus dem Verzicht stimmlicher Verlautbarungen. Schweigen konnte Teil einer Stille sein, wobei es fahrlässig wäre, es mit Geräuschlosigkeit gleichzusetzen. Die deutsche Kulturwissenschaftlerin 101 Butler, Haß spricht, S. 214. 102 Ebd. 103 Zu Bedeutung und Metaphorik stimmlicher Phänomene siehe Sabine Till, Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz. Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze, Bielefeld 2014.
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Aleida Assmann hat hervorgehoben, dass „mit dem Wort Schweigen andere Bedeutungsnuancen verbunden [sind] als mit dem Zustand geräuschloser Stille.“104 Assmann verweist gerade auf die Differenz zwischen Schweigen und Stille, wenn sie schreibt: „Schweigen und Ruhe entstehen durch das Aussetzen von Sprechen, Stille dagegen durch das Aussetzen von Klang, Ton, Musik und jeglichem Geräusch.“105 Der Sinnlichkeit des Schweigens kann nachgespürt werden, wenn man auf den nichtsprachlichen Aspekt der Stille horcht. Schweigen betrifft insofern nur einen Teilaspekt der Stille, die als Ausbleiben aller akustischen Signale viel weitreichender wirkt als die alleinige Absenz verbaler Artikulationen. An diesem Punkt wird deutlich, dass die Protestierenden neben dem Sprechen auch auf andere Geräusche verzichteten und sich ihr körperlicher Stillstand, der visuell wahrgenommen wurde, auch auf eine auditive Stille ausweitete. Was besondere Irritationen hervorrief, war dabei die Diskrepanz zwischen den sichtbaren Körpern im Stadtraum und der zeitlichen Ausdehnung ihrer erzeugten Stille. Durch das Schweigen der Aktivist*innen fiel Sprache als Erklärungssystem weg, während der Stille dagegen ein ungewohnt großer Raum gegeben wurde, der sich durch die Ruhe der Körper weiter vergrößerte. Es entstand eine Situation, die unbefriedigend wirkte, da der dargebotenen Bildlichkeit des kollektiven Körperarrangements keine semantische Erläuterung beigestellt war, die einen Zusammenhang hergestellt oder eindeutige Bedeutungen unterbreitet hätte. 5.2 Bedeutungen chorischer Sprachlosigkeit Das Schweigen „Stillen Widerstands“ vermochte gleichermaßen Faszination wie Verwunderung auszulösen. Die Irritation darüber, was die Aktivist*innen mit ihrem Handeln bewirken wollten, erleichterte es, ihren Protest als symbolische Handlung aufzufassen. Durch eigene Interpretationsleistungen war es möglich, den Aktionen in irgendeiner Weise Sinn zuzusprechen oder eine Bedeutung zu geben. Im Moment zwischen Aktion und Reaktion – dem Augenblick zwischen Handlungen des Protestchors und Reaktionen von Beobachter*innen – entstand eine dramatische Pause. Dadurch, dass das Schweigen und die evozierte Stille der Aktivist*innen besonders in Erscheinung traten, kann vermutet werden, dass das Publikum umso mehr dazu tendierte, das Schweigen als bedeutungsvoll anzusehen. Neben emotionalen Wirkungen, die bei Zuschauer*innen auch zu Ablehnung führen konnten, weiteten sich durch den Verzicht auf sprachliche Äußerungen die Interpretationsmöglichkeiten der chorischen Form. Die Frage, was die Aktivist*innen hatte verstummen lassen sowie der ausgedehnte Bedeutungshorizont des Schweigens selbst, stellten so eine Verbindung zu möglichen Interpretationen des „Stillen Widerstands“ her.
104 Aleida Assmann, „Formen des Schweigens“, in: Dies./Assmann, Jan (Hrsg.), Schweigen. Archäologie der literarischen Kommunikation XI, München 2013, S. 51-68, S. 65. 105 Ebd., S. 66.
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5.2.1 Schweigen als Sichtbarmachung Das Schweigen der Protestierenden sagte mehr als tausend Worte.106 Nicht nur weil einige von ihnen in einer Art Gebetspose die Hände verschränkten, ergaben sich religiöse Konnotationen der Aktion, die dem Schweigen die Bedeutung einer „Offenbarung“ verliehen. Dort, wo eine politische Lösung der Krise nicht mehr glaubwürdig schien, eröffnete der Verweis auf die religiösen Fundamente der ägyptischen Gesellschaft einen möglichen Ausweg.107 Der Rückzug in den Bereich des Religiösen konnte jedoch auch erschrecken. Schien die Abwesenheit realpolitischer Lösungen bei jüngeren Menschen die Suche nach religiöser Abhilfe noch zu verstärken? Der Verzicht auf sprachliche Äußerungen konnte ebenso als repressives Schweigen verstanden werden. Judith Butler hat auf die Gewalt hingewiesen, die beim Akt des Verstummens wirkt. Für Butler ist Verstummen „der performative Effekt einer bestimmten Form des Sprechens, einer Anrede, die sich zu dem Ziel an ihren Adressaten richtet, denjenigen, an den sich der Sprechakt richtet, der Autorschaft für sein Sprechen zu berauben.“108
Durch die deutliche Darstellung dieses Verstummens prangerte die Aktion offensiv das Mundtot-Machen von Gegenstimmen an. Sie thematisierte damit ebenso Formen der Zensur wie unterschwellige Zugangsbeschränkungen, die besonders in der patriarchal organisierten ägyptischen Gesellschaft bestimmte Gruppen ausschloss, etwa indem Frauen der Zugang zu Bildung systematisch erschwert wurde. Während repressive Schweigegebote einerseits relevante Mittel des Machterhalts sind, gibt es andererseits Formen des Schweigens, die konstruktiv der Erneuerung einer Gesellschaft dienen können.109 Schweigen kann daher ambivalente Reaktionen hervorrufen. Diese durchaus zwiespältigen und missverständlichen Formen des Schweigens, beispielsweise in Form scherzhaften oder verletzenden Schweigens, konnten daher widersprüchliche Interpretationen hervorbringen. Für die aufgeworfene Frage, warum die Protestierenden bei den Aktionen nicht sprachen, konnte es banale Gründe geben. Weniger als konkrete Antwort darauf, war die durch das Schweigen ausgelöste Verunsicherung von zentralem Interesse, da sie die Rezipient*innen herausforderte und aktivierte. Der Protestchor des „Stillen Widerstands“ produzierte 106 Vgl. dazu Richard Wagners Idee des ,tönenden Schweigens‘, zu dem er schreibt: „In Wahrheit ist die Größe des Dichters am meisten danach zu ermessen, was er verschweigt, um uns das Unaussprechliche selbst schweigend uns zu sagen zu lassen; der Musiker ist es nun, der dieses Verschwiegene zum hellen Ertönen bringt, und die untrügliche Form seines laut klingenden Schweigens ist die unendliche Melodie.“ Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, Leipzig 1887, Bd. 7, S. 130. 107 Eine intensivere Auseinandersetzung mit den religiösen Tendenzen der Revolution kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Nur sei darauf verwiesen, dass das Erstarken religiöser, extremistischer und zum Teil fundamentalistischer Strömungen auch in Ägypten zu beobachten war. 108 Butler, Haß spricht, S. 215. 109 Zur integrativen Wirkung strategischer Dethematisierung siehe Christian Meier, Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns: Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010.
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daher ein resonierendes Schweigen, das beim Publikum der Aktion unmittelbare Reaktionen stimulierte. 5.2.2 Schweigen als Widerstand In den Aktionen „Stillen Widerstands“ stellte die gemeinsame Verschwiegenheit einen Zugang zu anderen her, konstituierte den Protestchor und wirkte daher gruppenbildend. Das Schweigen stellte Zugehörigkeit nicht nur her, sondern aus und wurde dabei zu einem Signal für die Übereinstimmung der Aktivist*innen. Das Schweigen ließ die Protestierenden als geschlossene Gemeinschaft in Erscheinung treten und produzierte zugleich einen geheimnisvollen Raum, in dem das Schweigen nach außen eine Folge einer vorhandenen, jedoch undurchsichtigen inneren Kommunikation war. Neben der demonstrativen Darstellung einer starken Gruppe erschien das Schweigen durch den Entzug aus der strukturierten Ordnung zugleich als Störung. Die kohärente Wort- und Bewegungslosigkeit der Aktivist*innen kam dadurch der Verweigerung eines Zugriffs durch andere gleich. 5.2.3 Schweigen als Appell Wenngleich sich auf die Frage, an wen sich das Schweigen und die Stille richteten, keine konkrete Antwort finden lässt, ist offensichtlich, dass die Aktionen „Stillen Widerstands“ überaus publikumsorientiert waren. Sie stellten mit den aufgeführten Formen des Schweigens zugleich den Druck aus, der den Protestierenden hier förmlich den Mund verschloss. Anstatt eine stille Gefolgschaft zu reproduzieren, ging es den Aktivist*innen um die anschauliche Darstellung systematischer Unterdrückung. Konkret wollten sie aufzeigen, wie tief einverleibt unterbewusste Verbote waren und wie der Körper ohne größeren Widerstand disziplinierenden Herrschaftsstrukturen folgte. Der visualisierte Stillstand und das exponierte Schweigen thematisierten den Umgang und die Aufarbeitung von Unrecht.110 Insofern waren die Protestierenden in keiner Weise an der Erhaltung des Status quo interessiert, sondern drängten durch eine Aktivierung der Zuschauenden auf eine Veränderung der Situation. Emanzipatorisch ausgedeutet konnten die chorisch hervorgebrachten Formen kollektiven Stillstands und Schweigens folglich als eine Aufforderung oder ein Appell verstanden werden, „über den Horizont des Kommunizierbaren in neue Räume der Artikulation vorzustoßen […].“111 Die versammelten Körper des „Stillen Widerstands“ offenbarten Allianzen, die keinen eindeutigen, einheitlichen Willen des Volkes präsentierten, sondern voneinander getrennte Körper und Nichthandeln. Das gemeinsame Agieren der Aktivist*innen richtete sich gegen etablierte Herrschaftsstrukturen des Regimes. Die körperlichen Handlungen verrieten trotz ihrer scheinbaren Passivität den Anspruch, den politischen Raum und die Sphäre des Öffentlichen neu zu beleben. Mehr noch: Mit den Verfahren des Chorischen drängten sie nicht allein darauf, die Weise ihres Erscheinens zu verändern, sondern die Wirkungsweise der Sphäre des Erscheinens selbst. 110 Siehe auch Leo, Annette/Reif-Spirek, Peter (Hrsg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR Antifaschismus, Berlin 2001. 111 Jan Assmann, „Einführung“, in: Ders./Assmann, Aleida (Hrsg.), Schweigen. Archäologie der literarischen Kommunikation XI, München 2013, S. 9-25, S. 19.
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Hier deuteten sich bereits jene Destabilisierungen an, die im Moment der Revolution wenige Monate später virulent wurden, als nicht mehr sicher war, was als politischer Raum wirksam war.112 Abschließend soll im letzten Kapitel daher geklärt werden, welche Widerstandspraxis die Ästhetik des Stillstand und Schweigens offenbarte und inwiefern die Aktionen durch Etablierung eigener Formen der Soziabilität – etwa dadurch, dass sie sich bemühten, Gleichheit zu verkörpern – eine alternative Gesellschaftsordnung inszenierten. Die Frage dieser Neubestimmung stellte sich gerade in Ägypten, wo sich die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen noch deutlicher an eine den Männern vorbehaltene Sphäre der Politik und einen den Frauen überlassenen Bereich der familiären und häuslichen Reproduktion knüpfte. Konnte eine soziale Form des Widerstands unter diesen Umständen gerade damit beginnen, Gleichheitsgrundsätze zu inkorporieren? Während sich politische Bewegungen bisher vielfach in Opposition zu bestehenden gesellschaftlichen Themen entwarfen, veranschaulicht das nächste Beispiel, wie sich Interessengemeinschaften heute nicht mehr über eine kollektive Identität konstituieren müssen, sondern Solidaritätsbeziehungen über spezifische chorische Protestverfahren performativ herstellen. Mit der Occupy-Bewegung rückt zuletzt ein durchaus prominentes Protestbeispiel in den Fokus, das ausgehend vom nordamerikanischen Kontinent auch aufgrund seiner starken medialen Präsenz zu einem globalen Protestphänomen wurde und Einblicke in transnationale Bündnisformen gibt. Nachdem sich in den letzten beiden Beispielen das Hauptaugenmerk auf Stimmen und Körper richtete, ermöglicht die Occupy-Bewegung nunmehr räumliche Aspekte des Besetzens und die Installation eigener Ordnungsmodelle zu fokussieren. Dabei repräsentiert das Beispiel zunächst, wie Menschen in demokratischen Staaten herkömmliche Politik durch eigene Protestaktionen ergänzen, indem sie ihr Versammlungsrecht wahrnehmen und zur Disposition stellen, was als richtige Politik gilt oder wie das Politische revitalisiert werden kann. Statt Protesthandlungen dazu zu nutzen, um diese Ideen als konkrete Vorschläge zu entäußern, steht die OccupyBewegung für eine durchaus diffuse Menge pluraler Akteur*innen, die überaus heterogene Menschen mit zum Teil deutlich divergierenden und uneindeutigen Zielen vereinte. Weniger eindeutige politische Botschaften, die alle Meinungen abgebildet hätten, sondern die Art und Weise des gemeinsamen Handelns wurden zur politischen Aussage der Bewegung. Gerade deshalb eignet sich das Beispiel, um zu zeigen, wie bei zeitgenössischen Protestbewegungen das Benennen von Defiziten, die Ablehnung bereits bestehender Positionen, der Versuch, sich selbst als bisher marginalisierte Gruppen zu ermächtigen oder die Einforderung von Anerkennung nicht mehr im Vordergrund stehen. Während die Aktivist*innen auf Demonstrationsmärschen durch New York City in Sprechchören Parolen wie „All day, all week, Occupy Wall Street!“, „We are, the 99 percent!“ oder „Whose streets? Our streets!“ skandierten, wurde speziell in Versammlungsforen auf chorische Abstimmungs- und Kommunikationsverfahren zurückgegriffen. In den Debatten wurde deutlich, dass die Bewegung nichts Einheitliches darstellte, das unabhängig von konkreten Aktionen und der spezifischen Organisation der Besetzung hätte definiert werden können. Neben anfänglich überwiegend symbolischen Aktionen verschob sich der Akzent im Verlauf der Okkupation auf die 112 Vgl. Butler, Theorie der Versammlung, S. 107.
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sehr praktisch orientierte Beantwortung der Frage, wie die Bewegung die unterschiedlichen Dynamiken ihrer überaus heterogenen Akteur*innen organisieren und zugleich nutzen könne. In Differenz zu den affirmativen Chor-Gruppen in Stuttgart dient Occupy dazu, den zu anderen politischen Konsequenzen führenden Einsatz des Chorischen zu illustrieren. Zur Erinnerung: Das Modell des Chorischen wurde so angedacht, dass es die Identitätspolitik des Chores zugunsten selbstregulativer Prozesse der Selbstbefragung auflöst, indem es die Prozesshaftigkeit interner Abstimmungsverfahren innerhalb des Chores fokussiert, nicht das Produkt einer anvisierten Chor-Form. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie innerhalb der Occupy-Bewegung gerade chorische Protestverfahren zum Motor interner Selbstbefragungen wurden. Da die Bewegung nicht darauf angelegt war, einzigartige Merkmale auszubilden, gerieten interne Interaktionsprozesse in den Blick, die sich Verfahren politischer Repräsentation widersetzten oder diese offen thematisierten. Neben Aspekten der Selbstthematisierung rückten chorische Kommunikationsweisen und der Vollzug chorischer Handlungen als spezifische Eigenschaften des Protestierens in den Fokus, die Fremdbestimmungen normativer Identitätsformung ablehnten und diese Ablehnung zugleich räumlich vermittelten. Zentral ging es um die Frage, wie neue Möglichkeiten des Zusammenseins und bestimmte Weisen anderen Denkens eine Welt hervorbringen können, deren Verbesserung sich mit den etablierten Standards nicht verwirklichen ließ. Neben polarisierenden Aktionsschwerpunkten zeigte vor allem die Suche nach dem Machbaren, wie die kontinuierliche Selbstbefragung „eine Politik der Zusammengehörigkeit anstatt einer Politik der Identität, eine Politik des korrelierten Entstehens anstatt getrennter Interessenbereiche“113 konstituierte. Am Beispiel der Occupy-Bewegung soll daher gezeigt werden, unter welchen Bedingungen sich der bisher bereits angedeutete Wandel hin zu horizontalen, antiautoritären und postidentitären Protestverfahren vollzieht.
113 Massumi, Ontomacht, S. 41.
VI Occupy Wall Street
„Whatever imprint the movement leaves (or fails to leave) on national life, this spectacular uprising, within a bare few months, accomplished one of the prime objectives of any social movement: It upturned millions of people’s sense of the possible.“1
Mit ausdrücklichem Bezug zur Besetzung des Tahrir-Platzes in Ägypten erregte die Inbesitznahme des Zuccotti Parks in New York City im September 2011 große Aufmerksamkeit. Aktivist*innen errichteten dort unter dem Claim Occupy Wall Street eine Zeltstadt und nannten den Platz in seinen früheren Namen Liberty Plaza Park um. Nach dem „Arabischen Frühling“, Protestserien in Spanien und Griechenland dehnte sich die Occupy-Bewegung als „größte Serie von Massenprotesten seit 1968“2 über weite Teile Nordamerikas aus. Was am 17. September 2011 in New York begann, breitete sich schnell in andere US-amerikanische Städte aus und wurde von Befürworter*innen daher als „der bedeutendste radikale Aufbruch in Amerika seit den 1960er Jahren“3 und als „Wiedergeburt einer moralischen Haltung“4 beschrieben. Die Aufregung, die die schlagartige Inbesitznahme öffentlichen Raumes auslöste, war so groß, weil der Ort der Proteste überaus symbolisch war. In unmittelbarer Nähe des Zuccotti Parks befinden sich die Bank of New York Mellon, das Bankers Trust Company Building, der Trump Tower, die New York Stock Exchange, das One Chase Manhattan Plaza und die Federal Reserve Bank. Indem sich die Demonstrant*innen inmitten des New Yorker Finanzviertels zusammenfanden, verwandelte ihre Besetzung gerade dort „einige der teuersten Grundstücke der Welt in einen öffentlichen Ort des Protests.“5 Die Aktivist*innen stellten die Macht der Banken aus-
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Todd Gitlin, Occupy Nation. The Roots, the Spirit, and the Promise of Occupy Wall Street, New York 2012, S. 51. Judith Butler im Gespräch mit Kyle Bella, „Verbündete Körper: Judith Butler über Occupy und die SlutWalk-Bewegungen“, in: Infogruppe Bankrott (Hrsg.), Occupy Anarchy! Libertäre Interventionen in eine neue Bewegung, Münster 2012, S. 86-93, S. 92. Bureau of Public Secrets, „Die USA erwachen! Eine Analyse der ,Occupy Wall Street‘Bewegung“, in: ebd., S. 37-43, S. 37. Mike Davis, „10 Gebote für die Revolte“, in: ebd., S. 62-71, S. 63. Ebd.
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gerechnet an der „Pforte zur wichtigsten Börse der Welt“6 offensiv in Frage. Damit trugen sie ihren Protest im Zentrum des globalen Finanzkapitalismus vor – jenem Ort, an dem die globale Finanzkrise mit einem Immobiliencrash begonnen hatte.7 Initiiert durch die konsumkritische Zeitschrift Adbusters wurde die Besetzung der Wall Street in New York seit Juli 2011 vorbereitet.8 Bereits am 13. Juli 2011 wird in der Printausgabe des Magazins für den 17. September 2011 zur Besetzung des Zuccotti Parks aufgerufen. Dort ist ein Poster abgebildet, das in sozialen Netzwerken schnell weiter verbreitet wird.9 Unter dem Bild, das die Bronzestatue des Charging Bull und eine auf seinem Rücken tanzende Ballerina zeigt, heißt es: „#OCCUPYWALLSTREET. Are you ready for a Tahrir moment? On Sept 17, flood into lower Manhattan, set up tents, kitchens, peaceful barricades and occupy Wall Street.“10
In ihrem Aufruf appellieren die Initiator*innen an das individuelle Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln, und fordern dazu auf, den öffentlichen Platz zu besetzen, um dort alternative Lösungen für die soziale Krise zu diskutieren. Der Aufruf verdeutlicht, dass die Bewegung nicht spontan auftauchte, sondern im Internet vorbereitet und geplant wurde. So werden beispielsweise am 9. Juli 2011 von der Adbusters Media Foundation bereits der Blog occupywallstreet.org eingerichtet und am 14. Juli 2011 die Domain occupywallst.org anonym registriert. Ab dem 2. August 2011 finden sich wöchentlich Freiwillige zu einer „General Assembly“ zusammen, in der die Besetzung konsensbasiert vorbereitet wird. Gegen Ende August 2011 erklärt sich die Bewegung Anonymous bereit, die Aktion zu unterstützen. Durch die aktive Einbindung Neuer Medien erhöhen sich Reaktionsgeschwindigkeit und Dynamik der Bewegung. Der Einsatz internetbasierter Technologien leistet bei der erfolgreichen Mobilisierung weiterer Aktivist*innen einen überaus wichtigen Beitrag. Die Entwicklung von Occupy Wall Street belegt, wie sich in zeitgenössi6 7
Kraushaar, Der Aufruhr der Ausgebildeten, S. 11. Siehe dazu eine Einschätzung des transnational vernetzten, linksradikalen Think-Tanks „Infogruppe Bankrott“: „Politisch linker Protest in dem Land, in dem Liberalismus als Linksextremismus und Krankenversicherungen als kommunistisch angesehen gelten – das ist, auch in einem überwältigenden globalen Protestzyklus, beachtenswert.“ Infogruppe Bankrott, „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Occupy Anarchy!, S. 7-27, S. 8. 8 Die Zeitschrift Adbusters wurde 1989 als gemeinnützige Organisation von Kalle Lasn und Bill Schmalz in Vancouver gegründet. Bis heute hat Adbusters zahlreiche internationale Kampagnen gestartet, darunter der „Kauffreie Tag“ („Buy Nothing Day“), die „TV-freie Woche“ („TV Turnoff Week“). Adbusters bedient sich der aktivistischen Kunstform des „Culture Jamming“, die als Guerrilla-Kommunikation vieler konsumkritischer Bewegungen bekannt ist. Beim „Culture Jamming“ werden Strategien und Formen herkömmlicher Produktwerbung übernommen, karikiert und teils ins Absurde geführt. Siehe dazu auch Thomas Ballhausen, Urban Hacking: Cultural Jamming Strategies In The Risky Spaces Of Modernity, Berlin 2010. 9 Lars Geiges, Occupy in Deutschland: Die Protestbewegung und ihre Akteure, Bielefeld 2014, 79f. 10 Aufruf im Adbusters Magazin vom 13.07.2011. Vgl. auch Peter Mörtenböck/Helge Mooshammer, Occupy: Räume des Protests, Bielefeld 2012, S. 11.
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schen Protestbewegungen analoge und digitale Proteststrategien immer mehr verschränken: Öffentlicher Protest in Form von Besetzungen, Märschen und Demonstrationen wird zunehmend durch eigene Medien dokumentiert und gestreut. Proteste werden so „immer öfter von Internetseiten begleitet; zu jedem Ereignis gibt es unterschiedliche Homepages, die die Ereignisse bündeln, zusammenfassen und repräsentieren.“11 Parallel zu einer Vielzahl weiterer Internetseiten, die später die tatsächliche Besetzung des Zuccotti Parks begleiten,12 wird die Mission von occupywallstreet.net ausdrücklich darauf fixiert „to inspire people to turn the web into a network that fills the streets.“13 Nach Yotam Marom, einem Organisator der Occupy-Bewegung, eröffnet die tatsächliche Besetzungsaktion des Zuccotti Parks durch physisch ko-präsente Subjekte dann zusätzlich „a kind of space nobody knew existed.“14 Die Occupy-Bewegung erregt zu Beginn der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts umso größere Aufmerksamkeit vor dem Hintergrund eines deutlich schwindenden politischen Engagements in den Vereinigten Staaten von Amerika.15 Protestbewegungen hatten sich seit der Schwarzen-, Bürger*innenrechts- oder Antikriegsbewegung nicht mehr so kraftvoll gezeigt.16 Einen Grund für die fehlende kulturelle Opposition sieht der US-amerikanische Soziologe Todd Gitlin darin, dass bereits die gesamte Konsumkultur in Form von Tattoos und anderen kaufbaren Symbolen der Rebellion in gewisser vorgab, oppositionell und alternativ zu sein.17 Die Occupy-Bewegung zeigte, was es einerseits benötigte, um die Dynamik einer sozialen Bewegung zu entfachen und einem Teil der Gesellschaft eine Art neuen amerikanischen Traum zu geben. Viele faszinierte andererseits, dass sich die OccupyAktivist*innen – statt in die Bürotürme der Banken zu stürmen – auf den Straßen, die sie besetzten, mit den Obdachlosen solidarisierten.18 Die Ziele der Bewegung waren überwiegend von dem Anliegen bestimmt, zentrale Widersprüche politischer Herrschaft aufzudecken, nämlich jene Täuschung, der zufolge „die herrschende Elite eine Demokratie führen würde.“19 Um gegen die groteske Ungleichheit im amerikani11 Winter, Widerstand im Netz, S. 63. 12 Zu den prominentesten Internetseiten gehörten: http://www.occupytogether.org/; http://ti ny.cc/generalassembly; http://nycga.net; http://occupywallst.org/; http://www.peoplesas semblies.org/; (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 13 Siehe „About Street Met“, abrufbar unter: http://occupywallstreet.net/about-streetnet. (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 14 Yotam Marom, „Why Now? What’s Next? Naomi Klein and Yotam Marom in Conversation About Occupy Wall Street“, in: The Nation vom 09.01.2012. 15 Zur Komplexität politischer Meinungsbildung und der Transformation politischen Engagements siehe u.a. Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 2015; Adam Seth Levine, American Insecurity: Why our Economic Fears Lead to Political Inaction, Princeton 2015; Howard Ramos (Hrsg.), Protest and Politics: The Promise of Social Movement Societies, Vancouver 2015. 16 Vgl. Marco Giugni, Social Protest and Policy Change: Ecology, Antinuclear, and Peace Movements in Comparative Perspective, Oxford 2004. 17 Vgl. Gitlin, Occupy Nation, S. xiif. 18 Vgl. Davis, „10 Gebote für die Revolte“, S. 62. 19 David Graeber, „Die anarchistischen Wurzeln von Occupy Wall Street“, in: Infogruppe Bankrott (Hrsg.), Occupy Anarchy!, S. 28-36, S. 35.
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schen Alltag vorzugehen, sollte die Integration aller Beteiligten von Anfang an ein wesentlicher Teil der Lösung sein. Als egalitäres Experiment ohne elitäre Einflüsse wollte Occupy unterschiedlichste Menschen wieder zusammenbringen.20 Medienwirksam inszenierte die Bewegung einen besonderen „Spirit“, der in den Protestaktionen als Aufbruch erfahren werden konnte. Der linke Intellektuelle Noam Chomsky brachte das besondere Temperament der Occupy-Bewegung während einer Kundgebung von Occupy Boston am 22. Oktober 2011 auf dem Dewry Square wie folgt auf den Punkt: „Iʼve never seen anything like the Occupy movement in scale and character, here and worldwide. The Occupy outposts are trying to create cooperative communities that just might be the basis for the kinds of lasting organizations necessary to overcome the barriers ahead and the backlash thatʼs already coming.“21
Die Proteste schienen eine Bewegung zum Erscheinen zu bringen, die überaus aufmerksam, ernst und selbstreflexiv ihr eigenes Handeln beobachtete.22 Noch keiner festen institutionalisierten Form folgend, dafür innovativ, offen und von der festen Überzeugung bestimmt, dass sich etwas ändern müsse, versprühten die Raumaneignungen der Protestierenden eine Energie, die sich deutlich von bisherigen Protestaktionen abhob. Mark Bray, beteiligter Aktivist der „Press and Direct Action Working Group“ von Occupy Wall Street, verdeutlichte diese Differenz, indem er schrieb: „Usually at marches you see all the various socialist parties and factions who are handing out their newspapers, etcetera, and this was just people who were angry, marching with unifying slogans that many can get behind. There was a great feeling of building momentum, of solidarity, and defiance. It was just a great vibe.“23
Was viele Menschen so faszinierte, war das anfängliche Gefühl, dass diese Bewegung wirklich etwas in Gang zu setzen vermochte. An diese fühlbare Potenzialität politischen Wandels, die mit Begriffen wie vibe oder momentum beschrieben wurde, knüpften sich auf Seite der Befürworter*innen Sehnsüchte nach einem Wiedererwachen der politischen Linken in den USA. Auf der anderen Seite diskreditierten Gegner*innen die Aktivist*innen, indem sie in den amerikanischen Medien diskutierten, ob Occupy eine linke Verschwörung sei.24 Nachweislich war die Occupy-Bewegung 20 Die Protestierenden wurden als überaus heterogen beschrieben. Zwar überwiegend dem linken politischen Spektrum zugeordnet, vereinten die Aktionen eine enorme Bandbreite unterschiedlicher sozialer Herkünfte. Gitlin relativierte, dass „African-Americans and Latinos and other racial minorities were underrepresented.“ Gitlin, Occupy Nation, S. 67. 21 Noam Chomsky, Making the Future. Occupations, Interventions, Empire and Resistance, London 2012, S. 301. 22 Siehe Gitlin, Occupy Nation, S. 64f: „There was sweetness and affection and gaiety along with exhaustion, but the premium style was earnest. The occupiers could be terribly earnest, endlessly debating the rules of correct democratic process […].“ 23 Mark Bray, zit. nach ebd., S. 63. 24 Vgl. Fox News Channel, „,Occupy Wall Street‘: Spontaneous Uprising or Far-Left Wing Conspiracy?“ vom 28.09.2011.
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von der Philosophie des Anarchismus angetrieben,25 durch situationistische Theorien beeinflusst 26 sowie durch andere Massenbewegungen in Argentinien, Tunesien, Ägypten, Griechenland und Spanien inspiriert. Die Aufmerksamkeit für die Bewegung vergrößerte sich, umso mehr die OccupyAktivist*innen in der Lage waren, heftige Gegenreaktionen konservativer Kreise oder der Polizei zu provozieren.27 Gerade die den Protestierenden entgegengebrachte Aggressivität staatlicher Gewalt führte zu solidarisierenden Reaktionen. Durch die konfrontative Manifestation des politischen Antagonismus vergrößerte sich der Zuspruch von außen und sorgte auch im Inneren der Bewegung für größeren Zusammenhalt.28 Die Besonderheit dieses in mehrerer Hinsicht doppelseitigen Wirkens hat der Aktivist Yotam Marom mit dem Begriff des „dual-power movement“ beschrieben. Seiner Meinung nach war Occupy nicht nur eine Protestbewegung gegen etwas, sondern auch „an attempt to build something in its place.“29 Weiter äußerte er: „It is potentially a very early version of what I would call a dual-power movement, which is a movement that’s – on the one hand – trying to form the values and institutions that we want to see in a free society, while at the same time creating the space for that world by resisting and dismantling the institutions that keep us from having it.“30
Was Marom als „duale Kraft“ oder „doppeltes Vermögen“ beschreibt, verbindet einige grundlegende Stränge zur Widerständigkeit des Chorischen in dieser Arbeit. Marom betont, dass es zum einen um den Versuch ging, die Werte und Institutionen zu bilden, die in einer freien Gesellschaft gewünscht werden. Zum anderen fügt er an, müsse gleichsam der Raum für diese Welt geschaffen werden, indem jenen bestehenden Institutionen widerstanden wird, die alternative Lebenswirklichkeiten erschwerten oder verhinderten. Maroms Appell, vorhandene Institutionen zu demontieren, leitet den Schwerpunkt dieses Kapitels ein, das sich ausdrücklich den räumlichen Bezügen chorischer Protestverfahren zuwendet. Wo immer Protestierende chorische Verfahren anwenden, um spezifische Wirkungen zu entwickeln oder interne Gruppenprozesse zu navigieren, rücken Verfahren der räumlichen Organisation in den Fokus. Unweigerlich schließen sich Fragen nach räumlichen Darstellungs- und Ausdrucksformen der Pro25 Vgl. dazu auch Mark Bray, Translating Anarchy: The Anarchism Of Occupy Wall Street, Winchester u.a. 2013; Jeff Sharlet, „Inside Occupy Wall Street. How a Bunch of Anarchists and Radicals with Nothing but Sleeping Bags Launched a Nationwide Movement“, in: Rolling Stone vom 10.11.2011. 26 Die Herausgeber von Adbusters bezogen sich eindeutig auf die situationistische Bewegung, indem sie sowohl in ihrem Magazin als auch auf ihrer Website durch Verwendung von Zitaten zahlreiche Bezüge zu Guy Debords Gesellschaft des Spektakels herstellten. 27 Augenzeugenvideos der Pfeffer-Spray-Attacke von Officer Anthony Bologna am 24.09.2011 auf dem Union Square oder von dem Marsch von Aktivist*innen über die Brooklyn Bridge am 01.10.2011 erreichten auf YouTube hohe Klickzahlen, wurden tausendfach geteilt und heizten die Diskussion über die Ereignisse weiter an. 28 Vgl. Mark Bray, zit. nach Gitlin, Occupy Nation, S. 63. 29 Yotam Marom, „Why now? What’s next?“. 30 Ebd.
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teste an. Maroms Beschreibung ruft das kritische Widerstandspotenzial des Chorischen in Erinnerung, das im Anschluss an Foucault und Butler als eine Aussetzung des Urteilens dargelegt worden ist. Das Potenzial des Widerstands wird dabei nicht als Gegen-Verhalten verstanden, sondern als konstruktive Praxis, die eine gewisse Art des Fragens inszeniert, die sich „als zentral für den Vollzug der Kritik selbst erweisen wird.“31 Mit dieser Institutionskritik verbindet sich schließlich auch eine Kritik, deren Hauptaufgabe nicht darin besteht „zu bewerten, ob ihre Gegenstände – gesellschaftliche Bedingungen, Praktiken, Wissensformen, Macht und Diskurs – gut oder schlecht sind“, sondern die „das System der Bewertung selbst herausarbeitet.“32 Das aktuelle Kapitel fokussiert die Räumlichkeit chorischen Protests und insbesondere die Aufführung chorischer Sprech- und Bewegungsformationen als eine widerständige Praxis der Raumaneignung, in der mit dem Anvisieren neuer sozialer Zusammensetzungen schließlich die Möglichkeit einer Re-Komposition sozialer Organisationsformen aufscheint. Untersucht wird, welche strategische Rolle chorische Verfahren bei der Beschlagnahmung der Wall Street gespielt haben. Dazu sollen Szenen chorischen Protests lokalisiert werden, die auf den Zusammenhang von Ort, Menschen und Handlung verweisen und es dadurch ermöglichen, intensiver die räumliche Organisation der Protesthandlungen zu analysieren. Das Chorische trägt als raumanalytische Instanz auch dazu bei, die sich an den Prozess der Besetzung anschließenden Raumvorstellungen zu durchdringen. Es wird angenommen, dass die aktivistische Intervention und Besetzung öffentlichen Raumes darauf drängte, seine vorgesehene Verwendung durch eine entsprechend andere Nutzung zu transformieren, bei der unterschiedliche Raumkonzepte offenbar wurden, die sich mit den Motivationen und politischen Anliegen der Protestierenden verbanden. Indem das Augenmerk auf chorische Verfahren des Protestierens gelegt wird, kann die Atmosphäre der Belagerung in den Occupy-Camps in den Blick genommen werden und stärker das Verhältnis zwischen physikalischem und sozialem Raum ins Zentrum rücken. Die Vermutung liegt nahe, dass das Chorische als öffentlichkeitswirksame Taktik einen entscheidenden Anteil an der kontinuierlichen Besetzung des urbanen Raumes hatte. Wie es scheint, konnten chorische Verfahren die diversen, zum Teil gegenläufigen Meinungen der Protestierenden produktiv kanalisieren, um diese nicht zu neutralisieren, sondern Darstellungsformen des Protests zu verstärken und deren Wahrnehmung zu intensivieren. Offensichtlich gelang es der Protestbewegung einerseits, ihre Öffentlichkeitsarbeit mit raumgreifenden Proteststrategien zu verbinden, um erfolgreich wahrgenommen zu werden. Andererseits schien die Art und Weise, wie sich die Protestierenden den Raum konkret aneigneten zugleich gegen eine Praxis der Medien anzukämpfen, die immer nach dem spektakulärsten Bild suchte. Im Folgenden soll untersucht werden, an welchen konkreten Raum-Praktiken sich der postidentitäre Charakter der Occupy-Bewegung nachvollziehen lässt. Statt aus einer vorhandenen Identität auszubrechen, um sich in einem Akt der Emanzipation von ihrer Fremdbestimmung zu befreien, befragt das Postidentitäre die Verknüpfung politischer Anliegen an das Konzept der Identität. Dabei geht es nicht darum, ,Identität‘ generell zu negieren oder abzulehnen, sondern um die bewusste und selbst31 Butler, „Was ist Kritik?“, S. 250. 32 Ebd., S. 252.
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reflexive Thematisierung von Subjektivierungsweisen in der politischen Auseinandersetzung. Im Zentrum dieses Kapitels steht also die Frage, wie die räumliche Materialität des Chorischen angewandt wurde, um Protesträume zu erzeugen, die weniger auf die Sichtbarkeit des Erscheinens zielten, als dazu die Organisation des öffentlichen Raumes selbst in den Blick zu nehmen und als politisches Handeln zu gestalten. Wie es scheint, wurde das Chorische selbst zu einer Kraft, die im Stande war, den urbanen Raum durch neue Körper- und Hörräume, eine neue Gegen-Öffentlichkeit, besetzt zu halten. Wie aber wurde das Chorische als Schnittstelle verschiedener Raumdispositive – von Raumkörpern, Klangraum und politischem Raum – selbst zu einem Instrument, das die verschiedenen Topologien des Protests organisierte? Und inwiefern unterschied sich der Raum der Stadt von den Eigenschaften des Raumes, der durch das Protestieren hervorgebracht wurde? Um diesen Fragen nachzugehen, wird erstens der Prozess der Okkupation in den Blick rücken und als Besetzungsaktion unter dem Aspekt einer „Landnahme“ und „Verräumlichung“ des Protests untersucht werden. Da der Protest in vielfältigen Diskussionsforen vor allem interne Angelegenheiten thematisierte, rücken zweitens Fragen der Organisation der Besetzung ins Zentrum, die den Fokus auf das gemeinsame Verweilen in Arbeitsgruppen, Plenen und der sogenannten „General Assembly“ richten. In welcher Weise mit der tatsächlichen Besetzung des Zuccotti Parks zugleich die Kreation eines eigenen Protestortes mit selbstgewählten Standards verbunden war, der sich im urbanen Umfeld der Metropole New York immer auch als Widerstandspotenzial entäußerte, soll drittens anhand der visuellen Kommunikation mit Handzeichen in den Blick rücken, deren Praxis mit bewegungschorischen Elementen in Verbindung gebracht werden kann. Viertens geht es abschließend um die kollektive Amplifikation des Protests durch die chorische Methode des „Human Mic“.
1. OCCUPY! „They planted themselves amid alien buildings in order to occupy – the verb coming to signify an intransitive, as in performing an act that did not require an object, like dancing, not only the transitive, as in occupying a particular space.“33
Am 17. September 2011 trafen sich – Monate nach dem von Adbusters gestreuten Aufruf – hunderte Aktivist*innen im Zuccotti Park zu einer „General Assembly“. Bevor die Demonstrant*innen in dem kleinen Park zwischen Broadway und der Baustelle des neuen World Trade Center, etwa 200 Meter südöstlich von Ground Zero, zu kampieren begannen, diskutierten sie dort in mehreren Kleingruppen zum Teil heftig unterschiedlichste Forderungen.34 Die über soziale Medien und das Internet
33 Gitlin, Occupy Nation, S. 68. 34 Vgl. Ken Knabb, „Die Freuden der Revolution“, in: Bureau of Public Secrets, „Die USA erwachen!“, S. 37.
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angekündigte Versammlung realisierte sich als erste Begegnung ko-präsenter Subjekte. Auf einer Demonstration „mal über Ideen zu reden und nicht nur zu marschieren und Parolen zu skandieren“, erschien Astra Taylor daher auch, „als hätten wir einen neuen Ansatz gefunden.“35 Der Aktivist und Journalist Eli Schmitt schilderte, wie kontrovers und konfus die Diskussionen zu Beginn geführt wurden: „Einer aus der Gruppe fragte irgendwann genervt, was das Ganze denn solle und was denn nun eigentlich der Plan sei. Man entgegnete, genau das sei Sinn und Zweck der Aktion, wir hätten uns versammelt, um zu diskutieren und uns zu organisieren.“36
Nachdem abends die Ergebnisse der unterschiedlichen Gruppen vorgestellt wurden, gelang es den Demonstrierenden die Nacht auf dem Platz durchzuhalten. Taylor beschrieb, wie sie, nachdem sich viele Demonstrant*innen zunächst zerstreut hatten, „einer spontanen Bewegung der Menge in den Park, wo sich seitdem das Zeltlager befindet“, folgte.37 Neben den vordergründig räumlichen Aspekten des vorgefundenen Ortes rückten im Folgenden insbesondere Fragen der topografischen Organisation der Besetzung und der Camps ins Zentrum. Denn wie es schien, handelte es sich bei dem Gelände, das die Aktivist*innen besetzten, bereits um einen Ort, der sowohl durch seine konkrete Lage, als auch seine spezifischen Ausmaße in besonderer Weise hervortat. Die in diesem öffentlichen Raum geltenden Regeln schienen ihn zudem auf besondere Weise angreifbar zu machen. Das Einschreiten in seine Sphäre war folglich mit bestimmten Konnotationen und politischen Bedeutungen verbunden. Für eine Untersuchung der räumlichen Politiken der Okkupation soll zum einen nach den topografischen Voraussetzungen gefragt werden: Wohin gingen die Aktivist*innen, um zu protestieren? Welcher Raum umgab sie? Wie präfigurierte der urbane Raum ihre Protesthandlungen? Zum anderen fragt sich, wie mit dem geografischen Raum konkret verfahren wurde. Wie hielten sich die Protestierenden im städtischen Raum auf? Welche Rolle spielten dabei chorische Auftrittsformen? Und auf welchen Ebenen konnten sich chorische Protestverfahren als räumliche Ausdehnungen manifestieren? 1.1 Die symbolische Inbesitznahme des Zuccotti Parks „In all, what began was an awakening.“ 38
Bevor sich die Aktivist*innen entschieden hatten, den Zuccotti Park in Beschlag zu nehmen, die Nacht dort auszuharren und sich dann dauerhaft zu installieren, informierte man potenzielle Teilnehmer*innen des ersten Treffens im Vorfeld, man benötige keine offizielle Genehmigung, um sich auf Bürgersteigen zu versammeln oder
35 Astra Taylor et. al., „Szenen aus dem besetzten New York“, in: Blumenkranz, Carla/ Gessen, Keith/Glazek, Christopher/Greif, Mark et al. (Hrsg), Occupy! Die ersten Wochen in New York. Eine Dokumentation, Berlin 2011, S. 7-36, S. 11. 36 Ebd., S. 8. 37 Ebd., S. 10. 38 Gitlin, Occupy Nation, S. 51.
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diese zu besetzen.39 Die Besetzung öffentlichen Raums folgte von Anfang an einer klaren Handlungslogik, die David Graeber wie folgt beschreibt: „Von Anfang an, als wir begannen, die Planungstreffen im Tompkins Square Park in New York abzuhalten, ignorierten die Organisator_innen wissentlich lokale Verordnungen, die darauf bestanden, dass jede Versammlung von mehr als zwölf Menschen in einem öffentlichen Park ohne polizeiliche Erlaubnis illegal ist – einfach mit der Begründung, dass solche Gesetze nicht existieren sollten.“40
Als die Aktivist*innen in der Nacht des 17. Septembers 2011 im Zuccotti Park blieben und dort auf Pflastersteinen, zwischen Granitbänken und Robinenbäumen ihre Zelte aufschlugen, widersetzten sie sich den dort geltenden Regeln. Die Provokation erregte großes Aufsehen und wurde als klare Kampfansage verstanden. Die Tatsache, dass die Protestierenden im Stadtzentrum von Manhattan zu kampieren begannen, d.h. mitten im öffentlich-städtischen Raum, sorgte für weiteres Unbehagen. Die Medien begannen zunächst spärlich über die Beschlagnahme zu berichten, widmeten sich dann aber ausführlicher dem Kampieren der Bewegung.41 Indem sich immer mehr Aktivist*innen der Belagerung anschlossen und das Protestcamp von prominenten Schauspieler*innen besucht wurde, konnte die Sichtbarmachung der Besetzung auf der ganzen Welt an einen konkreten Ort zurückgebunden werden.42 Zudem sorgte die strategische Okkupation dafür, dass ein Zentrum der Protestbewegung entstand, das als physischer Ort dauerhaft implementiert wurde und tatsächlich besucht werden konnte. Sympathisierende gingen dorthin, um sich inspirieren zu lassen und Kontakte zu knüpfen. Gitlin spricht von den Zelten als „bases, but also oases“, die eine urbane Subkultur sichtbar machten, die sich dort versammelte, um zu streiten.43 Ohne diese räumliche Konzentration und die Schaffung eines Zentrums, äußerte der Adbusters-Mitbegründer Kalle Lasn, „wäre die Bewegung in Einzelaktionen zerfallen und hätte wenig Durchschlagskraft entwickelt.“44
39 Vgl. Eli Schmitt, „Szenen aus dem besetzten New York“, in: Blumenkranz et al., Occupy!, S. 7. 40 Graeber, „Anarchistische Wurzeln von Occupy“, S. 31. 41 Zum geringen Medienecho über die Proteste in der ersten Woche siehe Patrick Beuth, „,Die Wall Street gehört uns‘“, in: DIE ZEIT vom 21.09.2011: „Erste Berichte in Onlinemedien nennen die wenigen Beiträge der klassischen Medien darüber einen „brownout“, eine Verdunkelung, ein Totschweigen, und fragen sich, ob das bewusst geschieht.“ Vgl. auch Katharina Miklis, „US-Elite schließt sich dem Protest an“, in: STERN vom 03.10.2011; Norbert Kuls, „Die Besetzung der Wall Street“, in: FAZ vom 04.10.2011. 42 Neben Susan Sarandon und Michael Moore gehörten Judith Butler, Joseph E. Stiglitz, Slavoj Žižek und der New-York-Times-Kolumnist Nicholas Kristof zu den frühen Besucher*innen. 43 Gitlin, Occupy Nation, S. 64. 44 Kalle Lasn, „Wir warten auf den nächsten Urknall“, Interview mit Christine Mattauch, abrufbar unter: http://www.goethe.de/ges/prj/rue/mag/de10843552.htm (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
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Hinzu kam, dass die Besetzung aufgrund der besonderen Eigentumsverhältnisse des Parks umso größere Aufmerksamkeit erregte. Der etwa 3.100 Quadratmeter große Zuccotti Park ist eine öffentlich zugängliche Anlage im Besitz von Brookfield Office Properties Inc., einer der größten Immobilienunternehmen Nordamerikas. Als Eigentümergesellschaft ließ sie den Platz im Jahr 2006 renovieren und benannte das Areal seinerzeit nach ihrem Vorsitzenden John E. Zuccotti um. Bei dem Platz handelt es sich weder um einen öffentlichen Park, noch um ein umzäuntes und daher abgeschlossenes Privatgrundstück. Aufgrund dieser Bedingungen griff auf dem Gelände weder eine städtische Parkverordnung mit festgelegten Öffnungszeiten, noch konnten die Eigentümer*innen, als die Inbesitznahme im Jahr 2011 begann, ein Hausrecht ausüben. Nicht nur die Zweckentfremdung des Platzes als Versammlungszentrum, sondern gerade die demonstrative Umbenennung in seinen früheren Namen zeigten, dass sich an die Wahl des Ortes und dessen Inbesitznahme ein politisches Programm knüpfte. In einer rechtlichen Grauzone sollte die Aktion daran erinnern, dass der Park wie auch die Wall Street in New York den Menschen und der Stadt gehörten.45 Das Chorische drückte sich hier zunächst in einer Art ideellen Verbundenheit aus: Was die Gruppe zusammenbrachte, war ein Gefühl von Ungerechtigkeit und die geteilte Ansicht, dass ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl den Beginn eines möglichen Wandels darstellen könnte. Darüber hinaus fand es Ausdruck in der Weise, wie die Körper im öffentlichen Raum und seinen infrastrukturellen Bedingungen zusammenkamen. 1.2 Erklärung der Besetzung: Die „Declaration of the Occupation of New York City“ „In truth, they constituted, with their bodily presence, a human petition […].“46
Am 29. September 2011 beschloss die Hauptversammlung der Besetzer*innen, die sich den Namen „New York City General Assembly“ gab, in der „Declaration of the Occupation of New York City“ nachträglich die gemeinsamen Ziele der friedlichen Besetzung zu erklären.47 Neben dem Symbolcharakter sollte die Besetzung einen Kommunikationsprozess initiieren, der es ermöglichen sollte, individuelle Probleme überaus heterogener Menschen und Problemlagen zusammenzutragen, in Gruppen zu besprechen und nach Lösungen zu suchen. Die Erklärung diente als erstes offizielles Dokument der Bewegung dazu, ein Gefühl „of mass injustice“48 zum Ausdruck zu bringen. Als Motivation für das Zusammenkommen betonte sie die solidarische
45 Vgl. Mark Greif/Astra Taylor, „Scenes from an Occupation“, in: Occupy! An OWSinspired Gazette, No. 1 (2011), S. 2. 46 Gitlin, Occupy Nation, S. 70. 47 Die „Declaration of the Occupation of New York City“ war am Abend des 29.09.2011 das erste offizielle Dokument, dem alle Mitglieder von Occupy Wall Street zustimmten. Veröffentlicht wurde die Erklärung im Internet. Sie ist abrufbar unter: http://occupywallst.org/ forum/first-official-release-from-occupy-wall-street/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 48 Vgl. ebd.
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Grundhaltung ihrer Unterzeichner*innen. 49 Als Pamphlet politischen Aktivismus blieb die Deklaration deutlich jenen Strömungen verhaftet, die sich in Opposition zu anderen politischen Akteur*innen entwerfen und damit einen unumgänglichen Antagonismus bekräftigen. Die Occupy-Bewegung trug so allein sprachlich zu einer weiteren Vergemeinschaftung der Besetzer*innen bei, indem sie eine Gruppenkohärenz behauptete oder voraussetzte. Die Konstruktion eines starken „Wirs“ wurde in der Erklärung dadurch bestärkt, dass Gegner*innen wie Banken und Finanzinstitute in 23 Punkten, die mit einem zuschreibenden „They“ begannen, ihre Fehler und Versäumnisse aufgelistet wurden. Gegen die Korruption eines Systems und dessen ökonomische Macht, die demokratische Verfahren unterlaufe, diente die erklärte Besetzung auch dem Ziel, die in der Deklaration erwähnten Punkte bekannt werden zu lassen. Gerichtet an alle Menschen dieser Welt forderte die New York City General Assembly dazu auf, das Recht auf Versammlungsfreiheit wahrzunehmen und durch die Besetzung öffentlichen Raumes direktdemokratische Verfahren zu erproben. Im Dokument hieß es: „Exercise your right to peaceably assemble; occupy public space; create a process to address the problems we face, and generate solutions accessible to everyone. To all communities that take action and form groups in the spirit of direct democracy, we offer support, documentation, and all of the resources at our disposal.“50
Um einen Platz wie den Zuccotti Park tatsächlich zu besetzen, brauchte es neben einem konkreten Ort und den notwendigen Mitteln schließlich auch Mut, also der entsprechenden affektiven Motivation. Alle drei Grundvoraussetzungen – starke Betroffenheit, kollektive Handlungslogik und die Lokalisierung einer symbolträchtigen Niederlassung – wurden in der „Declaration of the Occupation“ festgeschrieben. 1.3 Besetzung als Störung: Zur Verwundbarkeit urbanen Raums „Das Urbane ist mehr als das Theater der Konfrontation, es ist dessen Mittel.“51
Die Besetzung schuf eine Bühne, auf der Widerstandshandlungen im öffentlichen Stadtraum inmitten zahlreicher Zuschauer*innen und in deutlicher Opposition zu deklarierten Gegner*innen aufgeführt werden konnten. Wesentlicher Auftrag der Beschlagnahmung war, Kräfte zum Erscheinen zu bringen, die sonst kaum sichtbar oder aus den geführten Diskursen bewusst ausgeschlossen wurden. Zugleich konstituierte das offensive Einrücken einen Ort der Konfrontation, den wir uns nicht „als einen abgeschlossenen Kampfplatz […], als ein ebenes Feld, auf dem ein Kampf zwischen Gleichen stattfände“, vorstellen dürfen.52 Denn die Exploration der Auseinanderset49 In der Erklärung hieß es, dass die Betroffenen die Empfindung eine, ungerecht behandelt worden zu sein. Diese verbindende Ausgangslage werde durch das zu verurteilende Handeln eindeutiger Aggressor*innen, der „corporate forces“, weiter vorangetrieben. 50 Vgl. „Declaration of the Occupation“. 51 Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, S. 40. 52 Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, S. 176.
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zung fand nicht durch die zufällige Abwesenheit der Gegner*innen, sondern gerade durch dessen symbolische Verdrängung vom selbst implementierten Aktionsraum statt. Die symbolische Widerstandskraft besetzter Räume betrifft im Anschluss an Foucault dann die Tatsache, dass „die Gegner nicht demselben Raum angehören.“53 Besetzungen vollziehen sich erstens also als symbolische Vertreibung von Aggressor*innen, bei der neben strategischen Aspekten die Wahl von Ort und Zeitpunkt eine vordergründig allegorische Rolle spielt.54 Zweitens ereignet sich eine Okkupation als koordinierte Aktion kollektiver Akteur*innen, die durch Verfahren der Störung, Blockade oder Zweckentfremdung das öffentliche Leben irritieren und durch die zeitliche Ausdehnung ihrer Anwesenheit in besonderer Weise Aufmerksamkeit generieren. Drittens schaffen Besetzungen durch die Aneignung geografischer Räume die Grundlage, diesen Raum durch die Erzeugung von Atmosphären oder die Implementierung eigener Raumprogramme als performative Räume in Erscheinung treten zu lassen. Auf diesen durchaus unterschiedlichen Ebenen verfolgten die OccupyAktivist*innen „eine Strategie symbolischer Vereinnahmung“, indem sie „als symbolisch formierte Menge den öffentlichen Raum […] physisch und ideell“ besetzten.55 Um die strategischen Wirkungen der Besetzungsbewegung zu verdeutlichen, kann das Modell des Chorischen herangezogen werden, um zu zeigen, wie wirksam Ausschlussmechanismen nach außen und eine kooperative Prozesshaftigkeit nach innen synchronisiert wurden. Während das Konstituieren der Occupy-Bewegung in Opposition zu Gegner*innen dem herkömmlichen Modell antagonistischer Konfrontation folgte, soll mithilfe des Chorischen gezeigt werden, wie die Protestform der Besetzung hier letztlich selbst jene zuvor beschriebene „Frontstellung zur angeklagten Umwelt“56 erweiterte. Fügt man den Formulierungen der Deklaration vom 29. September 2011 die alltägliche Besetzungspraxis der Occupy-Bewegung an, wird deutlich, wie mit der Zeit das konstruktive Formulieren alternativer Lebensweisen und deren praktisches Erproben in den Vordergrund rückten. Die Besetzung öffentlichen Raumes, die durch eine koordinierte Intervention und das kollektive Verharren der Protestierenden realisiert wurde, fügte sich der Architektur der Stadt gerade nicht an, sondern gestaltete die lokalisierbaren urbanen Strukturen um. Damit ist nicht gemeint, dass die Proteste die Begrenzungen des urbanen Raumes verschoben. Und doch entstand in einer Leerstelle dieses auf dem Reißbrett entworfenen, metropolitanen Gerüsts, das den Horizont individueller Standorte in Manhattan durch angrenzende Hochhäuser und Verkehrsstraßen begrenzte, eine 53 Ebd. 54 ,Allegorisch‘ wird hier als Ausdruck verwendet, der von vornherein auf seine Deutung angelegt und auf Rezipient*innen hin konstruiert ist und das Vorgefundene bewusst mit assoziativen Gedanken und Bedeutungen verknüpfen soll. Interessant ist auf den Zusammenhang der Wortherkunft von griechisch ἀλληγορία (allegoria) ‚andere/verschleierte Sprache‘, von ἄλλος (allos) ‚anders, verschieden‘ und ἀγορεύω (agoreuo) ‚eindringlich sprechen, eine öffentliche Aussage machen‘ sowie ἀγορά (agora) ‚Versammlung‘ hinzuweisen. 55 Kathrin Fahlenbrach, „Protestinszenierungen. Die Studentenbewegung im Spannungsfeld von Kultur-Revolution und Medien-Evolution“, in: Klimke/Scharloth, 1968, S. 11-21, S. 13. 56 Ebd.
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gänzlich neue Verwendung des Raumes. Der starke Gegensatz von Steinplatten und menschlichen Körpern, die sich matt in den überlebensgroßen Fassaden spiegelten, fügte der raumgreifenden Besetzung des Zuccotti Parks etwas umso Lebendigeres hinzu: Die Protestierenden kontrastierten die städtische Landschaft aus Wolkenkratzern, Bürotürmen, gläsernen Fassaden und dicken Steinmauern mit einem Zeltlager aus Schlafsäcken, Matratzen und Campingkochern. In eine Agglomeration aus Beton wurden menschliche Körper „verpflanzt“.57 Während Bänker*innen in geschützten Räumen anonymisierender Hochhäuser ihre undurchsichtigen Geschäfte machten, breiteten die Aktivist*innen ihr alltägliches Leben in aller Öffentlichkeit aus. Für die Dauer der Besetzung war auf dem Platz die menschliche Präsenz zu hören und zu sehen, zu riechen und zu fühlen. Durch das Verweilen, das Stehen, Sitzen, Reden, Essen, Schlafen – kurzum alle hierher platzierten Bewegungen der Protestierenden – entstand ein eigener Mikrokosmos, der dem Park neues Leben einhauchte. Die Menschen blieben, übernachteten, organisierten sich, versorgten sich mit Essen und begannen sich auf dem Platz einzurichten. Die Art ihrer beharrlichen Aneignung des Ortes entsprach dabei in keiner Weise der angedachten Funktion des Raums im städtischen Ensemble von New York. In dem politischen Essay Der kommende Aufstand klassifiziert das Unsichtbare Komitee in solchen aktivistischen Handlungsweisen, die bewusst auf urbane Infrastrukturen zielen, eine mögliche Angriffsfläche der Stadt: „Die Metropole ist eine der verletzbarsten menschlichen Formationen, die es je gegeben hat, gerade weil sie diese Architektur von Flüssen ist. Flexibel, subtil, aber verletzbar.“58 Durch die Errichtung von Zelten entstanden auf dem Platz, der sonst nur temporäre Besucher*innen kannte und allein zweckmäßig, d.h. transitorisch durchschritten wurde, feste Unterkünfte. Diese Handlungsweise des Verweilens an einem Ort, der seine Produktivität durch Hyperbeweglichkeit legitimierte, war der Stadt umso fremder. Gerade hier, mitten im Stadt- und Geschäftszentrum, verkörpert die Stadt New York selbst Netzstrukturen, deren Aufgabe darin besteht, das Leben vieler Millionen Menschen zu organisieren und eine Infrastruktur bereitzustellen, die durch Knotenpunkte, Verbindungsstraßen, Liniennetze und Verkehrsadern nachhaltige Mobilität garantiert. Die Besetzung eines dieser Knotenpunkte störte die Beweglichkeit und den Fluss der verschiedenen Ströme. Indem die Besetzer*innen jene Netzstrukturen aufgriffen, wichtige Schnittstellen blockierten und besetzt hielten, zielten sie auf die Achillesferse zeitgenössischer Urbanität.59 Neben dem Symbolgehalt der Besetzung stellte der
57 Schon die Wahl eines „Parks“ im durch und durch urbanisierten Stadtgebiet von New York verweist inmitten eines Rasters aus Straßenachsen, rechteckigen Wohnblocks und quadratischen Grünanlagen auf die besondere Geschichte einer Stadt, die durch die rasante Erschließung des ursprünglichen Stadtgebiets zum Sinnbild für die völlige Kultivierung von Natur geworden ist. Vgl. Michelle Nevius/James Nevius, Inside the Apple: A Streetwise History of New York City, New York 2009. 58 Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, S. 42. 59 Siehe ebd., S. 42f: „Aber die Metropole produziert auch die Mittel zu ihrer eigenen Zerstörung. […] Jedem Netz seine Schwachpunkte, seine Knoten, die man lösen muss, damit die Zirkulation stoppt, damit das Gewebe implodiert. […] Damit inmitten der Metropole etwas
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Zuccotti Park strategisch eine überaus kluge Wahl dar, um von dort aus zu weiteren Aktionen im Stadtzentrum zu mobilisieren. So sorgten die sich an die Besetzung anschließenden Demonstrationen und Märsche für immense Störungen im städtischen Gefüge. Die Besetzung führte dazu, dass der Zugang zum Platz und den umliegenden Gebäuden erschwert wurde. Die Einverleibung des öffentlichen Raumes ereignete sich insofern als Direkte Aktion, als dass die Blockade und die funktionelle Umwidmung städtischen Raums unmittelbare Folgen für andere Stadtbewohner*innen spürbar werden ließ. Die anwesenden Körper der Demonstrierenden bestimmten die Aufund Zuteilung des Platzes neu. Ben Fractenberg, Pressesprecher von Brookfield Properties, klagte entsprechend vorwurfsvoll die Zweckentfremdung des Platzes an: „Zuccotti Park is intended for the use and enjoyment of the general public for passive recreation. We are extremely concerned with the conditions that have been created by those currently occupying the park and are actively working with the City of New York to address these conditions and restore the park to its intended purpose.“60
Die Vereinnahmung des geografischen Ortes und die zeitliche Ausdehnung der Blockade erhöhte die Widerstandskraft der Aktivist*innen, weil das Ausharren über das symbolische Potenzial anarchischer Unordnung hinausging. Die längerfristige Besetzung manifestierte im Vergleich zu anderen Protestaktionen zugleich eine Neuerung im Protestverhalten. Negri und Hardt haben darauf hingewiesen, dass die Globalisierungskritiker*innen der vergangenen Jahrzehnte Nomaden waren. Im Vergleich zu den Aktivist*innen, die früher „von einem Gipfeltreffen zum nächsten“ zogen, waren „die Proteste, die im Jahr 2011 ihren Anfang nahmen, […] dagegen sesshaft.“61 Während frühere Protestbewegungen also „dazu neigten, sich zu einem bestimmten Zweck an einem bestimmten Tag zu versammeln und dann wieder auseinander zu gehen“, habe Occupy durch unbefristete Besetzungen einen „langen Atem“ bewiesen.62 Die Besetzungslogik der Bewegung widersetzte sich geltenden Zeitregimen, indem sie sich durch Installation einer neuen, ausdauernden, geradezu dehnenden Zeitlichkeit schnellen Ergebnissen verwehrte.63 Dadurch habe Occupy gezeigt, dass „Wurzeln zu schlagen und allerhand neue Möglichkeiten auszuprobieren“ Zeit benötige.64 Entgegen der Ansicht, dass in der Unterbrechung der Mobilität durch die Installation einer extrem modifizierten Zeit bereits die elementare Veränderung zu ent-
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entstehen kann, damit sich andere Möglichkeiten eröffnen, ist die erste Geste, ihr Perpetuum mobile zu stoppen.“ Ben Fractenberg, „Zuccotti Park Can’t Be Closed to Wall Street Protesters, NYPD Says“, in: DNA Info vom 28.09.2011. Hardt/Negri, Demokratie!, S. 11. Bureau of Public Secrets, „Die USA erwachen!“, S. 42. Zum „Verzicht auf Arbeit und die Libertinage einer Existenz ohne Zeitgebundenheit und Verpflichtungen vor aller Augen mitten in der Stadt“ siehe am Beispiel der 1968erBewegung auch Andreas Urban, „Provokation und Reaktion. Medialisierung und Musealisierung der 68er-Gegenkultur“, in: Hieber, Lutz/Moebius, Stephan (Hrsg.), Ästhetisierung des Sozialen: Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien, Bielefeld 2008, S. 315-343, S. 326. Bureau of Public Secrets, „Die USA erwachen!“, S. 42.
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decken sei, argumentierte das Unsichtbare Komitee. Es stellte fest, dass das Prinzip der Kommunen nicht darin bestehe, „der Metropole und ihrer Mobilität die lokale Verwurzelung und ihre Langsamkeit entgegenzusetzen.“ 65 Vielmehr forderte es, Kommunen zu bilden, deren expansive Bewegungen die der Metropole „untergründig überholen.“66
2. VERSAMMLUNGSRÄUME „The Occupy movement calls us into the streets, toward public engagement and to the modern day polis that is general assembly. It calls us with a single unspoken but implicit demand: participate!“67
Die Versammlung von Körpern im öffentlichen Raum, insbesondere ihr andauerndes Miteinander-Sein, konnte als performative Inszenierung nicht unmittelbar der Volkssouveränität und doch als gewisses Anliegen pluraler Akteur*innen aufgefasst werden. Bereits die nichtsprachliche Äußerung ihrer Anwesenheit konnte als Absicht angesehen werden, eine soziale Pluralität herbeizuführen. Bevor also konkrete Wünsche, Begehren oder Forderungen aufgestellt wurden, konnte die Bildung einer (Chor-)Gruppe und das Potenzial chorischer Handlungsabsichten schon im entstehenden Zusammentreffen als politische Forderung verstanden werden. Das chorische Zusammenwirken konstituierte sich als eine räumliche Versammlung von Menschen im öffentlichen Raum, der die Protestierenden durch seine infrastrukturellen Bedingungen auf dem Platz als kollektives Bündnis von Einzelkörpern in Erscheinung treten ließ. Das kooperative Handeln der Aktivist*innen wurde dabei vor allem durch die architektonische Präfiguration der Stadt New York, die hohe Anzahl von Menschen und ihre Interaktionen auf dem Platz betont. Das Chorische bildete sich hier als ein vorhandenes System von Verfahrensregeln der Besetzung. Die Programmierung verschiedener Veranstaltungen und die dadurch bedingte Aufteilung von Gruppen auf dem Platz regelte nicht nur körperliches Verhalten, sondern regulierte durch die im Folgenden näher beschriebenen verbalen und non-verbalen Kommunikationsverfahren auch den Einsatz von Gesten, Körperbewegungen und die Steuerung der Sprache. So entstanden prozessorientierte Artikulationsverfahren kollektiver Akteur*innen, die trotz ihrer pluralen Soziabilität den Zustand der Zerstreuung temporär aufgaben, um sich zeitlich begrenzt zu synchronisieren. Zahlreiche Arbeitsgruppen, Plenen und insbesondere die sogenannte „General Assembly“ der Occupy-Aktivist*innen schienen nicht nur die inhaltliche Frage zu stellen, wie ein Gemeinwesen praktisch und gerecht organisiert werden könnte, sondern durch bewegungschorische Elemente den Umgang untereinander selbst als besondere Organisationsform sozialen Handelns zu manifestieren. Politische Fragen
65 Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, S. 88. 66 Ebd. 67 Brooke Lehman (aka Brooke Muse), „From GA to Spokes Council“, in: Occupy! An OWSinspired Gazette, No. 2 (2011), S. 9.
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bestimmten insofern die Tagesordnung, als dass diese direkt die eigene kommunale Verwaltung der Okkupation betrafen oder in vielfältigen partizipatorischen und basisdemokratischen Entscheidungsformen zur Anwendung kamen. Das angewandte Modell der General Assembly war in die Strategien der taktischen Besetzung eingefasst, die gleichzeitig einen neuwertigen Verhandlungsort schufen und eine Sphäre des Gegenöffentlichen etablierten. Wo die Entstehung des Raumes auf soziale Operationen des Protestierens zurückzuführen war, schien mit chorischen Verfahren, die andere Kommunikations- und Körperkonzepte verfolgten, zugleich der Aufbau neuer räumlicher Strukturen auf. Wie konstituierte die Organisation der General Assembly als besondere Form öffentlicher Selbstverwaltung, die zwischen den anarchistischen Wurzeln der Bewegung – räumlichen Bezügen des Chaos und geordneten Abstimmungs- und Kommunikationsverfahren der Diskussionen – navigierte, zusätzlich ein besonderes räumliches Spannungsfeld? Wie thematisierten insbesondere die chorischen Interaktionen der Demonstrierenden Bezüge zu räumlichen Dispositiven mit? Bedeutsamer als die Frage, welchen Raum die Protestierenden selbst konstituierten, wird dann zu ergründen, durch welche besonderen Wahrnehmungsqualitäten chorische Protestverfahren die in diesen Räumen geltenden Regularien erfahrbar machten oder ersetzten. 2.1 Das Modell der General Assembly Das Einberufen der General Assembly verfolgte die Absicht, im New Yorker Stadtraum eine direktere Form der Demokratie umzusetzen, indem politische Ziele erst in der kollektiven Zusammenkunft unterschiedlicher Menschen ausgehandelt und hervorgebracht wurden.68 Damit sich Menschen bei diesen Treffen auf Augenhöhe begegnen konnten, war eine Voraussetzung ihre ko-präsente Anwesenheit zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Die General Assembly stiftete einen Raum der Begegnung, in dem neue Formen des Sprechens und Gehörtwerdens realisiert werden konnten.69 Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die Performanz der öffentlichen Selbstorganisation der General Assembly auf mehreren Wahrnehmungsebenen der Erfahrung der Besetzung zuarbeitete: Zum einen schien die Versammlung rein visuell eine „iconicity of a central encampment“70 zu stiften. Zum anderen erzeugte die Sammlung von Menschen einen kommunikativen Hörraum, in dem die Möglichkeit „simultaner stimmlicher Adressierung aller Anwesenden“71 gegeben war. Als politische Bühne, auf der Versammlungsformen neu erprobt und Fragen der Teilhabe grundlegend neu thematisiert werden konnten, demonstrierte die General 68 Vgl. Sylvi Kretzschmar, „Verstärkung – Public Address Systems als Choreografien politischer Versammlung“, in: Burri et al. (Hrsg.), Versammlung und Teilhabe, S. 143-171, S. 150. 69 Zu Vorläufern der Generalversammlung und frühen Beispielen ihrer Einberufung siehe Manfred Gailus, „Soziale Protestbewegungen in Deutschland 1847-1949“, in: Volkmann, Heinrich/Bergmann, Jürgen (Hrsg.), Sozialer Protest: Studien traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt vom Vormärz bis zur Reichsgründung, Opladen 1984, S. 76-106, S. 104. 70 Alberto Corsìn Jiménez/Adolfo Estalella, „Assembling Neighbours. The City as Archive, Hardware, Method“, in: Common Knowledge 20, No. 1 (2014), S. 150-171, S. 157. 71 Kretzschmar, „Verstärkung“, S. 151.
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Assembly zugleich weniger institutionalisiert, welcher kollektiven Anstrengungen es bedurfte, um spezifische Formen öffentlicher Teilhabe als Grundwerte des Demokratischen immer wieder neu herzustellen. Gerade weil sie ein Provisorium im Stadtraum blieb, ihr Charakter ephemer, zeigte sie, wie sie als Versammlungsform immer wieder neu zusammentreten und zusammenfinden musste. Die Debatten der General Assembly dienten der Beratung von Handlungsmöglichkeiten. Sie standen allen offen und lebten von einer möglichst breiten Partizipation ihrer Mitglieder. Sie waren darauf angelegt, führerlos, horizontal und nicht hierarchisch zu sein.72 Die durchaus kritische Haltung gegenüber repräsentativen Demokratiemodellen wirkte darin auch auf die eigene Verfassung zurück: So thematisierte die General Assembly im Umgang mit Partizipations- oder Ausschlussmechanismen offensiv die eigenen Verfahren der Beteiligung. Zudem verdeutlichten die Debatten inmitten des Stadtzentrums, dass mit der Etablierung eines Verhandlungsraums zugleich eine Form beglaubigter Öffentlichkeit angestrebt wurde, in der das gesprochene Wort und die Anwesenheit in der Versammlung eine gehörige Aufwertung erfuhr. Das Modell der General Assembly folgte basisdemokratischen Idealen, indem es eine nondirektive Gesprächsführung zu etablieren versuchte, bei der alle Teilnehmenden ein Vetorecht hatten. Auf diese Weise sollte eine „Kultur des individuellen Vorstoßes“73 gepflegt werden, in der stellvertretende Wortführer*innen, Repräsentant*innen, Fürsprecher*innen sowie das Delegieren von Beiträgen unerwünscht waren. Dagegen sollte eine Atmosphäre ernster politischer Konversation entstehen, die einen Konsens unter den Mitgliedern anstrebte. Den geduldigen Prozess der Besetzung flankierte dazu ein System von Handzeichen, das darauf angelegt war, in einem ergebnisoffenen Abstimmungsprozess die größtmögliche Beteiligung aller zu gewährleisten.74 Neben der Vereinbarung eigener Verfahrensregeln wurde beabsichtigt, Handlungsoptionen zu entwickeln, die jeweils die Ideen, Gefühle und Anliegen der einzelnen Beteiligten respektierten. Im besetzten Zuccotti Park in New York City war die General Assembly die zentrale Form der Versammlung, zu der die Menschen zweimal am Tag zusammenkamen.75 Nach dem Vorbild der „Volksversammlungen“ während der Proteste in Spanien und Griechenland diente die New Yorker Hauptversammlung dazu, Probleme zu teilen, Lösungen zu diskutieren, Informationen zu streuen, Themen gemeinsam zu durchdenken und nach ausreichenden Verhandlungen konsensorientierte Entscheidungen zu treffen.76 Als offenes Forum, in dessen Rahmen verschiedene Personen 72 Vgl. Marina Sitrin, „One No! Many Yeses. Occupy Wall Street and the New Horizontal Global Movements“, in: Occupy! An OWS-inspired Gazette, No. 1 (2011), S. 4-5, S. 4. 73 Astrid Herbold, „Occupy lebt Basisdemokratie vor“, in: DIE ZEIT vom 11.11.2011. 74 Zur Anwendung von Handzeichen siehe ausführlicher Kap. VI 3. 75 In der Regel fand die New Yorker General Assembly einmal gegen 13 oder 14 Uhr und dann ein weiteres Mal um 19 Uhr statt. 76 Auch in Argentinien, wo im Jahr 2001 in Folge einer der größten Wirtschaftskrisen die Menschen zu zehntausenden auf die Straßen gingen, wurden in neu gegründeten Nachbarschaftsversammlungen alternative Kooperationsmodelle erprobt. Die als Horizontalidad bekannt gewordene Bewegung kompensierte die absolute Hoffnungslosigkeit in einer Zeit wegbrechender Sicherheiten, indem sie soziale Beziehungsnetzwerke neu organisierte. Arbeiter*innen übernahmen in der ruinösen wirtschaftlichen Situation selbst ihre Arbeitsstät-
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unterschiedliche Aufgaben übernahmen und kollektiv ein spezielles Programm realisierten, dessen konkreter Ablauf gruppenintern gesteuert wurde, folgte die General Assembly spezifisch chorischen Organisationsformen, bei denen alle Anwesenden in ähnlicher Weise in Prozesse der Konsensbildung einbezogen wurden. Grundlage der kollektiven Abstimmungsprozesse stellte das Prinzip der Gleichheit dar, das immer wieder betont und im General Assembly Guide wie folgt festgeschrieben wurde: „There is no single leader or governing body of the General Assembly – everyone’s voice is equal. Anyone is free to propose an idea or express an opinion as part of the General Assembly. Each proposal follows the same basic format – an individual shares what is being proposed, why it is being proposed, and, if there is enough agreement, how it can be carried out.“77
Alle Teilnehmenden hatten die Möglichkeit, sich an den Besprechungen durch eigene Wortmeldungen oder non-verbale Meinungsbekundungen zu beteiligen. Bevor über Vorschläge nach dem Mehrheitsprinzip abgestimmt wurde, diente das Verfahren der offenen Aussprache dazu, vielfältige Themen, die von neuen Steuermodellen über allgemeine Reflexionen über Unterdrückung variieren konnten, gemeinsam zu diskutieren. Das besondere Kommunikationsverfahren der Versammlungen versuchte die vielfach als verbraucht kritisierte Praxis bürgerlicher Parlamente zu beleben, in denen zwar viel geredet wurde, nach Meinung der Gegner*innen allerdings doch nur homogene Interessengruppen schablonenhafte Meinungsbilder der Parteiraison reproduzierten, sich verbal anfeindeten, ohne einander wirklich zuzuhören.78 Die ausdrückliche Präsenz diskursiven Austauschs, die die Performanz der öffentlichen Selbstorganisation zu re-etablieren versuchte, richtete sich dabei auch gegen repräsentative Demokratiemodelle sowie ein System der Wahl, bei dem immer auch Menschen ihre Meinungen äußerten, die – weil nicht mehrheitsfähig – dann nicht umgesetzt wurden.79 Die General Assembly verfolgte zwar Themen und Inhalte, war allerdings auf kein festes Ziel ausgerichtet, sondern agierte insofern zweckungebunden, als dass sie deutlich die Anwesenheit der präsenten Menge und deren mögliche Beiträge fokussierte. Zum Ideal der Vollversammlung als „Versammlung der Präsenzen“ schrieb das Unsichtbare Komitee:
ten und bildeten dort horizontale Team, um Betriebe eigenhändig und hierarchiefrei zu betreiben. Das Modell der General Assembly kam zum Einsatz, um verschiedene Pro- und Kontra-Positionen zu Wort kommen zu lassen und durch die dynamische Beteiligung diverser Meinungssegmente eine Synthese machbarer Gegensätzlichkeiten zu erzeugen. Vgl. Sitrin, „One No! Many Yeses“, S. 4-5. 77 Siehe The General Assembly Guide, abrufbar als pdf unter: http://www.nycga.net/wpcontent/upload-s/2011/10/occupy.pdf (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 78 Zur Kritik an der repräsentativen Demokratie siehe Bernard Manin, Kritik der repräsentativen Demokratie, Berlin 2007. 79 Vgl. Thomas Helfen, Die Kritik am Mehrheitsprinzip als Herausforderung der repräsentativen Demokratie, Bonn 1991.
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„Wenn man es schafft, diese Wahnvorstellung der Vollversammlung zugunsten einer solchen Versammlung der Präsenzen zu zerreißen, wenn man es schafft, die immer wieder aufkommende Versuchung zur Hegemonie zu vereiteln, wenn man aufhört, sich auf die Entscheidung als Zweck zu fixieren, gibt es einige Chancen für dieses Ereignis, wo Massen ergriffen werden, eines dieser Phänomene der kollektiven Kristallisation, wo ein Beschluss die Menschen in ihrer Gesamtheit oder nur zum Teil erfasst.“80
Trotz des euphorischen Tons, den das Unsichtbare Komitee nicht ohne eigene politische Agenda verfolgte, lässt die beschriebene „Versammlung der Präsenzen“ einen Perspektivenwechsel erkennen, der im Ereignis des Versammelns selbst gründet. Die General Assembly organisierte sich dezentralisiert, aber verbunden. Als temporäre Gemeinschaft bildete sie den Prozess einer Versammlung von Individuen ab, die sich in Komitees und working groups selbst organisierten.81 Gegen die gesellschaftliche Tendenz der Isolation konnte sich hier ein Gefühl der Verantwortung füreinander entwickeln. 2.2 Prozesshaftigkeit der Kommunikation Um den offenen Kommunikationsprozess der General Assembly fair und transparent zu steuern, folgte der Ablauf klaren Regeln, deren Einhaltung sich nicht ohne Anstrengungen und weitere Kontroversen vollzog.82 Die anarchistischen und libertären Wurzeln der Occupy-Bewegung bedeuteten nicht, dass die Treffen völlig chaotisch verliefen.83 Die General Assembly begann jeweils mit einer Einführung, in der die Tagesordnung vorgestellt, die Abstimmungsverfahren durch Handzeichen erklärt und wechselnde Aufgaben wie die Moderation festgelegt wurden. Der nächste Pro80 Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, S. 100. 81 Die working groups bildeten einen wichtigen Bestandteil der General Assembly. Als kleinere Zusammenkünfte dienten die thematischen Gruppen als überschaubare Einheiten dazu, Arbeitsprozesse zu erleichtern, indem sie relevante Sachverhalte identifizierten und spezielle Initiativen vorbereiteten. Die Gruppen waren frei zugänglich und trafen sich zu selbst festgelegten Zeiten vor oder während der General Assembly. Auf der Website nycga.net gab es neben einem Online-Kalender, der darüber informierte, wann sich welche Teams trafen, zusätzliche Listen mit Beschreibungen aller Gruppen. Darüber hinaus gab es auf dem besetzten Platz beim sogenannten Media-Center einen zusätzlichen Informationsstand mit Tagesplänen und weiteren Informationen. Unter den fast 100 Untergruppen war die Arbeitsgruppe Think Tank mit 794 online registrierten Mitgliedern die größte. Andere autonome „working groups“ hießen Direct Action (719), Art & Culture (664), Politics & Electoral Reform (572), Tech Ops (552), Vision & Goals (519), Facilitation (439), etc. 82 „We like to fantasize about these uprisings and big political moments – and we like to imagine that they erupt out of nowhere and that that’s all it takes – but those things come on the back of an enormous amount of organizing that happens every day, all over the world, in communities that are really marginalized and facing the worst attacks.“ Marom, „Why now? What’s next?“. 83 Vgl. Sitrin, „One No! Many Yeses“, S. 4: „It might not appear very organized or clear […] but […] beneath the layers and layers of people, and the waves and waves of voices of the people’s mics, is a web of networked organization.“
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grammpunkt sah meist die sogenannten work group report backs vor, bei denen bereits bestehende Arbeitsgruppen ihre Ergebnisse in die General Assembly einbrachten und darüber berichteten, womit sie sich befassten, wo sie standen oder was sie brauchten. Nach diesen unterschiedlichen Berichten ermöglichte die nächste Rubrik Announcements, im großen Kreis wichtige Bekanntmachungen mitzuteilen, Veranstaltungen anzukündigen oder auf Informationen hinzuweisen. Es folgte der Programmpunkt Agenda für Vorschläge, Initiativen oder prominente Gastredner. Diese Vorschläge oder proposals für die Generalversammlung wurden im Vorfeld von den Arbeitsgruppen ausgearbeitet und vorbesprochen. Relevante Themen wurden in Untergruppen entwickelt, in einer der kleineren Runden ausgiebig diskutiert, verfeinert und solange bearbeitet bis sie der General Assembly als Tagesordnungspunkt für die Agenda vorgeschlagen werden konnten. Um besprochen zu werden oder zur Abstimmung eingebracht zu werden, musste ein Thema demnach als Agenda-Punkt angekündigt werden. Die General Assembly diente als großes, öffentliches Forum dazu, die vorgelegten Positionen der Arbeitsgruppen ein weiteres Mal offen zu besprechen, Fragen und Antworten auszutauschen und Bedenken zu äußern. Nicht selten wurden Vorschläge durch das Votum der Versammlung mit einem friendly amendment versehen und eine weitere Überarbeitung eingefordert. Ziel all dieser Modifikationen war das Finden eines Konsenses, der alle zufrieden stellen sollte und niemanden ausschloss. Bei Unstimmigkeiten oder Situationen, die kein eindeutiges Meinungsbild zuließen, wurden Anträge überarbeitet und später erneut eingebracht. Die Organisation der General Assembly wurde zwar durch einen geregelten Ablauf sichergestellt, in ihrer Ausgestaltung folgte sie jedoch einem dynamischen Prinzip, das offen für Veränderungen war. Ähnlich wie die General Assembly der Vereinten Nationen, die in den letzten Jahrzehnten ihre eigenen Verfahrensstrukturen kontinuierlich reflektierte und reformierte, kam es im Zuccotti Park zu einer ständigen Verbesserung des konsensfähigen Procedere. 84 Mit der zeitlich unbefristeten Versammlung zahlreicher Menschen ergaben sich auf dem begrenzten Areal immer wieder praktische Fragen der Koordination, der Versorgung, logistische Probleme oder sanitäre Unwägbarkeiten, die gemeinsam angegangen wurden und deren Bewältigung selbst einen Prozess interner Lösungsfindungen offenbarte. 2.3 Die Organisation des Sprechens: Wortmeldungen zulassen Wie die General Assembly mit konsensbasierten Abstimmungsverfahren zugleich direktdemokratische Protestformen organisierte, zeigt ein am 9. Oktober 2011 auf YouTube hochgeladenes Trainingsvideo.85 Mit dem Untertitel „on how to run a general assembly in your own community as part of the Occupy Wall Street movement. Hand signs, roles etc.“ war der Clip zur Verbreitung der grundlegenden Techniken der General Assembly im Internet bestimmt. Die etwa 40-minütige Dokumentation eines Workshops, der am 8. Oktober 2011 im Washington Square Park in New York 84 Vgl. General Assembly of the United Nations, „Rules of procedure“, abrufbar unter: http:// www.un.org/en/ga/about/ropga/intro.shtml (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 85 Siehe den Videoclip „#ows #occupywallstreet general assembly facilitation“, abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=WfTf2db6YfI (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
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City stattfand und in einer Einstellung gedreht wurde, gibt wichtige Einblicke in die konkreten Verfahrensregeln der Occupy-Bewegung. Das Video zeigt, wie die anarchistischen Wurzeln der Bewegung und neue Ordnungsmodelle sich keineswegs widersprachen, sondern in einem differenzierten Organisationssystem, das im ersten Kapitel dieser Arbeit als Modell des Chorischen vorgestellt wurde, synchronisiert werden konnten. Zur Organisation der vielen Redebeiträge kamen auf den General Assemblies verschiedene Verfahren zum Einsatz. Um eine gerechte Kommunikationsweise zu garantieren, wurden besondere Posten geschaffen, Redelisten eingeführt und spezielle Verfahren entwickelt. 2.3.1 Facilitators, Time Keepers und Vibe Checkers Um den Ablauf der Generalversammlungen zu organisieren, d.h. das anvisierte Programm, in dem zwar Raum für Wortmeldungen vorgesehen war und dennoch ein gewisser Zeitrahmen eingehalten werden sollte, effektiv umzusetzen, gab es ein wechselndes Team sogenannter Facilitators und Co-Facilitators. Ein Mitglied der Gruppe übernahm beispielsweise freiwillig die Moderation. Den sogenannten Stack Taker wurde die Aufgabe übertragen, eine Liste mit Personen zu führen, die etwas sagen wollten.86 An diese Personen richteten sich in den Meetings entsprechend die Handzeichen für eine Wortmeldung. Der wechselnde Posten hatte aufmerksam die Bewegungen der Gruppe zu überblicken und regelte, wer in welcher Reihenfolge zur Sprache kam. Auch sollte dadurch sichergestellt werden, dass die Auseinandersetzungen beim Thema blieben, die richtigen Verfahren eingehalten wurden und niemand außer der Reihe sprach. Um den unausgewogenen und teilweise ungeordneten Vorgängen demokratischer Meinungsfindung entgegenzuwirken, kam eine unterstützende Aufgabe ferner den sogenannten Time Keeper zu. Sie sollten in enger Zusammenarbeit mit der Moderation die zeitliche Dauer der Beiträge im Blick behalten. Ohne die Sprechenden selbst zu unterbrechen, gaben sie der moderierenden Person ein Zeichen, damit diese entsprechend informiert war und eingreifen konnte. Eine andere wichtige Aufgabe kam den Vibe Checkers zu, die den Diskussionsprozess in meist kritischen Momenten unterbrachen, um ein Feedback der Versammlung oder Pausen einzufordern. In diesem System durchaus unterschiedlicher Rollen und Funktionen konnte unter den Demonstrierenden der Eindruck entstehen, dass einige durch besonders häufige Übernahme von Aufgaben die Diskussionen leiteten und dadurch wie Anführer*innen wirkten. Im ständigen und direkten Austausch mit anderen Anwesenden konnten zu dominante Moderator*innen durch ein Gruppenvotum allerdings schnell ausgewechselt werden. So entstand ein besonderer Organisationsprozess, der Inklusivität, Effektivität und Freude vereinte und von Mark Greif, Mitherausgeber der amerikanischen Literaturzeitschrift n+1, nicht ohne Grund als „an efficient assembly managed by kids, democratically, inclusively, and good-humoredly“87 beschrieben wurde. Alle Beteiligten waren zudem angehalten, Protokolle zu führen, die im Inter86 Siehe Robert Danisch, „Occupy Wall Street as Rhetorical Citizenship. The ongoing relevance of pragmatism for deliberative democracy“, in: Hariman, Robert/Cintron, Ralph (Hrsg.), Culture, Catastrophe, and Rhetoric: The Texture of Political Action, New York/ Oxford 2015, S. 87-105, S. 92. 87 Greif/Taylor, „Scenes from an Occupation“, S. 2.
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net veröffentlicht werden sollten, um für größtmögliche Transparenz der Sitzungen zu sorgen. 2.3.2 Redelisten Wer während der General Assembly etwas sagen wollte, eine Meinung kundtun, eine Frage stellen oder etwas zu verkünden hatte, konnte durch einfaches Heben der Hand Redebeiträge „anmelden“ und sich dadurch auf die Redeliste, the stack genannt, setzen lassen.88 Da im Zuccotti Park äußerst heterogene Menschen zusammenkamen, brauchte es ein Verfahren, das ein Klima kooperativen Verhaltens förderte. Neben der Regelung gemeinsamen Sprechens war ein Ziel des stack taking, Diskussionen und Entscheidungsfindungen zu erleichtern, bei denen alle Teilnehmenden durch Implementierung eines kohärenten Verfahrens gleich berechtigt wurden. Mit ebenbürtigen Chancen ausgestattet sollten alle etwas sagen können, in ein Gespräch eintreten und interagieren. Die Technik arbeitete dem Trugbild scheinbar demokratischer Prinzipien entgegen, die Partizipation nur vorgaben oder vernebelten, dass in Gruppenprozessen kleinere Gruppen leicht von anderen Teilnehmenden beherrscht oder ausgeschlossen werden können. Bei den regulären Treffen sprachen die Menschen generell in der Reihenfolge, in der sie auf die Liste gesetzt wurden. Zusätzlich konnten sich die Moderator*innen dem speziellen Verfahren des progressive stack bedienen. Dieses ging von der Überlegung aus, dass Menschen, die einer „dominanten Kultur“ angehören (zum Beispiel einer spezifisch weißen und männlichen Bevölkerungsmehrheit), es eher gewohnt sind, sich selbst auszudrücken, während Mitglieder minoritärer Gruppen kaum gehört, ignoriert oder sogar still gehalten werden.89 Die Technik des progressive stack stellte für die Bewegung ein Hilfsmittel bereit, um sicherzustellen, dass in den Plenums- und Abstimmungsrunden gerade auch unterrepräsentierte Stimmen gehört wurden. 90 Praktisch sorgte der progressive stack in den Gesprächen dafür, dass Wortmeldungen von Menschen, die marginalisierten Gruppen oder Minderheiten angehörten, vorgezogen und prioritär behandelt wurden. Das Konzept arbeitete als eine Art Gegengewicht gegen die Macht einer angenommenen und vorab festgelegten Mehrheit. Die Tatsache, dass das Verfahren innerhalb der Bewegung als erzwungene Gerechtigkeit durchaus kontrovers diskutiert wurde, belegte wiederum die selbstreflexive Tendenz der Auseinandersetzung mit eigenen Ausschlussmechanismen.91
88 Vgl. Gitlin, Occupy Nation, S. 60. 89 Die Praxis des Protests zeigte, dass weiße, männliche Erwachsene als Teil jener dominanten Gruppe angesehen wurden. Frauen, Migrant*innen und LGTBIQ*, sehr junge und ältere Menschen wurden den nicht dominanten Gruppen zugeordnet. 90 Die stack keepers baten die Sprechenden dann entsprechend ihres Alters, Genders und der ethnischen Herkunft vor- oder zurück zu treten, weshalb das Verfahren auch unter dem Namen „step forward, or step back“ bekannt wurde. 91 Kritisiert wurde u.a., dass das Verfahren durch die Reproduktion behaupteter Hierarchien und die Definitionshoheit, wer als unterdrückt zu gelten habe, rassistisch und sexistisch sei.
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3. HANDZEICHEN Handzeichen stellten eine einfache und effektive Möglichkeit dar, den Ablauf von Protesthandlungen und Abstimmungsprozessen bewegungschorisch zu koordinieren. Durch die simplen, über weite Distanzen sichtbaren und zudem raumgreifenden Zeichen wurden nicht nur Haltungen kommuniziert, sondern die Umgebungen der Plätze, auf denen sie dargeboten wurden, atmosphärisch eingenommen. Unter den Protestierenden entstanden gerade dadurch neue, hilfreiche Konnektivitäten, da die Entwicklung des visuellen Zeichensystems eine Koordinierungsleistung voraussetzte, die den kollektiv abgestimmten Körpereinsatz zum Medium des Ausdrucks machte. Die Visualisierung des Gemeinsamen wurde in den Aktionen der OccupyBewegung also überwiegend durch ein System von Handzeichen betont, das zugleich in der Lage war, nonverbale Abstimmungsprozesse zu initiieren. Durch das Kommunikationsverfahren entstanden Protestchöre als Bewegungschöre, die die GruppenKohärenz durch die Vervielfältigung eines einheitlichen Erscheinungsbildes deutlich machten. Indem die Protestierenden ähnliche Haltungen einnahmen und zum Teil zu kollektiven Posen mit gleichen Ausrichtungen zusammenfanden, entstanden nicht zwangsläufig synchronisierte Bewegungen der Körper, dafür allerdings ein deutlich wahrnehmbares interrelationales Gefüge. Die choreografierten Abstimmungsregeln verwiesen durch das Arrangement wiedererkennbarer Posen auf ein abgestimmtes Handeln der Gruppe, das sich durch die körperlichen Ordnungsgefüge zugleich räumlich vermittelte. Die allgemeine Beobachtung, dass Protestbewegungen als Teil ihrer Kommunikationsstrategie Handzeichen einsetzen, ist nicht neu. In der Protestgeschichte lässt sich von der Bürger*innenrechtsbewegung, dem Direct Action Network bis hin zu den Indignados in Spanien die Verwendung nonverbaler Kommunikationsweisen für viele politische Bewegungen nachweisen. Während die Bürger*innenrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten jedoch noch klar hierarchisch organisiert war und von Martin Luther King angeführt wurde, wird das System von Handzeichen in zeitgenössischen Protesten heute als Sinnbild führerloser Strukturen inszeniert. Der populäre Einsatz in Spanien zeigte, wie durch das demonstrativ einfache Verfahren die unsichtbare Stimmengewalt vieler Meinungen plötzlich sichtbar gemacht werden konnte. Die wortlose Vermittlung dieser nonverbalen „Gebärdensprache“ hatte dort erfahrbar gemacht, wie einfach sich der Wunsch nach direkteren Partizipationsformen in großen Menschenmengen realisieren ließ. Im Herzen der Generalversammlung stand der Einsatz von Handzeichen, dem als interner Kommunikationsprozess die Aufgabe zukam, Konsens als einen kooperativen Vorgang hervorzubringen. Zugleich diente die deutlich sichtbare Anwendung von Handzeichen in städtischer Umgebung dazu, einen eigenen Kommunikationsraum zu etablieren, der von allen deutlich erkennbar wahrgenommen werden konnte. Handzeichen stellten eine effektive Möglichkeit dar, den Ablauf von Protesthandlungen und Abstimmungsprozessen zu koordinieren. Jede Geste konnte mit verschiedenen Bedeutungen aufgeladen, von einer spezifischen Gruppe festgelegt, codiert oder überschrieben werden. So wie sie dabei halfen bestimmte Formen der Zustimmung
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oder Ablehnung zu regeln und diese als Reaktionsstruktur zu nutzen, wurden sie zugleich verwendet, um Gruppenzugehörigkeit oder Abgrenzung zu markieren.92 Im Zuccotti Park entwickelte die neue Gestensprache eine besondere Bedeutung. Offensichtlich ähnelten die Handzeichen der Aktivist*innen, die sich wiederholbarer Bewegungen von Armen und Händen bedienten, der Zeichensprache des Börsenparketts. Auch die Händler*innen der Wall Street gebrauchen wie ihre Kolleg*innen an der Chicago Board of Trade oder anderer internationaler Börsen ein System von Handsignalen, das den ohrenbetäubenden Lärm des Parketthandels umgehen soll, indem es Käufe und Verkäufe nonverbal regelt.93 Die Zeichensprache der Börse, die dort als typisch für den Terminhandel gilt, assistiert – eingebunden in das internationale Netzwerk globalen Finanzkapitalismus –, Weltmarktpreise für Mais, Sojabohnen, Weizen und Reis zu bestimmen. In einer völlig anderen Verwendungsweise dienten ähnlich aussehende Gebärden bei Occupy Wall Street als effektive Strategie, um in einem dynamischen Prozess Meinungen zu finden und kollektive Befindlichkeiten zu ergründen. Während die physische Präsenz der Handzeichen im Börsenhandel immer mehr durch Computer gestützte Kommunikationsverfahren ersetzt wird und zunehmend verschwindet,94 erlebte sie als chorisches Verfahren des Protestierens und in Form einer direkten menschlichen Interaktion eine Renaissance.95 Als signifikante Körperbewegungen entäußerten die Handzeichen zugleich ein Verhalten oder eine Haltung. Der besonderen Form dieser Gesten, der systematischen Abfolge sowie der Kategorisierung ihrer besonderen Signifikanz war von Anfang an die Funktion des Betrachtens und Gesehenwerdens eingeschrieben. Die Handzeichen verschoben die Rezeption des Protestgeschehens auf die gestischen Aspekte des Vortrags und damit auf die Rede als Interaktion zwischen Sprechenden und Zuhörenden. Als hochgradig performative Gesten des Protests, die in ihren Ausprägungen und Choreografien an die Bewegungschöre der 1920er Jahre erinnerten, wurden die Handzeichen von Beobachter*innen oft als „lustige“ Gebärden wahrgenommen. Als sonderbare Codes trugen sie dadurch, dass sie von Außenstehenden nicht unmittelbar 92 Verbale, nonverbale, optische und akustische Zeichen, die vom Rest der Gesellschaft nicht verstanden, aber einer spezifischen Gruppe zugerechnet werden können, werden in unterschiedlichen sozialen Gruppen als Provokation oder Abgrenzungsmittel genutzt. Kommunikative Zeichensysteme finden auch Anwendung, um die kulturelle Identität von Angehörigen auszudrücken. Die Handzeichen, die bei Occupy Wall Street zum Einsatz kamen, glichen in gewisser Weise anderen Zeichensprachen wie sie im Militär oder innerhalb bestimmter Cliquen- oder Jugendgangs verwendet werden, wo sie als kodierte Handsprachen die Kohärenz einer geschlossenen Gruppe garantieren. Siehe dazu Harring, Marius/BöhmKasper, Oliver/Rohlfs, Carsten/Palentien, Christian (Hrsg.), Freundschaften, Cliquen und Jugendkulturen: Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen, Wiesbaden 2010. 93 Der Börsenhändler Ryan Carlson hat die Zeichensprache des Börsenparketts auf der Website www.tradingpithistory.com dokumentiert und dort hunderte Handzeichen zusammengetragen (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 94 Siehe Nikolaus Piper, „Deutsche Bank mit Hitler-Bart“, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.07.2010. 95 Vgl. Manuel Castells, Networks of Outrage and Hope: Social Movements in the Internet Age, Cambridge 2015.
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„gelesen“ werden konnten, zugleich zum gesteigerten Interesse der Aktionen bei. In einem überwiegend auf verbaler Verständigung basierenden Kommunikationsverbund trat die Wirkung der visuell wahrnehmbaren Sprache mit ihren haptischen Besonderheiten, die wie die Gebärdensprache spezielle Körperhaltungen und bewegungsreiche Handkonfigurationen kombinierte, umso mehr hervor. Anhand dieses spezifischen Einsatzes von Handzeichen soll geprüft werden, wie die Attraktion von Betrachter*innenblicken nicht nur für die visuelle Wahrnehmung des Raumes, sondern auch für Formen sozialer Partizipation konstitutiv wurde. Wie es schien, dienten gerade chorische Protestverfahren als Strategie dazu, den Raum des Protests zu konstituieren und die Protestteilnehmenden durch bewegungschorische Elemente darin sichtbar zu machen. Mehr noch schienen chorische Kommunikationspraktiken ein Aktionszentrum zu etablieren, das angeschaut werden konnte und in der Lage war, Blicke zu lenken. Wie aber konnten die Protestchöre als Organisationseinheiten der Besetzung, die selbst Raumvorstellungen produzierten, zentralperspektivisch organisierte Verfahren des Sehens instrumentalisieren oder unterlaufen? 3.1 Zeichenhafter Applaus und stille Ablehnung: Handzeichen als verräumlichter Ausdruck von Gefühlen Die Handzeichen der Occupy-Bewegung und ihre Anwendung wurden auf jeder General Assembly erläutert und in den Sozialen Medien sowie im Internet vielfältig gestreut.96 Ein bereits am 25. September 2011 unter dem Titel „How it works at Occupy Wall Street 9/25/11“ auf YouTube hochgeladener Clip dokumentiert, wie sich bei Gruppentreffen mittels Handzeichen verständigt wurde.97 Die Kamera filmt aus dem Zentrum des Zuccotti Parks die um sie herumsitzenden, kreisförmig angeordneten Menschen. Viele Anwesende verharren auf dem Boden, einige sitzen im Schneidersitz, andere auf Granitbänken oder umliegenden Mauern. Eine Frau hat sich inmitten der Menge aufgerichtet und beginnt etwas zu sagen, das andere Teilnehmende mit Hilfe des „Human Mic“, einer chorischen Amplifikation des Gesagten, durch die Stimmen aller lautstark wiederholen.98 Einige wenige heben noch während die Frau spricht zustimmend die Hände in die Luft. Indem sie beide Arme nach oben richten und mit kleinen Bewegungen die Finger tanzen lassen, signalisieren sie Zustimmung. Diese erhobenen und zugleich wedelnden Finger sind ein Beispiel für den Einsatz von Handzeichen, deren Gebrauch der Beteiligung des Publikums dient. Der Video-
96 Eine allgemeine Erklärung der Handzeichen findet sich in einem am 08.10.2011 unter dem Titel „Consensus Decision-Making Hand Signals Explained at #OccupySF“ hochgeladenen YouTube-Clip von OccupySF, abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=R2yYiU LZ0hA (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018); Ein anderes Beispiel, das am 10.10.2011 von Occupy Portland unter dem Titel „Occupy Portland – DownTwinkles“ hochgeladen und als praktisches Handlungswissen durch soziale Medien verbreitet wurde, ist abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=qaVvzTyMcls (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 97 Siehe den Videoclip „How it works at Occupy Wall Street 9/25/11“, abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=xIK7uxBSAS0 (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 98 Zur ausführlicheren Besprechung des „Human Mic“ siehe Kap. VI 4.
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clip zeigt gleich zu Beginn, wie der Moderator, um nach dem Wortbeitrag das Urteil der gesamten Menge zu erfahren, fragt: „How do you feel about that?“ Daraufhin heben erneut mehrere Anwesende ihre Hand wie eben beschrieben zum Zeichen der Zustimmung in die Höhe.99 Das Verfahren dieser sogenannten vibe checks verdeutlichte, wie an kritischen Punkten der Diskussion die wechselnden Moderator*innen immer wieder versuchten, subjektive Einschätzungen der Teilnehmenden einzufordern, um Situationen der Verunsicherung zu umgehen und ein kollektives Bild der mentalen und emotionalen Befindlichkeiten aller Anwesenden zu erhalten.100 Durch stillen Applaus entstand ein visuell wahrnehmbares Bild des Zuspruchs.101 Zugleich verräumlichte sich die Diskussion, schuf einen Schauraum des Protests, der auch – ohne der Diskussion in unmittelbarer Nähe beizuwohnen – einen Eindruck der räumlichen Qualitäten der kooperativen Ausbreitung auf dem Platz vermittelte. Im Kommunikationsraum der Handzeichen galten Regeln, die von Außenstehenden oder Nichteingeweihten nicht ohne Vorwissen durchdrungen werden konnten. Dadurch trug die nonverbale Zeichensprache als „a way of shouting out, without the shouting“102 auch zur Konstitution der Protestgemeinschaft als chorische Gruppe und zum Ausschluss von Fremden bei. Eine besondere Spannung entstand, gerade weil etwas öffentlich vor den Augen einer potenziell offenen Zuschauer*innenschaft vorgetragen wurde – sich als Handeln jedoch nicht selbst erklärte. Für Außenstehende, die die körperlichen Gesten nicht verstanden, lösten die Handzeichen zunächst Verwunderung aus. Da die Symbolik der Zeichen bei allen Versammlungen im Vorfeld erklärt wurde, stellte sie jedoch kein Geheimnis dar, das nachweislich auf identitären Ausschluss angelegt war. 3.2 Handzeichen als Koordinierung von Sprachund Abstimmungsprozessen Neben Handzeichen, die Zustimmung, Ablehnung oder Unentschlossenheit ausdrückten, gab es Handzeichen, die den Diskussionsprozess beschleunigen konnten
99
Siehe dazu Writers for the 99%, Occupying Wall Street, S. 28: „The most frequently used of the gestures is called twinkling. A wiggling of the fingers with either one or both hands raised, twinkling originated as a symbol in American Sign Language to express applause.“ 100 Zur humorvollen Performanz der Handzeichen in den Generalversammlungen äußerte sich Shane Patrick, Presse-Attaché von Occupy, in einem Interview mit Todd Gitlin: „It feels like a Monty Python sketch. And you’re feeling you’re the only one in the circle who feels that way, who gets it. But you’re not.“ Zit. nach Gitlin, Occupy Nation, S. 61. 101 Siehe auch ebd., S. 60: „Periodically, a scattering of people more or less simultaneously raise their fingers into the air and flutter them. “Twinkling,” this is sometimes called. Others lower their fingers and wiggle them: “de-twinkling.” If you watch long enough, you get the point: Twinkling is the equivalent of applause. De-twinkling is the equivalent of a hiss.“ 102 Marina Sitrin, zit. nach Ruth McCambridge, „The General Assembly“, in: Nonprofit Quarterly vom 09.05.2012.
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oder Redende, die vom Thema abkamen, unterbrechen sollten. Die folgenden Handzeichen zählten zu den sogenannten interrupt stack, die in meinungsbasierten Diskussionen, in denen sich viel und ausgiebig ausgetauscht werden sollte, weniger oder gar nicht benutzt wurden. Wer mit Daumen und Zeigefingern beider Hände vor dem Körper ein Dreieck formte, deutete mit diesem „Point of Process“ an, dass etwas schief oder aus dem Ruder lief. Meistens wurde diese Reaktion ausgelöst, wenn sich eine Diskussion in eine falsche Richtung entwickelte oder Redner*innen vom Thema abkamen. Wer das haptische Symbol mit intervenierendem Charakter ausführte, fällte weder ein Urteil über den Sprechenden noch wurden Beiträge dadurch direkt unterbrochen. Vielmehr stellte das Ausführen der körperlichen Geste einen persönlichen Meinungsbeitrag der Zuhörer*innen dar, der einem Hinweis gleichkam. Wurde das Zeichen von den Moderator*innen wahrgenommen, konnten sie steuernd eingreifen, indem sie verbal intervenierten und den Beitragenden zurück auf die Bahn verhalfen.103 Wenn in den Auseinandersetzungen kritische Informationen zu etwas fehlten, konnte durch einen pointiert waagerecht ausgestreckten Zeigefinger darauf aufmerksam gemacht werden. Dieses Zeichen mit dem Namen „Direct Response“ konnte den Gesprächsbeitrag anderer Teilnehmer*innen einleiten, die dann zusätzliche Informationen einbrachten.104 Wer eine Frage stellen wollte, konnte sich dagegen dem Zeichen „Clarifying Question“/„I have a question“ bedienen. Dazu wurde mit der gesamten Hand die Form eines „c“ geformt. Bevor abgestimmt oder Themen gewechselt wurden, konnten so wichtige Fragen gestellt werden. Als weiteres Handzeichen mit einfordernder Feedback-Funktion galt das „Wrap-It-Up“-Zeichen.105 Indem beide Hände vor dem Körper in einer kreisförmigen Bewegung umeinander gewendet wurden, konnte Redner*innen signalisiert werden, dass sie verstanden wurden und mit Aussagen schneller zu einem Ende kommen sollten. Die Anwendung dieses Handzeichens hatte eine Beschleunigungsfunktion und forderte die Sprechenden auf, präziser zu sein und auf den Punkt zu kommen. Ein letztes, äußerst radikales Handzeichen war der sogenannte „Block“. Wer beide Arme vor dem Kopf überkreuzte, signalisierte harsche Ablehnung und äußerte relevante ethische oder moralische Zweifel. Diese schwerwiegende Form der Interruption, die nicht gewünscht und im Vorfeld durch Abstimmungs- und Regulationsprozesse verhindert werden sollte, wurde sehr ernst genommen und erforderte eine unmittelbare Stellungnahme der Betroffenen. Bei berechtigten Einwänden wurde im folgenden Verlauf dann darauf geachtet, praktikable Lösungen zu finden und das Problem zu klären.
103 Siehe dazu Gitlin, Occupy Nation, S. 60: „Occasionally, someone raises both hands above his head and forms a triangle with his fingers. The triangle might be noticed by another person, who stops the discussion and calls on him. The person with the authority to stop the conversation is a facilitator. The triangle is raising a procedural point.“ 104 An anderer Stelle wurde in ähnlicher Funktion das Zeichen „Point of Information“ genannt, bei dem ein gehobener Zeigefinger signalisierte, dass zu etwas gerade Gesagtem zusätzlich eine wichtige Information beigesteuert werden sollte. 105 In den USA ist das Handzeichen etabliert und vor allem aus dem Sportbereich bekannt. In Deutschland zeigt es beim Fußball z.B. das Einwechseln von Spieler*innen an.
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Zum einen hatten die nonverbalen Ankündigungs- und Abstimmungsverfahren eine Reihe organisatorischer Vorteile. Die praktischen Handzeichen regelten den internen Ablauf der Wortmeldungen der General Assembly und ermöglichten eine gerechte Verteilung von Redebeiträgen. Zugleich verhinderten sie, dass potenzielle Sprecher*innen auf der Suche nach einem Mikrofon erst durch die Menge irren mussten, um sich für einen Redebeitrag zu melden. Statt von einer Bühne aus konnten die Vortragenden nach Erteilung des Wortes direkt von ihrem Platz aus sprechen. Anstelle anderer akustischer Signale wie Applaus, Rufen oder Schreien halfen die Handzeichen in diskursiven Abstimmungsprozessen, Sprecher*innen, die vom „Human Mic“ wiederholend verstärkt wurden, nicht in ihrem Redefluss zu unterbrechen. Zum anderen wirkte die spezifische Performanz der Handzeichen als Materialisierung eines neuen Kommunikationsraums nach außen und veränderte die visuelle Wahrnehmung des Protests. Als sichtbare Strategie machten die Handzeichen, die nach Erklärung ihrer Bedeutung leicht und schnell angewandt werden konnten, deutlich, dass in den Versammlungen alle Teilnehmer*innen aktiv eingebunden waren und kontinuierlich interagierten. Die Handzeichen erweiterten die Handlungsmöglichkeiten der Protestierenden, indem sie es allen Anwesenden ermöglichten, aktiv an den Unterhaltungen zu partizipieren. Sie boten dauerhaft die Möglichkeit, eigene Reaktionen für andere sichtbar auszudrücken. Dieses integrative Modell konstituierte den Protestchor als einen neuwertigen und anschlussfähigen Verhandlungsraum, der durch neue Regelungen verbaler und nonverbaler Verständigungsformen eine größtmögliche Beteiligung garantierte und zu freier Meinungsäußerung ermutigte. Der Einsatz von gestischen Zeichen etablierte eine Art chorisches Koordinatensystem, das als eine zusätzliche performative Protestpraxis im öffentlichen Raum entstand und unmittelbare Einblicke in die Stimmungslage des Protestchors stiftete. Denis Diderot, der Gesten in seinem Lettre sur les sourds et muets (1751) als natürlicher Sprache eine zentrale Rolle in der sprachlichen Entwicklung beimisst, honorierte das größere Wirkungspotenzial der Gebärdensprache, die im Hinblick auf theatrale Bühnendarstellungen an Bedeutung gewann.106 Mit den Handzeichen entwickelten die Occupy-Aktivist*innen genuin theatrale gestische Kodizes, deren körperliche Materialität ausgestellt wurde und dadurch den performativen Charakter des geografischen Raumes der Stadt betonte. In Analogie zur historischen Praxis der Bewegungschöre gründeten die Vorteile des Verfahrens auf dem einfachen Prinzip des Mitmachens durch Nachahmung. Zugleich entwickelten die Protesthandlungen durch die raumrhythmische Qualität einen besonderen Erlebniseffekt. Indem man auf körperliche Dynamiken reagierte, sie aufnahm oder selbst ausführte, richtete sich der Akzent unter den Protestierenden bei gleichwertiger Wahrung individueller Eigenschaften auf das Sich-zueinander-inBeziehung-Setzen. Damit setzte der chorische Gebrauch der Handzeichen nicht nur Ordnungsstrukturen um, sondern bildete in der Öffentlichkeit deutlich wahrnehmbare Berührungspunkte aus.
106 Siehe Denis Diderot, Lettre sur les sourds et muets, 1751; zur sich anschließenden Debatte von Gesten in der Schauspieltheorie siehe auch Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Leipzig 1792; Johann Jakob Engel, Ideen zu einer Mimik, Berlin 1785.
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Der durch ein System von Handzeichen konstituierte Protestchor drängte als Gruppenphänomen folglich darauf, den öffentlichen Raum in einer heterogenen und demokratischen Form zurückzugewinnen. Mit dem unmittelbaren Einsatz der Körper verband sich eine körperlich erfahrbare Praxis der Partizipation und Mitbestimmung, die an die demokratischen Ideale der Bewegung zurückgebunden werden konnte. Neben dem Moment der Selbsterfahrung in der Gruppe entstand das Chorische als eine prozesshafte Bewegungsformation, deren Zusammenspiel durch plurale Bewegungssequenzen, alternierende Tempi und divergierender Dynamiken bestimmt wurde. Zusätzlich erzeugte die gestische Kommunikationsweise einen besonderen Beobachtungsraum des Protests, in dem die chorisch angewandte Gestik zugleich als Kritik einer kontinuierlichen Reproduktion kulturell wiederkehrender Muster verstanden werden konnte. Indem Passant*innen aktiv einbezogen und gleichzeitig ausgeschlossen, d.h. in jedem Fall herausgefordert wurden, sollte ein rein passives Zuhörer*innen-Modell überwunden werden. Auf diese Weise konnten Produzent*innen und Rezipient*innen in den Hauptversammlungen nicht mehr eindeutig unterschieden werden. Die Auflösung dieser Rollen führte zu einer weiteren Vergrößerung und räumlichen Einflussnahme aller Anwesenden. Ein potenzielles Publikum wurde durch die im städtischen Raum sichtbaren Handzeichen direkt anvisiert und dabei nicht mehr „als Vehikel der Unterhaltung oder der Skandalisierung gedacht, sondern als ein Ensemble von Subjekten, die letztlich genauso selbstreflexiv und affizierbar“ waren.107 Neben diesen vordergründig visuellen Protestpraktiken stellt das menschliche Verstärkungssystem des „Human Mic“ ein chorisches Abstimmungsverfahren dar, das die Bedeutung der räumlichen Organisation öffentlichen Sprechens auch auf der auditiven Ebene vorführte. Im Folgenden soll das „Human Mic“ als spezifische Form choreografierter Beschallung untersucht werden, die spezifischen Sprachregeln folgte, bestimmte Hör- und Sprachräume schuf und durch die Etablierung temporärer Kommunikationsgemeinschaften zugleich dazu befähigte, Zustände räumlicher Verortung neu zu konfigurieren. Neben den Darstellungs- und Präsenzeffekten des Chorischen, die zugleich als fundamentale Manifestationen politischer Praxis offenbar wurden, brachte es – so die These – durch die Sensibilisierung der eigenen aufmerksamen Wahrnehmung neue ästhetische Erfahrungen hervor. Dabei fragt sich, inwieweit gerade das Chorische als Verkörperung von Stimmen erfahrbar wurde, mit der sich zugleich eine Verweigerung repräsentativer Macht vermittelte.108
107 Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität, S. 107. 108 Siehe Kraushaar, Der Aufruhr der Ausgebildeten, S. 222: „Alles Repräsentative ist ihnen fremd, jegliches Delegationsprinzip von Übel. Zentrale Idee ist die einer creatio ex nihilo. Wichtigstes Resultat eines derart puristischen Selbstverständnisses ist eine ,programmatische Unbestimmtheit‘.“
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4. DAS „HUMAN MIC“ Ein besonders aussagekräftiges Beispiel chorischer Praxis stellte der Einsatz des sogenannten „Human Microphone“ dar,109 dessen Gebrauch eine Reaktion auf das Verbot der New Yorker Behörden war, die die Verwendung elektrischer Verstärker und technischer Geräte wie Megafone untersagten.110 Um an öffentlichen Orten in New York „amplified sound“ zu verwenden, musste vorher eine Genehmigung bei einer Polizeidienststelle beantragt werden. Die Stadt behielt sich das Recht vor, den Einsatz von Lautverstärkern im Umkreis von Schulen, Gerichtsgebäuden, Kirchen und Krankenhäusern und zu besonderen Ruhezeiten zu verbieten. In Folge diente das kurz „Human Mic“ genannte Verfahren als besondere, bereits erprobte Praktik menschlicher Verstärkung, die in großen Menschenmengen die Übermittlung von Informationen gewährleisten sollte.111 Der Einsatz des „Human Mic“ sah vor, dass die Verstärkung eines Redebeitrags nicht durch elektronische Technik, sondern durch eine Vielzahl menschlicher Stimmen erzeugt wurde. Als hilfreiche Kommunikationstechnik basierte das Verfahren auf einer chorischen Verständigungsweise, die auf Versammlungen und Kundgebungen der Occupy-Bewegung eingesetzt wurde. Es soll gezeigt werden, wie das „Human Mic“ sowohl bei der kommunikativen Ausbreitung von Informationen half, als auch für eine Intensivierung menschlicher Bezüge sorgte. Die Anwendung des chorischen Wiedergabeverfahrens erklärte sich nicht allein durch einen technischen Defizit. In das Koordinatensystem aktivistischer Handlungen des Versammelns, Verharrens und der räumlichen Beschlagnahmung schrieb sich das „Human Mic“ einer Logik der Okkupation folgend zusätzlich als auditive Besetzung in den öffentlichen Raum ein. Die akustische Vereinnahmung führte fort, was als räumliche Aneignung städtischen Raums topologisch bereits begonnen hatte. Als innovatives Werkzeug wurde das „Human Mic“ zu einem zentralen Instrument politischer Formulierungen. An spezifische Formen theatraler Darstellung gebunden erzeugte die besondere Art chorischen Sprechens einen performativen Protestraum. Das Chorische schien Irritationsmomente des Gehört-Werdens zu schaffen und sich als zusätzlicher Körper- und Hörraum, als eine „Raumkunst“ des Protests aufzu-
109 Neben dem Begriff „Human Microphone“ wurde wie eingangs bereits erwähnt vielfach die Kurzform „Human Mic“ oder auch die Bezeichnung „Peoples Mic“ verwendet. 110 In Sonderfällen war die Genehmigung mit der Auflage einer Dezibel-Grenze für die Höhe des zulässigen Schalls verbunden. Zu den Demonstrationsrechten und -restriktionen siehe auch die Informationen der New York Civil Liberties Union unter: http://www.ny clu.org/content/know-your-rights-demonstrating-new-york-city (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 111 Techniken menschlicher Verstärkung wurden bereits in den Antiglobalisierungsprotesten im Jahr 1999 in Seattle angewendet, wo chorische Übertragungen interaktive Kommunikationsprozesse installierten, die unter den Anwesenden in großen Versammlungen Botschaften übertrugen.
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führen.112 Auf welche Weise aber schuf das „Human Mic“ als Artikulationsverfahren des Protests selbst eine politische Arena, die herrschende Machtkonstellationen unterwanderte, neue Ordnungsmodelle erzeugte, vorgängige Gefüge der Kontrolle herausforderte oder strukturelle Disziplinierungen korrigierte? Wie wurde das chorische Kommunikationsverfahren, bei dem Protestierende anderen Sprechenden ihre Stimme liehen, selbst als Fokussierung und räumliche Konzentration von Aktionen erfahrbar? Und wie gelang es den chorischen Verstärkungen schließlich Verbindungen zwischen Raum und den sich darin Bewegenden herzustellen? 4.1 Das „Human Mic“ als Technik körperlicher Stimmenverstärkung In Analogie zur Technik eines Mikrofons setzte das Verfahren des „Human Mic“ von den Beteiligten in einem ersten Schritt eine sensible Aufnahme der akustischen Signale voraus. Im zweiten Schritt der Amplifikation wurde das Gehörte wiedergegeben und verstärkt. Während ein Verstärker in elektronischen Lautsprechersystemen den Pegel eines elektrischen Signals vergrößert und dort erst der elektrische Strom das Signal wieder in Klangwellen transformiert, wirkten im Zuccotti Park die körperlichen Verstärkungskräfte des Chorischen. Das Gesagte wurde mit den Ohren aufgenommen, dann durch den Einsatz des Mundes stimmlich reproduziert und schließlich als vervielfältigte, sprachliche Wiederholung chorisch weitergegeben. Die spezifische Sprachtechnik des „Human Mic“ kann somit als chorisches Verstärkungssystem bezeichnet werden, das eine Stimme durch viele andere Stimmen potenzierte. Die Anwendung begründete sich durch das Anliegen, Wortmeldungen räumlich zu verbreiten, ihren Schall zu verstärken, die Reichweite des Gesagten zu erhöhen und damit potenziell größere Hörer*innenkreise zu erreichen. Der technischen Wirkungsweise eines Telefons sehr ähnlich funktionierte das „Human Mic“ wie ein Fernsprecher, der durch die Reproduktion akustischer Botschaften andernorts Stimmen wiedergibt und so eine neue Mobilität des Gesagten herstellt. Im Unterschied zum Telefon erforderte das „Human Mic“ allerdings die gleichzeitige Anwesenheit von Sender*innen und Empfänger*innen. Im Zuccotti Park begann die Anwendung des „Human Mic“ damit, dass Redner*innen wiederholt die Worte „Mic Check“ ausriefen. Wenn die Menschen in der Nähe des Sprechenden mit „Mic Check“ antworteten, konnte die Person mit der Aufmerksamkeit der Gruppe rechnen und begann einen ersten kurzen Satz oder den Teil eines Satzes zu sprechen. Diejenigen, die hören konnten, was die Sprecher*innen gesagt hatten, wiederholten die Äußerung mit allen anderen Zuhörer*innen im Chor. Die chorische Wiedergabe erforderte eine koordinierte Sprechweise, insofern, als dass alle Beteiligten versuchten, den Sprachrhythmus, die Intonation sowie die zeitliche Aufteilung des Gesagten synchron zu reproduzieren. Wenn die Gruppe mit ihrer kollektiven Wiederholung fertig war, konnte die sprechende Person fortfahren, bis sie abermals pausierte, um die Rede von der Menge wiederholen zu lassen. In größeren Versammlungen kam es zu weiteren Wiederholungen, dann nämlich, wenn die Gruppe so groß war, dass weit von Sprechenden entfernte 112 Vgl. Max Herrmann, „Das theatralische Raumerlebnis“, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.), Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 501-514, S. 501.
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Menschen trotz der verstärkenden Wiederholung das Gesagte nicht hören konnten. Wurde die Grenze der Hörweite erreicht, erforderte das Verfahren mitunter mehrere Wellen der Wiederholung.113 Gitlin beschreibt die Vollzugsweise wie folgt: „A circle sits, or stands. Somebody calls out: ,Mic check!‘ Without hesitation, as if they were only awaiting the signal, some people within hearing range repeat: ,MIC CHECK!‘ The sequence repeats, the echo louder this time: ,Mic check!‘ ,MIC CHECK!‘ ,We have a problem here‘ the speaker might say. ,WE HAVE A PROBLEM HERE‘ ,Look around.‘ ,LOOK AROUND.‘ ,We’re a circle of palefaces.‘ ,WE’RE A CIRCLE OF PALEFACES.‘ ,We need outreach into the neighborhoods!‘ ,WE NEED OUTREACH INTO THE NEIGHBORHOODS!‘ and so on.“114
Im Internet finden sich einige Videos, die die Technik des „Human Mic“ gezielt erklären. Die Mehrzahl der vorhandenen Clips fokussiert allerdings weniger vordergründig dessen konkreten Einsatz, sondern dokumentiert im Rahmen von Versammlungen eher beiläufig spezifische Aspekte des Verfahrens. 4.1.1 „Mic Check!“: Der Auftakt chorischen Sprechens Ein am 7. Oktober 2011 im Zuccotti Park aufgenommenes Video mit dem Titel „Occupy Wall St. – Mic Check at Zuccotti Park – 10/7/2011“ dokumentiert, wie der Aktivierung des „Human Mic“ in Anlehnung an die tontechnische Überprüfung von Soundanlagen jeweils ein sogenannter „Mic Check“ vorausging.115 Die filmische Aufnahme, deren Qualität auf ein mit dem Handy aufgenommenes Augenzeugenvideo hindeutet, dokumentiert seinen eigenen Standpunkt inmitten einer Menschenmenge im Zuccotti Park. Während die sonnengeflutete Fassade eines Hauses auf der Gegenseite ein grelles Gegenlicht produziert, stehen die vielen, die Kamera umgebenden und zunächst nur an ihrer dunklen Silhouette erkennbaren Menschen im Schatten. Die Kamera schwenkt über den gut gefüllten Platz, auf dem Zettel verteilt werden, Menschen vielfältigen Beschäftigungen nachgehen, umherlaufen, sitzen oder stehen. „Mic Check!“, ertönt es in dem bunten Treiben von einer einzelnen Stimme. Während die Kamera ruckartig einen etwas erhöht stehenden Mann fixiert, antworten die in Nähe des Mannes stehenden Versammelten „Mic Check!“. Das Objektiv der Kamera ist in Richtung der nach oben ausgestreckten Hand des Mannes gerichtet, mit der er seinen zweiten Ausruf „Mic Check!“ durch eine zusätzliche Handbewegung sichtbar unterstützt. Innerhalb kürzester Zeit antworten hunderte Protestierende – viel geeinter und stärker nun – „Mic Check!“. Die Lautstärke der Menge, die durch einen polyfonen Chor aus Stimmen entsteht, signalisiert, dass die Aufmerksamkeit der 113 Wie das „Human Mic“ in großen Versammlungen durch mehrfache Wiederholung und dadurch erzeugte Wellen funktionierte, präsentiert das Video „Occupy Wall St – Human Microphone“, abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=VoJBZxOh4bY (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018). 114 Gitlin, Occupy Nation, S. 59f. 115 Der YouTube-Clip „Occupy Wall St. – Mic Check at Zuccotti Park – 10/7/2011“ ist abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=kZt-mA34xXM (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
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Gruppe der bevorstehenden Ankündigung gilt. Indem die Kamera ganz dicht auf den Mann mit langem Bart und schwarzen Basecap zoomt, unterstützt sie diese Fokussierung, in der sich eine Art Neugier auf die zu erwartende Mitteilung abzeichnet. „There is a meeting“, verkündet der Mann tief Luft holend, während die Versammelten den Satz „There is a meeting“ chorisch wiederholen. Kaum hat der Chor den Satz, für dessen Repetition er mehr Zeit benötigt, kollektiv wiedergegeben, schließt der Mann an: „Happening in Trinity Church.“ Die Menge wiederholt: „Happening in Trinity Church.“ Dabei schwenkt die Kamera durch die Versammelten. Man sieht Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, von denen sich einige dem Mann kreisförmig zugewandt haben, während andere ganz bewusst in die entgegengesetzte oder eine andere Richtung sprechen. Die Diversität der körperlichen Positionierungen hat den Vorteil, dass durch die individuellen Ausrichtungen versetzte Schallwege entstehen, auf denen sich die annoncierte Nachricht in möglichst viele verschiedene Himmelsrichtungen verbreiten kann. 4.1.2 Affektive Resonanz In erster Linie gibt das kurze Video wieder, wie Sprecher*innen, die sich der Methode des „Human Mic“ bedienen möchten, ihre Rede mit den Worten: „Mic Check“ beginnen. Damit versichern sie sich der Aufmerksamkeit der Zuhörer*innen und signalisieren, dass sie etwas sagen möchten. Als Bestätigung der Bereitschaft wiederholt die umgebende Menge „Mic Check“ und macht damit deutlich, dass sie bereit ist zuzuhören und nachzusprechen. Wie beim Testen von Mikrofonen vor deren Gebrauch gleicht der „Mic Check“ einer Vergewisserung der funktionalen Bereitschaft des menschlichen Verstärkungssystems. Wie ein Schalter, der aktiviert werden muss, damit ein elektronisches Gerät läuft, bildet er den notwendigen Auftakt für die Inbetriebnahme des menschlichen Mikrofons. Tatsächlich entsteht durch den „Mic Check“ ein Zustand doppelter Aufmerksamkeit, der gleichermaßen für die Mitglieder des Protestchors und ein allgemeines Publikum gilt. Wenngleich es keinerlei Zwang gibt, sich am „Human Mic“ zu beteiligen, harmonisiert der Ausruf die Rezeptionshaltungen beider Gruppen. Der Synchronisation liegt die freiwillige Entscheidung einer Beteiligung zu Grunde, die durch das Vernehmen des Signals stimuliert wird. Die Tatsache, dass viele Menschen durch einvernehmliche Kontributionen in den Chor einstimmten, wurde von Teilnehmenden und Passant*innen als durchaus berührende Erfahrung beschrieben. Mark Bray, Geschichtsstudent und seit den Anfängen politischer Mit-Organisator der OccupyBewegung, hat auf die einnehmende Art des „Human Mic“ und seine affektiven Dynamiken hingewiesen: „There was a mic check, to get people to stay calm, and most people sat down and tried to figure out what they should do as a group. By that time, the police were moving in, and as the arrests started, people stared to stand up again, and the ability of the GA to function crumbled. But that moment of unity and solidarity under these circumstances was very moving.“116
Viele Menschen berührte die Erfahrung, durch das Kommunikationsverfahren selbst aktiv beteiligt zu werden und Teil „von etwas Größerem zu werden“. Zu erfassen, 116 Mark Bray, zit. nach Gitlin, Occupy Nation, S. 63.
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dass man selbst Mitglied einer gemeinsam agierenden Einheit wurde, war für die Entwicklung der Bewegung nicht unerheblich, da gerade das affektive Resonieren ein Gefühl der Solidarität und Anteilnahme erzeugte, das weitere Teilnehmer*innen überzeugen sollte, sich aktiv an den Protesten zu beteiligen.117 4.1.3 Die Konstituierung des Protestchors als Sprachkörper Besondere Relevanz entwickelte die chorische Methode als ein durch die Ko-Präsenz seiner Mitglieder hervortretender Sprachkörper, der eine bewusste Aufnahmegabe erforderte und in dessen Zentrum ein sensitives Körperbewusstsein stand. Um wach und aktiv auf andere reagieren zu können, musste genau wahrgenommen werden, was um einen herum geschah. Der „Mic Check“ bedurfte einer Begegnung, die außerhalb des digitalen Raums stattfand und voraussetzte, „dass man sich mit Haut und Haar auf den Gegenstand des Erlebens einlässt.“118 Als Versammlung zahlreicher Körper produzierte der Protestchor eine räumlich erfahrbare Sozialität, die sich Festschreibungen insofern verwehrte, als dass der Prozess sprachlicher Aushandlung selbst ins Zentrum rückte. Das „Human Mic“ demonstrierte, wie sich verräumlichte Anwesenheit und körperliche Pluralität als Formen spezifischer Präsenz nicht entgegenstanden. Vielmehr wurde den Verfahren der Repräsentation das der gelebten Erfahrung gegenübergestellt. Die Kundgabe eines „Mic Check“ stellte eine Anrufung dar, die wie das AuftaktZeichen von Dirigent*innen an die Aufmerksamkeit der Gruppe appellierte. Das Verfahren war deshalb von entscheidender Bedeutung, weil es eine Achtung inkorporierte, die den Protestchor als synchronisierte Kommunikationsgemeinschaft ins Leben rief.119 Erst im Anschluss an die performative Äußerung „Mic Check“ konstituierte sich das Kollektivsubjekt des Protestchors. Die Aufforderung sprach die versammelte Menge direkt an und adressierte ihre noch lose Anwesenheit. Der Appell forderte ihre Wachsamkeit ein, unterbrach andere Bewegungsabläufe und brachte die Zuhörenden vor der angekündigten Übertragung in Position. Im städtischen Hörraum operierte das „Human Mic“ für Menschen, die mit ihm nicht vertraut waren, immer auch als Abgrenzung nach außen. Gitlin bezeichnete den Einsatz des Verfahrens deshalb auch als „a distinct ritual – a ritual of distinction.“120 Erst die Aktivierung der kollektiven Empfänger*innen, die beständig dazu tendierten selbst zu Sender*innen zu werden, rief in Form eines verkörperten, partizipatorischen Habitus schließlich den Protest-
117 Siehe dazu auch ebd., S. 78: „Some who chafed at the efficiency were charmed by the call-and-responses, even touched by their liturgious revival“. 118 Gerhard Schulze, Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0 – Kunst und Publikum im digitalen Zeitalter, Vortrag auf dem 6. Kulturpolitischen Bundeskongress zum Thema Kulturpolitik in der digitalen Gesellschaft am 09.06.2011 in Berlin. 119 Butler hat ausführlich beschrieben, wie performative Sprechakte der Anrufung neue Körper produzieren können: „Das gesellschaftliche Leben des Körpers stellt sich durch eine Anrufung her, die sprachlich und produktiv zugleich ist. Die Form, in der dieser anrufende Ruf immer weiter ruft, immer weiter in körperlichen Stilen Form annimmt, die ihrerseits eine soziale Magie performativ herstellen, ist die stillschweigende und materiale Funktionsweise von Performativität.“ Butler, Haß spricht, S. 239. 120 Gitlin, Occupy Nation, S. 77.
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chor hervor.121 Der Chor artikulierte sich als Sprachkörper und entwickelte eine spezifische Handlungsmacht, indem er einer sprachlichen Äußerungen die Kraft verlieh, „das zu tun, was sie sagt[e], oder ihr erlaubt[e], Effekte als Folge des Gesagten zu befestigen.“122 4.2. Chorische Repetition als ästhetische Verhandlung Durch den Einsatz des „Human Mic“ wurden einzelne Stimmen mannigfaltig verstärkt. Das Verfahren war auf eine möglichst hohe Beteiligung angewiesen, um die Stimme „über die Begrenzung ihrer körperlich-räumlich bestimmten Reichweite hinaus“123 zu verbreiten.124 Das Chorische streute die Äußerung, es dehnte den Hörraum, erhöhte neben der Reichweite auch die Lautstärke des Gesagten und machte auf diese Weise individuelle Aussagen und Meinungen hörbar. Wenngleich die Verwendung des „Human Mic“ in kleinen Runden weniger notwendig schien, fand sie aus rituellen Gründen, als solidarische Praxis oder aus Freude am ausgestellten Verständigungsprozess dennoch rege statt.125 Umso dringlicher bedurfte es dem Instrument des „Human Mic“ bei Besuchen prominenter Gäste, die im Camp großes Interesse hervorriefen und entsprechend viele Zuhörende versammelten. Der Besuch der hier bereits zitierten Philosophin Judith Butler, die am 23. Oktober 2011 den Zuccotti Park besuchte, kann als ein solches Beispiel gelten. Ein Clip, der dieses Ereignis dokumentiert und am selben Tag mit dem Titel „Judith Butler at Occupy Wall Street“ auf das Video-Portal YouTube hochgeladen wurde, zeigt, wie Butler nach begrüßendem Applaus und der kollektiven Ausrufung ihres Namens als Geste des Dankes kurz ihren Kopf neigt und zu reden beginnt.126 Butler steht mit wenigen anderen Demonstrant*innen auf einer Art Podest, während die Kamera den Blick der Zuhörenden einfängt, die zu ihr aufschauen. Butlers Silhouette wird durch die graue Fassade eines Wolkenkratzers im Hintergrund zusätzlich hervorgehoben. Mit der linken Hand in der Hosentasche steht sie in einer Lederjacke betont lässig auf der provisorischen Bühne inmitten des reflektierenden Fensterglases der umliegenden Hochhäuser. In der rechten Hand hält Butler ein Mobiltelefon, das sie nach dem verklingenden Applaus in beide Hände nimmt. Da sie im Folgenden immer wieder darauf schaut, entsteht der Eindruck, als würde sie ihre Rede davon ablesen. „I came here to lend you my support to you today“, beginnt sie und pausiert, während die umstehenden Zuhörer*innen das Gesagte chorisch wiederholen. Dann spricht sie eine weitere kurze Sequenz, unterbricht selbst ihren Redefluss und setzt bewusst Zäsuren, damit die Aussagen nicht zu lang werden. Ihre 121 Ähnlich wirkte die performative Anrufung der „99 Percent“, die in der OccupyBewegung das Kollektivsubjekt des Protests immer wieder neu behauptete, durch rituelle Selbstdarstellung eines antwortenden Protestchors aufführte und zugleich konstituierte. 122 Butler, Haß spricht, S. 228. 123 Kretzschmar, „Verstärkung“, S. 144. 124 Vgl. Gitlin, Occupy Nation, S. 25. 125 Siehe ebd., S. 76. 126 Das Video ist abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=JVpoOdz1AKQ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
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Sprechweise wirkt geübt, angemessen und achtsam. Als sie auf Kritiker*innen der Bewegung zu sprechen kommt, die beständig nach konkreten Forderungen fragen würden, fällt deutlich ihre melodische Betonung auf, mit der sie Sätze wie „Either they say, there are no demands“ versieht. Der Protestchor versucht ihrer Wortmelodie zu folgen. Es scheint, als fände er darin eine weitere Stütze, um das Gesagte stimmlich zu reproduzieren. Immer wieder unterstützt Butler ihre Aussagen, indem sie die rechte Hand vom Telefon löst und ihre Wortreihungen durch ausholende Bewegungen des rechten Armes taktet („Either they say – there are no demands.“). Vergleichbar mit dem Einsatz der Hände von Dirigent*innen erfüllt Butlers rechte Hand hier die Aufgabe, durch das Ausführen von Schlagfiguren eine Taktung vorzugeben. Mehr noch, Butlers rechten Hand kommt eine weitere Aufgabe zu, die Dirigent*innen traditionsgemäß mit der linken Hand ausführen: die gestische Vermittlung der musikalischen Gestaltung. Die Wechselrede zwischen der Vortragenden und der versammelten Schar wird auch dadurch dynamisiert, dass sich Butler, wenn sie etwas sagt, den Zuhörer*innen körperlich zuwendet. Wenn sie selbst spricht, beugt sie – als wolle sie ihren sprachlichen Sendungen zusätzlichen Nachdruck verleihen – ihren Oberkörper den Umherstehenden entgegen. In den Sprachpausen lehnt sie sich auf das Echo des Chores wartend hingegen zurück. Ihr zurückfallender Oberkörper signalisiert in den Zäsuren eine Empfangsbereitschaft, die durch ihren aufschauenden Blick über die Menge kontinuierlich bestärkt wird. Die Kamera fängt auch das Verhalten einiger Chorist*innen ein, die sich in den Sequenzen der kollektiven Wiedergabe von Butler abwenden und den Blick – vielleicht beeindruckt von der eigenen Wirkung – durch die Gruppe schweifen lassen, um danach wieder der Vortragenden vollste Aufmerksamkeit zu schenken. Dadurch entsteht während der Rede ein bewegungsreiches SichZu-und-Abwenden, ein dynamischer Artikulationsfluss, in dem die Körper affiziert werden, da Sender*innen und Empfänger*innen beiderseits sensibel auf die klanglichen Hervorbringungen des Chores reagieren. Dann folgt eine Sequenz, in der Butler zu einem längeren Satz ausholen will: „Or they say – “, setzt sie an und möchte weitersprechen, wird allerdings vom Protestchor dadurch unterbrochen, dass dieser ihre ersten drei Worte bereits rekapituliert, noch bevor sie ihren Satz weiter ausführen kann. Das Chorische tritt in dieser Situation nicht mehr als einfaches Reproduktionsverfahren hervor. Vielmehr materialisiert sich in diesem Moment die Charakteristik eines horizontalen Aushandlungsprozesses, in dem nicht mehr allein die Rednerin die Textlängen bestimmt, sondern in gleicher Weise die Menge steuernd auf den Redefluss einwirkt. An dieser Stelle realisiert der Protestchor im Sinne Negri und Hardts eine polyfone Konzeption des Erzählens, in der sich die Verkörperung einer pluralistischen Natur ausdrückt, die Teil des eigenen Narrativs wird.127 Die dialogische Signatur des Chorischen bürgt hier für die Offenheit einer Verhandlungspraxis, in der eine Orientierungs-, Koordinierungs- und Gestaltungshilfe nicht mehr durch eine einzelne Sprecherin vorgegeben wird. Dagegen
127 Sie schreiben: „In einer polyphonen Konzeption des Erzählens gibt es kein Zentrum, das die Begeisterung diktieren könnte; Bedeutung entsteht vielmehr nur aus dem Dialog zwischen den verschiedenen Singularitäten.“ Hardt/Negri, Multitude, S. 237.
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relativiert sich gerade zwischen Rednerin und Protestchor die Position einer führenden Instanz zugunsten eines Sprachprozesses situativer Aushandlung. 4.2.1 Befremdende Rhythmisierungen, entrückende Zäsuren: Distanzierungen vom sprachlichen Vortrag Butler spricht in kurzen Intervallen und unterbricht ihre Rede kontinuierlich, damit die Gruppe das Gesagte in mehreren Zyklen chorisch wiederholen kann. Durch die sprachlichen Einschnitte, die Semantiken entzweien und Zeit kosten, geraten ihre Sätze immer wieder ins Stocken. Dadurch rückt die chorische Methode unweigerlich als betont artifizielle Vermittlungsinstanz in den Blick. Die Rhythmisierung der Sprache ruft deutlich wahrnehmbare Störungen des Kommunikationsflusses hervor, generiert in den chorischen Schleifen jedoch eine besondere Relevanz für den Zusammenhalt des Kollektivs. Die Technik des „Human Mic“ installiert mit seinen vielfach einsetzenden Wiederholungen eine Situation permanenter Synchronisierung. Im „Stop and Go“ aus Unterbrechung und Wiederholung erzeugt der neu gegliederte Sprachtext fremdartige sprachliche Melodien, die die Musikalität der Sprache neuartig betonen. Gerade der gleichklingende, besondere Nuancen neutralisierende Kollektivklang schweißt die Chorgruppe zu einem temporären Verbund zusammen. Zum einen gibt der polyfone Chor, dadurch dass alle die gesprochenen Worte inkorporieren, dem sonst relativ abstrakten Konzept von Gemeinschaft eine reale körperliche Präsenz. Zum anderen unterbinden die Zäsuren das Zustandekommen eines kontinuierlichen Textflusses. Weil dieses Muster der permanenten Unterbrechung bestehende Wahrnehmungsmodi nachhaltig irritiert, kann es sich umso expliziter als widerständige Praxis festsetzen. Vergleicht man die Basiselemente des musikalischen Ausdrucks von Butlers Redebeitrag mit Tempo, Rhythmus, Artikulation und Dynamik der chorischen Wiederholung, stößt man auf veritable Differenzen. Diese betreffen weniger die Taktung oder den Einsatz, also Anfang und Ende des Sprechens, als vielmehr den gänzlich verschiedenartigen Klang des Gesagten. Es fällt auf, dass der wiedergegebene Sound des Protestchors als Konglomerat unterschiedlicher Stimmlagen durchaus befremdlich wirkt. Die chorische Sprechweise folgt hier nicht dem im musikalischen Gesangsbereich üblichen Arrangement von Stimmlagen, das durch spezifische Anordnungen für wohltönende Kompositionen sorgt. Im Gegenteil, die lose Zusammenstellung und Diversität der Stimmhöhen verbindet sich zu einem Gruppenton, der – trotzdem er die Kraft der Menge spürbar vereint – spröde, dumpf und zu weiten Teilen unpersönlich funktional, ja beinahe entmenschlicht wirkt. Auf der formalen Ebene der Repetition wird der Klang hier rezitativ statt melodisch wiedergegeben, was die ursprünglichen Betonungen von Butler neutralisiert. Im Sinne Nagys, der bei der Analyse antiker griechischer Dichtung recitation in Opposition zu melodisch verwendet,128 erscheint die Performance des Protestchors aus ästhetischer Sicht wenig innovativ. Dem chorischen Ensemble gelingt es durch konkrete Ausdrucks- oder Phrasierungsnuancen weder eine variable sprachliche Intonation noch Wechsel in den Tonfarben hervorzubringen. Tonfall und Redestil der chorischen Repetitionen gewinnen weniger durch die qualitative Akzentuierung der Aussprache an Intensität als durch den Nachdruck jener Vielzahl von Stimmen. Das Feh128 Nagy, Pindar’s Homer, S. 20: „to indicate either the absence or reduction of melody“.
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len stimmlicher Nuancen beschleunigt die Auflösung rhetorischer Raffinesse und demonstriert, wie sich das Gesagte nach chorischer Einverleibung von den individuellen Bezügen und Betonungen seiner Rednerin löst. Das chorische Sprechen vergrößert an diesem Punkt die charakteristische Spannung von Stimme und Sprache. Im Protestchor wird die Aufmerksamkeit des (Zu-)Hörens nicht mehr auf das Eigenleben einzelner Stimmen gelenkt, die nur als Medium im Dienste der Sprache das Gesagte anderer zu Gehör bringen. Während individuelle Stimmen sonst immer auch die Redenden selbst hervorbringen – Qualität und Eigenheit der Stimme verweisen ja auf deren Anwesenheit – markiert die Kollektivstimme des „Human Mic“ nicht mehr unmittelbar nur das leibliche In-derWelt-Sein einzelner Sprecher*innen, sondern die Präsenz kollektiver Akteur*innen, deren Identität nicht mehr zu einer einzelnen Stimme zurückzuverfolgen ist. Das „Human Mic“ verwischt die eindeutige Autorenschaft, es anonymisiert seine Quellen, verfremdet seinen Ursprung und steht damit in der Tradition einer Mediengeschichte der Verstärkungstechniken, die sich als „technische Etablierung einer Trennung von Körper und Stimme darstellt, d.h. [als] zunehmende Ablösung des Schalls von seiner Quelle.“129 4.2.2. Ästhetik chorischer Wiederholung: Synchronizität als Modifikation Das „Human Mic“ setzt soziale Energien frei, deren Sprachgewalt nicht allein aus der synchronen Wiedergabe eines Textes resultiert.130 Das Synchrone stellt sich in Anlehnung an Kracauers Ballettreihe aus Beinen der Tiller Girls auch nicht als sinnentleerte Wiederholung dar.131 Vielmehr wird das Chorische zu einem Modell für die Pluralität lautklanglicher Entäußerungen, die Verschiedenheit der Schwingungen, dissonante, unpassende Versatzstücke, fehlenden Gleichklang. Dieses Audio deckt sich mit dem Abbild des Kollektiven als wimmelnder Fülle, die sich verdichtet und ausdünnt und daher durch ihre Fluktuationen konkreter beschrieben werden kann als durch ihre Beständigkeit. Schließlich meint Synchronizität nicht ein von außen angeordnetes gleichgeschaltetes Unisono des Chores, sondern die gruppenimmanente Steuerung energetischer Momente des Atmens und Sprechens, deren Basis der Körper ist. Die chorischen Performances des „Human Mic“ führen vor, wie sich unterschiedliche Körper organisieren lassen. Der Protestchor ist dabei nie Produkt, sondern immer Prozess vielfältiger Konflikte, in denen auch Dissonanzen und Differenzen offenbar werden. Über Atem und Rhythmus, das chorische Nachsprechen eines Redebeitrags oder gemeinsame Bewegungen findet eine praktische Auseinandersetzung 129 Kretzschmar, „Verstärkung“, S. 146. 130 Zur Konzeption ,sozialer Energie‘ siehe u.a. Stephen Greenblatt, Verhandlungen mit Shakespeare: Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990 sowie zu einer kritischen Auseinandersetzung von Greenblatts großräumig metaphorischem Begriff: Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv: eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005, S. 47-49. 131 Vgl. Siegfried Kracauer, „Ornament der Masse“, in: Frankfurter Zeitung vom 09.06.1927, wieder in: Ders., Schriften, Bd. 5.2, S. 57-67; sowie im gleichnamigen, von Kracauer 1963 selbst zusammengestellten Sammelband Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1971, S. 50-63.
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auch als verräumlichte Kommunikationsstrategie der Besetzung statt. Das schwarmhafte Äußere, das als Fehlen konkreter Formierungen der Gruppe offenbar wird, und die klangliche Verschiedenheit der Ansprache spiegeln die fehlende Uniformität innerhalb der Gruppe, lassen erneut Distanz zum eigenen Tun entstehen und können somit die Selbstreflexivität politischer Bewegungen maßgeblich stärken. Der kollektive Charakter der Raumbesetzung wird dann als eine spezifische Form der akustischen Organisation erkennbar, die auf eine komplexe Weise als Antizipation struktureller Synchronisierungen beschrieben werden kann: Weniger als auf den Sprechakt selbst bezieht sich das Synchrone dabei auf die gemeinsame Anwesenheit zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Beim Einsatz des „Human Mic“ ist von politischer Bedeutung, dass sich die Erfahrung permanenter Synchronisierung nicht mit der Etablierung eines Gleichklangs deckt. Der einheitliche Klang, der durch die kollektiven Wiederholungen der vielen Stimmen entsteht, täuscht nicht darüber hinweg, dass die Resonanz des Protestchors keineswegs gesichert ist. Im Gegenteil klingt im chorischen Widerhall selten blindes Einverständnis mit. Genauso wenig werden mit Hilfe des „Human Mic“ Parolen gedankenlos rezitiert. Die Performerin und Stipendiatin des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ Sylvie Kretzschmar hat verdeutlicht, dass der Inhalt der Rede im Nachsprechen „verstanden und performativ nicht nur verarbeitet, sondern stetig kollektiv simultan kommentiert“ wird.132 In Folge nennt sie diesen Vorgang „ein Multitasking von Hören, Nachsprechen, Verstehen, und gleichzeitiger Entwicklung und Expression der eigenen Haltung zum Gesagten.“133 In den Echowellen des Protestchors schwingt mehr mit als die bloße, simultane Wiedergabe gesprochener Worte im Chor. Vielmehr materialisiert sich im vordergründig konzessionären Klang der Gruppe ,Resonanzʻ als ein Modus der Abstimmung, in dem Verfahrensregeln und Prozesse der Steuerung einander durchdringen. Das bisherige Narrativ politischer Auseinandersetzung beruht auf öffentlich ausgetragenen Konfrontationen antagonistischer Lager. Entsprechend ging die Protestforschung bisher von der Überlegung aus, dass die kollektive Identität sozialer Bewegungen erst durch die negative Abgrenzung zu Gegner*innen an Kontur gewinnt. Auch die Occupy-Bewegung zeigte, wie sich kollektive Identität allgemein auf Grundlage moralischer Wertungen im Wechselspiel von Selbst- und Fremdbildern formt – was hier anfänglich vor allem durch die negative Abgrenzung von den politischen und wirtschaftlichen Eliten geschah.134 Es lässt sich nicht abstreiten, dass die vielfältigen Besetzungs- und Protestaktionen zum Teil an Strategien einprägsamer Dramatisierung festhielten. Auch die Occupy-Bewegung versuchte auf der einen Seite sich selbst und ihre Verbündeten mit positiven Bewertungen zu besetzen, während auf der anderen Seite Gegner*innen mit den entsprechenden Gegenwerten benannt wurden. Gleichwohl fiel auf, dass sich die Bewegung mit dem Slogan „We are the 99 percent!“ äußerst
132 Kretzschmar, „Verstärkung“, S. 153. 133 Ebd. 134 Vgl. Dieter Rucht, „Kollektive Identität“, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 8. Jg., Nr. 1 (1995), S. 9-23.
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breit, geradezu anonym und ohne klare Konturen definierte. Die sehr allgemeinen Forderungen der Aktivist*innen – etwa höhere Steuern für Wohlhabende oder die institutionelle Entflechtung von Politik und Wirtschaft – stießen als Problemdeutungen nicht in jedem kulturellen Umfeld auf die gleiche Resonanz. Im Verlauf der Untersuchung wurde zudem deutlich, dass bei Occupy starke Skandalisierungen und öffentlichkeitswirksamer Aktionismus weniger entschieden im Vordergrund standen, um moralische Bindungen zu entwerfen oder lose versammelte Aktivist*innen als geeinte Gegner*innenschaft zu inszenieren. Im Gegenteil gerieten interne Debatten und öffentliche, frei zugängliche Diskussionskreise in den Mittelpunkt, in deren Verlauf die Erzeugung eines konsistenten Wir-Gefühls zugunsten offener, pluraler, unabhängiger und autonomer Begegnungen verteidigt wurde. Statt mit dem Mechanismus der Ausgrenzung eine starke Gruppenkohäsion zu erzeugen, hatte das postidentitäre Vorgehen zur Konsequenz, dass sich in den anhaltenden Interaktionen kein eindeutiges Profil der Bewegung stabilisierte.135 Gerade vor dem Hintergrund des immer wieder erhobenen Vorwurfs, die Occupy-Bewegung habe keine eindeutigen Ziele formuliert und daher in keiner Weise nachhaltig wirken können,136 fragt sich schließlich, ob die Organisation von Besetzungen, wie spezifische Abstimmungsverfahren oder chorische Kommunikationsformen wie das „Human Mic“ dazu beitragen können, Leerstellen abstrakter Postulate durch eine Praxis alternativer Organisationsformen auszufüllen. Während die Protestforschung bisher nach den kulturellen Rahmenbedingungen, Mobilisierungserfolgen, kognitiven und evaluativen Voraussetzungen sozialer Bewegungen fragte, scheinen chorische Protestverfahren, die eine eindeutige Gruppenzugehörigkeit in Frage stellen, selbst als politische Handlungsoption auf, indem sie identitätspolitische Zwänge und eindeutige Positionierungen aufzuheben versuchen. Dient das Chorische als gelebte Konversation und aufgeführte Ereignishaftigkeit damit mehr als konkrete Ergebnisse des Protests dazu, Ziele von Protestbewegungen zu realisieren? Inwiefern legen versammelte Körper Zeugnis davon ab, dass Prozesse der Platzbesetzung und Verfahren identitärer Selbstbefragung selbst zur Botschaft werden? Kommt Protestchören durch ihre Widerstandsästhetik schlussendlich die Fähigkeit zu, Elemente gelebter Demokratie zu revitalisieren, die über die bloße Kritik an der Repräsentation hinausgehen? 135 Thomas Kern und Sang-hui Nam haben betont, dass Werte der Bewegung wie Gleichheit, Unabhängigkeit, Offenheit, Demokratie und Vertrauen nahezu deckungsgleich mit den typischen Wertemustern westlicher Demokratien waren. Beide schlussfolgern: „Die positiven Bewertungen und Objekte allein sagen kaum Spezifisches darüber aus, inwiefern Occupy sich etwa von anderen Bewegungen unterscheidet. Lediglich im Hinblick auf die Protesttaktik finden sich in den Quellen Hinweise auf einen Legitimationszusammenhang zwischen dem Wert der Unabhängigkeit und der Herstellung ,unabhängiger‘ öffentlicher Räume durch die Besetzung von Straßen und Plätzen.“ Thomas Kern/Sang-hui Nam, „Werte, kollektive Identität und Protest: Die Mobilisierung der Occupy-Bewegung in den USA“, in: Politik und Zeitgeschichte, 62. Jg., Nr. 25/26 (2012), S. 29-36, S. 34. 136 „Aus unzähligen Beschwerden“, schrieb das Bureau of Public Secrets zwar, „ergibt sich vielleicht noch kein kohärentes Programm, aber in ihrer Gesamtheit implizieren sie bereits einen grundlegenden Wandel des Systems.“ Bureau of Public Secrets, „Die USA erwachen!“, S. 39.
VII Ästhetik des Widerstands
„Über Kunst sprechen zu wollen, ohne das Schlürfende zu hören, mit dem wir den einen Fuß vor den andern schoben, wäre Vermessenheit gewesen. Jeder Meter auf das Bild zu, das Buch, war ein Gefecht, wir krochen, schoben uns voran, unsre Lider blinzelten, manchmal brachen wir bei diesem Zwinkern in Gelächter aus, das uns vergessen ließ, wohin wir unterwegs waren.“1
Mit dem Fokus auf chorische Organisationsformen verband sich in dieser Untersuchung die These, dass sich heutige Protestformen des Chorischen von der traditionellen Nutzung des Chores als kollektiver Stimme und repräsentativem Stellvertreter*innenmodell abgrenzen. Statt die Chor-Form für Identitätspolitiken protestierender Gruppen zu instrumentalisieren, sollte gezeigt werden, wie chorische Verfahren aktuell immer deutlicher selbst zur Grundlage kontroverser Auseinandersetzungen mit den Darstellungsverfahren von Protest werden. Der Blick auf das Chorische sollte ermöglichen, die vielfältigen Abstimmungsprozesse und Organisationsfragen innerhalb des Chores zu lokalisieren, die sich von affirmativen Proteststrategien unterscheiden und stärker den oppositionellen Charakter möglicher Wahrnehmungsvollzüge betonen. Die Proteste gegen einen neuen Bahnhof in Stuttgart dienten dabei als Ausgangspunkt, um zu demonstrieren, in welcher bürgerlichen Traditionslinie sich etablierte Protestverfahren verorten. Die Chor-Form der „Bürgerchöre“ präsentierte eine im Namen bereits deutlich erkennbare identitätspolitische Strategie, die dafür genutzt wurde, eine bewusste Grenzziehung zwischen der eigenen politischen Position und anderen zu behaupten. Die Ausprägung des Stuttgarter Protestchors gründete auf der Annahme, dass eigene Ansprüche und Interessen leichter durchgesetzt werden können, wenn sich Akteur*innen in deutlicher Differenz zu Gegner*innen als homogene Gruppe präsentieren. Ähnlich wie skandierende Sprechchöre schlossen insbesondere die „Schwabenstreiche“ als Oppositionsform chorischen Lärmens an das Narrativ einer Umkehrung und Überwindung von Schwäche in Stärke an. Sie machten auf ohrenbetäubende Weise jene Vorstellung erfahrbar, der zufolge die Widerstandskraft einer Gemein1
Weiss, Ästhetik des Widerstands, S. 59.
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schaft nur dann stark ist, wenn innere Differenzen durch kollektivierende Handlungen nivelliert werden. Das Modell der „Bürgerchöre“ wurde so zur Reflexionsgrundlage für die Frage, warum sich Protestierende in anderen Protestbeispielen gegenwärtig immer stärker von einem solchen Einsatz des Chores abgrenzen. Diese Arbeit ging von der Beobachtung aus, dass sich an der Art und Weise wie Protestierende heute chorische Formen einsetzen, ein Wandel politischer Handlungsstrategien erkennen lässt: Während Protestchöre des affirmativen Modells die Materialität des Chores einsetzen, um sich als gleichwertiger Kollektivakteur zu etablieren, rücken chorische Verfahren des Protestierens gegenwärtig immer stärker von eindeutigen Positionierungen ab. Das Chorische hinterfragt identitätspolitische Repräsentationsmechanismen. Anstatt darauf zu drängen, marginalisierte Positionen stark machen zu wollen, verzichtet es auf den Kampf um Anerkennung. Ganz im Gegenteil kommen Verfahren chorischer Organisation jenseits traditioneller Ermächtigungsstrategien zur Anwendung, um Identitätskonzepte kritisch zu hinterfragen. Während das Skandieren von Protestchören den Antagonismus einer Auseinandersetzung behauptet und vielmals die Konflikthaftigkeit einer Debatte verhärtet, weil sich Aktivist*innen demonstrativ nicht als verhandlungsoffen zeigen, wurde mit der in dieser Untersuchung vorgestellten Konzeption des Chorischen ein Modell vorgeschlagen, das die performative Dimension und damit die erzeugende Hervorbringung von Widerstand fokussiert. Dabei deutete sich das Potenzial des Chorischen als das potenziell Postidentitäre an – als Synthese, die gemeinsames Handeln nicht mehr an die Behauptung einer Gruppen-Identität bindet. Diese Studie ging davon aus, dass heutige Protestformen des Chorischen gerade dadurch als postidentitär beschrieben werden können, da sie sich durch den Vollzug ihres Handelns Verfahren politischer Repräsentation widersetzen und dadurch Fremdbestimmungen normativer Identitätsformung ablehnen. Das schließt ein, dass auch eine Vorgehensweise, die das Kollektive betont, um sich vordergründig gegen das Phantasma des Individuellen oder das Einzigartige zu richten, durch die Betonung einer Gruppenzugehörigkeit und die Erzeugung eines starken Wir-Gefühls mit Mechanismen der Ausgrenzung operiert. Das Postidentitäre erscheint dagegen als politische Handlungsoption, die den Zwang eindeutiger Positionierungen aufzuheben versucht oder zumindest darauf drängt, ihn auszusetzen. Statt aus einer vorhandenen Identität auszubrechen, um sich in einem Akt der Emanzipation von ihrer Fremdbestimmung zu befreien, befragt das Postidentitäre die Verknüpfung politischer Anliegen an das Konzept der Identität im Allgemeinen. Dabei geht es nicht darum, ,Identität‘ generell zu negieren oder abzulehnen, sondern um die bewusste und selbstreflexive Thematisierung von Subjektivierungsweisen in der politischen Auseinandersetzung. Viele politische Bewegungen entwarfen sich bisher allerdings gerade in Opposition zu bestehenden gesellschaftlichen Themen. Als Interessengemeinschaften konstituierte sich ihre kollektive Identität durch die Ablehnung bereits bestehender Positionen oder durch den Versuch, sich selbst als bisher marginalisierte Gruppe zu ermächtigen. Die Einforderung von Anerkennung fand dabei jedoch keineswegs außerhalb identitärer Zuschreibungen satt. Wenn keine eindeutigen Eigenschaften mehr vorliegen, verliert sich Identität. Eine Instanz, die diesen Vorgang vergegenwärtigt, stellt der Chor dar. Durch das Eintauchen in Chor-Gruppen stellen Einzelne ihr individuelles Sein zurück. Bereits im Chor deutet sich daher das Potenzial jener Befreiung an, nicht mehr individuell sein
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zu müssen. Gerade im Verhältnis zu gesellschaftlichen Prozessen der Selbstdarstellung, des erwarteten Selbstbewusstseins oder der vom Neoliberalismus zelebrierten, weil ausstattbaren Individualität, verweist die Formation des Chores auf das subversive Potenzial dieser Befreiung. Auch die Chor-Form neigt jedoch dazu, kollektive Identitäten zu repräsentieren, die dann nicht mehr die Identitätsfindung Einzelner betrifft, aber die dargestellter oder hervorgebrachter Gemeinschaften. Das Modell des Chorischen wurde so angedacht, dass sich diese Identitätspolitik des Chores zugunsten einer Selbstbefragung auflöst. Chorische Abläufe fokussieren die Abstimmungsverfahren innerhalb des Chores als einen Prozess, nicht die anvisierte Form. Da im chorischen Vollzug von pluralen Akteur*innen performativ festgelegt wird, was möglich sein kann, entfallen im Vorfeld wesentliche Kriterien der Bestimmbarkeit. Das Chorische zielt nicht mehr darauf, einzigartige Merkmale auszubilden. Im Wissen darum, dass seine Akteur*innen nie ganz aus dem gesellschaftlichen Gefüge ausbrechen können, illustriert das Chorische vielmehr, dass interne Interaktionsprozesse selbst in den Blick genommen werden müssen. Durch ihre postidentitären Eigenschaften ermöglichen chorische Verfahren auch und insbesondere in Protestsituationen, die Ausschlussmechanismen kollektiver Identität zu hinterfragen. Das Chorische stellt sich der Identitätspolitik des Chores sowie anderen dominanten Gruppen entgegen. Sein Widerstand wird dort greifbar, wo es deren Ziel dekonstruiert, Subjekte durch Verpflichtung auf eine vermeintlich notwendige oder vernünftige gemeinschaftliche Norm zu binden. Das Chorische markiert ferner verborgene Mechanismen der Herrschaft, die durch spezifische Weltsichten immer auch Ausgrenzung praktizieren. Eine Verbindung zu aktuellen Protesthandlungen wird dort sichtbar, wo die Herstellung eines Wir-Gefühls, um Opposition zu sein, obsolet wird und Emanzipation jenseits von Prozessen der Selbstermächtigung stattfinden kann. Die hier vorgenommene Präzisierung des Postidentitären wurde notwendig, um in historischer Perspektive sowohl die Differenz zur 1968er-Bewegung als auch die Weiterentwicklung des Widerstandsbegriffs aufzugreifen. Hinter postidentitären Praktiken stehen Verhaltensweisen, die darauf abzielen, die Sammlung fremdbestimmter Verhaltensmuster aufzugeben, die Identität definieren. Damit wird anvisiert, sich normativen Strukturen, Stereotypen und Erwartungen zu entledigen. Die Bestimmung eigener Identität ebenso wie die Identifizierung des spezifisch Anderen soll umso vehementer vermieden werden, da sie letztlich auf äußeren Zwängen beruht. Mehr als durch einmal festgelegte und dann unveränderliche Eigenschaften stellt sich Identität selbst als Verfahren kontinuierlicher Differenzierungen dar. Die Protestgeschichte belegt, wie Darlegungen anderer Positionen traditionell auf der Aufführung dieser Unterscheidungen beruhten. Anhand der Entwicklungen sozialer Bewegungen konnte dieses Wechselspiel aus Abgrenzung und Dazugehören-Wollen in Form identitätspolitischer Kämpfe beobachtet werden. Von einem heutigen Standpunkt aus betrachtet erscheinen Protestformen wie die Direkten Aktionen oder Happenings der 1968er Jahre als Vorbereitung postidentitärer Zugänge des Protestierens. Sie diskutierten das Verständnis von Widerstand als Gegenmacht, das heute nicht obsolet geworden ist, sondern sich ein weiteres Mal verändert: In die angeführten Protestbeispiele schrieb sich so ein identitätspolitischer Wandel ein, der statt weiterer politischer Konfrontationen demonstriert, wie „separierende oder gemeinschaftsbil-
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dende Praktiken, die im Handlungsvollzug auf Werte verpflichten, und als Aufbrechen von Freiheitsräumen im hic et nunc aufgefasst werden können“,2 symbolische Politik mehr und mehr ersetzen. In den Beispielen deutete sich an, dass Protestierende statt der Form des Chores mehr und mehr chorische Verfahren anwenden, um das Widerständige nicht als laute Opposition oder große Geste hervorzubringen. Widerstand entäußert sich viel subversiver in weniger offensichtlichen Verfahren der Selbstbefragung. 3 Im kleinen Rahmen entwickeln chorische Protestformen durch die Infragestellung identitärer Zugehörigkeit ein viel größeres Widerstandspotenzial, indem sie sich weltanschaulichen Ideologien oder autoritärer Herrschaft entziehen und dadurch das gesellschaftliche Fundament normativer Ordnungen als Ganzes angreifen. Das Chorische widersetzt sich den disziplinären oder organisatorischen Maßnahmen dabei gerade durch die Art und Weise eigener Handlungsvollzüge. Entsprechend appelliert Foucault an eine Beweglichkeit politischen Denkens, das darauf abzielen soll, „Evidenzen zu zerstören, verfestigte Machtbeziehungen zu verflüssigen, um den Raum des Möglichen zu vergrößern und das doch um seine Gefährlichkeit und potenziellen Herrschaftswirkungen weiß.“4 Neben den offiziellen Terrains politischer Auseinandersetzung müssten nicht neue Orte aufgesucht, sondern das Widerständige im Alltäglichen – an all jenen Orten präsenter und versteckter Macht – entdeckt werden. Foucault fordert, „die Art zu essen, sich zu ernähren, die Beziehungen zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, die Art zu lieben, die Art, wie die Sexualität unterdrückt wird, gesellschaftliche Zwänge, das Verbot der Abtreibung […]“5 – all dies zum Gegenstand politischer Aktionen zu machen. Weiter schreibt er: „Deshalb bestimmt sich der politische oder nichtpolitische Charakter einer Aktion nicht mehr allein durch das Ziel dieser Aktion, sondern durch die Art und Weise, wie Dinge, Probleme, Besorgnisse und Leiden, die die europäische Tradition des 19. Jahrhunderts als einer politischen Aktion unwürdig verbannt hatte, politisiert werden.“ [Hervorh. SD]6
Foucault denkt damit vor, dass Widerstand nicht nur in Form besonderer politischer Aktionen, sondern als betont performative Kategorie auch in weniger offensichtlichen Kontexten des Alltäglichen auftreten kann. Daraus folgt, dass sich die konkreten Handlungsvollzüge, die Proteste letztlich erzeugen, in ihrem Tun und damit durch 2
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Martin Klimke/Joachim Scharloth, „Maos Rote Garde? ,1968‘ zwischen Kulturrevolutionärem Anspruch und subversiver Praxis – Eine Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Bonn 2008, S. 1-7, S. 2. Protesthandlungen wurden in dieser Untersuchung nicht als politischer Widerstand definiert, der auf dem bewussten Willen zum aktiven Handeln gegen eine terroristische oder diktatorische Herrschaft basiert. Diesem engen Widerstandsbegriff wurde ein weitgefasster und weniger moralisch wertender Widerstandsbegriff gegenübergestellt, der ein breites Spektrum nonkonformer Verhaltensweisen einschließt. Daniel Hechler/Axel Philipps, „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Widerstand denken, S. 7-16, S. 11. Michel Foucault, „Gefängnisse und Gefängnisrevolten“, in: Ders., Schriften in vier Bänden, Bd. 2, S. 530-539, S. 533. Ebd.
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die Art und Weise des Aufeinanderbezogenseins, eben gerade selbst normativen Strukturen entgegenstellen können. Zum einen lässt sich mit Foucault das politische Potenzial des Privaten entdecken: Mit der Ausweitung des Widerständigen und seiner Verortung im Alltäglichen werden Fragen aufgerufen, die Widerstand nicht mehr nur auf öffentliche und massenwirksame Aktionen reduzieren. Den Alltag als Ort kreativen Widerstands zu entdecken, wird heute umso dringlicher, da immer stärker die „eigenen, täglichen Bewegungen und Freizeitaktivitäten […] zu einer Form der Wert erzeugenden Arbeit geworden“ sind oder kritisiert wird, dass „aus dem bloßen Vermögen, sich zu bewegen, Kapital geschlagen“ wird.7 In Folge verlangt die Überwindung selbstdisziplinierender Herrschaftsverhältnisse subversivere Praktiken, die nicht mehr den überholten Formaten einer Widerstandspolitik in Form symbolischer Großdemonstrationen entsprechen können. Zum anderen ergibt sich aus Foucaults Anmerkungen der Hinweis, das Widerständige insbesondere in der spezifischen Art und Weise politischen Handelns zu entdecken und dabei die speziellen Rahmungen der jeweiligen Aktionsformen zu reflektieren.8 Damit ist in beiderlei Hinsicht die politische Fähigkeit des Chorischen angesprochen sowie jene nicht vordergründig politisierte Art des Handelns benannt, die sich in chorischen Vollzügen ausdrücken kann. Sie schließt die Möglichkeit ein, dass das Chorische gerade keine einzigartigen Merkmale ausbildet und damit nicht zwangsläufig ästhetisch im Sinne einer Theorie des Schönen agiert. Damit rückt die Frage in den Vordergrund, was das Ästhetische jener neuen Ästhetik des Widerstands auszeichnet. Sich spezifischen Widerstandsästhetiken zuzuwenden und in chorischen Protestereignissen eine Ästhetik des Widerstands zu reflektieren, ist ohne Verweis auf den gleichnamigen Roman von Peter Weiss schwer möglich. In seiner Ästhetik des Widerstands mischen sich in einem nicht-autobiografischen, historischen Kontext fiktive Gespräche und Erfahrungen realhistorischer Figuren.9 Die besondere Erzählweise des Romans, die sich durch aufgeteilte Erfahrungsebenen und vielfältige Stimmen ständig erweitert, lässt einen Vergleich zum mythologischem Urgrund des Chores zu. Auch der Chor gleicht dem Echo einer fernen Vergangenheit, das aus einer intuitiven Vor-Zeit nachzuhallen scheint, um sich fortwährend in neue kulturelle Formen einzuschreiben. 7 8
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Massumi, Ontomacht, S. 50. Wo Kreativität, Kommunikation und sich selbst organisierende Kooperationen zu Haupttugenden postfordistischer Produktion geworden sind, muss den Verstrickungen künstlerischer Ansätze von Widerstand besondere Beachtung geschenkt werden. Vgl. Hardt/Negri, Multitude, S. 101. Der besondere Aufbau des Romans wurde vielfach diskutiert. Seine eigenwillige Konstruktion verdankt sich Burkhardt Lindner zufolge dem Interesse des Autors, „die eigenen ästhetischen Erfahrungen auf Figuren des Widerstands zu projizieren und dadurch zu neuen Lesarten zu gelangen (oder umgekehrt die verstummten Figuren des Widerstands mit dieser ästhetischen Problematik beredt zu machen).“ Burkhardt Lindner, „Der Widerstand und das Erhabene. Über ein zentrales Motiv der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss“, in: Lüdke, Martin/Schmidt, Delf (Hrsg.), Widerstand der Ästhetik? Im Anschluß an Peter Weiss, Literaturmagazin 27, Reinbeck bei Hamburg 1991, S. 28-44, S. 30.
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In Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands „überschneiden sich die großen, kräftigen Stränge der Kunstgeschichte unseres Jahrhunderts: formale Strenge, politisches Engagement, avantgardistische Haltung.“10 Widerstand tritt hier als politischer Terminus auf, der in deutlichem Bezug zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit steht und als antifaschistischer Widerstand ausgewiesen ist. Dennoch bedeutet Widerstand für Weiss „zuallererst die ästhetische Erfahrung, daß Kunst eine Form des Überlebens darstellt, die dem Nichts abgerungen wird.“11 So ist das Zeitmaß des Widerstands in Weiss’ Werk kein individuelles, sondern ein kollektives. Denn: „Im unendlichen historischen Zeit-Raum des Widerstands käme mit der Vollendung eines menschlichen Lebens, auf die der Entwicklungsroman abzielt, nichts oder – gemessen an der Gesamtheit – nur wenig zum Abschluß.“12 An der Schnittstelle von Kunst und Politik, ästhetischer Erfahrung und politischer Praxis wird Weiss zu einem Vermittler des komplexen Verhältnisses von Widerstand und Ästhetik, in dessen Rahmungen sich auch diese Arbeit entfaltete. Die verschiedenen Erzählstränge des Weissschen Romans reflektieren die Doppeldeutigkeit der Kunst als formgebender Widerstandsfunktion (genitivus objectivus) und jene Rolle der Ästhetik für den Widerstand (genitivus subjectivus). Bezogen auf eine durch chorische Protestverfahren ausgelöste Neuformulierung einer Ästhetik des Widerstands soll es abschließend weniger darum gehen, in den künstlerischen Praktiken der Protestchöre eine Pflicht der Kunst zum Widerstand zu behaupten. Viel produktiver wirkt die Erkenntnis fort, dass im autonomen Gestalten sozialer Praktiken, die immer auch als ästhetische Prozesse erfahrbar werden – konkret in Momenten der beschriebenen Protestszenarien –, Widerstand als eine erfahrbare Größe wahrgenommen werden kann, ohne semantisch behauptet werden zu müssen.13 In Weissʼ Ästhetik des Widerstands stellt noch der Gegensatz zwischen Kunst und Widerstand nach der einschneidenden Zäsur des Zweiten Weltkriegs ein Grundparadigma dar.14 Weiss fragt, in welcher Form ein ästhetischer Zugang zu Krieg, Gewalt und Unterdrückung nach den zivilisatorischen Gräueln der Nationalsozialist*innen überhaupt gelingen kann. Die hier entwickelten Fragestellungen zu chorischem Protest gehören jedoch weniger jener Tradition an, die Kunst als Opposition untersucht. Wenngleich sich ästhetischer Widerstand durchaus der „Kraft der Kunst“15 oder dem „Einspruch des ästhetischen Subjekts“16 verdanken kann, soll eine
10 Martin Lüdke/Delf Schmidt, „Editorische Notiz“, in: Dies. (Hrsg.), Widerstand der Ästhetik?, S. 7-8, S. 7. 11 Lindner, „Der Widerstand und das Erhabene“, S. 31. 12 Kurt Oesterle, „Dante und das Mega-Ich. Literarische Formen politischer und ästhetischer Subjektivität bei Peter Weiss“, in: Lüdke/Schmidt (Hrsg.), Widerstand der Ästhetik?, S. 4572, S. 48. 13 Vgl. Rüdiger Safranski, „Das Theodizeeproblem der Kunst“, in: ebd., S. 73-81, S. 78. 14 Vgl. Karen Hvidtfeldt Madsen, Widerstand als Ästhetik: Peter Weiss und ,Die Ästhetik des Widerstands‘, Wiesbaden 2003, S. 1. 15 Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013. 16 Vgl. Klaus Heinrich, Karl Friedrich Schinkel, Albert Speer: Eine architektonische Auseinandersetzung mit dem NS, Aachen/Frankfurt a.M. 2015, S. 12.
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Ästhetik des Widerstands nicht mit künstlerischem Widerstand gleichgesetzt werden.17 Ausgehend von einem erweiterten Widerstandsbegriff soll Ästhetik hier im ursprünglichen Sinn von Aisthesis an eine Theorie der sinnlichen Wahrnehmung anschließen, die die Gliederung von Wahrnehmungserlebnissen ermöglicht und zu ästhetischen Strukturierungen von Erfahrungen führt. Die anvisierte Neuformulierung einer Ästhetik des Widerstands ist daher eher im Sinne des französischen Philosophen Jacques Rancière „auf der Ebene der sinnlichen Aufteilung des Gemeinsamen der Gemeinschaft, ihrer Formen der Sichtbarkeit und ihres Aufbaus“18 anzusiedeln. Als eine ästhetische Kategorie rückt Widerstand insofern in den Mittelpunkt, als dass sich die Kraft der Ästhetik gegen politische Unterdrückung dem Modus einer besonderen sinnlichen Vermittlung verdankt, deren Verfahrensweisen, Methoden und Praktiken es zu untersuchen gilt. Prämisse dieser Arbeit war, dass Widerstand zum Objekt ästhetischer Erfahrung werden kann.19 Die nachfolgenden Überlegungen sollen bekräftigen, dass Widerstand ein Phänomen unserer Wahrnehmung betrifft, das Einfluss auf unsere Reflexionen und Diskurse ausübt. Die Erfahrung von Widerstand als ästhetischer Situation bedeutet, mit den Handlungen, die Widerstand hervorbringen, zugleich die Anwesenheit, Präsenz und Wahrnehmung anderer Teilnehmer*innen und Zuschauer*innen zu betonen.20 So wie sich Proteste, die der Aufführung von Widerstand dienen, in einem Netzwerk verschiedener Akteur*innen ereignen, wirkt Widerstand vordergründig als vitale Kraft sinnlichen Ausdrucks und seiner Wahrnehmungen. Während man Widerstand als reaktiver Form des Widerstehens vorwerfen könnte, dass er sich als reagierendes Verhalten immer auf bereits vorhandene Strukturen bezieht, erweitert eine Ästhetik des Widerstands diesen Vorgang um einen konstruktiven Aspekt. Sie fokussiert ausdrücklich jene im Modus der Ablehnung zugleich wahrnehmbaren gestalterischen Aspekte chorischen Protests. Von besonderem Interesse sind dabei zwei Dimensionen: Zum einen soll Widerstand als ästhetischer Er-
17 Siehe dazu Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 23: „Ästhetik ist weder eine allgemeine Kunsttheorie noch eine Theorie, die die Kunst durch ihre Wirkungen auf die Sinne definiert, sondern eine spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens von Kunst. Ästhetik ist eine Weise, in der sich Tätigkeitsformen, die Modi, in denen diese sichtbar werden, und die Arten, wie sich die Beziehungen zwischen beiden denken lässt, artikulieren, was eine bestimmte Vorstellung von der Wirksamkeit des Denkens impliziert.“ [Hervorh. SD] 18 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 34. 19 Siehe dazu auch Joachim Küpper/Christoph Menke, „Einleitung“ in: Dies. (Hrsg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrungen, Frankfurt a.M. 2003, S. 7-15, S. 9: „Eine Ästhetik, die vom Begriff der Erfahrung ausgeht, kann nicht auf eine Theorie der Kunst beschränkt, ja nicht einmal mehr um eine Theorie der Kunst zentriert bleiben.“ 20 In Abgrenzung zu Termini wie ,ästhetischer Gegenstand‘ und ,ästhetisches Objekt‘, die vordergründig der Bezeichnung von Kunstwerken dienen, verwende ich den Begriff ,ästhetische Situation‘, um die zeitliche Dimension von Widerstandserfahrungen in Protesthandlungen zu betonen.
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fahrung nachgespürt werden,21 die Wahrnehmungssituationen neu arrangiert.22 Zum anderen sollen jene ästhetischen Verfahren im Fokus stehen, die Widerstand nicht nur hervorbringen, sondern in ihrem Tun immer auch Kritik an der eigenen Praxis erkennen lassen. Wird das Ästhetische selbst zum Mittel des Widerstands, lässt sich eine Verbindung von Herstellungsverfahren des Widerstehens und seinen spezifischen Ästhetiken dort lokalisieren, wo Protest ganz unterschiedliche, zum Teil völlig unvorhersehbare Reaktionen hervorruft oder als politische Aktion selbst neue Widerstände provoziert. In einer Zeit, in der viele Menschen ihr kreatives Potenzial nutzen, um schöpferisch Neues hervorzubringen, kann das Ästhetische zu einem besonderen Austragungsort politischer Kämpfe werden. Protesthandlungen, die sich in stark mediatisierten Umfeldern inszenieren, sind immer ausgeprägter als Haltungen denkbar, die sich den gängigen Praktiken ästhetischer Formung – einer Ästhetisierung nach den Logiken der neoliberalen, konsumorientierten Alltagswelt – widersetzen. Entsprechend lohnt es, auch ebensolche Positionierungen und Formen von Widerstand in den Blick zu rücken, die chorische Verfahren des Protestierens als das betont AntiÄsthetische ausweisen. Im Hinblick auf den Fokus dieser Arbeit wurden aus einer Vielzahl möglicher Darstellungsverfahren und Aufführungsmodi von Widerstand vordergründig chorische Protestformen sondiert. Die letzten Kapitel haben einen Eindruck der besonderen Inszenierungsstrategien von Protestchören vermittelt, die Widerstand als sinnliche Erfahrung oder symbolische Bedeutung hervorbringen. Dabei wurde deutlich, dass sich Widerstand als das Verhältnis zwischen diesen beiden Ebenen darstellt und in Folge zur Disposition steht, wie sich das Verhältnis von Repräsentation und Präsenz, Sinn und Sinnlichkeit beziehungsweise Semiosis und Aisthesis tatsächlich gestaltet. In Stuttgart entwickelten die Proteste gegen das Bahn-Projekt „Stuttgart 21“ eine vielbeachtete Präsenz, indem eine wachsende Anzahl von Demonstrant*innen ihre Ablehnung immer lauter hervorbrachte. Überaus kreativ und immer regelmäßiger organisierten die selbsternannten Stuttgarter Bürger*innen ihren Widerstand in Form vielfältiger Veranstaltungsformate. Es konnte herausgestellt werden, wie sich chorische Protestformationen einen festen Platz im Repertoire zivilen Ungehorsams erarbeiteten: In „Bürgerchören“ und „Schwabenstreichen“ diente die Chor-Form dazu, den städtischen Raum insbesondere akustisch zu besetzen. Der Protestchor wurde zu einem Medium, das die affektive Betroffenheit der Bürger*innen in Form einer emo21 Im Gegensatz zum Modell ästhetischer Erfahrung, das eng mit dem Wirkungsbegriff und der Rezeptionsästhetik verbunden ist, hat das vielfältig angewandte Modell der ästhetischen Wahrnehmung das Spannungsverhältnis zwischen objektiver Erkenntnis und subjektivem Urteil in den letzten Jahren neu justiert. Doris Kolesch hat darauf verwiesen, dass das Modell der ästhetischen Wahrnehmung davon ausgeht, „dass sich sinnliche Wahrnehmungen zwar beobachten und beschreiben lassen, aber nicht ohne Reibungsverluste in begriffliche Wissenschaftssprache übersetzt werden können.“ Doris Kolesch, „Ästhetik“, in: Fischer-Lichte/Dies./Warstat (Hrsg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 6-13, S. 10. 22 Der Begriff ,ästhetische Erfahrung‘ verweist darauf, dass auch die hier vorgenommene Untersuchung von Protestszenarien „wesentlich daran gebunden [bleibt], erst durch Interpretation begrifflich eingeholt und zu sich selbst gebracht zu werden.“ Ebd.
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tional gerichteten, unausweichlich lauten Kollektivstimme kommunizierte. Einerseits dienten chorische Verfahren durch die auffällige Lautstärke gemeinsamer Aktionen dazu, die Sichtbarkeit des Protests zu erhöhen. Andererseits wurde das Motiv kollektiven Einspruchs durch die Exploration chorischer Verbünde auf einer rezeptionsästhetischen Ebene zusätzlich genutzt, um metaphorisch auf die Stimmengewalt des Volkes zu verweisen, die von seinen gewählten Vertreter*innen nicht mehr gehört wurde. Nahezu zeitgleich sorgten im Sommer 2010 junge Aktivist*innen in Kairo durch gemeinsame Aktionen im öffentlichen Raum für Aufsehen. Noch bevor es im Januar 2011 zu den viel diskutierten Massenerhebungen auf dem Tahrir-Platz kam, erzeugte die auffällige Bewegungslosigkeit und Stille aufgereihter Körper einen zerstreuten Widerstandskörper. Zusätzlich wirkte die spezifische Körperlichkeit der Protestierenden als ein zweifelhaft zusammenhängender Kollektivkörper, der sich in Form einer langgezogenen Kette sichtbar in den städtischen Raum einschrieb. Ohne Erklärungen zu liefern, was mit der Aktion beabsichtigt war, ließ die Stille der präsentierten Körper ihre Haltungen umso mehr in Erscheinung treten. Das koordinierte Körper-Ensemble wirkte trotz oder gerade wegen seiner sprach- und bewegungslosen Verteilung überaus sinnlich. Durch die Verweigerung dynamischer Handlungsvollzüge brachten Stille und Bewegungslosigkeit eine ungeheuerliche Präsenz des Chorischen hervor. In einem zweiten Schritt konnten der Stillstand der Körper und die Verschwiegenheit der Protestierenden durchaus in Bezug zu gesellschaftlichen Themen politischer Ruhigstellung oder fehlender wirtschaftlicher Entwicklung gesetzt werden. Die Präsentation der Körper im öffentlichen Raum löste Irritationen aus und evozierte weitere Reflexionen und Fragestellungen. Ausgehend von New York City zeigte Occupy Wall Street, wie verschränkt die akustischen und körperlichen Strategien des Chorischen wiederum mit den Dimensionen des Raumes waren. Am Beispiel des „Human Mic“ wurde deutlich, wie das Chorische als betont akustische Methode der Verständigung zugleich eine räumliche Landnahme implizierte. Die ereignisreiche Aufführung der Besetzung, die an die sich zeitlich ausdehnende körperliche Anwesenheit der Protestierenden gebunden war, erweiterte die Erfahrung von Widerstand. Einerseits konnte durch körperliche und akustische Verfahren der Verstärkung die Inanspruchnahme des Raumes als Intensivierung der eigenen Präsenz erfahren werden. Andererseits trug sich die chorische Sprechweise des „Human Mic“ selbst in den öffentlichen Raum ein und sorgte dort für eine qualitative Extension der Anwesenheit, die von Zuschauer*innen als Präsenz des Protestchors erfahren wurde. In allen Beispielen war ein besonderer Einsatz von Stimmen und Lautlichkeit, Körpern und Bewegung, Räumlichkeit und andauernder Anwesenheit feststellbar. Die chorischen Elemente schienen den szenischen Charakter von Protest mit zusätzlichen Aufführungsqualitäten auszustatten. Insbesondere die lautliche Materialität des Chorischen ließ die besondere Präsenz von Stimmen oder gerade deren Absenz erfahrbar werden. Die chorisch produzierte Akustik zeichnete sich auf der räumlichen Ebene durch eine besondere Form der Anwesenheit, auf der zeitlichen durch eine spezifische Form der Gegenwärtigkeit aus. Alle Protestchöre konnten besondere Aufmerksamkeit und sich selbst als ein Geschehnis produzieren, indem chorische Protestverfahren als Intervention eines bestimmten Modus der Präsenz erfahrbar wurden.
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Gleichsam zeigte sich, wie sich die chorischen Verfahren in der Art und Weise ihrer Nutzbarmachung deutlich unterschieden. Allein im Hinblick auf die choreografische Anordnung wurde deutlich, wie politische Anliegen durch räumliche Anordnungen unterstützt wurden: die Zusammenballung der Chor-Gruppe auf einer LKWBühne diente in Stuttgart dazu, ihre Konzentrierung im Raum zusätzlich zu exponieren. Die anderen Beispiele illustrierten, wie losere Zusammenkünfte eine weniger eindeutige Gruppenzugehörigkeit etablieren sollten. Das Chorische rückte dagegen selbst als ein Verfahren der Selbstbefragung in den Mittelpunkt, das gewohnte Abläufe durch die Erzeugung ästhetischer Erfahrungen auf vielfältige Weise unterbrach. Neben der Aussetzung, Markierung oder Infragestellung etablierter Normen wirkte das Chorische durch die Hervorbringung postidentitärer Denkanstöße und Seinsordnungen selbst überaus politisch. Letztlich fragt sich, welche Folgen der unterschiedliche Einsatz des Chorischen für die politische Bewertung der Protestverfahren hat. Protestchöre intervenieren, unterbrechen und erweitern Ordnungen des sozialen Lebens. Ohne zunächst zu bewerten, auf welche Weise chorische Formen Widerstand erzeugen, soll in diesem abschließenden Kapitel zunächst die allgemeine Qualität des Chores gewürdigt werden, Widerstand hervorzubringen. Indem sich diese Arbeit der Ästhetizität von Protestchören zuwendete, rückt der Zusammenhang zwischen chorischen Protestformen und ihren Wirkungsdimensionen als eine Ästhetik des Widerstands in den Mittelpunkt. Der Widerstandsbegriff lässt danach fragen, welche Reichweite und Intensität scheinbar nonkonforme Verhaltensweisen tatsächlich besitzen. Zum Schluss soll zusammengetragen werden, wo das zu Beginn dieser Arbeit entfaltete Potenzial des Chorischen unausgeschöpft blieb oder normative Regularien durch postidentitäre Subtilität herausgefordert und Prozesse politischen Miteinanders sogar erweitert wurden. Anhand der drei Kategorien Intervention, Zäsur und Innovation soll also der Frage nachgegangen werden, inwieweit chorische Protestverfahren in ihrem Erscheinen neue Formen politischen Miteinanders und in ihren Vollzügen geforderte Gegenentwürfe sogleich performativ umsetzen. Wird Widerstand als eine Praxis des Widerstehens verstanden, die sich der Versuchung leichter politischer Lösungen entgegenstellt, fragt sich, wie sich das Chorische selbst als Widerstand gegen Verfahren der Ermächtigung und neuerlichen Versuchen politischer Repräsentation entgegenstellt. Auf Grundlage des dargelegten analytischen Potenzials chorischer Formen – der auffälligen Verbindung zwischen Chor und Widerstand, dem Chorischen als genuiner Widerständigkeit sowie der Bedeutung des Chorischen als Widerstandsmodell – soll folgenden Thematiken und Fragestellungen einer Ästhetik des Widerstands auf den Grund gegangen werden: Erstens wird nach dem spezifischen Interventionspotenzial von Protestchören gefragt, die die Chor-Form überwiegend sinnlich nutzen, um Aufmerksamkeit und Präsenz zu erzeugen. Dabei soll hervorgehoben werden, dass Praktiken des Chores, die seine sinnliche Materialität nutzen, um starke Gemeinschaften und kollektive Identitäten zu behaupten, durchaus widerständig agieren können. Gleichzeitig soll im Hinblick auf die Instrumentalisierung von Sprechchören in Protestsituationen problematisiert werden, welche neuen Ausgrenzungsmechanismen dadurch entstehen. Vor dem Hintergrund einer kritischen Reflexion, ob das subversive Potenzial des Chorischen dabei überhaupt zur Anwendung kommt, wird ferner gefragt, mit welcher Art von Widerstand dann operiert wird. Bedeutet die Privilegierung des dominanten Wi-
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derstandspotenzials der Chor-Form, dass leichtfertig diskursive Qualitäten des Chorischen zurückgestellt werden? Zweitens soll eruiert werden, wie choreografierte Formen des Stillstands und Schweigens die raumgreifende Materialität des Protestchors gerade als Konsequenz eines Verzichts auf dynamische Bewegungsformen oder sprachliche Arrangements der Gruppe ausweisen und Widerstandskräfte durch chorische Unterbrechungen entstehen. Damit rücken Verfahren in den Mittelpunkt, die Identitätspolitiken unterbrechen oder es mittels ästhetischer Erfahrungen ermöglichen, einen Abstand zu herkömmlichen Verfahren politischer Repräsentation zu gewinnen. Mit dem Chorischen deuten sich Vorgehensweisen an, die in kritische Distanz zu normativen Strukturen treten. Scheint Widerstand hier also vordergründig durch irritierendes Aussetzen, Abrücken oder Verharren, als ein zögerliches Agieren der Selbstbefragung auf? Drittens fragt sich schließlich, wie chorischer Protest durch die Erzeugung eigener Öffentlichkeitsforen und Handlungspraktiken, Auseinandersetzungen gegenüber bestehenden Leistungskriterien stimulieren, sich von bereits bestehenden Strukturen abheben und diese letztlich sogar erweitern kann.
1. INTERVENTION „Widerstand ist nur von der Aufmerksamkeit selbst zu erwarten in Form einer attention sauvage, einer Aufmerksamkeit, die Momente des Anökonomischen und Anarchischen bewahrt und einen Überschuß an geschenkter Aufmerksamkeit gewährt.“23
Proteste werden zu unterschiedlichen historischen Standpunkten als politische Handlungen konzipiert, bei denen die Darstellung, Kommunikation oder Erzeugung von Widerstand eine entscheidende Rolle spielt. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind Protestierende, die diesem Antrieb folgen, mit einer durchaus widersprüchlichen Problematik konfrontiert. Eingebettet in eine komplexe Medienwelt bedarf es geeigneter Strategien der Aufmerksamkeitserzeugung und Wahrnehmungslenkung, um im stürmischen Meer omnipräsenter Informationsfluten und aggressiver Berichterstattung überhaupt erst wahrgenommen zu werden.24 Entsprechend augenfällig ist festzustellen, dass sich Proteste heute neben inhaltlichen Anliegen gerade selbst als eine Technik zur Erzeugung größtmöglicher Präsenz und Aufmerksamkeit darstellen.25
23 Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a.M. 2006, S. 108. 24 Zur aktuellen Diskussion um das Phänomen der Aufmerksamkeit siehe Claudia Roda (Hrsg.), Human Attention in Digital Environments, Cambridge 2011; Axel Seemann, Joint Attention: New Developments in Psychology, Philosophy of Mind, and Social Neuroscience, Cambridge 2011; Christoph Türcke, Hyperaktiv!: Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur, München 2012. 25 Zum Begriff ,Präsenz‘ und seiner philosophischen Bedeutung insb. neben dem Ausdruck ,Gegenwart‘ in der deutschen Phänomenologie Edmund Husserls und Jacques Derridas
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Protesthandlungen werden dafür einerseits als außergewöhnliche Veranstaltungen geplant, deren Ablauf im Vorfeld konzipiert und mit dem Wunsch, spezifische Wirkungen zu erzielen, absichtsvoll inszeniert wird.26 Diese von Protestierenden anvisierte Auffälligkeit, Abweichung oder Verschiebung kann im Sinne des deutschen Philosophen Bernhard Waldenfels selbst als etwas Widerständiges verstanden und dort entdeckt werden, wo etwas aus der Reihe springt.27 Andererseits deutet der interventionistische Charakter von Protestaktionen auch darauf hin, dass sich Proteste meist auf bereits etablierte Positionen, vorgegebene gesellschaftliche Strukturen oder politische Verhältnisse beziehen, die durch reaktives Verhalten zwar herausgefordert, zugleich jedoch auch bestätigt werden. Im Wissen um dieses Spannungsfeld fragte diese Arbeit, wie vordergründig chorische Strategien dazu beitragen, in bestehende Zusammenhänge einzugreifen oder vorgefundene Ordnungen zu manipulieren. Welchen Beitrag chorische Darstellungsformen des Einspruches entwickeln, wurde in besonderer Weise am Auffälligkeitscharakter chorischer Protesthandlungen deutlich, der durch Irritationen zu Reaktionen herausfordert und auf ein Wissen der Protestierenden schließen lässt, dass ihre Aktionen durch ein beobachtendes Publikum wahrgenommen werden sollen. Als vordringlich laute, affektive Aufbegehren in lautlich moderat regulierten Öffentlichkeiten oder als bewegungslose Aktionen kollektiver Akteur*innen in lebendigen Stadtgebieten widersetzen sich chorische Protestverfahren regulären Strukturen und überraschen, umso mehr sie plötzlich auftreten. Die hier fokussierten Protesthandlungen machten innere Widerstände durch chorische Verfahren demonstrativ in und für oder auch gerade gegen die Öffentlichkeit erfahrbar. Eine Ästhetik des Widerstands, die gleichsam den Politiken der Aufmerksamkeitsproduktion nachspürt, interessieren neben solchen Widerfahrnissen, in denen allein „das Moment des Widrigen, des Gefährdenden und Gewaltsamen überwiegt“,28 insbesondere die spezifischen Vollzugspraktiken von Widerstand. Um ihrem Widerstand Ausdruck zu verleihen, ist chorischen Protestaktionen als Aufmerksamkeitsgeschehnissen zunächst selbst maßgeblich daran gelegen, Ereignishaftigkeit zu erzeugen. Dabei spielt die lautliche und stimmliche Materialität der Protestchöre eine entscheidende Rolle. Denn erst durch die Erzeugung von Aufmerksamkeit wird die Präsenz chorischer Verbünde als Widerstand erfahrbar.29 Wie aber intervenieren Protestchöre in öffentliche Wahrnehmungssituationen? Durch welche chorischen Handlungen erreichen Protestierende, dass wir ihren Anliegen Beachtung schenken? Und welche Probleme ergeben sich schließlich mit der Etablierung eines Chor-Modells,
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Weiterentwicklung zu einer Geschichte der Metaphysik der Präsenz siehe Peter Völkner, Derrida und Husserl. Zur Dekonstruktion einer Philosophie der Präsenz, Wien 1993. Bernhard Waldenfels fragt nicht nur, was uns auffällt und unsere Aufmerksamkeit erregt, sondern was es bedeutet, dass etwas vorfällt. Diese Frage beinhaltet die Distinktionschance, gewöhnliche Vorkommnisse von historischen Ereignissen zu unterschieden. Vgl. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 32f. Vgl. ebd., S. 33ff. Ebd., S. 55. „Die Aufmerksamkeit lebt von einer gezielten Anspannung, die sich gegenüber vielfacher Ablenkung und Zerstreuung durchsetzen muß.“ Waldenfels, Phänomenologie des Fremden, S. 93.
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das durch Erzeugung überwältigender Präsenz danach strebt, Gegen-Macht zu erzeugen? 1.1 Produktion von Aufmerksamkeit als lautliche Materialität des Chores „Eine Menge und Vielfalt von Schreien gegen scheinbar endlose Ungerechtigkeiten, konzentriert an besonderen Brennpunkten, die gleichermaßen überwältigen wie inspirieren: Das ist die Inkohärenz von ihrer besten Seite, Kampf auf seine kreativste und offenste Art.“30
Entgegen der Behauptung einer „Immaterialität des Klanges“,31 die akustische Phänomene als unkörperlich oder rein geistige Entitäten denkt, betont das Chorische, wie Klänge im Moment des Erscheinens körperliche und räumliche Formen annehmen können. Die spezifische Phänomenalität des Protestchors weist ihn dezidiert als Klang-Körper aus, der sich ebenso zeitlich wie räumlich entfaltet. Die besondere Materialität chorischer Lautlichkeit, die an der Produktion von Aufmerksamkeit einen direkten Anteil hat, deutet auf die spezifische „sinnliche Erscheinung und Wirkung von Objekten, Phänomenen oder Prozessen im Moment ihrer Wahrnehmung und Erfahrung.“32 In Form stimmlicher Äußerungen vermag die Lautlichkeit chorischer Verbünde ein besonderes Fluidum zu verbreiten, in Umgebungen auszustrahlen oder spezielle – gerade auch störende – Atmosphären zu erzeugen. Kaum eine Protestaktion kommunizierte die Widersprüchlichkeit kollektiver Gegenwehr einhelliger als die „Schwabenstreiche“. Die Protestchöre, die sich in Suttgart ab Ende Juli 2010 dafür täglich in der Öffentlichkeit zusammenfanden, um dort für eine Minute gemeinsam zu lärmen, intervenierten hörbar in die Routine des Stadtlebens. Indem sich der Protestchor synchronisiert lautstark artikulierte, etablierte er zugleich seine eigene Räumlichkeit: Im öffentlichen Raum der Stadt entstand ein neuer Hörraum, der Passant*innen aktiv „ansprach“, konfrontativ adressierte und durch seine Intensität herausforderte. Die chorischen Verfahren wurden dazu genutzt, um den Chor als einen affirmativen Laut-Körper zu installieren. Der Protestchor sollte nicht nur in besonderer Weise die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehen, sondern sich auf einnehmende Art die Wahrnehmung dieses Publikums sichern. An den „Schwabenstreichen“ zeigte sich, dass es die starke Chor-Form war, die angesteuert wurde, um jene Extrovertiertheit und Gerichtetheit umzusetzen. Dabei wurde durch den stimmlichen Überschuss des Chores versucht, ein ungewohntes Mehr an Sinnlichkeit zu erzeugen. Genau darauf hat die deutsche Theaterwissenschaftlerin Jenny Schrödl im Zusammen30 Team Colors Collective, „Löwen nach dem Schlummer: Gedanken über einen entstehenden Kampf“, in: Infogruppe Bankrott (Hrsg.), Occupy Anarchy!, S. 44-50, S. 45. 31 Vgl. Michael Bachmann, „(1968) Ein Aufnahmezustand: Klang/Körper und Ideologiekritik im Neuen Hörspiel“, in: Kreuder/Bachmann (Hrsg.), Politik mit dem Körper, S. 193-208, S. 202. 32 Schrödl, Vokale Intensitäten, S. 36.
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hang mit der Aufführung von Stimmen hingewiesen. Den Begriff des Überschusses weist sie treffend aus, um „die Art und Weise zu beschreiben, wie die Materialität der Stimme als widerständig erfahren wird.“33 Die ekstatische Präsenz der chorisch produzierten Lautlichkeit der „Schwabenstreiche“ war in zweifacher Hinsicht in der Lage, Widerstand zu produzieren. Zum einen produzierte die Materialität der Stimmen einen deutlich wahrnehmbaren Widerstand. Der Protestchor produzierte dafür Lärmemissionen mit Lautstärken und Tonlagen, die als unangenehm empfunden wurden. Auf diese Weise konnten sich die Aktivist*innen bewusst als Opposition zu gängigen kulturellen Codes entwerfen.34 Der überwältigende Krach beschallte den gewohnten Stadtraum und wurde als einnehmend empfunden, da er bewusst die Hörverträglichkeit der Stuttgarter Mitbürger*innen überschritt. Indem der Krawall unmittelbare (Abwehr-)Reaktionen anzuvisieren schien, wurde er umso intensiverer als Widerstand erfahren. Zum anderen deutete die lautliche Materialität des Protestchors in den Aktionen selbst einen „Widerstand gegenüber Verstehensprozessen“ an,35 der sich dadurch verfestigte, dass die überwältigende Emotionalität des politischen Konflikts in Stuttgart eine inhaltliche Auseinandersetzung nicht mehr zuließ. 36 Denn während die ChorForm als vordergründig sinnlicher Widerstandsgarant leichtfertig eingesetzt werden konnte, traten hier deutliche Defizite zu Tage: Die chorische Form garantierte zwar, dass die Protestierenden als Beteiligte des „Schwabenstreichs“ erkennbar wurden und selbst hervortraten. Die große Widerstandskraft des Protestchors basierte jedoch auf dem Mechanismus des Ausschlusses, der eine eindeutige Zuordnung von Gegner*innen und Befürworter*innen zur Folge hatte. Dadurch verstärkte sich zwar der Antagonismus des Konflikts. Die Chor-Form schien das Politische allerdings gerade zu verhindern. Der chorische Lärm adressierte keine Antworten des Publikums. Er war viel zu laut, wodurch sich die Demonstierenden selbst nicht als verhandlungsoffen präsentierten. Fraglich blieb also, inwiefern die „Schwabenstreiche“ tatsächliche neue Informationen lieferten oder dem Konflikt vernachlässigte Perspektiven beisteuerten. Im Gegenteil entstand der Eindruck, dass die Aktionen für die politische Auseinandersetzung eher kontraproduktiv waren, da sie neue Abwehr produzierten und die Wahrnehmenden nicht umstimmten, sondern in bereits vorhandenen Positionen bestärkten. Statt einer tiefgreifenden Veränderung in der Bewertung der Bahnhofsfrage lösten die „Schwabenstreiche“ durch den Versuch ihrer Überwältigungsstrategie vielmehr Kopfschütteln hervor. Dies umso mehr, da sie eine klare Haltung einforderten, die keine Nuancen abseits des Antagonismus zwischen Ablehnung oder Zustimmung mehr kannte. 33 Schrödl, Vokale Intensitäten, S. 47. 34 Wie Menschen auf unangenehme Klänge reagieren oder sich adäquat zu Gehörtem verhalten, ist ebenso wie affektives Verhalten erlernt. Kulturelle und soziale Differenzen in der qualitativen Bewertung lautlicher Erzeugnisse sind dadurch die Regel. 35 Vgl. Georg W. Bertram, Kunst: Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2005, S. 274. 36 „In Situationen, in denen stimmliche Materialität eine erhöhte Intensität und Präsenz erlangt, bildet sie einen Rest, ein Überbleibsel, welches nicht ans Verständnis der Rede oder der Stimme als Ausdruck einer Figur angepasst werden kann.“ Schrödl, Vokale Intensitäten, S. 47.
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Als synchronisierte Chor-Körper zielten die „Schwabenstreiche“ und in ähnlicher Weise auch die „Bürgerchöre“ auf eine Widerständigkeit erdrückender Sinnlichkeit. Dadurch wurde allerdings versäumt, sich kritisch mit den eigenen Herstellungsverfahren auseinanderzusetzen. Statt einer Antwortbeziehung, die für die politische Auseinandersetzung notwendig gewesen wäre, verstärkte die Chor-Form die negative Ausprägung von Resonanz als Echo. 1.2 Intensität der Widerrede: Chorischer Protest als Intervention der Präsenz „Die Rede ist nicht einfach Vollstreckerin des Sprachsystems. Sie bestätigt nicht nur nicht vollständig dessen Vorgaben, sondern handelt ihm oft, in ihrer ganzen Körperlichkeit, zu unserer Überraschung und unserem Vergnügen zuwider. […] Die Rede gibt sich als Erzählung, sie wird aber gleichzeitig im Klang der Stimme und der Bewegung des Körpers […] zum Kommentar des Erzählten.“37
Der chorische Protest wurde in Stuttgart maßgeblich durch den koordinierten Stimmeneinsatz bestimmt. Sowohl die „Schwabenstreiche“ als auch die „Bürgerchöre“ ordneten die Akteur*innen in besonderer Weise an. Sie stimulierten durch die chorische Organisation des Protestereignisses das präsentische Zusammenwirken aller Beteiligten, die Protest als Externalisierung eines sonst unterdrückten Antagonismus als akustische Opposition hervorbrachten. Dabei wurde die Hervorbringung eines Protestchors angestrebt, der die sozialen und affektiven Muster der Protestierenden untereinander sowie ihre Beziehung zu den Zuschauenden offensiv in den Vordergrund stellte. Am stimmlichen Einsatz der Protestchöre soll abschließend demonstriert werden, dass der in erster Linie laute und schrille Protest einem wenig subversiven ChorModell angehörte. Während das Erheben der Stimme zur Artikulation von Ideen, Kritik und Wünschen beim „Schwabenstreich“ ganz in den Hintergrund trat, steht zur Frage, inwieweit das politische Potenzial des Chorischen bei den Interventionen der „Bürgerchöre“ genutzt wurde. Wie es schien, kam es durch Einsatz kollektiver Stimmlichkeit für die Beteiligten zwar zu einer Intensivierung der Protesterfahrung. Wie nachhaltig aber wirkte sie fort? Sollten im stimmlichen Vollzug der Aktion vordergründig neue Gemeinschaftserfahrungen für die Gruppe generiert werden, die in Folge noch deutlicher zur Abgrenzung von Außenstehenden beitrugen? Bis zuletzt fragt sich, ob die erkennbare Überwältigungsstrategie neuerliche Auseinandersetzungen über die Verfahren gesellschaftlichen Miteinanders gerade verhinderte oder die affirmative Lautlichkeit der Protestchöre schließlich positiv umgewertet werden konnte. War der starke Stimmeneinsatz letztlich doch in der Lage inhaltliche Diskussionen zum Bahnhofsneubau anstoßen?
37 Paul Zumthor, „Körper und Performanz“ in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S. 703-713, S. 709.
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1.2.1 Kollektivstimmlichkeit: Stimmliche Materialität als Stimmenpräsenz Da sich mit stimmlichen Äußerungen zugleich eine Artikulation leiblicher Anwesenheit im Raum verbindet, steht die lautliche Materialität des Chores immer in Beziehung zu einem sie hervorbringenden Sprachkörper.38 In den Sprechakten der „Bürgerchöre“ wurden die Stimmen der Sprechenden so organisiert, dass der Eindruck entstand, als würden die Teilnehmer*innen mit nur einer Stimme sprechen. Durch diese besondere Form der sprachlichen Organisation wurde eine kollektive Stimmlichkeit hervorgebracht, die Sprache als physischen Akt erfahrbar werden ließ.39 Es entstand ein Protestchor, der als Sprechchor einerseits das „Spektrum auffälliger und sinnlich wirksamer stimmlicher Erscheinungen und Verlautbarungen“ deutlich machte.40 Andererseits bildete sich durch das chorische Arrangement eine synchronisierte Chorstimme, die in den Protesten als besondere Form kollektiver Stimmlichkeit aufgeführt werden konnte. Deutlich als theatrale Stimme ausgestellt, verfügte die Rede der „Bürgerchöre“ dadurch „über eine appellative Macht oder Kraft, die stets auch einen intersubjektiven Raum zwischen Sprechenden und Hörenden eröffnet und so die kommunikative Atmosphäre zwischen ihnen bestimmt.“41 Innerhalb der klanglichen Assemblagen von Stimmen stachen zum einen immer wieder Einzelstimmen aus dem homogenisierten Gruppenklang hervor, die sich beständig einer unterordnenden Kollektivierung stimmlicher Qualitäten widersetzten. Zum anderen konnte nie eindeutig identifiziert werden, wer sprach. Allgemein neigt die chorische Sprechform dazu, eine in unserer Kultur vorherrschende Relation von Stimme und Identität zu transzendieren. Während die Stimme normalerweise an eine Person gebunden ist, verschleiert der gleichförmige Sound der Chor-Gruppe die eindeutige Identifizierung einzelner Stimmen. Das Gesprochene ist demnach so gut wie nie auf einzelne Sprecher*innen zurückzuführen. Anstatt diesen anonymisierenden Effekt auf die gesamte Gruppe auszudehnen, zielten die „Bürgerchöre“ darauf, eine umso stärkere Verbundenheit der Gegner*innen als kollektive Identität zu inszenieren. Der Protestchor diente in erster Linie der Erzeugung akustischen Widerstands. Dazu instrumentalisierte er die Stimmlichkeit des Chores für die geschlossene Repräsentation aller Protestierenden. Dadurch, dass sich die Stimmlichkeit des „Bürgerchors“ als eine zusammengesetzte Klangcollage entäußerte, die keine Details mehr zu Geschlecht, Alter oder Herkunft zuließ, verstärkte sich zu alledem noch die Kommunikation von Empfindungen: Trauer, Aggressionen, Wut und Begehren der Protestierenden wurden neben sichtbaren Zeichen auf diese Weise überwiegend durch stimmliche Verlautbarungen hervor-
38 Siehe dazu Gernot Böhme, „Die Stimme im leiblichen Raum“, in: Kolesch, Doris/Pinto, Vito/Schrödl, Jenny (Hrsg.), Stimm-Welten: Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven, Bielfeld 2009, S. 23-32, S. 28ff. 39 Siehe auch David Wiles, Mask and Performance in Greek Tragedy: From Ancient Festival to Modern Experimentation, Cambridge 2007, S.125: „Speech is understood as a physical act in which the breath touches different vital organs, and language as the encoding of an idea is subordinate or supplementary to the act of shaping sound.“ 40 Schrödl, Vokale Intensitäten, S. 13. 41 Ebd., S. 15.
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gebracht.42 Während stimmliche Qualitäten wie Lautstärke, Tonhöhe, Klangfarbe und Intensität im Chor variieren, sich ergänzen oder widersprechen können, zeichnete sich die chorische Sprechweisen der „Bürgerchöre“ durch eine sprachliche Gestaltung aus, die die Stimmen innerhalb eines bestehenden Regelwerks formte. Im Besonderen die Aufführung dramatisierter Textvorlagen verdeutlichte, dass der Protestchor ein kunstvolles Arrangement reproduzierte, sich selbst jedoch kaum mit der politischen Reichweite seiner eigenen Herstellungspraxis auseinandersetzte. 1.2.2 Die Präsenz des Stimmlichen im „Bürgerchor“ Die spezifische Sprechweise der „Bürgerchöre“ diente dazu, möglichst große Aufmerksamkeit zu generieren. Die Analyse verschiedener Aufführungen untermauerte, wie der Protestchor dafür in hoher Tonlage, mit großer Variabilität, erhöhter Lautstärke und zügigem Tempo sprach. Der Chor nutzte diese abwechslungsreiche Gestaltung, um dem Gesagten zusätzlichen Ausdruck zu verleihen. Dem inhaltlichen Widerstand der Rede wurde so eine gefühlsbetonte Note hinzugefügt, die Zuhörer*innen auch emotional erreichte. Die Chor-Form wurde also absichtsvoll eingesetzt, um die Darstellung von Emotionen, die sich unmittelbar aus der affektiven Betroffenheit der Protestierenden speiste, zusätzlich zu verstärken. Durch die koordinierte Spracharbeit gegen das Bahn-Projekt schufen die Stuttgarter „Bürgerchöre“ gleichsam einen materiellen Überschuss der Stimmen, der die referenzielle Funktion der Sprache störte, durch Techniken der Rhythmisierung irritierte, sie aber auch unterstützen oder bestätigen konnte. Es kann geschlussfolgert werden, dass Protestchöre dieses ausstellende Changieren zwischen der Materialität des Stimmlichen (als exponierter Art und Weise des Sprechens) und dem Inhalt des Gesagten (als klarer Fokussierung der referenziellen Funktion der Rede) strategisch einsetzen. Schließlich bestätigt sich, dass selbst die Variationen des koordinierten Stimmeneinsatzes, d.h. die spezifische Organisation der chorischen Rede, in aller Regel dazu dienen, Präsenz als besonderen Modus der Wahrnehmung der Protestaktionen zu etablieren. Protestchöre scheinen daher ein überaus geeignetes Kommunikationsverfahren und gerade auf der lautlichen Ebene dafür prädestiniert zu sein, einen Überschuss des Stimmlichen zu generieren, da in ihren Aufführungen kollektiver Empörung „die Präsenz der stimmlichen Materialität im Moment der Wahrnehmung vollkommen überwiegt.“43 Die ästhetische Erfahrung dieser Präsenz der stimmlichen Materialität des Protestchors affiziert nicht nur beiläufig potenzielle Zuhörer*innen, sondern stimuliert aufmerksame Wahrnehmungsprozesse, die durch die besonderen stimmlichen Qualitäten des Protest-Sounds begünstigt und zum Teil erst ausgelöst werden. 42 Schrödl hat darauf hingewiesen, dass stimmliche Entäußerungen „auf Sets von wiederholbaren Zeichen und Akten beruhen, die im Kontext einer jeweiligen Kultur stehen.“ Im Hinblick auf kulturelle Differenzen hat sie angefügt, dass in der westlichen Kultur bspw. „eine Sprechweise mit hoher Tonlage, großer Variabilität, erhöhter Lautstärke und schnellem Sprechtempo als Indiz für Freude und eine tiefe Tonlage, geringe Variabilität, leise Lautstärke und langsames Sprechtempo als Zeichen für Traurigkeit“ gelten. Jenny Schrödl, „Stimme und Emotion. Affektive Wirksamkeiten im postdramatischen Theater, in: Forum Modernes Theater, Bd. 24/2 (2009), S. 169-182, S. 170. 43 Schrödl, Vokale Intensitäten, S. 49.
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Um Hörprozesse innerhalb einer Ästhetik der Aufmerksamkeit konkreter zu bestimmen, differenziert Waldenfels zwei Arten des Hörens. Erstens ein Hören von etwas, das einem gerichteten, intentionalen Hören entspricht. Zweitens ein Hören auf etwas, das stärker die pathische Dimension des Hörens im Sinne eines Aufhorchens betont.44 Die Artikulationsprozesse des Chorischen evozieren stärker den zweiten Modus des Hörens und in Protestaktionen damit Hörprozesse, in denen Zuhörende unversehens ins Stimmengeschehen involviert werden. Die pathische Dimension des Hörens reiht sich als sinnliche Wirkungsebene des Protestierens in das Spektrum politischer Wirkungsstrategien ein. Was Waldenfels am Begriff des Aufmerkens beschreibt, führt dazu, dass Zuhörende „leiblich tangiert, eingenommen oder betroffen [werden], noch bevor sie aktiv Stellung – sei es in Form von Verständnis, Urteilen, Emotionen oder Handlungen – zum Gehörten beziehen können.“45 Der chorische Klang tangierte emotional, zog in seinen Bann, löste Betroffenheit aus, wirkte übergriffig laut, intensiv oder sogar verletzend. Indem Protestierende und Zuschauende diesen Wirkungen gewahr wurden, konnten sie Empfindungen als Empfindungen an sich selbst wahrnehmen.46 Gleichsam wurde die Nutzbarmachung dieses stimmlichen Pathos als bewusste Proteststrategie erkennbar. Die Chor-Form zelebriert das Pathos des Protests, das eine innere Enttäuschung nach außen kehrt. Es steuert kollektivierende Entäußerungen an, die sich vom Innerlichen des Subjekts lösen, um sich auf einer interpersonellen, kollektiven Ebene abzuspielen und in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Wenn Protestchöre das Gefühlige betonen, um auf Grundlage des Affektiven irrationale Allianzen zu schmieden, scheinen sie besonders anfällig für ideologische Vereinnahmungen. 1.2.3 Sich präsentierende Präsenz: Der Widerstand des Gegenwärtigen Wie gezeigt werden konnte, arbeiten Protestchöre in besonderer Weise daran, in der Erfahrung ihrer Akteur*innen als auch der eines Publikums aufzutreten. Protestchöre erzeugen durch die Verwendung akustischer Signale, körperlicher Bewegungen und räumlicher Ausdehnung eine ungeheuerliche Gegenwärtigkeit. Durch den spezifischen Einsatz der sinnlichen Materialität des Chores können so Wahrnehmungsweisen gelenkt, eine allgemeine Achtsamkeit auf die eigenen Vollzüge gerichtet und Aufsehen von anderen Geschehnissen abgezogen werden. So kommt es, dass Präsenz schließlich selbst als eine spezifische Form des Widerstands erfahren wird.47 44 Siehe dazu Bernhard Waldenfels, „Stimme am Leitfaden des Leibes“, in: Epping-Jäger, Cornelia/Linz, Erika (Hrsg.), Medien/Stimmen, Köln 2003, S. 19-35, S. 20. 45 Schrödl, Vokale Intensitäten, S. 153f. 46 Böhme hat darauf hingewiesen, wie Stimmen als leibliche Artikulationen unmittelbar Einfluss auf die leibliche Präsenz der Zuhörenden im Raum haben und die gespürte Anwesenheit „eng und weit machen, erhebend und erlösend oder gedrückt und beängstigend […]. So wie man auch Töne hoch und tief, breit gelagert […] oder spitz und scharf […] nennt, so folgen unsere Empfindungen den Anmutungen solcher Töne, indem sie uns einladen oder zwingen, mit unserem leiblichen Spüren in dieser oder jener Weise im Raum anwesend zu sein.“ Böhme, „Die Stimme im leiblichen Raum“, S. 31. 47 Zu ,Präsenz‘ als einem theoretischen wie ästhetischen Begriff siehe Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004; Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a.M. 2003; Dieter Mersch, Was sich zeigt.
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Den chorischen Protest-Darbietungen kommt dabei zugute, dass sie sich in direkter Opposition zu vorgefundenen Örtlichkeiten entwerfen können. Sie unterbrechen als außergewöhnliche Interventionen das öffentliche Leben, fügen routinierten Abläufen markante Momente hinzu oder kreieren selbst Situationen, in denen öffentliche Artikulationsforen entstehen. Gerade die Kombination der verschiedenen Darstellungsebenen – der Einbezug lautlicher, körperlicher und räumlicher Eigenschaften – bringt mit sich, dass sich die Wirkungen chorischen Widerstands intensivieren. Das Widerständige der Proteste in Stuttgart konnte also vordergründig im szenischen Charakter der chorischen Kommunikationsverfahren entdeckt werden, die allein aufgrund ihrer Lautstärke einen spielerischen Umgang mit den geltenden Ordnungen der Stadt pflegten. Die Präsenz der chorischen Protestaktionen, die sichtbar, hörbar und fühlbar in den gewohnten Alltag intervenierte, entwickelte selbst eine eigentümliche Widerständigkeit. Selbst wenn sie für Einzelne keine Identitätsfragen auslöste oder Subjekt-Objekt-Fragen herausforderte, spielten die Protestierenden offensichtlich mit Grenzen. Durch die Herausforderung einer Haltung zu ihren Aktionen trieben die Demonstrant*innen indirekt auch zu Positionierungen in der Bahnhofsfrage an. Protest, der durch inszenierte Kollaborationen hervorgebracht wird, arbeitet beständig daran, das in und mit ihm Geschehende für eine begrenzte Weile auffällig zu machen. Chorische Verfahren unterstützen dabei, Gegenwärtigkeit und Aufmerksamkeit herzustellen, indem sie zusätzlich dafür sorgen, dass das Hier und Jetzt als unübersehbar gegenwärtig und präsent erfahren wird. Damit stellen Protestchöre Gegenwart nicht bloß her, sondern bieten diese Gegenwart durch chorische Verfahren in besonderer Weise dar. Sie produzieren Präsenz nicht nur, sondern propagieren die Exploration einer sich präsentierenden Präsenz.48 In ihrer Studie Wie Absenz zur Präsenz entsteht befasst sich Natascha Siouzouli mit dem Präsenzbegriff, zu dem sie schreibt: „Tatsächlich ist Präsenz in den meisten Fällen – allerdings nicht immer explizit – als eine Art medialer Topos, der zwischen Subjekt und der Welt bzw. Manifestationen der Wirklichkeit vermittelt, behandelt worden: Präsenz fungiert stets als das unumgängliche Medium, durch das nicht nur Wahrnehmung stattfindet, sondern vielmehr Wahrnehmung erst möglich wird.“49
Bezogen auf chorische Protestformen lässt sich im Anschluss daran festhalten, dass die Herstellung von Präsenz eine Art Grundvoraussetzung des Protestchors darstellt, die als medialer Topos notwendigerweise vorhanden sein muss, um besondere Wahrnehmungsweisen zu ermöglichen. Siouzouli unterstreicht die Wirklichkeitskonstitution der Präsenz entsprechend als ihr zentrales Charakteristikum. Sie schreibt, „[…] indem sie [die Präsenz, Anm. SD] sich setzt bzw. ist, gründet sie ihre eigene, (von der Banalität, Alltäglichkeit, etc.) abweichende und divergierende Realität.“50 Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002; Hans-Thies Lehmann, „Die Gegenwart des Theaters“, in: Fischer-Lichte/Kolesch/Weiler (Hrsg.), Transformationen, S. 13-26. 48 Vgl. Doris Kolesch, „Präsenz“, in: Fischer-Lichte/Dies./Warstat (Hrsg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 267-270, S. 269. 49 Siouzouli, Wie Absenz zur Präsenz entsteht, S. 56f. 50 Ebd., S. 56.
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Protestchöre operieren mit dieser präsenzerzeugenden Strategie, an die sich die Darstellung eines politischen Programms als die von Siouzouli beschriebene „eigene, abweichende und divergierende Realität“ anschließen kann. Dabei fragt sich jedoch, wie die gesicherte Aufmerksamkeit, die sich Protestchöre dadurch sichern, im Folgenden genutzt wird. Ob mit den chorischen Verfahren die Dekonstruktion von Identität und Repräsentation selbst ins Zentrum rückt oder sie für die Herstellung von Macht genutzt werden, ist von der spezifischen Fähigkeit des Heraustretens, SichZeigens und Präsentierens, also der speziellen Darbietung als Chor zunächst unberührt. Protestchöre etablieren eine Ästhetik der Präsenz, insofern Präsenz dabei „in ihrer spezifischen Relation zu Wahrnehmung mit Begrifflichkeiten wie Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit assoziiert ist und entsprechend vorerst diesseits des Terrains des Verstands oder der Ratio zu positionieren wäre.“51 Dem Aspekt der Präsenz kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu: Die Präsenz des Protestchors wirkt, noch bevor ihr Bedeutung beigemessen werden kann, vordergründig sinnlich.52 Damit entstehen Oppositionshaltungen in erster Linie durch die sinnliche Vermittlung einer danach auch politisch auszudeutenden Widerständigkeit. Wie an den Auftritten der „Bürgerchöre“ und den Aktionen des „Schwabenstreichs“ sichtbar wurde, zielte die Instrumentalisierung chorischer Verfahren darauf, affektive Wirkungen auszulösen, die nicht verstanden oder zugeordnet werden mussten, sondern sinnlich nachvollzogen wurden. Der Protestlärm und das chorische Sprechen verfolgten zum einen die Absicht, durch lautliche Verfahren die Betroffenheit der Protestierenden zu kommunizieren. Die Proteste in Stuttgart konstituierten die kollektiv hervorgebrachte Lautkulisse einer penetranten, zum Teil unüberhörbaren Gegner*innenschaft. Der provozierende Lärm war zugleich eine Stimmen- und Gefühlsinszenierung aufgebrachter Bürger*innen, die die chorischen Verfahren als Legitimation ihrer Artikulations- und Meinungsfreiheit verstanden. Zum anderen verwendeten die Protestierenden ihre Stimmen ebenso wie laute, schrille Geräusche und Klänge dazu, um bei den Zuhörenden Emotionen zu evozieren. Geschickt äußerte sich dabei der Effekt, dass der deutlich hörbare Widerstand in Folge neuerliche Abstoßungskräfte und Resonanzen erzeugte. Angeleitet durch Volker Lösch und Walter Sittler nutzten die Protestchöre dabei aus, dass Menschen von Stimmen und Klängen affektiv betroffen werden. Da Löschs Chormethoden die Protestereignisse in der ersten Phase maßgeblich prägten und dort als zivilgesellschaftliche Chiffre immer wieder zum Einsatz kamen, soll final geklärt werden, welches subversive Potenzial den „Bürgerchören“ in Stuttgart tatsächlich zugesprochen werden kann. Handelte es sich wie in Löschs Theaterproduktionen um trainierte, hoch artifizielle Kollektivkörper, die als Figurengruppe eine kollektive Identität behaupteten? Lebte der Einsatz von Stuttgarter Bürger*innen in Sprechchören allein davon, politische Partizipation zu suggerieren? Lag ihre Wirkungen wiederum im Bereich einer repräsentativen Politik, also genau dort, wo sie eigentlich ihre Gegner*innen lokalisierten? 51 Ebd. 52 Zur realitätskonstituierenden Geste der Präsenz, die auf zwei Eigenschaften der Präsenz hinweist, schreibt Siouzouli: „Zum einen handelt es sich um die der Präsenz eingeschriebene mediale Funktion und zum anderen um ihre semiotische Veranlagung.“ Ebd.
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1.3 Diskussion überwältigender Chormodelle: Das subversive Potenzial des Chorischen Ein Blick auf die ambivalenten Reaktionen, die das Chortheater Löschs auslöste, kann die angesprochenen Widersprüche und Spannungen zwischen einer ästhetisch eher rigiden Form des Chores und den sozialen Ansprüchen erhellen, die sich mit der Aufführung politischer Straßenproteste verbanden. Unter dem Stichwort einer RePolitisierung stimmlicher Vorgänge soll schließlich die Relation zwischen dem Erheben der Stimme, der Idee von Bürger*innen und bürgerschaftlichem Engagement in den Fokus rücken. Im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Chorverständnis von Lösch und Freytag fragt sich, ob ein autoritäres Prinzip des Chores gerade dort erneuert wurde, wo der Protestchor als dramatisierte Figur zur Aufführung kam. Wurde das chorische Sprechen der Bürger*innen in den Vordergrund gestellt, um neue Kooperationsverfahren zu ermöglichen, die über das Ausstellen der Partizipation an der gemeinschaftlichen Form hinausgingen? Es steht außer Frage, dass die „Bürgerchöre“ als kunstvoll arrangierte Sprachkollektive, Assoziationen wie Mitbestimmung oder Demokratie anregten. Stellten sie diese Bezüge allerdings nur dar oder über das Bild der eigenen Konstituierung hinausgehend auch tatsächlich her? Oder blieben die Stuttgarter Protestchöre am Ende nicht mehr als eine theatrale Anordnung des Protests und doch nur eine Kanalisation der Wut? 1.3.1 Ambivalente Reaktionen Im Anschluss an Löschs Vorgehensweise mit Laiendarsteller*innen wurde immer wieder betont, dass die Erarbeitung gesellschaftlicher Konflikte bei den mitwirkenden Chorist*innen eine „unglaubliche Identifikation“ auslöste.53 Die eigene Stimme zu mobilisieren, kann viel bedeuten für jemanden, der nie erfahren hat, wie es ist, kraftvoll zu sprechen. Gegen die Marginalisierung Einzelner entfaltet das gemeinsame Sprechen im Chor eine geradezu therapeutische Wirkung. In ähnlich mitreißender Weise wie der gewaltige Klang, der entsteht, wenn mehrere Menschen im Chor gemeinsam einen Satz brüllen, beflügelt die gemeinsame Theaterarbeit insbesondere die Mitglieder des Chores selbst. Die Erfahrung, die eigene Stimmkraft mit anderen koordiniert zu entäußern, wird von manchen Chorist*innen daher als „Wendepunkt“ beschrieben.54 Neben Aspekten individueller Emanzipation realisiert der Chor in Löschs Theaterprojekten ein Programm der Teilhabe, das sozial ausgeschlossenen Gruppen zu neuer Anerkennung verhelfen soll. Wenn Migrant*innen, die sonst keine Berührung mit dem Stuttgarter Stadttheater haben, ein Forum auf dessen Bühne erhalten, um anhand eigener Erlebnisse Fragen des Zugangs aufzuwerfen oder Aspekte gesellschaftlicher Teilhabe zu thematisieren, wird die integrative Kraft der Chor-Form unmittelbar greifbar. Jörg Bochow, Chefdramaturg am Schauspiel Stuttgart, spricht in diesem Zusammenhang von einer „Selbstverständigung“55, die im Theater stattfindet.
53 Trobitz, „Im Zeichen der Faust“, S. 8. 54 Vgl. auch Otto Paul Burkhardt, „Täglich Freiheit erobern“, in: Südwest Presse Online vom 20.05.2011. 55 Bochow, „Im Zeichen der Faust“, S. 10.
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In dieser Lesart kann der Chor sowohl für die Beteiligten als auch für ein allgemeines Publikum durchaus als Wahrnehmungsschule gelebter Demokratie verstanden werden.56 Löschs chorische Arbeitsweise lässt unter den Mitwirkenden einerseits neue Verbindungen entstehen. Andererseits polarisieren, irritieren oder verstören seine Inszenierungen.57 Für Joachim Lange ist Löschs Chor-Theater daher im positiven Sinne „eine Zumutung für das Theater, weil es die vierte Wand zwischen Bühne und Zuschauerraum ignoriert. Und für das Publikum, weil es seine Lebenswirklichkeit direkt und persönlich zur Sprache bringen kann.“58 Die Direktheit persönlicher Meinungen, die die Chor-Form durch das gemeinsame Aussprechen anonymisiert, erschreckten in den Inszenierungen wiederum, weil man – wie Dirk Pilz schreibt – nicht glauben will, was man „längst hätte wissen können: wie undemokratisch die Bürger einer Demokratie denken und vor allem fühlen.“59 Das Gewaltpotenzial der chorischen Form, die Energien bündelt, manchmal nur eine einzige Stoßrichtung vorgibt oder als Masse-Erscheinung bedrohliche Macht entwickelt, löst bei Kritiker*innen daher ambivalente Reaktionen aus. Zum einen wird das maßgeblich durch den Choreinsatz initiierte Potenzial der Störung und die Ermächtigung sozialer Randgruppen anerkannt. Zum anderen wird Löschs Theaterpraxis aufgrund fehlender Distanz zur eigenen Methode kritisiert oder sein Laienchor-Theater als ästhetische Zumutung wahrgenommen.60
56 Aspekte gelebter Demokratie werden dort sichtbar, wo sich die gewohnte Wirkrichtung des Theaters umkehrt und plötzlich „Erfahrungen von draußen“ in die Inszenierungen einfließen. Die Einbindung einer städtischen Öffentlichkeit wurde im Jahr 2003 exemplarisch durch einen Laienchor aus Dresdner Bürger*innen demonstriert, der in der Inszenierung nicht nur in die theatralen Handlungen auf der Bühne involviert war, sondern am Aufführungsabend auf Videoleinwänden eigene politische Ansichten artikulierte. In den zwei Pausen des Abends wurden auf den Gängen des Dresdner Schauspielhauses filmische Beiträge gezeigt, in denen sich die Chorist*innen zu ihrem Demokratieverständnis äußerten. 57 Vgl. Otto Paul Burkhardt, „,Ulysses‘. Spielzeit 2006/2007“, in: Bochow/Trobitz/Weber, Im Zeichen der Faust, S. 40-59, S. 40. 58 Joachim Lange, „Die Methode des Volker Lösch“, in: Thüringische Landeszeitung vom 04.12.14. 59 Dirk Pilz, „Die Chormaschine“, in: Berliner Zeitung vom 08.03.2006. 60 Zum „Chor der Arbeitslosen“ in der skandalumwitterten Premiere der Dresdner Weber schrieb Andreas Wilink im Gegenzug, er erscheint als „rüde lebendiges Polit-Pamphlet aus 33 Stimmen, wütend, wuchtig, schmähend, ohne Rücksicht auf Verluste, weder von Persönlichkeitsrechten noch künstlerischer Subtilität.“ Das Problem von Löschs Chor-Theater tritt seiner Meinung nach dort offen zu Tage, wo die Revolte keine Zwischentöne duldet und sich „einen Dreck um die Nuance“ schert. Andreas Wilink, „Die Sprache des Lebens“, in: nachtkritik vom 29.11.2014. Auch Christine Wahl kritisiert das „plakative AufregerPotenial“ von Löschs „Betroffenen-Chören“, die „eher orchestrierendes Mittel zum Zweck“ sind. Sie relativiert den Einsatz der Chöre, indem sie schreibt: „Im Kern greift der Regisseur auf konventionelle Theater- oder Romanstoffe zurück, die – meist in extremen Schrumpfversionen – auf der Bühne auch von Profi-Schauspielern dargeboten werden.“ Den „Betroffenen-Chören“ kommt dabei allein die Funktion zu, „Staub von den alten
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Die Faszination an der Kraft, Energie und Wucht, die das punktgenaue Sprechen im Chor auszulösen vermag, wenn der Eindruck entsteht, viele Menschen würden mit nur einer Stimme sprechen, ist Grundlage für Löschs Chor-Theater. Während Einar Schleef auf eine flexible Gestaltung seiner Chöre verzichtete und bei ihm das „chorische Prinzip totalen Anspruch auf Gültigkeit“ hatte,61 experimentiert Lösch vor allem mit der sozialen Reichweite und gesellschaftlichen Anknüpfungspunkten des Chores. Für Hajo Kurzenberger stellt Lösch den Chor damit auf ein breiteres, ein gesellschaftliches Fundament: „Aus dem ästhetischen, dem theatralen Chor-Körper Schleefs wird hier der soziale Chor-Körper, ein Chor der gesellschaftlich Geächteten und Kaltgestellten.“62 In dieser Lesart liegt das Erfolgsrezept von Lösch und Freytag darin, dass sie „sozial Deklassierte mittels Chor theatral potent“ machen.63 Wenn Bochow vom „unmittelbar appellierenden und agitatorischen Gestus der Lösch-Abende“ spricht,64 wird der politische Anspruch Löschs künstlerischer Praxis offenbar. Zugleich wird am Versuch „für sozial Ausgegrenzte eine partielle Öffentlichkeit, also gesellschaftliche Repräsentation herzustellen“ deutliche Kritik geübt.65 Mit dem Vorwurf, im Theater eine Art „Sozialvoyeurismus“ zu verstetigen, wurde immer wieder gefragt, ob Löschs Chorprojekte sozial Deklassierte instrumentalisieren würden, um sie als Marginalisierte in einer Art „Sozialzoo“66 auf der Bühne auszustellen. An diese Auseinandersetzungen schließt die Frage an, inwieweit die Arbeitsbedingungen der Chorist*innen – die viel Zeit investieren, über Wochen hinweg täglich viele Stunden proben, Sprechweisen einstudieren, Texte auswendig lernen, allerdings kaum angemessen entlohnt werden – nicht selbst Ausbeutungsmechanismen reproduzieren. Es scheint geradezu doppelzüngig, chorische Kapitalismuskritik zu üben, die eigenen Strukturen, Methoden und Arbeitsweisen des Chores allerdings unberührt zu lassen. Inwieweit werden innerhalb der eigenen Praxis chorische Methoden überhaupt reflektiert und was ändert die Herstellung von Öffentlichkeit oder die verspätete Geste der Anerkennung an den strukturellen Fehlern des Systems? Tendiert die Form des Chores sogar dazu, Missstände wiederum zu verschleiern? 1.3.2 Chorverständnis Volker Löschs ästhetische Praxis fußt auf der Inszenierung dramatischer Sprechchöre. Die Tatsache, dass stimmlich nicht ausgebildete Laiendarsteller*innen als Mitglieder seiner Chor-Ensembles ausgewählt werden, täuscht nicht darüber hinweg,
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Dramenfiguren zu klopfen […].“ Christine Wahl, „Theater muss wie Koks sein!“, in: SPIEGEL ONLINE vom 16.01.2011. Baur, Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, S. 185. Hajo Kurzenberger, „Die Kraft der Gruppe“, in: Theater heute, Nr. 7 (2009), S.14-23, S. 20. Ebd. Jörg Bochow, „Stuttgarter Dramaturgie“, in: Ders./Trobitz/Weber, Im Zeichen der Faust, S. 48-50, S. 49. Peter Laudenbach, „Das 5-Millionen-Spiel“, in: Tagesspiegel vom 21.05.2005. Wahl, „Theater muss wie Koks sein!“.
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dass auch an sie die höchsten Ansprüche akkuraten Sprechens gestellt werden.67 Die Stimmbildung der „Bürgerchöre“ richtet sich im Theater ebenso wie auf der Straße an Verfahren der Synchronisierung aus. Ziel ist nicht nur, einen Text durch eine Vielzahl von Stimmen erklingen zu lassen, sondern den sprachlichen Vortrag dadurch zu intensivieren, dass der Text in unisono wiedergegeben wird. In seinem Text „Es ist Probe! Über Volker Lösch“ widmet sich der damalige Intendant des Stuttgarter Staatstheaters Hasko Weber der künstlerischen Arbeitsweise Löschs. Mit Blick auf interne Verfahren der Probe offenbart sein Bericht wichtige Indizien zu Löschs ästhetischen Ansprüchen. Webers Schilderungen werden beiläufig zu Anhaltspunkten für den Ehrgeiz Löschs künstlerischer Praxis. Sie sind als Bewertungsmaßstäbe auf seine Arbeit mit Protestchören übertragbar. Weber schreibt: „Jeder gemeinsame künstlerische Versuch ist aufs genaueste abgesprochen und wird mit hundertprozentigem Einsatz in Gang gesetzt. […] Für solche Konzentration bedarf es einer starken Kondition. Intensität aushalten und erzeugen, darum geht es. Das ist anstrengend, weil es Suche bedeutet. Das ist Kampf, weil es kontrovers ist. Die absolute Einsatzbereitschaft, das Ausloten der Möglichkeiten bis zum Grund, bis an den Rand der Erschöpfung, wird davon allen Beteiligten als Aufgabe akzeptiert. Arbeiten an der Grenze zum Extrem. Lustvoll.“68
Webers Worte verdeutlichen Löschs Ambition, künstlerische Vorgänge genauestens festzulegen. Ferner lassen sie den Eifer erahnen, den Lösch gleichsam von seinen Mitspieler*innen einfordert: Ausdauer, Präzision und Disziplin gehören zu den unmittelbaren Tugenden seines künstlerischen Schaffens. Entsprechend wird auch von den Freiwilligen des Chores erwartet, „absolute Einsatzbereitschaft“ zu zeigen und „bis an den Rand der Erschöpfung“ zu gehen. In einem Insiderbericht von Sabine Weissinger kann nachgelesen werden, wie Löschs Chöre von Chorleiter Freytag trainiert werden.69 Sie beschreibt, wie dieser Takt und Tonlage dirigiert und den Chorist*innen beibringt, „wie man ganzkörperlich spricht und sich und den Raum zum Schwingen bringt, wie man brüllt und flüstert, bedrohlich, ungläubig oder ängstlich klingt.“70 Wer Teil des Sprechchors werden will, muss bereit sein, sich der Führung des Chorleiters unterzuordnen. Der Chor dient dazu, ein vorab künstlerisches Programm umzusetzen. Die Meinung der Chorist*innen, ihre eigenen Ansichten, Wünsche und Ideen der Darstellung spielen im Probenprozess eine eher untergeordnete Rolle, denn: „Bernd arbeitet Satz für Satz mit uns durch. Als ausgebildeter Schauspieler und als Autor – „Sprache ist alles!“ – mimt und erzählt er zu einzelnen Passagen ganze Storys. Er nimmt uns mit auf phantastische Reisen: lebendige und humorvolle Exkursionen in die Philosophie, Ge-
67 Vgl. dazu Sabine Weissinger, „Macht den vielstimmigen Geißler! Innenansichten aus dem Wutbürgerchor“, in: Kontext vom 21.05.2011: „Chorisches Sprechen ist Arbeit, Gruppenarbeit. Ausprobieren und wieder verwerfen, sich annähern, bis es klingt und besser klingt.“ 68 Weber „Es ist Probe!“, S. 52. 69 Weissinger war in der Inszenierung Metropolis / The Monkey Wrench Gang (Premiere am 21.05.2011, Regie: Volker Lösch) selbst Teil eines 27-köpfigen Theaterchors aus „Stuttgart-21“-Gegner*innen. 70 Weissinger, „Macht den vielstimmigen Geißler!“.
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schichte und die Literatur, damit wir Sinn und Hintersinn bis ins Letzte begreifen.“71 Der Chor soll begreifen und ausführen, was sich die künstlerische Leitung ausgedacht hat. Er soll Stimmlagen imitieren, zu einem „Chor à la Mappus, Kretschmann, Merkel“ werden und „deren Selbstverständnis […] herausarbeiten und so zuspitzen, dass bühnentaugliche Figuren entstehen.“72 Freytag, der als Chorleiter Wesentliches zur sprachlichen Einstudierung der Chöre beiträgt, entscheidet über Methoden und Schwerpunkte der gemeinsamen Textarbeit. In einem Projektentwurf zu dem Dissertationsprojekt „...und dann nannte man uns plötzlich Bürgerchor!“ beschreibt Joanna Merete Scharrel am Beispiel des Sprechchor-Projekts „Urban Prayers“ am Deutschen Theater Berlin, wie der Prozess der Chorbildung unter Leitung von Freytag in diesem konkreten Fall ablief: „Alle sitzen in Reihen, alle blicken in die Textbücher oder nach vorne. Alle imitieren das, was der Chorleiter vormacht. Auf Änderungen im Dirigat muss sofort reagiert werden, sonst fällt man aus der Masse. Selten erhebt sich der Chor, formiert sich zum Kreis oder geht durcheinander. Es gibt ein starres Vorne und Hinten. Es gibt ein Richtig und ein Falsch. Erproben und Entwickeln finden durch die künstlerischen Entscheidungen des Chorleiters statt. Der Chor ist Masse, die reagiert.“73
Die konkreten Arbeitspraktiken von Freytag und Lösch zeigen, dass das Chor-Modell im regulären Betrieb der deutschen Stadt- und Staatstheater kaum dazu beiträgt, auf Partizipation und Gleichberechtigung basierende Arbeitsweisen zu erproben oder neu zu realisieren. Im Gegenteil unterliegt der Chor auch hier ökonomischen Richtlinien, die seine künstlerische Freiheit als Erproben von „etwas Anderem“ einschränken und es ihm in keiner Weise ermöglichen, sich den marktüblichen Kriterien der Effizienz zu widersetzen. Der Chor soll schnell und viel proben, wenig kosten – aber etwas Ansehnliches präsentieren. Was, außer der kollektiven Reproduktion vorab festgelegter Texte, einer vorab bestimmten Rhythmisierung und Intonation, ist hier noch der eigene Beitrag des Chores? In welchem Verhältnis steht der Prozess chorischen Sprechens und das Produkt des Sprechchors, auf dessen Präsentation im Rahmen einer Aufführung alles angelegt zu sein scheint? Löschs Sprechchorformationen und damit auch das Modell der „Bürgerchöre“ müssen als neo-autoritäre Formen beschrieben werden. Nach außen realisieren sie für Zuschauende zwar beeindruckend intensive, aufwühlende ästhetische Leistungen, hinter der dargebotenen Form materialisieren die Arbeitsprozesse der Chor-Werdung allerdings eine innere Verfassung des Chores, die deutliche Defizite offenbart. Gerade dadurch, dass weder die hierarchische Anordnung einer leitenden Instanz kritisiert, noch die Chance des Delegierens von Verantwortlichkeiten erkannt und damit der Prozess der eigenen Entstehung des Chores in keiner Weise reflektiert wird, verpufft das Potenzial des Chorischen – wie es die Zusammen-
71 Ebd. 72 Ebd. 73 Joanna Merete Scharrel, „...und dann nannte man uns plötzlich Bürgerchor!“, unveröffentlichtes Manuskript zum Dissertationsprojekt, Colloquium Prof. Dr. Barbara Gronau im Wintersemester 2015/16.
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kunft zum Zwecke gemeinsamen politischen Handelns maßgeblich ermöglichen würde. Besonders deutlich wird diese Vorgehensweise bei Theaterproduktionen mit Laien-Sprechchören, die von vornherein nicht allen offenstehen, sondern nur zu Stande kommen, indem in einem vorgegebenen Auswahlverfahren von einer Autorität bestimmt wird, wer Teil des Chores sein darf. Im Bewerbungsaufruf für Löschs Sprechchöre werden den potenziellen Chorist*innen je nach Produktion verschiedene Vorgaben gemacht. Sie betreffen das Alter, besondere körperliche Eigenschaften oder ein spezifisches Erscheinungsbild. Nur wenn diese Vorgaben von den Bewerber*innen erfüllt werden, wird ein Zugang zur Chorteilnahme gewährt. Letztlich entscheidet die künstlerische Leitung, wer an den Proben teilnimmt. Bereits diese Art des Auswahlverfahrens macht deutlich, dass die Sprechchöre nicht als Abbild einer heterogenen Wirklichkeit konzipiert sind, sondern der Chor von Anfang an als Stellvertreter einer homogenen Gruppe gedacht wird. 1.3.3 Subversion Wenngleich für die Stuttgarter „Bürgerchöre“ ein offenerer Zugang bestand, überwog auch dort die fragwürdige Identifizierung des Chores mit „Bürger*innen“. An die Darstellungsebene der „Bürgerschaft“ knüpften sich repräsentative Aspekte sowie die Überzeugung, das richtige Argument und die Legitimation des Volkswillens auf seiner Seite zu haben. Das spezielle Widerstandspotenzial des Chorischen, das die Protestierenden in Stuttgart zu gewissen Teilen ungenutzt ließen, kann anhand von Matthias Dreyers Analyse chorischen Theaters noch einmal vergegenwärtigt werden. Auf Grundlage zahlreicher Aufführungsbeispiele differenziert Dreyer im zeitgenössischen Theater verschiedene Praktiken im Umgang mit dem Chor. Die unterschiedlichen Zugänge führen ihn zur Unterscheidung eines affirmativen und eines subversiven Chor-Modells. Beim affirmativen Modell wird die Chor-Form dazu genutzt, um in Form von „Bürgerbühnen“ Anteillose zu integrieren, neue und zum Teil utopische Gemeinschaften entstehen zu lassen, die alle aufnehmen und einschließen. Das subversive Modell hingegen erkennt die Marginalisierten selbst als verändernde Kraft an. Statt Benachteiligte in ein bereits bestehendes System integrieren zu wollen, möchte es den Raum politischer Partizipation neu erschaffen, indem es dabei auch die Bedingungen des Erscheinens selbst verändert.74 Während das erste Modell darauf abzielt, soziale Anerkennung einzufordern, ohne die Gesetzmäßigkeiten und Machtdimensionen des Bewertens selbst zu hinterfragen, visiert das subversive Modell Aktionen an, die viel weitreichender in vorhandene Strukturen einzugreifen versuchen. Bezieht man diese Überlegungen auf die Proteste in Stuttgart, wird deutlich, dass vor dem Hintergrund einer Ästhetik des Widerstands das Chorische dort gerade kein ausdrücklicher Bestandteil einer kritischen Auseinandersetzung mit Anerkennung, konventionellen Verfahren der Aufmerksamkeitsproduktion oder den politisch überformten Mechanismen des Öffentlichen wurde. Im Gegenteil wurde der Chor aus Bürger*innen als ein scheinbar direkteres Verfahren der Partizipation als „Allheilmittel“ dazu instrumentalisiert, das eigene Protesthandeln zu legitimieren. Die Vorstellung, die hinter der absichtsvollen Betonung, Bürger*innen wieder stärker an politi74 Vgl. Dreyer, Theater der Zäsur, S. 236.
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schen Meinungsbildungsprozessen beteiligen zu wollen, ersichtlich wurde, offenbarte ein Verständnis von Partizipation, das ein bereits fragwürdiges Ungleichgewicht erkennen ließ. Brauchte es einen Theaterregisseur, der Bürger*innen dazu verhalf, sich stärker zu beteiligen? Konnten die freiwilligen Chorist*innen nur durch das Modell des Chores dazu bewegt werden, sich aus ihrer Unmündigkeit zu befreien? Der Vorwurf gegenüber der Ermächtigungsstrategie des Chores lautet am Ende, dass die chorischen Verfahren viel stärker dazu hätten genutzt werden können, Partizipation selbst als eine Fähigkeit zu denken und als eine Kompetenz fortzuentwickeln, bei der die eigene Wahrnehmung für das, was andere tun, geschult wird, um eine Offenheit zu praktizieren, die dazu führt, bewusster am Handeln anderer teilhaben zu können. In den „Bürgerchören“ wie beim „Schwabenstreich“ hieß Partizipieren jedoch weniger, sich auf andere einzulassen, als vielmehr einstimmig und einheitlich mit Menschen der gleichen Meinung zu agieren. Das Chorische diente hier nicht dazu, eine Dialogbereitschaft zu fördern oder mit anderen in Austausch zu treten, als vielmehr dazu, eine bereits bestehende Interessengruppe als Gemeinschaft zu präsentieren. 1.3.4 Die ambivalente Performativität des Protestchors als Sprach-Körper Protestchöre vereinen körperliche und sprachliche Handlungen, die sich aufeinander beziehen und durch koordinierte Organisation komplementär verstärken können. Diese besondere Bedingung des Kommunizierens, die chorische Protestverfahren hervorbringen, kann als eine Verkörperungsform von Sprache beschrieben werden. Als Sprach-Körper entstehen Protestchöre in theatralen Situationen, die sich einerseits als responsive Struktur darstellen und andererseits komplexe Kräfteverhältnisse offenbaren. Die Sprache des Protestchors tritt dabei als Handlungsmacht auf, die mit ihren Äußerungen sowohl die intentionalen Inhalte des Gesagten als auch Konventionen sprachlicher Codes aufruft. Judith Butler hat entsprechend an die folgenreichen Wirkungsdimensionen der Sprache erinnert: „Wir tun Dinge mit der Sprache, rufen mit der Sprache Effekte hervor, und wir tun der Sprache Dinge an; doch zugleich ist Sprache selbst etwas, was wir tun. Sprache ist ein Name für unser Tun, d.h. zugleich das, ,was‘ wir tun (der Name für die Handlung, die wir typischerweise vollziehen), und das, was wir bewirken; also die Handlung und ihre Folgen.“75
Der Protestchor nutzt diese verdoppelnde Eigenschaft des Sprechens, indem er die Körperlichkeit seiner sprachlichen Äußerungen strategisch einsetzt, um durch die spezifische Art und Weise des Gesprochenen ablehnende Aussagen zusätzlich zu betonen. Die Zusammensetzung des Protestchors aus Stimmen, die an Körper gebunden sind, verdeutlicht, wie Protest oftmals erst durch einen stimmlichen Kollektiv-Körper in Erscheinung tritt, der handelt, indem er spricht. Protestchöre artikulieren nicht nur, indem sie gegen etwas sprechen, sondern vollführen zusätzlich körperliche Handlungen, in denen Körper explizit gegen Außenstehendes, das dem Chor nicht angehört, gerichtet werden. Neben sprachliche Inhalte der Rede tritt der Körper als Agent des Gesagten, wobei der Sprechakt unmittelbar als körperliche Handlung erscheint, die 75 Butler, Haß spricht, S. 19f.
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sich „im Augenblick des Sprechens verdoppelt: Neben dem, was gesagt wird, gibt es eine Weise des Sagens, die das körperliche ,Instrument‘ der Äußerung ausführt.“76 Das Vermögen chorischer Sprachhandlungen liegt nun darin, dass sie sich in Protesten als sichtbare Effekte performativer Akte entäußern, die körperliche Handlungen nicht nur andeuten, sondern selbst zu körperlichen Akten werden. Die an stimmliche Verlautbarungen gebundenen Körper des Protestchors sind daher so bedeutsam, weil die performativen Akte des Protests als körperliche Handlungen zu Referent*innen werden, die sich in Protestszenarien nicht mehr auf „etwas Vorgegebenes, Inneres, eine Substanz oder gar ein Wesen beziehen, das sie ausdrücken sollen: Jene feste, stabile Identität, die sie ausdrücken könnten, gibt es nicht.“77 Neben diesem Potenzial offenbaren die körperlichen Vollzüge und stimmlichen Verlautbarungen chorischer Protestverfahren zugleich ein gewisses Risiko, das in den unvorhersehbaren Dynamiken kollektiver Handlungen gründet. Den akustischen, körperlichen und räumlichen Dimensionen des Protests kann sich jederzeit etwas Unkontrollierbares beimengen. So sehr sich diese Möglichkeit als zu gestaltende Chance für Veränderung entpuppen kann, ist ebenso möglich, dass fundamentalistische Ideologien oder populistische Akteur*innen sie für politische Programme instrumentalisieren. Butler hat sich in Haß spricht mit diesem Unkontrollierbaren der Sprache beschäftigt. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit dabei „auf die geäußerten, äußerbaren und ausdrücklichen Aspekte der Sprache“78 und geht von der These aus, dass sich das Sprechen stets auch unserer Kontrolle entzieht. Butler stellt fest, dass „die Performativität des Textes keiner souveränen Kontrolle untersteht. Im Gegenteil, wenn ein Text einmal handelt, kann er wieder handeln und das vielleicht genau gegen die frühere Handlung. Resignifizierung wird so zu einer Möglichkeit, Performativität und Politik neu zu lesen.“79 Butlers Erinnerung an die Performativität von Texten und deren nicht vorhandene Souveränität hat für chorische Proteste eine Reihe von Konsequenzen. Eine erste besteht darin, die Pluralität chorischer Verbände selbst als ein Regulativ zu begreifen, das sich extremen Tendenzen innerhalb der Gruppe durch internes Gegensteuern widersetzen kann. Eine weitere Folge besteht maßgeblich darin, anerkennen zu müssen, dass die Eigenschaft des Performativen und die Chance einer Resignifikation zwar besteht, aber nicht zwangsläufig genutzt werden muss. Die Eigenschaft der Performativität bedeutet grundsätzlich nicht, dass sie für die „gute Sache“ angewandt wird. Eine letzte Konsequenz besteht in der Aufwertung der Rolle des Publikums, das auf Gehörtes durchaus unterschiedlich reagiert. Die Idee des Performativen betrifft also eher den Gedanken einer Strukturierung im Vollzug, als die Etablierung unmittelbar wirksamer und unhinterfragter Handlungsmacht.80 Eine performative Sicht auf Protestereignisse gesteht diesen dynamische Eigenlogiken zu, die gerade in Form chorischer Protestformen in der Lage sind, sich etab76 77 78 79 80
Ebd., S. 24. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 37. Butler, Haß spricht, S. 10. Ebd., S. 112f. Vgl. Jörg Volbers, „Zur Performativität des Sozialen“, in: Hempfer, Klaus W./Ders. (Hrsg.), Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2011, S. 141-160, S. 142.
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lierten Sinn- und Ordnungsstrukturen aus- und zu widersetzen. Um mit unbestrittener Macht zu sprechen, können Protestchöre performative Äußerungen – im Sinne der Ausführung einer Handlung im Rahmen eines Sprechakts oder des sozialen Gebrauchs des Körpers zur sichtbaren Markierung von Widerstand – jedoch völlig unabhängig von ihrer politischen Einstellung einsetzen oder bewusst instrumentalisieren.81 Wie Äußerungen etwa mit Ideologie durchsetzt sein können und der Wunsch nach Veränderung, der sich in Protesten ausdrückt, nicht automatisch der humanitären Agenda von Menschenrechten und gesellschaftlicher Vielfalt entspringt, zeigen die Protestchöre radikaler Gruppierungen wie Pegida oder Sprechchorformationen wie der Schwarze Block der linksextremen Szene. Die Ambivalenz chorischer Protestformen deutet sich dann dort an, wo Proteste absichtsvolle Drohgebärden produzieren,82 effiziente Handlungsfähigkeit behaupten oder unmittelbare Handlungsabsichten demonstrieren, um am „Schauplatz der Macht“83 zu operieren. In den sprachlichen Oppositionen der „Bürgerchöre“ spiegelten sich so gesellschaftliche Strukturen und Herrschaftsverhältnisse wider, gegen die sich ihr Protest nicht richtete, sondern denen sie sich im Ringen um Macht selbst zweifelhaft annäherten. Die Wirkmächtigkeit der Bewegung Stuttgart 21 sollte durch die Inszenierung von Macht erreicht werden. Durch die mit Protestchören angestrebte Autorität wurden gesellschaftliche Strukturen, die überwunden werden sollten, jedoch nur wiederherstellt. Protest besitzt als performative Kategorie daher eine durchaus paradoxe gesellschaftliche Funktion, indem er durch Strukturen ermöglicht wird, mit denen er in seinen Aktionen zugleich bricht: „Diese ambivalente Struktur im Herzen der Performativität beinhaltet, daß Widerstands- und Protestbedingungen innerhalb des politischen Diskurses teilweise von den Mächten erzeugt werden, denen man entgegentritt […].“84 1.4 Repolitisierung der Stimme: Chorisches Sprechen als erlebte Gegenwart „In einer polyphonen Konzeption des Erzählens gibt es kein Zentrum, das die Begeisterung diktieren könnte; Bedeutung entsteht vielmehr nur aus dem Dialog zwischen den verschiedenen Singularitäten.“85
Im Wissen um die Möglichkeit machtpolitischen Missbrauchs der Chor-Form sollen dennoch einige Aspekte chorischen Protests gewürdigt werden, die wenngleich nicht beabsichtigt oder reflektiert, so doch in der Rezeptionssituation wahrnehmbar sind und Beachtung finden sollten. Abschließend soll etwa darauf hingewiesen werden,
81 Vgl. Butler, Haß spricht, S. 80. 82 Butlers Überlegungen zur ,Drohung‘ folgend kann der Protestchor als „Phantasma einer souveränen Handlung“ verstanden werden, nach welcher „eine bestimmte Art des Sagens zugleich die Ausführung der Handlung ist.“ Ebd., S. 25. 83 Ebd. 84 Ebd., S. 70. 85 Hardt/Negri, Multitude, S. 237.
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dass chorische Protestverfahren immer auch betonen, wie Sprache durch stimmliche Verlautbarungen gemeinsam produziert und „immer mittels Kommunikation und Kooperation von einer Sprachgemeinschaft geschaffen“ wird.86 Viel stärker als die „Schwabenstreiche“ verdeutlichen die Auftritte der „Bürgerchöre“ daher durchaus das Gemeinsame sprachlicher Vollzüge: „Jede sprachliche Handlung schafft das Gemeinsame; und der Sprechakt selbst vollzieht sich im Gemeinsamen, im Dialog, in der Kommunikation.“87 Chorische Proteste zeichnen sich dadurch aus, dass sie gesellig und beredt sind. Ihnen ist anzurechnen, dass es bei ihnen oft weniger um das geht, „was gesagt wird, als vielmehr um die reine schlichte Fähigkeit zu sprechen.“88 Das Involviertsein in einen kollektiven Handlungsprozess und die Möglichkeit der Einflussnahme wird innerhalb der chorischen Praxis geradewegs akzentuiert. In den Aufführungen der „Bürgerchöre“ verschiebt sich der Akzent folglich mehr auf die Prozessualität, als auf das Ergebnis einer Mitwirkung, was wiederum auf die Ebene politischen Handelns und das Recht der Bürger*innen bezogen werden kann, an den Angelegenheiten des Staates Anteil zu nehmen. Ähnlich wie der Begriff der Partizipation in der politischen Theorie für die Teilhabe an Regierungsformen oder gesellschaftlicher Organisation steht, dienen Löschs „Bürgerchöre“ als theaterästhetisches Mittel dazu, repräsentative Ansprüche zu revitalisieren. Die an den „Bürgerchören“ Beteiligten ermächtigen sich mit Hilfe der Chor-Form als potenzielle Akteur*innen politischen Handelns. Das Potenzial chorischen Protests liegt ungeschmälert darin, Protest als Einspruch, Dagegen-Sprechen oder Widerspruch zu äußern, um durch energisches Eintreten innerhalb eines bereits bestehenden politischen Diskurses temporär Widerstand oder Macht zu erzeugen. Die chorischen Verfahren legitimen Sprechens unterstützen als koordinierte, zeitlich begrenzte Gegen- oder Widerrede die Aneignung einer sozialen Kompetenz im öffentlichen Raum, die Diskurse reterritorialisiert, um gegen die eigene Marginalisierung anzugehen. Die performative Macht chorischen Protests liegt dann entsprechend darin, aus degradierenden Bedeutungen eine Affirmation abzuleiten.89 Indem Protestchöre gezielt und bestimmt Anliegen zur Sprache bringen, die neue Inhalte, thematisch Vernachlässigtes, Verdrängtes oder Nichterwähntes in den öffentlichen Raum tragen, erarbeiten sie sich die Kompetenz, herrschende Diskurse zeitweise zu verdrängen oder ihnen zumindest alternative Sichtweisen hinzuzufügen. Die Chance einer subversiven Resignifikation des bereits Gehörten scheint also dort auf, wo Positionen abseits des Mainstreams neue Perspektiven eröffnen und zu kritischeren Lesarten führen, die die Meinungen bereits etablierter Akteur*innen nicht bloß reproduzieren, sondern erweitern. Die untersuchten „Bürgerchöre“ traten als prägnante, durchaus stilisierte Stimmpräsentationen auf, die den Fokus nicht allein auf die Artikulation des Gesagten legten, sondern mit der Ausstellung einer Kollektivstimmlichkeit auf den kollektiven Vollzug des Sprechens. Dabei dominierte keineswegs nur die ästhetische Überwältigung durch Synchronizität. Im Gegenteil vergegenwärtigen die Protestchöre immer 86 87 88 89
Ebd., S. 226. Ebd., S. 227. Paolo Virno, Quando il verbo si fa carne: linguaggio e natura umana, Turin 2003, S. 73. Vgl. Butler, Haß spricht, S. 247.
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auch die Dissonanz gemeinsamen Sprechens als Polyfonie einer Stimmenvielfalt. Es war die immer wieder hervorstechende Pluralität der Chorstimmen, die nie ganz als eine Kollektivstimme zur Deckung kam, die darauf verwies, wie demokratische Teilhabe einer kollektiven Anstrengung aller bedarf. Die betonte Hervorbringung dieser materiellen Eigenschaften chorischen Sprechens verlieh den vielfältigen ProtestStimmen im Moment ihrer Aufführung zudem „einen autonomen Status diesseits von Sprache und Subjekt, diesseits von semantischen, expressiven und instrumentellen Funktionen.“90 Die Bedeutung chorischer Stimmenensembles wurde auch dort deutlich, wo die kollektiv hervorgebrachten Protestäußerungen stimmliche Atmosphären erzeugten, die weniger rational als sensitiv erfasst, weniger verstanden als empfunden, kurzum: vordergründig erspürt wurden. In Folge schufen chorische Kommunikationsverfahren Protestsituationen, die imstande waren sinnlich-affektive Betroffenheit auszulösen. Dabei wurden Zuhörende weniger von wütenden Chorszenarien als von den Personen tangiert, die im Ausleben ihres Protests und in Verbindung mit anderen Protestierenden bedrohlich, aufgebracht oder lächerlich wirkten und deren chorisches Handeln als überwältigend oder abstoßend empfunden wurde. Durch die Betonung dieser spezifisch chorischen Artikulationsweise wurde eine intensivere Wahrnehmungssituation geschaffen und der Prozess des Zuhörens aufgewertet. Die Erfahrung der Präsenz, die in diesen Momenten das rationale Verstehen des Gesprochenen zugleich erschweren oder stören konnte,91 wies Präsenz umso mehr als ein Gegenmodell der Repräsentation aus. Hier deutete sich an, wie der Prozess des Chorischen als Akt sinnlicher Vergegenwärtigung jenen Anspruch auf Teilhabe greifbar werden ließ. Dort, wo chorische Protestformen nicht auf den überwältigenden Moment oder das bedeutungsstiftende Bild zielen, können sie – wenngleich ihre theatralen Handlungen immer auch Bedeutungen auslösen – den Anspruch auf Repräsentation zugunsten eines Bewusstseins für die eigene Praxis zurückstellen. Das Modell der Stellvertretung kann entsprechend überwunden werden, wenn die Präsenz des Kollektiven nicht der alleinigen Erzeugung von Macht dient, sondern die Aktivierung weiterer Gruppendynamiken verantwortungsvoll beobachtet wird. Im Anschluss an die nachvollziehbare Ambivalenz der präsenzerzeugenden und aufsehenerregenden Interventionen der Stuttgarter Protestchöre soll anschließend geklärt werden, wie sich eine Ästhetik des Widerstands weniger durch die Affirmationsstrategien des Chores als durch Nutzbarmachung unterbrechender Funktionen des Chorischen realisieren lässt. Beginnt das Politische des Chorischen dort, wo es den Rahmen des theatral Dargestellten verlässt und sich als Situation in ein Verhältnis zur Darstellung setzt? Wenn chorischem Protest die Fähigkeit zukommt, Widerstand als Zäsur des Politischen erfahrbar zu machen, fragt sich, ob dem Vorgefundenen schließlich in strukturellen Aussetzungen etwas Neues hinzugefügt werden kann.
90 Schrödl, Vokale Intensitäten, S. 16f. 91 Vgl. ebd., S. 49.
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2. ZÄSUR „Wir müssen unsere Rituale als das entlarven, was sie sind: als vollkommen willkürliche Dinge, die mit unserer bürgerlichen Lebensweise zusammenhängen. Es ist gut – und das ist das wahre Theater –, sie spielerisch und ironisch zu überschreiten; […] Wir müssen die Systeme, die uns im Stillen lenken, aufs ,Spiel setzen‘, vorführen, verändern und umstürzen.“92
Diese Arbeit ging davon aus, dass eine Reflexion der Produktionsvoraussetzungen und eine Auseinandersetzung mit den Rezeptionsbedingungen chorischen Protests in Analogie zum Theater nicht nur möglich, sondern überaus vielversprechend ist. Während Protest und Theater die spielerische Infragestellung einer für „normal“ erachteten Wirklichkeit verbindet, ist unbestritten, dass beide Darstellungsformen zugleich durch unüberwindbare Differenzen bestimmt werden. Zur Frage stand, was politische Bewegungen, die Protest als theatrales Mittel ihres Widerstands einsetzen, von einer Diskussion um ein politisches Theater im Bereich der Kunst lernen können. Hans-Thies Lehmann hat eine klare Differenzierung der voneinander verschiedenen Sphären ,Theater‘ und ,Politik‘ vorgeschlagen. Der deutsche Theaterwissenschaftler geht von der Prämisse aus, dass das Theater und sinnbildlich zugleich der Chor ihren politischen Ort von einst verloren haben und damit ein Zentrum gemeinsamer Konfliktartikulation und -bewältigung fehle. Dadurch könne das Theater nicht mehr adäquat wie in der antiken Polis behaupten, Ort einer genuin politischen Auseinandersetzung zu sein.93 Trotz dieser Veränderung betont Lehmann, stellt das Theater „in der Praxis seiner Entstehung und Produktion, seiner Darbietung und seiner Rezeption durch die Zuschauer eine eminent ,soziale‘, eine gemeinschaftliche Sache dar […].“94 Das Politische sei trotz tiefgreifender kultureller Transformationen daher nicht völlig aus dem Theater verschwunden, sondern müsse kontinuierlich als neue Strategie des Erscheinens erprobt werden. In seinem Artikel „Wie politisch ist postdramatisches Theater?“ entwirft Lehmann drei Vorschläge, auf welche Weise ,das Politische‘ im Theater hervorgebracht werden könne. Er schreibt: „Erstens: Das Politische kann im Theater nur indirekt erscheinen, in einem schrägen Winkel, modo obliquo. Und zweitens: Das Politische kommt im Theater zum Tragen, wenn und nur wenn es auf keine Weise übersetzbar oder rückübersetzbar ist in die Logik, Syntax und Begrifflichkeit des politischen Diskurses in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Woraus drittens die nur scheinbar paradoxe Formel folgt, dass das Politische des Theaters gerade nicht als Wiedergabe, sondern als Unterbrechung des Politischen zu denken sein muss.“95
92 Michel Foucault, „Gespräch mit Michel Foucault“, in: Ders., Schriften in vier Bänden, Bd. 2, S. 222-235, S. 235. 93 Vgl. Lehmann, „Wie politisch ist postdramatisches Theater?“, S. 19. 94 Ebd., S. 20. 95 Ebd., S. 22f.
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Lehmanns Idee der theatralen Zäsur des Politischen im Theater lässt hinsichtlich der hier untersuchten Beispiele interessante Schlussfolgerungen zu. Überträgt man die Idee der Zäsur als einer ästhetischen Unterbrechung des Politischen auf die Aktionen des „Stillen Widerstands“, deutet sich an, wie das Potenzial des Chorischen als Zäsur einer auf die Reproduktion normativer Hierarchien angelegten Gesellschaftsstruktur aufscheint. Im Bereich politischen Protests wirkt das Chorische wie eine künstlerische Intervention im öffentlichen Raum. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass chorische Zäsuren im Bereich politischen Handelns spezifische Ästhetiken nutzen, um politische Inhalte zu verfremden. Das Chorische ist mit Lehmanns Worten „auf keine Weise übersetzbar“, wenn es sich selbst maskiert und nicht eindeutig als politische Aktion erscheint. Gerade in Ägypten, wo die politische Führung ihren Machtanspruch durch ein System politischer Repräsentation stützte und Ordnungskräfte jedwede Form des Protests im Keim erstickten,96 erzeugten die den Fortlauf des Alltäglichen unterbrechenden Beeinträchtigungen „Stillen Widerstands“ eine subversive Dynamik, die zu einer Aussetzung der gewohnten Bedeutungs- und Ordnungssysteme beitrug. Dabei bildete die körperliche Anordnung der Protestierenden besondere Choreografien aus, die nicht mehr darauf drängten, sich als machtvoll zu präsentieren. Die Relevanz der Protesthandlungen intensivierte sich vielmehr durch die Performanz chorischer Bewegungslosigkeit und Ruhe. Inwiefern konnte die chorisch herbeigeführte Statik menschlichen Verhaltens zu einem spezifischen Zeitpunkt als politisches Zeichen gelesen werden? Und konnte in den Bewegungslogiken der Unterbrechung, des Stillstellens, Stockens und Zögerns letztendlich ein widerständiger Gewinn an Handlungsfähigkeit erkannt werden? 2.1 Ästhetik chorischen Stillstands „[…] wenn Körper sich versammeln, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen oder um ihre plurale Existenz im öffentlichen Raum zu inszenieren, dann stellen sie zugleich auch weiter reichende Forderungen: Sie verlangen, anerkannt und wertgeschätzt zu werden, sie machen das Recht geltend, zu erscheinen und ihre Freiheit auszuüben, und sie fordern ein lebbares Leben.“97
Wenn Körper als große Menschenmengen auf Straßen und Plätzen zusammenkommen, üben sie ungefragt ihr Recht aus, im öffentlichen Raum zu erscheinen. Allein die Tatsache, dass sich kollektive Akteur*innen in der Öffentlichkeit versammeln, kann als Aufforderung verstanden werden, diese als politische Subjekte wahrzunehmen und anzuerkennen. Für gewöhnlich wird also bereits die Anwesenheit von Demonstrant*innen unmissverständlich als Ablehnung gesellschaftlicher Zustände verstanden. Indem sich aufbegehrende Körper zusätzlich als choreografierte Formatio96 Vgl. Rainer Hermann, „Protestbewegung in Ägypten: Revolution nach Plan“, in: FAZ vom 15.02.2011. 97 Butler, Theorie der Versammlung, S. 39.
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nen anordnen, die ein gewisses Maß der Verbundenheit erkennen lassen, können Protestierende Forderungen nach besseren Lebensbedingungen zusätzlich unterstreichen. Die kollektive Aufführung von Stillstand ermöglichte es pluralen Akteur*innen in Ägypten nicht nur in dieser besonderen Weise hervortreten. Die koordinierte Stillstellung körperlicher Bewegungen erhielt eine politische Kraft, da sich der Auftritt deutlich in Differenz zu geltenden Normen des Erscheinens vollzog. Die Stillstellung körperlicher Handlungen konnte aus verschiedenen Gründen als widerständige Praxis erfahren und interpretiert werden. Die Aktionen waren im Moment ihrer Aufführung zunächst darauf angelegt, eine sinnliche Präsenz zu erzeugen, die bedeutungsoffen war. Die chorisch inszenierten Momente kollektiven Stillstands bildeten zugleich einen körperlichen, an Körpern sichtbar werdenden und über die Körper hinausweisenden Widerstand ab.98 Reaktionen wie Irritation und Verstörung führten dazu, dass Passant*innen die Aktion mit ihren Handys aufnahmen. Die Faszination an der choreografierten Aktion begünstigte, dass die Szenen, die den Prozess der Ruhigstellung als einen artifiziellen Vorgang vorzuführen schienen, zusätzlich festgehalten und fotografiert wurden. Im Internet wurden die Szenen konzertierten Stillstehens umso zahlreicher diskutiert und weiterverbreitet. Insbesondere die körperliche Anordnung der Demonstrierenden trug als choreografierte Aktion zu ihrer eigenen Mediatisierung bei. Im Wirkungskreis des Internets resonierten die stille Anwesenheit und die antiautoritäre Körperlichkeit der Proteste wiederum mit Anliegen, die Aktionen zu deuten. Während mediale Repräsentationen der Protestereignisse der Online-Community wiederum dazu dienten, sich die Ikonografie des Protests anzueignen und mit dazugehörenden Interpretationen digital zu verbreiten, illustrierten die Aktionen des „Stillen Widerstands“ selbst ein Abrücken von selbstermächtigenden Strategien. Weniger das repräsentative Markieren der eigenen Machtposition stand dabei im Vordergrund, als das ästhetische Wirken einer kinästhetischen Potenzialität, die den ruhevollen Körperarrangements entsprang. Die kollektive körperliche Stillstellung von Bewegung vermochte als Dekonstruktion von Macht zu wirken. 2.1.1 Stasis und Latenz als Aneignungsstrategien öffentlicher Räume Chorische Interventionen, die durch kollektive körperliche Handlungen an der Schnittstelle von Bewegung, Verfestigung und Stillstand operieren, lassen Analogien zur Darstellungspraxis des „Tableau vivant“ zu, das in ähnlicher Weise Fragen nach „der Übergängigkeit und Interferenz von Leben und Kunst, Belebung und Unbelebtheit, Natur und Kultur pointiert.“99 Die deutsche Theaterwissenschaftlerin Bettina Brandl-Risi schreibt zur ästhetischen Wirkungsweise des „Tableau vivant“, es basiert „auf dem Strukturprinzip der schlagartigen Erhellung einer Situation, die in erster
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Zu juristischen Formen politisch motivierter Ruhigstellung siehe auch Byron M. Sheldrick, Blocking Public Participation: The Use of Strategic Litigation to Silence Political Expression, Waterloo 2014; Nancy Chang, The Silencing of Political Dissent: How PostSeptember 11 Anti-Terrorism Measures Threaten our Civil Liberties, New York 2002. Bettina Brandl-Risi, „Tableau vivant“, in: Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat (Hrsg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 350-352, S. 350.
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Linie mit Hilfe der Proxemik der Figuren, also einer räumlichen Konfiguration, veranschaulicht wird.“100 Führt man sich noch einmal den besonderen Körpereinsatz der Aktionen in Kairo vor Augen, wird offenkundig, wie das kollektive Arrangements der Körper in der Situation des Protests genau dem Zweck einer „schlagartigen Erhellung einer Situation“ diente.101 Um eine rasche Signalwirkung zu entfalten, kam es allerdings zur Umkehrung des historischen Darstellungsmodus des „Tableau vivant“, dessen Grundlage ja die Verlebendigung, also die Belebung von Gemälden war. Die Aktionen des „Stillen Widerstands“ bildeten quasi das Negativ eines „Tableau vivant“ ab. Ausgangspunkt war hier kein Bild, dessen Handlung durch Akteur*innen dargestellt und dadurch verlebendigt werden sollte. Im Gegenteil erzeugten die Protestierenden mit der Still-Stellung von Bewegung eine bildliche Szene aus erstarrten Körpern, die ihrer Lebendigkeit beraubt waren. Diese spezifische Form der Ruhigstellung erreichte eine gesteigerte Sichtbarkeit, indem die theatrale Szene des Protests in einem sonst sehr bewegten Moment des Alltagslebens stattfand. Dadurch kam es zur Fokussierung einer exponierten Kollektivkörperlichkeit, die „zwischen Verlebendigung durch Verkörperung und Mortifikation in der Stillstellung“102 zur Grundlage eines paradoxen Darstellungskonzepts wurde. Zum einen nutzten die Aktivist*innen chorische Verfahren, um sich den öffentlichen Raum körperlich anzueignen. Die ephemere Zurschaustellung eines wiedererkennbaren Protestkörpers produzierte standardisierte Kollektivformationen, die es ermöglichten, über wechselseitige Abhängigkeiten in diesen Öffentlichkeiten nachzudenken und die Verkörpertheit sozialer Handlungs- und Ausdrucksweisen in den Blick zu nehmen. Zum anderen korrespondierte die Ausstellung dieses regungslosen körperlichen Stillstands auf der zeitlichen Ebene mit der Inszenierung eines ausgedehnten Augenblicks, in dem Fragen der Transitorik und der „Spannung zwischen Augenblickhaftigkeit und Handlung“103 zugleich auf Prozesse politischer Transformation bezogen werden konnten. 2.1.2 Ästhetische Eigenzeit chorischen Protests Die Denkfigur des Stillstands konzipiert choreografierte Phänomene der Ruhig- oder Stillstellung nicht als Negation des Fortschreitens, sondern verweist in Prozessen der Unterbrechung auf eine Doppelbewegung, in der eine besondere Form der Latenz spürbar wird, die etwas Vorgängiges, noch nicht Verfügbares antizipiert.104 Auf diese 100 101 102 103 104
Ebd. Ebd. Ebd., S. 351. Ebd. Siehe dazu Torsten Meiffert, Die enteignete Erfahrung: Zu Walter Benjamins Konzept einer ,Dialektik im Stillstand‘, Bielefeld 1986; Paul Virilio, Rasender Stillstand, Frankfurt a.M. 2002; Günther Heeg, Stillstand und Bewegung: Intermediale Studien zu Theatralität von Text, Bild und Musik, München 2004. Im Übrigen widmet sich das Forschungsprojekt „Stillstand: Szenen der Stasis und Latenz“ im DFG-Schwerpunktprogramm 1688 „Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne“ der Erforschung des Verhältnisses von Stillstellung und Latenz in den visuellen und performativen Künsten des 20. und 21. Jahrhunderts.
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Weise deuten sich in Szenen stillgestellter Körper bereits folgenreiche Bewegungen an, die über die Sinnlichkeit ihrer aktuell erfahrbaren Widerstandsform hinausgehen. Die Aktionen des „Stillen Widerstands“ präsentierten Protest als einen ausgestellten, verlängerten, gedehnten Moment, in dem die Verbindung zwischen Autorität und Macht spürbar wurde und die Chance aufschien, diese neu zu überschreiben. Die Inszenierung dieser Art chorischen Stillstands widersetzt sich hegemonialen Zeiterfahrungen und normativen Zeitregimen, da sie die rhythmische Taktung des öffentlichen Raumes unterbricht. Die Etablierung einer eigenen Zeitlichkeit, die als ästhetische Eigenzeit des Protests beschrieben werden kann, führt dazu, dass chorische Protestaktionen in besonderer Weise für eine „Unterbrechung sozialer Zirkulationsströme“ 105 sorgen können. Chorische Strategien körperlicher Stillstellung lassen den Moment des Konflikts als einen Moment gesteigerter Gegenwart spürbar werden, der die Gestaltbarkeit des gesellschaftlichen Zustands offen thematisiert. Im Stillstand sammelt sich dann das Potenzial neuer, bewegungsreicher Veränderungen. Latent scheint also das Anhalten gerade neue Bewegungen zu antizipieren. 2.1.3 Stillstand als temporäre Gegenmacht Chorische Verfahren der kollektiven Stillstellung können dazu dienen, Protestierende mit einer Handlungsmacht auszustatten, die erst im kollektiven Vollzug der choreografierten Aktion erzeugt wird. Kai von Eikels hat darauf hingewiesen, wie insbesondere Verfahren der Synchronisierung dabei helfen, politische Macht zu etablieren. Er schreibt: „Politisch ist Macht, wo Handeln eines Einzelnen mit dem Handeln anderer sich so synchronisiert, dass daraus für eine gewisse Zeit eine ähnliche Ausrichtung entsteht, womit die Betreffenden gemeinsam handeln, ohne indes als Handelnde darum eine Einheit zu bilden.“106 Ein Anliegen chorischer Protestaktionen ist ihrer Handlungsneigung entsprechend, dieses Gemeinsamhandeln auszustellen, um Reaktionen von Gegner*innen oder Zuschauer*innen zu provozieren, herrschende Formen von Autorität sichtbar zu machen, ohne dabei selbst einen Effekt der Autorität erzeugen zu müssen. Die hier zuletzt untersuchten Aktionen sogenannter Protestchöre haben erfahrbar gemacht, wie Fragen der Autorisierung nicht länger an ein staatliches Gegenüber gebunden werden, das Einzelne oder Gruppen erst mit bestimmten Rechten versieht. Vielmehr versinnbildlichen chorische Protestaktionen, dass Protestierende meist gerade nicht (von anderen) zu sprechen autorisiert sind, sondern sich untereinander selbst ermächtigten, einander selbst Handlungsmacht zusprechen. Indem sich Aktivist*innen in dieser pluralen und verkörperten Form als Protestchöre organisieren, um Momente des Stillstands als politischen Unterschied zu inszenieren, werden sie als Akteur*innen politischen Wandels wahrnehmbar. Chorische Protestverfahren demonstrieren, dass die durch sie versammelt Handelnden nicht länger darauf ange-
105 Oliver Marchart, „Ästhetik des Stillstands als konfliktuelle Ästhetik“, Vortrag im Rahmen der Konferenz „Ästhetik des Stillstands“ des Forschungsprojekts „Stillstand: Szenen der Stasis und Latenz“ im DFG-Schwerpunktprogramm 1688 „Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne“ am 28.01.2016 in Düsseldorf. 106 van Eikels, „Wie bleibende Wirkung entfalten?“, S. 11.
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wiesen sind, von herrschenden Formen gesellschaftlicher Macht adressiert oder aufgerufen zu werden.107 2.1.4 Bedeutungssuggestionen: Körperstillstand als politisches Handeln Proteste, die chorische Verfahren des Stillstands nutzen, präsentieren etwas Außerordentliches, indem sie Körper auf eine Art und Weise im öffentlichen Raum sichtbar werden lassen, wie sie sonst nicht in Erscheinung treten. Spezifische Choreografien des Protests erzeugen etwa Arrangements aus Körpern, die durch die visuelle Verdichtung koordinierter Bewegungslosigkeit in ihrer Zeichenhaftigkeit unweigerlich Bedeutungen hervorrufen. Protestaktionen, die sich auf die soziale Choreografie stillgestellter Körper beziehen, regen Deutungen in mehrere Richtungen an, die allerdings nie vorgegeben, sondern betont bedeutungsoffen sind. Das stille Dastehen und der besondere Effekt chorischer Reihung kann von Beobachter*innen als Zeichen für einen Missstand gedeutet werden. So entwickeln Aktionen „Stillen Widerstands“ eine politische Relevanz auch deshalb, weil sie sich in einer spezifischen historischen Situation ereignen und nicht getrennt von ihr zu interpretieren sind. Gerade dort, wo Verkörperungsformen dadurch, dass sie sich chorisch ereignen, nicht leicht zugänglich sind, sondern Irritation hervorrufen, können sie alltägliche Routinen unterbrechen. Das politische Potenzial unvorhersehbarer Versammlungen chorischen Stillstands liegt dabei nicht vordringlich in verbalen Diskurshandlungen des Chores begründet. Statt machtvoller Sprachhandlungen rückt neben der spezifischen Art des Erscheinens kollektiver Bündnisse vielmehr eine Aktivierung der Zuschauenden in den Blick, denen die Aufgabe zukommt, die unkontrollierbare Weise sich spontan widersetzender Allianzen mit Bedeutung zu versehen. 2.2 Ästhetik kollektiven Schweigens „So höre doch! Wenn du Bestand haben willst; im Munde der Hörenden, so rede erst, wenn du eingedrungen bist in die Kunst. Wenn du sprichst entsprechend dem vollkommenen Vorbild, dann werden alle deine Angelegenheiten in Ordnung sein. Beherrsche dein Herz und Halt im Zaum deinen Mund, dann steigen deine Angelegenheiten in den Kreis der Notablen auf. […] Sei bedachtsam, solange du redest, damit du nur Vorzügliches sagst.“108
Protestierende nutzen immer wieder die Kraft kollektiven Schweigens, die gerade im Kontrast zur Pluralität von Stimmen steht, mit denen das Politische für gewöhnlich assoziiert wird. Wenn in Protestsituationen der Erfahrungsraum der Stimme wahrnehmbar fehlt, positioniert sich Schweigen in Opposition zu anderen akustischen Phänomen oder metaphorischen Bedeutungen wie der „Stimme des Volkes“. Dennoch offenbart auch das chorisch organisierte Ausbleiben der Rede einen politischen
107 Butler, Haß spricht, S. 245. 108 Ptahhotep 613-625.
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Zusammenhang, in dem der Moment des Schweigens vielfältige Interpretationsmöglichkeiten hervorruft.109 2.2.1 Das sinnliche Widerstandspotenzial chorischen Schweigens Die Stillstellung der Sprache und die Sinnlichkeit des Unsagbaren können auf einen besonders sensiblen Punkt verweisen, an dem verbal nicht mehr agiert werden kann und dennoch kommuniziert wird: einen möglichen Wendepunkt. Aleida Assmann hat betont, dass Schweigen mehr meint als nur Nicht-Reden: „Schweigen entsteht durch das Aussetzen von Sprache. Auf keinen Fall aber bedeutet es deshalb schon das automatische Aussetzen von Kommunikation in einer Interaktionssituation.“110 Schweigen macht darauf aufmerksam, dass etwas nicht gesagt wird oder nicht gesagt werden kann. Unweigerlich ist das Schweigen mit der Rede verbunden, dem Raum des Sagbaren oder Unsagbaren und damit mit der Sprache selbst. Im Anschluss hat der deutsche Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann auf die Differenz zwischen dem Kommunizierbaren und Artikulierbaren und damit auf Grundvoraussetzungen des Schweigens hingewiesen: „Jenseits des Artikulierbaren gibt es kein wovon und worüber, weil es dafür keine Worte gibt, weil der Mensch es nicht denken, nicht gedanklich und daher auch nicht sprachlich artikulieren kann. Die Grenze des Kommunizierbaren bestimmt sich durch soziale Konvention und Konstruktion, die Grenze des Artikulierbaren dagegen durch die menschliche Natur.“111
Besonders in Protestaktionen stillen Widerstands werden diese beiden Grenzen des Sagbaren aufgerufen, die sozial konstruiert oder gesetzlich geregelt durchaus mit Schweigegeboten oder existierenden Diskursbeschränkungen korrespondieren können oder durch die „menschliche Natur“ determiniert werden. Um zu klären, warum gerade chorisches Schweigen besondere Irritationen hervorruft, kann ein Blick in die Musik- und Theatergeschichte helfen, die angedeutete Diskrepanz zwischen sichtbaren Körpern im Stadtraum und der zeitlichen Ausdehnung ihrer erzeugten Stille zu kontextualisieren. Im 20. Jahrhundert wurde die Abwesenheit von Klang und Sprache in den Künsten zu einem theatralen Parameter, das bis in die gegenwärtige Spielpraxis hineinwirkt. Stille und Schweigen werden dort als ein „vom sprechenden (oder schweigenden) Subjekt emanzipiertes raumzeitliches Phänomen“ konzipiert, das „über die rhetorische Funktion der Pause hinaus eine eigene substanzielle Qualität gewinnt.“112 Indem Stille und Schweigen Zeit anders
109 Zur Metaphorik stimmlicher Phänomene siehe Sabine Till, Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz. Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze, Bielefeld 2014. 110 Assmann, „Formen des Schweigens“, S. 51. 111 Jan Assmann, „Einführung“, S. 10. 112 Regine Elzenheimer, „Schweigende Gesänge. Zur Ästhetik der Stille als Sprach- und Lautlosigkeit im zeitgenössischen Musik-Theater“, in: Assmann, Aleida/Assmann, Jan (Hrsg.), Schweigen. Archäologie der literarischen Kommunikation XI, München 2013, S. 283-302, S. 285.
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strukturieren und Erfahrungen der Dauer spürbar thematisieren, ermöglichen sie neue Wahrnehmungsweisen ästhetischer Ereignisse.113 Bedenkt man die ästhetische Emanzipation der Pause und des Schweigens, auf die die deutsche Musik- und Konzertdramaturgin Regine Elzenheimer im zeitgenössischen Musik-Theater hingewiesen hat,114 wird deutlich, dass sich „über die Abwesenheit bewusster Sprachinhalte (verbaler oder klanglicher Art) ein Anderes, Unvertrautes verlautbart […].“115 Die Produktion einer unbekannten und daher oft irritierenden Fremdheit fügt sich in die spezifischen Darstellungsmittel des Protests und seiner Ästhetik des Widerstands ein, die immer auch die Frage aufrufen, wie ausgestellte Sprachlosigkeit und körperliche Bewegungslosigkeit als theatrale Formen des Schweigens oder der Stillstellung des Körpers zugleich spürbar das Verhältnis von Sehen und Hören und die Konstitution von Zeit und Raum thematisieren. Die sich entziehende Präsenz des Schweigens und Momente berührender Stille dürfen in Aktionen stillen Widerstands daher keineswegs als bloße Negation von Klang und Sprache angesehen werden. In ihrer Klang- und Sprachlosigkeit bildet sich mehr ab als die Stille oder das Schweigen selbst, nämlich die Vielfalt außersprachlicher Zeichen, die als theatrale Phänomene in Form des Chorischen umso deutlicher hervortreten.116 Gemeinsam zu schweigen und in einer Gruppe mit mehreren Menschen still zu verharren, stimuliert unweigerlich intensivere Wirkungen, als das gleiche Vorgehen einer einzelnen Person. Erst im Arrangement der Vielen entsteht ein chorisches Schweigen, das wie das Schweigen Gottes nicht als Abwesenheit, sondern vom Publikum der Protestaktion als ausdrückliche Präsenz erfahren wird. Wie die körperliche Bewegungslosigkeit der Aktivist*innen fungiert das chorische Schweigen dann als Motor für eine „dialektische Operation des Umschlagens von Abwesenheit in Präsenz, Negation in Offenbarung, Schweigen in Mitteilung.“117 2.2.2 Die Doppelhelix reaktiven Schweigens Um die theatrale Darstellung kollektiven Schweigens als Reaktion auf spezifische Ereignisse – etwa jene anwachsende Krise der jüngeren ägyptischen Geschichte – zu charakterisieren, soll kurz auf die Unterscheidung zwischen „strategischem“ und „strukturellem“ Schweigen hingewiesen werden, die Jan Assmann als Mitherausgeber des Sammelbandes Schweigen. Archäologie der literarischen Kommunikation XI in seiner Einleitung erläutert. Während sich strukturelles Schweigen auf Dinge bezieht, die „aus der Natur der Sache heraus nicht zur Sprache kommen können (weil es dafür keine Sprache, keine diskursiven Traditionen oder kein Interesse gibt)“, be-
113 Vgl. ebd. 114 Siehe dazu auch Christopher Shultis, Silencing the Sounded Self: John Cage and the American Experimental Tradition, Hanover [New Hampshire] 2013. 115 Elzenheimer, „Schweigende Gesänge“, S. 283. 116 Das Chorische bildet sinnlich nachvollziehbare Verbindungen von Körperlichkeit und Sprache, Lautlichkeit und Räumlichkeit ab, die in Protestsituationen als durchaus verschiedene Ebenen einer Materialität des Widerstands zusammenwirken, sich ergänzen oder ausspielen. Vgl. Kap. I. 117 Assmann, „Einführung“, S. 16.
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trifft strategisches Schweigen dagegen Dinge, die „zur Sprache zu bringen schädlich wäre: für den Redenden, den Hörer oder die Sache selbst.“118 Die von Assmann vorgenommene Differenzierung ermöglicht es, in chorischen Protestaktionen zwei unterschiedliche Funktionen des Schweigens zu differenzieren. Erstens kann angenommen werden, dass Protestaktionen bewusst einen Zustand ausstellen, in dem für den Protestchor keine andere Handlungsoption als die des Schweigens verfügbar ist; die Protestierenden nicht anders handeln können, als zu schweigen. Dieses „strukturelle Schweigen“ kann die unmittelbare Folge einer politischen Situation sein. Dort, wo als Reaktion auf Korruption und Folter, Unrecht und Willkür, Schmerz und Trauma kein sprachliches Repertoire zur Verfügung steht, scheinen chorische Widerstandshandlungen, die kollektives Schweigen performativ umsetzen, dem Eingeständnis einer defizitären Sprache gleichzukommen. Ganz so deutete es sich im hier untersuchten Beispiel „Stillen Widerstands“ an, wo die ungeklärten Ereignisse um den Tod von Khaled Said eine Situation hatten entstehen lassen, in die sich Schuld und Scham mischten und Worte als störend und indiskret empfunden wurden. Zweitens ist deutlich geworden, dass chorisches Schweigen als strategisches Schweigen zudem zu Distanzierungen beiträgt, welche die Aktivist*innen trotz ihrer öffentlichen Positionierung schützten. Durch das Schweigen dominiert das Bild einer anonymen Menge, deren Anzahl und gemeinsames Vorgehen die Position der einzelnen Glieder stärkte. Dass Aktivist*innen schweigen, weil sie etwas nicht zur Sprache bringen können, muss nicht bedeuten, dass sie nichts zu sagen haben. Im Gegenteil können in der von Menschen produzierten Stille all die virulenten Themen aufgerufen werden, die die Gesellschaft beschäftigen, die sie aber nicht offen diskutieren kann.119 Wie deutlich wurde, dient kollektives Schweigen geradezu der Offenlegung von Tabus. Als chorisch hervorgebrachte Sprachlosigkeit kommt dem Schweigen daher die Funktion zu, einen Zustand der Sprachlosigkeit abzubilden und auszustellen. Über die exponierte Darstellung eines gesellschaftlichen Sachverhaltes hinaus geht es dann darum, tatsächliche Redeverbote ebenso wie Themen zu verhandeln, über die niemand gern spricht, oder existierende Verhältnisse anzuprangern, die sich einer Versprachlichung entziehen. Bei genauerem Blick scheint es schließlich schwierig, in Aktionen stillen Widerstands die Differenzierung aus „strukturellem“ und „strategischem“ Schweigen aufrechtzuerhalten. Aktionen wie die des „Stillen Widerstands“ lassen vielmehr den Eindruck entstehen, als würden im situativen Kontext des Protests beide Ebenen kollabieren. Es ist dann nicht mehr eindeutig festzustellen, ob Dinge bewusst verschwiegen werden, um sich selbst vor Strafverfolgungen zu schützen oder ob es für das, was gesagt hätte werden müssen, (noch) keine richtigen Worte gibt. Mehr als nach den wahren Intentionen der Protestierenden zu fragen, ist für diese Arbeit von Bedeutung, dass Protestaktionen maßgeblich erst durch die Wahrnehmung der Zuschauenden entstehen. Neben sinnlichen Erfahrungen dient eine Vielzahl mimetischer, gestischer, linguistischer und paralinguistischer Zeichen dazu, die Erfahrungsund Bedeutungsebenen zu potenzieren.
118 Ebd., S. 12. 119 Vgl. Cheryl Glenn, Unspoken: A Rhetoric of Silence, Carbondale 2004.
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Mit Blick auf die interaktive Relationalität von Akteur*innen und Zuschauer*innen sowie Aushandlungsprozesse zwischen Sinnlichkeit und Bedeutung entstehen Räume assoziativer Vielfalt. Chorisches Schweigen von Protestierenden kann in Folge auch als „ein Symptom im Schatten eines Traumas“120 interpretiert werden. Vor dem Hintergrund des jeweiligen zeitgeschichtlichen und politischen Kontexts kann dieses Schweigen dann tiefer gehen und auf die kollektive, seelische Leiderfahrung einer Gesellschaft verweisen oder auf ein Unrecht hindeuten, das den Bereich des Kommunizierbaren bereits verlassen hat und in den Bereich des Nicht-Artikulierbaren vorgedrungen ist. 2.3 Stillstand und Schweigen im raum-zeitlichen Kontext Während Demonstrierende durch ihr Schweigen anklagen, tritt durch die kontemplative Ruhe der Stehenden die Präsenz des Kollektivkörpers umso deutlicher hervor. Dieser Kontrapunkt kann sich im Verhältnis zu dem die Protestaktion umgebenden Stadtraum vergrößern. Bei den Aktionen des „Stillen Widerstands“ stellten die akustische Stille und die visuelle Bewegungslosigkeit des Protestchors für Beobachter*innen der Aktion einen deutlichen Kontrast zum vertrauten Lärm des städtischen Alltagslebens her. Adel Iskandar hat in seinem Artikel „Reclaiming Silence in Egypt“ auf diese geräuschvolle Qualität des ägyptischen Lebens hingewiesen, die es mitzubeachten gilt, um die kontrastierenden Wirkungen der Aktion zur vorherrschenden Lautstärke der Umgebung besser verstehen zu können: „Egypt has never been known for its quietness. The throngs of tourists that visit its capital every year observe the bustling commotion of the metropolis, the loudness of the streets, and the high decibel level of spoken Egyptian. Sporting celebrations and traditional weddings often erupt in ear-piercing festivities. […] What is normal in Egypt likely qualifies as noise pollution in other parts of the world. And the threshold for noise in Egypt would warrant the issuance of violation notices in many countries. This extends to human interaction. Egyptians are loud, expressive, boisterous conversationalists. Silence rarely plays a role in their daily affairs.“121
An Standorten, an denen Stille als fremdartige Größe gilt, tritt das Schweigen Protestierender umso deutlicher hervor. Je ruhevoller und unbewegter Protestchöre in Situationen konstruierter Lautlosigkeit verharren, desto stärker tritt die Präsenz dynamischer Bewegungen und lauter Gespräche von Passant*innen hervor. Für Beobachter*innen, die sich diesen Aktionen nähern, exponiert sich die eigene Bewegtheit in Differenz zur Gruppenaktion, wodurch Zuschauende in ihrem eigenen Handeln ein mögliches Aktionspotenzial entdecken können. Warum sollte das eigene körperliche Vermögen nicht nutzbar gemacht werden, um die bestehenden Verhältnisse zu verändern? Von besonderem Interesse bleibt die Bedeutung des Schweigens im ägyptischen Kontext. Anders als in der abendländischen Tradition, wo sich die Rhetorik auf die Auseinandersetzung im Gespräch, den Diskurs und die öffentliche Rede als Interaktion fokussiert, stellte die Kultur Altägyptens das Schweigen über das Reden. Jan 120 Assmann, „Einführung“, S. 19. 121 Adel Iskandar, „Reclaiming Silence in Egypt“, in: Egypt Independent vom 22.07.2010.
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Assmann hat anhand altägyptischer Texte – etwa der eingangs zitierten Lehre des Ptahhotep – nachgewiesen, wie Schweigen im Alten Ägypten „von dem Abscheu nicht nur vor dem Lauten, sondern auch und vor allem vor dem Ephemeren, schnell Vergänglichen, Unbedeutenden“122 bestimmt wurde. Assmann präsentiert als Grundprinzip der sozialen Konstruktion des Schweigens eine Trias aus Zurückhaltung, Selbstkontrolle und Diskretion, die zu wahren bedeutete, sein Herz zu beherrschen und den Mund in Zaum zu halten. Assmann schreibt: „Gegenstand der sozialen Konstruktion des Schweigens sind in Ägypten nicht die Verbrechen der Mächtigen, das Unrecht der Sieger, die Leiden der Opfer, sondern ganz etwas anderes: die inneren Stimmen, die Begierden und Impulse des Herzens, die natürlichen Triebe der Selbstbehauptung, Selbstdurchsetzung, der Wille zur Macht, […].“123
Wendet man diese Gedanken zur sozialen Konstruktion des Schweigens in Ägypten auf die Protestaktionen des „Stillen Widerstands“ an, entwickelt das Schweigen eine besondere Relevanz nicht als reagierendes Verhalten gegen andere – das Unrecht der Mächtigen oder die Verbrechen der Politik. Vielmehr gewinnt der gemeinsame Schweigechor eine regulative Kraft, die bei den eigenen Leidenschaften seiner Mitglieder ansetzt. Wo es gelingt, die eigenen Impulse zum Schweigen zu bringen und mit wachem Blick in ein Verhältnis zu anderen zu treten, scheint plötzlich eine Verantwortung für andere auf. Die Charakterisierung dieses Schweigens betrifft dann nicht nur ein Sprachverhalten, sondern ein Gesamtverhalten, in dessen Selbstzurücknahme sich eine Nähe zu Mitmenschen abbildet. Erst wer das innere Stimmengewirr zum Schweigen gebracht hat, kann Formen der vertikalen Solidarität leben. Ein abgestimmtes, organisierendes, regulierendes, ausbalancierendes Schweigen korrespondiert an diesem Punkt mit dem Chorischen als einer Kraft, die das Überindividuelle im Blick behält. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass sich aktivistische Choreografien letztlich nicht losgelöst von den sie umgebenden kulturellen, sozialen und politischen Räumen ereignen und daher immer in einem sehr direkten Verhältnis zu deren Parametern analysiert werden sollten. So ließen sich die Aktionen „Stillen Widerstands“ in Ägypten beispielsweise als eine unmittelbare Antwort auf die gesetzlichen Regeln zum Versammlungsrecht interpretieren, die der geschickte Körpereinsatz nicht offen angriff, sondern still zu umgehen versuchte. Indem sich der zerstreute Kollektivkörper des Protestchors dort als neu angeordnete Form einer gestreckten Versammlung präsentierte, setzte er sich im öffentlichen Raum zwar latent und provozierend den Sicherheitskräften aus. Im Falle eines staatlichen Einschreitens hätten polizeiliche Attacken auf die erstarrten Körper die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit allerdings umso stärker auf das alltägliche Fehlverhalten der Polizei lenken können und womöglich einen Zusammenhang zur langen Geschichte der Folter, ihrer gängigen Praxis und Legitimation durch die Regierungen Ägyptens hergestellt.
122 Jan Assmann, „Die soziale Konstruktion des Schweigens am Beispiel altägyptischer Texte“, in: Ders./ Assmann, Aleida (Hrsg.), Schweigen, S. 69-86, S. 74. 123 Ebd., S. 75.
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Die Aktionen visualisierten etwas Unaussprechliches und formulierten zugleich eine Warnung: Was musste getan werden, um jenseits des Misstrauens zu sozialer Zusammengehörigkeit zurückzufinden? Durch Stillstellung äußerer Handlungen kam es zur Betonung innerer Prozesse, die sich der Versprachlichung entzogen. Damit „sprach“ die Aktion durch ihr Schweigen und deutete auf außersprachliche Ausdrucksformen, die als Gegenprogramm zur aktuellen politischen Situation erschienen. Der „Stille Widerstand“ fügte den „gewöhnlichen“ Protesten, die zum Teil gewalttätig, übergriffig und unsteuerbar verliefen und sich so schnell angreifbar machten, eine Äußerung von Kritik hinzu, die ohne Gewalt und die Reproduktion des brutalen Erbes auskam. Bewegungslosigkeit und Stillstand, sprachliche Stille und Schweigen erzeugten eine neue Sprache des Protests, die nötig war, um sich jener Sprache zu entledigen, die Teil des Herrschaftssystems und der damit verbundenen Hierarchisierungen war.124 In einem Zustand unaussprechlichen Unrechts eröffnet chorisches Schweigen einen gemeinsamen Kommunikationsraum, der auch für die Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte erschlossen werden kann. So klagen solche Aktionen nicht nur die fehlende Offenheit der jeweiligen Gesellschaft an, sondern appellieren zugleich an die Zuschauenden, die entstandene Stille auszufüllen. Chorische Bewegungslosigkeit und chorisches Schweigen erzeugen widerständige Formen des Stillstands, die sich durch die sprachliche Stille weiter intensivieren. Im Verhältnis zum entsprechenden Aufführungsort kann sich der interventionistische Charakter der Protestaktion – sein „Plötzlichkeitsmotiv“ – als unerwartete Handlung vergrößern.125 Die aus dem Überraschungsmoment resultierenden Semantiken und Faszinationseffekte entfalten weitere, zum Teil unvorhersehbare Wirkungen und Reaktionen. Kritik an solchen Protestaktionen könnte dort ansetzen, wo sich das zunächst Ereignishafte nach mehrmaliger Wiederholung in Statik verfestigt und der Protest damit kaum mehr auf aktuelle Entwicklungen reagiert. Die wiederholten Aktionen „Stillen Widerstands“ demonstrieren, wie sich Protestformate verfestigen und als institutionalisierte Kundgebungen bereits Gesehenes wenig innovativ reproduzieren. Da das Herauslösen von Protesthandlungen aus historischen Zeitverläufen grundsätzlich nicht funktioniert, ohne auf den Fortgang der Zeit zu verweisen, erscheinen Proteste stillen Widerstands jedoch als intermediale Zitate wiederum von besonderem Interesse. Als „Zwischen-Raum“ dekonstruieren sie ihre eigenen Darstellungsbedingungen und können damit wiederum auf die unmittelbaren politischen Zustände deuten, in denen sie sich ereignen.126 Gerade das Still-da-Stehen widersetzt sich den eigenen Aufführungsbedingungen. Wird der chorische Protest, der hier kein Flüchtigkeitsphänomen mehr sein will, dann durch mediale Reproduktion weitergetragen, verbreitet und über das Momenthafte hinaus verlängert, ergeben sich neue Dynami-
124 Entgegen dem kulturellen Erbe Ägyptens privilegiert eine Politik zurückhaltenden Schweigens nicht die Macht des Stärkeren. 125 Siehe dazu auch Gunnar Schmidt, Visualisierungen des Ereignisses: Medienästhetische Betrachtungen zu Bewegung und Stillstand, Bielefeld 2008. 126 Zur Verbindung von „Tableaux vivants“ als Zwischen-Raum und Übergangsphänomen siehe auch Bettina Brandl-Risi, Die Szene der Narration. ,Tableaux vivants‘ zwischen Bildender Kunst, Theater und Literatur im 19. Jahrhundert, Freiburg 2013.
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ken, die es weiter zu erforschen gilt und die sich grundsätzlich an die Ikonografie kopräsenter Inszenierungen mit Sensationswert zurückbinden lassen. Nicht zuletzt durch die Produktion visuell außergewöhnlicher Situationen führen choreografierte Aktionen stillen Widerstands zu einer Intensivierung der Gegenwart. Darin werden Stillstand und Schweigen nicht mehr als Negation aufgefasst, sondern dienen dazu, zukünftige Bewegungen zu antizipieren. Das Stillstellen von Bewegungen, intensives Innehalten und unterbrechendes Schweigen erscheinen dann als politische Suche nach einer gesteigerten Gegenwärtigkeit sozialer Bezüge. Die ästhetische Praxis des Chorischen kann gesellschaftliche Abläufe stören, wenn sie Unterbrechungen des Sozialen hervorruft und in der politischen Sphäre des öffentlichen Raumes selbst als Irritation auftritt. Durch Verwendung einer anderen Sprache, die weniger eindeutige Formulierungen als sinnlich-subversive Eindrücke nutzt, vermögen chorische Interventionen Verwirrungen zu provozieren, die nicht sofort als Protest erkenntlich sind. Als theatrale Praxis erscheint das Chorische dort, wo es wie im Theater „Situationen herstellt, in denen die trügerische Unschuld des Zuschauens gestört, gebrochen, fraglich gemacht wird.“127 Chorischer Protest verfolgt daher eine Ästhetik des Theatralen, die eine Mitverantwortung bloßen Zuschauens unterstellt.128 Dabei kann die Aktivierung der Zuschauer*innen durch einen sinnlichen Appell an die Handlungsfähigkeit qua Anwesenheit ausgelöst werden. Mit der Intervention in staatlich kontrollierte Öffentlichkeiten betreten Protestchöre Räume, auf deren Bühnen ihr Erscheinen ungewohnt, untersagt oder sogar sanktioniert ist. Temporäre Autorität erlangen sie gegenüber repressiven Regimen, umso mehr sie vermeiden, eine gleichwertig hegemoniale Position zu etablieren, sondern indem sie demonstrativ antiautoritär agieren. Unter Berücksichtigung der staatlichen Einschränkungen, die den politischen Handlungsraum der Aktionen des „Stillen Widerstands“ in Ägypten beschränkten, können Protestchöre als subversive Territorialisierungen erscheinen.129 Beispiele stillen Widerstands zeigen, wie in kollektiven Szenen des Stillstands und Schweigens etwas schmerzhaft hör- und sichtbar wird, das gefühlt werden kann, sich unmittelbarem Verstehen allerdings entzieht. Als Manifestation des Nicht-Artikulierten entwickeln choreografierte Szenen der Bewegungslosigkeit und des Schweigens daher eine ästhetische und zugleich politische Relevanz. Die ägyptischen Protestaktionen des „Stillen Widerstands“ konnten zeigen, wie chorische Protesthandlungen in den öffentlichen Raum intervenieren, indem sie durch die Betonung sinnlicher Wahrnehmungsvollzüge gewohnte Routinen des Alltäglichen unterbrechen. Die besondere Qualität chorischen Stillstands scheint demnach darin zu liegen, dass die Aktionen gerade nicht als energetisch oder mitreißend 127 Lehmann, „Wie politisch ist politisches Theater?“, S. 25. 128 Zum Auftrag und den Wirkungsmechanismen politischen Theaters schreibt Hans-Thies Lehmann: „Es geht um die (politische) Arbeit nicht an einer besonderen theatralen Ästhetik, sondern an einer Ästhetik des Theatralen, die die strukturellen Implikationen des Zuschauers, seine latent gesetzte Mitverantwortung für den Theatermoment ans Licht bringt.“ Ebd. 129 Zum Begriff ,Territorialisierung‘ als Konflikt zwischen „Zentralgewalt“ und den „zentrifugalen Kräften“ siehe auch Elias, Prozeß der Zivilisation, S. 188-213.
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erfahren werden müssen und das, was als Zäsur bezeichnet werden kann, letztlich die ästhetische Eigenzeit des Protests ist, die besonders hervortritt. Kalkulierte Störungen provozieren diese Aktionen ferner, indem sie sich als kunstvolle Strategien politischen Handelns aufführen, die sich Formen der Darstellung verweigern, aber eine bedeutungsoffene Präsenz beibehalten, die sich der Repräsentation von etwas widersetzt. Aus den Szenen der Stasis des Protestchors können schließlich ästhetische Eigenzeiten der Protestereignisse resultieren, die die Normativität von Zeitregimen reflektieren oder helfen, diese aufzubrechen. Im Zuge einer Ästhetik des Widerstands entwickeln Protestformen des Stillstands gerade dort eine besondere Potenzialität, wo sie in diesem Sinne nicht nur als Anhalten, sondern als Antizipation, als Latenz gedeutet werden. Stiller Widerstand steht dann für unsichtbare Bewegungen, die angedacht, aber noch nicht in Erscheinung getreten sind. Abschließend wird es also um die Frage gehen, wie Protestchöre eine intensivere Gegenwart erfahrbar machen, in der Selbstverständlichkeiten mit der Schaffung neuer Wahrnehmungsbedingungen ihren Einfluss verlieren oder sich durch die besondere Aufführung oder Erprobung neuer Organisationsformen des Kollektiven auflösen, um neuen Mustern Kontur zu geben. Inwiefern können Protestchöre selbst Räume erschaffen, die abseits der Kommunikation von Protest als Experimentierfeld sozialen Miteinanders fungieren?
3. INNOVATION „Es geht anders gesagt nicht nur darum, ,Herzen und Köpfe zu gewinnen‘, sondern auch darum, neue Herzen und neue Köpfe zu schaffen, indem man neue Wege der Kommunikation, neue Formen der sozialen Kooperation und neue Arten der Interaktion entwickelt.“130
Die Protestereignisse der Occupy-Bewegung mobilisierten Sympathisant*innen und Anhänger*innen, weil neben theatralen Strategien des Protestierens, Versammelns und Verharrens vor allem die Kreativität der räumlichen Besetzungsaktionen die Aufmerksamkeit einer breiten medialen Öffentlichkeit entfachte.131 Auf vielfältige Weise versuchten Protestierende vorgefundene Örtlichkeiten einzunehmen, einzubeziehen und zu transformieren. Anfänglich diente vor allem die körperliche Anwesenheit dazu, den öffentlichen Raum als den ihren zu behaupten. Anschließend wurden eigene chorische Abstimmungs- und Kommunikationsmethoden genutzt, um den urbanen Raum der Stadt als unabhängigen öffentlichen Raum zu re-etablieren. Insbesondere die Organisation der Okkupation demonstrierte, wie die Errichtung von Zeltlagern, Kantinen und zivilen Diensten alternative Orte schuf.
130 Hardt/Negri, Multitude, S. 99. 131 Vgl. Aleksandar Prvulović, „Learning From Young People: Youth-led Social Movements as a Model for Modern Civic Youth Activism within Traditional NGO’s“, in: Preiss/ Brunner (Hrsg.), Democracy in Crisis, S. 185-205, S. 200.
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Neben der symbolischen Besetzung der Wall Street, an die sich die Aneignung, Beschlagnahmung und Blockade urbaner Strukturen koppelte, gerieten die tatsächlichen Praktiken der Besetzung ins Blickfeld. Die räumlichen Dimensionen gemeinsamen Demonstrierens wurden dann deutlich ausgestellt und spürbar, wenn sich die Protestierenden vor Ort mit Handzeichen verständigten oder sich in Besprechungen chorischer Verständigungsmethoden wie dem „Human Mic“ bedienten. Die Anwendung dieser Kommunikations- und Abstimmungsverfahren fügte der vorgefundenen Örtlichkeit etwas Neues hinzu: Durch das Errichten einer eigenen, nonkonformistischen und doch funktionierenden kleinen Stadt in der großen, arbeiteten die Aktivist*innen beständig an einer Diversifizierung räumlicher Bezüge. Anfänglich wurde gefragt, wie Protestchöre zunächst die medialen Bedingungen vorgefundener Öffentlichkeiten nutzen, um sich geltenden Normen zu widersetzen. Während das Widerstandspotenzial von Protest als Intervention und Zäsur durch Logiken der Verfremdung und Distanzierung immer noch von den bestehenden Strukturen abhängt, fragt sich nun, ob der politische Mehrwert chorischer Proteste letztlich darin entdeckt werden kann, neue Sinn- und Ordnungsstrukturen nicht mehr in Abhängigkeit zum bereits Existierenden zu denken. Dazu wird abschließend zu klären sein, wie chorischer Protest erstens als performativer Raum eigene Organisationsmodelle realisiert. Kann sich eine kritische Haltung gegenüber bereits bestehenden Strukturen dadurch intensivieren, dass die eigene Praxis diese reflektiert und erweitert? Zweitens soll ergründet werden, inwieweit sich Widerstand als ein verräumlichter Prozess kollektiven Denkens letztlich viel entschiedener durch die kreative Erweiterung lebenspraktischer Vollzüge verwirklicht. Entäußern sich friedliche, egalitäre und postidentitäre Proteste weniger durch die Rebellion gegen eine falsche Politik oder die moralische Verurteilung misslicher Zustände als vielmehr dadurch, dass sie vorhandenen Praktiken sozialen Miteinanders etwas hinzufügen? Drittens fragt sich, inwiefern chorische Kommunikationsformen wie das „Human Mic“ das Politische als räumliche Verkörperungen von Versammlungen erfahrbar machen, indem Verhältnisse von Sprechenden und Zuhörenden kontinuierlich neu festgelegt werden. Wie kann sich Widerstand schließlich selbst als eine transformative Ästhetik der diskursiven Auseinandersetzung aufführen? 3.1 Protestchöre als performative Räume: Zur Realisierung eigener Organisationsmodelle „Es geht darum, die Kommunen, die Zirkulationsflüsse und die Solidaritäten lokal derart zu verdichten, dass das Territorium unlesbar und für jede Autorität undurchsichtig wird. Es ist nicht die Rede davon, das Territorium zu besetzen, sondern es zu sein.“132
Durch die Analyse der chorischen Protestbeispiele wurde deutlich, in welcher Weise sich Protestierende durch chorische Verfahren nicht nur zum sie umgebenden urba-
132 Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, S. 87.
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nen Raum – dem Stuttgarter Marktplatz, der Niluferstraße in Kairo oder im Zuccotti Park –, sondern immer auch untereinander in Beziehung setzen. Der Wert chorischer Verfahren liegt folglich darin, Protest nicht nur zu produzieren oder nach außen hin darzustellen, sondern die Teilnehmenden mit neuwertigen Partizipationserfahrungen zu bereichern. Die Wirkungen, die in New York von neuen Kooperationsmodellen ausgingen, hatten ebenso wie die konkreten Organisationsverfahren der Besetzung einen zusätzlichen Anteil am speziellen „Spirit“ der Occupy-Bewegung und daran, dass „eine Bewegung mit einer besonderen Ausstrahlung“133 entstehen konnte. Eine mögliche Schlussfolgerung ist, dass eigene Organisationsmodelle chorischer Kommunikation eine subversive Praxis dadurch installieren, dass sie wie das „Human Mic“ unökonomisch sind und Zeit kosten. Auch Protestaktionen, die im Vorfeld von Marketing-Experten geplant sind, können sich in ihrem Vollzug geltenden Funktionsweisen inszenierten Auffallens und ökonomisierten Aufmerksamkeitsregimen widersetzen.134 Symbolische Okkupationen realisieren mehr als die bloße Markierung von Protest. Für Demonstrierende schaffen Besetzungen Orte, an denen sich Menschen in Form körperlicher Präsenz versammeln und austauschen. An die Wahl des Platzes kann sich in Folge einer körperlichen Anwesenheit von Aktivist*innen die Neubewertung kultureller Topografien anschließen. Indem Besetzungen in innerstädtischen Parks stattfinden, stören Protestierende nicht nur bestehende Funktionen dieser Orte, etwa als Freifläche zur Naherholung im städtischen Umfeld, sondern tauchen das vorhandene Klima durch ihr penetrantes Da-Bleiben in völlig veränderte Atmosphären. Durch die andauernde Vereinnahmung des Zuccotti Parks wurde dergestalt eine deutlich wahrnehmbare Transformation der urbanen Alltagswelt ausgelöst: Indem die Protestierenden die Funktion des Parks zu einem beständigen Ort für alle Bedürftigen und Engagierten umwidmeten, wurde dem geografischen Raum der Stadt an dieser Stelle sein transitorischer Charakter genommen. Dort, wo sonst Bänker*innen in kurzen Pausen einen Hauch von Zerstreuung suchen, sorgte ein Zeltlager des Protests dafür, dass die Disposition des öffentlichen Raumes neu verhandelt wurde. Im alltäglichen Miteinander – offenen Debatten, langen Gesprächen, zähen, internen Verhandlungen – relativierte die Aufgabe, gemeinsam Proteststrategien zu entwickeln und das Zusammenleben zu gestalten, allerdings auch Sehnsüchte einer allein auf der gemeinschaftsfördernden Räumlichkeit basierenden „besseren Welt“. Wie gezeigt wurde, reicht ein abstraktes Modell des physischen Raumes nicht aus, um diese neuartigen Qualitäten prozessorientierter Räumlichkeit zu beschreiben, die sich innerhalb geografischer Koordinaten ereignen. Gerade die sich unter den Protestteilnehmer*innen entwickelnde Emotionalität verweist auf die Erzeugung eines performativen Raumes, in dem Räumlichkeit durch Bewegungen und Wahrnehmungen von Akteur*innen und Zuschauer*innen entsteht.135 Protestchöre materialisieren sich als situative Kommunikationsforen daher nicht allein durch inhaltliche Forderungen oder als deutlich sichtbare, renitente, physische Gegen-Lager. Das Widerstandspotenzial des Chorischen, das unter anderem durch die Transformation des 133 Kraushaar, Der Aufruhr der Ausgebildeten, S. 11. 134 Vgl. Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, S. 12. 135 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 199. Zur Konzeption des performativen Raumes siehe ebd., S. 188-200.
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vorgefundenen Ortes erfahrbar wird, realisiert sich vielmehr durch die Etablierung eigener Verhaltensweisen. Indem chorische Verfahren innerhalb des Territoriums der Besetzung Kontaktzonen etablieren, werden in ihrem eigenen Wirkungskreis zugleich Orte geschaffen, die Begegnungen ermöglichen. Das Verharren an ikonografischen Begegnungsstätten kann dagegen umso leichter als Widerstand gegen eine neoliberale Politik der kontrollierten Urbanität in Folge der Privatisierung öffentlicher Flächen verstanden werden.136 Chorische Aktionen unter freiem Himmel, die als öffentliche Handlungen für ein allgemeines Publikum zugänglich stattfinden, sind als programmatisches GegenModell zugleich an das Versprechen geknüpft, den öffentlichen Raum zurückzuerobern. Die Tatsache, dass chorisch Protestierende an spezifischen Orten verweilen, ihre Anwesenheit dort zeitlich ausdehnen, Gespräche fortführen und privates Leben in diese Öffentlichkeit verlagern, lässt ein Experimentierfeld entstehen, das ihr individuelles Schicksal in einer kollektiven Aussprache zu einem Politikum macht. Neben die Kritik falscher Politik tritt dabei das konstruktive Erproben möglicher Alternativen sozialen Miteinanders. Besetzungen sind damit nicht länger nur Aktionsformen von Protest, die auf einen Missstand aufmerksam machen. Vielmehr wird die plurale Existenz versammelter Körper selbst zu einer Widerstandshandlung, in deren Art des Erscheinens sich etwas Neues formulieren kann oder in deren Tun sich neue Bezüge und Verhältnisse bereits abzeichnen. Am Beispiel der konkreten Organisation der Camps von Occupy und der spezifischen Ästhetik der Besetzung ist deutlich geworden, wie die Ko-Präsenz der anwesenden Aktivist*innen und ihre chorischen Handlungen zur Grundlage eines performativen Protestraums wurden, der die vorgefundene Räumlichkeit durch einnehmende Präsenzeffekte auch atmosphärisch besetzt hielt. Diese spürbaren Formen des Einnehmens und Eingenommen-Seins zielen nicht auf räumliche Expansion, sondern betreffen auf einer qualitativen, zwischenmenschlichen Ebene die gleichzeitige Wahrnehmung von und mit anderen. 3.2 Das Chorische als verräumlichter Prozess kollektiven Denkens Das Chorische des Protests realisierte sich als ein überwiegend durch basisdemokratische Verfahren geschützter, herrschaftsfreier Diskursraum, in dem „Autorität vor allem durch die Gültigkeit, Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft von Argumenten erlangt“ wurde.137 Um breite Zustimmung zu gewinnen, mussten Positionen, die sich am Gemeinwohl orientierten, im öffentlichen Gespräch erörtert, diskutiert und vertreten werden.138 Trotz der anarchistischen Wurzeln der Bewegung diente die Besetzung des Zuccotti Parks dazu, eigene Ordnungsstrukturen aufzubauen, die einer-
136 Siehe dazu auch Eick, Volker/Sambale, Jens/Töpfer, Eric (Hrsg.), Kontrollierte Urbanität: Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik, Bielefeld 2007. 137 Claus Leggewie, „Transnationale Bewegungen und demokratische Frage“, in: Transit, Nr. 24 (2003), S. 88-109, S. 90. 138 Vgl. ebd.
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seits einen geregelten Ablauf des Zusammenlebens sicherstellten und andererseits den Eindruck praktikabler Alternativen lieferten.139 Durch die Besetzung entstand ein neues Zentrum sozialer Initiativen, dem sich Menschen verbunden fühlten, das bemüht war, niemanden auszuschließen und Obdachlose und sozial Deklassierte gleichsam aufnahm. Die Aufteilung des Raumes und die Aufgabenverteilung waren mit dem künstlerischen Arrangement und der Arbeitsteilung im Gesangschor vergleichbar, bei der unterschiedliche Stimmlagen einander ergänzen. Indem gerade chorische Verfahren eine möglichst große Beteiligung und Inklusion ermöglichten, konnten die Besetzer*innen den Versuch unternehmen, „die Institutionen einer neuen Gesellschaft in der Schale der alten zu schaffen.“140 Die Diversität und Meinungsvielfalt der teilnehmenden Menschen sorgte allerdings auch für heftige Kontroversen. Neben der Ausbreitung autonomer Gruppen gestaltete sich die alltägliche Organisation der Besetzung als überaus konfliktreich.141 Die Koordinierung der verschiedenen Mitglieder ließ heftige Spannungen aufkommen und verwies durch viele interne Auseinandersetzungen auf die Grenzen idealisierter Gemeinschaftsvorstellungen. Die Schwierigkeiten im täglichen Umgang relativierten leichtfertige Idealisierungen des Kollektiven. Zugleich äußerten sich soziale Spannungen in Form lebendiger Debatten, die sich durchaus schwierig gestalteten, für das Finden eines gemeinsamen Weges im Grunde aber als richtig erachtet wurden. Als vermittelnde Instanz wurde das Chorische hier insbesondere im Prozess der Entscheidungsfindung relevant. Während Menschen unterschiedlicher Meinungen gewöhnlich versuchen, die eigene Position zu verteidigen oder andere davon zu überzeugen, liegt die Aufgabe des Chorischen darin, eine Abständigkeit zum eigenen Denken zu erzeugen, um von einem vorherigen Standpunkt abweichen zu können und gemeinsam nach neuen Wegen zu suchen. Situationen, in denen unterschiedliche Meinungen konfrontativ aufeinandertrafen und dazu führten, dass einzelne Auffassungen ganz ignoriert wurden, sollten durch einen kollektiven Denkprozess überwunden werden.142 Die Vorstellung aus zwei Ideen gemeinsam etwas Neues entste139 Durch die Implementierung eigener Institutionen, die wie David Graeber betont, „alle auf anarchistischen Grundsätzen der gegenseitigen Hilfe und der Selbstverwaltung basierten“, ging vom Zuccotti Park eine Signalwirkung für nachfolgende Besetzungsaktionen aus. Graeber, „Die anarchistischen Wurzeln von ,Occupy Wall Street‘“, S. 32. 140 Ebd. 141 Vgl. Bureau of Public Secrets, „Die USA erwachen!“, S. 41; Vgl. Gitlin, Occupy Nation, S. 69. 142 Im „Quick Guide on Group Dynamics in People’s Assemblies“, der von der Bewegung 15. Mai herausgegeben wurde, um die gemachten Erfahrungen der General Assembly im Protest Camp auf der Puerta del Sol in Madrid zu teilen, wurde der Ansatz des „Collective Thinking“ explizit thematisiert: „The aim of Collective Thinking, on the other hand, is to construct. That is to say, two people with differing ideas work together to build something new. The onus is therefore not on my idea or yours; rather it is the notion that two ideas together will produce something new, something that neither of us had envisaged beforehand.“ Anonym, „Quick Guide on Group Dynamics in People’s Assemblies“, abrufbar unter: http://takethesquare.net/2011/07/31/quick-guide-on-group-dynamics-in-peo ples-assemblies/ (zuletzt aufgerufen am 06.05.2018).
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hen zu lassen, das im Vorfeld so nicht anvisiert wurde, verlangt die Bereitschaft und Offenheit, von eigenen Überzeugungen fortschreiten zu können und ein Wagnis einzugehen. Nur durch Erkenntnis der eigenen Voreingenommenheit und die Bereitwilligkeit diese zurückzustellen, können mit Hilfe chorischer Abstimmungsverfahren Situationen entstehen, in denen Standpunkte nicht mehr verhandelt, sondern temporär aufgegeben werden. In einem kreativen Prozess werden Positionsbestimmungen verrückt oder gänzlich neu geschaffen. Versammlungsformate wie die General Assembly können für Protestchöre den Rahmen bieten, um Prozesse der kollektiven Meinungsfindung in dieser Weise zu gestalten. Chorische Sprachregeln stellen dabei Techniken zur Verfügung, die zugleich Wahrnehmungsqualitäten stimulieren, in denen gegenüber der sprachlichen Vermittlung von Argumenten gerade aktives Zuhören an Bedeutung gewinnt.143 Widerstand wird folglich auch dadurch erzeugt, dass sich plurale Akteur*innen versammeln, um öffentliche Foren zu bilden, in denen persönliche Standpunkte geteilt, eigene Regeln entworfen und diese wahrnehmungsbasiert diskutiert werden. Indem das Chorische – etwa in Form des „Human Mic“ – gerade Reflexionen darüber ermutigt, wie bisherige Kommunikationspraktiken erweitert werden können, stellt es sich diametral einem Denken entgegen, das durch das gegenwärtige System repräsentiert und hervorgebracht wird.144 3.3 Das „Human Mic“ und die politischen Wirkungen chorischen Klangs „Horizontale, demokratische Versammlungen suchen keine Einstimmigkeit, sondern verwenden einen pluralen Prozess, der für Widersprüche und Konflikte offen ist. Die Entscheidungen der Mehrheit kommen unter Einbeziehung oder besser Verschmelzung der Unterschiede zustande.“145
Die Fähigkeit stimmlicher Ausdehnung von Protestierenden, die zu einer generellen akustischen Ausbreitung der Kommunikation führen kann – letztlich die „Landnahme“ der Stimmen des Protestchors, die sich vom Herkunftsort lösen und ausströmen 143 Die besonders aufmerksame Art des Zuhörens, auch als peer listening bekannt, basiert auf einem zwischenmenschlichen Einfühlungsvermögen, dem das kommunikative Verständnis zu Grunde liegt, andere mit ihren je eigenen Anliegen unterstützen zu können. Dies setzt eine empathische und offene Grundhaltung des Zuhörens voraus, die die andere Person als grundlegend positiv ansieht. Aktives Zuhören heißt, sich auf das Gegenüber einzulassen und zu konzentrieren und eigene Meinungen zunächst zurückzuhalten. Zur Thematik aktiven Zuhörens siehe auch Carl R. Rogers, Die nicht-direktive Beratung. Counseling and Psychotherapy, Frankfurt a.M. 1985; Lymann K. Steil/Joanne Summerfield/George DeMare, Aktives Zuhören. Anleitung zur erfolgreichen Kommunikation, Heidelberg 1986; Rolf H. Bay, Erfolgreiche Gespräche durch aktives Zuhören, Renningen 2006. 144 Vgl. Anonym, „Quick Guide on Group Dynamics in People’s Assemblies“. 145 Hardt/Negri, Demokratie!, S. 73.
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– erzeugt einen spezifischen Ereignisort des Protests, der imstande ist, vorgefundene Räumlichkeiten zu transformieren. Stimmen und andere akustische Phänomene des Protests implizieren „eine andere Raumvorstellung, bei der sich Raum permanent aus Erscheinungsformen, Erfahrungen und Interpretationen (re-)konfiguriert und (re-) konstruiert“.146 Im Speziellen machten die sprachlichen Wiederholungen von Protestchören deutlich, wie die Wirkungsweise chorischer Stimmen zu einer kontinuierlichen (Re-)Konfiguration der Raumwahrnehmung führte und die im öffentlichen Raum wahrgenommenen Erscheinungsformen entscheidend mit beeinflusste. Menschliche Verstärkungstechniken, die wie das „Human Mic“ auf chorischem Sprechen aufbauen, können die räumlichen Dimensionen öffentlicher Plätze klanglich umspielen, kontinuierlich neu vermessen und umso einfacher durchgängig behaupten. Dabei generieren chorische Kommunikationsverfahren weitreichende Bedeutungen, die nicht nur eine Technik zur Stimmverstärkung darstellen, sondern mehr als die „reine Notwendigkeit, Mittel zum Zweck oder Gefäß für den eigentlichen Inhalt“ sind.147 Immer wieder zeigt sich, wie verbindende Wirkungen im öffentlichen Raum weniger durch den Inhalt des Gesagten, als durch die besondere Materialität der kollektiven Stimmlichkeit entstehen.148 Neben der einfachen Verstärkung des Gesagten erfüllen chorische Sprachhandlungen in Protestsituationen zugleich eine soziale Funktion, die sich in der Wiederentdeckung des Chorischen und den immanenten politischen Wirkungen seiner antiken Wurzeln ausdrückt. 3.3.1 Lautsprechen als Zuhören Die Voraussetzung chorischer Verstärkung ist aufmerksames Zuhören, das die Zuhörer*innen im Protestchor stets als Koproduzent*innen ausweist. Für die Sprechenden bringt diese Art des genauen Zuhörens die Gewissheit mit sich, dass sie gehört werden. Dabei werden Lautstärke und Reichweite der stimmlichen Hervorbringungen verstärkt, zugleich jedoch auch menschliche Bezüge intensiviert und vervielfacht. Die soziale Wirkung chorischer Verstärkungstechniken wird besonders dann spürbar, wenn Menschen ein besonderes Programm des Sich-Einlassens verwirklichen, sich durch das wiederholte Aufsagen des Gesprochenen aufmerksamer folgen und neue Zugänge zueinander forcieren. Während die Fragmentarisierung der wörtlichen Rede waches Zuhören aktiviert, besteht das Potenzial der Wiederholung darin, sich durch die intensivierte Wahrnehmung besser in die Meinungen anderer hineinzuversetzen. Protestformen wie das „Human Mic“ führen dazu, dass sich chorisch erzeugte Klänge vom ursprünglichen Körper entfernen, was für eine auf Aufmerksamkeit ausgerichtete Proteststrategie von großer Bedeutung ist. Mit der raumgreifenden Extension des Lautsprechens und der Erzeugung einer weitreichenden, polyfonen Stimm146 Schrödl, Vokale Intensitäten, S. 52f. 147 Kretzschmar, „Verstärkung“, S. 150. 148 Fischer-Lichte hat auf die verbindende Wirkung der Stimme als leiblichem In-der-WeltSein und auditiver Manifestation eines Hiers hingewiesen: „Die Stimme ist darüber hinaus bereits in ihrer und als Materialität Sprache, ohne erst als Zeichen wahrgenommen werden zu müssen. In ihr spricht sich das leibliche In-der-Welt-Sein des sich in ihr Verlautbarenden aus; sie spricht den, der sie vernimmt, in seinem leiblichen In-der-Welt-Sein an. Sie füllt den Raum zwischen beiden, setzt sie zueinander in ein Verhältnis, stellt eine Beziehung zwischen ihnen her.“ Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft, S. 51.
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kraft erarbeiten sich Protestchöre symbolisch wie physisch eine mächtigere Stimmengewalt. Das Gewaltige entäußert sich erstens durch den Stimmenschall und die Schwingungen der chorischen Verstärkungen, die als „territorialer Zugriff“149 dafür sorgen, dass der öffentliche Raum akustisch besetzt wird. Die Lautlichkeit der chorischen Sprechweise kann zweitens eine spezifische Räumlichkeit der Besetzung erzeugen, womit eine besondere Qualität der Beschlagnahmung gemeint ist, die mit den stimmlichen Verlautbarungen zugleich an konkrete Körper zurückgebunden werden kann. Die kollektive Stimmenvielfalt macht drittens die besondere Materialität des Protests erfahrbar, deren Wirkungen sich in einem Geflecht multipler, räumlich verteilter Lautkörper weiter verstärken. 3.3.2 Anderen eine Stimme geben Chorische Kommunikationspraktiken regelten, wie die demokratische Fähigkeit, einander die Redefreiheit einzuräumen, verwirklicht werden kann, indem man anderen Meinungsäußerungen die Stimme leiht. Im Rahmen öffentlicher Versammlungen bestand für alle Teilnehmenden die Möglichkeit, zu sprechen und auf Äußerungen zu antworten. Chorische Verstärkungstechniken wie das „Human Mic“ sind damit in Prozesse reagierenden Sprechens eingebunden, in denen nicht nach dem Wort gerungen oder anderen die Rede entrissen werden muss. In einem Klima respektvollen Umgangs herrscht vielmehr die Mentalität vor, andere zur Sprache kommen zu lassen. Das Nachsprechen von Wortmeldungen demonstriert, wie auditive Arrangements immer neu hervorgebracht werden müssen. Dabei sprechen Protestierende das nach, was sie hören, ohne mit dem Inhalt des Fremdtexts zwangsläufig übereinstimmen zu müssen. Keiner außer den Sprecher*innen wusste, was als nächstes gesagt werden wird, d.h. welcher Inhalt die nachgesprochenen Wiederholungen bestimmt. Zugleich deutet sich an, wie die Variationen der verschiedenen Sprechakte, die in der chorischen Wiederholung umgesetzt werden, im Akt der Wiederholung bereits Reaktionen auf das Gesagte darstellen. In ihnen verbergen sich Kommentare, wache Kritik oder zustimmende Unterstützung, eben eine chorische Vielfalt an Meinungen. Neben dem akustischen Transport des Gesprochen schließt sich an die sprachlich modulierten Wiederholungen auch die Transformation von Bedeutungen an. 150 Jede chorische Wiederholung kann als sprachlicher Aushandlungsprozess verstanden werden, in dem die Vieldeutigkeit der nachgesprochenen Äußerungen eindeutiges Verstehen in Frage stellt. So verweisen unterschiedliche Betonungen und Geschwindigkeiten der Repetition auf zum Teil divergierende Haltungen innerhalb des Protestchors. Den Redebeitrag anderer freimütig zu wiederholen und dem Gesagten seine Stimme zu leihen, kann so als solidarischer Akt verstanden werden, der Redner*innen unterstützt und ihren Meinungsäußerungen eine durch die Gruppe getragene Bedeutung verleiht. Indem Beteiligte Worte anderer Personen nachsprechen, zollen sie den Sprechenden Respekt und inkorporieren durch das Nachsprechen deren 149 Kretzschmar, „Verstärkung“, S. 154. 150 Siehe dazu ebd., S. 158: „Das human mic produziert Nebengeräusche, Unverständlichkeiten und eine Vielstimmigkeit, die oft gerade nicht unisono übereinstimmt. Häufig wird der Redeinhalt nicht nur verstärkt, sondern in die Körper der Vielen, in ihre Unterschiedlichkeiten akustisch aufgefächert bis hin zur Aufhebung des Redesinns.“
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Positionen. Dieser Akt des Nachsprechens bedarf eines gewissen Vertrauens und wird nicht ohne Risiko vollzogen. Die Technik des „Human Mic“ kann einerseits nicht verhindern, dass auch Meinungen mitgesprochen werden, die nicht den eigenen Überzeugungen entsprechen. Andererseits kann gerade dieses risikobeladene Moment sprachlicher Interaktion mit einem demokratischen Prozess in Verbindung gebracht werden. So hat Butler dieses Risiko und die besondere Vulnerabilität der sprachlichen Kommunikation als wesentliche Bestandteile eines demokratischen Prozesses klassifiziert. Demnach werden Situationen gerade dadurch bestimmt, dass „man nicht im voraus wissen kann, welche Bedeutung der andere der eigenen Äußerung zuweisen wird, welcher Streit der Interpretation vielleicht entstehen könnte und wie man am besten über diese Differenzen urteilt.“151 Bezogen auf die Interpretationsleistungen der Zuhörenden dekonstruieren chorische Verständigungsweisen wie das „Human Mic“ die Behauptung einer Autonomie des Sprechens, die entsteht, weil viele Menschen scheinbar zeitgleich eine Aussage teilen.152 Zudem arbeitet das Chorische – nicht ohne pathetischen Unterton – auch intensiv daran, die angewandte Kommunikationsweise als Werkzeug der Empathie und Solidarität darzustellen. Butler erklärte bei ihrer Rede vor den Occupy-Aktivist*innen einleitend selbst, dass der Grund ihres Kommens eine Solidaritätsbekundung sei. Innerhalb ihrer Rede wechselte sie vom Ich in die Wir-Form, was ihre deutliche Parteinahme für die Bewegung in Sätzen wie „If hope is an impossible demand, then we demand the impossible.“, zusätzlich ausdrückte. Wenn viele Einzelne solche Wir-Sätze formulieren und aussprechen, treten sie als Repräsentant*innen temporärer Gemeinschaften auf. Indem die Gruppe dieses „Wir“ wiederholt, wird es durch den polyfonen Klang der Menge verkörpert und als potenzielle politische Bewegung sinnlich greifbar. Diese spezifische Art der Selbstreferenzialität chorischer Verstärkung tritt am Ende dieses und vieler anderer Beispiele deutlich in Erscheinung, als Butler die Konstituierung des Protestchors als performativen Sprachkörper im Sprechakt durch den Inhalt ihrer Rede weiter vorführt, indem sie sagt: „We are standing here together, making democracy enacting the phrase: We the people.“ 3.3.3 Die chorische Wiederholung als intensiver Nachvollzug Chorische Verständigungstechniken wie das „Human Mic“ können letztlich als durchaus innovative und sehr direkte Antwort auf die schwierige Organisation großer Gruppen klassifiziert werden, in denen bei der Überschreitung einer bestimmten Größe die Gefahr besteht, den Kontakt mit sich selbst zu verlieren.153 Diesem Kommunikationshindernis wirkt chorisches Sprechen in Protestsituationen auf verschiedenen Wahrnehmungs- und Darstellungsebenen entgegen: Zum einen verbinden chorische Verfahren überaus heterogene Bewegungsakteur*innen, indem sie körperlich ko-präsente Subjekte temporär synchronisieren. Zum anderen wirken sie einer Logik der Besetzung folgend als widerständige Praxis dadurch, dass sie selbst lautstark 151 Butler, Haß spricht, S. 140. 152 Entsprechend hat Judith Butler beschrieben, wie „der sich der Kontrolle des Subjekts entziehende Bereich der Sprache zur Bedingung der Möglichkeit der Kontrolle über jeden Bereich [wird], die das sprechende Subjekt auszuüben vermag.“ Ebd., S. 51. 153 Vgl. Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, S. 96.
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Räume des Protests verteidigen und durch die Notwendigkeit interner Abstimmung Kooperationsprozesse steuern und ausstellen. Chorische Kommunikationsweisen widersetzen sich Zeitnormen, die eingebunden in ein System produktorientierter Wirtschaftlichkeit Effizienz privilegieren, Diskursivität als zeitintensiv und wenig zielführend wahrnehmen und darauf drängen, sie als Störfaktoren zu eliminieren. Ihre Anwendung zur Vermittlung sprachlicher Inhalte kostet im Gegensatz dazu sehr viel Zeit – ein Aspekt, der nicht unwichtig ist, um öffentliche Räume nicht nur temporär besetzt zu halten. Das Chorische dieser Art des Protestierens konstituiert ästhetische Eigenzeiten, die das (Wieder-)Erlernen einer Duldsamkeit erfordern. Damit widerstehen sie einem besonders in urbanen Kontexten weit verbreiteten Hasten.154 Als Verstärkungstechnik resultiert die Intensivierung des Hörens gerade aus dieser zeitlichen Streckung, die als eine Verlangsamung erfahren wird.155 Pragmatisch gesehen bewirken Kommunikationsmethoden wie das „Human Mic“ in großen Versammlungen mit vielen Teilnehmer*innen zusätzlich inhaltliche Straffungen der Redebeiträge.156 Die Komprimierung und Verknappung der Aussagen kann sodann auch als Wiederaneignung einer Zeit verstanden werden, in der sich politische Positionierungen konkretisieren müssen und sich zeitlich verzögert materialisieren.157 Während der Protestchor in Stuttgart als angeleiteter „Bürgerchor“ der Autorität eines Regisseurs folgte und vornehmlich dazu diente, die Präsenz eines überwältigenden, unisono sprechenden Sprachkollektivs zu nutzen, offenbarte die OccupyBewegung mit ihren horizontalen Verständigungsformen einen gänzlich anderen Zugang zum Chor. Die Etablierung eines menschlichen Mikrofons schuf eine stimmliche Verstärkungstechnik, die sich in ihrem Vollzug vertikalen und zentralistischen Strukturen widersetzte. Mit dem Einsatz des „Human Mic“ realisierte der Protestchor im öffentlichen Raum der Stadt eine Kommunikationspraxis, die simultan Forderungen der Bewegung aufgriff und versuchte, selbst ein partizipatorisches Modell direkter Demokratie umzusetzen. Solche Modelle chorischer Verständigung unterstützen, dass eine Polyfonie der Sprechenden gewahrt bleibt, heterogene Beiträge nebeneinanderstehen können, überschwängliche Tendenzen neutralisiert und Vereinnahmungsversuche Einzelner ausgleichend im Zaun gehalten werden. Das Chorische wirkt hier weniger als Mecha154 Butler hat angemerkt, „daß [erst] die Zeit des Diskurses, selbst in ihrer radikalen Inkommensurabilität mit der Zeit des Subjekts, die Redezeit des Subjekts ermöglicht.“ Butler, Haß spricht, S. 51. 155 Butler hat selbst darauf verwiesen, dass die Sprache „ihr zeitliches Leben nur in und durch die Äußerungen [gewinnt], die ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen wieder aufrufen und neu strukturieren.“ Ebd., S. 219. 156 Das Bureau of Public Secrets schätzt etwa den Vorteil des „Human Mic“, dass die Menschen veranlasst, „schnell zur Sache zu kommen, und schon nach kurzer Zeit ist man im Rhythmus und beginnt, die Wirkung zu schätzen, die davon ausgeht, dass sich alle gemeinsam auf jeden Satz konzentrieren, dass jede_r die Chance erhält, zu Wort zu kommen, und sich alle anderen respektvoll anhören, was er_sie zu sagen hat.“ Bureau of Public Secrets, „Die USA erwachen!“, S. 42. 157 Siehe dazu den Slogan der spanischen 15M-Bewegung: „Vamos lento porque vamos lejos“ („Wir kommen langsam voran, weil unser Anspruch groß ist“).
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nismus, um verstreute stimmliche Kräfte zu einer gerichteten Kollektivstimme zu bündeln. Vielmehr folgt die chorische Protestform der Überzeugung, dass es für die Verständigung in der Gruppe keiner Angleichung individueller Sprachqualitäten bedarf. Hier deutet sich an, wie das Widerständige des Chorischen in Form eines Netzwerkes weniger auf ein Zentrum konzentriert ist.158 Schließlich können chorische Verständigungspraktiken dazu beitragen, dass kein Befehlszentrum entsteht, dafür aber ein Maximum an Autonomie verschiedener Teilbereiche.159 Protestchöre erzeugen sinnlich wahrnehmbare Momente des Widerstands. Gerade chorische Verfahren bieten sich an, um eine ästhetische Praxis des Widerstands zu etablieren, die sich geltenden Normen widersetzt und neuerliche Resonanzerfahrungen erzeugt. Auf Grundlage einer intensiven Auseinandersetzung mit den je spezifischen Choreografien des Protests deutete sich zunächst an, dass die ästhetische Wahrnehmung chorischer Protestformen als besonders gegenwärtiges, flüchtiges und transitorisches Phänomen präfiguriert ist. Nicht immer in bewusstem Kontrast zur stark mediatisierten Gegenwartskultur, sondern durch Nutzung sensationalistischer Effekte, erleichtern Protestchöre die Intervention in vorgefundene Öffentlichkeiten: Sie treten besonders auffällig in Erscheinung, erregen Aufmerksamkeit und machen ihre Anwesenheit spürbar. Protestchöre erscheinen aufgrund ihrer besonderen Materialität besonders geeignet, um als streitbare Bewegungsformationen Aufmerksamkeit zu erzeugen. Sie nutzen das Potenzial der Intervention zur Unterbrechung des Politischen, die neue Diskurse eröffnet. Zu einem Zeitpunkt, zu dem überall Neues erwartet und Kreativität ausgestellt wird, erscheinen Protestverfahren, die an die antike Praxis des Chorischen anschließen auch deshalb subversiv, da sie sich dem systematischen Druck nach ästhetischer Innovation entziehen.160 Im Gegensatz offenbaren chorische Protestverfahren – unter Maßgabe ihrer vernünftigen Nutzbarmachung – die Chance, durch künstlerische Praktiken Räume des Widerstands zu schaffen, die „das gesellschaftlich Imaginäre untergraben, das für die Reproduktion des Kapitalismus notwendig ist.“161 In der kapitalistischen Gesellschaft, deren Marktlogik das konsumierende Individuum adressiert und sich darauf konzentriert, auszugestaltende Identitäten mit Waren zu versorgen, erweitert das Chorische individuelle Kämpfe um kollektive Auseinandersetzungen. Damit nimmt es die Herausforderung an, ein Risiko einzugehen und aus der Beziehung zu anderen ein Ereignis werden zu lassen. Das Abrücken vom eigenen Standpunkt und das Mitdenken alternativer Positionen kann wegweisende und 158 Das Chorische weist hier deutliche Ähnlichkeit mit der polyzentrischen Form des Guerillamodells auf, zu dem Negri und Hardt schreiben: „Die polyzentrische Form des Guerillamodells entwickelt sich somit zu einem Netzwerk ohne Zentrum, in dem es einig die irreduzible Pluralität von miteinander kommunizierenden Knoten gibt.“ Hardt/Negri, Multitude, S. 101. 159 Vgl. ebd., S. 107. 160 Es sei angemerkt, dass das Wiederbeleben der Vergangenheit oder Anleihen an ihr nicht automatisch als subversive Akte verstanden werden, sondern das Subversive vielmehr als Art und Weise der aktualisierten Verwendung klassischer Praktiken konzipiert wird, die über bloßes Kopieren hinausgehen. 161 Chantal Mouffe, Agnostik: Die Welt politisch denken, Berlin 2014, S. 136.
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durchaus nachhaltige Perspektivwechsel ermöglichen. Als politische Schule der Einfühlung in die Belange, Interessen und Bedürfnisse anderer generiert das Prinzip des Chorischen ein sinnliches Netzwerk, um „kleine“ Effekte zu vervielfachen und zu intensivieren. Die Medialisierung von Protesthandlungen erweitert den ursprünglichen Wahrnehmungsbereich des Ereignisses. Sie erlaubt die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Protestierenden und Zuschauenden in den Blick zu nehmen, die über das Hier und Jetzt der Aufführung hinausgehen. Während die performative Praxis öffentlicher Versammlung an die Zeugenschaft und Kommentarfunktion des Chores erinnert, tragen Protestierende durch die Produktion medialer Abbilder ephemerer Protestsituationen dazu bei, dass sich die Behauptung zivilgesellschaftlicher Beweiskraft zusätzlich streut. Aber auch Einschätzungen des Protests verändern sich in medialen Übertragungen weiter. Die ästhetische Rezeption filmischer Reproduktionen von Protestereignissen kann zu weiteren Echowellen des ursprünglichen Ereignisses führen. Ob diese digitalen Informationen jedoch gleichwertig zum Bestandteil jener intensiven Resonanzerfahrungen leiblicher Ko-Präsenz werden können, bleibt zu bezweifeln. Den Protestchor als egalitäre Figur zu denken, hat eingeschlossen, eine Anonymität seiner Mitglieder zu entdecken. Vielfach trat das Chorische als Verwischung individueller Signaturen auf. Umso auffälliger, gar bedrohlicher, können chorische Formationen wirken, in denen sich ,Leuteʻ als Menge von Subjekten ohne besondere Identität zusammenfinden. Die Teilnehmer*innen, die Protestchöre auf diese Weise einberufen, sind nicht mehr als Individuen bestimmbar, sondern geben sich kontinuierlichen Bewegungsformen und Prozessen kollektiver Formwerdung hin. Diese Gleichgültigkeit Irgendjemand sein zu können, ohne sich in besonderer Weise von anderen unterscheiden zu müssen, konstituiert die befreienden Eigenschaften des Chorischen.162 Auf Grundlage dieser Gleichgültigkeit kann sich die Erfahrung einer Gleichheit abbilden, die chorischen Protestformen als politisches Versprechen eingeschrieben ist.163 Durch eine nicht rational mit Sinn zu erfassende Materialität des Körperlichen widersetzen sich Protestchöre geltenden Darstellungs- und Wahrnehmungskonventionen. Damit sind die inhärenten Widerstandspotenziale des Chorischen aufgerufen, die Protestchöre in besonderer Weise auszeichnen, um Empfindungen, Formen und Erfahrungen von Widerstand sinnlich zu kommunizieren und Menschen in Resonanz treten zu lassen. Dies wird umso deutlicher, bestimmt man das Aufmerken, das Protestchöre als spezifische Widerstandsszenarien evozieren, wie Waldenfels als das Überqueren einer Schwelle, die „nicht durch einen Akt der Aufmerksamkeit zustande kommt, sondern aus einer Weckung hervorgeht.“164
162 Vgl. van Eikels, „Wie bleibende Wirkung entfalten?“, S. 4. 163 Siehe dazu auch Maria Muhle, „Einleitung“, in: Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008, S. 7-19, S. 11 u. 13: „Gleichheit ist dabei nicht das Ziel der Politik, sondern ihre axiomatische Voraussetzung […].“ Gleichheit sei Muhle zufolge „kein grundlegendes Prinzip“, sondern muss „stets aufs Neue aktualisiert werden.“ 164 Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 22.
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Besonders subversiv können Protestchöre Aufmerksamkeit ausbilden, wenn sich chorische Kommunikationsprozesse nicht nur den bekannten Strategien der Aufmerksamkeitserzeugung bedienen, sondern diese innerhalb der eigenen Praxis verschieben. Indem sie Widerstand nicht nur herstellen, sondern zugleich die Bedingungen seiner Erzeugung oder Verhinderung reflektieren, richten sich chorische Protestverfahren in doppelter Hinsicht gegen normative Konventionen. Die Präsenz und Intensivierung von Wahrnehmungsvollzügen, die chorische Protestverfahren dann auszulösen vermögen, produzieren Unterbrechungen des Politischen. Protestchöre realisieren sich mit den Worten Waldenfels’ als affektives Widerfahrnis, „sofern man darin das An-tun, An-regen, An-gehen oder An-rufen mit anklingen läßt und Affekte nicht zu privaten Gefühlszuständen herabstuft.“165 Die Unterbrechungen, die chorisch organisierte Proteste produzieren, können durch rhythmische Gliederungen der Sprache, Variationen der Sprechgeschwindigkeiten, zeitliche Dehnungen, vielfältige Verzerrungen und Störungen der Lautstärke, Satzlänge oder gerade durch Ausrichtungen der Körper ebenso wie durch Plötzlichkeit, Andauern oder Wiederholungen äußert vielgestaltig hervorgerufen werden. Vom Reiz schöner Arrangements bis zum verschreckenden Schock des Bedrohlichen können chorische Interventionen durch die Produktion kollektiver Stimmlichkeit wortwörtlich herausgehobene Einzelmomente kreieren. Diese verweisen darauf, dass es Protestchören nicht allein um die stimmliche Darbietung kämpferischer Subjektivität geht, als vielmehr um die „Produktion und Evokation von Augenblicklichkeit, das heißt: Gegenwärtigkeit und Ereignishaftigkeit.“166 Auf diese Weise intervenieren Protestchöre als zivilgesellschaftliche Kräfte in existierende staatliche Verfassungen. Wenngleich ihre Einsprüche nicht zwangsläufig als radikaldemokratische Aktionen verstanden werden müssen, birgt das Chorische doch im Besonderen die Möglichkeit, demokratische Ansprüche durch plurale Führungsstrukturen zu unterstreichen. Die netzförmigen Ausbreitungen und heterogenen Bindungen chorischer Proteste, die auf allseitige Bewegungen von Körpern im Umgang mit anderen Körpern verweisen, betreffen Organisationsfragen des Gemeinsamen und laden dazu ein, direkt an die Verwaltung sozialer Beziehungen oder Diskussionen politischer Herrschaft zurückgebunden zu werden.167 Protestchöre können sich – ebenso wie sie als koordinierte Unmutsbekundungen in der Öffentlichkeit eine besondere Form von Gegenwart herstellen – im Gegenzug durch die Etablierung einer spezifisch eigenen Zeitlichkeit gegen gängige Zeitverläufe stellen. Die Ästhetik des Widerstands, die Protestchöre hervorbringen, wird in Anbetracht der dramatischen Beschleunigung globaler Ökonomien dort sichtbar, wo sie als eine „auffällig vorübergehende Gegenwart“168 agiert oder sich als Moment potenzieller Veränderbarkeit präsentiert, in dem oder von dem ausgehend Wandel möglich zu werden scheint. Als Initiativen der Entschleunigung erzeugen Protestchöre zum einen Widerstand gegen unsere Zeitkultur, zum anderen verdeutlichen sie, dass es für 165 Ebd., S. 40. 166 Schrödl, Vokale Intensitäten, S. 51. 167 Siehe dazu insb. Andretta, Massimiliano/della Porta, Donatella/Mosca, Lorenzo/Reiter, Herbert, No Global – New Global. Identität und Strategien der Antiglobalisierungsbewegung, Frankfurt a.M./New York 2003. 168 Seel, „Inszenieren als Erscheinenlassen“, S. 60.
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Prozesse demokratischer Auseinandersetzung auch Zeit braucht, wenn eine glaubwürdige Beteiligung möglichst vieler Menschen tatsächlich umgesetzt werden soll. Die Analyse chorischer Protestbeispiele konnte ferner aufzeigen, dass sich Protest heute nicht mehr als Anmahnung an die Verantwortung anderer darstellt, sondern als politische Intervention von Peer-to-Peer-Modellen. Das Potenzial chorischer Protestformen liegt dabei darin, die eigene Widerstandspraxis als freiwillige Zusammenkunft gleichberechtigter Individuen zu entwerfen und die Bereitschaft zur Kollaboration in selbstgewählten Beziehungen für die Erarbeitung alternativer Lösungsansätze zu nutzen. Wird das Modell des Chorischen selbst als Praxis des Widerstands angewandt, können neue Formen der Kooperation entdeckt werden, die als kollektive Bündnisse unterschiedliche Anordnungen ermöglichen. Das Chorische eignet sich als überaus vielseitiger und richtungsoffener Prozess dann für den „Tumult der Kontroversen“169 , um in wirkmächtigen Posen sozialer Vielheit gerade auch jene fluiden Formationen zu fokussieren, die sich aus wechselnden, zum Teil sogar gegensätzlichen Akteur*innen zusammensetzen. Vor dem Hintergrund entscheidender Veränderungen im Protestverhalten ermöglichte die Untersuchung chorischer Elemente zugleich die Würdigung instabiler Beziehungsformen, die nicht zwangsläufig schwächer oder weniger wirkungsvoll erscheinen. Chorische Verfahren lassen bewegliche Positionierungen erkennen, die „bestimmte fortlaufende belebende Gegensätze ihrer Teilnehmer durchaus in sich aufnehmen und als Zeichen und Substanz einer radikal demokratischen Politik schätzen“.170 So zeigte die Analyse, wie die Chor-Form aktuell weniger symbolhaft und repräsentativ eingesetzt wird und dafür das Chorische als resonanzerzeugendes Protestverfahren eine ganz eigene Ästhetik des Widerstands hervorbringt. Indem chorische Protestverfahren mit den internen Organisationsprozessen politischer Kommunikation die Bedeutung intersubjektiver Wechselbeziehungen betonen, sensibilisieren sie Aktivist*innen für die Erfahrung einer spezifischen Resonanzfähigkeit. Das Chorische akzentuiert das Aufeinanderbezogensein und erzeugt Situationen politischer Auseinandersetzung, in denen Resonanz als ein besonderes Erlebnis am eigenen Körper erfahren werden kann. Wo sich in Protestereignissen die soziale Resonanzfähigkeit menschlicher Bezüge intensiviert, revitalisieren sich nachhaltige Hoffnungen einer demokratischen Erneuerung politischen Handelns. Indem sich chorische Protesthandlungen als performative Akte vorgegebene Muster irritieren, unterwandern, sichtbar machen und stören, wenden sie sich nicht nur Praktiken der Vergangenheit zu. Vielmehr wird die rückwendende Adressierung zur Grundlage, die Gegenwärtigkeit politischen Handelns für Aktualisierungen zu nutzen. Der gegenwärtige Einsatz chorischer Protestverfahren stellt insofern eine Weiterentwicklung und Politisierung ästhetischer Widerstandspraktiken dar: Da den sinnlichen Wirkungsweisen der Überwältigung zunehmend kritisch begegnet wird, liegt der besondere Gebrauch in der Betonung des Chorischen als einem relationalen, potenziell anti-identitären und anti-autoritären Organisationsprozess. Das Chorische führt durch selbstreferenzielle Auseinandersetzung mit der eigenen Konstituierung – 169 Michel Foucault, „Vorwort zur englischen Ausgabe“, in: Ders., Schriften in vier Bänden, Bd. 2, S. 9-16, S. 11. 170 Judith Butler, Raster des Krieges: Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a.M. u.a. 2010, S. 37f.
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Offenheit statt identitärer Abgrenzung, Selbststeuerung statt autoritärer Führung – zu einer Intensivierung der Protesterfahrung aller Beteiligten. Damit liegt das Potential chorischer Protestverfahren schließlich darin, die Existenz vorgegebener materieller Bedingungen in Frage zu stellen, sie zu verändern und Protest als Aktualisierung der Bedingungen der Möglichkeiten ihres Erscheinens und Zusammentretens zu denken. Protestchöre, die nicht darauf zielen, Gegen-Macht zu erzeugen, öffnen sich modifizierenden Transformationen, die die Modalitäten politischen Handelns als solche verändern. Indem chorische Verfahren solchermaßen die Theatralität vorherrschender politischer Diskurse reflektieren, irritieren sie als öffentliche Protesthandlungen dominierende Narrative und tragen gleichsam zu einer Dynamisierung soziopolitischer Ordnungen bei. Dort, wo keine affirmative Proteststrategie, sondern ein Bewusstsein für die Anwendung der eigenen Mittel im Vordergrund steht, tragen Protestchöre dazu bei, Orte zu schaffen, an denen Subjektivitäten hervorgebracht werden können, die in Resonanz zu ihrer Umwelt treten, um hegemoniale Ordnungen zu hinterfragen. Nicht die Produktion sichtbaren Widerstands, sondern das autonome Gestalten alternativer sozialer Praktiken rückt dann in den Mittelpunkt. Letztlich erzeugen chorische Protestverfahren also Widerstand, indem sie durch den Einsatz ihrer sinnlichen Materialität Wahrnehmungsweisen auf die Welt verschieben und das Projekt einer gemeinschaftlichen, die Grenzen alltäglicher Konventionen überschreitenden Verhandlungspraxis unter gleichberechtigten Menschen beleben.
Epilog
„Wir müssen Institutionen und Strategien entwickeln, die die Ungewähltheit des offenen und pluralen Zusammenlebens aktiv erhalten und bekräftigen.“1
Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts bleiben Proteste ein zentrales Ausdrucksmittel politischer Auseinandersetzung. Sie verdeutlichen zum einen, dass Konflikte eine Grundkonstellation gesellschaftlichen Miteinanders darstellen. Zum anderen verweisen sie auf die Pluralität politischer Meinungen, an deren Navigation sich große Hoffnungen ebenso wie massive Herausforderungen knüpfen. Am Beispiel von Tunesien, also dem Land, das als Katalysator des „Arabischen Frühlings“ gilt, zeigt sich, wie die Aussicht auf demokratische Erneuerungen mittlerweile vielfach enttäuscht wurde. Während im Jahr 2015 das Quartet du dialogue national, eine Plattform zur Demokratisierung Tunesiens, den Friedensnobelpreis gewinnt,2 zeugen im selben Jahr schlimmste Terrorattacken zugleich von der Fragilität gewünschter politischer Erneuerung: Auf der Suche nach politischer Stabilität werden Momente der Zuversicht unaufhörlich durch unerwartete Rückschläge erschüttert. Gleichwohl artikulieren Protesthandlungen zivilgesellschaftlicher Akteur*innen auch weiterhin alternative Positionen zu Grundfragen des Gemeinwohls. Sie benennen konkrete Fehlentwicklungen, stellen die Verwirklichung politischer Versprechen in Frage und fordern öffentlich politischen Wandel ein. Sie bringen Beteiligungsmöglichkeiten sonst marginalisierter Akteur*innen hervor, deren Positionen in der Öffentlichkeit meist unzureichend wahrgenommenen werden. Man kann Proteste weiterhin als diese außerparlamentarischen, zivilgesellschaftlichen Ergänzungen betrachten. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht folgt aus dem Anwachsen einer global nachweisbaren Protestbereitschaft zugleich der Auftrag, die vielfältig performativen
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Butler, Theorie der Versammlung, S. 150. Das tunesische Quartett wurde nach der Revolution in den Jahren 2010 und 2011 aufgebaut. Es besteht aus dem Gewerkschaftsdachverband Union Générale Tunisienne du Travail, dem Handels- und Industrieverband Union Tunisienne de l’Industrie, du Commerce et de l’Artisanat, der Menschenrechtsorganisation La Ligue Tunisienne pour la Défense des Droits de l’Homme und der Vereinigung der Rechtsanwält*innen Ordre National des Avocats de Tunisie.
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Artikulationsformen von Widerstand genauer in den Blick zu nehmen, da es ja gerade die Formen politischen Handelns der Aktivist*innen selbst sind, die oft außerhalb des politischen Konsenses liegen. Da sich die grundlegende Motivation von Protest oft dadurch bedingt, dass „große Gruppen der Bevölkerung durch eine in den sittlichen Überlieferungen des jeweiligen Gemeinwesens begründete Ausschließung aus dem politischen Prozess ausgegrenzt worden“ sind, ergibt sich für Protesthandlungen der Auftrag, Fragen des Zugangs im eigenen politischen Handeln selbst anders zu beantworten.3 In Protestaktionen mischen sich heute als Werkzeuge des Aufbegehrens die unterschiedlichsten Genre: Poesie, Theater, Tanz, Gesang, Performance, Street-Art und Graffiti werden zu Hilfsmitteln, um durch die Formierung temporärer GegenÖffentlichkeiten ästhetisch wie inhaltlich dominierende politische Diskurse zu erschüttern. So werden durch Protest-Performances auch vorhandene Öffentlichkeitsforen aktiviert, um Aufmerksamkeit für politische Standpunkte und Dissens zu erzeugen. Dies ist insbesondere dann von herausgehobenem Interesse, wenn Aufführungsformen selbst eine eigene Politik der Aufführung hervorbringen, die sich in der Ausgestaltung des eigenen Protesthandels gegen politische Herrschaftsregime stellt und so selbst auf eine inhärente Widerstandspraxis verweist. Die untersuchten Fallbeispiele haben diese allgemeinen Aussagen am Beispiel von Protestchören konkretisiert und aufgefächert, inwiefern zwischen der gezielten Bekämpfung eines Bahn-Projekts in Stuttgart und dem ägyptischen Versuch, in einem Zustand der Angst durch Proteste eine zivilgesellschaftliche Emanzipation auszulösen, gehörige Differenzen festzustellen sind. Im Fall von Ägypten und der sich anbahnenden Revolution im Frühjahr 2011 kann argumentiert werden, dass die Grundlagen des politischen Gemeinwesens und damit die Infrastruktur der Politik selbst zur umstrittenen Sachfrage wurden, wohingegen vor der Revolution kein geregelter politischer Prozess sichtbar war, in dem unterschiedliche Akteur*innen in der politischen Arena unterschiedliche Meinungen und Lösungsstrategien hätten einbringen oder gesellschaftliche Machtressourcen offen mobilisieren können. Entsprechend den Anliegen, die Protestierende verfolgen, und je nachdem, welche Politikebene sie adressieren, verändert sich die realpolitische Beurteilung, was von den politischen Bewegungen zu erwarten ist. Es kann nicht geleugnet werden, dass Occupy keine Weltrevolution ausgelöst hat. Auch in den anderen Beispielen wurde der Erfolg über einen längeren Zeitraum betrachtet als eher skeptisch eingestuft. Wenn die Protestierenden in Stuttgart den Bau des Bahnhofs zwar nicht verhindern konnten, so war eine Konsequenz ihrer beharrlichen Gegenwehr dennoch, dass es nach dem Versuch einer Schlichtung und Landtagswahlen einen Volksentscheid zu dieser strittigen Frage gab. Auch den Aktionen junger Aktivist*innen in Ägypten kann angerechnet werden, dass sie durch ihr mutiges Auftreten in der Öffentlichkeit zu einer Vergrößerung der Zivilcourage beitrugen. Abschließend soll dieses Potential hervorgehoben werden, das mitunter nicht in konkreten politischen Veränderungen, nachhaltigen Transformationen der institutionel-
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Meyer, Was ist Politik?, S. 75.
Epilog | 429
len Grundlagen des Gemeinwesens festzumachen war, sondern sich an den Wirkungsmöglichkeiten des Chorischen auf politische Dynamiken abbildet. Im Hinblick auf aktuell konkurrierende Lesarten des Politischen scheint eine solche Ästhetik des Widerstands im Gegensatz zu postmarxistischen Positionen von Mouffe, Laclau, Badiou, Rancière und anderen zu stehen, die das Politische weiterhin – und gerade heute – aus einem Bemühen um den klar formulierten Dissens und die genaue Artikulation von Antagonismen ableiten. Dabei wäre es fahrlässig, das Chorische als polyfones Prinzip des Politischen als nicht-antagonistisch misszuverstehen. Chorische Prozesse verweigern sich keineswegs der Ausbildung antagonistischer Positionen. Im Gegenteil betonte diese Arbeit ja gerade, dass sich das Chorische selbst als Vielfalt antagonistischer Positionen darstellt und sich gerade im Chorischen Prozesse kontinuierlicher politischer Selbstinstituierung nachweisen lassen. Vor dem Hintergrund der von Mouffe und Laclau akzentuierten Kontingenz sozialer Konfigurationen stellen chorische Prozesse also selbst Austragungsorte offenen Streits antagonistischer Positionen dar. Das Potential des Chorischen erwächst dabei allerdings nicht mehr in der Anvisierung einer hegemonialen Operation als Durchsetzung einer ohnehin nur temporären Universalisierung pluraler Akteur*innen. Viel stärker zielen chorische Protestverfahren auf eine Sensibilisierung der Teilnehmenden. Die Anerkennung partikulärer Positionen im Inneren von Gruppen wird dann zur Basis einer Praxis, die sonst viel zu leichtfertig als ,politischʻ klassifiziert wird. Abschließend soll auf kritische Stimmen reagiert werden, die das historische Schicksal der in dieser Arbeit untersuchten Bewegungen skeptisch betrachten oder als Misserfolg deuten. In dieser Lesart stellen rückblickend weder Stuttgart 21, noch der Arabische Frühling oder die Occupy-Bewegung erfolgreiche Protestbewegungen dar. Die Frage des Erfolgs ist deshalb so interessant, weil schließlich auch gefragt werden kann, ob die chorischen Verfahren nicht sogar zum Misserfolg dieser Bewegungen beigetragen haben. Wären die genannten Bewegungen am Ende wirksamer und nachhaltiger gewesen, wenn sie ihren Protest von einer entschiedeneren, programmatisch klar konturierten und letztlich antagonistischen Position aus artikuliert hätten? Diese Arbeit argumentierte, dass sich am Einsatz chorischer Mittel ein entscheidender Wandel von Proteststrategien abzeichnet: Während die Form des Chores als dramatischer Sprechchor, synchronisierte Menge oder überwältigendes Körperkollektiv immer stärker zurückweicht, gewinnen dagegen chorische Verfahren an Bedeutung, die nicht mehr darauf zielen, Protestierende als sich selbst ermächtigende Antipod*innen zu inszenieren. Statt am symbolischen Einsatz von Sprechchören bildet sich die Widerstandskraft des Chorischen gegenwärtig als diskursive Praxis der Selbstbefragung und in Eigenschaften des Anti-identitären und Anti-autoritären ab. Diese Veränderung wurde im Besonderen an der Art und Weise darstellbar, wie Widerspruch nicht mehr in einheitlichen Sprechchören hervorgebracht wird, sondern die Thematisierung interner Verfahren und damit das Chorische als relationales Verständigungshandeln selbst ins Zentrum rücken. Diese Entwicklung, die eine Ausweitung regional begrenzter hin zu globalen Protestphänomenen miteinschloss, kann als eine Verlagerung des Fokus von der Politik zum Politischen beschrieben werden: In heutigen Protestformen des Chorischen drückt sich verstärkt die Einsicht aus, dass Protestierende vordergründig auf der Politics-Ebene operieren. Protestierende erscheinen als zivilgesellschaftliche Akteur*innen, um im politischen Prozess selbst
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aufzutreten und wirksam zu werden. Die begriffliche Unterscheidung von „der Politik“ und „dem Politischen“ konnte dabei in Analogie zur Differenz zwischen „dem Chor“ und „dem Chorischen“ nachvollzogen werden. Während die Form des Chores den Prozess einer ursprünglichen Vielheit unterschiedlicher Meinungen verschleiert und immer schon einen gefestigten Meinungsbeitrag aufführt, vermögen chorische Austauschprozesse, Koordinierungsleistungen selbst in den Vordergrund zu stellen und als „Verständnishandeln unter Gleichen“ performativ umzusetzen. Umso dringlicher ergibt sich daraus der Auftrag, politisches Handeln im Allgemeinen und Protesthandlungen im Besonderen daraufhin zu befragen, ob sie im konkreten Fall tatsächlich als Verständigungsprozesse zwischen Freien und Gleichen definiert werden können. Protestformen, die die Aussage einer Botschaft oder die Wirkung einer Bedeutung über die Befragung der eigenen politischen Konstituierung stellen, setzen sich dem Vorwurf aus, das Faktum der Differenz der Interessen und die Norm der Gleichheit der Menschen nicht zur Grundlage ihres politischen Handelns zu machen. Von den „Bürgerchören“ in Stuttgart, über die Aktionen „Stillen Widerstands“ in Kairo zu den Besetzungen der Occupy-Bewegung in New York wurde ein variantenreiches Panorama chorischer Formen sichtbar. In ihrer Spannbreite ließen sie völlig unterschiedliche ästhetische Erfahrungen zu, verwiesen auf gänzlich verschiedenartige Wirkungsabsichten oder steuerten auf zum Teil unvorhersehbare Reaktionsmöglichkeiten zu. Im Bewusstsein um diese Differenz der hier vorgestellten Fallbeispiele wurden diese verschiedenen chorischen Verfahrensweisen dennoch ausgewählt, da sie über ihre einzelnen politischen Kontexte deutlich hinausgingen. Die beschriebene Medieneinbettung, ihre Verschränkung und gegenseitige Wahrnehmung überschritt den eigenen politischen Kontext deutlich. Entsprechend wurde argumentiert, dass die sehr heterogenen Beispiele in ihrer ästhetischen Herangehensweise und durch ihre zeitliche Nähe durchaus vergleichbar sind. Während sie daher ohne Zweifel nebeneinandergestellt werden konnten, resultieren aus der Frage nach den jeweils spezifischen Gegner*innen zugleich unterschiedliche politische Konstellationen, die für die abschließende Bewertung des Erfolgs nach einer veränderten Auffassung des politischen Widerstandsbegriffs verlangen. In den Beispielen deutete sich an, dass konkrete Gegner*innen zunehmend unklarer wurden und mit dieser Uneindeutigkeit des Dagegenseins auch die Frage des Erfolgs wesentlich komplexer erscheint. Ein veränderter Widerstandsbegriff bildet sich daher an der spezifischen Ausgestaltung politischen Handelns selbst ab. Er verwirklicht sich nicht mehr als Verhältnis des Dagegenseins – jenen reaktiven Vektor des Widerstands gegen Vorhandenes –, sondern als Reflexion interner Organisation, die eine irreversible Pluralität impliziert und unrechtmäßige staatliche Gewalt im Vollzug der eigenen Konstituierung umgeht. Folgt man dieser abschließend vorgeschlagenen Auffassung, dann waren und sind chorische Verfahren wie das „Human Mic“ aufgrund ihrer politischen Ästhetik widerständig, da sie „eine konventionelle Unterscheidung zwischen öffentlich und privat überwanden, um neue Beziehungen der Gleichheit zu etablieren; sie nahmen damit in die Sozialform des Widerstands selbst
Epilog | 431
die Grundsätze auf, für deren Verwirklichung in allgemeineren politischen Formen sie kämpften.“4 Im spezifischen Erscheinen kollektiver Akteur*innen drückt sich so auch der Anspruch aus, mit der Darbietung von Protest zugleich im Bereich einer vorstrukturierten politischen Ästhetik gegenwärtig zu werden und zu wirken. Wenn chorisch Protestierende auf den Vorwurf der Symbolpolitik reagieren und diese im Hinblick auf die Gesetze der Medienwirkung als höchst problematisch ansehen, müssen sie sich selbst anders organisieren, anders agieren und in ihrem Handeln einen Widerstand gegen die kritisierte Symbol-Politik erkennen lassen. Trotz oder gerade wegen der allgegenwärtigen Möglichkeit und Verführung in den „sozial“ genannten Medien selbst politische Positionen oder Medieninhalte zu verbreiten, kann sich der Erfolg politischer Auseinandersetzung nicht mehr nur durch die hohe Aufmerksamkeit medialer Präsentationen allein vermitteln. Eine neue Ästhetik des Widerstands bildete sich am veränderten Einsatz chorischer Protestformen ab: an der Verschiebung des theatralen Einsatzes des Chores zugunsten chorischer Vollzüge des Protestierens. Der Chor repräsentiert als Symbol politischer Macht das herkömmliche Modell einer vordergründigen Darstellung des Politischen durch die symbolische Verdichtung von Sozialbeziehungen mittels politischer Einigkeit. Der vermeintliche Konsens des Chores und seine trügerische Einheit hinterlassen jedoch zweifelhafte Eindrücke. Weniger die Selbstdarstellung sichtbarer Akteur*innen oder der spürbare Versuch einer Visualisierung und Theatralisierung des Politischen fällt dabei ins Gewicht, als der notwendige Aufwand inszenierter Handlungen, die als dramatisierte Konflikte eine Dominanz entwickeln, die merklich auf die emotionale Identifikation oder Ablehnung politischer Personen und Verhältnisse zielt. Chöre präsentieren das Umwandlungsergebnis jener ursprünglichen Vielheit von Meinungen in eine Einheit verbindlichen Handelns. Sie stellen Resultate der Verständigung aus, nicht den Weg der Verständigung selbst. Dagegen beschreibt das Chorische eine gemeinsame Handlungspraxis, die Prozesse der Verständigung in den Mittelpunkt rückt und damit inhärente Konflikte, Kontroversen und Schwierigkeiten. Während Protestchöre darauf zielen, politische Partizipation vordergründig darzustellen und mittels Chor-Form abzubilden, hinterfragen chorische Praktiken die Offenheit von Entscheidungsprozessen – etwa, ob für alle Betroffenen wirklich die Chance der Beteiligung besteht. Gerade in dieser Selbstbeschäftigung mit eigenen Ausschlussmechanismen drückt sich eine Politisierung von Protesthandlungen aus. Wo Protestierende diese Differenz erkennen und nutzen – eigene Verfahren thematisieren, statt sie in den Dienst der Überwältigung zu stellen –, vermögen sie auf subversive Weise, mit einer veritablen Rehabilitierung des Sinnlichen zu operieren: Sie bringen Widerstand hervor, indem sie das Ästhetische ihrer politischen Aktionen als etwas herausstellen, das sich von rationalistischen Denkmodellen absetzt. Diese Akzentverschiebung macht schließlich auch deutlich, wie autoritäre, selbstermächtigende Protestverfahren, die auf die Etablierung identitärer Chöre zurückgreifen, von anti-autoritären, horizontalen und postidentitären Verfahren des
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Butler, Theorie der Versammlung, S. 121.
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Chorischen abgelöst werden. Umso problematischer erscheint hingegen, wenn Proteste den Eindruck vermitteln, dass sie die im Vorfeld gegebene Differenz von Meinungen nicht anerkennen oder ein schon vor dem politischen Prozess der Auseinandersetzung feststehendes „Gemeinwohl“, eine einzige richtige Problemlösung behaupten. Protestchöre, die dem Ausdruck solcher Positionen dienen, ignorieren die für den Prozess des Politischen notwendigen Meinungen anderer. Stattdessen erheben sie Legitimationsansprüche, etwas auch ohne Einbezug weiterer Betroffener zu verwirklichen. Synchronisierte Sprechchöre, die in Protestsituationen zum Einsatz kommen, setzen sich daher mehreren Vorwürfen aus: Zum einen präsentieren sie Meinungsbeiträge, die zwar von vielen Stimmen produziert werden, letztlich jedoch nur eine einzelne Positionen aus vielen anderen möglichen wiedergeben. Zum anderen verstellt die anvisierte Einheit des Chores, wie erst in einem anerkennungsfähigen Verfahren aus der Vielheit von Auffassungen eine für alle verbindliche Entscheidung hervorgeht. Wo Protestchöre lediglich auf die Darstellung politischer Geschlossenheit zielen, diese von vornherein unterstellen oder es um die Stiftung politischer Einheit ohne die notwendige Anerkennung ursprünglicher Vielheit geht, wirken Chöre geradezu entpolitisierend. Politisches Handeln kann auf Dauer nicht ausschließlich aus der Schaffung verbindlicher Regelungen durch Macht resultieren. Die Dominanz des Chores, die aus der Anwesenheit einer pluralen Vielheit resultiert oder auf der körperlichen Präsenz großer Chor-Gruppen basiert, wirkt Ansprüchen der Rechtfertigung entgegen. Mehr noch verstellt der Chor, warum es zu Gefolgschaft, Fügsamkeit und Unterstützung aus freien Stücken kommt. Zugespitzt formuliert: Chöre dienen der arrangierten Hervorbringung von Artikulationen, die auf die Wirkung des Formschönen zielen, an der Begründung eines Rechtmäßigkeitsglaubens jedoch weniger interessiert sind. Dagegen können chorische Protestverfahren zu einem Motor öffentlicher Debatten werden, indem Fragen des Gemeinwohls nicht privaten Handlungsinitiativen überlassen werden, sondern als öffentliches Verständigungshandeln zwischen Menschen ins Zentrum einer ergebnisoffenen Auseinandersetzung rücken, bei der kein einzig legitimer Lösungsweg vorgeben ist. Die Kommunikations- und Abstimmungsverfahren der General Assembly konnten im kleinen Rahmen zeigen, wie Beratungen und Entscheidungen, an denen Einzelne wirklich beteiligt waren, über alle wichtigen Angelegenheiten direkt erfolgen können. Sie rekurrierten auf das Ideal demokratischer Entscheidungsfindung, bei der in letzter Instanz alle Entscheidungsbetroffenen das gleiche Recht der Mitwirkung haben. In den Vollversammlungen der Occupy-Bewegung drückte sich der kompromisslose Anspruch aus, direktere Formen der Demokratie zu wagen. Obgleich die Bewegung damit offensiv und beständig neu Wege der Mitbestimmung thematisierte, muss im Hinblick auf die modernen und komplexen Flächenstaaten eingeräumt werden, dass diese direkten Organisationsformen weder in großflächigen Nationalstaaten noch im Hinblick auf die globale Perspektive in dieser Weise realisierbar sind. Der Beitrag der Protestierenden betraf daher eher die politische Auseinandersetzung mit der Frage, welche Form repräsentativer Demokratie angemessen und welche Elemente direkter Demokratie, etwa Plebiszite oder andere direktdemokratische Korrektive, integriert werden können.
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In nahezu allen Beispielen wiederholten Aktivist*innen indirekt Rousseaus Kritik an der repräsentativen Demokratie, der zufolge der gemeinsame Wille seinen angemessenen Ausdruck nur in Gegenwart aller Entscheidungsbetroffenen finden kann und jede Delegation des politischen Willens der Bürger*innen an Repräsentant*innen zu einer Ausdünnung der demokratischen Idee und ihrer prinzipiellen Verleugnung führe. Ihre Aktionen stifteten eher Impulse für eine Neuthematisierung dieser politischen Fragestellungen als eine nachhaltige Implementierung neuer politischer Institutionen. Folglich lag ihr Potential weniger in konkreten Lösungsbeiträgen begründet als im experimentellen Erproben politischer Kommunikation. Dies schloss für die Protestierenden durchaus ein, mit der scheinbar unlösbaren Komplexität des politischen Prozesses konfrontiert zu sein. Der Erfolg konnte so weniger im Auffinden neuer, konsistenter Lösungen als in der Revitalisierung direktdemokratischer Ansprüche entdeckt werden – etwa der Erkenntnis, dass auch Handlungsalternativen neue Schwierigkeiten hervorbrachten und abweichende Meinungen erlaubt, ja schützenswert sind. Politik manifestiert sich durch die öffentliche Sondierung und Definition von Problemen, die gelöst werden sollen. Die anfänglich konstatierte Ernüchterung hinsichtlich der Wirksamkeit aktueller Protestbewegungen vergrößert sich, da es pluralen Akteur*innen heute bereits schwerfällt, gemeinsame Probleme überhaupt erst festzuschreiben, um dann Aufgaben zu entwickeln und Handlungsprogramme zu entwerfen, wie sie notwendig wären, um im politischen Prozess als erfolgreich zu gelten. Demgegenüber stellt das Ringen um die Definition eines Problems heute selbst bereits den entscheidenden Teil politischer Auseinandersetzung dar. Statt also konkrete Ziele zu formulieren, standen bei der Occupy-Bewegung die Konsensverfahren der Entscheidungsfindung selbst im Mittelpunkt politischer Aktionen. Dieser Fakt sollte nicht heruntergespielt werden, da sich bereits im Austausch durchaus unterschiedlicher politischer Interessen ein Ausdruck politischer Freiheit verbirgt, den es zu würdigen gilt. Die politischen Debatten der Protestierenden stellten daher mehr als nur Protest im herkömmlichen Sinn her: Sie steuerten praktische Diskussionen über die Verfahren zur Bewältigung tagesaktueller Konflikte der Besetzung bei; durch die Wahl konsensbasierter chorischer Methoden beförderten sie die politische Diskursivität, deren Entstehung und Austragung von Konflikten den erwünschten Normalfall des politischen Prozesses darstellt. Das Potenzial dieser Konflikte, die im Chorischen nicht gänzlich ausgelöscht, sondern beständig ausgetragen werden, besteht darin, dass sie die Diversität einer Meinungsvielfalt abbilden, alternative Möglichkeiten, Handlungsoptionen und Lösungsansätze präsentieren und zuallererst sichtbar machen. Entgegen kritischen Stimmen, die also behaupten, dass die Nachhaltigkeit der Beispiele begrenzt sei, da sie ein Scheitern oder zumindest eine eher problematische Entwicklung aufzeigen, wird hier nachdrücklich die Position bekräftigt, dass sich der Erfolg chorischer Protestverfahren nicht an empirisch messbaren politischen Leistungen abbildet, sondern in einer Steigerung der Resonanzsensibilität der Protestierenden. Richtig bleibt: Die Bewegungen haben keine nachhaltigen Revolutionen ausgelöst. In Stuttgart konnte der Bau eines Bahnhofs nicht verhindert werden; in Ägypten zeigten die blutigen Ereignisse der konterrevolutionären Wiederaneignung staatlicher Gewalt durch die Militärregierung, dass die Hoffnungen an eine tiefgreifende
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gesellschaftliche Erneuerung enttäuscht wurden; und auch Occupy konnte seine hehren Ziele einer gerechteren Welt nicht flächendeckend implementieren. Gerade gegen den vielfach geäußerten Wunsch messbarer Veränderung zeigen die dargelegten Beispiele allerdings durchaus, wie sich konkrete Veränderungen weniger an einer tatsächlichen Umsetzung von Protestzielen festschreiben, sondern an einer Intensivierung sozialer Bezüge durch die Erfahrung des Chorischen. Die besondere Qualität der Beispiele entstand folglich dadurch, dass sie statt ergebnisorientiert situativ und akteurszentriert waren. Mit Hilfe Rosas Resonanztheorie lässt sich den subkutanen Veränderungen nachspüren, die sich weniger unmittelbar, sofort oder zeitnah entäußerten, sondern die Beteiligten durch die gemeinsamen Erlebnisse, die selbstbestimmten und selbstreflexiven Konstitutionsleistungen des Chorischen verändert haben. Bei diesen Veränderungen handelt es sich um unterschwellige Erfahrungsdimensionen, die als Sensibilisierungen die Fähigkeit der wechselseitigen Einfühlung und Perspektivübernahme betreffen. Resonanz zuzulassen stellt aktuell eine umso größte Herausforderung dar, da „gesellschaftliche und politische Gruppierungen in zunehmendem Maß eigene, völlig isolierte mediale Realitäten schaffen, die den sachlichen politischen Austausch erschweren.“5 Im Kampf gegen die hegemoniale Ideologie eines rugged individualism besteht ihre Leistung darin, andere Wahrheiten völlig zu akzeptieren, ohne die eigene Wahrheit dabei relativieren zu müssen. Die Valenz dieses gesteigerten Verständnisvermögens, der Erfahrung der Selbstdistanzierung und Intensivierung menschlicher Bezüge ist allerdings kaum messbar. Gleichwohl kann Resonanz als Differenzierungsmerkmal für die Bewertung performativen Protesthandelns herangezogen werden. Denn natürlich bildet sich der Erfolg politischer Protestbewegungen auch daran ab, inwiefern sie Gleichheitsgrundsätze inkorporieren, sprachlich Rechte ausüben oder mit Körpern politische Forderungen aufstellen. Da dieses Vorgehen nicht für liberale Akteur*innen reserviert ist, sondern gleichermaßen von extremistischen Gruppierungen mit unmittelbar anderen politischen Bewertungen angewandt werden kann, gilt es resonanzerzeugende Aspekte im Blick zu behalten, die durch die Betonung wechselseitiger Antwortverhältnisse eine Differenzierung zwischen repressiv-autoritären und heterogen, pluralistisch strukturierten Bewegungen ermöglichen. So kann Wirksamkeit eben auch daran abgelesen werden, dass es wie im ägyptischen Protestbeispiel gelingt, Allianzen zu bilden und so sichtbar zu werden, dass die massive Entrechtung anderer nicht mehr kaschiert werden kann. Wo die Selbstbestimmung in Kombination mit Solidaritätsnetzwerken dazu führt, dass der Blick für die Ausgegrenzten und den Schutz von Minderheiten nicht verloren geht, erscheinen temporäre Kohabitationen als Möglichkeitsmodell, um eigene Horizonte zu erweitern. Auch im Kontakt mit anderen, die nicht der gleichen Meinung sein müssen, erleichtern chorische Kommunikationsformen, sich anderen Ideen zu öffnen. Mit dem Akzent auf das Chorische rücken Rezeptivität und Sensibilität ebenso wie die Erkenntnis in den Fokus, dass eigene Grenzen nicht nur eingrenzend, sondern auch angrenzend sein können. Der Modus dieser Relationalität kann dabei helfen,
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Eckart Conze, „Das alte Weimarer Drama?“, in: DIE ZEIT vom 30.11.2017.
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ethische Beziehungen wiederzuentdecken, die der Individuation vorausgehen. Auch jene Matrix wechselseitiger Beziehungen, die sich in vielfältigen Initiativen, fortdauernden Solidaritätsbekundungen und Projekten neuerlicher Selbstverwaltung insbesondere in Europa infolge der Krisen in Spanien und Griechenland ausdrückt, kann als eine Kritik am Postmarxismus und seiner Ontologie des Politischen begriffen werden. Gegen die von Laclau und Mouffe konstatierte Verewigung des Konflikts liegt die Nachhaltigkeit des Chorischen nicht in der Sabotage der Versöhnung begründet. Chorische Protestverfahren begreifen Streitbarkeit allein noch nicht als emanzipatorischen Gewinn, sondern animieren Strategien, die das Nachvollziehen, die direkte Bezugnahme, den Dialog und konsensorientierte Verständigungspraktiken in den Blick nehmen und damit „die Ungewähltheit des offenen und pluralen Zusammenlebens erhalten und bekräftigen.“6 Die Frage des Erfolgs politischer Bewegungen erscheint schließlich dort wesentlich komplexer, wo die Bewertungskriterien messbaren Erfolgs alten Leistungskriterien entspringen und es ja gerade der unweigerlich kurzlebige Charakter und die Flüchtigkeit der Proteste sind, die eng mit ihrer kritischen Funktion verknüpft sind. Wo kein ungehinderter Zugang zu öffentlichen Sphären besteht, sollte bereits die Selbstkonstitution pluraler politischer Akteur*innen in staatlich regulierten Öffentlichkeiten als ein Erfolg angesehen werden. Das Regime gehinderten Erscheinens durch Versammlungen zu durchbrechen, die verkörperte Formen der Infragestellung herrschender Vorstellungen anbieten, kann als ein Beitrag angesehen werden, um politisch signifikante Ereignisse zu erschaffen. Widerstand entäußert sich dann als Durchdringung von Machtstrukturen und als Auftrag, diese im Vollzug der eigenen Handlungspraxis nicht zu reproduzieren, sondern als Ansatzpunkt für ihre mögliche Überwindung ein Bewusstsein für strukturelle Gewalt zu schaffen. Statt sich selbst zu ermächtigen und eigene Themen im politischen Wettbewerb über die anderer zu stellen, gilt als vordringliche Aufgabe, an der Gleichberechtigung konkurrierender Ideen zu arbeiten. Der politische Mehrwert steht allerdings gerade zur Disposition, wenn die Durchsetzung von Interessen schon im Vornherein auf Kosten benachteiligter Gruppen erfolgt. Wer dagegen das Ziel einer egalitären gesellschaftlichen Ordnung verfolgt, sollte von dem Anspruch, der Verantwortung, letztlich einer politischen Ethik angetrieben sein, sich auch die massive Entrechtung anderer zu eigen zu machen. Ausgangspunkt einer Praxis politischen Handelns sollte sein, die Existenz von Machtverhältnissen und damit spezifische Formen der Herrschaft zu akzeptieren. Nicht die Negation oder das Verschleiern, sondern das Bewusstsein für Hierarchien, die Unterwerfung einschließen, kann dazu führen, strukturelle Umgestaltungen vorzunehmen, die normative Ungerechtigkeiten beseitigen. Während es in früheren Protestbewegungen darum ging, politische Forderungen zu platzieren, um breite Aufmerksamkeit für die eigenen Ziele zu erzeugen, nutzen Protestierende zu Beginn des 21. Jahrhunderts Verfahren chorischer Abstimmung stärker dazu, um eindeutige Vorgaben politischer Praxis in Frage zu stellen. Die chorische Protestpraxis der Occupy-Bewegung positioniert sich daher ebenso wie Aktionen des „Stillen Widerstands“ deutlich als Kontrapunkt zu den Identitätsdiskursen
6
Butler, Theorie der Versammlung, S. 150.
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und bürgerlichen Protestbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Indem chorische Protestformen vielfach selbst Fragen der Macht, des Zugangs, der Beteiligung, Gleichberechtigung und Mitwirkung auslösen, können sie sich viel konstruktiver mit normativen Beschränkungen auseinandersetzen. Formationen wie die „Bürgerchöre“, die auf politische Geschlossenheit und Einheit setzen, scheinen dieser Tradition weniger zu entkommen. Dabei vergegenwärtigt das demonstrative Spiel zwischen der Erzeugung von Präsenz und Absenz exemplarisch, wie zunehmend anti-identitäre und zerstreuende Protestformen des Chorischen letztlich auch auf die Abwesenheit von Gewissheiten verweisen. Auf diese Weise entstehen Darstellungs- und Artikulationsformen von Protest, die kollektives Zeigen neben den gleichzeitigen Entzug jedweder Autorenschaft stellen. Während ältere Pluralismustheorien von der Vorstellung geprägt sind, dass alle gesellschaftlichen Interessen die gleichen Zutrittschancen zur politischen Arena haben, ist heute klar, dass dieses Verständnis ein herzustellendes Ideal bleibt, für das nicht nur im Rahmen von Protesthandlungen, sondern in alltäglichen Kämpfen gefochten werden muss. Wenn Protestierende zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine gezielten Interessen mehr durchzusetzen, es vermeiden um Anerkennung oder Zustimmung zu kämpfen und sich antagonistischen Konfrontationen entziehen, dann gerät die Wirksamkeit dieser scheinbar schwachen Form des Widerstands umso mehr auf den Prüfstand. Anders gefragt: Was tritt an die Stelle des Identitären? Die Beantwortung, was konkret an die Stelle identitätspolitischer Kämpfe tritt, entzieht sich zu diesem Zeitpunkt einer raschen Kategorisierung. Wenngleich sich die Suche danach weiter fortsetzt, hat diese Untersuchung eruiert, welche politischen Potenziale sich damit verbinden. Wenn sich der Chor zum Chorischen auflöst, hat das unmittelbare Konsequenzen für die Lokalisierung von Gegner*innen. Wo klare Kontrahent*innen fehlen, erscheint der Chor als probates Protestmittel, das auf dem antagonistischen Modell einer eindeutigen Identifizierung von Gegner*innen fußt, zunehmend inadäquat. Während Vertreter*innen eines Politikmodells nach Carl Schmitt, das auf dem Freund-Feind-Schema basiert, darin eine Entpolitisierung entdecken, möchte ich darin abschließend die Gelegenheit betonen, nicht mehr in den Bereich der Politik vordringen zu müssen, sondern das Politische selbst zu refokussieren. Das Widerständige dieser Position ist nicht in der punktuellen Härte einer konkreten Konfrontation oder der Definitionsmacht pluraler Akteur*innen vorzufinden, sondern in der Ausdehnung ihrer Diskursivität. Die Befreiung vom Zwang, definieren zu müssen, was eine politische Bewegung ist und welche Ziele sie verfolgt, ermöglicht den Fokus darauf zu setzen, was sie unternimmt und damit bereits verändert. Neben der Neubewertung des bereits Vorhandenen rücken im kleinen Rahmen so Prozesse der Konsensfindung in den Blick. Dabei stellt sich heraus, dass das konkret Verfügbare als gestaltbar erscheint. In der Sondierung politischer Prozesse und der Selbstreflexivität von Akteur*innen drückt sich ein neues Machtverständnis aus, das unmittelbare Folgen für eine veränderte Deutung des Widerstandsbegriffs hat. Erst indem man Fehler nicht bei anderen sucht, sondern sich selbst in der Gemeinschaft thematisiert und als konstitutiven Teil des politischen Prozesses versteht und erfährt, wird es möglich, sich einer Ethik der Gleichberechtigung tatsächlich anzunähern. Statt richtiges Handeln allein für sich in Anspruch zu nehmen und nur eigene Überzeugungen zu äußern, geht es darum, Perspektivwechsel zuzulassen; statt
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falsche Verhältnisse lautstark zu kritisieren, darum, das eigene Handeln zu beobachten und achtsam dafür zu sein, dass sich Unrecht in der eigenen Praxis nicht wiederholt. Dieses Vorgehen schließt ein, nicht zwangsläufig immer produktive Beiträge oder ästhetisch anmutende Formen hervorzubringen. Dennoch kann die ermüdende Zähheit dieser Auseinandersetzungen für den politischen Prozess selbst jedoch vitalisierend wirken. Das Politische widerständigen Protesthandelns sollte heutzutage daher nicht mehr nur in Form unerbittlicher Streitbarkeit entdeckt werden. Dagegen erkennen politische Akteur*innen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dass es nicht genügt, nur die Symbolpolitik vermeintlicher Gegner*innen zu kritisieren. Politische Fragen anzusprechen oder über Politik zu sprechen, führt nicht automatisch politisches Handeln herbei. Viel eher setzt sich die Erkenntnis durch, notwendigerweise das, was das Politische konkret ausmacht und mit ihm wirksam werden soll, in der eigenen Praxis des Protestierens und damit durch die Formen des Protests selbst zu reflektieren. Proteste haben in dieser Hinsicht den Auftrag, die praktische Handlungsfähigkeit weiter Teile der Gesellschaft nicht nur abzubilden, sondern zu fördern, indem sie die erfolgsversprechende Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen ermöglichen. Dieser Anspruch setzt schlussendlich voraus, dass sich Protestierende nicht als geschlossene Gruppierungen oder identitäre Gemeinschaften entwerfen, sondern anders Denkende akzeptieren, in Austausch mit ihnen treten und als Bereicherung für den politischen Meinungsbildungsprozess entdecken. Protestchöre operieren mit dem Versprechen, Menschen wieder hörbar zu machen und die Beziehungen zwischen Bürger*innen wieder resonant werden zu lassen. Um schließlich ein Wiederklingen, Zurücktönen und Weiterschwingen zu ermöglichen, sollten sie es allerdings vermeiden, sich als Echokammern geschlossener Gemeinschaften zu inszenieren, die keinerlei Interesse an Antwortbeziehungen offenbaren. Die Qualität des Chorischen arbeitet gegen die Aufhebung von Vielfalt infolge identitären Einklangs. Sie kann vitale Resonanzsphären entsprechend nur dann herstellen, wenn sie nicht den Gleichklang oder die Harmonie privilegiert, sondern den prozesshaften Austausch mannigfaltiger Bewegungen und vielfältiger Antwortbeziehungen. Auf diese Weise verdeutlichen Protestchöre letztlich, dass Demokratie nie nur ein Aushandeln von Interessenkonflikten sein kann, sondern einen kontinuierlichen Prozess darstellt, der sich auch zukünftig der Sensibilisierung für die Vielfalt von Stimmen, Perspektiven und unterschiedlichen Weltsichten widmen muss.
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Danksagung
Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im Fach Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin im Dezember 2017 verteidigt habe. Der Großteil des Textes ist entstanden während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Forschungskolleg „Verflechtungen von Theaterkulturen“. Die Arbeit hat von der offenen Forschungssituation am Kolleg, den vielen Begegnungen und dem kontinuierlichen Austausch mit einer Vielzahl von Forscher*innen, Kolleg*innen, Künstler*innen und Gastwissenschaftler*innen maßgeblich profitiert. Mein besonderer Dank gilt neben dem Bundesministerium für Bildung und Forschung als Mittelgeber den Direktor*innen der Einrichtung, namentlich Erika Fischer-Lichte und Matthias Warstat für ihre fachliche Betreuung und Gutachtertätigkeit. Christel Weiler bin ich verbunden durch unsere gemeinsame Lehrtätigkeit ebenso wie für ihre wichtigen konzeptionellen Hinweise und Anregungen, direkte Worte und Inspiration. Neben den vielen Fellows, die durch ihr Forschen am Center und ihr Interesse an meiner Arbeit unweigerlich neue Denkanstöße und Perspektivwechsel eröffnet haben, möchte ich im Besonderen meinen Kolleg*innen aus dem Kolleg Torsten Jost, Holger Hartung, Antje Paul, Astrid Schenka und Florian Thamer für das Vertrauen, die Unterstützung und unsere Zusammenarbeit danken. Klaus-Peter Köpping gebührt die Ehre, uns alle zu einem kollegsinternen Colloquium versammelt zu haben. Mit außerordentlichem Engagement und leidenschaftlichem Interesse an unseren Projekten ermutigte er uns, Arbeitsstände und (auch unfertige) Ideen in der Gemeinschaft zu diskutieren. Ich möchte allen Teilnehmer*innen danken, denn der produktive Streit um die Sache hat ein kontinuierliches Überdenken meines eigenen Ansatzes ermöglicht, zusätzliche Referenzen beigesteuert oder neue Bezugsebenen eröffnet. Ich danke der Summer School Epidauros und stellvertretend Platon Mavromoustakos als Organisator des European Network of Research and Documentation of Performances of Ancient Greek Drama für die Möglichkeit, erste Ideen dieser Arbeit in einer sehr offenen und konstruktiven Workshop-Situation vor internationalen Forscher*innen vorstellen zu können. Khalid Amine und Hasibe Kalkan Kocabay danke ich für ihre Einladungen zu internationalen Konferenzen und die Möglichkeit, meine Thesen frühzeitig einer internationalen Forschungsgemeinschaft präsentieren zu können. Claudia Daseking danke ich für das beharrliche Sammeln von Zeitungsartikel globaler Protestereignisse. Ebenso danke ich Rashad Idris für seine Übersetzungshilfe von arabischen Facebook-Posts. Ich danke dem transcriptVerlag und stellvertretend Gero Wierichs für die reibungslose und konstruktive Zusammenarbeit. Besonders herzlich danke ich Jens Kohlmeier für unsere langjährige
Freundschaft, viele wertvolle Gespräche auf „unserer“ Bank, sein kluges Korrektorat und das aufwendige und kreative Lektorat, das neben stilistischen Finessen auf detektivische Weise treffsicher auch inhaltliche Ungenauigkeiten aufdeckte. Ebenso erkenntlich möchte ich mich bei lieben Menschen zeigen, die dieses Projekt in den letzten Jahren auf ihre je eigene Weise und durch viele unterstützende Gedanken mitgetragen haben: Anne Ahrens, Antje Buchholz, Madeleine Kreutzmann, Friederike Letzin und Jenny Löffler. Meinen Eltern und Geschwistern gilt besonderer Dank für den Rückhalt, ihre beherzte Hoffnung und ungetrübte Zuversicht. Besonders herzlich danke ich meiner Schwester Katharina Donath für das Lesen des Manuskripts, ihre Stärke und ihren unerschütterlichen Beistand. Ich möchte dieses Buch meiner Großmutter Christa Löffler widmen, die mich frühzeitig für das Theater begeisterte und deren Leidenschaft, Güte und Großherzigkeit dieses gesamte Projekt umspannt. Schließlich gilt mein aufrichtiger Dank dem Menschen, der all die Zeit ganz dicht dran war und es trotz Entbehrungen geblieben ist. Von ganzem Herzen danke ich Matthias Kühne für seine Kraft, Ausdauer und Rücksichtnahme. Sein funkelndes Lächeln und seine Liebe waren zugleich Antrieb und Aussicht auf einen zweiten Frühling, der jetzt zusammen beginnt.
Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)
Choreografischer Baukasten. Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3186-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3
Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)
Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche Oktober 2017, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1
Sabine Karoß, Stephanie Schroedter (Hg.)
Klänge in Bewegung Spurensuchen in Choreografie und Performance. Jahrbuch TanzForschung 2017 Bd. 27 Oktober 2017, 234 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3991-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3991-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater- und Tanzwissenschaft Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)
Re/produktionsmaschine Kunst Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten August 2017, 408 S., kart., Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3684-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3684-4
Katharina Rost
Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance April 2017, 412 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3250-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3250-1
Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)
Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016, Bd. 26 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de