Protestantismus und Neutralisierung: Die Begründung der Republik aus dem Geist der Reformation unter Verweis auf Martin Bucer [1 ed.] 9783428550760, 9783428150762

Identitätsbehauptungen setzen zentrifugale Kräfte frei, die die offenen Gesellschaften westlicher Prägung zunehmend reli

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German Pages 255 Year 2017

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Protestantismus und Neutralisierung: Die Begründung der Republik aus dem Geist der Reformation unter Verweis auf Martin Bucer [1 ed.]
 9783428550760, 9783428150762

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 189

Protestantismus und Neutralisierung Die Begründung der Republik aus dem Geist der Reformation unter Verweis auf Martin Bucer

Von Mathias Eichhorn

Duncker & Humblot · Berlin

MATHIAS EICHHORN

Protestantismus und Neutralisierung

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 189

Protestantismus und Neutralisierung Die Begründung der Republik aus dem Geist der Reformation unter Verweis auf Martin Bucer

Von Mathias Eichhorn

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-15076-2 (Print) ISBN 978-3-428-55076-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-85076-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Milton Aylor, von 1975 bis 2003 Pfarrer in der Deutsch-Reformierten Gemeinde in Frankfurt, gewidmet

Inhaltsverzeichnis Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 A. Staat und Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Semantische Vorüberlegungen im Hinblick auf das Ziel der Unter­ suchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vergesellschaftung und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erfahrungen des Exodus – Politische Rede und Revolution . . . . . . . 2. Tugend und Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ordnung versus Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Unzulänglichkeit der Vernunft als einer Grundlage für republi­ka­ nisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Republik und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Unzulänglichkeit der Ethik als Grundlage für das republika­ nische Selbstverständnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Protestantisches Freiheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freiheit und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schriftprinzip und Freiheit der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der Streit um das Abendmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wort und Sakrament als Handlungslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Eucharistie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Luther und Zwingli schließen keinen Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Martin Bucers Vermittlung als Neutralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Martin Bucers Theologie vom Heiligen Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bucers Verständnis der leiblichen Anwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Kompromiss in Kassel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bucers Verständnis von Häresie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Kompromiss und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Politische Strategie im republikanischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18 18 48 48 60 64 75 95 95 101 107 120 133 133 141 150 161 161 167 175 177 187 198

C. Sachlichkeit und Loyalität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 I. Webers zwiefacher und entsprechend zwiespältiger Sachlichkeits­ begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 II. Republikanische Loyalität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

Einleitung Antiliberales Ressentiment ist unter Intellektuellen heute wieder weit verbreitet. Es scheint im Hinblick auf eigene Profilbildung attraktiv zu sein, weil die Gegner und Feinde des Liberalismus wohl glauben, selber liberale Toleranz erwarten und einfordern zu können, wenn sie sich antili­ beral gebärden. Wirkt da noch das Bild nach, das Carl Schmitt von den Liberalen unter Berufung auf Donoso Cortés gemalt hat, nämlich dass sie sich vor Entscheidungen drückten und lieber endlos debattierten, als sich entschlossen in Konflikte zu begeben, mit anderen Worten: dass von ihnen keine wirkliche Gefahr ausgehe?1 Frühere Feinde des Liberalismus, deren Kritik sich in materielle Gewalt transformierte, sobald sie die Massen er­ griff, bestanden nach ihrem Scheitern nicht selten auf liberaler Rücksicht­ nahme, wenn nicht sogar auf Amnestie. Bekanntlich hat Carl Schmitt, der den liberalen Rechtsstaat nach 1933 bedenkenlos dem Machtanspruch der Nationalsozialisten geopfert sehen wollte, nach dem Zusammenbruch des politischen Kontextes seines konkreten Ordnungsdenkens, als man ihn ju­ ristisch zur Verantwortung ziehen wollte, gegenüber seinen Anklägern für sich und andere Gesinnungs- und Tatgenossen rechtsstaatliche Behandlung angemahnt.2 Gemeinhin gilt: Wer sich politisch entweder als konservativ oder als linksrevolutionär betrachtet, teilt in der überwiegenden Zahl der Fälle libe­ rale Grundsätze, wenn es um ihn selber geht. Wer will schon ohne den Rechtsstaat leben, der notwendig einer demokratischen Kontrolle bedarf und Sozialstaat sein muss, soll er im Sinne von Rudolf Smend integrieren und nicht Teile der Bevölkerung von der politischen Teilhabe ausschließen, was 1  U. a. in: Der unbekannte Donoso Cortes (Schmitt 1988), vgl. aber auch Schmitt 1979a, S.  75 ff. 2  Vgl. hierzu auch seine Argumentation gegen den Rechtsstaat von 1935, wo es heißt: „An die Stelle des gerechten Grundsatzes ‚nullum crimen sine poena‘ tritt der positivistisch-gesetzesstaatliche Satz ‚nulla poena sine lege‘, der erst in dem indivi­ dualistischen, aufklärerischen Denken des 18. Jahrhunderts entstanden ist“, verbun­ den mit dem Hinweis auf von Liszt, der diesen Grundsatz als Magna Charta des Verbrechers bezeichnet habe (Schmitt 1995, S. 115 f.). Hinsichtlich des von den Al­ liierten zur Anklage gebrachten Tatbestands der Führung eines Angriffskriegs argu­ mentierte Schmitt dann nach 1945 unter Berufung auf gerade diesen Grundsatz (Schmitt 1994). Nicht unerwähnt sollte auch sein nach 1945 geschriebenes Plädoyer für Amnestie sein (Schmitt 1995, S. 218 f.).

10 Einleitung

politische und ökonomische Risiken mit sich brächte?3 Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit sind keine Module, die heute dauerhaft für sich be­ stehen könnten. Die so genannten Volksdemokratien des Sozialismus haben als Sozialstaaten ohne Rechtsstaatlichkeit nicht zu überdauern vermocht, und das nationalsozialistische Deutschland war Sozialstaat ohne eine Spur von Rechtsstaatlichkeit.4 Reine Sozialstaaten, letztlich alle Gesellschaften ohne Rechtsstaatlichkeit, betreiben Raubökonomie an Teilen der eigenen Bevölkerung und an der Natur. Wenn die heimischen Ressourcen aufge­ braucht sind, greifen sie zu den Mitteln des Imperialismus bzw. des Krieges, wenn es in ihrer Macht liegt.5 Heute geschieht das in zunehmendem Maße über asymmetrische oder hybride Kriegführung. Dauer und Stabilität sol­ cher Systeme haben jedoch deutliche Grenzen. Im liberalen Verständnis hat der Rechtsstaat einen Vorrang gegenüber dem Sozialstaat. Rechtsstaat und Sozialstaat sind aber im Kontext der wirtschaft­ lichen Voraussetzungen, wie sie sich seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert und spätestens nach dem Ersten Weltkrieg in den westlichen Ge­ sellschaften herausgebildet haben, trotzdem wie zwei Seiten ein und dersel­ ben Medaille. Sie bilden für diese Gesellschaften die politische Form, ihre Prägung. Um im Bild zu bleiben: Der Stoff dieser Medaille ist die Ökonomie, 3  Auf Rudolf Smends Verfassung und Verfassungsrecht (in: Smend 1955, S. 119 ff.) wird im Folgenden immer rekurriert, wenn von Integration die Rede ist. Dem steht die politische Identitätssuche durch Exklusion gegenüber, für die Carl Schmitt mit seiner Explikation des Politischen steht, es sei die Unterscheidung zwischen Freund und Feind. 4  Hier sei auf die Forschung von Götz Aly hingewiesen, besonders sein Buch über die Sozialstaatlichkeit von 1933 bis 1945 (Aly 2005). 5  Adam Tooze hat in seinem Buch über die Ökonomie des Nationalsozialismus aufgezeigt, dass das nationalsozialistische Deutschland die USA als den eigentlichen Gegner betrachteten. Damit hätten sich im Zweiten Weltkrieg eigentlich zwei Wirt­ schaftskonzepte gegenübergestanden, nämlich auf der einen Seite Raubökonomie über Imperialismus, auf der anderen Seite das Konzept des Freihandels mit dem Anspruch, freie Zugänge zu Märkten zu sichern: „Das Originäre am Nationalsozia­ lismus war, dass er sich nicht kleinlaut bereit zeigte, sein Land einer ökonomischen Weltordnung unterzuordnen, die von wohlhabenden englischsprachigen Staaten do­ miniert wurde. Hitler wollte sich vielmehr die aufgestauten Frustrationen seines Volkes zunutze machen, um dieser Ordnung Paroli zu bieten. Damit das gelänge, sollte sein Land letztlich nichts anderes tun, als es die Europäer im Laufe der ver­ gangenen drei Jahrhunderte in aller Welt getan hatten, nämlich sein eigenes imperi­ ales Hinterland abzustecken. Mit einem letzten gewaltigen Griff nach Land im Osten sollte sich das Reich die Grundlagen für wirtschaftliche Unabhängigkeit und Wohl­ stand verschaffen und die notwendige Plattform erwerben, um im bevorstehenden Wettkampf der Großmächte mit den Vereinigten Staaten obsiegen zu können.“ ­(Tooze, S. 15 f.). Die Auffassung, dass der Westen der eigentliche Gegner des natio­ nalsozialistischen Deutschland war, wird nicht zuletzt von Carl Schmitt in zahlrei­ chen Veröffentlichungen bestätigt.

Einleitung11

marxistisch gesprochen die gesellschaftliche materielle Grundlage. Im vorlie­ genden Fall ist es der Kapitalismus. Anders aber, als der Marxismus es ver­ meint, bedingt diese gesellschaftliche Basis keine Rechtsform, sondern hat selber die rechtlich anerkannte und geschützte Unterscheidung zwischen Ei­ gentum und Besitz als Voraussetzung. Sie geht auf die Unterscheidung von dominium und possessio im römischen Recht zurück. Von Kapitalismus ist zu reden, wenn in den Produktionsverhältnissen vorherrscht, dass Eigentum und Besitz auseinanderfallen, d. h. dass die Eigentümer nicht über ihr Eigentum verfügen, sondern anderen zur Verfügung stellen, ohne dass sie damit ihre Eigentümerrechte aufgäben. Kapitalismus ist wesentlich Kreditwirtschaft. In­ dem der Staat nun als Rechtsstaat die gegenseitigen Rechte von Eigentümern und Besitzern auch gegenüber seinen eigenen Zugriffsmöglichkeiten schützt, sich also selber in den Arm fällt und dem Recht unterwirft, sorgt er für seine eigene Voraussetzung und erhält sich dadurch selbst. Staat in diesem Sinne, sofern er auf Voraussetzungen beruht, die er selber schafft und erhält, heißt in der vorliegenden Untersuchung Republik.6 Es ist misslich, im Zusammenhang mit dem Verständnis von Republik, wie es sich in der Neuzeit herausgebildet hat, überhaupt noch von Staat zu sprechen. Staat und Republik gilt es eigentlich zu unterscheiden. Strenggenommen kann überhaupt nur von den politischen Formationen der internationalen Beziehungen in Europa seit dem Westfälischen Frieden bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von Staaten gesprochen werden. Jürgen Oster­ hammel begreift schon die europäischen Großmächte des neunzehnten Jahrhunderts nicht mehr als Staaten, sondern als miteinander rivalisierende Imperien.7 Wenn hier von Republik die Rede sein soll, dann ausschließlich im neuzeitlichen Sinn als einem sich selbst regierenden politischen Gemein­ wesen, das für sich selber einzustehen hat und auf keine Ressourcen irgend­ welcher Art zurückgreifen kann, die es nicht selber zu generieren hätte. Die Republik beruht primär auf dem republikanischen Willen zur republikani­ schen Verfassung, der, und leider kann man in diesem Zusammenhang nicht auf den Staatsbegriff verzichten, als demokratischer Rechts‑ und Sozialstaat institutionalisiert ist.8 6  Ernst-Wolfgang Böckenfördes berühmte Bemerkung lautet: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (Böckenförde, S. 112). Republik unterschiede sich vom Staat dahingehend signifikant. 7  Am Ende des Krimkrieges sei die Chance vertan worden, eine europäische Ordnung analog zu der auf dem Wiener Kongress vereinbarten einzurichten: „Wo sind nun die Nationalstaaten, die angeblich die Signatur des 19. Jahrhunderts ausma­ chen? Ein Blick auf die Weltkarte zeigt eher Imperien als solche Nationalstaaten.“ (Osterhammel, S. 583). 8  Strenggenommen sind lediglich Republiken Rechtsstaaten, in denen die politi­ sche Verwaltung als juristische Person belangt werden kann. Wenn die Unabhängig­

12 Einleitung

Nun ist Republik nicht ohne staatliche Verwaltung zu denken, während umgekehrt Staaten nicht republikanisch zu sein brauchen. Darin liegt die Gefahr, dass auch in Republiken sich das, was in ihnen Staat ist, in den Vordergrund schiebt. Anders als der Staat, der als Substanz gedacht wird, ist die Republik Prozess, der ins Stocken geraten und sogar ganz aufhören kann. Die Unterscheidung zwischen kommissarischer und souveräner Dik­ tatur, die Carl Schmitt unternommen hat, ist nur im republikanischen Kon­ text sinnvoll.9 Denn alle anderen Verfassungsformen bedürfen im Fall des Ausnahmezustands, wenn sie in wesentlichen Teilen oder in Gänze in Frage gestellt werden, keiner zeitweisen Suspendierung im Interesse ihres Erhalts. Insofern gilt für den Fall der Suspendierung der republikanischen Verfas­ sung sowohl in Teilen als auch im Ganzen, wenn es im Interesse ihrer Er­ haltung geschieht, dass für die Funktionäre dieser kommissarischen Diktatur der Wille zur republikanischen Verfassung handlungsleitend sein muss. Der Ausnahmezustand, darin ist Carl Schmitt im Recht, kann juristisch über allgemein anerkannte Verfahren nicht geregelt werden. Die Republik basiert auf dem Willen zur Republik. Sie ist nichts anderes als der institutionell aufrechterhaltene und damit behauptete Wille zur republikanischen Verfas­ sung. Republikanische Wachsamkeit ist auch geboten, wenn der Ausnahme­ zustand nicht unmittelbar droht. Neben der kommissarischen und der sou­ veränen Diktatur muss die schleichende Diktatur als eine Variante der souveränen Diktatur in Betracht gezogen werden, die nichts anderes ist als die unmerkliche, aber stetige Verstaatlichung der Republik. Das Recht auf Eigentum, das die Republik nicht nur anzuerkennen hat, sondern das zu garantieren ihren eigentlichen Daseinszweck ausmacht, ist das individuelle Menschenrecht schlechthin, aus dem sich alle anderen Menschenrechte ableiten lassen. Das hat Karl Marx klar erkannt. Er schreibt in seiner Schrift Zur Judenfrage über die rechtlich betrachtet individualisier­ ten Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft: „Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatin­ teresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person.“10 keit der Justiz nicht gegeben ist, kann sinnvoll nicht von Rechtsstaat gesprochen werden. 9  Schmitt unterschied die kommissarische Diktatur, die zeitweise eine Verfassung suspendiert, um ihren Bestand zu sichern, von der souveränen Diktatur, die eine neue Verfassung durchsetzen will. Beispiel für erstere sind die Diktatur in der römi­ schen Republik und die Bestimmungen des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung. Ein Beispiel für die souveräne Diktatur ist die Jakobinerherrschaft während der Französischen Revolution. „Die souveräne Diktatur sieht nun in der gesamten beste­ henden Ordnung den Zustand, den sie durch ihre Aktion beseitigen will. (…) Sie beruft sich also nicht auf eine bestehende, sondern auf eine herbeizuführende Ver­ fassung.“ (Schmitt 1978, S. 137). 10  Marx (1981), S. 366.

Einleitung13

Marx zeigt sich verwundert darüber, dass in der kapitalistischen Gesellschaft der Mensch als citoyen dem bourgeois sogar dienstbar gemacht werde: „Endlich gilt der Mensch, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist, für den eigentlichen Menschen, für den homme im Unterschied von dem citoyen, weil er der Mensch in seiner sinnlichen individuellen nächsten Existenz ist, während der politische Mensch nur der abstrahierte, künstliche Mensch ist, der Mensch als eine allegorische, moralische Person“,11 und schließt dann: „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt (…), in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‚forces propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat, und daher die poli­ tische Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die politische Emanzipation vollbracht.“12 Damit wird die Vergesellschaftung der Einzelnen als politische Emanzi­ pation ausgegeben. Wie das konkret zu verstehen ist, führt Marx an keiner Stelle aus. Die Freiheit verliert er aus dem Blick. Anders Hegel, der im § 4 seiner Rechtsphilosophie die Freiheit als die Substanz der Person versteht und im weiteren Verlauf die Unterscheidung zwischen Personen­‑ und Sa­ chenrecht zurückweist und das Personenrecht als Sachenrecht auffasst: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige, und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Subs­ tanz und Bestimmung ausmacht“,13 was dann in § 40 so weiter ausgeführt wird, dass das „persönliche Recht wesentlich Sachenrecht ist, – Sache im allgemeinen Sinne als das der Freiheit überhaupt Äußerliche, wozu auch mein Körper, mein Leben gehört.“14 Das Recht auf Eigentum an sich selber begründet die Rechtphilosophie und das Freiheitsverständnis Hegels, das auch als Legitimation der sozialen Daseinsvorsorge zu dienen vermag. Der Rechtsstaat garantiert jenen, deren Eigentum sich wesentlich auf ihre Arbeitskraft beschränkt, Rechte gegen­ über den Besitzern ihrer Arbeitskraft, besonders das Koalitionsrecht. Der rechtsstaatlich begründete Sozialstaat garantiert darüber hinaus soziale Si­ cherheit als Freiheitssicherung. 11  Marx

(1981), S. 369. (1981), S. 370. 13  Hegel (1955), S. 28. Hegel verweist in diesem Zusammenhang auf die empiri­ sche Psychologie, die den freien Willen aus Gemütsbewegungen wie Reue oder Schuld ableite, schreibt aber dann kurzerhand, „daß die Freiheit als eine Tatsache des Bewußtseins gegeben sei und an sie geglaubt werden müsse.“ (Hegel 1955, S. 29). Hegel setzt nicht den Willen voraus, dem Intelligenz und Denken folgen, sondern umgekehrt: Der Geist sei zunächst Intelligenz. 14  Hegel (1955), S. 54. 12  Marx

14 Einleitung

Freiheit lässt sich im Kontext der Rechtsphilosophie Hegels nicht als eine existenzielle Möglichkeit des Daseins verstehen, für die oder gegen die man sich entscheiden könnte, sondern als eine existenziale Bestimmung. Sie ist darum auch kein Wert neben anderen Werten, sondern Prinzip der bürgerli­ chen Gesellschaft und ihrer republikanischen Verfassung. Die Unterschei­ dung zwischen Eigentum und Besitz und die staatliche Zusicherung des Rechts auf Eigentum, schließlich die rechtliche Regelung der widerstreiten­ den Interessen von Eigentümern und Besitzern, bilden die gemeinsame Grundlage von Wirtschaft, Gesetzgebung und öffentlicher Verwaltung im Rahmen einer Republik im modernen Sinn und haben prinzipiellen Charak­ ter. Von daher erklärt es sich, dass im republikanischen Binnenverhältnis Konflikte wesentlich nur Interessenkonflikte sein können, die es auszuglei­ chen und zu vermitteln gilt, und die sich als Interessenkonflikte auch ent­ sprechend ausgleichen und vermitteln lassen. Das gilt für Wertekonflikte ebenfalls. Werte liegen auf der gleichen Ebene mit Interessen. Letztlich sind Werte nichts anderes als Rechtfertigungen für Interessen, die als besonders gewichtig empfunden werden. Die Republik lässt Werte‑ und Interessenkon­ flikte nicht nur zu, sie ermöglicht sie sogar, aber nur im Rahmen der Aner­ kennung der Prinzipien von Freiheit und Rechtsgleichheit. Anerkennungs‑ und Identitätskonflikte können Republiken nicht dulden, außer um den Preis ihrer eigenen Selbstaufgabe.15 Der Wertbegriff birgt allerdings ein politisch gefährliches Potential: Carl Schmitt hat Nicolai Hartmanns Bemerkung über die Tyrannei der Werte aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass wer Werte setze, sich gegen Unwerte absetzen wolle, d. h. dass der Wertbegriff eine Freund-Feind-Unter­ scheidung zu verabsolutieren drohe. „Die grenzenlose Toleranz und Neutra­ lität schlägt sofort in ihr Gegenteil, in Feindschaft um, sobald es mit der Durchsetzung und Geltendmachung konkret ernst wird. Der Geltungsdrang des Wertes ist unwiderstehlich und der Streit der Werter, Abwerter, Aufwer­ ter und Umwerter unvermeidlich.“16 Im Wertedenken liegt demnach der Keim für Freund-Feind-Unterscheidungen, die die Republik selber als feind­ lich zu betrachten hat. Republiken sind darum inklusiv gegenüber jedermann, der in die Zumu­ tung der Freiheit und Rechtsgleichheit einzuwilligen bereit ist, während Staaten ihr Dasein und ihre Legitimität dem formalen Prinzip der Exklusion verdanken. Staat ist negativer Friede im Sinne von Abwesenheit von Ge­ walt. Republik ist positiv bestimmbarer Friede, aber darum gerade kein 15  Schon der Begriff des Interesses steht in Spannung zum Begriff der Identität, weil der interessierte Mensch gerade nicht bei sich ist, sondern bei dem, was ihn interessiert. Interessantes ist interessant, weil es fremd oder noch nicht realisiert ist. 16  Schmitt/Jüngel/Schulz, S. 36.

Einleitung15

Kirchhoffriede. Zudem müssen auch Republiken im Sinn von Carl Schmitt zwischen Freund und Feind unterscheiden können. Schmitt hat den Libera­ lismus unterschätzt, als er ihm unterstellte, er sei dazu nicht in der Lage. Fortan soll unter politischem Liberalismus der Republikanismus verstanden werden, sofern er sich von anderen liberalen Selbstverständnissen dahinge­ hend unterscheidet, dass er sich vorrangig für den Erhalt der Republik verantwortlich zeigt und zwischen Freund und Feind zu unterscheiden weiß. Politischer Liberalismus ist Republikanismus. Die Republik bildet den ins­ titutionellen Rahmen, in dem sich Liberalismus erst entfalten kann. Aber der Liberalismus ist selber nicht in der Lage, diesen Rahmen zu schaffen, wenn er nicht Republikanismus ist.17 Die Unterscheidung und Gegenüberstellung von Republikanismus und Liberalismus, dass nämlich die Republik eine Konformität in der Bevölke­ rung voraussetze, die mit Liberalismus nicht vereinbar sei, ist nicht akzep­ tabel. Sie bestimmt auch den Nationalliberalismus, der es, weil er sich den Nationalstaat zum Prinzip nahm, im eigentlichen Sinne nicht verdient, Li­ beralismus genannt zu werden. Hier soll der citoyen dem bourgeois untertan sein, nachdem alle, die nicht bourgeois sind, zu citoyens erklärt worden sind. Aber diese Bürger wären nichts weiter als Staatsbürger, die nur vom Staat gewährte und damit eingeschränkte Menschen- und Bürgerrechte hät­ ten, während republikanisches Denken diese Rechte als Abwehrrechte ge­ genüber dem Staat erachtet.18 Auch Identitätstheorien können keine Repub­ liken begründen oder legitimieren. In der Republik herrscht nicht etwa ein 17  Ideengeschichtlich lässt sich laut Marcus Llanque zeigen, dass der Liberalis­ mus mit dem Republikanismus darum nicht zu vereinbaren sei. „Die mit dem repu­ blikanischen Bürgerbegriff verbundene Erwartung der Bereitschaft, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, also patriotisch gesinnt zu sein, bereit, seine Pflichten zu erfüllen bis hin zum Opfer des eigenen Lebens, wirken aus liberaler Sicht als unzu­ lässige Zumutung.“ (Llanque, S. 96) Das ist m. E. ein zu enger Begriff von Libera­ lismus, der ihn auf Individualismus eingrenzt. 18  Llanque fasst das wie folgt zusammen: „Der Bürgerbegriff dient der modernen Staatlichkeit als Mittel der Bindung von Individuen durch formale Zuschreibung von Rechten und Pflichten zu Individuen; die Bürger sind nun ‚Staatsangehörige‘. Fragen der politischen Partizipation beschränken sich auf das Recht der Wahl der politischen Akteure und die Kontrolle des Staatsapparates sowie das Recht zur Äußerung des politischen Willens. Die Ausübung kollektiver Handlungsfähigkeit bleibt dem Perso­ nal des Staatsapparates vorbehalten und einem verhältnismäßig kleinen Ausschnitt an gewählten Amtsträgern und den hinter ihnen stehenden, keineswegs unbürokratischen Pateiapparaten.“ (Llanque, S. 95 f.). Nur in Krisenzeiten, z. B. im Fall es Staatszer­ falls, müsse der Staatsbürger wieder in den Modus des republikanischen Bürgers zu­ rückkehren. Llanque sieht in der Globalisierung die Möglichkeit gegeben, dass die Staatsangehörigen Weltbürger werden, indem sie sich z. B. in NGOs engagieren, die wiederum mit Nationalstaaten zu kooperieren vermögen. So könne sich ein Weltbür­ gertum herausbilden, ohne dass eine Weltrepublik geschaffen werden müsse.

16 Einleitung

Pluralismus der Identitäten, sondern bei genauerem Hinsehen ein Pluralis­ mus der Nichtidentitäten. Es können sich selbstverständlich im republikani­ schen Kontext alle möglichen Identitäten ausbilden, die sich über ihre je­ weiligen spezifischen Traditionen, denen sie gegenüber Loyalität haben, absichern. Aber diese Identitäten dürfen nicht herrschen. Indem sie sich dem Prinzip der Rechtsgleichheit unterwerfen, stellen sie ihre Identität schon unter einen Vorbehalt. Entsprechend bedarf die Republik so wenig der Logik des Neoliberalis­ mus im Interesse ihrer eigenen Selbsterhaltung wie des Denkens seiner Kritiker, sofern sie neoliberalen Positionen mit der gleichen Logik begeg­ nen. Im Rahmen dieser Logik werden für gewöhnlich auch Liberalismus und Republikanismus als Widerparte vorgestellt, was auf die Unterscheidung von bourgeois und citoyen zurückgeht. Das egoistische Eigeninteresse des Einzelnen, heißt es, lasse sich nur schwer mit dem Gemeinwohl vermitteln. Diese Unterscheidung beruht auf einer Logik, die sowohl den bourgeois als auch den citoyen als für sich mögliche Substanzwesen begreift, die es über den Tugendbegriff zu vermitteln gelte. Daniel Schulz fasst das Problem wie folgt zusammen: „Aus der Sicht gegenwärtiger Diskussionen über den Zu­ stand und die Zukunft demokratischer Ordnung scheint das republikanische Paradigma politischen Denkens weniger aufgrund seiner kontextübergreifen­ den Kerninhalte von Interesse, sondern vielmehr als ein Problematisierungs­ rahmen, mit dem Krisenerscheinungen des politischen Gemeinwesens überhaupt erst sichtbar gemacht werden können. Zu diesem Arsenal gehört beispielsweise die genuin republikanische Fragestellung nach den soziomoralischen Gestaltungsvoraussetzungen konstitutioneller Ordnung und de­ mokratischer Autonomie, nach den Motiven bürgerschaftlichen Handelns und der Herstellung politischer Bindungs‑ und Verpflichtungszusammenhän­ ge, nach dem Verhältnis von Gemeinwohl und Eigennutz, nach dem Mög­ lichkeits‑ und Stabilisierungsbedingungen einer freiheitlichen Ordnung.“ Schulz schlussfolgert, dass gerade das begriffliche und politiktheoretische Instrumentarium des Republikanismus, d. h. „dass diese politische Sprache und ihre Begrifflichkeiten selbst eine Krise“ durchliefen.19 Das wird hier aufgegriffen. Es wird der Versuch unternommen, die Sprache des Republi­ kanismus insofern zu sichern, als sie im Kontext einer anderen Logik ver­ standen wird, die die beiden grundlegenden Begriffe bourgeois und citoyen und ihre entsprechenden Ableitungen nicht als Substanzbegriffe, sondern als sich gegenseitig bedingende Relationsbegriffe versteht. 19  Schulz, S. 10. Schulz sieht den Liberalismus weiterhin abhängig von einem mittlerweile in die Krise geratenen Paradigma des Republikanismus, das es unter Rekurs auf aktuelle Republikanismusdiskurse besonders im französischen Raum zu reartikulieren gelte.

Einleitung17

Diese andere Logik wird nicht (ausschließlich) auf Hegel oder auf mo­ derne politikwissenschaftliche Republikanismusdiskurse zurückgeführt, sondern im Rückgriff auf reformierte Theologie reartikuliert. Die vorliegen­ de Untersuchung will den Tugenddiskurs im Zusammenhang mit dem Re­ publikanismus und damit die Betonung der Ethik zunächst abbrechen und freilegen, was z. B. die protestantische Ethik als Geist des Kapitalismus und Liberalismus für ihre gesellschaftliche Entfaltung als Voraussetzung hatte, nämlich republikanische Logik, die zunächst theologisch formuliert war. Institutionen sind nämlich durch Sprechakte in der Welt, die als solche einer Logik folgen, die es aufzudecken gilt. Protestantische Ethik und der sich in ihrer Folge ausbreitende Liberalismus konnten sich erfolgreich nur im Schutze solcher Institutionen entfalten, die beidem zuträglich waren. Ethik ist also nicht voraussetzungslose Voraussetzung für die Republik und den modernen Liberalismus und Kapitalismus gewesen, vielmehr waren republikanische Institutionen dafür nötig, dass die protestantische Ethik hat wirkmächtig werden können, und zwar weit über die Grenzen des refor­ mierten Bekenntnisses hinaus. Moderne republikanische Institutionen sind über Sprechakte geschaffen worden, die sich dieser bestimmten Theologik verdanken.

A. Staat und Republik I. Semantische Vorüberlegungen im Hinblick auf das Ziel der Untersuchung Ernst-Wolfgang Böckenförde hat mit seiner Einsicht, dass der Staat Vor­ aussetzungen habe, die er selber nicht zu gewähren in der Lage sei, auf Carl Schmitt zurückgegriffen, wenngleich nur formal und nicht inhaltlich. Schmitt hat in einer geschichtsphilosophischen Skizze im Rahmen seiner Schrift Der Begriff des Politischen die Abfolge mehrerer Zeitalter skizziert, in denen die Gebiete der grundsätzlich geführten geistigen Auseinandersetzungen ge­ wechselt hätten: von der Theologie über die Metaphysik in den Humanis­ mus der Aufklärung, anschließend in die Ökonomie, schließlich in die Technologie. Für Schmitt ist das gleichbedeutend mit einem Prozess der Neutralisierung und Entpolitisierung. Alle diese Bereiche sieht er in einem Bezug zum Staat: „Ist ein Gebiet einmal zum Zentralgebiet geworden, so werden die Probleme der anderen Gebiete von dort aus gelöst und gelten nur noch als Probleme zweiten Ranges, deren Lösung sich von selber ergibt, wenn nur die Probleme des Zentralgebiets gelöst sind.“1 In Bezug auf den Staat heißt es: „Vor allem nimmt sich der Staat seine Wirklichkeit und Kraft aus dem jeweiligen Zentralgebiet.“2 Von Ulrich K. Preuß wird das nach den Revolutionen in Osteuropa nach 1990 aufgegriffen, wenn er erklärt, dass Politik heute, gemeint sind die neunziger Jahre, immer weniger ein Streit über politische Optionen sei als vielmehr um richtige Erkenntnis und berechenbare Prognosen: „Richtiger müsste man vermutlich sagen, daß unterschiedliche politische Optionen sich zunehmend in unterschiedlichen ‚epistemischen‘ Haltungen ausdrücken.“3 Die Hochstimmung dieser Jahre, verbunden mit der Hoffnung auf ein Ende der Geschichte, hat sich verflüchtigt.4 Die westlichen Gesellschaften 1  Schmitt

(1979), S. 85. (1979), S. 86. 3  Preuß, S. 109. 4  Vgl. Fukuyama, Francis, der gar vom Ende der Geschichte sprach. Freilich muss in diesem Zusammenhang bedacht werden, dass vom Standpunkt Hegels aus die Geschichte nicht als Ereignisgeschichte zu Ende ist, sondern dass die Geschich­ te der gedanklichen Antizipation der Freiheit aller zu Ende ist, wenn sich die Frei­ heit in der bürgerlichen Republik institutionalisiert hat. Die bürgerliche Republik ist 2  Schmitt

I. Semantische Vorüberlegungen im Hinblick auf das Ziel der Untersuchung 19

werden international von asymmetrischer Kriegführung und im Innern von Forderungen nach Autonomie oder populistischen Forderungen nach Rück­ kehr zu mehr nationalstaatlicher Souveränität herausgefordert.5 Verfasstheit anstatt Verfassung,6 wie Preuß das 1994 noch formulierte, genügt nicht mehr. Der Begriff des Risikos, den Preuß unter Rekurs auf Ulrich Beck versteht, ist heute anders zu denken.7 Der von Carl Schmitt konstatierte und von Preuß aufgegriffene Prozess der Neutralisierung, der keineswegs mit einem Prozess der Entpolitisierung gleichzusetzen ist, hat dem Staat das genommen, was er als Voraussetzung nicht zu garantieren vermochte. Auch darum ist globaler Staatsverfall beob­ achtbar, obgleich sich der Staat auf allen gesellschaftlichen Gebieten für nahezu allzuständig erklärt hat. Staat ist heute als quantitativ totaler Staat, wie Carl Schmitt das genannt hat, überfordert, ohne dass ihm der Ausweg bliebe, diese Überforderung über die Flucht in die qualitative Totalität über­ spielen zu können.8 Wo sich Staat noch über das Mittel einer autoritären die gedanklich nicht mehr überbietbare Verfassung der Freiheit, gleich, ob sie voll­ kommen oder nichtvollkommen realisiert ist. Ihre endgültige Wirklichkeit ist dann ihre immerwährende Verwirklichung. Das hat Fukuyama aufgegriffen. 5  Zu den asymmetrischen Kriegen sei hier angemerkt: An die Stelle der Konzen­ trierung der Kräfte im Raum trete in der asymmetrischen Kriegführung auf der unterlegenen Seite die Strategie der Verstreuung der Kräfte im Raum und die Aus­ dehnung des Krieges in der Zeit. (Münkler 2011, S. 66). Freilich kann die Asymme­ trie des Krieges dann soweit vorangetrieben werden, dass der Krieg nicht mehr die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln ist (Clausewitz, S. 987 ff.), sondern dass Politik ausschließlich in den Dienst der Fortsetzung der Kriegführung gestellt wird, wie es wohl derzeit beim IS der Fall zu sein scheint. Das käme einer Verabsolutie­ rung des Krieges gleich, die Clausewitz schon in den Blick genommen hat: „(A)ber es ist (…) Pflicht, die absolute Gestalt des Krieges obenan zu stellen und sie als einen allgemeinen Richtpunkt zu brauchen, damit derjenige, der aus der Theorie etwas lernen will, sich gewöhne, sie nie aus den Augen zu verlieren, sie als das ursprüngliche Maß aller seiner Hoffnungen und Befürchtungen zu betrachten, um sich ihr zu nähern, wo er es kann oder wo er es muß.“ (Clausewitz, S. 955). Hier nimmt Clausewitz schon Kriegführung als Herausforderung in den Blick, der sich Imperien und nicht mehr nur Staaten zu stellen haben. Populistische Strömungen in den westlichen Gesellschaften basieren auf der irrigen Vorstellung, staatlicher Dezi­ sionismus verbürge mehr Sicherheit im sicherheitspolitischen wie auch im sozialpo­ litischen Bereich. 6  Preuß, S.  99 ff. 7  „Wenn wir von ‚Risiko‘ oder Gefahr sprechen, so sprechen wir allerdings nicht von wirklichen, sondern von möglichen Schäden – ein Risiko ist das Urteil über die Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Schadens, also ein ‚epistemischer Sachver­ halt‘.“ (Preuß, S. 110). 8  Vgl. Schmitt: Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland, in: Schmitt (1973), S. 361. Martin van Creveld spricht in diesem Zusammenhang schon 1999 von einer Erosion des Glaubens an den Staat. Er verweist auf die Nachfolgestaaten Jugoslawiens, die gleich nach der Unabhängigkeit bestrebt gewesen seien, sich z B.

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Regimebildung zu behaupten vermag, kommt es früher oder später entweder zu Staatsverfallskriegen, oder, wie es das Beispiel der Ukraine zeigt, zu einer republikanischen Entwicklung, die gewöhnlich Demokratisierung ge­ nannt wird. Aber trotz demokratischer Verfassung ist nicht jede Demokratie Republik, z. B. wenn die Herrschaft der Mehrheit mit der Herrschaft des Volkes identifiziert wird.9 Republik ist mehr als nur Mehrheitsentscheid, wenngleich Republiken auch immer demokratisch verfasst sein müssen. Aber jener demokratische Politiker, der seiner Zeit auf dem Schlachtfeld in Gettysburg proklamierte, Demokratie als „government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth,“10 bekämpfte eine Mehrheit im Süden seines Landes, die sich für die Sezession entschieden hatte, militärisch bis zur bedingungslosen Kapitulation, und eine Mehrheit im Norden, die für Frieden optierte, mit moralisch zumindest fragwürdigen Methoden.11 Demokratische Republik ist öffentliche Deliberation, aber auch politische Strategie und Taktik gegebenenfalls auch jenseits der feinen Sit­ ten, unter Umständen sogar harter Kampf.12 Freilich weist Ulrich K. Preuß zu Recht darauf hin, dass im Kampf um Interessen und um die Macht, „in den Auseinandersetzungen über politische Alternativen und in dem Streit über den gesellschaftlichen Fortschritt stets zugleich auch die Reflexion über die prekären Bedingungen stattfindet, die diese Auseinandersetzungen erst ermöglichen.“13 Donoso Cortés hat, anders als Carl Schmitt, die Wehrhaftigkeit der Repu­ bliken in seiner am 4. Januar 1949 vor der Cortes gehaltenen Rede über die der EU anzuschließen. (Creveld, S. 455) Betrachtet man die derzeitigen Verhältnisse in Europa, dann lässt sich sagen, dass auch diese überstaatliche Staatsbehörde das Vertrauen vermehrt verliert. 9  Als aktuelles Beispiel kann die Türkei unter Erdogan dienen. 10  Lincoln, S. 536. 11  Vgl. Goodwin. Sie bezieht sich u. a. auf den Ratgeber Lincolns Leonard Swett: „Herein, Swett concluded, lay the secret to Lincoln’s gifted leadership. ‚It was by ignoring men, and ignoring all small causes, but by closely calculating the tenden­ cies of events and the great forces which were producing logical results.‘ John Forney of the Washington Dayly Chronicle observed the same intuitive judgement and timing, arguing that Lincoln was the most truly progressive man of the age, because he always moves in conjunction with propistious circumstances, not waiting to be dragged by the force of the events or wasting strength in premature struggles with them.“ (Goodwin, S. 572) 12  „Die Tugend als eine der wichtigsten Umschreibungen der Eigenschaftender republikanischen Bürger ist (…) nicht identisch mit moralischer Exzellenz oder ethischer Makellosigkeit, ist also keine Frage der Tugendethik, sondern hat mit den Handlungserfordernissen der politischen Ordnung zu tun. Die Inhalte der Bürgertu­ genden wechseln entsprechend mit den Handlungserfordernissen und deren Kontex­ ten.“ (Llanque, S. 97) 13  Preuß, S. 12.

I. Semantische Vorüberlegungen im Hinblick auf das Ziel der Untersuchung 21

Diktatur angesprochen und Republiken sogar vorgeworfen, nicht das Ge­ genteil von Diktaturen, sondern selber Diktaturen zu sein.14 Das ist über­ triebene Polemik. Freilich hat er erkannt, und im Hinblick auf Lincolns Politik ist das zu unterstreichen, dass in Republiken gilt, was die Jakobiner so ausgedrückt haben: Jenen, die im Sinne der Republik handelten, sei alles erlaubt.15 Die Betonung darf allerdings nicht darauf liegen, dass alles er­ laubt ist, sondern dass es im Sinne der Republik sein muss, was erlaubt ist. Was Abraham Lincoln sich erlaubte, ist darum auch anders einzuschätzen als das, was die Jakobiner glaubten, sich erlauben zu dürfen. Republiken betrachten alle als Feinde, die vermeinen, ihre Identität über Freund-FeindUnterscheidungen sichern zu müssen.16 Auch das postmoderne Denken sieht sich vor die Aufgabe gestellt, dass die postulierte Vielheit gegenüber Einheitskonzepten verteidigt werden muss. „Einheitskonzeptionen, die gegen Vielheit antreten, reproduzieren in dem Maße, wie sie dies tun, auf höherer Ebene die Vielheit erneut, nämlich als – sehr viel härtere und von ihnen endgültig nicht mehr synthetisierba­ re – Vielheit unterschiedlicher Einheitskonzeptionen.“17 Allerdings hat das postmoderne Denken nicht die Kraft, daraus die zwingend notwendigen politischen Schlussfolgerungen zu ziehen. Welsch konzediert: „Aus struktu­ rellen Gründen ist das Vielheitskonzept prinzipiell überlegen. Es ist das Ganzheitskonzept.“18 Was aber, wenn es herausgefordert wird? Welsch 14  So heißt es da im Hinblick auf die britische Verfassung: „Die englische Kon­ stitution ist in ihren Grundbestandteilen einzigartig in der Welt – so weise sind die Engländer! – in der die Diktatur nicht unter das Ausnahmerecht gehört, sondern ins gemeine Recht. Die Sache ist klar: das Parlament hat bei allen Gelegenheiten, zu jeder Zeit, wann es will, diktatorische Gewalt: denn es kennt keine andere Grenze, als die jeder anderen menschlichen Gewalt eigen ist: die Klugheit: es hat alle Kom­ petenzen, und die stellen die Grundlage der diktatorischen Gewalt dar, alles zu tun (…). Es hat die Kompetenz, die Habeas-Corpus-Akte zu suspendieren, vermittels einer ‚bill d’attaindre‘ auszuweisen (auszubürgern); es kann die Konstitution wech­ seln, es kann sogar die königliche Dynastie auswechseln, und nicht bloß die Dynas­ tie, sondern auch die Religion, und die Gewissen unterdrücken: mit einem Wort: es kann alles. Wer meine Herren, hat je eine greulichere Diktatur gesehen?“ (Cortés 1948, S. 23). 15  So liest sich eine Anweisung der republikanischen Überwachungskommission vom 10. November 1793 an die Ausschüsse und Behörden der jungen Französischen Republik wie folgt: „Denen, die im Geiste der Revolution handeln, ist alles erlaubt; für den Republikaner besteht nur die eine Gefahr, daß er hinter den Gesetzen der Republik zurückbleibt. Wer ihnen vorauseilt, überholt sie; wer das Ziel zu über­ schreiten scheint, ist oft noch gar nicht bei ihm angekommen.“ (Hartig, S. 54). 16  In diesem Zusammenhang sei auf Reinhold Niebuhr verwiesen: The Children of Light and the Children of Darkness (1944), vgl. Eichhorn (2012). 17  Welsch, S. 63. 18  Welsch, S. 63.

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A. Staat und Republik

verweist auf Lyotards Spätwerk Der Widerstreit. Widerstreit sei im Unter­ schied zum Rechtstreit nicht zu entscheiden. Wenn Sprachspiele sich aus­ schlössen, bedeute dies laut Lyotard für das nicht zugelassene Sprachspiel eine fundamentale und unüberwindliche Ungerechtigkeit. Aber wird hier nicht ein universaler Gerechtigkeitsbegriff vorausgesetzt, was auf etwas verwiese, das als Relation von Sprachspielen ein universelles Sprachspiel wäre? Dieses universelle Sprachspiel gilt es in seiner Logik zu ermitteln. Es ist die republikanische Verfassung, die anders als die staatliche Verfassung nicht Fremdidentitäten ausschließt, sondern die Nichtidentität zur Norm erhebt. Identitätsbehauptung ist dagegen außerhalb der Republik zu veror­ ten, ist jenseits der frontier. Republiken haben, weil sie nicht Staat sind, eine imperiale Ausrichtung: Sie sind für viele, die nicht in einer republikanischen Verfassung leben, attraktiv, womit sie zum Vorbild in den gesellschaftlichen Konflikten anders­ wo werden. Die Neigung zur Intervention und internationalen Hegemonie ist ihnen inhärent.19 Robert Kagan hat das am Beispiel der USA ­aufgezeigt.20 Alan Ryan spricht offen von einem liberalen Imperialismus: „(L)iberalism is intrinsically imperialist“.21 Und in diesem Zusammenhang betont er den Unterschied zwischen Republiken und Staaten: „When we talk about rights, we should stick to the view that individuals have a good many negative human rights – particularly against ill-treatment by states – and one posi­tive human right: the right to free action consistent with protecting the same right in others. States, in this view, have many moral obligations to their citizens, but none of their rights over their own citizens or against other states are human rights, and all their rights are conventional; they are also vastly important, but they are important because well-observed conventions are important in international relations. That is not in contention. The point is that states are, in the crucial respects at issue here, quite unlike individu­ als. An individual may damage himself without violating the rights of others and is to be condemned for nothing more than imprudence, and not gen­ erally to be coerced out of his foolish behavior. A state cannot in the same way damage only itself¸ there is no ‚itself‘ to damage, only its citizens severally.“22 Freilich geht Ryan nicht so weit, auch die Menschenrechte als 19  Zur Unterscheidung von Imperialismus und Hegemonie vgl. Münkler (2005), S. 77. 20  „(I)n the case of the United States, the Declaration of Independence and the Revolution produced a different kind of nationalism, different from that of other nations, and different, too, from the type of British imperial nationalism to which Americans had paid their allegiance before the Revolution. (…) The principles of the Declaration transcended blood ties and national boundaries.“ (Kagan, S. 42). 21  Ryan, S. 107. 22  Ryan, S. 119.

I. Semantische Vorüberlegungen im Hinblick auf das Ziel der Untersuchung 23

Konvention zu verstehen, was ihm zu der weiterführenden Einsicht verhol­ fen hätte, dass es die Republik, anders als der Staat, durchaus vermag, sich selber zu schaden, wenn sie die Freiheit nicht mehr schätzt und sich selber den Untergang bereitet.23 Wenn das Recht auf Eigentum im Sinne Hegels die Freiheit begründet, gehören Kapitalismus und Liberalismus zusammen, wenngleich sich der Kapitalismus auch nicht alleine auf die Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz reduzieren lässt. Sie ist aber grundlegend. Diese Unterscheidung und die republikanische Selbstverpflichtung, die Rechte von Eigentümern und Besitzern auszutarieren und selber zu respektieren, verhindert, dass le­ diglich die Eigentümer frei sind, wie das etwa in Sklavenhaltergesellschaf­ ten oder feudalen Gesellschaften der Fall war und in traditionellen Gesell­ schaften bis heute noch immer der Fall ist. Der politische Liberalismus als Republikanismus ist darum der politische Geist des Kapitalismus. Aber dieser Geist ist insofern absoluter Geist, als er nicht mehr relativ zu einer Metaphysik zu begreifen ist, die dann zu einer Voraussetzung der Republik würde, über die die Republik nicht verfügte. Denn in diesem Falle wäre die Republik Staat. Diesem Geist wohnt kein Zauber mehr inne, sein Geschäft ist vielmehr Entzauberung. Der politische Liberalismus als Republikanismus geht grundsätzlich an die metaphysische Substanz. Darum bestimmt auch das Recht auf Religionsfreiheit die bürgerliche Freiheit un­ mittelbar.24 Die Religionsfreiheit begründet ebenso, wenngleich indirekt, die soziale Grundsicherung als republikanische Aufgabe, die dem Republikanismus als unverzichtbares Prinzip innezuwohnen hat, da er in der Verfolgung des Schutzes des Eigentums auch die Interessen jener im Blick zu haben hat, die über kein weiteres Eigentum als ihre Arbeitskraft verfügen. Die Repub­ lik darf sich keiner religiös oder anderswo metaphysisch hergeleiteten Sozi­ alethik als Begründung von Bürgertugend ausliefern, weil sie über die so­ ziale Sicherung als der unabdingbaren materiellen Voraussetzung von Inte­ gration sich selber zu bewahren hat. Sobald sie die soziale Sicherung und darüber hinaus die gesellschaftliche Integration anderen Agenturen, gar Glaubensgemeinschaften, überließe, wäre die Republik nur dem Namen nach Republik, stattdessen Staat. Die Interdependenz zwischen Staat und 23  Richard Rorty hat im Widerspruch zu den Theorien, die die Menschenrechte metaphysisch zu begründen versuchen (z B. Ronald Dworkin), sehr deutlich ge­ macht, dass ihre Geltung alleine auf dem Willen derer beruht, die ihre Geltung durchsetzen und behaupten. Vergl. Rorty (1988), S. 82 ff. 24  „Das Recht der Gewissensfreiheit wird proklamiert, und damit ist der Gedanke eines allgemeinen, vom Gesetzgeber ausdrücklich anzuerkennenden Menschenrech­ tes gefunden worden.“ (Jellinek, S. 56).

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Amtskirchen ist im republikanischen Kontext nicht zu denken. Aus republi­ kanischer Sicht fällt damit ein Licht auf eine sozialstaatliche Sozialroman­ tik, die auch so verstanden werden kann, dass sie, wenn sie ethisch und politisch im Sinne von mehr Staat argumentiert, nicht so sehr an den Inte­ ressen der Schutzbefohlenen als vielmehr an denen der sie betreuenden Funktionäre in Staat und kirchlichen oder anderen Wohlfahrtsorganisationen orientiert ist. Denn näher betrachtet ist der Staat keine metaphysische Grö­ ße, kein allgemeiner Wille, darum auch nicht auf ein irgendwie von ihm definiertes Allgemeinwohl ausgerichtet, sondern nichts anderes als eine gesellschaftliche Gruppe, die primär ihre egoistischen Gruppeninteressen verfolgt, wie es Arthur F. Bentley schon zu Beginn des zwanzigsten Jahr­ hunderts erklärte: „The state as discussed in political science is usually the ‚idea of the state‘, and that is not good raw material for an investigation.“25 Dagegen gelte: „The ‚state‘ itself is, to the best of my knowledge and be­ lief, no factor in our investigation. It is like the ‚social whole‘: we are not interested in it as such, but exclusively in processes within it. The ‚idea of the state‘ has been very prominent, no doubt, among the intellectual amuse­ ments of the past, and at particular places and times it has served to help to give coherent and pretentious expression to some particular group’s activity.“26 Über die Entstehung des Staates schreibt Herfried Münkler, indem er den Begriff der Staatsräson beleuchtet: „Staatsräson ist ein Kampfbegriff, unter dem eine kleine Gruppe spezialisierten und professionalisierten politischen Personals, Diplomaten und Sekretäre des fürstlichen Hofes, sich den Weg zu den Schalthebeln der Macht bahnt bzw., sobald sie diese erreicht hat, sich dort auf Dauer etabliert.“27 Bei Pierre Bourdieu heißt es entsprechend: „Man hat oft gesagt, der Staat sei eine fictio juris. Das ist richtig, doch er ist eine Fiktion von Juristen, bei der man fictio im starken Sinne des Wortes verstehen muß, im Sinne von fingere (‚zurechtmachen‘, ‚verfertigen‘): Er ist eine Fabrikation, eine Konstruktion, eine Konzeption, eine Erfindung.“28 25  Bentley,

S. 300. S. 263. 27  Münkler (1987), S. 12. 28  Bourdieu (2014), S. 574. Bourdieu begreift den Staat als eine bestimmte sozi­ ale Gruppe, eine Beamtenelite, der es gelinge, sich gerade über das öffentliche Bildungswesen aus ihren eigenen Familien heraus immer wieder zu reproduzieren: „Das Bildungswesen, von dem man einmal meinen konnte, es eigne sich, indem es individuelle Fähigkeiten über ererbte Privilegien stelle, zur Einführung einer Meri­ tokratie, trägt auf diese Weise, mit Hilfe des verborgenen Zusammenhangs zwischen Bildungsfähigkeit und kulturellem Erbe, zur Errichtung eines regelrechten Beamten­ adels bei, dessen Autorität und Legitimität durch den Bildungstitel verbürgt ist. Und schon ein kurzer Blick auf die Geschichte läßt erkennen, daß die Herrschaft dieses spezifischen Adels, dessen Interessen mit denen des Staates identisch sind, das Er­ 26  Bentley,

I. Semantische Vorüberlegungen im Hinblick auf das Ziel der Untersuchung 25

Die Voraussetzungen des Staates, von denen Böckenförde spricht, ließen sich eher als die egoistischen Interessen der Staatsdiener identifizieren, die letztlich kein Interesse daran haben können, die Missstände gänzlich zu beheben, um die sie sich kümmern, weil sie damit ihre Voraussetzungen zerstörten. Nüchtern ließe sich sagen, dass die erste Voraussetzung des Staa­ tes, die er selber nicht zu garantieren vermag, die Bereitschaft seiner Bürger ist, Steuern zu entrichten.29 Das setzt aber eine bestimmte Loyalität voraus, die der Pflege durch die Glaubensgemeinschaften bedarf. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat ist nichts anderes als Kooperation zwischen kirchlichem und staatlichem Personal zu dem Zweck, die eigene Selbstbe­ hauptung gegenseitig zu stabilisieren. Im Hinblick auf die öffentliche Loyalität, die die Republik erheischt, kann sie diese Loyalität nicht nur nicht mit sekundären Gewalten teilen, was ihr Verhältnis zu den Glaubensgemeinschaften unmittelbar bestimmt, letzt­ gebnis eines langen Prozesses ist: In Frankreich und wohl auch in Japan ist der Beamtenadel ein Stand, der sich selbst erschuf, indem er den Staat erschuf; der den Staat erschaffen mußte, um sich als Inhaber des legitimen Monopols auf die staat­ liche Macht zu erschaffen.“ (Bourdieu 1998, S. 38 f.). 29  In diesem Zusammenhang sei auf die Forschung von Sebastian Huhnholz ver­ wiesen, die sich der Besteuerung widmet. Demokratie und Steuerstaat seien engver­ bunden, wobei freilich der Mangel an Eindeutigkeit hinsichtlich des Eigentumsbe­ griffs des Grundgesetzes (zum einen werde Eigentum garantiert, zum anderen als verpflichtend betrachtet) gerade im Hinblick auf die Besteuerung erhebliche gesell­ schaftspolitische Folgen habe: „Der liberale Eigentumsbegriff, wie er ideenge­ schichtlich zur Grundlage der Bürger‑ und Menschenrechte gehört und die Steuer­ demokratie mitbegründete, endet. So tritt auseinander, was am Ursprung der politi­ schen Selbstermächtigung autonomer Wirtschaftsbürger zum souveränen Staats­ bürgervolk stand: Das (die Magna Carta demokratisch modifizierende und von John Locke theoretisch untermauerte) Prinzip No taxation without representation. An seine Stelle tritt schleichend, was einen jüngeren und überraschend radikalen Zweig einflussreicher politischer Philosophie ausmacht: die ihrem Wesen nach schon reak­ tionäre Überlegung, dass es nicht nur kein vorstaatliches Eigentum geben könne, drastischer: dass Privateigentum nicht nur immer netto ist, sondern dass überdies die Differenz dem Umverteilungsstaat gehöre, der die ‚institutionelle Garantie‘ verbürgt. Diese radikale Sicht affirmiert daher im Gewand einer modernen Gerechtigkeitsthe­ orie des Eigentums, was eigentlich Staatstheorie ist. Just in dieser Lücke zwischen liberalem und sozialistischem Eigentumsverständnis liegt das Problem der Steuerde­ mokratie.“ (Huhnholz, S. 188). Huhnholz lehnt die Vorstellung ab, die Steuer stelle einen Tausch dar, sondern will sie als ein Medium begriffen wissen, das ähnlich wie der Blutkreislauf im Körper den Staatskörper (Huhnholz beruft sich mit diesem Bild auf Thomas Hobbes) insgesamt am Leben erhalte. Freilich bleibt dann die Frage, inwiefern die Bereitschaft zum Zahlen der Steuer sich nicht in Widerstand wandelt, wenn die staatserhaltenden Tätigkeiten dem Staat zugeschrieben werden und nicht jenen, die sie finanzieren. Ein Stiftungswesen kann den Steuerstaat nicht ersetzen, aber ohne die Möglichkeit der öffentlichen Mitgestaltung z. B. über Stiftungen ver­ mag ein Staat nicht republikanisch verfasst zu sein.

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lich betrifft es auch ihr Verhältnis zu ihren eigenen Funktionären: Wo Be­ amte sind, kann es im eigentlichen Sinne keine Republik geben! Hier zeigt sich eine erste Homologie zwischen Kirche und Staat bzw. Kirche und Republik: Wo es kein allgemeines Priesteramt gibt, sondern wo das Pries­ teramt als eine gegenüber dem Kirchenvolk herausgehobene Stellung mit besonderer Verantwortung und besonderen Aufgaben behauptet wird, ist für die Kirche der Reformation Gegenkirche, die Kirche des Antichristen. Nicht nur der römische Katholizismus suchte im Staat sein Gegenüber, mit dem er sich vertraglich zu binden trachtete, auch im Protestantismus besteht keine Einigkeit hinsichtlich des Verhältnisses von Christen‑ und Bürgergemeinde, weil sich Lutheraner in der Regel ihre Kirche nur im Hinblick auf einen Staat als formiert bzw. formierbar vorstellen können (wenngleich es auch lutherische Freikirchen gibt). Den Konkordaten ent­ sprechen hier die Staatskirchenverträge. Neben der sozialen Versorgung besteht das kirchliche Angebot in der Verwaltung der Verzauberung, letzt­ lich auch in einer transzendenten Sicherung des Bestehenden, dessen Stabi­ lität, wie der Begriff es zum Ausdruck bringt, Staat ist bzw. die Vorausset­ zung des Staates ist, für die er selber keine Sorge zu tragen vermag. Wen wundert es also, dass Staatsbeamte und Amtskirchenpersonal sich dem Li­ beralismus als Entzauberungsprogramm gegenüber konsequent skeptisch bis feindlich zeigen. Am Beispiel der Weimarer Republik hat Klaus Tanner aufgezeigt, wie protestantische, überwiegend lutherische Theologen Hand in Hand mit republikfeindlichen Staatsrechtlern die Legitimität der Republik unterminierten: „Die neue Staatsrechtsmetaphysik der zwanziger Jahre stimmt mit der lutherischen Ethik der Zeit aber nicht nur in der Krisendia­ gnostik überein. Konsens gibt es vielmehr auch bezüglich der Suche nach Auswegen aus der Krise. Hier wie dort sucht man nach Möglichkeiten, den für die moderne Kultur grundlegenden Pluralismus durch neue Homogenität zu überwinden. Diese Suche nach Ideen und Kräften, die eine neue sittlichreligiöse Gesamtintegration des Gemeinwesens bewerkstelligen sollen, vollzieht sich innerhalb eines gemeinsamen Orientierungsrahmens: der An­ nahme eines Gegensatzes von deutscher und westeuropäischer Sozialphilo­ sophie, der damit verknüpften hohen Bewertung der lutherischen Tradition und der Staatsphilosophie des deutschen Idealismus sowie der Abwendung von Liberalismus, Rationalismus und Aufklärung.“30 Heute zeigen sich die gleichen Vorbehalte gegenüber dem liberalen Denken, wenngleich auch nicht mehr in der Radikalität der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhun­ derts, z. B. in der so genannten Öffentliche Theologie, wie sie im Rahmen des gegenwärtigen deutschen Protestantismus maßgeblich an der DietrichBonhoeffer-Forschungsstelle in Bamberg betrieben wird. Sie prägt das öf­ 30  Tanner,

S. 262.

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fentliche Bild des gegenwärtigen deutschen Protestantismus maßgeblich. Die Sozialenzykliken der römischen Kirche sprechen sogar noch eine deut­ lichere Sprache in ihrer Gegnerschaft zum Liberalismus. Zudem wird der Liberalismus von zwei Seiten in die Zange genommen: sowohl von linker antikapitalistischer Rhetorik als auch von konservativem Wertedenken. Zwar ist die Entzauberung der Welt nicht nur von Max Weber bemerkt und, wenngleich auch nur widerwillig, begrüßt worden, sondern auch von Karl Marx, der sie enthusiastisch feierte, so dass sogar behauptet werden kann, dass Marx, lebte er noch, sich heute dem Liberalismus zuord­ nen ließe.31 Denn Marx hieß den Kapitalismus nicht nur revolutionär, son­ dern begrüßte im Rahmen seiner geschichtsphilosophischen Hoffnung selbst den Imperialismus der europäischen Mächte, der in seiner Sicht die Welt vom „Idiotismus des Landlebens“32 und überlebten Gesellschaftsformen befreit habe?33 Heute hat sich die vorherrschende linke Kapitalismuskritik weitgehend auf vormarxistische und damit frühsozialistische Positionen zurückgezogen. Wen wundert es also, dass sie dabei in eine Nähe zu aus­ gesprochen konservativen Positionen gerät, die ihre Anliegen auch ethisch und theologisch zu begründen versuchen. „Conservatives and socialists have often held in common the belief that stable societies in which people know what to expect of life are happier societies than the shifting, insecure socie­ ties that liberalism creates.“34 Wenn dagegen die Entzauberung der Welt auch auf den Protestantismus zurückzuführen wäre (Max Weber), spiegelten die innertheologischen Aus­ Petersen/Faber, S.  149 f. (1980), S. 466. 33  Vgl. z B. die Ausführungen von Marx über die indische Kolonialpolitik in Marx/Engels (2004). Da heißt es: „Die Frage ist daher nicht, ob die Engländer ein Recht hatten, Indien zu erobern, sondern ob ein von den Türken, den Persern, den Russen erobertes Indien dem von den Briten eroberten vorzuziehen wäre.“ (Marx 2004, S. 153). In diesem Zusammenhang sei freilich auf Eva Maria Hausteiner ver­ wiesen, die in ihrer Untersuchung der Diskurse über Imperium in Großbritannien während des langen neunzehnten Jahrhunderts überzeugend aufzeigt, dass das impe­ riale Selbstverständnis der britischen Eliten im Verlauf der Zeit gerade nicht die Zivilisierung ihrer Kolonien im Blick hatte, wenn sie ihre Herrschaft zu rechtferti­ gen suchten, sondern dass sie, getrieben von Abstiegs‑ bzw. Verfallsphantasien, im Interesse des Machterhalts immer mehr auf Gewalt setzten. (Hausteiner 2015). Marx hätte darauf wohl so geantwortet: „(S)o dürfen wir doch darüber nicht vergessen, daß diese idyllischen Dorfgemeinschaften, so harmlos sie auch aussehen mögen, seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus gebildet haben, daß sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum unterwürfigen Sklaven traditionel­ ler Regeln machten und ihm jeglicher Größe und geschichtlicher Energien beraub­ ten.“ (Marx 2004, S. 142 f.). 34  Ryan, S. 71. 31  Vgl.

32  Marx/Engels

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einandersetzungen die politischen Kämpfe wider, und es ließe sich zeigen, dass der Republikanismus in seiner Abwehrhaltung gegenüber den Anfein­ dungen von links und von rechts gerade die protestantische Theologie zum Partner haben könnte, und sogar mehr noch: Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass er der protestantischen Theologie sogar in besonderer Weise bedarf, wenn er sich erhalten will! Das darf aber nicht im Sinne von Bö­ ckenförde verstanden werden, so als hätte die Republik theologische Vor­ aussetzungen, über die sie nicht verfügte. Die Republik bedarf dieser Theo­ logie nicht als einer Begründung, sondern als einer Waffe. Dass Theologie über ein gewaltiges sozialrevolutionäres Potenzial ver­ fügt, ist schon früh von marxistischen Theoretikern bemerkt und gegen den Liberalismus gerichtet worden, allen voran von Ernst Bloch, und es wird heute wieder und verstärkt von sich links verstehenden Intellektuellen wie z. B. Alain Badiou, Slavoj Zizek und Giorgio Agamben betont, die stärker auf Walter Benjamin und Theodor W. Adorno rekurrieren als auf Bloch. Aber gegen diese linken Angriffe auf die Republik muss und kann theolo­ gisch vorgegangen werden. Hier gilt, was Goethe gegenüber Friedrich Wilhelm Riemer einmal äußerte: Nihil contra Deum, nisi Deus ipse.35 Eine herausragende Rolle im Hinblick auf das republikanische Selbstverständnis wäre dabei der reformierten Theologie zuzusprechen. Denn kein Denken vermag das moderne republikanische Selbstverständnis besser zu legitimie­ ren als reformierte Theologie.36 Umgekehrt sind die Gemeinden des refor­ mierten Bekenntnisses auf die Republik angewiesen, weil sie die ihnen adäquate politische Umwelt ist. Die These der vorliegenden Untersuchung ist, dass der moderne Republikanismus reformierten Ursprungs ist. Die Republik gerät von zwei Seiten unter theologischen Druck, sowohl von sich links gebärdender Sozialkritik als auch von konservativem Werte­ denken. Das sind zwei Lager, die mehr verbindet, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Sie vermeinen, aus der Theologie als einem gemein­ samen Ideenreservoir gleichermaßen Legitimität schöpfen zu können. Repu­ blikanisches Selbstverständnis muss gegenüber beiden Positionen Stellung beziehen, aber nicht, indem es über die Aufklärung rationale Breschen in die feindlichen Stellungen und Bollwerke zu sprengen versuchte, sondern indem es sich seiner theologischen Grundlagen bewusst wird und zumindest Mommsen. Cortés hat in seinem Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus bemerkt, die liberale Schule sei „die einzige, welche unter ihren Meistern und Lehrern keine Theologen“ habe. Welch ein Irrtum. Allerdings ist ihm zuzustimmen, wenn er weiter schreibt: „Was die liberale Schule angeht, so kann ich von ihr nur sagen, daß sie in ihrer hochmütigen Ignoranz die Theologie verach­ tet, und dies, nicht weil sie, auf ihre Art und Weise, keine Theologie wäre, sondern weil sie, obgleich sie eine ist, dies nicht weiß.“ (Cortés 1989, S. 108). 35  Vgl.

36  Donoso

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erwägt, dass es sich nicht der Aufklärung oder dem Renaissancehumanis­ mus verdankt. Hier hat vielmehr der Staat seine Wurzeln. Mehr als die Philosophie der Aufklärung, auf die sich im philosophischen Denken Kon­ tinentaleuropas berufen wird, vielmehr sogar gegen sie, wie die vorliegende Untersuchung zu zeigen beabsichtigt, wird sich der Protestantismus als die eigentliche Grundlage des republikanischen Selbstbewusstseins herausstel­ len. Republikanismus ist reformierter Protestantismus in politisches Vokabu­ lar übersetzt. Wer sich dagegen auf die Aufklärung beruft, überantwortet sich automatisch dem Staat. Institutionen kommen über Sprechakte in die Welt. Reformierter Protes­ tantismus ist darum nicht metaphysische Voraussetzung von Republikanis­ mus, sondern reformierter Theologie ist die Logik der Sprechakte geschul­ det, die republikanische Institutionen begründen. Im reformierten Protestan­ tismus ist zudem ein antimetaphysisches Denken entwickelt und gepflegt worden, das der Theologie entsprechend nicht von außen aufgezwungen werden musste. Reformierte Theologie ist Religionskritik, die gegen die linke, theologisch angereicherte Liberalismuskritik gewendet werden kann. Die Maxime von Karl Marx, dass man die versteinerten Verhältnisse da­ durch zum Tanzen zu zwingen vermöge, indem man ihnen ihre eigen Me­ lodie vorsinge,37 folgt biblischem Vorbild, das seinen Ausdruck darin gefun­ den hat, dass Paulus den Juden ein Jude und den Heiden ein Heide sein wollte (1 Kor 9, 19–23). Wer das gegenüber Juden und Heiden als eine irenische Haltung versteht, hat Paulus nicht verstanden. Im Zentrum reformierter Theologie steht die Kritik der Vorstellung von Identität, die sich mit dem Begriff der Substanz explizieren lässt. Der Be­ griff der Substanz wird hier im Sinne von Kant verstanden, der ihn im Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft wie folgt erläutert: „Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit, d. i. die Vorstellung desselben, als eines Substratum der empirischen Zeitbestim­ mung überhaupt, welches also bleibt, indem alles andere wechselt. Die Zeit verläuft sich nicht, sondern in ihr verläuft sich das Dasein des Wandelbaren. Der Zeit also, die selbst unwandelbar und bleibend ist, korrespondiert in der Erscheinung das Unwandelbare im Dasein, d. i. die Substanz, und bloß an ihr kann die Folge und das Zugleichsein der Erscheinungen der Zeit nach bestimmt werden.“38 Kants Bestimmung der Substanz erlaubt es, Substanz mit dem Begriff der Identität zu explizieren. Kant wird in der vorliegenden Untersuchung Hegel gegenübergestellt: Hegel hat in seiner Logik die Identität als „Reflexion in 37  Marx 38  Kant

(1981), S. 381. (1990), S. 202.

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sich, unmittelbar in sich zurücknehmendes Abstoßen“ verstanden. „Sie ist somit die Identität als der mit sich identische Unterschied. Der Unterschied ist aber nur identisch mit sich, insofern er nicht die Identität, sondern abso­ lute Nichtidentität ist. Absolut ist die Nichtidentität, insofern sie nichts von ihr Anderes enthält, sondern nur sich selbst, d. h. insofern sie absolute Iden­ tität mit sich ist.“39 Das klingt komplizierter als Kant, ist aber einfacher zu verstehen. Identität erhält sich ausschließlich im sich Unterscheiden von Anderem, mit dem sie sich nicht identifizieren will. Darum ist sie, insofern ihr Tun ihr Sein ist, in ihrer Haltung wesentliche Nichtidentität. Mit der Identität ist es demnach nichts. „In diesem richtigen Urteil liegt aber unmit­ telbar, daß die Wahrheit nur in der Einheit der Identität mit der Verschiedenheit vollständig ist, und somit nur in dieser Einheit bestehe.“40 Das be­ deutet im Folgenden mein Begriff der Nichtidentität. Identität als Substanz steht in einem engen Verhältnis zum Begriff des Wertes. Dieser Begriff steuert sowohl das ökonomische als auch das ethi­ sche Verhalten. Ökonomische Werte und ethische Werte sind, wenn sie substanzhaft verstanden werden, nicht anders denn über den Tugendbegriff zu vermitteln. Die ethischen Werte stehen in der Regel im Konflikt mit den ökonomischen Werten. Daher erfolgt der Appell an die Tugend. Im repub­ likanischen Kontext wird Wert nicht substanzhaft verstanden. Die Republik ist kein tugendbasiertes Gemeinwesen, mit dem sich die bourgeoise Verfol­ gung des Eigeninteresses nicht vermitteln ließe, wie z. B. Joseph Vogl mut­ maßt: Das Interesse kenne den Selbstverzicht nicht.41 Das Urteil, es sei widersinnig zu denken, das Allgemeinwohl werde über den Egoismus des Einzelnen befördert (Adam Smith), ist nur im Rahmen 39  Hegel (1975 b), S. 27 f. Dieses Verständnis von Identität vermag ein bezeich­ nendes Licht auf das Phänomen des Selbstmordattentats bzw. des Amoklaufs zu werfen. In beidem vermeint Identität, verzweifelt über den Identitätsverlust, sich zu erhalten, indem sie Welt vernichtet. Zwangsläufig vernichtet sie sich damit selbst. Das Selbstmordattentat ist in der Tat die logische Konsequenz des neoliberalen me­ thodischen Individualismus. 40  Hegel (1975 B. 2), S. 28 f. Man wird einwenden, dass auch Hegel gelegentlich den Substanzbegriff bemüht, und in der Tat denkt man an Kant, wenn man in der Rechtsphilosophie lesen muss: „Darauf kommt es an, in dem Scheine des zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen.“ (Hegel1955, S. 15) Im weiteren Verlauf argumentiert Hegel aris­ totelisch, das Vernünftige trete in einem unendlichen Reichtum von Formen hervor und umziehe seinen Kern mit einer „bunten Rinde“ usf. Dennoch ist Hegels Ver­ nunft auch hier kein Organ zur Belehrung. „Das was ist zu begreifen, ist die Auf­ gabe der Philosophie, denn das, was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum be­ trifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie, ihre Zeit in Gedanken erfaßt.“ (Hegel 1955, S. 16) 41  Vogl, S. 36.

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einer Logik stimmig, die den Einzelnen substanzhaft und nicht relational denkt. Es lässt sich auch umgekehrt formulieren: Nicht der Egoismus, son­ dern das pekuniäre Gewinnstreben des Einzelnen befördert das Allgemein­ wohl. Gewinn kann aber nur realisiert werden, wenn nicht privaten Neigun­ gen nach Selbstverwirklichung und damit egoistischen Motiven gefolgt, sondern Nachfrage bedient wird.42 Der homo oeconomicus des neoliberalen Denkens, der Prototyp eines substanzhaften Menschenverständnisses, kann im Rahmen eines relationsbegrifflichen Denkens nicht als ausschließlich egoistischer Realisierer von Eigeninteressen gedacht werden. Seine egoisti­ schen Selbstverwirklichungspläne müssen im Rahmen einer Konkurrenzge­ sellschaft scheitern, wenn er die Anerkennung Anderer nicht sucht, die sich z. B. im Kauf seiner Angebote äußert. Sein Eigeninteresse vermag er nur zu realisieren, wenn er die Bedürfnisse Anderer insofern zu seinen eigenen macht, als er ihre Befriedigung zum eigenen Lebensvollzug erklärt. Kapita­ lismus ist kein Jahrmarkt individueller Eitelkeiten. Bei Hegel liest sich das so: „In dem Genusse wird die Individualität zwar für sich oder als einzelne, aber dieser Genuß selbst ist Resultat des allge­ meinen Tuns, so wie er gegenseitig die allgemeine Arbeit und den Genuß Aller hervorbringt. Das Wirkliche hat schlechthin die geistige Bedeutung, unmittelbar allgemein zu sein. Es meint wohl in diesem Momente jeder Einzelne eigennützig zu handeln; denn es ist das Moment, worin er sich das Bewußtsein gibt, für sich zu sein, und er nimmt es deswegen nicht für et­ was Geistiges; allein auch nur äußerlich angesehen, zeigt es sich, daß in seinem Genusse jeder Allen zu genießen gibt, in seiner Arbeit ebenso für Alle arbeitet als für sich, und Alle für ihn. Sein Fürsichsein ist daher an sich allgemein und der Eigennutz etwas nur Gemeintes, das nicht dazu kommen kann, dasjenige wirklich zu machen, was es meint, nämlich etwas zu tun, das nicht allen zu gut käme.“43 Hier wird von Hegel nicht appelliert im Hinblick darauf, was sein soll, sondern es wird aufgezeigt, was ist. Der Kapitalismus ist immer organisierter Kapitalismus. Weder die Einzel­ nen noch die einzelnen Unternehmen oder Institutionen sind monadische, 42  So bemerkt Georg Simmel: „Von den früheren Gestaltungen der Produktion her herrscht im ganzen die einfache Vorstellung, daß die niederen Schichten der Gesell­ schaft für die höheren arbeiten. (…) Diese Vorstellung ist nun ganz unzutreffend, seit die Bedürfnisse der unteren Massen durch den Großbetrieb gedeckt werden, der unzählige wissenschaftliche, technische, organisatorische Energien oberster Stufen in seinen Dienst gestellt hat. Der große Chemiker, der in seinem Laboratorium über Darstellung der Teerfarben sinnt, arbeitet für die Bäuerin, die beim Krämer sich das bunteste Halstuch aussucht; wenn der Großkaufmann in weltumspannenden Speku­ lationen amerikanisches Getreide in Deutschland importiert, so ist er der Diener des ärmsten Proletariers.“ (Simmel, S. 517). 43  Hegel (1952), S. 355.

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sich selbst genügsame Systeme, sondern nur in Relationen zu anderen Per­ sonen, Unternehmen oder Institutionen, für die der Begriff des Marktes al­ leine unzureichend ist. Denn über die Märkte hinaus sind die Akteure in Korporationen zusammengeschlossen, in Kammern und Verbänden; sie or­ ganisieren Stiftungen und Vereine, engagieren sich in Parteien, Bürgerbewe­ gungen, nicht zuletzt in Kirchen usw. Kapitalismus setzt auch eine Öffent­ lichkeit im Interesse öffentlicher Investigation voraus, also öffentliche Prü­ fung von möglichst umfangreicher Information. Diese Öffentlichkeit ist nicht selbstverständlich, sondern muss organisiert sein. Ihre Organisation ist schon Recht. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass herr­ schendes Recht nicht alleine über die staatliche Gesetzgebung ist, sondern in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen unmittelbar entstehen kann, z. B. im Arbeitsrecht. Die Komplexität moderner Gesellschaften und ihre Unübersichtlichkeit kann man beklagen, aber nur von einem Standpunkt aus, der selber einen Standpunkt erträumt, von dem aus das Ganze überschaubar und darum auch steuerbar erscheint. Solche Steuerung will Freiheit einschränken zugunsten von Sicherheit und Stabilität. Die Freiheit hat aber Komplexität nicht nur zur Voraussetzung, sie schafft sie unablässig und weitet sie unablässig aus. Die Komplexität moderner Gesellschaften ist das Resultat von Freiheit, und sie ist unter den Bedingungen der Freiheit in unablässiger Bewegung und Ausdehnung. Ihre Opfer sind weniger sozial Benachteiligte, sondern jene, die sich in komplexen Welten nicht mehr zu orientieren vermögen und Identitätsverlust insofern befürchten, als sie glauben, ihre Identität und die damit verbundenen Privilegien nicht mehr öffentlich anerkannt zu bekom­ men. Wer sich dem Trend der Individualisierung unterwirft, wird angesichts der Komplexität moderner Gesellschaften scheitern.44 Darunter zählt nicht zuletzt auch eine Beamtenschaft, die mit der Komplexitätszunahme nicht mehr Schritt zu halten vermag und zunehmend ihre Macht in Frage gestellt sieht. Der Trend geht weg vom Staat und hin zur Republik. Die Klage da­ 44  Im Extremfall führt das zum Selbstmordattentat bzw. zum Amoklauf, wie ­ ranco ‚Bifo‘ Berardi aufzeigt. Er macht den Neoliberalismus für dieses Phänomen F verantwortlich. Freilich bleibt es recht unbestimmt, wen er konkret mit Neoliberalis­ mus meint. Berardi weist selber darauf hin, dass Amok ein Ausdruck aus der malay­ sischen Sprache sei (Berardi S. 74), unterschlägt aber, dass er von alters her in der malaysischen Kultur bekannt ist. Ist die malaysische Kultur von alters her neoliberal? Amoklaufen ist älter als der Kapitalismus. Unter Verweis auf Emil Durkheims Studie über den Selbstmord schreibt Pierre Bourdieu: „Dieser Untersuchung zufolge schwankt die Tendenz, sich umzubringen, umgekehrt proportional zum sozialen Anse­ hen, und die Akteure sind vor der Infragestellung des Sinns ihres Lebens um so siche­ rer, je besser sie als Gatte, Vater, Mutter usw. über eine anerkannte soziale Identität verfügen. (…) Die soziale Welt vergibt das seltenste Gut überhaupt: Anerkennung, Ansehen, das heißt ganz einfach Daseinsberechtigung.“ (Bourdieu 1997, S. 309).

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rüber ist weniger altruistisch motiviert, sondern beruht auf sehr egoistischen Interessen, die sich altruistisch zu verkleiden vermögen. Die Verfolgung des genuin kapitalistischen Interesses der Gewinnmaxi­ mierung und damit verbunden die Vermehrung von Komplexität über die Etablierung nicht nur immer weiterer Konsum‑, sondern auch weiterer In­ vestitionsmöglichkeiten, verbunden mit Innovationsdruck, so dass ständig neue Märkte entstehen können, über Entäußerung des egoistischen Strebens nach Selbstverwirklichung, kann auf das politische Feld übertragen werden. Für die republikanischen Willensträger muss an die Stelle des schon über die Stoa vermittelten Tugenddiskurses, über den die Berufsehre des Beam­ ten expliziert wurde und noch immer expliziert wird, die Lehre der paulini­ schen kenosis treten,45 d. h. die Entäußerung als einer politischen Strategie, die weniger an Tugenden appelliert als vielmehr an die Fähigkeit der logi­ schen Schlussfolgerung: Eine Republik der abstrakten, d. h. der sich selbst genügenden Selbstverwirklicher und Selbstbehaupter kann es nicht geben, auch wenn letztere zu Reichtum gekommen sein sollten und darum dazu neigten, Wertsicherung zu betreiben. Werte können, ebenso wie das behaup­ tete Selbst, nicht mehr substanzhaft verstanden werden. Die Vorstellung, das Selbst vermöge in der Entwicklung mit sich selbst identisch zu bleiben oder der Glaube an die Beständigkeit von Werten ist der aristotelischen Metaphy­ sik geschuldet, mit der sich die Wirklichkeit nicht nur der Natur, sondern auch moderner Gesellschaften nicht mehr begreifen lässt. Aristotelische Metaphysik entspricht eigentlich der Ständegesellschaft. Entsprechend kann eine Republik über die aristotelische Logik nicht legitimiert werden, son­ dern nur theologisch im Sinne der paulinischen kenosis. Sie anerkennt die Entwertung des bisher Erreichten nicht nur, vor allem die des bisher Erwor­ benen, das nur Bestand hat, sofern es, wenn es nicht konsumiert, wieder investiert wird, sie trägt vielmehr sogar zur Rechtfertigung der Entwertung wesentlich bei, und das nicht nur im Bereich der materiellen Werte. Repu­ blikanische Politik hat sich im ideellen Bereich der Entwertung zu widmen und ist somit, wie Jan-Werner Müller es ausdrückt, als Demokratie „institu­ tionalisierte Ungewißheit.“46 Eberhard Jüngel ergänzte Schmitts Wertekritik aus theologischer Sicht, dass der Glaube nicht auf Wertungen, sondern auf Wahrheit beruhe, wobei 45  Vgl. Phi 2, 6–7: „Er, der doch von göttlichem Wesen war, hielt nicht wie an einer Beute daran fest, Gott gleich zu sein, sondern gab es preis und nahm auf sich das Dasein eines Sklaven, wurde den Menschen ähnlich, in seiner Erscheinung wie ein Mensch. Er erniedrigte sich und wurde gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ 46  Müller, Jan-Werner, S. 407. Müller weist freilich in seinem Buch darauf hin, dass zumindest in Kontinentaleuropa das christdemokratische Politikparadigma die Gesellschaften geprägt habe, nicht der Liberalismus oder die Sozialdemokratie.

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er sich formal auf den Wahrheitsbegriff Martin Heideggers und dessen Übersetzung des griechischen Begriffs der aletheia bezog. Die Wahrheit des Glaubens mache die allgemeine Krise aller Werte offenbar und stehe so von Hause aus im Gegensatz zu allen Werten. Zu ergänzen wäre: auch zu den eindeutigen Identitäten bzw. der Authentizität! „Nicht was wahr, sondern was wirksam, was effektiv, was wertvoll ist, interessiert (…) Ja, der Wert­ begriff ist eigentlich ein Gegenbegriff zum Begriff der Wahrheit.“47 So, wie der Glaube für Jüngel eine „wertlose Wahrheit“ darstellt,48 ist reformierte Identität keine Sicherung gegenüber Identitätskrisen, sondern grundsätzlich kritisch gegenüber jeder Identitätsbehauptung, also Hineinfüh­ rung in die Identitätskrisen. Der Glaube macht die Krise aller Identitäten offenbar. Er kritisiert die Identitätsbemühungen anderswo nicht direkt, in­ dem er ihnen eine eigene eindeutige Identität gegenüberstellte, sondern in­ direkt, aber damit wesentlich wirksamer im radikalen Verzicht auf Identi­ tätsauthentizität. Die Einsicht, die Mt 16, 25 verkündet, dass wer sein Leben erhalten wolle, es verliere, kann auch so verstanden werden: Wer seine Identität behaupten will, wird sie nicht sichern können, weil Sicherheit in dieser Welt nicht vorgesehen ist. Das begründet die offene Gesellschaft. Indem die offene Gesellschaft die Relativität der sich in ihr bewegenden Identitäten rechtlich absichert, verunsichert sie zugleich all jene, die sich um die Sicherung ihrer immateriellen Werte bemühen. Auf der anderen Seite ist die im Rahmen einer Republik rechtsstaatlich abgesicherte Unter­ scheidung zwischen Eigentum und Besitz aber in dem Sinne, dass sie die Interessen der Eigentümer und der Besitzer rechtlich absichert, die denkbar beste Risikoversicherung vor Verlust im materiellen Wertebereich im Ver­ gleich zu allen anderen Versicherungs‑ vulgo Verfassungsformen. Versiche­ rung darf aber nicht mit Garantie verwechselt werden. Daraus lässt sich schließen: Die Republik basiert nicht auf sozialen Tu­ genden, soziale Tugenden basieren vielmehr auf einer Weltklugheit, die sich nicht transzendent, aber auch nicht transzendental, sondern theologisch über die kenosis begründen lässt und die sich in institutionalisierten Sprechakten äußert, die das ihnen entsprechende ethische Verhalten wenn nicht generie­ ren, dann doch gegenüber den Steuerungsmöglichkeiten des Staates zumin­ dest absichern und schließlich auch befördern. Die protestantische Ethik braucht einen ihr entsprechenden institutionellen Rahmen, um sich entfalten zu können. Kapitalismus ist wesentlich Kreditwirtschaft und als solche grundsätzlich auf Zukunft ausgerichtet und nicht der Vergangenheit verhaftet. Materielle 47  Schmitt/Jüngel/Schulz, 48  Schmitt/Jüngel/Schulz,

S. 50. S.  60 ff.

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Werte lassen sich im Rahmen kapitalistischer Wirtschaft nur über Kredit erhalten. Das liegt im Wesen des Geldes begründet, das nicht mehr subs­ tanzhaft gedacht werden kann. Karl-Heinz Brodbeck hat das Wesen des Geldes in einer sehr umfassenden Studie aufgedeckt und dazu bemerkt: „Wie ein König in seinen besten Tagen, ist auch das Geld nur mächtig, solange sich seine Untertanen in willigem Marktgehorsam ihm unterwer­ fen. Darin liegt seine Geltung. Das ist der Inhalt seines Werts, nichts wei­ ter. Und deshalb kann man diesen Wert auch nicht ‚aufbewahren‘.“49 Brod­ beck formuliert das in kritischer Absicht, steht aber in der Tradition einer politischen Romantik, die den Kredit verabscheut, während Georg Simmel das Geld vom Kredit her versteht, und zwar aus der Perspektive derjeni­ gen, die Geld brauchen und es sich beschaffen müssen. Die Wertlosigkeit des Geldes wird von Simmel anders als Brodbeck grundverschieden be­ wertet: Der Kredit, den Brodbeck perhorresziert, spielt in seinem Buch Die Herrschaft des Geldes nur eine untergeordnete Rolle, während er für Sim­ mel der Motor der Emanzipation ist.50 Damit soll aber der phänomenolo­ gischen Analyse des Geldes von Brodbeck nicht ihr Verdienst abgespro­ chen werden. Heute wird der Kredit meist aus der Perspektive jener in den Blick ge­ nommen, die ihn nicht zurückzahlen können oder nicht zurückzahlen wol­ len.51 Deren Anliegen der Entschuldung gefährdet aber nicht nur die Inter­ essen der Gläubiger, sondern auch die Prinzipien der Republik, nämlich die republikanische Glaubwürdigkeit und damit das Vertrauen in die Verfahren, insofern die Republik die Interessen zwischen Eigentümern und Besitzern auszutarieren und rechtlich zu garantieren hat. Das schließt nicht aus, dass ein Schuldenschnitt gegebenenfalls erfolgen kann, wenn er dem Erhalt re­ publikanischer Verfahren dient. Letztlich aber dienen republikanische Ver­ fahren der Kreditsicherung. Sie sollen sicherstellen, dass für jene, die sich den Herausforderungen stellen wollen, die ihnen sowohl privat als auch öffentlich in der Zukunft begegnen werden, dann entsprechend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Die kenosis soll also an die Stelle der aktuellen Selbstbehauptung treten. Theologie im Sinne von kenosis entspricht einem bestimmten Verständnis von Postmoderne. Denn versteht man den Begriff der Postmoderne nicht als Bezeichnung einer eigenen Epoche, die sich an eine irgendwie zu datieren­ de Moderne anschlösse, sondern mit Jean-Francois Lyotard als ein Denken, das die Moderne mit dem Anspruch der Verhinderung und gegebenenfalls Überwindung ihrer drohenden Verknöcherung stets begleitet und heraus­ 49  Brodbeck,

S. 376. Simmel, Philosophie des Geldes. 51  Allen voran Graeber, Debt. 50  Vgl.

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fordert,52 dann lässt sich für die biblischen Interpretationsgemeinschaften aufzeigen, dass sie diesen postmodernen Ansatz schon von Anfang an theo­ logisch integriert haben, und zwar in einer Weise, dass es im Verlauf der Kirchengeschichte immer wieder gelang, Religion theologisch zu neutrali­ sieren. Das trifft aber schon auf das dem Christentum vorausgegangene biblische Judentum zu, nicht zuletzt auch auf das die Kirche in ihrer Ge­ schichte begleitende Judentum, sodass die Abwehr aller Versuche, den bib­ lischen Kanon auf das Neue Testament zu begrenzen, als fundamentale theologische Entscheidung der Kirche zu betrachten ist.53 Das antimetaphy­ sische Denken in der Theologie verdankt sich dem Judentum und keines­ wegs der griechischen Philosophie in der Tradition von Platon und Aristo­ teles. Diese postmoderne Begleitung der Kirchengeschichte war zumindest 52  Vgl. Woods, S. 23, aber auch Welsch, der dies bei Lyotard (1979) ausgeführt sieht. Im Hinblick auf das postmoderne Denken muss aber dennoch berücksichtigt werden, dass es sein Konzept der Vielheit und gleichzeitigen die Bestreitung der Privilegierung eines Konzepts in grundsätzliche Schwierigkeiten gerät, den eigenen Ansatz zu begründen. Bei Welsch überrascht zudem, dass er sich dabei gerade auf Kant beruft (Welsch, S. 291 ff.). Das Dilemma benennt Welsch so: Wie lasse sich die Vielheit begründen, wenn Einheit ausgeschlossen werden soll? Zunächst weist Welsch gegenüber Lyotard darauf hin, dass Vielheit immer auch eine Ganzheit vor­ aussetze. Dies sei insofern eine logische Notwendigkeit, weil das Postulat der Viel­ heit erfordere, dass Absolutheitsansprüche von Positionen ja ausgeschlossen werden müssten, weil sie gerade Vielheit bestritten. „Dann (…) bleibt nur ein Weg: die Einsicht in den strikt formalen Charakter der Idee des Ganzen und daher die Zulas­ sung und Anerkenntnis unterschiedlicher inhaltlicher Optionen, verbunden mit einem prinzipiellen Grenz- und Verschiedenheitsbewußtsein sowie mit Wachsamkeit gegen­ über Verabsolutierungen.“ (Welsch, S. 62). Es wird aber der Behauptung, dass Inte­ gration auch verweigert werden könne, die argumentative Grundlage entzogen, wenn es weiter heißt: „Die Widersetzlichkeit gegen Integration ist das Salz der Wahrheit und das Elixier der Freiheit.“ (Welsch, S. 209). Dennoch schreibt Welsch: „Daher ist postmodern ein Positionstypus ausgeschlossen: der absolutistische, der Alleinvertre­ tungs- und Universalgeltungs-Ansprüche erhebt.“ (Welsch, S. 244). Welsch möchte die Konsequenz umgehen, die Lyotard gezogen hat (Der Widerstreit), nämlich dass es Widerstreit innerhalb der Vielheit notwendig geben muss, aber ebenso auch einen Widerstreit, der zur Exklusion aus der Vielheit führt. Es muss m. a. W. etwas geben, aus dem ausgeschlossen werden kann, und notwendiger Weise auch etwas, in das ausgeschlossen werden kann. Und das, was es geben muss, lässt sich nicht auf das zurückführen, was Welsch die transversale Vernunft nennt, die lediglich zwischen den vereinzelt nebeneinander bestehenden Rationalitätskonzepten Brücken zu bauen vermöge. Mit den Mitteln einer Philosophie, die punktuelle, mit sich selbst als iden­ tisch gedachte Rationalitätskonzepte anerkennt, lässt sich die Postmoderne nicht begründen. Die Postmoderne stellt sich nicht dem Politischen, sondern möchte es umschiffen. Dadurch wird sie aber politisch bedeutungslos. 53  Die Versuchung, das Alte Testament aus dem biblischen Kanon zu streichen, stellte sich nicht nur in der Zeit des Marcion oder in der Reichskirche während des Nationalsozialismus, sondern ist auch heute noch virulent, wie es das Beispiel des Berliner Theologen Notger Slenczka zeigt.

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im lateinischen Westen der Motor der theologischen Entwicklung. Die Aufklärung und das wissenschaftliche Weltbild der Neuzeit ist in Westeuro­ pa nicht der Theologie abgerungen worden, sondern hat selber theologische Wurzeln. Es sind darum nicht so sehr christliche Tugenden, die es zu ver­ künden gilt, die auch aus der antiken Philosophie gewonnen werden könn­ ten, sondern die spezifische, auf der Schrift und nicht auf der aristotelischen Philosophie beruhende christliche Theologik, die das moderne liberale und damit republikanische Selbstverständnis auszeichnet. In meiner Dissertation über Karl Barth habe ich versucht zu zeigen, dass das Projekt der Entzauberung der Welt Hand in Hand gehen muss mit nicht nur einer theologischen Überwindung der Religion, sondern darüber hinaus auch der Überwindung der Theologie, die für Barth eine genuine Aufgabe der Theologie selber gewesen ist.54 In Anlehnung an Martin Heidegger könnte man auch von einer Verwindung der Theologie sprechen.55 Am Bei­ spiel der paulinischen Briefe habe ich es dann unternommen, diesen Ansatz im Neuen Testament aufzuzeigen.56 Wenn es aber zu begründen gilt, die christlichen Grundlagen des Kapitalismus und seines Geistes im Liberalis­ mus aufzudecken, dann ist noch eine historische Lücke zwischen Paulus und Karl Barth zu schließen, denn dann muss im Interesse der behaupteten diachronen Kontinuität der Diskurse auch der Nachweis erbracht werden, dass die Neutralisierung der Theologie ein theologisches Anliegen der Re­ formation gewesen ist, wenngleich auch nicht explizit aller Reformatoren. Das besondere Augenmerk gilt dabei der reformierten Theologie. Denn besonders im reformierten Kontext gilt, dass Theologie im Hinblick auf die Inkarnation nur noch als Christologie sinnvoll möglich sein kann, und im Lichte der paulinischen Auferstehungslehre kann Christologie sinnvoll nichts anderes mehr sein als Ekklesiologie. Die ecclesia ist aber nur als Republik vorstellbar. Der Gott der Philosophen ist im Licht dieser in Ekkle­ siologie aufgehoben Theologie nichts weiter als ein Hirngespinst. Bekanntlich hat Max Weber seine These, die protestantische Ethik sei der Motor der kapitalistischen Entwicklung gewesen, mit der reformierten Theologie Calvins und der Ethik der protestantischen Sekten, insbesondere der Wiedertäufer, begründet.57 Aber bei Weber stellt sich das Problem, dass Eichhorn (1994). der Mensch als animal rationale, d. h. jetzt als das arbeitende Lebewesen die Wüste der Verwüstung der Erde durchirren muß, könnte ein Zeichen dafür sein, daß die Metaphysik aus dem Sein selbst und die Überwindung der Metaphysik als Verwindung des Seins sich ereignet.“ (Heidegger 1990, S. 68). Insofern könnte man die Offenbarung Gottes in Christus auch als Verwindung der metaphysischen Rede von Gott begreifen. 56  Vgl. Eichhorn (2011). 57  Weber (1920 ), S. 207 ff. 54  Vgl.

55  „Daß

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Kapitalismus und Liberalismus im Verbund mit Säkularisierung nur als das Ergebnis einer List der Vernunft begriffen werden können, weil weder Cal­ vin noch die protestantischen Sekten die Absicht hatten, der kapitalistischen Wirtschaftsweise mit ihren Folgen zum Durchbruch zu verhelfen, geschwei­ ge denn, dass sie umfangreiche Freiheit nicht nur der Bekenntnisse, sondern auch Freiheit von jedwedem Bekenntnis und damit auch negative Religions­ freiheit im Blick gehabt hätten. Die säkulare Entzauberung der Welt wäre demnach nichts weiter als ein Kollateralnutzen der Reformation gewesen. Sie wäre keiner theologischen Absicht geschuldet. Dem gilt hier der Widerspruch. Die protestantische Ethik ist nicht ohne Bezug auf die protestantische Theologie insgesamt zu verstehen. Sie ermög­ lichte über institutionsstiftende Sprechakte erst den politischen Rahmen, der den gesellschaftlichen Bereich, in dem protestantische Ethik sich entfalten konnte, freigab. Reformatorische Theologie weist sich aber nicht nur durch die einschlä­ gigen Texte der Reformatoren aus, vielmehr gilt es, die Diskurse über dogmatische Streitfragen in den Blick zu nehmen, und wie die Reformato­ ren über sie ihre Konfliktaustragungen untereinander organisierten und Kontroversen verhandelt haben. Dann wird man, um in der Reformationszeit wahrnehmen zu können, wer den biblischen Auftrag zur Entzauberung der Welt aufgriff, den Fokus von den großen Reformatoren und ihren theologi­ schen Themen wegwenden und auf jene richten müssen, die mehr oder weniger erfolgreich zwischen den theologischen Kampfhähnen im protes­ tantischen Lager zu vermitteln versuchten. Demnach wäre weniger die Dogmatik als vielmehr die Hermeneutik in den Blick zu nehmen.58 Einer dieser Vermittler war der Straßburger Reformator Martin Bucer.59 Bucer ist in seiner Zeit ein gesuchter Vermittler in Verhandlungen gewesen. Er versuchte, die Schweizer und die Wittenberger zu einem Kompromiss in der Frage über das Verständnis des Abendmahls zu bewegen und hat sich in der Folge auch als Vermittler zwischen den reformatorischen Bekenntnis­ sen und dem römischen Katholizismus eingesetzt.60 Der Fokus der vorlie­ genden Untersuchung liegt auf Bucers Bemühung um einen Kompromiss im Kontext des Marburger Religionsgesprächs über die Frage, wie das Sakra­ 58  Ich folge hier der Cambridge School der politischen Ideengeschichte, die nicht mehr davon ausgeht, dass Ideen oder Begriffe eine Bedeutung hätten, vielmehr habe ihr Gebrauch Bedeutung. (Mulsow/Mahler). 59  Aus lutherischer Sicht wäre hier auch Philipp Melanchthon in den Blick zu nehmen. Es ist bezeichnend, dass mit Melanchthon und Bucer zwei Theologen zu den großen Vermittlern gehörten, die den Humanisten nahestanden. Dennoch gilt es zu berücksichtigen, dass sich beide primär als Theologen verstanden. 60  Vgl. Ortmann.

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ment des Abendmahls zu verstehen sei. Der Bezug auf das Abendmahl ist darum von entscheidender Bedeutung, weil im Hinblick auf dieses Sakra­ ment nicht nur logisch über Substanz und Relation debattiert, sondern auch hermeneutisch über den Bibeltext und über Zugehörigkeit und Mitglied­ schaft, über Inklusion und Exklusion gestritten und entschieden worden ist. Darüber hinaus wird im jeweiligen Abendmahlsverständnis und in der je­ weiligen Abendmahlspraxis ein unterschiedliches Verständnis darüber, wie Institutionen zu denken sind, anschaulich. In der Fokussierung auf die durch dogmatisch begründete Sprechakte geschaffenen Institutionen ließen sich zudem noch zwei Fragen klären, die die Forschungen Max Webers und die Forschung über Max Weber m. E. nicht befriedigend haben klären können, sondern eigentlich nur aufwarfen: Wie lässt sich erklären, dass sich die protestantische Ethik erhält und fort­ setzt, auch wenn ihr der religiöse gesellschaftliche Kontext abhandenkommt, und wie lässt sich ihre Ausbreitung in Bereiche der Gesellschaft bzw. in Fremdgesellschaften erklären, die die gleichen religiösen oder konfessionel­ len Bindungen nicht teilten?61 Die Antwort, die hier angeboten wird, lautet: Infolge der Verwindung der Theologie im Protestantismus und der entspre­ chenden Hand in Hand gehenden Neutralisierung der Theologie in den Prozessen der Kompromissbildung in den großen theologischen Streitfragen der Reformation transformierte sich die protestantische Ethik nicht von selber in eine Alltagsethik. Dort, wo der Protestantismus diese Entwicklung initiierte, entwickelten sich vielmehr zunächst institutionell abgesicherte gesellschaftliche Freiräume, die ein der protestantischen Ethik entsprechen­ des Verhalten förderten, störendes Verhalten dagegen abwehrten oder unter­ drückten. Diese gesellschaftlichen Freiräume wurden für Dissidenten aus anderen Traditionen attraktiv. Die Attraktivität der Institutionen, über die sie geschaffen worden waren, vermochte dann auch in andere Räume auszu­ strahlen. Die protestantische Ethik wurde schließlich gar nicht mehr als genuin protestantische Ethik wahrgenommen. Ihre mentale Disposition kann man unter den Kapitalsorten, die Pierre Bourdieu unterscheidet, wohl dem kulturellen Kapital zurechnen, sofern es einen Habitus zu formen vermag. Vielleicht böte es sich auch an, sie als eine eigene Kapitalsorte aufzuführen. Man hätte es dann im reformierten Protestantismus mit einem Kapital zu tun, mit dem sich ein qualitativ anderes kulturelles und damit verbunden auch ein anderes soziales Kapital generieren ließe, das sich in einem repu­ blikanischen Kontext stabilisierend auf die republikanische Verfassung 61  Dabei ließe sich schon mit Jürgen Kaube fragen, ob Webers Studien über die Bedeutung des Protestantismus für die Herausbildung des spezifischen Geistes des Kapitalismus nicht auch umgekehrt geschlussfolgert werden könnte: „So gesehen, wären nicht aus radikalen Protestanten Kaufleute geworden, sondern Kaufleute hät­ ten allen Grund gehabt, Protestanten zu werden.“ (Kaube, S. 163).

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auswirkte, verbunden freilich mit einer entsprechenden Kapitalvernichtung im Rahmen der von Bourdieu insgesamt aufgezählten Kapitalsorten.62 Der Kapitalbildung auf der einen Seite steht also eine Kapitalvernichtung auf der anderen Seite gegenüber. Aber es handelt sich hier nicht um Kapitalbil­ dung und Kapitalvernichtung im quantitativen, sondern im qualitativen Sinne. Profitmaximierung ist nur aus der Sicht der Anbieter ein Prinzip des Kapitalismus, und als Verlierer beklagen sie dann entsprechend die Kapital­ vernichtung. Aber es ist im Verlauf des Kapitalismus nicht so gewesen, dass sich Gewinner und Verlierer die Waage gehalten hätten. Dann wäre der Kapitalismus schon längst untergegangen. Die Profitorientierung ist im Ka­ pitalismus der großen, transnationalen Unternehmen im Rahmen der Globa­ lisierung auf die Zukunft hin ausgerichtet, und auch in der Zukunft setzt erfolgreicher Absatz nicht nur hinreichende, sondern steigende Nachfrage voraus. Und weil ihr als zukünftige Herausforderung begegnet werden muss, ist die Vernichtung von Kapital, das z. B. hartnäckig in veraltete Tech­ nik investiert bleibt, grundsätzlich notwendig: Eigentum wechselt seinen Eigentümer und wird im Idealfall innovativeren Nichteigentümern oder Besitzern mit nicht zureichendem Kapital zur Verfügung gestellt. Während Sachkapital den Eigentümer wechseln kann, verfällt kulturelles Kapital. Beides hat revolutionäre Auswirkungen für das soziale Kapital. Dabei dürf­ te die Kapitalvernichtung im Bereich des kulturellen und sozialen Kapitals das antiliberale Ressentiment noch mehr befeuern als Kapitalverlust im ökonomischen Bereich. Wer Profitmaximierung als Prinzip des Kapitalismus betrachtet, schaut aus der Perspektive des individuell gedachten bourgeois auf das Geschehen und hat nur das Sachkapital im Blick, ohne zu bedenken, dass der indivi­ duell und isoliert gedachte Bourgeois wie jede Substanzbehauptung eine selbstzerstörerische Fiktion ist. Wer aus der Perspektive der kollektiven Nachfrage das Geschehen in den Blick nimmt, stellt die notwendige und auch die über die Notwendigkeit hinausgehende Versorgung in den Mittel­ punkt, in der der bourgeois erst sein kann, was er ist.63 62  Bourdieu unterscheidet zwischen dem ökonomischen Kapital, das Kapital im herkömmlichen, marxistischen Verständnis umfasst, also neben Geld auch Produk­ tionsstätten und Arbeit, dem sozialen Kapital, das sind die belastbaren sozialen Beziehungen, dem kulturellen Kapital, das im weitesten Sinne alle Fähigkeiten und Kompetenzen umfasst, die nachgefragt werden können, und schließlich das symbo­ lische Kapital, das die anderen drei Kapitalsorten ausweist und weitgehend Ansehen ist (Bourdieu 1992). 63  Beiläufig sei bemerkt, dass noch so starke Umverteilungen im Bereich des Sachkapitals, nicht einmal Enteignungen, die materielle Lage der unteren Klassen jemals wesentlich zu verbessern vermocht haben. Die herrschenden Klassen haben

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Die revolutionäre Gesinnung im Hinblick auf die Vernichtung von Kapi­ tal, das der Republik schädlich ist, insbesondere in den Bereichen des sozi­ alen und symbolischen Kapitals, darf freilich nicht erlahmen. Darum ist die Republik kein Staat, selber nicht Substanz, sondern Prozess einer permanen­ ten Revolution, einer permanenten Anstrengung. Entgegen der Behauptung Herfried Münklers, wir lebten in einer postheroischen Gesellschaft,64 darf diese Anstrengung als der spezifische Heroismus westlicher Gesellschaften betrachtet werden, der freilich als Haltung, als ethos, als Habitus im Sinne von Pierre Bourdieu, dann nicht einfach nur als dispositionelle bzw. als habituelle Gewohnheit zu pflegen wäre, sondern der, zumal in Krisenzeiten, intentional aufzutreten hat. Als ein früher Heros solchen ethos darf der Reformator Martin Bucer gelten, der fleißig daran beteiligt war, kulturelles Kapital zu vernichten, um neues soziales Kapital zu ermöglichen. Die Vermittler und Unterhändler von Kompromissen gelten in der Theo­ logie nicht als eigenständige Theoretiker im Dienste eines eigenen Werkes und stehen darum nicht so sehr im Lichte der Aufmerksamkeit wie die großen dogmatischen Kontrahenten, die für das Publikum lautstark und sichtbar um ihren Platz auf der Bühne der sich formierenden bürgerlichen Öffentlichkeit kämpften. Die dogmatischen Grundsätze jener Gegner, zwi­ schen denen sie vermitteln wollen, anerkennen sie selber nicht als metaphy­ sische und damit ewige und unverrückbare Wahrheiten, sondern betrachten sie als interpretationsbedürftige Interpretationen. Vermittlung bedeutet, den neutralisierenden Ansatz, dem Vermittlung folgt, den sich gegenüberstehen­ den Parteien so zu vermitteln, dass er Anerkennung erfährt. Wer sich zum Kompromiss bereit erklärt, relativiert seinen eigenen Anspruch, wenngleich auch oft uneingestanden. Die Vermittler kämpfen damit, gerade weil sie öffentlich für die Vermittlung eintreten, auch um öffentliche Anerkennung, aber ohne dass dieser Anerkennungskampf sich als ein solcher unmittelbar bemerkbar machte. Die republikanische Freund-Feind-Unterscheidung ist subtiler als jene Freund-Feind-Unterscheidung der um die Anerkennung ihrer Identität miteinander ringenden Parteien. Sie will nicht eine eigene eindeutige, als substanzhaft verstandene Identität sichern. Der entscheidende Grund dafür ist, dass die Identität, deren Anerkennung die Unterhändler fordern, Nichtidentität ist. Der Begriff der Anerkennung ist ein sozialer Begriff und darum in der Sozialwissenschaft, aber auch in der Rechtswissenschaft von zentraler Be­ deutung. Er ist entscheidend von Hegel geprägt worden. Wie Anerkennung stets in allen Kapitalsorten investiert. Aber so wenig sich diese Kapitalsorten verer­ ben lassen, so wenig lassen sie sich auch enteignen. 64  Vgl. Münkler (2015), S 143 ff.

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zu verstehen sei, ist umstritten. Axel Honneth hat Identität nicht als eine Nichtidentität im Blick, wenn er den Kampf um Anerkennung zwischen sich mit sich selbst identisch bleibenden Subjekten abspielen lässt und da­ mit u. a. Alexandre Kojève folgt, der in seinen Kommentaren zu Hegels Phänomenologie des Geistes diese Interpretation vorgegeben hat.65 Da wird so getan, als ob das Selbstbewusstsein bei Hegel der Anerkennung durch ein Fremdselbstbewusstsein bedürfe. In ihrer Begegnung müssten sich beide dahingehend verständigen, sich gegenseitig anzuerkennen. Aber diese beiden Selbstbewusstseine sind bei Hegel ein Selbstbewusst­ sein, die Zweiheit ist Schein im Sinn von Erscheinung. Darum ist das Selbstbewusstsein schon in sich selber Kampf auf Leben und Tod, den es in der sich selber gewährenden Anerkennung als unterschiedener Identität von Herr und Knecht aufhebt (und eben gerade nicht beendet):66 Denn die Persönlichkeit als wirklich geltende Selbständigkeit des Bewusstsein ist „aus der Herrschaft und Knechtschaft, als dem unmittelbaren Dasein des Selbstbewußtseins, (…) aus dem unmittelbaren Geiste, der der allgemein herrschende Wille Aller und ebenso ihr dienender Gehorsam ist, 65  Vgl. Honneth (1994), S. 20 ff und Kojève. Honneth anerkennt, dass Hegel den atomistischen Ansatz des Naturrechtsdenkens aufgibt, aber er setzt ihn selber inso­ fern fort, als er nun statt eines Atoms eben mehrere Atome miteinander in Kommu­ nikation treten lässt. Dabei bezieht er sich auf den Hegel von 1806: „Der erste Schritt, den er (Hegel; Anm. M. E.) vorschlägt, um der philosophischen Wissen­ schaft von der Gesellschaft ein neues Fundament zu geben, besteht in der Ersetzung der atomistischen Grundbegriffe durch solche Kategorien, die auf den sozialen Zu­ sammenhang zwischen den Subjekten zugeschnitten sind: mit Aristoteles heißt es an einer berühmt gewordenen Stelle des Textes, daß ‚das Volk … eher der Natur nach (ist) als der Einzelne; denn wenn der Einzelne abgesondert nichts Selbständiges ist, so muß er gleich allen Teilen in einer Einheit mit dem Ganzen sein‘. In dem Kon­ text, in dem dieser Satz steht, will Hegel damit nur sagen, daß jede philosophische Theorie der Gesellschaft zunächst anstatt von den Handlungsvollzügen isolierter Subjekte von den sittlichen Verbindungen auszugehen hat, in deren Rahmen sich die Subjekte immer schon gemeinsam bewegen; anders als in den atomistischen Gesell­ schaftslehren soll also als eine Art von Naturbasis der menschlichen Vergesellschaf­ tung ein Zustand angenommen werden, der stets schon durch die Existenz von elementaren Formen des intersubjektiven Zusammenlebens gekennzeichnet ist.“ (Honneth 1994, S. 26). Abgesehen davon, dass bei Hegel vom Volk und nicht von der Gesellschaft die Rede ist, wird sehr deutlich, wie sehr Honneth die von ihm zitierte Stelle bei Hegel missversteht, der gerade nicht von intersubjektiven Bezie­ hungen spricht, sondern davon, dass der Einzelne „gleich in allen Teilen in einer Einheit mit dem Ganzen“ sei. Honneth ersetzt den Begriff des Atoms durch den des Subjekts, bleibt aber in der atomistischen Logik, so dass sich die Subjekte nicht anders als wie Atome verhalten. 66  Amokläufer und Selbstmordattentäter treibt die Behauptung des Herrenbe­ wusstseins in den Tod. Ihre Tat ist die Verweigerung der Anerkennung ihrer Nicht­ identität, und die Behauptung ihrer Identität ist gleichbedeutend mit ihrer Vernich­ tung.

I. Semantische Vorüberlegungen im Hinblick auf das Ziel der Untersuchung 43

hervorgegangen.“67 Entsprechend heißt es in der Phänomenologie erst über den Rechtszustand, die Persönlichkeit sei aus dem unmittelbaren Geiste so hervorgegangen wie das stoische Selbstbewusstsein „aus der Herrschaft und Knechtschaft, als dem unmittelbaren Dasein des Selbstbewußtseins“, wobei der Geist hier als der „allgemeine herrschende Wille Aller und ebenso ihr dienender Gehorsam ist.“68 Kojèves Hegelkommentar ist also gar kein Kommentar, sondern eine sozialphilosophische Neuschöpfung in Anlehnung an Hegel und in Anbindung an Kant, fällt aber damit hinter Hegel zurück. Die Rechtsphilosophie Hegels gilt als staatsaffin. Sie vermag aber republi­ kanisches Denken zu begründen.69 Der zeitgenössische amerikanische Prag­ matismus rekurriert darum auch wieder vermehrt auf Hegel. Die hegelsche Logik löst das substanzhafte Denken auf. Der Begriff des Subjekts lässt sich nicht als Individualität explizieren. Der Streit zwischen einer intersubjekti­ ven und einer intrasubjektiven Deutung des Herrschaft-Knechtschaft-Kapi­ tels der Phänomenologie des Geistes ist im Hinblick auf Hegel nicht rele­ vant, weil sich ein Selbstbewusstsein einer einzelnen Person, wenngleich auch ein nicht mit sich selbst identisches individuelles Selbstbewusstsein, so wenig denken lässt wie ein für sich selbst bestehendes empirisches Ich im Kontext der Philosophie Kants. Das Subjekt kann sich als Besonderes nur im Allgemeinen artikulieren und erkennen. Persönlichkeit, also individuelle Subjektivität, ist nicht Selbstbewusstsein, sondern verdankt sich dem Selbst­ bewusstsein, das sich als im Geist aufgehoben anerkennen muss und sich damit als eine Nichtidentität in seiner Erscheinung zu verstehen hat. Die Phänomenologie Hegels ist keine ontische Analyse der Einzelpersönlichkeit als bewusstem Sein, ist nicht Psychologie, sondern Ontologie des Bewusst­ seins, die in ihrer Ausführung bei Hegel absoluter Geist heißt. Setzt Hegel also den absoluten Geist voraus, geht Honneth vom cartesianischen Subjekt aus und geht den umgekehrten Weg. Solche Sozialphilosophie erschöpft sich entsprechend in Ethik. Hegels Denken vermag dagegen republikanische Politik zu begründen, aber mit einer gewissen Ambivalenz. Denn Hegels Geist ist nicht Wille, sondern nur Intelligenz. Darum wird hier nicht auf 67  Hegel (1952), S. 343. Hans-Georg Gadamer zitiert und kommentiert Hegel zutreffend: „In der Punktualität des seiner selbst gewissen Selbst ist noch nicht das wahre Wesen, als Geist und Vernunft, erkannt“ (Gadamer, S. 49) und er stellt klar, „daß das Selbstbewußtsein in Wahrheit gar nicht die Punktualität des ‚Ich gleich Ich‘ ist, sondern, wie Hegel sagt, ‚Ich das Wir und Wir das Ich ist‘, das heißt Geist.“ (Gadamer, S. 51). 68  Hegel (1952), S. 343. 69  Wenn Carl Schmitt in Land und Meer schreibt, der Leser möge seine Gedan­ ken als Entfaltung des § 247 betrachten, so wie der Marxismus die §§ 243 bis 246 entfaltetet habe, so ist das ein starker Hinweis darauf, dass Schmitt in Hegel weniger einen Staatsdenker als vielmehr einen Republikaner gesehen hat. (Schmitt 2011, S. 109).

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Hegel, sondern die reformierte Theologie zurückgegriffen. Sie lässt sich aber durchaus in hegelscher Terminologie darstellen. Die Nähe besonders der Philosophie Hegels zur Theologie, und dass er sie, anders als Kant seine Philosophie, nicht gegen die Theologie formuliert hat, rechtfertigt das. Hegel begriff seine Philosophie sogar als Rettung der Theologie. In den Vermittlern zwischen sich feindlich gegenüberstehen Positionen, die ihre jeweilige Identität bereit sind, in einem Kampf auf Leben und Tod zu riskieren, womit nicht der physische Tod gemeint ist, sondern die Auf­ gabe der Identität, wird die Identität von Herr und Knecht als Selbstbe­ wusstsein, d. h. die Identität von Identität und Nichtidentität, anschaulich. Denn als Vermittler sind sie im eminenten Sinne die Verkörperung der Identität von Herr und Knecht in Verhandlungen. Sie müssen beides zu­ gleich sein. Sie können nicht an sich sein, sondern nur in Bezug auf die zu vermittelnden Positionen, die sie negieren, ohne selber Position zu sein. Das ist die ihnen eigene kenosis. Sie setzen damit auch die Kontrahenten einem, wenn man so will, sanften Anerkennungszwang gegenüber der kenosis aus, indem sie sie vor die Entscheidung stellen, sich in die Nichtidentität integ­ rieren zu lassen oder sich selber, als mit sich selber jeweils identisch blei­ bendem Herrenbewusstsein, zu exkludieren. In ihrer Vermittlung sind sie also Herr und Knecht in einer unio personalis. Die Forderung lautet Entscheidung gegen Entschiedenheit im Wertebe­ reich, allerdings nicht im Bereich der oben genannten Prinzipien Freiheit und Rechtsgleichheit. Die Anerkennung der eigenen Identität als einer Nicht­ identität und damit der Verzicht auf ein substanzielles Identitätsverständnis ist Freiheit und begründet gleichzeitig die Rechtsgleichheit derjenigen, die sich gegenseitig im entsprechenden Identitätsverzicht gar nicht anders denn als gleich wahrzunehmen vermögen.70 Freiheit und Rechtsgleichheit resul­ tieren somit aus dem Verzicht auf Selbstverwirklichung. 70  Eine weitere Explikation des Begriffs der Freiheit (zur Problematik, ob die Freiheit als Begriff oder als Idee zu verstehen ist, unten mehr) unterbleibt hier, weil sie den Rahmen der Untersuchung sprengte. Otfried Höffe hat der Freiheit eine kon­ stitutive Bedeutung zugesprochen, spricht von ihr aber dennoch auch als einem „höchsten Gut“. (Höffe 2015, S. 13). Dieser zwiefache Gebrauch des Begriffs, Frei­ heit einmal als Sein und dann Freiheit als etwas, das gehabt wird, führt in seiner Explikation dazu, dass sich das Dilemma des Kantischen Freiheitsbegriffs zeigt, nämlich sowohl Idee als auch Begriff (im Sinne der Unterscheidung zwischen Be­ griff und Idee bei Kant) zu sein, ohne dass beides vermittelt werden könnte. Das führt dann dazu, dass sich Freiheit und Gleichheit als Gegensätze gegenüberstehen. Wird Freiheit aber als Nichtidentität verstanden, dann sind gegenüber den sich glei­ chen Nichtidentitäten nur jene ungleich, die sich eine eigene Identität zu sichern vermeinen. Deren Freiheitsproblematik widmet sich Höffes Buch. Freilich sieht Höffe das mit sich selbst identisch bleibende Subjekt in Spannung mit dem Gemein­ wesen, aber er will das Problem lösen ohne Aufgabe der Identitäts‑ bzw Substanz­

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Die Freiheit ist, wie es scheint, so schwer zu fassen, wie es Augustinus schwer fiel, die Zeit zu fassen, weil wir Zeit und Freiheit nicht haben, sondern weil wir Zeit und Freiheit sind.71 Entsprechend ist Freiheit auch nicht, wie Kant es vermeinte, Idee im Sinne des Begriffs ohne Anschauung, sondern Selbstwahrnehmung als einer mit sich selber nicht identischen Identität. Mit sich selbst identische Identität kann sich nur durch Abgren­ zung, Heidegger nannte es Abständigkeit,72 sichern, was rechtliche Un­ gleichheit begründet, aber alle im man untergehen lässt. Sich selber als nichtidentisch verstehende Identitäten können gar nicht anders, als sich selber mit anderen nicht identischen Identitäten als prinzipiell Gleiche zu verstehen, und ihre formale Rechtsgleichheit ermöglicht dann überhaupt erst Ungleichheit im Bereich der einander relativen Werte und Interessen. Frei­ heit als Prinzip ist so wesentlich Freiheit von Identität und damit Entlassung in die Sphäre selbstgewählter Werte und Interessen, die aufzugeben und zu wechseln dann keinen prinzipiellen, sondern pragmatischen Vorgaben folgen kann. Das begründet die freiheitliche, pluralistische Gesellschaft als solche. Freiheit ist Explikation von prinzipieller Rechtsgleichheit, und prinzipielle Gleichheit vor dem Gesetz bewirkt Freiheit. Freiheit und Rechtsgleichheit bedingen sich gegenseitig und bilden somit einen Relationsbegriff. Sie sind vermittelt und vermittelnd. Unterhändler und Vermittler stehen nicht außerhalb der Konflikte, son­ dern befinden sich gerade mitten im Getümmel. Sie können ihre Vermitt­ lungsarbeit nur leisten, indem sie einen Abstand gegenüber den zu vermit­ telnden Positionen beziehen, der sie dieselben nicht mehr ernst nehmen lässt. Sie leisten Interpretation im Sinne der Herbeiführung von Überein­ kunft. Sie bilden als Vermittler und mit der Behauptung der Möglichkeit einer Vermittlung den Keim einer Neutralisierung, der dann im weiteren logik, und kommt dann zu dem Schluss: „Die Bürgeridentität ist ein komplexes Phänomen, dessen abstrakter und statischer Minimalkern, der Schrumpfbürger, sich im konkret gelebten Bürgersein um ein Bündel zahlreicher Faktoren anreichert.“ (Höffe (2015), S. 293). Das Problem der Substanzlogik im Hinblick auf Subjektivität findet sich auch bei Michael Pauen und Harald Welzer, die von einem substanzhaft verstandenen Selbst, dem Selbsterhaltung unterstellt wird, ausgehen, wenn sie z. B. Privatheit als für Autonomie unerlässlich betrachten, dann aber mühsam wieder jede private Tätigkeit darauf hin überprüfen müssen, inwiefern sie die Autonomie unter­ grabe. Alle diese Versuche perpetuieren nur die Auseinandersetzung des Selbstbe­ wusstseins als Herrenbewusstsein mit sich selbst, in dem sie, anstatt den Kampf auf Leben und Tod zu entscheiden oder durch gegenseitige Anerkennung (der eigenen Nichtidentität) zu beenden, nur ständig die Seiten wechseln, um sich dann gegensei­ tig moralisch zu ermahnen. 71  „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“ (Augustinus S. 629.) 72  Heidegger (1976), S. 163 u. S. 168 ff.

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Verlauf ein Wachstum und eine Eigendynamik zu entwickeln vermag, die letztlich die Positionen, zwischen denen ursprünglich vermittelt worden ist, in nichts auflöst. In dem Moment, in dem die Vermittlung nicht ein einma­ liger Akt bleibt, sondern institutionalisiert wird, sie also allgemeine Anerkennung als Verfahren erfährt, mit dem Wert‑ und Interessenkonflikte gelöst und prinzipielle Konflikte ausgeschlossen werden, wird dem Akt der Ver­ mittlung eine höhere Wertschätzung entgegengebracht als den jeweils mit Wahrheitsanspruch auftretenden Doktrinen. Dann ist Republik. Das bedeutet für eine der Republik angemessene Theologie, dass der Glaube nicht mehr Wahrheitsbekenntnis sein kann, sondern Treue gegenüber Verfahren, die theologisch als Bund bezeichnet werden. In seinem Buch über den Exodus versteht Jan Assmann das Wort Glauben in diesem Sinn. Mit der Erzählung von der Offenbarung im brennenden Dornbusch sei welt­ historisch erstmals die Wahrheitsfrage zugunsten der Haltung der Treue zum Bund verabschiedet worden, was als grundsätzliche Voraussetzung von To­ leranz und schließlich Freiheit einzuschätzen sei. Assmann referiert im Kern die reformierte Föderaltheologie.73 Es ist bezeichnend, dass er mit seinem Buch über den Exodus sich von sich selber und der im Mosesbuch geäu­ ßerten Schelte des Monotheismus distanziert und damit in eigener Person einen Exodus aus seiner ursprünglichen Identität in die Identität der Nicht­ identität wagt. Dem wird wohl, das darf unterstellt werden, die ausgespro­ chene oder auch unausgesprochene Anerkennung eigener Nichtidentität ­vorausgegangen sein.74 Entsprechend dem Verständnis von Assmann wird auch in der vorliegen­ den Arbeit der Begriff des Glaubens verwendet und beibehalten. Eine Prä­ zisierung hat im Hinblick auf den Begriff des Kapitals zu erfolgen, der wie kein anderer vielfältiger Nutzung unterliegt und die Gemüter zu beunruhigen vermag. Ich verwende den Begriff des Kapitals nicht als Substanzbegriff, sondern als einen Relationsbegriff in dem Sinne, wie das römische Recht zwischen Eigentum und Besitz unterscheidet, und nenne Wirtschaftssysteme dann Kapitalismus, wenn ihre ökonomische und politische Verfassung auf dieser juristischen Unterscheidung beruht, d. h. wenn Eigentümer und Besit­ zer nicht identisch sind. Demnach ist meinem Verständnis nach eine Markt­ wirtschaft, auch eine freie Marktwirtschaft, sind Märkte insgesamt noch kein Kapitalismus, wenn keine Finanzmärkte und ihre rechtliche Sicherstel­ 73  Die Föderaltheologie ist ein zentrales Kennzeichen der reformierten Theologie, in deren Kontext die Unterscheidung zwischen Gesetz und Gnade aufgehoben, das Gesetz schon als Gnade verstanden wird. Das Heil ist dann nicht mehr ein jenseiti­ ges Versprechen, sondern innerweltlicher Vollzug des Gesetzesgehorsams der in den Bund Erwählten, der ihre spezifische Freiheit gegenüber den Anmaßungen inner­ weltlicher Autoritäten bedeutet. 74  Assmann (1998 u. 2005).

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lung (und damit auch ihre Regelung) bestehen. Das spezifische Wesen des Kapitalismus ist nicht Profitmaximierung, die als ein möglicher, wenngleich auch willkommener individueller Kollateralnutzen anzusehen ist. Aber sie ist dem Kapitalismus so eigen wie jedem anderen Wirtschaftssystem auch, insbesondere den Raubökonomien. Gier ist kein kapitalistisches Spezifikum. Das Wesen des Kapitalismus ist optimale Befriedigung vorhandener und zukünftiger Nachfrage.75 Darum hat die Profitmaximierung im Kapitalismus eine Voraussetzung in den Geldmärkten, die dafür Sorge tragen, dass Inves­ titionsbereitschaft und Investitionsbedarf die Mittel finden, um tätig werden zu können. Das Wesen des Kapitalismus ist entsprechend Mobilität und nicht gesteuerte, sondern über Wettbewerb geregelte Verteilung überschüs­ siger Liquidität. Als treibender Motor der Entwicklung ist dabei die gesamt­ gesellschaftliche Nachfrage zu betrachten.76 Das Wesen des Kapitalismus als Mobilität des Kapitals ist der Kredit und damit die Glaubenskrise, d. h. die öffentlich erlaubte Prüfung der Kreditwürdigkeit in jeder Hinsicht, nicht zuletzt im Hinblick darauf, ob das, was Investition erheischt, auf eine ent­ sprechende Nachfrage trifft oder treffen wird.77 Diese öffentliche Prüfung erfolgt über die Finanzmärkte. Kredit ist dann nichts anderes als der Aus­ druck von Interdependenz, die neben dem Gewaltmonopol, der Rechtsstaat­ lichkeit, der demokratischen Teilhabe, der Konfliktkultur und der sozialen Gerechtigkeit nach Dieter Senghaas den Frieden ausmacht,78 zumindest in großen Menschenformationen, die nicht mehr Gemeinschaft, sondern Gesellschaft sind. Zu glauben, alleine die demokratische Teilhabe sichere den Frieden, ist Illusion. Gefährden demokratisch herbeigeführte Entscheidun­ gen etwa die Interdependenz der gesellschaftlichen Beziehungen, gefährdet Demokratie den Frieden. Republikanische Politik hat das im Blick zu be­ halten. 75  Das ist sicher provokant formuliert. Jürgen Kaube ist mit Verweis auf Werner Sombart in seiner Weber-Biographie vorsichtiger, wenn er über die kapitalistische Profitmaximierung schreibt: „Dieser Zweck ist ‚abstrakt und darum unbegrenzt‘, der Unternehmer ist somit nur der Repräsentant seines Vermögens, er wird ersetzbar, man kann Eigentum an der Firma und Kontrolle in ihr trennen, irgendwelche Be­ dürfnisse von Personen spielen für die kapitalistische Organisation keine maßgebli­ che Rolle; eine Firma verzichtet zum Beispiel nicht auf Gewinnchancen, weil der Eigentümer schon ein Zweitboot hat. Der Profit bedarf keiner besonderen psycholo­ gischen Motive, sondern tritt denen, die ihn organisieren, als objektive Notwendig­ keit gegenüber.“ (Kaube, S. 162). 76  Vgl. Petersens/Faber: Karl Marx und die Philosophie der Wirtschaft. 77  Während Brodbeck diese Krisen als solche beklagt, weil er lediglich auf die Risiken schaut, gilt es umgekehrt, diese Krisen in ihrem Sinn zu verstehen, weil sie neue Perspektiven und auch Möglichkeiten eröffnen, um auf Herausforderungen, die die Menschheit als Gattung bedrohen, anders als traditionell gewohnt reagieren zu können. 78  Senghaas (1994 u. 1997).

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Als Fazit gilt aber zunächst festzuhalten: Dem Staat als Substanz wird die Republik als Prozess, der mit sich selber identisch bleibende Identität als substanzhaft verstandener Identität wird Nichtidentität gegenübergestellt. Nichtidentität begründet Freiheit und Rechtsgleichheit. Die Nichtidentität ist bisher nur in Bezug auf Hegels Analyse des Selbstbewusstseins angespro­ chen worden. Im Herr-und-Knecht-Verhältnis anerkennt sich das Selbstbe­ wusstsein als Identität von Identität und Nichtidentität. Glaube ist ein Be­ griff, der weiter reicht als der Begriff der Anerkennung, wenn er nicht als ein Für-wahr-Halten, nicht als Substanzversicherung, sondern als republika­ nische Bundestreue expliziert wird. Der Bund aber hat in der Bibel den Exodus zur Voraussetzung. Das gilt es als nächstes in den Blick zu nehmen.

II. Vergesellschaftung und Theologie 1. Erfahrungen des Exodus – Politische Rede und Revolution „Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben (so finden wir) wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von Geburt an, mit al­ lem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde.“79

In dieser Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies klingt der Begriff der res publica insofern an, als die Ge­ sellschaft wie die Republik sich nicht der Natur verdanken, sondern der Ver­ gesellschaftung, der Sozialisierung, die gegen die naturwüchsigen Gemein­ schaftsformationen wie Familie, Sippe, Stamm usw. gerichtet ist. Sie kann Gemeinschaft nicht als ihre Voraussetzung betrachten, sondern erhält sich über Sozialisierung im Widerstand gegen die Ansprüche von Gemeinschaf­ ten. Mit Hegel gesprochen ist Sozialisierung der Ausgang aus der sittlichen Welt in den Rechtszustand. Sie ist Exodus und fordert Identitätsaufgabe. Schon in der frühen Phantasie der bürgerlichen Kindheit ereignet sich im Voraus Sozialisation. Zunächst ist sie nur geträumte und gespielte Absto­ ßung vom Gewohnten in ein Reich der Phantasie, dem die ganze Sehnsucht gilt. In Umwandlung der eingangs zitierten Bemerkung von Ferdinand Tönnies ließe sich sagen, dass Gemeinschaft zwar das Vertraute und Heimi­ sche bezeichnet, aber damit das nur auf den ersten Blick Sichere, Erhaltens­ werte. Sie umfasst ebenfalls die Langeweile, wenn nicht gar Schlimmeres. Gesellschaft bezeichnet dagegen nicht alleine das Fremde und Bedrohliche, 79  Tönnies,

S. 3.



II. Vergesellschaftung und Theologie49

sondern verheißt auch das zu Entdeckende, das erobert und gestaltet werden will, eine Welt der Abenteuer. Wohl bemerkt Tönnies das Wehe im gemein­ schaftlichen Leben, er unterschlägt aber das Verlockende der Gesellschaft. Die Erinnerung an die Heimat, in der wir einmal waren, ist auch geprägt von Erlebnissen der Ohnmacht, des Stillstands, und es galt als Kind allemal, sich phantasievoll auszurüsten, um den Mut zu proben, spielerisch aus der Unmündigkeit auszubrechen und in Abenteuern zu bestehen, unterwegs in die Heimat, in die wir alle wollen, aber wo noch keiner war,80 und die sich letztlich als eine immer weiter hinausschiebende Grenze in diese Heimatre­ gion herausstellen wird. Odysseus kehrt heim, um wieder auszufahren.81 Nicht allein in Ilias und Odyssee, auch in biblischen Narrativen wie dem vom Auszug Sarais und Abrams aus Charan (Gen 12, 1 ff.) und dem der Exoduserzählung konnte sich das frühbürgerliche Selbstverständnis wider­ spiegeln. Es scheint der Interpretationsgemeinschaft, die sich der Rezeption der griechischen und biblischen Literatur widmete, eine Unruhe eigen zu sein, die darin ihren spezifischen Heroismus ausbildete, nicht bleiben zu wollen, was sie war. Die Worte, die Thukydides den Korinthern auf einer Versammlung in Sparta in den Mund legte, als er sie die Athener charakte­ risieren ließ, klingen ungemein modern: „Sie sind die ewigen Neuerer, rasch im Planen und in der Ausführung dessen, was sie erkannt haben; ihr aber begnügt euch, das Bestehende zu wahren, keine neuen Pläne zu schmieden, und bei eurem Handeln nicht einmal das Notwendigste zu erreichen. Ferner sind sie über ihre Macht hinaus wagemutig, wider alle Vernunft draufgän­ gerisch, auch in Gefahren voller Zuversicht; eure Art dagegen ist es, weni­ ger zu leisten, als in eurer Macht stünde (…).Und weiter: sie sind tatkräftig, ihr seid Zauderer, sie schweifen in die Ferne, ihr hockt zu Hause. (…) Das alles betreiben sie unter Mühen und Gefahren ihr ganzes Leben lang, genie­ ßen kaum ihren Besitz, weil sie immer auf Erwerb aus sind, kennen kein anderes Fest, als die Pflicht zu erfüllen, und halten tatenlose Muße für kein geringeres Unglück als mühselige Arbeit. Wenn daher jemand zusammen­ fassend behauptete, sie seien dazu geschaffen, weder selbst Ruhe zu halten 80  Ernst Bloch verweist darauf, wie Dante das Thema in der Göttlichen Komödie (XXVI v. 79–149) aufgreift (Bloch, S. 1201 ff.), und schreibt dazu: „Wäre Ithaka kein Symbol, so wäre es ein Problem“ (Bloch, S. 1202). Aus reformierter Sicht ist es gerade als Symbol ein Problem! 81  Bloch, S. 1201 ff. In seiner autobiographischen Reflexion schildert Didier Eribon den Entfremdungsprozess, der mit gesellschaftlichem Aufstieg verbunden ist, auf eindrückliche Weise. „Sicher, ich blieb der Welt meiner Jugend insofern treu, als ich nie so weit ging, die Wertvorstellungen der dominierenden Klasse vollständig zu übernehmen. (…) Doch wie groß war der Abstand geworden, der mich inzwischen von dieser Welt trennte! Obwohl ich den Kämpfen des Volkes immer nahestand, (…) muss ich gestehen, dass ich für das real existierende Arbeitermilieu in meinem tiefsten Inneren vor allem Ablehnung empfand.“ (Eribon, S.  23 f.).

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noch die anderen Menschen in Ruhe zu lassen, so hätte er vollkommen recht.“ (Thuk 1, 70,2)82 Das bürgerliche Selbstverständnis war in der europäischen Bildungstradi­ tion literarisch schon ausgebildet, als es gesellschaftlich erschien und sich selber über Erziehung und Bildung zu reproduzieren begann. Darüber hin­ aus muss im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Athen und Sparta, wie Thukydides es skizziert, noch festgehalten werden: Die Athener lebten an­ ders als die Spartaner, weil sie sich andere Institutionen gegeben hatten, die ihnen ihre spezifische Lebensweise ermöglichten. Als der institutionelle Rahmen zerbrach, erlosch das ethos sicher nicht völlig, es verlor aber seine gesellschaftliche Gestaltungskraft. Wer auszieht und in das schon bestehen­ de Außen bloß einzieht, ohne an seiner Gestaltung mitzuwirken, vertauscht nur ein Joch gegen ein anderes. An die Stelle des Spielzeugs, das die eingebildeten kindlichen Helden als solche ausweist, tritt im weiteren Verlauf der dann sich tatsächlich vollzie­ henden Sozialisation, sofern sie eine republikanische zu sein beansprucht und die in Schule, Ausbildung und gegebenenfalls Hochschule stattfindet, die politische Sprache, die Rhetorik. Die Gesellschaft ist die Welt des Dis­ kurses. Die Sprache ist die Waffe der Emanzipation im Kampf um Anerken­ nung, und republikanisch orientierte Politikwissenschaft sollte im Rahmen der rechtsstaatlich garantierten Freiheit der Wissenschaft demokratische Waffenkunde sein. Jene, die in den kindlichen Auseinandersetzungen die Kämpfe über ihre Fäuste gewinnen und damit, wenn ihnen niemand wehrt, früh schon lernen und später weiter wähnen, einen anderen Weg des Erfolgs gehen zu können, der ihnen Identitätssicherung verheißt, glauben dann viel­ leicht eher an die Sprache der Gewalt. Sie verstehen sich gelegentlich the­ oretisch bestätigt, wenn sie in den Werken der einschlägigen Autoren der politischen Ideengeschichte schöne Stellen finden wie folgende: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materi­ elle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“83 Allein die wirkliche Macht kommt nicht aus den Gewehrläufen, sondern bedarf der Anerkennung und damit der Rede. Darum ist die Kunst der Re­ de die höchste Kunst im Rahmen des Politischen. Das gilt nicht nur für die Legitimierung von Macht, sondern auch für ihre Infragestellung. So sagt Ferdinand Lassalle, dass alle große politische Aktion darin bestehe, das auszusprechen, was sei.84 Gewalt als politische Gewalt, das unterscheidet 82  Thukydides,

S. 88. (1981), S. 385. 84  Lassalle, S. 173. 83  Marx



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sie vom Verbrechen, bleibt stets von öffentlicher Anerkennung abhängig und damit zweckgebunden. Sie ist grundsätzlich instrumentell. Das aner­ kennt Marx, wenn er schreibt, dass die Waffe der Kritik der Kritik der Waffen nicht entbehren könne. Die Kritik der Waffen ist grundsätzlich ins­ trumentelle Gewalt im Dienste der Kritik. Die Kritik der Waffen bedarf der Waffe der Kritik mehr als umgekehrt die Waffe der Kritik der Kritik der Waffen. Sich als politische Gewalt auszuweisen, gelingt vielen vorgeblichen Widerstands‑ und Befreiungsbewegungen heute nicht mehr, so dass ihre Gewalt entsprechend nicht als Kriegsmaßnahme, sondern rein als Verbre­ chen wahrgenommen wird bzw. als Kriegsökonomie, wie Herfried Münkler es aufgezeigt hat,85 oder als verzweifelter Terrorismus, der mehr den Cha­ rakter eines Amoklaufes hat denn den einer politischen Aktion. Gewalt, die religiös gerechtfertigt wird, ist nichts weiter als religiös ummantelter Amok. Wenn zur Gewalt im Dienste von Interessen gegriffen wird, ist sie grund­ sätzlich instrumenteller Natur. Auf den ersten Blick scheint die revolutionä­ re Gewalt demgegenüber existenziellen Charakter zu haben. Aber so, wie ein Interesse, um durchgesetzt werden zu können, der Organisations‑ sowie der Konfliktfähigkeit bedarf,86 gelingt eine Revolution nicht über die bloße Anwendung von Gewalt, sondern nur über die Delegitimierung alter und die Etablierung neuer institutioneller Verfahren der Gesetzgebung und Gehor­ samsdurchsetzung. Politische Gewalt ist relativ existenziell, besser gesagt instrumentell im Hinblick auf eine schon geleistete existenzielle Maßnah­ me.87 Sie dient der Durchsetzung schon geschaffener Verfahren, die noch auf Widerstand stoßen, der seinerseits nicht mehr vermag, die gewohnten Verfahren zu legitimieren bzw. für deren Legitimierung Anerkennung über öffentliche Rede zu erwirken. Ursache von Gewalt kann sein, dass man dem 85  Münkler

2002a, S. 131 ff. Offe, S.  167 ff. 87  Über die Unterscheidung zwischen instrumenteller und existenzieller Krieg­ führung vgl. Münkler (2002), S. 91 ff. Münkler bezieht sich auf Clausewitz und bestimmt die existenzielle Kriegführung wie folgt: „Hier ist der Krieg kein Instru­ ment der Politik, Mittel bei der Verfolgung politischer Ziele, sondern er ist gedacht als ein Medium der Selbststeigerung des Menschen, in der dieser sich den Egoismen seiner Alltäglichkeit überhebt, und der Krieg bringt erst jenen Zustand hervor, in dem sich ein politischer Körper seiner Identität bewußt wird.“ Münkler verweist in diesem Zusammenhang auf die Rede Brissots vor dem Jakobinerclub, in der der Girondist äußerte: „Ein Volk, welches die Freiheit nach Jahrhunderten der Sklaverei erobert hat, braucht den Krieg.“ (Münkler 2002, S. 107). Diesem Krieg, den das revolutionäre Frankreich dann auch führte, war die Etablierung republikanischer Institutionen schon vorausgegangen. Der existenzielle Charakter, der diesem Krieg zugeschrieben wurde, war politisch gewollt und ist darum instrumentell zu verste­ hen. Er begründete die Strategie. Wo noch keine Institutionen vorzuliegen scheinen, wie im Fall der kolonialen Befreiungsbewegungen, gibt es dennoch institutionelle Strukturen in Form einer Partei oder militärischer Organisation. 86  Vgl.

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revolutionären Widerstand noch erfolgreich Öffentlichkeit zu verweigern vermag. Diese Verweigerung kann aber dort niemals vollständig sein oder auf Dauer gelingen, wo der Bestand von Gemeinschaften, die glauben, der Öffentlichkeit entbehren zu können, schon Gesellschaft voraussetzt. Politi­ sche Gewalt hat selber eigentlich keine existenzielle Natur.88 Einen Krieg sollte man erst beginnen, wenn man ihn diplomatisch gewonnen hat, weil man ansonsten politisch zu verlieren droht, auch wenn man ihn militärisch erfolgreich beenden kann. Neue Institutionen sind mit dem Mittel der Gewalt nicht zu erzwingen, wenn ihnen nicht schon breite Anerkennung im Voraus zugesprochen wor­ den ist. Darum lässt sich die revolutionäre Gewalt grundsätzlich als defensiv verstehen, wenn sie z. B. den noch verbliebenen Feinden der schon revolu­ tionär geschaffenen Institutionen Einhalt gebietet, sie abschreckt und die schon weitgehende Akzeptanz der neuen Verfahren in eine allgemeine An­ erkennung umzuwandeln verhilft. Howard Caygill verweist in diesem Zu­ sammenhang auf Clausewitz: „As the first theorist of the war of resistance, although for long mistaken as the theorist of the wars of nation states, Clausewitz’s insight that modern politics and war pivot upon the ‚capacity to resist‘ is crucial to a philosophy of resistance and complicates its reaction to the discourse of force.“89 Ohne die Voraussetzung der revolutionären Veränderung des institutionel­ len Zusammenspiels ist Gewalt nicht revolutionär, sondern allenfalls eine Rebellion oder gar nur eine Revolte, also Aufruhr.90 Zudem hat revolutio­ 88  Hannah Arendt hat so gegen Franz Fanon argumentiert, der alleine schon dem Akt der Gewalt eine konstitutive Bedeutung beigemessen hat: „Die gewalttätige Praxis wirkt integrierend, weil sich jeder zum gewalttätigen Glied der großen Kette, der großen gewalttätigen Organisation macht, die als Reaktion auf die primäre Ge­ walt der Kolonialisten aufgestanden ist.“ (Fanon, S. 76). Arendt äußert dazu (wobei sie auf die Anhänger Fanons rekurriert): „Revolutionäre – gerade das sind sie nicht. Sie sind auch nicht revolutionär organisiert; sie haben keine Ahnung, was Macht bedeutet; und sie sind sicherlich die letzten, die, wenn die Macht auf der Straße liegt und sie wissen würden, daß sie dort liegt, auch bereit wären, sich zu bücken und sie aufzuheben. Genau das machen die Revolutionäre. Die Revolutionäre machen nicht die Revolution! Die Revolutionäre sind diejenigen, die wissen, wann die Macht auf der Straße liegt und wann sie sie aufheben können! Der bewaffnete Aufstand hat als solcher noch nie zu einer Revolution geführt.“ (Arendt, S. 111). 89  Caygill, S. 60. 90  Revolte kann von Rebellion unterschieden werden, insofern sie spontan er­ folgt, während Rebellionen geplant sind. Den sogenannten Arabischen Frühling eine Revolution zu nennen, wäre dagegen vermessen, aber inwiefern er eine Arabellion gewesen ist, darf auch bezweifelt werden. Zwar gelang in Ägypten ein Regierungs­ wechsel, aber jene, denen die Macht zufiel, waren nicht in der Lage, sie im Sinne von Hannah Arendt zu nutzen. Der Putsch in der Türkei im Sommer 2016 war eine erfolglose Rebellion.



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näre Gewalt eine kommunikative Bedeutung im Hinblick auf zu interessie­ rende Dritte nur dann, wenn sie auf Programme verweisen kann. Aber auch die ihr vorausgehende revolutionäre Etablierung neuer Institutionen, also die Einführung neuer allgemeinverbindlicher Verfahren an Stelle überlebter In­ stitutionen, setzt eine Öffentlichkeit voraus, die das Neue bereits anerkannt hat, als es noch nicht verwirklicht war. Ideen sind mehr als Hirngespinste, wenn sie Legitimität zu untergraben vermögen. Ein Legitimitätsvakuum gibt es nicht. Es wird stets gefüllt. Organisationsfähigkeit und Konfliktfähigkeit sind für Claus Offe Voraus­ setzungen dafür, dass in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen Interessen durchgesetzt werden können.91 Das gilt für punktuelle Interessen, deren Durchsetzung keine Veränderung schon bestehender Institutionen erfordert, vielmehr deren Bestand voraussetzt, sei es in der Gesetzgebung, in Tarifaus­ einandersetzungen u. a. m. Revolutionären genügt Organisations- und Kon­ fliktfähigkeit nicht, sie müssen die Fähigkeit besitzen, in Ausnahmezustän­ den die herkömmlichen Verfahren besonders der Gesetzgebung neu zu ins­ titutionalisieren. Freilich weiß man erst im Nachhinein, wie Hegels Eule der Minerva,92 ob es sich im Moment der Entscheidungen um eine revolutionä­ re Situation gehandelt hat oder nicht. Darum sind Revolutionäre „Tote auf Urlaub“93, deren Überleben an nichts anderes gebunden ist als an die ad­ äquate Einschätzung der Situation, die immer ein Risiko birgt.94 Das gilt allerdings auch für ihre Gegner: Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Als Ludwig XVI am Abend des 14. Juli 1789, also nach dem Sturm auf die Bastille, gegenüber dem Großmeister der königlichen Garderobe, dem Her­ zog de La Rochefoucauld-Liancourt, bemerkte, in Paris habe eine Revolte stattgefunden, und der Herzog das verneinte und entgegnete, er betrachte das vielmehr als eine Revolution, hatten beide Unrecht – sofern der Dialog überhaupt stattgefunden hat, er ist nicht verbürgt, aber dennoch eine lehr­ reiche Anekdote. Die Revolution war den Vorgängen in Paris nämlich be­ reits vorausgegangen, als die Delegierten des Dritten Standes in Versailles ihre Zusammenkunft am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung erklärt hatten, sich ihnen in der Folge Delegierte der beiden anderen Stände an­ schlossen und der Hof dem nichts entgegenzusetzten vermochte. Er ließ es geschehen. Die Gewalttaten in Paris wandten sich nicht gegen den neuen Souverän und waren darum keine Revolte, geschweige denn eine Revoluti­ 91  Offe,

S 167 ff. (1955), S. 17. 93  Ein Ausspruch, der auf Eugen Leviné zurückgeführt wird. 94  Bei Lichtenberg heißt es entsprechend, dass die Priester der Minerva durchaus ihren Vögeln glichen, die in der Dämmerung zwar trefflich in der Lage seien, Mäu­ se zu fangen, aber bei Tage den Kirchturm nicht eher bemerkten, als bis sie sich daran die Köpfe entzwei gestoßen hätten (Sudelbücher K., S. 173). 92  Hegel

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on. Die Gewalt wandte sich vielmehr gegen jene, die noch nicht verstanden hatten, dass sie die Macht gar nicht mehr in den Händen hielten, als sie selber mit Gewalt drohten und Truppen in der Umgebung von Paris zusam­ menzogen, um das revolutionäre Zentrum in Paris einzuschüchtern. Institutionen kommen gemäß John Searle durch allgemein anerkannte Sprechakte in die Welt,95 nicht durch Gewalt, auch wenn ihre allgemeine Anerkennung in revolutionären Zeiten mit Gewalt gegenüber jenen erzwun­ gen werden muss, die sich in den Machtverlust bzw. in die neuen Macht­ verhältnisse noch nicht fügen wollen. Dann sprechen eben die Waffen. Gewöhnlich übertönt das Schlachtengetümmel das tatsächliche revolutionä­ re Geschehen, das den Maßstab dafür bildet zu beurteilen, ob Gewalt revo­ lutionär oder nur Rebellion, nur revoltierend und nichts weiter als Aufruhr ist. Auf der anderen Seite muss in den Blick genommen werden, welcher Art die Institutionen sind, die auf revolutionärem Weg neu geschaffen wer­ den, d. h. ob sie staatlicher oder republikanischer Art sind. Diese Unter­ scheidungen vorzunehmen ist die Aufgabe von Politikwissenschaft. Michael Walzer führt an den Beispielen von Israel, Algerien und Indien aus, dass in allen drei Fällen zwar die Befreiung über säkular ausgerichtete Befreiungsbewegungen gelungen sei, die Staaten heute aber von fundamenta­ listischen Religionsbewegungen herausgefordert würden. In einem Nachwort benennt Walzer die Unterschiede dieser Staatsgründungen im Vergleich zur Unabhängigkeit der USA. Obgleich es in den USA zu religiösen Erweckungs­ bewegungen im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts gekommen sei, hätten diese niemals die Verfassung in Frage gestellt. Walzer benennt dafür mehrere Gründe: Zum einen verdanke sich die Unabhängigkeit der USA trotz ihrer säkularen Begründung nicht einer nationalen Befreiungsbewegung, „The re­ volutionaries didn’t have to create ‚new‘ Americans: the Americans were al­ ready new.“96 Zudem habe in den USA und vormals in den Kolonien keine der christlichen Denominationen dominiert: „Pluralism pressed American Protestantism toward toleration, disestablishment, and separation.“97 Anders 95  Searle

(1995), S. 31 ff, siehe auch Searle (2010), S.  90 ff. (2015), S. 138. 97  Walzer (2015), S. 138. Walzer räumt aber auch noch zweierlei ein: Die amerika­ nische Revolution habe keinen sozialen Charakter gehabt. Trotz erheblicher sozialer Ungleichheit habe in der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Umgangs miteinander ein Gleichheitsideal geherrscht. Walzer weist zudem darauf hin, dass die Emanzipati­ on der Frauen nicht auf der Agenda der Revolutionäre gestanden habe, anders als in den nationalen Befreiungsbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts, und er mut­ maßt, dass im anderen Falle aus dem religiösen Lager erheblicher Widerstand erwach­ sen wäre. „Had there been a revolutionary push for equality between men and women, the religious revival would almost certainly have brought a powerful pushback – which is exactly what happened in India, Israel, and Algeria.“ (Walzer 2015, S. 145). 96  Walzer



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als für Walzer scheint mir aber Israel nicht ganz in die Reihe zu passen, weil dem Staat Israel die Institutionen des Zionistischen Weltkongresses voraus­ gegangen waren. Ihre Überführung in Staatlichkeit erleichterte die Staats­ gründung. Die Herausforderung, die Israel heute innenpolitisch zu meistern hat, stellt sich auch einigen europäischen Staaten in Gestalt des Populismus mit nationalem Anstrich. Walzer bemerkt darüber hinaus auch nicht, dass die Gründung der USA weniger über eine Revolution erfolgte als über den ­Zusammenschluss von Kolonien, die ihre schon bestehende Verwaltung in Eigenstaatlichkeit umwandelten und eine Union vereinbarten. Auch hier be­ standen also schon Institutionen. Außerdem unterschlägt Walzer den Bür­ gerkrieg, den man mit gutem Recht als den eigentlichen Gründungsakt der USA als Union begreifen kann. Republik ist so billig nicht zu haben und musste auch in den USA gegen die Staaten des Südens durchgesetzt werden. Freilich sind weder Israel noch Algerien und Indien in dem Sinn wie die USA Republik. Dennoch ist auffällig, dass in den USA die Religion keine destabilisieren­ de Wirkung für das politische Gemeinwesen gehabt hat, sondern im Gegen­ teil sogar stabilisierend wirkte. Wenn Walzer schreibt, das liege daran, dass keine Denomination dominiert habe, dann darf seine Bemerkung aber da­ hingehend präzisiert werden, dass er dennoch dem Protestantismus eine herausragende Stellung in den USA zuspricht, was er an dieser Stelle aber nicht eigens reflektiert. Es herrscht, wie es scheint, in den USA ein anderes logisches Denken vor als in den von Walzer untersuchten Staaten, so dass die republikanischen Institutionen von der vorherrschenden Denomination nicht als etwas Fremdes empfunden werden, sondern als artverwandt. Die Sprache als Waffe der Demokratie, die politische Sprache und die Sprache der Politikwissenschaft waren nicht schon immer da. Sie mussten entwickelt werden. Es erfolgte zwar schon vor der Reformation die Rezep­ tion politischer Begriffe aus der Antike, aber es gab die Institutionen nicht mehr, auf die sie sich bezogen. Ihre Semantik musste verändert werden. Das besorgten die Humanisten, deren Bildung elitär war. Das einfache Volk war dagegen mit dem Vokabular der Bibel vertraut, mit dem ebenfalls Instituti­ onen geschaffen werden konnten. Die Reformation kann als eine öffentliche Inszenierung der Interpretation dieser Sprachen begriffen werden. Ange­ sichts dessen, dass in den Zeiten der Reformation die Christengemeinden und die Bürgergemeinden identisch, jedenfalls soziologisch nicht zu unter­ scheiden waren, wurde nicht nur kirchliche, sondern auch gesellschaftliche und politische Macht neu verteilt und neu organisiert, und das geschah vorzugsweise nicht nur im Medium der theologischen Termini, mehr noch mit der sie integrierenden theologischen Sachlogik. Es stand keine andere zur Verfügung. Die theologische Sachlogik war aber nicht einheitlich. Das setzte die Diskurse in Gang.

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Bekanntlich hat Luther keine Kirchenspaltung angestrebt, sondern zu Beginn der öffentlichen Auseinandersetzungen um die geforderten Refor­ men die bestehenden Institutionen des römischen Katholizismus als solche nicht in Frage gestellt. Die Entwicklung ließ sich in der Folge aber nicht mehr friedlich steuern. Radikalere Konzepte wurden rhetorisch, notfalls auch mit Gewalt in ihrer Umsetzung unterdrückt. Schon Luthers Rückkehr nach Wittenberg, nachdem er auf der Wartburg dem Vollzug der in Worms ausgesprochenen Reichsacht entzogen worden war, diente dem Zweck, der Bilderstürmerei Karlstadts zu wehren. Alles geriet in Fluss. Was geschah, musste im Lichte einer schon bestehenden Öffentlichkeit begriffen werden. Gleichzeitig mussten im Licht dieser Öffentlichkeit Konzepte entworfen werden, mit denen den Herausforderungen begegnet werden konnte. Die Sprache der Theologie veränderte ihren Charakter. War sie im Hochmittel­ alter zu einer ontologischen Begriffslogik entwickelt worden zum Zwecke der Disputation und Begründung kirchlicher Institutionalisierung, wurde die Semantik ihrer Begriffe jetzt dynamisiert und für die Gestaltung der weltli­ chen Verhältnisse relevant. Die vorgefundenen Verhältnisse waren in der Schweiz aber grundsätzlich anders als in den territorialen Fürstentümern im Rahmen des Heiligen Rö­ mischen Reichs Deutscher Nation. Die verschiedenen institutionellen Rah­ menbedingungen, die lutherische und reformierte Reformatoren vorfanden, haben einen entscheidenden Einfluss auf die jeweilige Reformation gehabt. D. G. Hart hat das in seiner Geschichte des Calvinismus unterstrichen. „A significant factor in the level of agreement among the Reformed churches and for the well-being of their pastors was the patronage of magistrates who combined political and religious interests to create space for Protestantism to take root and even flourish“98, und weiter: „Zurich and Geneva were the two most important cities, and representative of Reformed Protestantism’s early attempts to change the European churches. The teachings and espe­ cially the new ways of conducting church life in these cities became models for Christians elsewhere, but what those Reformers could not pass on to other Protestants were the city councils that supported reform. In fact, the realities of European politics would prevent the Swiss examples from being readily exported. Switzerland was unique in its isolation and independence. Meanwhile, the dynamics of city politics were distinct from those of Europe’s kingdoms, territories, and empires.“99 Die besondere Nähe des Luthertums zum Staat in Deutschland führt Ru­ dolf Smend dagegen darauf zurück, dass die Reformation im Reich nicht nur mit Unterstützung und unter dem Schutz der protestantischen Reichs­ 98  Hart, 99  Hart,

S. 22. S. 25.



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fürsten habe durchgeführt werden können, sondern dass in Deutschland die Flächenstaaten auch nur im Bündnis mit der Reformation hätten entstehen können: „(D)ie evangelische Kirche entstand im Rahmen des Staats, als Landeskirche, von den einzelnen deutschen Landesherren zugelassen, getra­ gen und beschützt; und diese Entstehung fiel in die Zeit, als auch der mo­ derne Staat im Werden war, ein Vorgang, der wiederum durch die Entste­ hung der evangelischen Landeskirchen stark beeinflußt und gefördert wurde.“100 Smend weist in diesem Zusammenhang besonders auf die Be­ deutung der protestantischen Ethik für die Beamtenschaft hin. In den Städten bestand die Reformation hauptsächlich darin, die kirchli­ chen Institutionen auch in die Hand der Bürgergemeinden, aber nicht aus­ schließlich in die Hände der Magistrate zu geben. In der Tradition Zwinglis entwickelte sich zwar zunächst ein reformiertes Staatskirchentum, das evo­ zierte aber Widerstand und traf im Calvinismus auf eine Gegenbewegung. Das beflügelte die politische Reflexion. Im Kampf um die Unabhängigkeit der Kirche fanden die Schweizer Reformatoren in ihren politisch formierten Bürgergemeinden Verbündete, was schließlich auch auf die städtischen Ver­ fassungen zurückwirkte,101 während das Luthertum im Bündnis mit den Landesfürsten stand, die die Verstaatlichung ihrer Territorien betrieben. Die reformatorischen Bewegungen profitierten von den jeweiligen politischen Entwicklungen und beförderten sie gleichzeitig. Das führte zur innerrefor­ matorischen Entfremdung. Die Theologie vollzog während der Reformation ihren Exodus aus der Kir­ che in die sich neu formierenden Gesellschaften. Sie zog in der Schweiz aber mit einer anderen Absicht in die Welt, weil die Welt der Schweizer anders war als die Welt Luthers. Die Welt der städtischen Republiken lud in der Schweiz zur Mitgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse ein, während der Theologie in den entstehenden Territorialstaaten nur der Zugriff auf die einzelnen Gewissen gestattet war. Die Mitgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse war hier nicht über Politik, sondern nur über Ethik möglich. So entwickelte sich in den Konfessionen ein unterschiedliches Verständnis des Menschen: Die reformierte Tradition versteht den Einzelnen primär gesell­ 100  Smend,

S. 297. Brady betont unter Verweis auf Sabine von Heusinger (Zunft im Mit­ telalter ) die ohnehin bestehende soziale Dynamik in den Städten, namentlich in Straßburg, Die breitere Beteiligung der Bürgerschaft an den öffentlichen Entschei­ dungen sei oftmals gar nicht dem Adel abgerungen worden, wie z. B. in Straßburg: „Tatsächlich verhielt es sich so, dass die gut dokumentierten patrizischen Familien oder Constofler ‚eine aussterbende soziale Gruppe (bildeten), die einen Zuwachs bitter nötig gehabt hätte‘. Straßburgs patrizische Stadträte der Reformationszeit (…) waren demnach nicht der Kern eines mächtigen Patriziats, sondern Überbleibsel einer einst herrschenden, aber nun verschwindenden Elite.“ (Brady, S. 28). 101  Thomas

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schaftlich, die lutherische Tradition das Gesellschaftliche primär vom Einzel­ nen her. Damit ist die lutherische Theologie anschlussfähiger an das konti­ nentale Verständnis von Aufklärung gewesen, was es dann dem Kulturprotes­ tantismus erlaubte, Luthertum und Aufklärung zu verschmelzen. Die konfessionellen Unterschiede sind heute noch nicht überwunden, spielen aber in der säkularisierten Gesellschaft keine bedeutende Rolle mehr. Die verschiedenen theologischen Absichten sind jedoch in der säku­ larisierten Welt nicht verschwunden, sondern wurden ihrerseits säkularisiert. Charles Taylor z. B. betrachtet in seinem Buch über die Säkularisierung unsere gegenwärtige Moderne als eine Epoche, die den Zeitgenossen nicht mehr eine kollektive, sondern eine individuelle Authentizitätssicherung ab­ verlange, und er betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung des pro­ testantischen Erbes für den modernen, nicht mehr institutionell gebundenen Spiritualismus.102 Auch Friedrich-Wilhelm Graf kommt, unabhängig von Taylor, von theologischer Seite zu dem Ergebnis, dass die so genannte Sä­ kularisierung nicht als Rückgang von Religiosität verstanden werden dürfe. Er urteilt über die liberale Theologie des Protestantismus, in deren Tradition er sich sieht, dass es auch ihr um eine gewisse Eindeutigkeit der Identität gehe, die Sicherheit vermitteln solle: „Frömmigkeit wird, für protestantische Liberale, definiert über Selbstgewißheit, Gewissen, Innerlichkeit, Identität, Individualität und den Aufbau subjektiver Plausibilitätsstrukturen.“103 Jo­ seph Vogl, um noch eine dritte Stimme heranzuzuziehen, beklagt in seinem Buch über das Gespenst des Kapitals die obsolete Möglichkeit solcher bürgerlichen Existenz, zumindest im Rahmen des zeitgenössischen Finanz­ kapitalismus: „Der ältere Auftrag, Lebensläufe als Selbstwerdungsprozesse zu verwirklichen, weicht der Aufgabe, sich mit einer Kunst des Anderswer­ dens zu arrangieren. Der Identitätszwang ist der Empfehlung zum NichtIdentischen gewichen.“104 So sehr Vogl insofern gegenüber Graf im Recht ist, als zumindest die von Graf angesprochene kulturprotestantische Identi­ tätssicherung im Kontext des Finanzkapitalismus nunmehr nur noch einer kleinen, privilegierten Minderheit zu gelingen scheint, seine Vorstellung von Identität entspricht der von Taylor und Graf. In der bürgerlichen Gesellschaft im Verständnis der Schweizer Reforma­ tion wird anders argumentiert. Im Prozess der Vergesellschaftung soll Iden­ tität aufgehoben werden, aber nicht im vollen dialektischen Sinne. Denn sie wird nur negiert und im endlichen Sinn bewahrt, also gerade nicht im Sinne von Auf-eine-höhere-Ebene-heben aufgehoben. Vogl ist uneinge­ schränkt zuzustimmen, wenn er urteilt: „Lebenslanges Lernen, Flexibilität, Taylor, Charles: A Secular Age. S. 100. 104  Vogl, S. 138. 102  Vgl.

103  Graf,



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Mobilitätsbereitschaft und die Herrschaft des Kurzfristigen verlangen die Auflösung stabiler Identitäten“.105 Die moderne Bürgerrepublik der refor­ mierten Prägung hat nicht Sparta, sondern Athen zum Vorbild. Wenn die bürgerliche Identität damit radikal als geschichtlich begriffen wird, scheint es Gewinn versprechend zu sein, den Versuch zu unternehmen, die refor­ mierte Tradition als eine Antwort einer bestimmten bürgerlichen Identität auf Herausforderungen ihrer Zeit zu begreifen. Dieses Bürgertum konnte sich nur bewahren, indem es eine Identität, die sich aus Traditionen und Naturgebundenheit speiste, aufgab. Aus diesem Grunde mangelte es seinem Selbstverständnis auch an metaphysischer Gewissheit, wie Heiko Oberman es aufzeigt: „Gott offenbart seine Wahrheiten nicht in der Form des zeitlos Absoluten, sondern in der Anpassung an die Vorstellungskraft und den Wis­ sensstand des Menschen.“106 Der Mangel aber wird zum Gewinn, wenn die Kritik der Tradition sich so radikal verschärft, dass Tradition überhaupt zum Problem wird. Dann versteht sich diese bürgerliche Variante der Identität der Nichtidentität nicht nur als geschichtlich geworden, sondern auch als geschichtlich in die Zu­ kunft entworfen. Damit begründet sie die radikale Aufklärung. Denn sie kann nicht bei sich selbst verweilen, wenn sie kein Selbst mehr behauptet. Dem entspricht wiederum, wie Calvin die göttliche Vorsehung versteht. Dazu noch einmal Oberman: „Es ist häufig festgestellt worden, dass Gottes Vorsehung in Calvins Denken eine besondere Rolle spielt. Diese Vorsehung ist jedoch nicht als der unausweichliche, notwendige Prozess zu verstehen, als den ihn das neuere historische Denken betrachtet, sondern als die Ge­ wissheit, dass unvorhergesehene und nicht voraussagbare Konsequenzen zu erwarten sind. Das Dunkel der Zukunft enthebt den Menschen nicht seiner Verantwortung im Gehorsam vor Gott. Damit liefert Calvin eine Begrün­ dung dafür, die Unzulänglichkeiten der Kirche wie der Gesellschaft aus dem Bereich des Verhängnisses und des Schicksals in einen Bereich zu verla­ gern, in dem der Mensch auf Herausforderungen reagieren kann.“107 Dieser neue Mensch, der in dem Einverständnis damit lebt, dass er keine Aussicht auf eine Heimstatt hat, die ihn nicht mehr herausforderte (vgl. Hebr 13, 14), ändert seinen Blick auch auf das Politische. Er zieht aus, aber nicht in eine schon als neue Ordnung vorgefundene Welt. Diese Welt gilt es vielmehr erst im Verbund mit anderen zu gestalten. Hier zieht kein Indivi­ duum aus, sondern Gemeinde. Die Gemeinde eint nun aber nicht die Sum­ me der vereinzelten Glaubensüberzeugungen, auch nicht die Tugendhaftig­ keit der Mitglieder, ihr Sein ist die Bundestreue. 105  Vogl,

S. 137. S. 114. 107  Oberman, S.  147 f. 106  Oberman,

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2. Tugend und Bundestreue Die Nähe zum politischen Humanismus lässt sich deutlich erkennen, wenn man bereit ist, in Nicolo Machiavelli einen Humanisten zu sehen, der Geschichte schon als eine Abfolge von challenge und response versteht: So stellt J. G. A. Pocock das, was er als Machiavellian moment bezeichnet hat, in zweifacher Weise vor: einmal ideengeschichtlich, zum anderen in den Schriften Machiavellis werkgeschichtlich. Zum einen meint Pocock mit moment den historischen Zeitpunkt, ab dem die politische Philosophie Ma­ chiavellis beginne, öffentlich virulent zu werden, zum anderen bezeichnet Pocock so aber auch den literarischen Ort bei Machiavelli in den Discorsi, wo versucht werde, die Ursachen des Untergangs von Republiken zu ver­ stehen, um gleichzeitig zu ermitteln, wie ihm zu wehren sei. Machiavelli rekurrierte auf die antike Lehre vom Kreislauf der Verfassungsformen, be­ sonders auf Polybius. Philosophiegeschichtlich markiert für Pocock the Machiavellian moment den Bruch mit einem Geschichtsbild, das die Heils­ geschichte von der profanen Geschichte unterscheidet, weil in der einen die göttliche Vorsehung, also providentia, in der anderen fortuna, also das blinde Schicksal, das Regiment führe. Aber in dieser Unterscheidung greift Pocock zu kurz, denn er übersieht, dass so sehr es auch für die Schweizer Reformatoren die heilsgeschichtlich verbürgte Sicherheit der Glaubensge­ wissheit nicht mehr gab wie auch für Machiavelli, sie sich dennoch nicht der fortuna als gänzlich ausgeliefert betrachteten. Augustinus hatte sich noch mit seinem Konzept der Vorsehung als Tröstung der Gläubigen gegen den sinnlosen Kreislauf, den der stoische Schicksalsglaube gelehrt hatte, gewandt, und Herfried Münkler bemerkt hierzu: „Ohne die christliche Heilsgeschichte im Hintergrund ist die Weltgeschichte eine sich immer wie­ derholende Abfolge sinnloser Ereignisse, was dann zugleich aber auch heißt: Ohne die christliche Heilsgeschichte wäre der Zyklus durchaus die angemessene Beschreibung der geschichtlichen Abläufe gewesen.“108 Ein Heilsweg habe da im Rückzug aus der profanen Welt in den religiösen Bereich der Klöster bestanden. Das mönchische Leben sei als Immunisie­ rung gegenüber den Launen der fortuna aufgefasst worden.109 Diesen Weg sind weder die Humanisten vom Schlage Machiavellis noch die Schweizer Reformatoren mehr gegangen, im Gegenteil: Letztere haben ihn versperrt. Hierin besteht also Gemeinsamkeit. 108  Münkler

(1982), S. 74. war nicht der Weg Augustins, der nicht seinem Wunsche entsprechend Mönch wurde, sondern Bischof werden musste. Münkler lässt darum unter Berufung auf Josef Piper das Mittelalter mit Cassiodors Eintritt ins Kloster beginnen, während es mit der Flucht Ockhams aus dem Kloster an den Kaiserhof ende (Münkler 1982, S. 62). 109  Das



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Aber die reformierten Reformatoren schreiten doch nicht Seit an Seit mit den Humanisten in die neue Zeit. Sie orientieren sich nämlich an fides und nicht an virtù. Machiavelli und der Humanismus hätten, so Pocock, die virtù als Befähigung zur Innovation gefeiert, anders als sie im Mittelalter aufgefasst worden sei, als Ursache für Zerstörung. Damit hätten sie aber die politisch selbstzerstörerische Tendenz der virtù durchaus anerkannt. „On the one hand virtù is that by which we innovate, and so let loose sequences of contingency beyond our prediction or control so that we become prey to fortuna; on the other hand, virtù is that internal to ourselves by which we resist fortuna and impose upon her patterns of order, which even become patterns of moral order. This seems to be the heart of the Machiavellian ambiguities. It explains why innovation is supremely difficult, being for­ mally self-destructive; and it explains why there is incompatibility between action – and so between politics defined in terms of action rather than tradition – and moral order. The politicization of virtue had arrived at the discovery of a politicized version of original sin.“110 Darum regiere hier das ewige Gesetz des Umschlags der Verfassungen, des Aufstiegs und des Niedergangs der Republiken als ewiges Werden und Vergehen. Der Aufstieg und Untergang von Republiken wird als blindes Schicksal begriffen.111 110  Pocock,

S. 167. Meier schreibt über Machiavellis Begriff der fortuna: „Machiavellis Doktrin der Fortuna ist eine Doktrin der Ent-täuschung“ (Meier, Heinrich S. 101), und entsprechend werde die Religion für den Bestand der Republik von Machiavel­ li politisch dienstbar gemacht. Herfried Münkler sieht nicht die Religion, sondern den sozialen Zusammenhalt über Inszenierungen öffentlicher Geselligkeit gewährt: Während die lineare Vorstellung vom stetigen Fortschritt, die sich der Aufklärung verdanke, an Plausibilität verliere, trete an ihre Stelle wieder die klassische Überle­ gung vom zyklischen Verlauf der Geschichte als einem Aufeinander von Aufstieg und Niedergang (Münkler 2013, S. 304 ff.), wobei der Wiederaufstieg über das orgi­ astische Fest zu inszenieren versucht werde, z B. über das zeitlich befristete „Aufden-Kopf-Stellen der sozialen Welt und der politischen Ordnung“ (Münkler 2013, S. 305), was sich freilich ohne transzendente Bindung leicht als „Tanz auf dem Vulkan“ erweise: „Transzendenzschwund, gar Transzendenzverlust führten bei die­ sen Gesellschaften entweder in die soziale und politische Katastrophe, oder das Fest wurde zu einer Form der Unterhaltung, in der die potentiell rebellischen Schichten und Gruppen einer Gesellschaft ‚stillgestellt‘ wurden, wie das in den römischen Zirkusspielen und Gladiatorenkämpfen der Fall war. Zwar floss noch immer Blut, aber nicht mehr zu Zwecken der sozialen Erneuerung und politischen Revitalisie­ rung, sondern als Abwechslung von einem tristen Alltag und als Ablenkung von Armut und Not. Aus dem Akt der Erneuerung war ein Herrschaftsinstrument der Mächtigen geworden.“ (Münkler 2013, S. 307). Die Rolle der heutigen Sportereig­ nisse darf im Hinblick darauf bedacht werden (Deutschland als Sommermärchen). Die Hoffnung, über den Krieg sei die Regenerierung des Gemeinwesens zu errei­ chen, wird von Münkler unter Rekurs auf die einschlägigen Autoren der politischen 111  Heinrich

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Die Reformatoren dagegen, namentlich die Schweizer, setzten nicht auf die virtù als einer zwar individuellen, aber trotzdem politischen, letztlich allen Zwecken gegenüber blinden Lebenskraft, sondern statteten die Akteu­ re mit dem aus, was Charles Taylor als buffed self bezeichnet. Es übersteht als solches nicht nur den Wirbel um sich, sondern ist darüber hinaus beru­ fen, zum Kristallisationspunkt eines republikanischen Wiederaufstiegs zu werden. Aber im reformierten Verständnis steht es damit nicht im Dienste einer Sicherung von individueller Authentizität, wie Taylor es meint. Die Bezeichnung buffed self erscheint darum als fragwürdig, wenn das Selbst nicht im Sinne Hegels verstanden wird, also als Geist, der republikanisches Selbstverständnis ist. Die virtù des Reformierten ist seine fides. Fides ist im reformierten Verständnis nicht der individuellen Selbstsicherung verpflich­ tet, erschöpft sich nicht in individueller Selbstsicherung, sondern ist Bun­ destreue. Sie ist Verpflichtung nicht in dem Sinne, dass sich das Selbst selbst verpflichtet, sich selbstidentisches Selbst zu bleiben, sondern dass das Selbst sich selbst als verpflichtet betrachtet, jenseits aller metaphysischen Vertröstung in der Bundestreue auszuharren. Paulinisch formuliert: „Denn die Liebe Christi umgibt uns, und wir sind zu dem Urteil gelangt: Wenn einer für alle gestorben ist, dann sind alle gestorben. Und für alle ist er gestorben, damit die Lebenden nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferweckt worden ist. Darum kennen wir von jetzt an niemanden mehr nach dem Fleisch; auch Christus – sollten wir ihn auf diese Weise gekannt haben – kennen wir jetzt nicht mehr so. Wenn Ideengeschichte, insbesondere auf Thukydides, ausgeschlossen. An die Stelle des Festes und der kriegerischen Tugenden, die das Gemeinschaftserlebnis zu erneuern versprochen hätten, sei dann im Verlauf des Transzendenzverlustes der Appell an die bürgerliche Tugend getreten. Dennoch kommt Münkler dann doch wieder auf den Krieg zu sprechen und verweist auf Sallust, der ihn als eine „Agentur der Versittli­ chung“ betrachtet habe (Münkler 2013, S. 317), freilich um dann generell ganz im Sinn von Smend die identitätsstiftende Bedeutung von Konflikten für eine Gesell­ schaft zu betonen, sofern sie im Rahmen der bestehenden Institutionen geführt würden. „Der Konflikt dient im politischen Dauerbetrieb somit als Transzendenzdis­ pensator, und das tut er, indem er kontinuierlich und zuverlässig politische Tugend generiert.“ (Münkler 2013, S. 319). So appelliert auch Münkler am Schluss wieder an die Bürgertugend, denn: „Wer schützt die Institutionen, wenn sie in Notlagen außer Kraft gesetzt, Verpflichtungen relativiert und dem Eigeninteresse die Zügel freigegeben werden?“ (Münkler 2013, S. 327). Aber solche Tugendhaftigkeit ist schwer zu fassen. Münkler verweist darauf, dass z B. Stifter, die als Beispiel für Bürgertugend genannt werden, gar nicht so tugendhaft handelten, denn über ihre Tätigkeit werde dem Staat ein Teil des Steuervolumens entzogen, „über das er zur Erfüllung seiner sozialpolitischen Verpflichtungen verfügen könnte“ (Münkler 2013, S. 303). Allerdings, und das wird nicht bemerkt: Stifter identifizieren sich naturge­ mäß mit dem, was sie aufgebaut haben, und wollen es geschützt sehen, so dass ihr Eintreten für Institutionen, die ihnen Stiftungen ermöglichen, in ihrem ureigenen Interesse liegt. Münkler denkt an dieser Stelle vom Staat aus, nicht liberal.



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also jemand in Christus ist, dann ist das neue Schöpfung; das Alte ist ver­ gangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2. Kor 5, 14–17) Das Neue ist rein formal betrachtet die zu gestaltende Kirche als Gesellschaft im Auszug aus den absterbenden Gemeinschaften. Die gläubige Gemeinde bildet in der Zeit der Identität von Identität und Nichtidentität von Christen‑ und Bürgergemeinde den Rest, der im Falle der Krise der Republik oder ihres Zusammenbruchs die Arbeit des Neubeginns jederzeit wieder in Angriff nimmt und sie eben nicht der fortuna anheim­ stellt. Die Schweizer Reformatoren lassen sich darum in aller Abgrenzung gegenüber dem Humanismus und auch anders als Luther auf die Discorsi Machiavellis beziehen, nur dass ihr Republikanismus den des Florentiners bei weitem übertrifft. Münkler stellt uns Machiavelli als einen Republikaner vor, der im Principe Methoden formuliert habe, mit denen sich ein Gemein­ wesen im Chaos des politischen Niedergangs so stabilisieren lasse, dass die Voraussetzungen für eine republikanischen Verfassung wieder geschaffen würden, sofern einer (ein unus solus?) über die entsprechende virtù verfüge. Münkler sieht in Machiavelli also einen Vertreter der kommissarischen Dik­ tatur. Dieser Eine, der unus solus, der principe also, ist für die reformierte Reformation kein Einzelmensch, sondern der auferstandene Christus, dessen Leib die Kirche ist, in der die virtù nicht auf viele verteilt, sondern vielmehr die fides von allen geteilt wird.112 Mit Luthers eschatologischem Denken und der ihm entsprechenden Er­ wartung des Chaos der Endzeit dagegen lässt sich nur an den Principe Machiavellis anschließen. Hierzu schreibt Münkler: „Wie Machiavelli legi­ timiert auch Luther Herrschaft als Herrschaft und verzichtet ihr gegenüber auf die Anlegung aller moralischen Maßstäbe, aller Forderungen des Evangeliums.“113 Für die Reformation der Schweiz ist, anders als für die an Luther orien­ tierten Wittenberger, darum die republikanische Grundhaltung Machiavellis anschlussfähiger, aber eigentlich mehr noch: Der reformatorische Republi­ kanismus überbietet den mit Münkler verstandenen Republikanismus Ma­ chiavellis, weil die Republik hier nicht nur eine occassione für einen mit virtù begabten Willen ist, sondern als göttliche Anordnung stete Aufgabe 112  In gewisser Weise kann hier auf die Auseinandersetzung verwiesen werden, die während des italienischen Faschismus zwischen Benito Mussolini und Antonio Gramsci darüber geführt worden ist, wer der moderne Principe sei. Während Mus­ solini ihn in sich selber personifiziert sah (vgl. dazu Kraft, Simone: Benito Musso­ lini und Machiavelli. Machiavelli-Rezeption in den Schriften Mussolinis), sah ihn Gramsci in der kommunistischen Partei verkörpert (vgl. Gramsci, Antonio: Il mo­ derno principe. Il partito e la lotta per l’egemonia). 113  Münkler (1982), S. 94.

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der Begnadeten und damit deren permanenter Wille bleibt und somit auch gerade nicht metaphysisch abgesicherte Ordnung bedeutet, nicht staatlicher ordo ist, sondern göttliche ordinatio. Damit ist der Glaube im reformierten Verständnis auch nicht Vermittlung eines buffed self, sondern grundsätzlich soziales Ereignis, also Glaube der Gemeinde, politischer Gottesdienst. Iso­ liert lebende, sich um sich selber sorgende Reformierte kann es nicht geben. Damit ist Glaube im reformierten Verständnis grundsätzlich öffentlich, im ursprünglichen Sinne des Wortes Liturgie öffentlicher Dienst, der sich gegen jede Ordnung wendet, die dem Glauben und damit der Treue zum Bund widerstreitet. Die fides, nicht die virtù, ist die republikanische, die politische Tugend schlechthin. Fides ist die reformierte und damit eigentliche repub­ likanische virtù. 3. Ordnung versus Anordnung Eric Nelson hat es unternommen nachzuweisen, dass die Begründung des neuzeitlichen republikanischen Denkens sich nicht dem Humanismus ver­ danke, sondern der Renaissance der hebräischen Sprache und damit des Wiederanknüpfens an die Schriften des Alten Testaments sowie der jüdi­ schen Literatur wie Talmud, Mischna und den Rabbinischen Kommentaren im frühen sechzehnten Jahrhundert. „(I)f one compares the average number of Biblical citations in the political works of Petrarch, Bruni, Machiavelli, More, and Guicciardini with the number in the political works of Grotius, Selden, Milton, Pufendorf, and Locke, one can be in no doubt about the direction in which the discourse is moving.“114 Der Unterschied bestehe darin, dass die Renaissancehumanisten alle aus der Antike überlieferten Verfassungsformen als gleichermaßen legitim betrachtet hätten: „(I)t was taken for granted that each of the correct forms was legitimate and even desirable under particular circumstances. In the middle of the seventeenth century, however, we find republican authors making a new and revolutio­ nary argument: they now began to claim that monarchy per se is an illicit constitutional form and that all legitimate constitutions are republican.“115 Aus dem Alten Testament habe sich zudem neben der grundsätzlichen Ille­ gitimität der Monarchie auch noch die Umverteilung von Eigentum und die religiöse Toleranz rechtfertigen lassen. In unserem Zusammenhang ist der Hinweis auf die grundsätzliche Illegitimität der Monarchie gegenüber der Hebräischen Republik von herausragender Bedeutung.116 Die beiden nach­ 114  Nelson,

S. 2. S. 3. 116  In diesem Zusammenhang sei auf die große Studie von Larry Siedentop ver­ wiesen (Inventing the Individual), einer tour d’horizon durch die Geschichte des latei­ 115  Nelson,



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folgenden Punkte sind von keiner Bedeutung für die Begründung der neu­ zeitlichen Republik, weil es sich bei dem zur Verteilung anstehenden Eigen­ tum, von dem in der Thora und bei den Propheten die Rede ist, um immo­ biles Grundeigentum handelte, und die Toleranz in einer theokratischen Republik, in der die Religions- und Kultgesetzgebung sich in der Hand der zivilen Obrigkeit befindet, keinesfalls die angestrebte Religionsfreiheit ist, um die es hier geht.117 Auf den Unterschied zwischen Toleranz und Religi­ onsfreiheit wird später noch eingegangen werden. Der in der Hebräischen Republik zum Ausdruck gebrachte Glaube als Treue zum Bund, und damit soll der Abgrenzung gegenüber dem Humanis­ mus die Abgrenzung der reformierten Tradition gegenüber dem Luthertum noch erläuternd hinzugefügt werden, ist wider die Ordnung und damit wider die Natur. Denn statt der göttlichen Anordnung behauptet das Luthertum eine Schöpfungsordnung im Sinne des lateinischen ordo, der es sich unterzuordnen gelte. Diese Ordnung bilden z. B. Familie, Volk, Staat, aber auch Nation u. a. m. Der Begriff der Volkskirche meint mit Volk ursprünglich etwas ganz anderes als Volk im verfassungsrechtlichen Sinn, eher Volk im nischen Christentums von Paulus bis in das fünfzehnte Jahrhundert, also bis in die Zeit kurz vor der Reformation. Siedentop sieht den Liberalismus in der christlichen Lehre von der individuell zugeschriebenen Verantwortlichkeit begründet und relati­ viert in dieser Hinsicht nicht nur die Bedeutung des Humanismus für den Liberalis­ mus, sondern bestreitet sie sogar. Der Humanismus habe nicht die Verantwortlichkeit ins Zentrum seiner Individualitätsbegründung gestellt, sondern den Geschmack: „Ce­ lebration of the Renaissance has confused the emergence of what is better called the pursuit of ‚individuality‘ – an aesthetic notion – with the invention of the individual – a moral notion. (…) The humanists did introduce a new emphasis on cultivating the self, on the refinement of taste and self-expression. This was an emphasis that shaped what might be called the cult of individuality, depicting the individual as the ‚victim‘ of social pressures and heroism as resistance to such pressures. Social institutions were presented as a threat to the self.“ (Siedentop, S. 337) Siedentop rekurriert beson­ ders auf Fustel de Coulanges und auf die Geschichtsschreibung von Francois Guizot. Die christliche Herausforderung der antiken Gesellschaft habe darin bestanden, der von den antiken Kulten und der antiken Philosophie legitimierten Behauptung einer natürlichen Ungleichheit die christliche Gleichheit im Hinblick auf die individuelle Zuschreibung von Verantwortlichkeit gegenübergestellt zu haben. In der institutionel­ len Ausformung der kirchlichen und politischen Macht im Bereich des ehemaligen römischen Imperiums, insbesondere über die Zentralisierung der Macht, seien die Agenturen der natürlichen Ungleichheit, besonders die Familie, marginalisiert wor­ den. Wenn Siedentop aber unter Berufung auf Fustel de Coulanges die Antike insofern als monolithisch betrachtet, als sie sowohl in mythischer als auch in philosophischer Hinsicht ausschließlich Ungleichheit kultiviert habe, kann er das Christentum nur als einen absoluten Anfang in der Geschichte verstehen und versperrt sich so selber den Blick auf das Alte Testament und das antike Judentum. Er konzentriert sich auf das Individuum, verliert dabei aber den Bund aus dem Blick. 117  Dass die Theokratie im Alten Testament dennoch republikanischen Charakter hatte, vgl. Taubes, Theokratie.

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Sinn von Volkspartei, Volkslied usw. Das Volk ist demnach eine von Gott geschaffene Einheit der Ordnung im Völkerleben. Im reformierten Bekennt­ nis spielt die Ordnung dagegen im Sinne des lutherischen Ordnungsver­ ständnisses als ordo primär gar keine Rolle, dafür umso mehr das Gesetz im Sinne der Thora. Aus ihr lässt sich kein ordo, sondern eine ordinatio für Kirche und darüber hinaus das Gemeinwesen ableiten, die zwangsläufig eine demokratisch-republikanische sein muss. Dem reformierten Verständnis nach sind Demokratie und Republik zwei Seiten einer Medaille, weil De­ mokratie ohne einen republikanischen Rahmen in die Diktatur führt, Repu­ blik ohne Demokratie dagegen in die Oligarchie oder Schlimmeres. Darum ist die republikanische Gemeindeverfassung in der reformierten Tradition Teil des Bekenntnisses. Sie ist institutionalisierter Glaube. Aber eine repu­ blikanische Verfassung ist dann notwendig eine in pragmatischer Hinsicht flexible Ordnung, die Prozesse steuert und es zulässt, dass die Prozesse auf sie zurückwirken können. Entsprechend erfährt die Bekenntnisbildung im reformierten Kontext, anders als im lutherischen, auch keinen Abschluss. Im Hinblick auf ihr jeweiliges Weltverständnis sind die beiden großen reformatorischen Bekenntnisse nicht als dualistisch zu verstehen, auch wenn sie zwei Prinzipien unterscheiden, deren Unterscheidung freilich nur auf Grund ihres Zusammenhangs, ihres gegenseitigen Bezugs, gelingen kann. In beiden Konfessionen, sowohl bei den Lutheranern als auch bei den Refor­ mierten, wird weder vom Gesetz noch von der Ordnung gänzlich abgesehen, aber beide stehen sich im Verständnis der Bestimmung des Verhältnisses von Gesetz und Ordnung diametral gegenüber: Bei den Reformierten ist die Ordnung dem Gesetz unterworfen, bei den Lutheranern umgekehrt das Ge­ setz der Ordnung. Einer der prominentesten lutherischen Theologen des zwanzigsten Jahr­ hunderts, Werner Elert, ging schon in den dreißiger Jahren auf das Problem ein, wie sich eine nichtmetaphysische Ethik von Luther aus begründen lasse, und er zeigt da eine erstaunliche, aber aus der Theologie des Luther­ tums begreifbare Nähe zur modernen, methodisch atheistischen Naturwis­ senschaft auf,118 für die das ethisch Gute nichts anderes sein könne als das biologisch Normale: „Diese Auffassung ist von dem alten lutherischen Be­ griff der Schöpfungsordnung gar nicht sehr weit entfernt“.119 In diesem Satz zeigt sich deutlich die Betonung des Primats der Ordnung, die für sich zu sprechen vermag und keiner weiteren Anordnung mehr bedarf. Freilich 118  Aus lutherischer Sicht und im Rückgriff auf Dietrich Bonhoeffer gelingt dann auch eine Annäherung an Karl Marx und dessen Materialismus, wenn z B. zwischen einem methodischen und einem theoretischen Atheismus unterschieden wird (vgl. Frostin, S.  155 ff.). 119  Elert, S. 8.



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werde, so Elert weiter, im naturwissenschaftlichen Kontext die Sünde ge­ leugnet. Hier müsse von der Theologie das Gesetz ins Spiel gebracht wer­ den. Aber der Christ sei wiederum als begnadeter Sünder frei vom Gesetz, dessen Vorschriften zudem abstrakt seien und als Anleitung zur konkreten Lebensführung nichts taugten. Das Leben des Einzelnen vollziehe sich im­ mer in einer geschichtlich gewordenen societas, ohne die er als weltliches Wesen nicht zu denken sei. Im Gehorsam gegenüber dieser societas und ihrer konkreten Ordnung vollziehe sich der Glaubensgehorsam des Christen. Diametral entgegengesetzt behauptet die reformierte Theologie den Pri­ mat des Gesetzes gegenüber jeder Ordnung und damit ein grundsätzliches Widerstandsrecht in der Welt gegen die Natur. Das ist der eigentliche Grund für die Hochachtung des Gesetzes in der reformierten Lehre vom tertius usus legis als dem Weg der Heiligung. Wenn hier vom Gesetz die Rede ist, so sind nicht jeweils einzelne Bestimmungen gemeint, die der Interpretation und damit der Anpassung und Veränderung unterworfen bleiben. Ein wört­ liches Verständnis des Glaubensgehorsams gegenüber dem Gesetz wäre schlichter Fundamentalismus. In der reformierten Hochachtung des Gesetzes ist vielmehr die Rede vom Prinzip der Herrschaft des Rechts über die Ord­ nungen, das auch Interpretation und Anpassung zu leiten hat, dem reforma­ torischen Prinzip gemäß, dass die Schrift sich selber interpretiere und keine ihr fremden Maßstäbe an sie anzulegen seien, die nicht anderswo herzuholen wären als aus der Natur. Man kann die Sache auch in rein politisch gehaltener Sprache betrachten, und dann fällt zunächst ein Unterschied ins Auge: Vor dem Gesetz sind alle gleich, und weder Geschlecht, Religion, Beruf, gesellschaftliche Stellung u. a. m. spielen für Rechtsentscheidungen idealiter eine Rolle, während eine Ordnung Unterscheidungen nicht nur gestattet, sondern geradezu begründet. Eine deutliche Homologie zwischen einer theologischen und einer juris­ tischen Unterscheidung in Bezug auf Law and Order offenbart sich im Vergleich mit Carl Schmitts Unterscheidung zwischen zwei Verfassungsbe­ griffen: Die Verfassung als geschriebene und verabschiedete Urkunde ist für ihn relativ, was nicht abwertend gemeint ist, sondern vielmehr so, dass sie bezogen ist auf die Verfassung im Sinne des tatsächlichen gesellschaftlichen Seins eines Volkes, das Schmitt wiederum als absolut bezeichnet. Schmitt unterscheidet in seiner Verfassungslehre also zwischen einem relativen Verfassungsbegriff, der die schriftliche Sammlung der einzelnen, in Artikeln angeordneten Bestimmungen für die institutionellen Verfahren bezeichnet, und einem absoluten Verfassungsbegriff im Sinne des gesellschaftlichen Gesamtzustands eines Volkes.120 Welcher ist nun der gewichtigere Begriff? 120  Schmitt

(1983), S. 3 ff.

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Das zeigt sich für Schmitt in den Ausnahmesituationen: In bestimmten Si­ tuationen, die als Ausnahmezustand zu kennzeichnen seien, schlage die Stunde der Diktatur. Schmitt unterscheidet analog zu der Unterscheidung im Verfassungsbegriff zwei Arten der Diktatur: Die kommissarische Diktatur hebt einzelne Bestimmungen, u. U. auch alle Rechtsbestimmungen der Ver­ fassung im Sinne des relativen Verfassungsbegriffs auf, aber nur für eine bestimmte Frist und ausschließlich im konservativen Interesse des Erhalts der Rechtsordnung. Die souveräne Diktatur will dagegen ein neues Recht herbeiführen, das von anderen Rechtsprinzipien beherrscht werden soll. Sie strebt die Etablierung einer neuen Rechtsordnung an. In der kommissari­ schen Diktatur wird also das bestehende Recht als solches höher geachtet als die Ordnung, deren rechtswidrigen Auswüchsen auch mit Gewalt, aber im Namen des Rechts, entgegengetreten werden soll. Alles revolutionäre Denken rechnet dagegen mit der souveränen Diktatur. Es stellt das Recht im Interesse einer Ordnung, die geschichtlich und damit dynamisch gedacht wird, zur Disposition und passt es dieser Ordnung an. Der Begriff der sou­ veränen Diktatur ist der umfassendere Begriff und für Schmitt darum auch der gewichtigere. Politisch betrachtet ist die reformatorisch verstandene Herrschaft Christi, im Unterschied zur Christkönigslehre im römisch-katholischen Denken, eine Diktatur.121 So lässt sich zumindest folgende Stelle aus dem Ersten Korintherbrief verstehen, wenn Paulus über das Ende der Zeit schreibt: „Dann ist das Ende da, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergibt, wenn er alle Herrschaft, alle Gewalt und Macht zunichte gemacht hat. Denn er soll herr­ schen, bis Gott ihm alle Feinde unter die Füsse gelegt hat. Als letzter Feind wird der Tod vernichtet. Denn alles hat er ihm unterworfen, unter die Füsse gelegt. Wenn es aber heisst: Alles ist ihm unterworfen, so ist klar: mit Ausnahme dessen, der ihm alles unterworfen hat. Wenn ihm dann alles unterworfen ist, wird auch er, der Sohn, sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott alles in allem sei“ (1 Kor 15, 24–28). Mit Carl Schmitt gesprochen beschreibt Paulus hier die Diktatur Christi. Wie ist sie aber zu charakterisieren, als souveräne oder als kommissarische 121  Im Zusammenhang mit der Theologie des Christkönigsfestes, das erst in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eingeführt worden ist und gegen den politischen Totalitarismus gerichtet war, kann man auf der einen Seite durchaus sagen, dass die römisch-katholische Kirche das Pauluszitat nach unten und damit die kirchlichen Ämter nach oben transponiert hat: Christus tritt an die Stelle Gottes, der Papst, besonders nach dem Ersten Vaticanum, an die Stelle Christi. Der König herrscht, aber er regiert nicht. Er beruft nur gelegentlich die Regierung ab und er­ nennt daraufhin eine neue. Wie auch immer, mit dem Christkönigsfest und seiner Theologie ist dennoch die Autorität des Papstamts gegenüber den demokratisch le­ gitimierten Staatsregierungen gestärkt worden.



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Diktatur? Das lutherische Verständnis scheint radikaler zu sein, weil die neue, von Christus gestiftete Heilsordnung als souveräne Diktatur der Gna­ de ohne das Gesetz gedacht wird, aber nur in der unsichtbaren Kirche, die jetzt noch nicht offenbar sei. Dennoch, die Sünde werde nicht angerechnet. Konsequent wird das Alte Testament dem Neuen Testament untergeordnet. Das Neue Testament liefert den hermeneutischen Schlüssel, ohne den die Auslegung des Alten Testaments blind bliebe. An die Stelle der Thora tritt in der Welt die Schöpfungsordnung, in die die sichtbare Kirche inklusive der unsichtbaren Kirche eingebunden bleibt. Aus reformierter Sicht ist das Regiment Christi im Rahmen der Gottes­ herrschaft dagegen eine kommissarische Diktatur, die die Heiden in den Thorabund integriert. Diese Vorstellung entspricht dem paulinischen Wort­ laut, demzufolge Christus sich am Ende der Zeiten dem unterwerfen wird, der ihm alles unterworfen hat. Entsprechend sind nach reformiertem Ver­ ständnis alle Ordnungen, die dem Gesetz, also der Thora widersprechen oder mit ihr nicht konvenieren, im Sinne der Thora zu reformieren und eben zur Not auch umzustürzen. Ohne Verständnis des Alten Testaments gibt es kein Verständnis des Neuen Testaments. Christus hebt die Thora nicht auf, sondern suspendiert sie über die Gnade, um Sünder und Heiden erneut und endgültig in den Thorabund zu integrieren. Das lutherische Be­ kenntnis versteht die Herrschaft Christi als eine souveräne Diktatur, das reformierte dagegen als eine kommissarische. Die Homologie zwischen theologischem und politischem Denken wird noch anschaulicher, wenn man bedenkt, dass in den Verfassungsdebatten der Weimarer Republik und der Bundesrepublik sich nicht umsonst der Krypto­ lutheraner Carl Schmitt mit seiner Identitätslehre und der Reformierte Ru­ dolf Smend mit seiner Integrationslehre gegenüberstanden.122 Der Diskurs der beiden Schulen der deutschen Staatsrechtslehre nach dem Zweiten Weltkrieg hatte durchaus eine theologische Dimension.123 Er kann als die 122  Vgl. Schmitt, Carl: Verfassungslehre, und Smend, Rudolf: Verfassung und Verfassungsrecht. 123  Über das Staatsverständnis der Schmitt-Schule in der Bundesrepublik urteilt Frieder Günther: „Nachdem Carl Schmitt bereits im Jahre 1932 die Wendung vom Gesetzgebungsstaat zum Verwaltungsstaat betont hatte, erkannten viele nach 1933, daß die Verwaltung zu der zentralen Funktion im modernen Staat geworden war. Staatsdenken war für diese Staatsrechtler nunmehr ein Denken von der Verwaltung her.“ (Günther, Frieder, S. 53). Günther verweist hier besonders auf Ernst Rudolf Huber und Ernst Forsthoffs Konzept der Daseinsvorsorge. In diesem Zusammenhang sei noch darauf hingewiesen, dass. wie Günther zutreffend bemerkt, dieses Denken im Kontext des deutschen Staatsverständnisses stand, das sich schon im neunzehnten Jahrhundert herausgebildet hatte, so „daß sich im Grundgesetz Bestimmungen fin­ den, die in westlichen Verfassungsordnungen kein Vorbild haben, sondern allein aus der deutschen Tradition herzuleiten sind, wie beispielsweise die Festschreibung des

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Fortsetzung der theologischen Auseinandersetzungen in der Bekennenden Kirche bzw. zwischen Karl Barth und seinen reformierten Anhängern (frei­ lich längst nicht allen) in der Bekennenden Kirche auf der einen und den lutherischen Theologen (hier freilich auch längst nicht allen) auf der ande­ ren Seite verstanden werden, während in der politischen Praxis der Römi­ sche Katholizismus, an der katholischen Soziallehre orientiert, den Rheinischen Kapitalismus als Ordoliberalismus legitimierte.124 Damit war die Bundesrepublik Deutschland freilich mehr Staat als Republik, und ihre Funktionäre bekannten sich offen zu Voraussetzungen, die sie nicht zu ga­ rantieren vermochten. Entsprechend blieben die evangelischen Landeskir­ chen im Verhältnis zum Staat mehr Kirche im Sinne der römischen Amts­ kirche und waren vertraglich zu garantieren bereit, ihm diese Voraussetzun­ gen zu sichern. Erst im Verlauf der sechziger Jahre wurden diese Leistungen der Legitimität immer weniger anerkannt, bis dann offen in Kirche und Staat die Rede davon war, dass mehr Demokratie gewagt werden müsse. So wenig die Republik, anders als der Staat, aus reformierter Sicht eine Ordnung als Voraussetzung anzuerkennen hat, sowenig darf sie als Selbst­ zweck angestrebt werden. Vielmehr wird sie im reformierten Verständnis in den Dienst der jetzt neu verstandenen Heilsgeschichte gestellt, die nicht mehr anders zu denken ist als die Verkündigung des Evangeliums der Frei­ heit. Die Republik ist die Verfassung, die die Rechte ihrer Bürger gegen den Staat abzusichern hat. Die profane Geschichte der Republiken ist aus theo­ Sozialstaatsprinzips in Art. 20 I und 28 I 1, die Garantie des Berufsbeamtentums in Art 33 IV und V und die Schaffung eines Bundesrates, in den entgegen dem USamerikanischen Senatsprinzip keine direkt gewählten Vertreter der Bundesländer, sondern Mitglieder der Landesregierungen nach einem verfassungsrechtlich festge­ setzten Verteilungsschlüssel entsandt werden.“ (Günther, Frieder S. 79). Demgegen­ über habe die Smend-Schule nicht vom Staat her, sondern von der Verfassung her gedacht (Günther, Frieder, S. 166), damit also postuliert, „daß die staatliche Einheit nicht wesenhaft vorgegeben, sondern den Menschen aufgegeben“ sei. (Günther, Frieder S. 169). Freilich hatte sich Smend zumindest in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch nicht vom Staatsdenken befreien können. Seine Integrati­ onslehre empfand er mit dem italienischen Faschismus als durchaus kompatibel (vgl. Tanner, S. 128). Freundlicher als Tanner urteilt Michael Stolleis über Smend: „Der beeindruckende Bildungsfundus und die Verdikte über Neukantianismus, Liberalis­ mus, Relativismus, Rechtspositivismus und ‚Wiener Schule‘ machten das Buch (Verfassung und Verfassungsrecht; Anm. M. E.) zur geistvollen Kampfschrift, aus deren Arsenal sich nationalsozialistische Theoretiker der Volksgemeinschaft ebenso bedienen konnten wie unzweifelhafte Demokraten der Bonner Republik.“ (Stolleis, S. 175). 124  „In den Kernländern des kontinentalen Westeuropa jedoch, also in Deutsch­ land, Italien, den Beneluxstaaten und Frankreich, war es in Wirklichkeit die Christ­ demokratie, die entscheidend dazu beitrug, die innerstaatliche Nachkriegsordnung sowie insbesondere den Wohlfahrts- und Verwaltungsstaat zu errichten.“ (Müller, Jan-Werner, S. 220).



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logischer Sicht als solche sinnlos wie Geschichte überhaupt. Aber Republi­ ken bieten, weil sie eo ipso Öffentlichkeit sind, den Rahmen, in dem Ver­ kündigung und Sammlung der Erwählten als der Freien sich entfalten können. Die Republik ist die einzige irdische, wenngleich auch trotzdem nur vorläufige Heimstatt der in die Freiheit Erwählten, und ihr Erhalt ist damit ihr ausschließlicher politischer Gottesdienst. Das Gemeindeleben, nicht zuletzt auch die Seelsorge, ist diesem Gottesdienst als untergeordnet zu betrachten und entsprechend auszurichten: Die Sache des Herrn und damit die christliche Sachlichkeit soll öffentlich, soll res publica sein. Das heißt nichts anderes, als dass die Freiheit nicht mehr privat verstanden wer­ den kann, sondern zur öffentlichen Sache wird. Und diese Freiheit äußert sich in kritischer Gestaltung der vorgeblichen Ordnungen der Natur und im entschiedenen Widerspruch zu allen Ansprüchen, die Gemeinschaften, nicht zuletzt die sogenannten Glaubensgemeinschaften, im Interesse ihrer Identi­ tätssicherung stellen. Reformierte Verantwortung gegenüber der Republik ist aber weniger Gestaltung nach einem abstrakten Plan, etwa einer abstrakten Gerechtigkeitsidee, als vielmehr Vorbereitung auf vorhersehbare oder auch unvorhersehbare Herausforderungen. Diese Art der Zukunftsorientierung misstraut Visionen grundsätzlich. Sie ist mehr Erwartung als Verwirklichung von Utopien. Pläne machen blind, Erwartung macht wachsam. Dem republikanischen Selbstverständnis, das das reformierte Bekenntnis auszeichnet, steht auf der anderen Seite das individualistische Selbstver­ ständnis gegenüber. Individualisierung begründet aber keine Gesellschaft, sondern legitimiert Staatlichkeit. Das gilt es noch aufzuzeigen. Sozialisierung kann im staatlichen oder im republikanischen Kontext er­ folgen. Es liegt nun auf der Hand, dass im staatlichen Kontext, nicht nur, wenn die Herrschaft dynastisch legitimiert ist, die vorstaatlichen Gemein­ schaften wie die Familie eine andere Wertschätzung erfahren als in den städtischen Republiken. Die Zurückdrängung der Religion in das Private setzt einen privaten Bereich voraus. Das führt in das Dilemma, dass der Staat, der die Sozialisierung seiner Untertanen über Bildungspolitik gestal­ ten will, mit dem privaten Bereich in einen Konflikt gerät, der strukturell ist. Die Schöpfungsordnungen Familie und Staat stehen mehr in Spannung zueinander, als dass sie sich ergänzten. Darum entlässt staatlich verordnete und organisierte Sozialisierung jene, die sie betrifft, nicht vorbehaltlos in die Gesellschaft, sondern verstaatlicht sie, wogegen sich naturgemäß Wider­ stand regt, besonders wenn in Kooperation mit den Amtskirchen Verstaatli­ chung im religiösen Bereich stattfindet. Dieser Widerstand wird unbere­ chenbar, wenn Religiosität nicht mehr im Rahmen der Amtskirchen gelebt wird, die sich mit dem Staat in einem Verhältnis der gegenseitigen Aner­ kennung befinden und Religiosität zu kanalisieren versuchen, sondern sich frei organisiert (in Freikirchen, aber auch in Sekten u. a. m.).

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Die Leistung der Legitimitätsdiskurse in der frühen Neuzeit, ein neues kulturelles Selbstverständnis verankert zu haben, verdankt sich nicht nur jenen, die die neue Legitimität formulierten, also den Intellektuellen, die Bourdieu und Münkler in den Blick nehmen, sondern umfasste auch das städtische Bürgertum als Publikum, das sich selber als den eigentlichen Träger des Gemeinwesens betrachtete, aber von der politischen Mitwirkung in den entstehenden Flächenstaaten weitgehend ausgeschlossen blieb. Wie sehr gerade in den Städten des achtzehnten Jahrhunderts theologische Kon­ troversen das öffentliche Leben beherrschten, während die Aufklärung ihre Beförderung besonders über die Höfe erfuhr, hat Steffen Martus in einer großen Studie nachgewiesen.125 Die Philosophie erfreute sich staatlicher Unterstützung und wurde nicht vom Bürgertum befördert. Sie hätte sich, ohne dass die Höfe und damit der Staat ihr Raum gewährt hätten, in Deutschland kaum halten und öffentlich durchsetzen können. Sie bestimmte die Ausbildung des Staatspersonals. Dagegen wandte sich z. B. der Pietis­ mus, der die staatlich examinierten Pfarrer und die verfassten Landeskirchen nicht mehr anerkannte. Es gelang ihm z. B., Fürsorgeanstalten jenseits der staatlichen Kontrolle zu organisieren. Aber die Hoffnung, die gesellschaftli­ chen Verhältnisse alleine über ethisch vorbildliches Verhalten ändern zu können, erfüllte sich nicht. Im Bereich des Staates blieb Theologie der Kirche, Religion der Familie vorbehalten. Damit erfreute sich die Theologie einer öffentlichen Anerkennung. Religion und religiöse Erweckungsbewe­ gungen wie der Pietismus dagegen galten und gelten immer noch als sus­ pekt. Heute wird das nicht mehr im Rahmen des Christentums akut, sondern im Kontext des Islams. Der Islam soll zu Deutschland gehören, aber der Staat möchte ein Mitspracherecht im Diskurs haben, was als Islam aner­ kannt werden kann und was nicht. Wenn Staat und Kirche die Kontrolle über das Religiöse verlieren, wendet sich das, was ihre Voraussetzung ist, gegen ihren Bestand. Anders verläuft die Entwicklung im angelsächsischen Kontext. Hier be­ förderte Offenbarungstheologie die Entwicklung von Naturwissenschaften. Der amerikanische Pragmatismus entwickelte sich im Kontext theologischer 125  So zeigt Steffen Martus auf, wie die Aufklärung für ein allgemeines Klima der Verlässlichkeit zu sorgen hatte, das bei den Untertanen einen tugendhaften Gleichmut und kooperatives Verhalten fördern sollte. Hier habe dann das staatlich abgesicherte Versicherungssystem eine große Rolle gespielt (Martus verweist u a. auf die Centrale-Feuer-Cassa, die in Hamburg 1676 eingeführt worden war): „Wie schwer sich dieser Gedanke in der Praxis durchsetzte, zeigt die Geschichte des Ver­ sicherungswesens, das auf dem Kontinent von Regierungsseite organisiert wurde und ein grundlegendes Gefühl für Sicherheit vermitteln sollte. Es dauerte bemer­ kenswert lange, bis breite Teile der Bevölkerung dazu bereit waren, sich zu versi­ chern und damit als Versicherungskollektiv staatsbürgerliche Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen.“ (Martus, S. 269).



II. Vergesellschaftung und Theologie73

Kontroversen.126 Den Gegensatz zwischen Offenbarungstheologie und Auf­ klärung hat es zumindest in den USA nicht gegeben. Das offenbart, dass es keinen wesentlichen Gegensatz zwischen Offenbarungstheologie und Auf­ klärung gibt, sondern dass ihr jeweiliges Selbstverständnis und damit ihr gegenseitiges Verhältnis von dem institutionellen Rahmen abhängen, in dem sie sich begegnen. Sie ergänzen sich im republikanischen Kontext mehr, als dass sie sich widersprächen. Die theologischen Probleme der scholastischen Theologie, die Hans Blu­ menberg als die großen Zumutungen gegenüber der Vernunft bezeichnet hat, vorzugsweise das Problem der Theodizee, sind harmlos im Vergleich zu den Aporien, die die Aufklärung dem Verstand zumutete und weiter zumutet, etwa die zwischen Natur und Freiheit, die bis heute die Gemüter erregt und unmittelbare Auswirkungen auf das Handeln hat. Nicht Aufklärung und Bürgertum, sondern Reformation und bürgerliche Freiheit sind zwei Seiten einer Medaille. Es ist das Denken in der Tradition der Aufklärung, das uns an unserer Autonomie zweifeln lässt.127 Wer dem widerspricht, bedenke, Kuklick (1977). sehr Michael Plauen und Harald Welzer inhaltlich zuzustimmen ist, dass es ohne das Autonomiepostulat keine Zukunft des Lernens geben könne (Plauen/ Welzer, S. 265 f.), sie betrachten Autonomie als eine individuelle Fähigkeit, was ih­ nen insofern Schwierigkeiten bereitet, sie dann empirisch im Verhalten der Einzel­ nen aufzeigen zu können, so dass sie die Autonomie nur als Paradoxon zu verstehen in der Lage sind. „Versuchspersonen, die sich als maximal autonom einschätzen, waren praktisch genauso leicht zu beeinflussen wie Probanden, die sich nur ein Mindestmaß dieser Fähigkeit zuschrieben. Doch was bedeutet das? Es könnte ein­ fach nur heißen, dass wir selbst uns oft darüber täuschen, ob wir autonom sind oder nicht – obwohl diese Fähigkeit ansonsten ganz ähnlich funktioniert wie die Fähig­ keit, Klavier zu spielen. Vielleicht geht es aber nicht nur um eine subjektive Täu­ schung, vielleicht zeigt sich hier vielmehr ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Autonomie und der Fähigkeit, ein Instrument zu spielen. Es sind nicht nur unsere eigenen Resultate, die diese Interpretation aufdrängen, auch eine Reihe von Fallstu­ dien z. B. aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus sprechen dafür. Auto­ nomie scheint eine Fähigkeit zu sein, von der man nicht einfach nach Belieben Gebrauch machen kann – so wie man praktisch jederzeit Klavier spielen oder Fahr­ rad fahren kann, sofern man die entsprechende Fähigkeit besitzt. Zweifellos fällt es uns im Alltag normalerweise nicht schwer, im Sinne unserer eigenen Wünsche und Überzeugungen zu handeln, auch wenn dabei gewisse Widerstände zu überwinden sind. Doch wenn es wirklich darauf ankommt, also in eher ungewöhnlichen Situati­ onen, dann scheinen äußere Umstände eine größere Rolle dafür zu spielen, ob wir von unseren Autonomiefähigkeiten Gebrauch machen oder nicht.“ (Pauen/Welzer, S. 40 f.). Alle diese Unterscheidungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden bzw. zwischen innen und außen verdanken sich einer Metaphysik, die als selbstver­ ständlich vorausgesetzt wird. Wer auf ihrer Basis dann Neoliberalismus kritisiert, bleibt neoliberalen Denkmustern verhaftet. Der Mensch wird als punktuelle Subjek­ tivität verstanden, gerade also nicht als Ich im Wir und Wir im Ich. Aber solche Individuen können gar nicht als autonom gedacht werden, alleine weil es sie bei 126  Vgl. 127  So

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A. Staat und Republik

welchen Beitrag die deterministisch ausgerichteten Humanwissenschaften in der Gesetzgebung hinsichtlich der Fragen nach Anfang und Ende des menschlichen Lebens, also im Hinblick auf Abtreibungsregelungen und das so genannte humane Sterben, argumentativ zu leisten vermögen.128 Die Neurowissenschaften scheuen keine Kategorienfehler, wenn sie die Behaup­ tung zu begründen versuchen, die Freiheit sei eine Illusion. Das ist aber nicht das Hauptproblem des aufgeklärten Denkens, das mit der auf das In­ dividuum ausgerichteten Theologie zu harmonisieren vermag. Letztlich lassen sich Freiheit und Republik nicht begründen, wenn der Mensch individualistisch im Sinne der Aufklärung verstanden wird. Dann kann individuelle Verantwortlichkeit ethisch verstanden werden als Bereit­ schaft zum Eingeständnis von Schuld. Diese Verantwortung kann dem Menschen als Untertan zugeschrieben werden. Verantwortung kann aber auch politisch verstanden werden, nämlich als Verantwortung für die Gestal­ tung des Gemeinwesens als Republik. In diesem Fall ist der Mensch we­ sentlich Bürger im Sinne von citoyen In der Übertretung des Gesetzes ist der Mensch in der Tat Individuum. In der Verantwortung für die Gestaltung des Gemeinwesens ist er eine soziale Entität. Otfried Höffe reduziert in der Tradition Kants die subjektive Identität auf den Minimalbürger, indem er von ihren individuellen Eigenschaften und Interessen absieht, um sie mit Bürgertugenden wie Gemeinsinn usw. anzu­ reichern: „Die politische Moderne beginnt historisch gesehen mit der Vision des aufgeklärten Bürgers (…). Sie entwickelt sich fort oder präzisiert sich zur Vision des emanzipierten, später des mündigen Bürgers, der neuerdings im Gedanken des engagierten, namentlich partizipativen Bürgers kulminiert. Die Identität des heutigen Bürgers an diesen Visionen auszurichten, also an der Aufklärung, einer facettenreichen Emanzipation und einer engagierten Partizipation, ist sinnvoll, da ein erheblicher Teil zeitgenössischer Identitäts­ fragen sich leicht darauf beziehen lässt.“129 Die Aufklärung dient hier der Sicherung einer Identität, die als Substanz gedacht wird, die sozial verträg­ lich ummantelt werden muss. Der Verweis auf die Rolle der staatlichen Bildung, wenn es um die politische Freiheit geht, ist bei Höffe entsprechend selbstverständlich, sowie bei ihm überhaupt immer nur vom Staat die Rede ist, während der Begriff der Republik keine Rolle spielt. Das ist Höffe nicht anzulasten, sondern der Tradition, in der er denkt und die für ihn mit Selbst­ näherem Hinsehen gar nicht gibt. Autonomie ist Zuspruch und Anspruch im Kontext republikanischer Deliberations‑ und Entscheidungsverfahren, die vorausgesetzt sind, und denen man gegenüber damit im Interesse auch der Freiheit eine Verpflichtung hat. Und Autonomie ist auch keine Fähigkeit, sondern kollektives Dasein. 128  Zur Kontroverse über die Thesen Peter Singers vgl. Wuchterl (1997), S. 261 ff. 129  Höffe (2015), S.  276 f.



III. Die Unzulänglichkeit der Vernunft75

verständlichkeit Staat begründet. Das ist verhinderter Exodus, keine echte Sozialisierung. Die Geborgenheit der Gemeinschaft wird im Rahmen staatlicher Soziali­ sation verlassen und durch staatliche Fürsorge ersetzt, ohne dass Vater Staat das „vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben“ der Gemein­ schaft ersetzen könnte, weil man sich bei ihm nicht in „Gemeinschaft mit den Seinen befindet“, mit denen „man sich, von Geburt an, mit allem Wohl und Wehe“ verbunden weiß.130 Entsprechend sucht der so sozialisierte Mensch Trost in Glaubensgemeinschaften, die er jenseits staatlicher Auf­ sicht zu organisieren versucht und gelegentlich gegen den Staat in Stellung zu bringen vermag. Damit wird aber kein Exodus vollzogen, sondern sich und anderen Heimkehr nur vorgetäuscht. Es ist ein Exodus, der in der Wüs­ te endet. Davon weiß die Exoduserzählung der Bibel allerdings auch zu berichten.

III. Die Unzulänglichkeit der Vernunftals einer Grundlage für republikanisches Denken Es soll auf den folgenden Seiten gezeigt werden, wie sich mit der Aufklä­ rung zwar Staat machen, aber keine Republik begründen lässt, und zwar gerade am Beispiel Kants, der als der radikalste politische Denker seiner Zeit betrachtet zu werden verdient. Dabei wird auf John Deweys Schrift Deutsche Philosophie und deutsche Politik zurückgegriffen, über die Axel Honneth im Vorwort der deutschen Übersetzung schreibt, sie habe sich in Deutschland wohl auch darum keiner großen Popularität erfreut, weil sie den deutschen Imperialismus und schließlich sogar den Nationalsozialismus auf Kant zurückgeführt habe. Nun herrschte unter den Hochschullehrern in Har­ vard, zu denen Dewey gehörte, bereits ab dem Kriegsausbruch 1914 eine seiner Zeit nicht nur in Harvard verbreitete Ansicht, der deutsche Idealismus und namentlich Kant seien für den aggressiven deutschen Militarismus ver­ antwortlich zu machen. Sie wurde in Harvard nur von Hugo Münsterberg und Josiah Royce nicht geteilt. Münsterberg war deutscher Herkunft, das Denken von Royce war im deutschen Idealismus verwurzelt.131 Dewey geht aber noch einen Schritt weiter als seine Kollegen in Harvard, wenn er später, während des Zweiten Weltkriegs, auch den Nationalsozialismus nicht nur in Kontinuität mit dem Selbstverständnis des deutschen Kaiserreichs sieht, son­ dern auch unmittelbar auf Kant zurückführt. Das nationalsozialistische Welt­ bild verdanke sich einem philosophischen Denken, das Vernunft als eine mit 130  Tönnies, 131  Kuklick

S. 3. (1977); S.  435 ff.

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sich selbst identisch seiende und identisch bleibende Substanz behaupte. Diesen Vorwurf macht Dewey dem deutschen Idealismus insgesamt, beson­ ders Fichte, abgeschwächt auch Hegel. Aber im Mittelpunkt steht Kant. Axel Honneth geht sogar so weit, dass er Dewey unterstellt, er habe in Kant gera­ dezu seinen eigentlichen philosophischen Antipoden gesehen.132 Dewey geht davon aus, dass die Lehren des deutschen Idealismus „in die allgemeinen Gewohnheiten des Volkes eingesickert“133 seien und so den Resonanzboden gebildet hätten, den die nationalsozialistische Propaganda benötigt habe. Deweys 1942 veröffentlichter Text ist die Neuauflage einer bereits 1915 veröffentlichten Schrift, ergänzt um ein neues Eingangskapitel über die Politik Hitlers. Dewey führt den politischen Erfolg der Nationalso­ zialisten in Deutschland nicht darauf zurück, dass sie etwa den Versailler Vertrag für das deutsche Elend angeprangert hätten, sondern dass Hitler den Vertrag und den Niedergang Deutschlands als eine Folge der inneren Spal­ tung des deutschen Volkes betrachtet habe, die zu überwinden Ziel und Zweck nationalsozialistischer Politik gewesen sei: „So seltsam es klingt, Hitler hat wiederholt geäußert, daß der Grund für Deutschlands Schwäche, jener Schwäche, die seine Niederlage herbeiführte, geistiger Natur sei und daß seine Wiedererstarkung daher vor allem vom Geistigen her erfolgen müsse. Die Wiedergeburt eines idealistischen Glaubens war die erste Bedin­ gung dafür. In seinem Buch ‚Mein Kampf‘ erklärt Hitler bei aller Verherr­ lichung ausdrücklich die Unterordnung (auch der militärischen und wirt­ schaftlichen Dinge) unter Ideen und Ideale. Wenn man diesen Zusammen­ hang mit den idealistischen Philosophen, die die Erzieher des deutschen Volkes waren, nicht sieht, gibt es keinen Grund zu der Annahme, daß die Deutschen in einer solchen Weise reagiert hätten, wie sie tatsächlich reagiert haben.“134 Dass Dewey die den deutschen Idealismus ausmachende ZweiWelten-Theorie, die Unterscheidung zwischen einer intelligiblen und einer sinnlichen Welt, für die politische Befindlichkeit der Deutschen verantwort­ lich macht (nicht zuletzt unter Verweis auf Kants Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft),135 ist freilich nur die eine Seite seiner Kritik. Die andere besteht darin, dass im deutschen Idea­ lismus und namentlich bei Kant die Erfahrungswelt (der empirische Stoff) einer „Form der Einheitlichkeit“ unterworfen werde.136 Und politisch ge­ wendet sei damit letztlich die Gesellschaft als das Empirische verstanden worden, „während der Staat, wenn nicht eingestandenermaßen etwas Mys­ 132  Dewey

(2000), (2000), 134  Dewey (2000), 135  Dewey (2000), 136  Dewey (2000), 133  Dewey

S. 16. S. 46. S. 48. S. 100 f. S. 103.



III. Die Unzulänglichkeit der Vernunft77

tisches und Transzendentes, dann doch wenigstens eine moralische Wesen­ heit ist – die Schöpfung einer selbstbewußten Vernunft, die für die geistigen und idealen Interessen seiner Mitglieder wirkt.“137 Die Kritik an Hegel fällt dagegen differenzierter aus. So sei es üblich, ihn einen Idealisten zu nennen, aber „von seinem größeren konkreten Interesse an der Geschichte und sei­ nem mehr konservativen Temperament, (…) durch seine tiefe Verachtung für eine Idee, ein Absolutes, das nur sein soll und das erst nach einem ge­ wissen Zeitraum seine Verwirklichung“ erfahre, sei er eigentlich als „der größte Realist, der der Philosophie bekannt geworden ist“, zu betrachten.138 Es ist bezeichnend für Axel Honneth, der Deweys Schrift kommentiert, dass er in seiner Einleitung auf den Dualismus und die ihm entsprechende Pflichtethik Bezug nimmt, auf die im deutschen Idealismus aber behauptete Einheitlichkeit der mit sich selbst identisch angenommenen Vernunft nicht weiter eingeht, was hier im Folgenden unternommen werden soll. Denn Honneth bleibt selber dem Denken Kants verhaftet, wenn er den Kampf um Anerkennung auf einen Appell zur gegenseitigen Achtung reduziert. Wie er selber damit in das Feuer der Kritik Deweys gerät, ohne es zu bemerken, sei kurz aufgezeigt. Honneth schreibt über den Prozess der gegenseitigen Anerkennung: „Bei­ de Subjekte müssen wechselseitig in dem Augenblick, indem sie sich be­ gegnen, gegenüber sich selbst eine Negation vollziehen, die in der Abstand­ nahme vom jeweils Eigenen besteht. Ergänzen wir diesen Gedanken noch um Kants Bestimmung der ‚Achtung‘, in der er einen ‚Abbruch‘, eine Ne­ gation der ‚Selbstliebe‘ sehen wollte, so tritt wohl zum ersten Mal zutage, was Hegel mit seiner Einführung des intersubjektiven Verhältnisses behaup­ ten wollte: In der Begegnung zwischen zwei Subjekten eröffnet sich inso­ fern eine neue Handlungssphäre, als beide wechselseitig genötigt werden, einen Akt der Beschränkung ihrer ‚selbstsüchtigen‘ Begierde zu vollziehen, sobald sie des Anderen ansichtig geworden sind.“139 Aber tatsächlich muss Kant hier gar nicht „ergänzt“ werden, denn Hon­ neth begreift Hegels Phänomenologie des Geistes nicht als eine Ontologie des Selbstbewusstseins, die letztlich Geistphilosophie ist, sondern hinter Kant zurückfallend als Vertragstheorie im Sinne von Hobbes: Das Subjekt verdankt sich bei Honneth der Natur und nicht der Gesellschaft. Dass Honneth in der Erklärung seines Ansatzes an anderer Stelle auf die onto­ genetische Entwicklung Bezug nimmt,140 verwundert darum nicht: Er liest 137  Dewey

(2000), S. 117. (2000), S. 145. 139  Honneth (2010), S. 30. 140  Honneth (2010), S. 27. 138  Dewey

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die Phänomenologie als Psychologie. Besonders deutlich zeigt sich das in seiner Studie über Verdinglichung, wo es explizit über die ursprüngliche Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt heißt: „Das Kind lernt, sich auf eine objektive Welt konstanter Gegenstände zu beziehen, indem es aus der Perspektive einer zweiten Person zu einer allmählichen Dezentrierung seiner eigenen, zunächst egozentrischen Perspektive gelangt.“141 Das Kleinkind ist für Honneth also schon Ego, das sich über die Vermittlung eines anderen Subjekts auf Objekte bezieht, von denen es sich dann zu unterscheiden lernt, was eigentlich gar nicht nötig ist, weil es doch schon Ego ist, oder wie Honneth es ausdrückt, zunächst Ego ist. Selbstbewusst­ sein ist dagegen, wie oben angesprochen, nicht eingekapselte Individuali­ tät, sondern in sich selber soziales Verhältnis – theologisch gesprochen Trinität, die, wie in der Dogmatik, sowohl immanent als auch ökonomisch zu denken ist:142 Wenn ich bei mir bin, was Nichtidentität voraussetzt, nämlich die zwischen dem Ich und dem mir, die sich beide, um sich in ihrer Unterscheidung wissen zu können, eines allgemeinen Mediums der Mitteilung bedienen müssen, dann gelingt diese Vermittlung nur über das Andere, das das Allgemeine ist, und das damit mein vorgeblich individu­ elles im Sinn von ungeteiltem Sein wesentlich konstituiert. Dieses andere Allgemeine ist der Begriff, ist Sprache. Bewusstsein ist zudem nur in seiner Intentionalität im Sinne von Bezogenheit denkbar. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. Das Herrenbewusstsein der Persönlichkeit vermeint, durch Exklusion das, worauf es sich bezieht und von dem es konstituiert wird, loswerden zu können, um absolut zu sein und es sich dann anzueignen. Dieses Denken ist die logische Grundlage von Raub‑ und Vernichtungspolitik. Honneth gilt die von ihm selber nicht verstandene Warnung, die Dewey an seine zeitgenössischen Leser im Hinblick auf das Menschenbild des deutschen Idealismus aussprach: „Es gibt Leute, die damit zufrieden sind, den Grundsatz, der im Kampf der Demokratie gegen die autoritative Staatsidee auf dem Spiel steht, abstrakt als Achtung vor der Persönlichkeit zu definieren; das bedeutet, daß sie das soziale Gefüge nicht berücksichtigen und daß sie glauben, daß tatsächlich das bloße Prin­ zip eines persönlichen Selbst automatisch sein ihm gemäßes soziales Ge­ füge herstellt. Sie werden durch die Entdeckung überrascht werden, daß sich keiner glühender zur Verehrung der ‚Persönlichkeit‘ bekannt hat als Hitler selbst.“143 141  Honneth

(2005), S. 47. Unterschied besteht nur in der Bezeichnung. Die immanente Trinität be­ zeichnet die Seinsweise Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist, die ökonomische Trinität bezeichnet die Selbstoffenbarung Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Ontologisch betrachtet ist Gottes Offenbarung sein Sein. 143  Dewey (2000), S. 56. 142  Der



III. Die Unzulänglichkeit der Vernunft79

Dewey begründet seinerseits die Republik nicht mit Hegel, denn für De­ wey wird Demokratie, und eigentlich ist mit Demokratie Republik gemeint, nicht logisch oder moralisch begründet, sondern utilitaristisch über den Begriff der Öffentlichkeit: Kommunikation sei „die Methode der Demokra­ tie. Die Philosophie, die eine solche Methode vorschreibt, wird den Primat der Kommunikation anerkennen – eine Kommunikation, die mit jenen Pro­ zessen geduldiger und ausgedehnter Beobachtung und ständiger experimen­ teller Prüfung verbunden ist, die die menschliche und soziale Bedeutung der Wissenschaften ausmachen.“144 Personen sind für Dewey also nicht trinitarisch verfasste Individuation von Selbstbewusstsein, im Geiste Hegels also Kommunikation und nicht Substanz, das Besondere, das sich nur im Allgemeinen der Öffentlichkeit über sich selber zu vergewissern vermag und nur so sich selber erscheint. In die Tiefe der Ontologie Hegels dringt Dewey nicht vor. Was Kommuni­ kation ontologisch ist, bleibt bei Dewey unklar. Die Frage, wie Individuen dazu kommen, sich zu assoziieren, interessiert ihn nicht. Fakt sei, dass sie es täten.145 Aber Deweys Kantkritik gilt es jetzt an Kant selber zu überprüfen. Dann wird sich bestätigen, dass Kant in dem Sinne verstanden werden kann, wie Dewey ihn versteht. Die Behauptung, der Nationalsozialismus lasse sich auf Kant zurückführen, wird nicht aufrechterhalten. Der Umfang der national­ sozialistischen Vernichtungspolitik war Dewey zu dem Zeitpunkt, als er seine Auffassung über den deutschen Idealismus niederschrieb, nicht be­ kannt. Er betrachtete den Nationalsozialismus wohl als eine Variante des Faschismus und missverstand ihn, wie so viele, damit gründlich. Kants Kritik der reinen Vernunft (im Folgenden Kr.d.r.V. abgekürzt) ist als Grundlegung des modernen Wissenschaftsverständnisses verstanden worden, gleichzeitig wird sie als die einzige und zudem enge Pforte angesehen, durch die durchzugehen eine Metaphysik sich nach der Aufklärung schon bequemen müsse, wolle sie im akademischen Bereich als Philosophie im Sinne einer strengen Wissenschaft noch Anerkennung finden. Kant hat die Ausformulierung einer künftigen Metaphysik nicht selber unternommen, 144  Dewey (2000), S. 73. Schon in seiner Auseinandersetzung mit Walter Lipp­ mann hat Dewey darum darauf bestanden, dass eine Einschränkung der Öffentlich­ keit nicht erfolgen darf. Öffentlichkeit ist für ihn assoziierte Tätigkeit. Diese Tätig­ keit ist für ihn auch Voraussetzung für den Staat. (vgl. Dewey 1991). Dewey meint damit die staatliche Verwaltung in einer Republik, die experimentelle Verfahren zu fördern hat, die die Lebensbedingungen der Bürger verbessern. Lippmann hatte da­ gegen ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der veröffentlichenden Öffentlichkeit und beschwor die Gefahr der Manipulation (vgl. Lippmann). 145  Dewey (1996), S. 34 f.

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sondern lediglich ihre Prolegomena zu formulieren beabsichtigt. In gewisser Weise kann man aber schließen, dass er nicht angenommen hat, dass die Metaphysik jemals über die Prolegomena hinaus entwickelt werden könne. Damit stünde die praktische Philosophie im Mittelpunkt allen Bemühens um eine metaphysische Begründung der Philosophie, weil Kant in der transzen­ dentalen Dialektik der Kr.d.r.V. nachzuweisen versucht, daß metaphysische Behauptungen letztendlich allein auf die durch die reine Vernunft erkannten moralischen Prinzipien bezogen werden können, m. a. W.: Die Ethik wäre die Königsdisziplin. So hat auch die liberale protestantische Theologie des neunzehnten Jahrhunderts Kant rezipiert. Anhand der Methodenlehre, mit der Kant die Kr.d.r.V. abschließt, lässt sich aber m. E. zeigen, dass es doch nicht die Ethik oder die Sittlichkeit, sondern grundlegender noch die Politik ist, der Kant diese Würde zuerkennt. Die Kr.d.r.V. bereitete, träfe diese Hy­ pothese zu, dann nicht nur die Kritik der praktischen Vernunft vor. Aus beiden, letztlich sogar schon alleine aus der Kr.d.r.V. könnte dann eine po­ litische Philosophie geschlussfolgert werden, mehr noch: So, wie die Prin­ zipien der Kritik der praktischen Philosophie schon implizit in der Kr.d.r.V. enthalten sind, müsste aufzuzeigen sein, dass schon die Kr.d.r.V. implizit durch und durch politische Philosophie ist, die damit auch der praktischen Philosophie die Richtung vorgäbe. Die politische Dimension der Kantischen Kritiken ist nun zwar nicht unbemerkt geblieben, aber eben nicht in dieser Konsequenz, um nicht zu sagen: in dieser Radikalität. Denn letztlich geht man beim Verständnis von Kants politischem Denken vom Kategorischen Imperativ aus, wobei man an das Problem stößt, dass der politische Alltag eine Gesetzgebung im Sinne Kants nicht zulässt. Kant beruhigte sich dahingehend mit der Unterschei­ dung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft.146 Unter Berufung auf Kant, und hier besonders auf dessen Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, kann man sich auch noch mit dem Gedanken trösten, dass der geschichtliche Fortschritt es schon richten werde, selbst wenn hier allenfalls eine regulative Idee vorlie­ ge, die das Handeln zu bestimmen habe, die aber in der Zukunft auch nicht gänzlich einzulösen sei. Ein solches Verständnis des Politischen bei Kant begreift das Politische normativ und überantwortet es einer als Fortschritt postulierten Geschichte. Im Hinblick auf die politische Dimension der Kr.d.r.V heißt es nun im Kommentar von Otfried Höffe: „Wer das Werk bis zum letzten Teil, der Methodenlehre, liest, erfährt, was schon im Motto und der zweiten Vorrede anklingt: Die Kritik als ganze ist im emphatischen Sinn praktische Philoso­ phie“, wobei die Kritik eine judikative Kritik und nach dem Muster eines 146  Kant

(1999), S. 22 ff.



III. Die Unzulänglichkeit der Vernunft81

Zivilprozesses angelegt sei, in den einige Elemente eines Strafprozesses eingingen.147 Wenn der Philosoph im weiteren Verlauf von Höffe als Ge­ setzgeber angesprochen wird,148 Höffe aber Kants Gerichtshof so charakte­ risiert, dass zwar über die Vernunft Gericht gehalten werde, sie aber auch Anklägerin, Verteidigerin und Richterin in einem sei, die zudem über die von ihr erlassenen Gesetze Recht spreche, dann haben wir es hier weder mit Zivilgerichts‑ noch Strafgerichtsbarkeit zu tun, sondern mit absolutistischem Verfassungsrecht. Man lasse nur einmal Kant selbst zu Wort kommen, dann erkennt man den zwingenden Zugriff der Vernunftkritik auf die Entschei­ dungen im zivilrechtlichen und im öffentlich-rechtlichen Bereich: „Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, als welche auf Objekte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurteilen. Ohne dieselbe ist die Vernunft gleichsam im Stande der Natur, und kann ihre Behauptungen und Ansprü­ che nicht anders geltend machen, oder sichern, als durch Krieg. Die Kritik dagegen, welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimmt, deren Ansehen keiner bezweifeln kann, verschafft uns die Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen, als durch Prozeß. Was die Händel in dem ersten Zustand endigt, ist ein Sieg, dessen sich beide Teile rühmen, auf den meh­ renteils ein nur unsicherer Friede folgt, den die Obrigkeit stiftet, welche sich ins Mittel legt, im zweiten aber die Sentenz, die, weil sie hier die Quelle der Streitigkeiten selbst trifft, einen ewigen Frieden gewähren muß“149. 147  Höffe

(2004), S. 37. erfüllt sich das praktische Leitinteresse. Der Philosoph erweist sich nicht länger als jemand, der wie ein Mathematiker ‚bloß spekuliert‘ (…), als ‚Ver­ nunftkünstler‘. Er übernimmt auch die genannte Rolle des Gesetzgebers der mensch­ lichen Vernunft“ (Höffe, S. 38). Dieser Gesetzgeber maße sich eben nicht an, empi­ risch auftretende Streitfälle zu entscheiden, sondern die Zulässigkeit des Streits über die Prüfung der Voraussetzung von empirischen Aussagen überhaupt. Das ist aber weit mehr als nur Zivil‑ und Strafrecht. 149  Kant (1990), S. 687. Es ist von daher mehr als fraglich, wenn Höffe dieses Rechtsverständnis mit dem Begriff der Demokratie in Einklang zu bringen versucht, was ihm aber letztlich schon in der Formulierung nicht gelingen will: So behauptet er, dass sich Kant mit dem Kriterium der Einstimmigkeit freier Bürger gegen Platon und dessen Konzept vom Philosophenkönig absetze, um dann so fortzufahren: „Die Demokratie ist freilich nicht empirisch zu verstehen, als ob es auf die Entscheidung einer Mehrheit ankomme. Man soll vielmehr ‚durch das volle Gewicht der Beweis­ gründe zum Beifalle‘ gezwungen werden.“ (Höffe 2004, S. 342). Noch unverständ­ licher ist freilich, dass er Kants Denken mit dem von Wittgenstein als vereinbar betrachtet, weil letzterer sich im Hinblick auf sein Konzept der Sprachspiele auch 148  „Hier

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Schon Kants Kr.d.r.V. ist „im emphatischen Sinne politische Philosophie“.150 Kant grenzt sich an dieser Stelle vehement gegenüber Thomas Hobbes ab, in dessen politischer Philosophie der negative, rein formelle Friede im Sin­ ne der Abwesenheit nicht legitimierter Gewalt seine Sicherung nur dadurch erfährt, dass die Wahrheitsfrage suspendiert und das, was als Wahrheit gelten soll, oktroyiert wird: Auctoritas non veritas facit leges. Die Begriffe Krieg und Frieden, die Kant hier benutzt, werden nur auf den ersten Blick in einem übertragenen Sinne verstanden, d. h. bezogen auf den akademi­ schen Umgang im Rahmen philosophischer und wissenschaftlich auszutra­ gender Kontroversen. Man ist sich heute nicht mehr bewusst, darin die Ursachen tatsächlicher politischer Auseinandersetzungen, geschweige denn von Kriegen zu sehen. Gewöhnlich wird gesellschaftliche Gewalt auf sozi­ ale Spannungen zurückgeführt. Das gilt so aber nicht für Hobbes und auch nicht für Kant. Der Krieg, den Kant in der Methodenlehre meint, ist nicht jener aus der Spätschrift Zum ewigen Frieden, in der es um das Verhältnis der Staaten untereinander geht, also um Konflikte im Rahmen der interna­ tionalen Beziehungen, es ist vielmehr der Bürgerkrieg gemeint, der sich im Streit über Wahrheitsfragen entzündet, und im Blick stehen besonders die konfessionellen Bürgerkriege, die den Zeitgenossen Kants noch eine durch­ aus vertraute Gefahr waren. Europa hatte damit seine Erfahrungen während des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts gemacht. Der neuzeitliche Staat ist als der innerstaatliche Friede die Antwort darauf. Aber seine Legi­ timation beruhte bis zu Kant auf einer pragmatischen Vernunft, wie sie Hobbes formuliert hatte. Doch aus einer pragmatischen Vernunft lässt sich keine praktische Vernunft im Sinne einer kategorischen Verbindlichkeit be­ gründen. Darum ist der pragmatisch begründete Friede nur ein negativer Friede, d. h. ein Friede, der verstanden wird als Abwesenheit von konkreter primär auf die Notwendigkeit von Regeln berufen habe, die keiner privaten Kont­ rolle unterliegen dürften: „Da Kants Prinzipien die Bedingungen der Möglichkeit jeder Sprache benennen, gehören sie zu einer im systematischen, nicht historischen Sinn ursprünglichen Sprache, zu einer Ur-Sprache. Wie die Menschenrchte die Kerngrammatik des Sozialen ausmachen, so bilden die von Kant benannten Elemen­ te die (transzendentale) Kerngrammatik des Epistemischen.“ (Höffe (2004), S. 343). Dieser Satz fände weder im Hinblick auf die Kerngrammatik des Sozialen noch auf die des Epistemischen die Zustimmung Wittgensteins, geschweige denn seinen Bei­ fall. Er hätte sie ledigleich als einem spezifischen Sprachspiel zugehörig zu identi­ fizieren gewusst, dessen Deutungshoheit über alle anderen Sprachspiele er aber als absurd empfunden und entlarvt hätte. 150  Die Bemerkung macht Otfried Höffe in seinem Kommentar zur Kritik der praktischen Vernunft: „Kant entwickelt eine Philosophie der Freiheit um eben dieser Freiheit willen, was seine Philosophie zu einer eminent praktischen Philosophie macht. Soweit es dabei auf Recht, Staat und Politik ankommt, behandelt er diese Gegenstände in politischer Intention, womit seine eminent praktische Philosophie zu einer im emphatischen Sinn politischen Philosophie wird.“ (Höffe 2012, S. 10).



III. Die Unzulänglichkeit der Vernunft83

personaler Gewalt, die aber latent anwesend bleibt und deren Ausbruch je­ derzeit droht. Der Staat ist Gewaltfriede, der über das Gewaltmonopol ge­ sichert wird. In Umkehrung des Satzes von Böckenförde hat der Staat also Voraussetzungen, die ihn gleichzeitig in seinem Status auch radikal zu be­ drohen vermögen, und paradoxer Weise sind es laut Hobbes, aber auch laut Kant gerade dieselben, die ihn laut Böckenförde erhalten. Das ist und bleibt sein Dilemma. Kant hat das klar erkannt, und er setzt darum so wenig auf Religion wie Hobbes. Aber dennoch unterscheidet sich Kant von Hobbes, der bekanntlich in der Tradition des Epikur dachte, indem er an Platon anknüpfte. Der Friede bleibt als Gewaltfrieden für Kant defizitär, solange er nicht im Sinne der praktischen Vernunft einsichtig begründet ist. Um diese Einsicht geht es Kant. Er betrachtet seine Transzendentalphilosophie als den alterna­ tivlosen Ausdruck dieser Einsicht und damit als alternativlose Begründung des Staates in Abgrenzung gegenüber Thomas Hobbes. Der absolutistische Staat, für den Hobbes die entscheidenden Stichworte und damit verbunden die nötige Legitimität formulierte, beruhte auf dem Grundsatz: Pro protectione obedientia. Dem Staatsbürger wurde gegenüber der Staatsmacht in Glaubensfragen kein Widerstandsrecht mehr eingeräumt. Der Preis, der dafür zu entrichten war, war die Unterscheidung zwischen dem öffentlichen, also dem vom Staate geforderten Bekenntnis (confessio) und dem privaten Glauben (fides). Der homo magnus, der sich im Titelbild der ersten Ausgabe des Leviathans über einer Stadt inmitten einer friedli­ chen Landschaft erhebt, trägt sowohl das Königszepter als auch den Bi­ schofsstab in den Händen. Aber die Menschen, die ihn bilden, folgen nicht der eigenen, sondern einer oktroyierten Gesetzlichkeit. Ihr Gehorsam ist nicht autonom, sondern heteronom und damit unberechenbar, weil erzwun­ gen. Denn der Mensch ist für Kant, um es mit Hegel zu formulieren, als vernunftbegabtes Wesen an und für sich frei. Darum wird dieser Gewaltstaat auch schon von Hobbes als ein sterblicher Gott gedacht. Die Hobbessche Lösung wird von Kant nicht mehr akzeptiert. Sein Den­ ken, insbesondere die Kr.d.r.V., ist metaphysische Kritik der Metaphysik. Kant ist sogar zu der Überzeugung gelangt, er habe sie in ihren Grundzügen weitgehend abgeschlossen. Darum darf man von der die Kr.d.r.V. abschlie­ ßenden Methodenlehre nicht die nochmalige Beschreibung von Verfahren erwarten, mit denen gesicherte Erkenntnis erzielt werden könnte, denn sol­ che aufzuzeigen ist das Anliegen der gesamten K.d.r.V. zuvor, insbesondere des ersten Teils, wo es um die Analytik der Verstandesvermögen geht. Viel­ mehr betont Kant abschließend, dass die Richtigkeit seiner Untersuchungs­ methode nicht alleine daran zu messen sei, daß sie den Frieden bringe, son­ dern dass sie selber den Frieden bedeute und nicht mehr der pragmatisch

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begründeten, gewaltsam erzwungenen Unterdrückung von Gewalt durch Gewaltandrohung bedürfe. Die Schlussfolgerung ist sehr einfach: Wenn die Behauptung der Wahrheit zum Krieg führen kann, dann ist die Methode, die der Friede ist, gleichbedeutend mit der Prüfung der aufrecht erhaltenen Wahrheitsbehauptung im Rahmen der Kr.d.r.V., die an die Stelle des absolu­ ten Herrschers tritt und einen entsprechend vernunftgemäßen, d. h. logischen Zwang ausübt. Dieser Zwang ist auf Grund der geleisteten Kritik der reinen Vernunft insofern mit der Freiheit identisch, als die reine Vernunft in ihrer Kritik sich selber gegenüber sowohl Objekt als auch Subjekt ist und so ihre Autonomie begründet. Diese Autonomie begründet ihre Absolutheit. Der Begriff der Autonomie expliziert den Begriff des Absoluten und umgekehrt. Die Autonomie verhindert freilich nicht, dass metaphysische Behauptungen trotzdem aufgestellt werden, denn Kant hat die Metaphysik als unvermeid­ lich betrachtet. So beginnt die Vorrede zur Kr.d.r.V. mit der Feststellung, es sei das Schicksal der Vernunft, mit Fragen belästigt zu werden, „die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufge­ geben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“151 Wenn nun die Aufstellung von Behauptungen nicht zu verhindern ist, bedarf es einer Kritik dieser Behaup­ tungen nicht auf der Ebene der Behauptungen, sondern von einer höheren, abstrakten Ebene aus, die den Frieden sichert, indem sie als Sicherung des kritischen Verfahrens und damit des Friedens von vorneherein metaphysisch sinnlosen Behauptungen die Grundlage entzieht. Dieser bürgerlich-vernünf­ tige Absolutismus löst den Absolutismus der Fürsten ab und ist als absolute Aufklärung der eigentliche aufgeklärte Absolutismus und damit überhaupt erst Absolutismus im philosophischen Sinn. Die Vernunft erzwingt nämlich den Frieden, aber in Freiheit, weil schon der Titel der Titel Kr.d.r.V. sowohl als ein genitivus objectivus als auch genitivus subjectivus gelesen werden muss. Das ist für die Methodenlehre insofern von ausschlaggebender Bedeu­ tung, als sie behauptet, Frieden auf Freiheit und nicht auf Gehorsam begrün­ den zu können. Die Methodenlehre ist damit die eigentliche Ausformulierung der Verfassung der Freiheit als Selbstbindung in Autonomie, die bei Kant entsprechend auch keine Dreiteilung und gegenseitige Kontrolle von Gewal­ ten in Betracht zieht. Die reine Vernunft ist, wie gezeigt, absolut. Sie ist der allgemeine Wille, die volonté générale als transzendentales Verfahren, das die nicht zu entscheidenden und damit nicht vermittelbaren Behauptungen aus ihrem Staat verbannt. Damit ist die Vernunft grundsätzlich im Hinblick auf die empirischen Behauptungen skeptische Vernunft. Zunächst betont Kant in der Methodenlehre darum trotz aller vorangegan­ genen Kritik am Empirismus noch einmal seine Nähe zu David Hume. Sie 151  Kant

(1990), S. 5.



III. Die Unzulänglichkeit der Vernunft85

bedeutet aber zugleich auch größte Distanz gegenüber Hume, weil nämlich die Skepsis von Kant auch der Kritik der reinen Vernunft unterworfen wird. Das wiederum ist außerordentlich wichtig im Hinblick auf die Frage, inwie­ fern sich mit der Aufklärung Kants die Republik legitimieren, republikani­ sches Denken begründen ließe. Könnte Kants Kr.d.r.V. nicht hinreichend dafür sein, den Prozess der Neutralisierung zu begründen? Aber die Unter­ werfung auch der Skepsis unter die absolut herrschende Vernunft hat alleine den Zweck, den Gottesglauben überhaupt erst in sein Recht setzen.152 So beginnt die Methodenlehre mit einer Würdigung der negativen Urteile, die, wie Kant angesichts der allgemeinen Wissbegierde bemerkt, eigentlich in schlechtem Ansehen stünden. Er schätze sie aber darum so hoch ein, weil sie den Irrtum abhielten. Sie seien die Grundlage der Disziplin. Da, wo die Vernunft weder empirisch noch durch reine Anschauung wie etwa in der Mathematik geprüft werde, bedürfe sie der Disziplin und müsse sich dem negativen Urteil unterwerfen, um vor Ausschweifungen bewahrt zu werden, bzw. wie es bei Kant noch bestimmter heißt: „daß auch die ganze Philoso­ phie der reinen Vernunft bloß mit diesem negativen Nutzen zu tun hat“.153 Die Philosophie sei mit der Mathematik nicht vergleichbar, so dass jene auch nicht als Vorbild für die Philosophie dienen könne. Denn die Mathe­ matik sei, wenngleich sie auch zur reinen Vernunfterkenntnis zähle, nur aus der Konstruktion ihrer Begriffe heraus begründet, während die Philosophie Vernunfterkenntnis aus Begriffen zu sein beanspruche. So philosophiere die Mathematik auch nicht über sich selber, ein schwieriges Geschäft, wie Kant beiläufig bemerkt, und der Unterschied ihres Vernunftgebrauchs zu dem der Philosophie komme ihr überhaupt nicht in den Sinn. Hier denkt man unwill­ kürlich an Heideggers oft missverstandenes Wort, die Wissenschaft denke nicht.154 Kant schreibt über die Mathematiker: „Wo ihnen die Begriffe von Raum und Zeit, womit sie sich (als den einzigen ursprünglichen Quantis) beschäftigen, herkommen mögen, daran ist ihnen gar nichts gelegen, und ebenso scheint es ihnen unnütz zu sein, den Ursprung reiner Verstandesbe­ griffe, und hiermit auch den Umfang ihrer Gültigkeit zu erforschen, sondern nur sich ihrer zu bedienen.“155 Entsprechend sei es ausgeschlossen, dass die Philosophie auf die Methoden der Mathematik zurückgreifen könne, nicht einmal auf jene der Definition. Empirische Begriffe könnten gar nicht defi­ niert, sondern nur expliziert werden, und das gelte auch für a priori gege­ bene Begriffe, weil deren Zergliederung immer zweifelhaft bleiben müsse 152  In der Vorrede zur Kr.d.r.V. äußert Kant: „Ich mußte also das Wissen aufhe­ ben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“ Kant (1990), S. 28. 153  Kant (1990), S. 656. 154  Heidegger (2000), S. 705 f. 155  Kant (1990), S. 667.

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und niemals apodiktisch gewiss werden könne. Definitionen seien, wie Axiome und Demonstrationen, Konstruktionen. Apodiktisch gewisse Sätze teilt Kant in Mathemata und Dogmata ein, aber, nachdem die Mathemata abgehandelt sind, heißt es über die letzteren, die reine Vernunft erhalte in ihrem bloß spekulativen Gebrauch nicht ein einziges direkt synthetisches Urteil aus Begriffen. Auch über die Urteile aus reinen Verstandesbegriffen erreiche sie nur Grundsätze, die alleine in Bezug auf mögliche Erfahrung, aber an sich selbst nicht apodiktisch gewiss seien. Der Grundsatz mache damit seinen Beweisgrund erst möglich. Von daher schließt Kant auch die dogmatische Methode als ein Vorbild für die Philo­ sophie aus. „Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen, und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Ab­ bruch tun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig, in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte“.156 So ist die vernei­ nende Kritik in ihr Recht gesetzt. Aber diese Negation wird nicht in den Gang des Gedankens bzw. in die Arbeit des Begriffs integriert, sondern selber als Position begriffen, die wiederum der Kritik der reinen Vernunft unterworfen werden kann: Es dür­ fe sich nämlich nun Verneinung nicht selber absolut setzen. Weder positive noch negative dogmatisch apodiktische Sätze seien erlaubt, vielmehr sei es „apodiktisch gewiß, daß niemals irgendein Mensch auftreten werde, der das Gegenteil mit dem mindesten Scheine, geschweige dogmatisch behaupten könne“.157 So würdigt Kant an dieser Stelle zwar ausdrücklich Hume und Priestley und nimmt sie gegenüber ihren Kritikern in Schutz, fasst aber dann zusam­ men: „Wenn ich höre, daß ein nicht gemeiner Kopf die Freiheit des mensch­ lichen Willens, die Hoffnung eines künftigen Lebens, und das Dasein Gottes wegdemonstriert haben solle, so bin ich begierig, das Buch zu lesen, denn ich erwarte von seinem Talent, daß er meine Einsichten weiter bringen werde. Das weiß ich schon zum voraus völlig gewiß, daß er nichts von allem diesem wird geleistet haben, nicht darum, weil ich etwa schon im Besitze unbezwinglicher Beweise dieser wichtigen Sätze zu sein glaubte, sondern weil mich die transzendentale Kritik, die mir den ganzen Vorrat unserer reinen Vernunft aufdeckte, völlig überzeugt hat, daß, so wie sie zu bejahenden Behauptungen in diesem Felde ganz unzulänglich ist, so wenig und noch weniger werde sie wissen, um über diese Fragen etwas verneinend 156  Kant 157  Kant

(1990), S. 677. (1990), S. 680.



III. Die Unzulänglichkeit der Vernunft87

behaupten zu können.“158 Kant schränkt darum ein, dass die Jugend aus erzieherischen Gründen von der verneinenden Vernunft zunächst ferngehal­ ten werden sollte, doch gelte das nicht für die akademische Unterweisung, unter der Voraussetzung freilich, dass ein Unterricht in der Kritik der reinen Vernunft bereits stattgefunden habe. Der natürliche Weg sei von der Dog­ matik zur Skepsis, die dann nur nicht das letzte Wort behalten dürfe, weil sie nicht zur Vernunftkritik führe. Hochzuschätzen sei sie dessen ungeachtet als unentbehrliche Zuchtmeisterin alles dogmatischen Vernünftelns. Den­ noch steht bei Kant geschrieben, dass die negativen Behauptungen gegen­ über den bejahenden Behauptungen im Felde der Metaphysik nicht nur „so wenig“, sondern sogar „noch weniger“ wüssten, was bedenkenswert ist.159 Zunächst einmal ist hierzu festzuhalten, dass im reinen und spekulativen Vernunftgebrauch nichts als gewiss, nichts apodiktisch behauptet werden kann wie die Grundsätze der reinen Vernunft. Darüber hinaus sind nach Kant nur Hypothesen möglich. Doch auch hier müsse die Gewissheit ihrer realen Möglichkeit vorausgesetzt werden, d. h. in den Worten Kants: „keine Gegenwart anders, als im Raume, keine Dauer, als bloß in der Zeit“.160 Die Bedingungen möglicher Erfahrung sind für Kant auch die Bedingung mög­ licher Dinge, und das verlangt Kant sogar für die Dichtung. So könne z. B. die Seele nicht als Substanz angenommen werden, es könne nicht einmal eine Meinung, geschweige denn eine Hypothese über die Ideen der Vernunft gestattet werden, wenngleich sie als Ideen auch nicht geleugnet werden könnten. „Die von aller Erfahrung abgesonderte Vernunft kann alles nur a priori und als notwendig oder gar nicht erkennen: daher ist ihr Urteil nie­ mals Meinung, sondern entweder Enthaltung von allem Urteile, oder apo­ diktische Gewißheit“.161 Nur in der Ansehung des praktischen Gebrauchs habe die Vernunft ein Recht, etwas anzunehmen, aber das diene der Vertei­ digung einer guten Sache. Es folgt in diesem Zusammenhang jetzt noch ein in merkwürdig kriege­ rischer Sprache gehaltener Abschnitt, obwohl Kant wieder auf den ewigen Frieden zu sprechen kommt: „Den Gegner müssen wir hier jederzeit in uns selbst suchen. (…) Die Einwürfe (…) (müssen wir) (…) hervorsuchen, um einen ewigen Frieden auf deren Vernichtigung zu gründen. Äußere Ruhe ist nur scheinbar. Der Keim der Anfechtungen, der in der Natur der Menschen­ vernunft liegt, muß ausgerottet werden“.162 Die Freiheit dient jetzt nur noch dazu, den Einwand, dem die Vernichtung gilt, die Möglichkeit zu geben, 158  Kant

(1990), (1990), 160  Kant (1990), 161  Kant (1990), 162  Kant (1990), 159  Kant

S. 688 f. S. 689. S. 702. S. 706. S. 707.

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sich zu zeigen: „(W)ie können wir ihn aber ausrotten, wenn wir ihm nicht Freiheit, ja selbst Nahrung geben, Kraut auszuschießen, um sich dadurch zu entdecken, und es nachher mit der Wurzel zu vertilgen?“163 Natürlich fordert Kant hier Selbstkritik der Vernunft. Was bedeutete es aber, wenn sich der „Keim der Anfechtung“ in Gestalt, also in einem ande­ ren Menschen zeigte, etwa in Hegel, in Nietzsche, in Wittgenstein oder in Gestalt der postmodernen Hermeneutik? Und letztlich ist das In-uns-selber ja nur als sozial vermittelt denkbar. Ist bei Kant der Krieg, der alle Kriege endet, the war to end all wars, schon vorgedacht? Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein. An dieser Stelle blitzt bei Kant auf, was durchaus Jakobinismus genannt zu werden verdient. Denn wie anders ließe sich die­ ser plötzliche aggressive Tonfall erklären? Zunächst einmal könnte man das für ein Plädoyer für radikale Selbstkritik halten. Aber dem ist nicht so. Denn der dogmatischen Behauptung, es gebe einen Gott, steht die dogma­ tische Gegenbehauptung bei Kant keineswegs, wie oben schon gezeigt, re­ ziprok gegenüber. Die Auseinandersetzung zwischen Theismus und Atheis­ mus ist bei Kant keineswegs symmetrisch. Ebenso wie Hobbes, der den Frieden über die erzwungene Anerkennung der Wahrheit des Satzes, dass Jesus der Christus sei, erreichen will, kommt Kant nicht ohne die Anerken­ nung des Daseins Gottes aus, das nur eben nicht mehr erkannt werden könne, dafür aber geglaubt werden müsse.164 Wer es nicht glaubt und ent­ sprechend einen Einwand geltend macht, sieht sich dann einer Freiheit ausgeliefert, die ihn im Namen der Vernunftautonomie durchaus zu vernich­ ten droht. Fassen wir im Hinblick auf Kants Freiheitsbegriff, dessen Explikation die Autonomie der Vernunft ist, noch einmal zusammen: In der Mathematik ist die reine Anschauung, in der transzendentalen Erkenntnis die mögliche Er­ fahrung Richtschnur, und ansonsten hat sich die reine Vernunft unter die Disziplin zu begeben, für die die negativen Urteile sorgen. „Der größte und 163  Kant

(1990), S. 707 f. den Punkt gebracht hat das Ruben Schneider in seinem Beitrag in dem von Norbert Fischer, Jakub Sirovátka und David Voprada besorgten Band: Kant und die biblische Offenbarungsreligion. Offenbarung werde für Kant, so Thomas Hanke in seinem einleitenden Beitrag, durch die Vernunft im Zusammenhang mit dem Got­ tesbegriff hinzugedacht (Hanke, S. 15 ff.), für Schneider gilt aber: „Die Zensur der ‚transzendentalen Theologie‘ hat den negativen Nutzen, atheistische, deistische, pantheistische und anthropomorphistische Behauptungen abzuwehren und führt zu einem durch die Moraltheologie abgesicherten ‚fehlerfreien Ideal‘, zu einem von inadäquaten metaphysischen Vorstellungen gereinigten Gottesbegriff. Dass ein in seinen an-sich-seienden Attributen unbekannter, von der Materie verschiedener und (relativ zur Welt) notwendiger Urgrund der Welt transsubjektiv existiert, wird dabei von Kants theoretischer Philosophie vorausgesetzt und nirgendwo in Zweifel gezo­ gen.“ (Schneider, S.  43 f.). 164  Auf



III. Die Unzulänglichkeit der Vernunft89

vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ; da sie nämlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu entde­ cken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten“.165 Was nun aber für die Vernunft demütigend zu sein scheint, nämlich dass sie ihrem reinen Gebrauch hinsichtlich der Vernunftideen keine Erkenntnis abgewinnen kann, wird ihr nicht zum Verlust, sondern vielmehr zum Gewinn, denn das gerade versetzt sie in die Lage, über sich selbst richten zu können, ohne einen anderen Richter über sich anerkennen zu müssen oder gar zu dürfen. Sie ist souverän. Aber, so fragt man sich, warum bedarf dann die Philosophie der ständi­ gen Disziplin überhaupt, wenn das bisher Gesagte doch so apodiktisch ge­ wiss sein soll? Jetzt bringt Kant die praktische Philosophie ins Spiel, und da geht es nicht mehr um den Vernunftgebrauch hinsichtlich der Erkenntnis, über den sich die reine Vernunft Auskunft zu geben in der Lage zeigt, son­ dern hier geht es um die Zwecke des Vernunftgebrauchs, die die Vernunft sich selber geben müsse, nämlich aus der Freiheit, die ihr ihre Souveränität verleihe. Es könne die Freiheit des Willens nur die intelligible Ursache unseres Wollens sein. Alle beobachtbaren Handlungen seien niemals anders als auch alle anderen empirischen Tatsachen zu verstehen, sie seien an Raum und Zeit gebunden und damit der Kausalität unterworfen. Dennoch kann für Kant die Freiheit insofern bewiesen werden, als wir uns selbst so erlebten, dass wir nicht nur auf Grund von Erfahrung handelten, sondern auch im Hinblick darauf, künftigen Schaden zu vermeiden, und dass wir darüber hinaus im Bereich des Sollens sogar gänzlich davon abstrahieren könnten, was schon als Voraussetzung wahrgenommen werden könne. Dies leiste die Vernunft aus sich selbst heraus. Die Freiheit ist also bei Kant das Verbindungsglied, das die theoretische mit der praktischen Vernunft vermit­ telt. Sie ist der Ansatz, von dem aus eigentlich das gesamte Verfahren der Kantischen Philosophie ausgeht. Nur auf der Basis der Freiheit kann die Vernunft überhaupt die Rolle beanspruchen, Richtschnur über sich selbst zu sein, dass sie also das Subjekt der Kritik der reinen Vernunft ist. Ohne diese Freiheit wäre die Kritik nicht möglich, so dass die Kr.d.r.V. die Frei­ heit nicht nur beweist, sondern auch die Verfassung dieser als Notwendig­ keit verstandenen Freiheit ist und offenlegt. Schließlich bleiben für Kant noch drei Fragen im Kanon der reinen Ver­ nunft zu beantworten übrig. Weil die Vernunft nicht alleine auf die Sinn­ lichkeit angewiesen sei, sondern auch Zukünftiges zu berücksichtigen ver­ möge, das Zukünftige aber insofern grenzenlos sei, als jedem Zukünftigen in der Antizipation ein weiteres Zukünftiges folge, spekuliere die Vernunft 165  Kant

(1990), S. 721.

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notwendig auf ein höchstes Ziel hin, das ihr in praktischer Hinsicht, weil sie auf Zwecke hin handele, auch höchstes Gut sein müsse. In diesem Zu­ sammenhang stellt Kant die berühmten drei Fragen: Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen? Die dritte Frage verbindet die beiden ersten, denn sie ist praktisch und theoretisch zugleich. Zum einen ist gefragt nach dem, was ich tun soll, um glückselig zu werden, und diese Frage ist ohne Rückgriff auf Erfahrung nicht zu beantworten, denn ich befinde mich immer in einer kausal bestimmten Situation. Das Handeln sei entsprechend der pragmatischen Klugheitsregel auszurichten. Gleichzeitig wird danach gefragt, wie man sich als der Glückseligkeit für würdig zu erweisen habe. Hierzu schreibt Kant, dass dabei im Hinblick auf das moralische Sittenge­ setz von aller Empirie abstrahiert werden könne. Dieses Gesetz betrachte nur „die Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, und die notwendigen Bedingungen, unter denen sie allein mit der Austeilung der Glückseligkeit nach Prinzipien zusammenstimmt“.166 Da Erkenntnis aber auf Erfahrung geht, wie eingangs betont, bedeutet das nun, dass es Handlungen zumindest geben kann, besser gesagt geben können muss, die auf moralischen Prinzi­ pien beruhen. Weil moralische Handlungen von der Vernunft geboten sind, müssen sie auch geschehen können. Wenn alle moralisch gut handelten, handelte jeder im Interesse sowohl seiner selbst als auch im Interesse aller anderen, und das Resultat wäre die Glückseligkeit, die aber nur in der moralischen Welt erreichbar sei. Diese Verknüpfung der Begriffe Freiheit und Glückseligkeit sichern die Identität auch in einer Welt, die Identität nicht wirklich werden lässt, weil sie eben nicht moralisch ist. Dieser Ansicht widerspricht insbesondere die schottische Moralphiloso­ phie entschieden, denken wir nur an Bernard Mandeville oder an Adam Smith. Kant interessiert sich hier aber gar nicht für die tatsächlichen Folgen seines Denkens in der praktischen Umsetzung, es geht ihm vielmehr darum aufzuzeigen, dass alle guten Handlungen auch andere Motive haben, also aus der Natur heraus bestimmt sein können. Diese interessieren ihn aber nicht, weil er gar nicht an guten Handlungen interessiert ist, sondern alleine an der Selbstbehauptung des mit sich als identisch vorgestellten Subjekts, dessen vollständige Identität mit dem Pflichtgesetz seine Glückseligkeit bedeute. Hier wird deutlich, dass Kant mit diesem Ansatz in der Tradition des kontinentalen politischen Denkens steht, und zwar in der Platons, dem Vernunft und Tugend im Staate wichtiger waren als das demokratische Ver­ fahren, auch die pragmatische Nützlichkeit, allerdings unter der nicht weiter hinterfragten Vorgabe, dass die Vernunft mit sich selber identisch bleibt. Die 166  Kant

(1990), S. 729.



III. Die Unzulänglichkeit der Vernunft91

Verfahren sollen die Tugenden fördern und die Gerechtigkeit herbeiführen, und die demokratischen Verfahren eignen sich dieser Theorie zufolge nicht dafür, den neuen Menschen zu schaffen. Wir können laut Kant nur darauf hoffen, daß eine höchste Vernunft Ur­ sache sowohl der Natur als auch des moralischen Sollens ist. Daraus ergibt sich, daß die drei grundlegenden Ideen der reinen Vernunft, nämlich Frei­ heit, Gott und Unsterblichkeit der Seele, eigentlich nur die drei Aspekte einer Idee sind: „Da wir uns notwendigerweise durch die Vernunft, als zu einer solchen Welt gehörig, vorstellen müssen, obgleich die Sinne uns nichts als eine Welt von Erscheinungen darstellen, so werden wir jene als eine Folge unseres Verhaltens in der Sinnenwelt, da uns diese eine solche Ver­ knüpfung nicht darbietet, als eine für uns künftige Welt annehmen müssen. Gott also und ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen.“167 Weil auf Grund des moralischen Impera­ tivs die bloße Idee der Moral als Ursache in der sinnlichen Welt angenom­ men werden muss, ist entsprechend die Einheit der sinnlichen mit der intel­ ligiblen Welt in einem Willen eines „ewigen, aber vollkommensten und vernünftigen Urwesens“ anzunehmen.168 Aus dieser Überlegung lässt sich dann auf die zweckmäßige Einheit aller Dinge schließen. Der Beweisgang, den Kant hier vollzieht, beruht nicht wie ein mathema­ tischer Schluss auf (reiner) Anschauung, sondern auf den Prinzipien der praktischen Vernunft, die eben mit der reinen Vernunft und nicht unter Rückgriff auf Erfahrung erkannt werden. Seine Voraussetzung ist die Un­ möglichkeit, die Erkenntnis Gottes und der Unsterblichkeit der Seele aus der reinen Vernunft im Schlussverfahren aus Begriffen und Urteilen zu ge­ winnen. Der Beweisgang ist damit weder mit Erfahrung noch logisch be­ gründet, sondern mit möglicher Erfahrung, die kein Mensch, zumindest für Kant, vernünftiger Weise leugnen könne. Hier tritt das Problem der Skepsis wieder in den Blick. Etwas für wahr zu halten, könne, so sieht es Kant, sowohl aus objektiven als auch aus subjektiven Gründen geschehen. Wenn alle Vernunftwesen et­ was für gültig erachteten, sei es Überzeugung, im anderen Fall gründe es auf Überredung. Deren Fürwahrhalten lasse sich nicht vernünftig mitteilen. Man müsse zunächst überprüfen, ob man selber überzeugt oder überredet worden sei. Vermeintliche Überzeugung seien dem Vernunftdiskurs auszu­ setzen. Beim Fürwahrhalten unterscheidet Kant drei Stufen: das Meinen, den Glauben und das Wissen. Meinen sei sowohl subjektiv als auch objek­ 167  Kant 168  Kant

(1990), S. 732 f. (1990), S. 735.

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tiv unzureichend. Der Meinende könne sich weder des Gegenstandes seines Meinens noch seiner Haltung ihm gegenüber gewiss sein. Er sei unsicher. Bestehe subjektive Gewissheit, dann handele es sich um Glauben (ohne dass Sicherheit hinsichtlich des Gegenstandes vorhanden sei; kritische Geis­ ter könnten einwenden, der Glauben stehe somit eigentlich unter dem Mei­ nen, weil die subjektive Sicherheit sich durch nichts begründen lasse). Wenn subjektives und objektives Fürwahrhalten zusammenfielen, sei es Wissen. Für Kant ist das Meinen, um als ein solches identifiziert werden zu können, ohne ein vorausgehendes Wissen nicht möglich. Im Urteilen aus reiner Ver­ nunft gebe es aber keine Meinung, man denke hier nur an die Mathematik. Für die Sittlichkeit gelte dasselbe, „da man nicht auf bloße Meinung, daß etwas erlaubt sei, eine Handlung wagen darf, sondern dieses wissen muß“.169 Hier ist auf die Analytik der Verstandesvermögen und den kategorischen Imperativ hinzuweisen. Was nun den Glauben betrifft, beruft sich Kant auf eine Methode, die vor ihm schon Pascal bemüht hat, nämlich die Wette: Wette man auf ein Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erreichen, nennt Kant das praktischen Glauben. Pascals Wette, die Kant freilich nicht erwähnt, fiele unter den doktrinären Glauben. Kant wettet aber nicht wie Pascal auf die Existenz Gottes, weil sie Vorteile gegenüber seiner Nichtexistenz biete, er wettet auf die zweckmäßige Einheit der Natur mit der intelligiblen Welt, von der auf einen Schöpfer geschlossen werden könne. Das begründet die Asymmetrie des Verhältnisses zwischen den Behauptungen über die Existenz und die Nichtexistenz Gottes. Wer das Dasein dieses Gottes der Philosophen leug­ net, entzieht der gesamten transzendentalen Philosophie Kants die Grundla­ ge. Vom Glauben an den Gott der Philosophen ausgehend entwirft Kant sein Weltbild. Was im Fortgang seiner Philosophie von der Kritik der reinen Vernunft aus über die Kritik der praktischen Philosophie als Ergebnis er­ scheint, ist vielmehr ihr Prinzip, sodass Kants Transzendentalphilosophie letztlich nichts begründet, was sie sich nicht selber schon als ihre Grundla­ ge gesetzt hat. Natürlich liegt das darin begründet, dass die Autonomie der Vernunft sich in ihrer Absolutheit zeigt und umgekehrt ihre Absolutheit in ihrer Autonomie. Widerspruch dagegen ist sinnlos. In der Architektonik der Methodenlehre entwirft Kant ein System der Wissenschaften, das auf Grund der anzunehmenden Einheit gefordert wer­ den müsse. Das hat dann Folgen für den Aufbau der Universität. Zunächst unterscheidet Kant die zwei Hauptarten der Erkenntnis, die historische cognitio ex datis von der rationalen ex principiis. Letztere beinhalte die ma­ thematische und die philosophische Erkenntnis. Weil uns eine Erkenntnis in der Philosophie, anders als in der Mathematik, objektiv philosophisch, 169  Kant

(1990), S.  741 f.



III. Die Unzulänglichkeit der Vernunft93

subjektiv aber historisch sein könne, sei die Philosophie nicht eigentlich zu lernen, sondern nur das Philosophieren. Indem aber der Philosoph die Er­ kenntnis auf die wesentlichen Zwecke der Vernunft beziehe, werde er zum Hüter der Verfassung der menschlichen Vernunft überhaupt, und zwar in Bezug auf jeglichen Vernunftgebrauch, sowohl hinsichtlich der Natur, was schon die transzendentale Deduktion im Rahmen der Analytik der Verstan­ desbegriffe in der Kr.d.r.V. aufgezeigt hat, als auch im Bereich der Sittlich­ keit. So ergibt sich folgendes System: zunächst die Transzendentalphiloso­ phie, das ist die Kritik der reinen Vernunft, dann die Metaphysik mit ihren zwei Bereichen, dem spekulativen und dem praktischen Bereich. Es müssten nur die verschiedenen Erkenntnisstränge streng voneinander unterschieden werden. Die Auswirkungen auf die Organisation der Universität sind ent­ sprechend. Zur Zeit Kants unterschied man zwischen den drei oberen Fakultäten der Theologie, der Medizin und des Rechts, während die Philosophie die unte­ re Fakultät bildete. In seiner letzten, nicht mehr von ihm selbst veröffent­ lichten Abhandlung Der Streit der Fakultäten dreht Kant das Verhältnis um. Kant reagierte mit dieser Schrift auf einen Rüffel, den er sich von der preußischen Zensur nach der Veröffentlichung seiner Schrift Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft hatte gefallen lassen müssen. Aber anstatt zu Kreuze zu kriechen, verteidigt Kant im Streit der Fakultäten die Franzö­ sische Revolution und sogar die Jakobinerherrschaft mit sehr deutlichen Worten, indem er die in der Kr.d.r.V. schon geäußerte Auffassung über die Vernunft als den obersten Gerichtshof in allen Fragen explizit in einen politischen Kontext stellt. Die oberen Fakultäten hießen so, weil sie den Standpunkt der Regierung verträten, aber: „Die Idee einer mit dem natürli­ chen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Konstitution: daß näm­ lich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen, liegt allen Staatsformen zu Grunde, und das gemeine Wesen, welches, ihr gemäß, durch reine Vernunftbegriffe gedacht, ein platonisches Ideal heißt (respublica noumenon), ist nicht leeres Hirngespinst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt, und entfernt allen Krieg. Eine dieser gemäß organisierte bürgerliche Gesellschaft ist die Dar­ stellung derselben nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfah­ rung (respublica phaenomenon), und kann nur nach mannigfaltigen Befeh­ dungen und Kriegen mühsam erworben werden; ihre Verfassung aber, wenn sie im großen einmal errungen worden, qualifiziert sich zur besten unter allen, um den Krieg, den Zerstörer alles Guten, entfernt zu halten“170. So wie die reine Vernunft absolut herrsche, soll in der Universität die Philoso­ phie herrschen, sofern sie Vernunftkritik sei, und zwar absolut über die 170  Kant

(2005), S. 103 f.

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anderen Fakultäten. Die Zuerkennung der uneingeschränkten Souveränität an die Philosophie als Vernunftkritik entspricht durchaus dem jakobinischen republikanischen Selbstverständnis. Kants Argumentation legitimiert das. Denn die Behauptung einer Wahrheit, die die Verfahren der Republik in Zweifel zöge, wäre nicht im Geiste der Republik, so wie die Behauptung einer vernunftwidrigen dogmatischen Wahrheit nicht im Geiste der Vernunft wäre, sondern vernunftwidrige Anmaßung, die es zu vernichten gilt. Kants Republik ist Staat in Reinform. Die Kr.d.r.V. legitimiert die souveräne revolutionäre Diktatur und darf daher mit Recht als ein Hauptwerk der politischen Philosophie genannt werden, in dessen Licht die Radikalität manch vermeintlich radikalerer Schrift verblasst. Aber die absolute Herrschaft der Vernunft setzt eine ein­ heitliche und damit eine mit sich selber identisch bleibende Vernunft so voraus, wie der Allgemeinwille bei Rousseau als einheitlich und damit mit sich selber als identisch bleibend zu denken ist. Darum ist das, was Rous­ seau und Kant denken, trotz der inhaltlichen Verschiedenheit, rein formal nicht Republik, sondern Staat. Ihr Gemeinwesen hat nämlich selber Voraus­ setzungen, für die es nicht einzutreten vermag, und sie werden metaphysisch begründet. Kants Vernunft ist so ahistorisch zu denken wie Rousseaus all­ gemeiner Wille. Ihr Friede ist entsprechend auch kein positiv bestimmter Friede, wie es zumindest im Hinblick auf Kant und dessen Friedensschrift immer wieder behauptet worden ist, sondern letztlich auch negativer Friede ganz im Sinne von Hobbes: John Dewey urteilt darüber knapp, aber zutref­ fend: „An und für sich ist die Idee des Friedens eine negative, eine Polizeiidee.“171 Darum taugt die Philosophie als Vernunfterkenntnis nicht zur Begründung des republikanischen Denkens. Sie ist mit der Behauptung einer mit sich selbst identisch bleibenden Vernunft, mit der sie ihre Herrschaft legitimiert und dem Staat die Regierung überlässt, kein Ansatz, mit dem sich der bür­ gerliche Rechtsstaat begründen ließe. Ihr ist auch an Begründung des Rechtsstaats gar nicht gelegen. Ihr ist die Verteidigung der akademischen Freiheit wichtiger, die sie mit der moralischen Kritik des politischen Be­ triebs als realisiert betrachtet. Ihre Freiheit ist die akademisch und damit institutionell abgesicherte Kritische Theorie, die sich in ihrer aktuellen Form zumindest in Frankfurt heute nicht von ungefähr auf Kant beruft. Mit sol­ cher Vernunft kann man aber, entgegen den Beteuerungen, nur Staat ma­ chen, nicht Republik. Der Vernunftfriede Kants ist so wenig wie der Gewaltfriede von Hobbes der ewige Friede. Er wäre es nur, wenn er die sich auf Offenbarung beru­ 171  Dewey

(2000), S. 161.



IV. Republik und Glaube95

fende Kirche als Interpretationsgemeinschaft aus sich ausschlösse, wie es Maximilian Forschner anzeigt: „Kant betont die Einheit der Vernunft. Es gibt demzufolge nur einen wahren Vernunftglauben, wie es nur eine wahre Religion gibt.“172 Der Zwangsfriede der autonomen Vernunft exkludiert. Er taugt darum nicht als Begründung der Republik, sondern nur als Begrün­ dung von Staat. Wenn wir also weder der virtù noch der Vernunft zugestehen können, die Republik zu begründen und zu legitimieren, gilt es jetzt zu zeigen, inwie­ fern es der Offenbarungsglaube vermag, und zwar der Offenbarungsglaube allein (sola fide) verstanden als die Anerkennung von sola gratia, solus Christus und sola scriptura und damit als Treue zur Interpretationsgemein­ schaft, die gemeinhin Kirche heißt im Sinne der ecclesia reformanda semper reformata. Dabei wird aber zunächst auch die Unzulässigkeit der protestan­ tischen Ethik für die Begründung der Republik kurz zu streifen sein, denn sie ist vom Glauben nicht ohne weiteres zu trennen. Sie ist praktizierter Glaube, aber eben nur ein Teil der Glaubenspraxis.

IV. Republik und Glaube 1. Die Unzulänglichkeit der Ethik als Grundlage für das republikanische Selbstverständnis Es gibt genügend historische Zeugnisse, die zeigen, dass der Protestantis­ mus in all seinen Ausprägungen mit zum Teil brutaler Intoleranz gegen Andersdenkende vorgegangen ist.173 Dennoch wird weiter behauptet, dass sich die modernen kapitalistischen Gesellschaften und die ihr entsprechen­ den Institutionen der protestantischen Ethik verdankten.174 Der Ansatz von Max Weber, Ernst Troeltsch u. a., die die Texte der Reformatoren und ihre 172  Forschner,

S. 75. den Generalverdacht, dass Kirche grundsätzlich gegenaufklärerische Motive treibe, fiel das reformierte Bekenntnis auch. Es ist zudem in Deutschland nicht so bekannt, weil die Reformierten schon im alten Reich bis auf kleinere Über­ bleibsel stark zurückgedrängt worden waren. Die Reformen Calvins in Genf, das Verbot von Fasching, Tanz und Kartenspiel, die Hinrichtung Servets, die vermeint­ liche Betonung der bleibenden Geltung des Gesetzes, schließlich die Bedeutung des so genannten Calvinismus für die angelsächsische Variante des Kapitalismus lassen die Reformierten als höchst unsympathische und sogar eher freiheitsfeindliche Ver­ treter eines theokratischen Rigorismus erscheinen. 174  Hier ist nicht nur an Max Weber oder beispielsweise Ralph Barton Perry zu denken (Perry betont aber, dass die Freiheit nur im Zusammenklang von Puritanis­ mus und Aufklärung zu erreichen gewesen sei). Zu verweisen wäre auch auf die Forschung im Umfeld von Samuel P. Huntington, vgl. Huntington, S./Harrison, E., s. a. Landes, David S.  173  Unter

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Rezeption dahingehend interpretierten, sie hätten der Moderne den Weg geebnet, ist dennoch nicht mehr eindeutig nachvollziehbar, ihm wird mit Recht widersprochen. Zudem offenbaren diese Interpretationen weniger et­ was über das zu Interpretierende als vielmehr über das Selbstverständnis der Interpreten, und das ist auf die Ethik konzentriert.175 Webers Studie über den Protestantismus führt den Begriff der Ethik schon im Titel, und auch Troeltsch, der wie Weber die soziale und politische Dimension nicht aus dem Blick verliert, rekurriert im Letzten immer auf Ethik.176 Beide waren 175  Bei Max Weber haben das Hartmut Lehmann und Peter Gosh aufgezeigt. Beide verstehen die Protestantische Ethik Max Webers als ein Selbstzeugnis. 176  So urteilt Troeltsch über Zwingli: „Neben der moralischen Laientheologie des Erasmus und der unmittelbar gefühlsmäßigen paulinischen Gnadentheologie Luthers steht die exegetisch-historisch begründete, intellektuell-systematisch durchgedachte und in einer praktischen politisch-sozialen Schöpfung betätigte Schrifttheologie Zwinglis“ (Troeltsch, S. 164), aber anstatt nun die Zusammenhänge zwischen der Hermeneutik Zwinglis und der praktisch-sozialen Schöpfung in den Blick zu neh­ men, heißt es dann weiter unten: „Seine völlig prädestinatianische Religiosität be­ deutet für ihn eine durch und durch ethische Richtung des Handelns. Diese Ethik aber wird ihm dabei ganz von selbst positiv und weltgestaltend“. (Troeltsch, S. 168). Dass in der deutschen Debatte ethische Maßstäbe an politisches Handeln heran­ getragen werden können, ist diesem von Weber und Tröltsch ethisch aufgeladenen Kulturprotestantismus geschuldet. Wer die Ethik so in den Mittelpunkt stellt, wird dann natürlich auch die sogenannten Auswüchse des Kapitalismus ethisch verurtei­ len. Herfried Münkler hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Kapitalismuskritik nach der Krise 2008, die zu benennen insofern schwer fällt, weil man gerne von Schulden‑ bzw. Eurokrise spricht, es sich aber eigentlich um handfeste Staatskrisen infolge der Überdehnung der Staatsausgaben handelte: „Das ist die eigentliche Poin­ te der ‚Gierdebatte‘, dass sie auf die Vorstellungswelten der Vormoderne zurück­ greift, indem sie eine moralische Disposition, die in der Vormoderne als Laster be­ zeichnet wurde, für die Krise der wirtschaftlichen Ordnung verantwortlich macht.“ (Münkler 2013, S. 299). Münkler weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dem Trend mit einer neuen Bürgerlichkeit versucht werde zu begegnen, deren Aus­ druck sich im Stiftungswesen zeige (Münkler 2013, S. 303). Hans Vorländer kriti­ siert dagegen im Kontext der USA die Vorstellung einer Dichotomie zwischen Re­ publikanismus und Liberalismus und weist in diesem Zusammenhang unter Bezug auf Weber und Tocqueville auf die Bedeutung des Puritanismus für den amerikani­ schen Liberalismus hin. Aber auch hier wird letztlich in der Tradition Webers auf die Ethik rekurriert, wenn Vorländer zunächst erklärt: „Der Liberalismus erwächst aus dem doppelten Erbe von religiösem Puritanismus und klassischem Republikanis­ mus, er findet in der konstitutionellen Theorie der Federalists, einer ‚neuen Wissen­ schaft von der Politik‘, seinen ersten modernen Ausdruck und in der amerikanischen Verfassung von 1787/91 seine Form“ (Vorländer, S. 18) kappt dann aber im Hinblick auf die Federalists den Puritanismus, weil hier eine Republik für eine Gesellschaft ohne Tugend entworfen worden sei (Vorländer 1997, S. 107 ff.). Hier wird also auch der Puritanismus für die Tugend verantwortlich erklärt, der Republikanismus für die Institutionen. Es ließe sich aber zeigen, dass die Konstruktion der Verfassung sich mit ihren checks and balances zumindest nicht alleine am traditionellen Republika­ nismus, sondern auch an den reformierten bzw. puritanischen Kirchenverfassungen



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Vertreter eines politisch unmündigen Bürgertums, dem entsprechend alleine die personale Mündigkeit als Lebensform plausibel erscheinen musste. We­ ber, Troeltsch u. a. sind zudem von einem Kulturprotestantismus geprägt gewesen, der seine gesellschaftliche Stellung und Bedeutung gegenüber dem naturwissenschaftlichen Fortschritt nicht mehr dogmatisch, sondern ethisch zu legitimieren versuchte. Er stellte den einzelnen Gläubigen ins Zentrum, nicht mehr die Gemeinde. Dieser Protestantismus war die theolo­ gische Begleitung des Prozesses der Individualisierung in der westlichen Gesellschaft. Weber z. B. versteht Calvinisten so, als wären sie Lutheraner, d. h. als seien sie primär auf sich selber und ihr persönliches Heil bezogen. Es kann nicht bestritten werden, dass es Calvinisten dieser Art gibt. Sie sind aber nicht typisch. Die reformierte Theologie nimmt den einzelnen Gläubi­ gen nur im Kontext der Gemeinde in den Blick. Der Gläubige wird nicht als vereinzeltes Individuum in seinem Handeln beurteilt, sondern als Glied seiner Gemeinde betrachtet, deren Haltung er mit verantwortet. Was für den einzelnen Forscher gilt, gilt analog auch auf der gesellschaft­ lichen Ebene: Welche Bedeutung der Reformation für die Herausbildung der bürgerlichen Identität beigemessen wird, hängt von dem jeweils vorherr­ schenden bürgerlichen Selbstverständnis ab, das in der westlichen Welt nicht eindeutig ist. Im angelsächsischen Bereich lässt sich im Vergleich zum deutschsprachigen Raum außerhalb der Schweiz und der Niederlande eine ungleich stärkere Neigung dazu feststellen, der Schweizer Reformation, namentlich Calvin, eine große Bedeutung für die Entwicklung der Moderne zuzusprechen.177 Zudem waren der Empirismus der schottischen Aufklärung und auch der Pragmatismus in den USA keine philosophischen Strömungen, die der biblischen Offenbarung einen Gott der Philosophen gegenüber stell­ ten, vielmehr trachteten sie danach, das wissenschaftliche Naturverständnis mit der biblischen Botschaft in Einklang zu bringen. So wie sich im Luther­ tum Theologie und naturwissenschaftliches Denken in der Lehre von den Schöpfungsordnungen anzunähern vermochten, gelang im Reformiertentum eine Annäherung zwischen beiden Bereichen im Hinblick auf die Vereinba­ rung von Glaube und Forschung. Hinsichtlich des Freiheitsverständnisses aber wird im kontinentaleuropäischen Kontext nicht auf die protestantische Theologie rekurriert. Hier geht man sogar bis in die Antike zurück, um die ausrichtete. Denn der traditionelle Republikanismus war gerade nicht hegemonial. Und die hegemoniale Dimension dieses amerikanischen Liberalismus verdankt sich weniger einer Expansionsbestrebung als vielmehr seiner Attraktivität für andere, dazugehören zu wollen. 177  Als Beispiel für viele mag der aus den Niederlanden stammende Heiko Oberman dienen, der in den USA lehrte. Während Luther geglaubt habe, am Ende der Zeiten zu leben, habe sich für Calvin die Perspektive einer neuen Zeit eröffnet. Damit habe Calvin Geschichte ernst genommen.

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Moderne zu begründen,178 oder man beruft sich mehr auf den Humanismus und auf die Aufklärung,179 die sich zudem einer Selbstbehauptung gegen­ über den Zumutungen und den ungelösten Aporien der Offenbarungstheolo­ gie verdankten, wie z. B. Blumenberg es aufzuzeigen unternahm.180 Eine Ursache für die Divergenz der Deutungen, und dass man in Deutsch­ land heute dem Protestantismus seine Bedeutung für die Moderne mehr und mehr bestreitet, rührt wohl auch daher, dass die mehrheitlich lutherisch oder 178  Vgl. z. B. Meier, Christian 2009, aber auch Arno Bammé, der in einer großen und beeindruckenden tour d’horizon noch einmal versucht, unter Berufung auf Fer­ dinand Tönnies, Alfred Weber, Karl Jaspers, Jean Piaget, David Bloors, Lorenz Kohlberg, Alfred Sohn-Rethel, Rudolf Wolfgang Müller, Gotthard Günther, Christo­ pher Robert Hallpike. Shmuel N. Eisenstadt, Bruno Latour, um nur die wichtigsten zu nennen, wissenssoziologisch die Genese und Entwicklung des Homo occidentalis als Große Erzählung zu präsentieren. Die zweiwertige Logik sei im antiken Grie­ chenland auf Grund des sich dort entwickelnden Tauschhandels über Geld entwickelt worden, die moderne Logik habe darum ihren Ursprung nicht in der Erforschung der Natur, sondern in einer Abstraktionsleistung, die sich im sozialen Handeln gezeigt habe. Er spricht vom griechischen Mirakel: „Die Denkabstraktionen, die schließlich im Kantischen Transzendentalsubjekt gipfeln, haben ihre sozialhistorische Wurzel in den Realabstraktionen systematisch betriebenen Warentauschs. Diese These SohnRethels kann insofern Evidenz für sich beanspruchen, als die Entstehung der abend­ ländischen Philosophie als Protowissenschaft in der ägäischen Welt innerhalb eines Zeitraums, der, gemessen an den fast drei Jahrtausenden mesopotamischer und ägyptischer Kultur, nur einen kurzen Moment darstellt, anders wohl kaum erklärbar ist. Ihre Genese lässt sich als Kristallisation der dem Alphabet und dem Geld zu­ grunde liegenden konstitutiven Prinzipien durch sprachlich vermittelte Reflexion deuten: Verständlichkeit und Vernunft, Basiskriterien strategischen Denkens und in­ strumentellen Handelns, wie es Kaufleuten eigen ist.“ (Bammé, S. 587).Die biblische Tradition berücksichtigt Bammé nicht, wenngleich er die Bedeutung des Protestan­ tismus für die Moderne auch nicht unterschlägt: „Der Entzauberung der Welt stehen gleichrangig zur Seite die Formalisierung des Rechts, die Bürokratisierung der Po­ litik und die Marktvergesellschaftung der Ökonomie. (…) In diesem Zusammenspiel der Kräfte erfuhr der asketische Protestantismus seine religionsgeschichtliche Son­ derrolle. Nur er machte der Magie, der Außenweltlichkeit der Heilssuche und der intellektualistischen kontemplativen Erleuchtung wirklich den Garaus. Nur er schuf die religiösen Motive, in methodisch rationalisierter Berufserfüllung das Seelenheil zu suchen“ (Bammé, S. 813). Das Aufkommen des individuellen Selbstverständnis­ ses wird, was Bammé so nicht bemerkt, wenn er sich besonders auf Archilochos beruft, bei den Griechen auch als individuell zu tragendes Leid verstanden, vgl. hierzu etwa Bruno Snell oder Hermann Fränkel. So heißt es bei Snell in Bezug auf Sappho, sie thematisiere im vollen Sinn ihr Eigenes, ihr Persönliches, das sei aber „das Gefühl der Hilflosigkeit.“ (Snell S. 95). 179  Vgl. Münkler (1996). Die sozio-moralischen Grundlagen der politischen Ord­ nung gehörten heute, nach der Ausdifferenzierung des Politischen, zur politischen Verfasstheit, aber nicht mehr zur politischen Verfassung unserer freiheitlichen Ord­ nung. Im Fortschritt der Freiheit werde aber die Pflege der vorpolitischen Voraus­ setzungen dieser Freiheit zu deren Schaden vernachlässigt (Münkler 1996, S. 8). 180  Vgl. Blumenberg.



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uniert geprägten Landeskirchen, letztere mehr lutherisch respektive indiffe­ rent als reformiert, ihre Sicherheit und Glaubensfreiheit einst den feudalen Landesherren zu verdanken hatten und entsprechend das Bündnis von Thron und Altar gegen die bürgerlichen Freiheitsbestrebungen verteidigten. Ihnen liegt der Sozialstaat mehr am Herzen als der den möglichst freien Kapital­ verkehr garantierende Rechtsstaat. Historisch betrachtet war im deutschen Kontext nicht der Protestantismus Vorreiter des liberalen Denkens. Die Zentrumspartei z. B., die Partei des politischen Katholizismus, war sowohl im Deutschen Reich als auch wäh­ rend der Weimarer Republik liberaler und schließlich republiktreuer als die überwiegende Mehrzahl der evangelischen Pfarrhäuser. Die Mehrheit der Repräsentanten des Protestantismus sah sich und ihre Interessen nach der Novemberrevolution 1918 von der reaktionär-monarchistisch ausgerichteten Deutschen Nationalen Volkspartei (DNVP) besser vertreten als von den Parteien der Weimarer Koalition.181 Sie und weite Teile der akademischen Theologie hatten sogar über den Zweiten Weltkrieg hinaus, bis weit in die Geschichte der Bundesrepublik hinein, ein ausgesprochen distanziertes Ver­ hältnis zu Freiheit und Demokratie, wenn man einmal von dem Schweizer Karl Barth und einigen anderen absieht. Aber nicht alleine in Deutschland hat sich der römische Katholizismus als ein Motor der liberalen Entwicklung erwiesen. Das ist insofern paradox, als die Versicherung der Identität im römisch-katholischen Denken für viele katholische Intellektuelle maßgeblich über die Liturgie geschieht. Die Sehn­ sucht mancher Zeitgenossen nach der tridentinischen Messe sollte Anlass dafür sein, wieder einmal Romano Guardinis Vom Geist der Liturgie zur Hand zu nehmen. Wie sehr es da um Identitätsbildung und Identitätspflege jenseits des Weltgetriebes und damit jenseits des Politischen geht, verrät folgender Satz: „Den endgültigen Vorrang im Gesamtbereich des Lebens soll nicht das Tun haben, sondern das Sein.“182 Für das reformierte Ver­ ständnis ist das Sein des Menschen dagegen nichts anderes als sein Tun. Selbst sein Nichtstun ist Tat (Nichtintervention ist Intervention). Dennoch hat der römische Katholizismus im Sinne der Freiheit interveniert und die bürgerlichen Freiheiten oft und darüber hinaus sogar mehr geachtet und befördert als vielerorts der Protestantismus, auch in dessen reformierter 181  Über die Ablehnung der Moderne durch den deutschen Protestantismus vgl. Graf, S.  213 ff. Rudolf Smend schreibt 1932 über das Verhältnis von Protestantismus und Demokratie: „Unter den geistigen Mächten, die dem heutigen Deutschland sein geschichtliches Gepräge gegeben haben, steht der Protestantismus an erster Stelle. Um so ernster für beide Teile ist die Tatsache, daß sein Verhältnis zur heutigen deutschen Demokratie problematisch ist, mindestens weithin als problematisch er­ scheint.“ (Smend, S. 297). 182  Guardini, S. 86.

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Ausprägung. Es war die katholisch ausgerichtete nordamerikanische Kolo­ nie Maryland, die als erstes Gemeinwesen ihrer Bevölkerung volle Religi­ onsfreiheit gewährte, mit der Einschränkung, dass sie Jesus als den Christus zu bekennen hatte. Hier stand wohl Thomas Hobbes Pate. Dies geschah in einer Zeit, in der Reformierte, die sich gerade im Dissens mit ihren Ge­ meinden befanden, anderswo als in ihrer angestammten reformierten Heimat Bleiberecht suchen mussten und z. B. in Maryland auch fanden. Aber dieses und andere historische Beispiele haben keinen systematischen Erkenntniswert. Sie müssen aus ihrem historischen Kontext heraus verstan­ den werden, und sie dürfen auf keinen Fall als Argument für eine diachrone Begründung des Freiheitsprozesses dienen. Die Niederlage der Krone im englischen Bürgerkrieg hatte dazu geführt, dass in der von katholischen Aristokraten gegründeten Kolonie Maryland die Katholiken die Führung nicht mehr durchzusetzen vermochten. Sie nutzten eine sich ihnen bietende Gelegenheit der Macht im Jahre 1649, Toleranz zu garantieren im Hinblick darauf, sich als Minderheit dann selber unter den Schutz dieser Toleranz begeben zu können.183 Sie verdankte sich nicht einer Politik, die die Frei­ heit aller im Blick gehabt hätte, sondern der Furcht vor Unterdrückung der eigenen Konfession. Sie folgte, um es mit Kant zu sagen, der pragmatischen Weltklugheit. Zudem darf bei der Toleranzgewährung in den Kolonien eine gewisse Zweckrationalität nicht vergessen werden: „Religiöser Zwang ent­ mutigte die Siedler und war darum ökonomisch gesehen schlecht für kolo­ niale Unternehmungen im Aufbau“,184 merkt der Reformationshistoriker MacCulloch entsprechend an. In diesem Zusammenhang sei noch darauf hingewiesen, dass er Toleranz von Freiheit wie folgt unterscheidet: „Tole­ ranz ist ein nur widerwillig gemachtes Zugeständnis, das eine Gruppe aus der Position der Stärke heraus gewähren kann. Freiheit dagegen schafft eine Situation, in der alle religiösen Gruppen auf gleicher Basis miteinander konkurrieren.“185 Mit anderen Worten: Freiheit ist institutionalisierte, dauer­ haft gesicherte Toleranz als ein Recht, auf das sich jedermann berufen kann. Wie lässt sich dieser qualitative Sprung erklären? 183  „Dann aber führte die Niederlage der Royalisten im englischen Bürgerkrieg dazu, dass die Katholiken nicht zur führenden Kraft in Maryland wurden. Als sie spürten, dass ihre ohnehin prekäre Situation weiter unter Druck geraten würde, nutz­ ten die Katholiken 1649 eine sich kurzfristig bietende Gelegenheit lokaler Stärke, um sich eine einzigartige Freiheit zur Ausübung ihrer Religion zu schaffen, indem sie mit einer gewaltigen Konzession ihre protestantischen Widersacher ausmanöv­ rierten: Sie garantierten allen, die an Jesus Christus glaubten, völlige Toleranz. Per Gesetz drohten sie jedem Geldstrafen und Auspeitschung an, der von einer peinlich genau detaillierten Liste der im England des 17. Jahrhunderts gebräuchlichen Belei­ digungen Gebrauch machte.“ (MacCulloch, S. 705). 184  MacCulloch, S. 707. 185  MacCulloch, S. 707.



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Man könnte die koloniale Gründung Pennsylvanias durch den Quäker William Penn als erstes Beispiel für die Gewährung von Religionsfreiheit in den Blick nehmen, weil in Pennsylvania auf jeden Zwang verzichtet wurde, was gegenüber der bloßen Gewährung von Toleranz durch eine Mehrheit tatsächlich einen qualitativen Sprung bedeutete. Es scheint aber, dass Freiheit im Sinne MacCullochs nicht primär beabsichtigt war, sondern sich unbeabsichtigt im eigenen Streben der Quäker nach anerkannter Tole­ ranz einstellte. Sie musste im Eigeninteresse der Quäker gepflegt werden. Denn die Quäker wussten, dass sich in dieser Welt an ihrem Status als einer Minderheit nichts ändern würde. Den Quäkern ist es wohl auch nicht um Freiheit um der Freiheit willen, sondern um sie selber und ihre Duldung gegangen. 2. Protestantisches Freiheitsverständnis Wenn dem Protestantismus nicht unterstellt werden kann, dass seine Ethik das Verhalten seiner Anhänger so gesteuert habe, dass die Moderne sich zwangsläufig als Prozess der Säkularisierung und Neutralisierung ereignet habe, wäre das aus theologischer Sicht nun aber gar kein Widerspruch ge­ genüber der Bedeutung des Protestantismus für die Freiheit, sondern im Gegenteil gerade seine Bestätigung. Es wäre die historische Bestätigung des protestantischen Kerndogmas von der Rechtfertigung als frei geschenkter Gnade, die als Freiheit zu denken ist. Der Empfänger der frei geschenkten Gnade ist im Kontext des reformier­ ten Denkens nicht die Einzelpersönlichkeit, sondern die Gemeinde, die in der paulinischen Tradition Kirche ist: „Zur Freiheit hat uns Christus be­ freit!“ (Gal 5, 1) Die Kirche verdankt sich keiner ethischen Entscheidung, auch nicht ihrer eigenen freien Entscheidung, sondern ihre Freiheit versteht sie als frei geschenkt. Ihr Sein ist Freiheit. Ihm gegenüber hat sie in der Haltung des Glaubens Verantwortung. Das soll im Folgenden zunächst in theologischer Sprache ausgeführt werden. Was jetzt noch als theologische Rede erscheint, wird sich später in verantwortliche Rede gegenüber der Republik überführen lassen müssen. Denn so ließe sich der Nachweis er­ bringen, dass die westliche Moderne und schließlich sogar die Postmoderne ihre Wurzeln im Protestantismus haben. Damit ließen sich die Thesen von Weber, Troeltsch und jenen, die in ihrer Denktradition stehen und dem Protestantismus maßgebliche Beteiligung in der Herausbildung des Libera­ lismus zuschreiben, nicht ethisch, sondern theologisch bestätigen. In den letzten Jahren ist bei der Erklärung der Moderne der institutionel­ le Aspekt gegenüber dem ökonomischen in den Vordergrund gerückt. Das bedeutet, dass die Ethik mit ihrer primären ökonomischen Bedeutung ge­ genüber den Institutionen und damit dem Recht in den Hintergrund getreten

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ist. Daron Acemoglu und James A. Robinson sprechen dem Protestantismus im Verständnis Max Webers jegliche Bedeutung für den ökonomischen Er­ folg der modernen westlichen Gesellschaften ab und verschieben damit den Fokus weg von der Ethik hin zu den Institutionen: „Though it may be true that predominantly Protestant countries, such as the Netherlands and Eng­ land, were the first economic sucessess of the modern era, there is little relationship between religion and economic sucess.“186 Ihnen zufolge setzt der ökonomische Erfolg Institutionen voraus. Aber Institutionen beruhen auf Sprechakten, die eine Logik voraussetzen, weil sie ansonsten keine Syste­ matik und damit keine Allgemeinheit hätten. Sie wären unberechenbar und damit gerade keine Institutionen mehr. Die Ökonomie bedingt so wenig Institutionen wie die Ethik, sondern Institutionen schaffen Raum für ge­ wünschtes ökonomisches und ethisches Handeln, das auf die Optimierung institutioneller Verfahren zurückwirken kann, aber nur in der Feinjustierung. So sehr Acemoglu und Robinson zuzustimmen ist, sie berücksichtigen nicht, dass Institutionen über Sprechakte in der Welt sind, die einer Logik unter­ liegen. Hier ist die Bedeutung des Protestantismus für das westliche Insti­ tutionenverständnis zu verorten. Theologik ist immer Verfassungsdiskurs gewesen, und es deutet alles darauf hin, dass sie es auch in unserem heutigen gesellschaftlichen Kontext wieder werden könnte. In Anbetracht der Herausforderungen, die religiöse und nationale Identitätssuche heute für das freiheitliche Selbstverständnis unserer Gesellschaften bedeuten, ist reformierte Theologie in einer Weise zur Stellungnahme verpflichtet, wie vielleicht seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs oder im Hinblick auf die Auseinandersetzungen um die Apart­ heid in Südafrika nicht mehr. Die Rechtfertigungslehre widerspricht der Vorstellung, der Mensch könne sich selber um sein Heil verdient machen, etwa über den Gehorsam gegen­ über den Anforderungen des Gesetzes, wobei hier an das mosaische Gesetz zu denken ist. Die Rechtfertigungslehre hat aber auch über den Bereich des mosaischen Gesetzes bis in die bürgerliche Verwaltung hinein Konsequen­ zen. Alle Regelungen dürfen nicht als Handlungsanweisungen verstanden werden, sondern als Orientierung für das Handeln. Die Interpretation sowohl der Texte als auch der jeweiligen Situation hat Vorrang. Darauf wird im Zusammenhang mit dem Kompromiss noch weiter einzugehen sein. Damit ist verbunden, dass im Hinblick auf die Rechtfertigungslehre kei­ neswegs die pragmatische Entscheidungsfreiheit des Menschen in Zweifel gezogen wird. Jeder ist frei zu entscheiden, ob er dem Gesetz folgt oder nicht. Kein protestantischer Theologe wird bestreiten wollen, dass der 186  Acemoglu/Robinson,

S. 60.



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Mensch die Freiheit hat, den Geboten zu gehorchen oder nicht zu gehor­ chen. Was ihn aber unfrei macht, ist das Motiv seines Gehorsams, weil re­ formatorische Theologie ihm unterstellt, den Geboten nur zu folgen, um sich selbst zu rechtfertigen. Die Unfreiheit des Menschen äußert sich nicht in seinen pragmatischen Entscheidungen, sondern in seinem weiterführen­ den Bestreben, sich selber rechtfertigen zu wollen. Der theologische Streit über die Willensfreiheit ist darum mit den aktuellen Auseinandersetzungen über die Freiheit des Willens im Rahmen der Neurowissenschaften über­ haupt nicht zu vergleichen. Denn in diesem Kontext wird nicht mehr zwi­ schen Willen als arbitrium, der als unfrei gedacht wird, und freiem Willen als voluntas unterschieden. Die Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus über die Willens­ freiheit ging nicht um die Wahlfreiheit, die Freiheit der persönlichen Ent­ scheidung in weltlichen Dingen, also um die empirische Freiheit im Sinne von Kants Methodenlehre, sondern darum, ob der Mensch die freie Wahl zwischen Sünde oder seinem Heil habe, und zwar in dem Sinne, dass er sein Heil selber zu sichern in der Lage sei. Mit seiner Behauptung, der Mensch vermöge sein Heil aus eigener Kraft zu erreichen, zumindest dass er mit dieser Forderung konfrontiert werden müsse, hat Erasmus Luthers theologischen Ansatz, nämlich seine Gnadenlehre, frontal angegriffen und entsprechend die rüde Reaktion Luthers provoziert.187 Auch im Bereich des Politischen gilt, dass die Freiheit als Entscheidungs­ freiheit in einer Verfassung der Unfreiheit erhalten bleibt, bis hin zur Frei­ heit zum Widerstand. Die Verfassung der Freiheit verdankt sich aus refor­ matorischer Sicht aber nicht solchem Widerstand, sondern ist als frei ge­ schenkte Gnade aufzufassen und damit theologisch begründet und nicht philosophisch begründbar. Sie ist aus protestantischer Sicht also nicht Ver­ dienst eines humanistisch-philosophischen Freiheitsentwurfs. Von daher wäre es vermessen zu behaupten, die bürgerliche Freiheit habe in der Ab­ sicht der Reformatoren gelegen und sei ohne sie nicht denkbar. Das würdig­ te sie in ihren Augen zu bloßen Humanisten herab. Die Freiheit verdankt sich protestantischem Selbstverständnis nach nicht den Freiheitsbestrebun­ gen der Reformatoren, etwa ihrer Forderung nach Respektierung der Gewis­ sensfreiheit. Das gilt es im Folgenden aufzuzeigen. Es wird sich zeigen, dass das Bekenntnis, das Tertullian zugeschrieben wird, dass er glaube, gerade weil dieser Glaube absurd sei (Credo quia absurdum), sich auch hier bestätigt. Was aus lutherischer Sicht von der Freiheitsverfassung des Einzelnen gesagt werden kann, lässt sich durchaus auf die öffentliche Freiheit übertra­ 187  Vgl.

hierzu Eichhorn 2012.

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gen, so dass sich auch der unfreie kollektive Wille (im Sinne von arbitrium) gar nicht für die Freiheit zu entscheiden wüsste. Paradoxer Weise, zumin­ dest auf den ersten Blick, hat sich Luther im Rahmen seiner Auseinander­ setzung mit Erasmus über die Freiheit des Willens mit der Behauptung seiner Unfreiheit aber gerade für die Freiheit der Öffentlichkeit stark ge­ macht, so dass von einer List der Vernunft im Sinne Hegels bei der endgül­ tigen Durchsetzung der öffentlichen Freiheit im Sinne ihrer institutionali­ sierten Absicherung nicht ohne Weiteres gesprochen werden kann. Erasmus störte sich sehr an dem öffentlichen Aufruhr, der die Reformation auch war, und wollte die Freiheit der öffentlichen Rede eingeschränkt wissen: „Ich habe die Absicht dieses Buches (De libero arbitrio, das er gegen Luther geschrieben hatte; M. E.) schon zur Hälfte erreicht, wenn ich damit die Leser davon überzeugen kann, daß es besser ist, über Dinge dieser Art nicht allzu kleinlich zu streiten, zumal vor dem Volk“.188 In seiner Antwort auf Luthers Schrift gegen seine Diatribe, dem Hyperaspistes, klagt Erasmus, dass „heute […] sogar die Gerber bei ihren Trinkgelagen über den freien Willen“ stritten.189 Generell urteilt Erasmus: „Schließlich gibt es noch ge­ wisse Dinge der Art, daß es, auch wenn sie wahr wären und gewußt werden könnten, dennoch nicht förderlich wäre, sie gemeinen Ohren preiszugeben.“190 Dagegen wendet sich Luther in öffentlicher Rede unter Berufung auf die Freiheit des Gewissens: „Weiter oben habe ich gesagt, es sei das, was in den Heiligen Schriften überliefert oder dargelegt wird, nicht nur offensicht­ lich, sondern auch heilsam, daher könne, ja müsse es ohne Gefahr unters Volk gebracht, gelernt und gewußt werden. Es ist daher falsch, was du sagst: es sei nicht jedermanns Ohren preiszugeben.“191 Daraus ist klar er­ sichtlich: Die Behauptung der Unfreiheit des Willens setzt ihre öffentliche Verkündigung und Debatte und damit die Freiheit ihrer öffentlichen Verkün­ digung und Debatte voraus. Es fällt Luther aber überhaupt nicht auf, dass er einen zwiefachen Freiheitsbegriff hat. Die Freiheit des Gewissens, nicht die Willensfreiheit, begründet für Lu­ ther die Freiheit der Öffentlichkeit, damit die Republik. Was Luther entging, im Unterschied zu den Schweizern: Die Geschichte der Realisierung der Freiheit korrespondiert mit der reformatorischen Lehre über die Willensfrei­ heit, insofern der Wille hier nicht als von Natur aus frei, sondern als befreit gedacht wird. Der individuelle unfreie Wille kann die öffentliche Garantie allgemeiner Freiheit gar nicht wollen, sie wird ihm ungefragt und unver­ dient geschenkt, sie spielt gleichsam einher. Das bedeutet eine besondere 188  Erasmus,

S.  36 f. S. 277. 190  Erasmus, S. 15. 191  Luther, S. 261. 189  Erasmus,



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Verantwortung derjenigen, die die Kirche der Erwählten und damit Befreiten bilden: Die in die Freiheit Berufenen sind in den Dienst verpflichtet, diese öffentliche Freiheit zu verteidigen gegen jeden, der sich die Freiheit der Selbstverwirklichung zu Lasten der öffentlichen Freiheit nimmt. Die Frei­ heit als institutionalisierte Toleranz ist nicht selbstverständlich und bedarf der ständigen Aufmerksamkeit und Pflege. Sie bedarf paradoxer Weise der Behauptung der Unfreiheit im Hinblick auf das eigene Heil, während dage­ gen das Freiheitspathos des Erasmus die Freiheit der Öffentlichkeit negiert. Der Freiheitsdiskurs ist also vertrackt, wenn man nicht bedenkt, von welcher Freiheit die Rede ist, wenn man Freiheit leugnet. Denn es geht nicht um individuelle Freiheit, die so wenig zu denken ist wie individuelles Bewusstsein oder individuelle Identität, sondern um die Freiheit der Öffent­ lichkeit und damit den freien Zugang in die Öffentlichkeit, also um die institutionelle Absicherung der Teilnahme an Deliberations‑ und Entschei­ dungsprozessen. Freiheit ist immer soziales Leben, ist damit ein sozialer Begriff, ein Relationsbegriff. Luther, der die Willensfreiheit im Sinne von arbitrium leugnet, verteidigt im Hinblick auf die Gewissensfreiheit den, um es mit Kant zu sagen, öf­ fentlichen Vernunftgebrauch, während Erasmus die individuell zugeschrie­ bene Freiheit zu verteidigen sucht, aber um den Preis, dass er den öffentli­ chen Gebrauch der Vernunft eingeschränkt wissen will.192 Das Subjekt der Freiheit, dem Erasmus Freiheit zuspricht (wobei Erasmus nicht bemüht ist, zwischen arbitrium und voluntas zu unterscheiden, er gebraucht beide Be­ griffe meist synonym), gibt es, wenn es als Substanz aufgefasst wird, nicht. Das Subjekt vermag als Besonderes nur im Medium des Allgemeinen zu erscheinen. Als subiectum ist es dem Allgemeinen unterworfen. Indem die­ ses Subjekt nun leugnet, das Allgemeine als Voraussetzung zu haben, wähnt es sich nur frei, verliert dabei aber gerade seinen Subjektcharakter und da­ mit seine Freiheit, die es um der vermeintlichen individuellen Identitätssi­ cherung halber aufzuopfern bereit ist – zumindest dann, wenn das Allgemei­ ne mit der freien Öffentlichkeit identifiziert werden kann. 192  Bei Kant verhält es sich nur vermeintlich umgekehrt. Kant fordert für die Aufklärung zunächst die Freiheit der Öffentlichkeit, freilich mit der Einschränkung: „Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.“ Wie nahe Kant und Erasmus sich dennoch sind, zeigt sich darin, wie Kant den öffentlichen Gebrauch versteht: „Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privat­ gebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf.“ (Kant 1999, S. 22).

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Religion als Sicherung der eigenen Identität und damit als individuelles Heilsversprechen dient nicht der Sicherung der öffentlichen Freiheit, sie ist ihr fundamentaler Widerspruch. Sie erklärt die private Identitätsausbildung zum Hauptanliegen des Lebensvollzugs, die Absicherung der privaten Iden­ titätsbehauptung zur Hauptaufgabe des Staates. Luther war ein religiöser Mensch, den die Sorge um sein persönliches Heil umtrieb. Das gilt so nicht für die Schweizer Reformatoren oder jene, die ihnen nahe standen. Sie waren mehr Humanisten als Theologen. Sie dachten nicht vom Individuum aus, sondern vom Allgemeinen. Sie betonten weniger die Unfreiheit des individuellen Willens als vielmehr die Freiheit der Öffentlichkeit, die einen allgemeinen freien Willen voraussetzt. Was Luther nicht konsequent in den Blick nimmt, die Sorge für die Frei­ heit der Öffentlichkeit, das musste im Umfeld der Schweizer Stadtrepubli­ ken in die Verantwortung der Gemeinden gelegt werden. Für Luise SchornSchütte sind die Arbeiten von Weber, Troeltsch und Jellinek, in denen die Bedeutung gerade des reformierten Protestantismus für den westeuropäischdemokratischen Weg betont wird, zwar zeitgebundene Diskussionen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, dennoch bleibe „der Kern des Unterschiedes vorhanden (…). Denn das Ineinssetzen von kirchlicher und bürgerlicher Gemeinde bei Zwingli legitimierte politisch aktives Handeln, wie es von Luther nie akzeptiert worden ist.“193 In der Auseinandersetzung über die Willensfreiheit ging es, versteht man analog zu denken, nicht um die Freiheit des Einzelwillens, sondern die Freiheit als einer geschenkten, damit theologisch vermittelten Befreiung statt einer philosophisch-humanistisch begründeten Freiheitsidee. Nebenbei bemerkt verdanken sich diese Überlegungen einem Freiheitsverständnis, das den Begriff der Freiheit nicht als einen mit sich selbst identisch bleibenden Substanzbegriff begreift. Luther unterschied mehr als Erasmus Willen (arbitrium) von Willen (voluntas), aber er ging nicht den Schritt weiter, Frei­ heit von Freiheit zu unterscheiden. Er bemerkte auch nicht, dass im Hinblick auf die öffentliche Behauptung des unfreien Willens die Sorge für die Freiheit der Öffentlichkeit nicht dem unfreien Willen eines Fürsten überlas­ sen werden darf. Darin war er so inkonsequent wie später Kant, der in diesem Sinne in die Tradition des Luthertums gestellt werden kann.194

193  Schorn-Schütte

(2011), S. 47. Freiheit, die bei Kant dem Fortschritt in der Vermehrung der Moralität dient, zu befördern, gelinge „nicht durch den Gang der Dinge von unten hinauf, sondern von oben herab.“ (Kant 2015, S. 105). Kant denkt hier besonders an das staatlich beaufsichtigte Schulwesen. 194  Die



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3. Freiheit und Gesetz Im Licht der Unterscheidung von Toleranz und Freiheit lässt die vor ei­ nigen Jahren aufgeflammte Debatte um die Judenmission bzw. das Karfrei­ tagsgebet für die Bekehrung der Juden aufhorchen.195 Es soll einem römi­ schen Katholiken wie Robert Spaemann nicht verwehrt sein, für die Juden zu beten. Aber ob dieses Gebet die Freiheit eines Juden befördert, sich seinen Platz, ob als Jude oder nicht als Jude, in seinem eben nur von ihm zu verantwortenden Leben selbst zu wählen, darf bezweifelt werden. Es ist mit der Judenmission ein Thema angeschnitten, das in besonderer Weise die Haltung der Reformierten im Unterschied zu den anderen Konfessionen zum bürgerlichen Freiheitsverständnis zu beleuchten vermag. Denn ihre Anerkennung des Gesetzes und seine Beachtung als Verfassung der Freiheit, die Betonung also der bleibenden Bedeutung des Gehorsams gegenüber dem Gesetz, unterscheidet Reformierte von anderen christlichen Denomina­ tionen. Damit ist von reformierter Seite auch anerkannt, dass das Judentum in den meisten seiner Ausprägungen nicht nur mit dem republikanischen Denken vereinbar ist, sondern es eigentlich begründet hat. Die Verhältnisbestimmung zwischen Altem und Neuem Testament, damit auch verbunden das sich darin ausdrückende Verständnis der Herrschaft Christi als einer souveränen bzw. einer kommissarischen Diktatur, vermittelt die Verhältnisbestimmung der jeweiligen Konfessionen zum Judentum. Denn in kaum einem Verhältnis innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft wird die republikanische Freiheit anschaulicher als im Verhältnis zwischen Christen und Juden, auf das entsprechend an dieser Stelle kurz einzugehen ist, um die Inklusionsfunktion des Glaubens anschaulich zu machen. Wer für die Bekehrung der Juden zu beten begehrt bzw. unter säkulari­ siertem Vorzeichen ihre Assimilierung als Voraussetzung für die bürgerliche Gleichstellung fordert, unterscheidet zwischen sich und den Juden, indem er sich als Christ versteht, ohne zu bedenken, dass ein Christ nur entweder als Jude oder als Heide denkbar ist. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die entscheidenden Hinweise über das Verhältnis zwischen der Kirche und den Juden im Römerbrief zu finden sind, dessen elftes Kapitel Calvin dahinge­ hend auslegte, dass er in der Verstockung der Juden die Voraussetzung für die Hinzunahme der Heiden in den Bund erblickte, d. h. die Verstockung der Juden bewirke die Inklusion der Heiden. Es geht also wohlgemerkt im Ver­ hältnis zwischen Christen und Juden gar nicht um die Exklusion der Juden aus dem Bund, sondern vielmehr um Inklusion der Anderen. Denn die In­ klusion der einen dürfe, so Calvin, nicht die Exklusion der anderen als Kehrseite haben. Die Verstockung der Juden werde so lange andauern, bis 195  Vgl.

Spaemann (2009).

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alle Heiden bekehrt seien; dann werde Gott das ganze Israel heimführen (wobei Calvin hier nicht die Allversöhnung vertritt, vielmehr ist das ganze Israel für ihn die Schar der erwählten Juden und Heiden). Barths Römerbriefkommentar kehrt das Verhältnis zwischen Juden und Heiden um. Er legt den Schwerpunkt an dieser Stelle darauf, dass auch die Nichtjuden in ihrer Überheblichkeit gegenüber den Juden nur die den Juden zugeschriebene Haltung der Überheblichkeit selber einnähmen, somit selbst als im Sinne des eigenen, von ihnen selbst konstruierten Judenverständnis­ ses als Juden zu betrachten seien. Dementsprechend betete, wer für die Bekehrung der Juden betet, unbemerkt nur für sich selbst, nur für die eige­ ne Bekehrung. Statt den Juden ein Jude zu werden, ist er Jude im Sinne des von ihm selber konstruierten Bild des Judentums. Er ist nicht, was er ver­ meint zu sein, und verfehlt damit gerade das, was er zu sein glaubt und zu sein beansprucht. Man kann es auch so wenden: Was die Juden für die Reformatoren waren, nämlich verstockt, das sind jene Christen, die den Übertritt der Juden zum Christentum einfordern, aus reformatorischer Sicht heute selber. Ihre Verstockung hat allerdings keine heilsgeschichtliche Be­ deutung mehr und ist darum, anders als die Verstockung der Juden in der Zeit der Reformation, ohne Rechtfertigung. Es gibt also nur die Kirche aus Juden und Heiden. Dabei sind Juden nicht Juden von Natur aus, sondern aus Berufung. Die Heiden haben ihnen als Christen nicht die Berufung voraus, und Calvin warnt in seinem Römer­ briefkommentar eindringlich davor, sich etwas darauf einzubilden, nicht Jude zu sein. So muss der, der durch Gnade im Glauben ist, allen alles werden, wie Paulus es im Ersten Korintherbrief schreibt: „Denn weil ich frei bin gegenüber allen, habe ich mich zum Sklaven aller gemacht, um möglichst viele zu gewinnen. Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen, denen unter dem Gesetz einer unter dem Gesetz – ob­ wohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, um die unter dem Gesetz zu gewinnen. Denen ohne Gesetz aber bin ich geworden wie einer ohne Ge­ setz – obwohl ich vor Gott nicht ohne Gesetz bin, vielmehr Christus für mich massgebend ist –, um die ohne Gesetz zu gewinnen. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, um die Schwachen zu gewinnen; allen bin ich alles geworden, um in jedem Fall einige zu retten.“ (1 Kor 9, 19–22). Bezeichnender Weise wird Paulus den Starken kein Starker. Die paulini­ sche Theologie ist theologia crucis, und als solche wird sie von den Refor­ matoren aufgenommen und ins Zentrum gestellt. Sie wehrt dem Rühmen. Sie verehrt das Kreuz nicht, sondern sie stellt sich unter das Kreuz. Das Kreuz symbolisiert die Nichteindeutigkeit der Identität der gerechtfertigten Sünder, die den anderen nichts anderes voraushaben als diese Glaubenser­ kenntnis, die ihre Schwäche offenbart und die der, der glaubt, anzuerkennen



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hat. Seine Mission ist nicht anders möglich denn als gelebte Offenheit für die geschichtlichen Herausforderungen, und das ist seine Lernfähigkeit, die ja gerade Nichteindeutigkeit der Identität voraussetzt, und die in Wort und Tat zu bezeugen Auftrag ist. Das Verhältnis der Christen zum Judentum ist darum der Lackmustest für den Glauben, ob er überhaupt Glaube ist. Als Reformierter hat man entsprechend heute in der Nachfolge, die Paulus an­ mahnt, aber wiederum anders als Paulus, der den Juden ein Jude und den Heiden ein Heide sein konnte, als Heide den Heiden als Jude zu begegnen. Das ist nichts anderes als die Umschreibung der christlichen Identität als Nichtidentität aus reformierter Sicht. Daran schließt auch Karl Barth an, wenn er im Zusammenhang mit Röm 11 bemerkt: „Wir sind also jüdisch, katholisch, lutherisch oder reformiert (vor Konfessionswechsel hin oder her wird dringlich gewarnt!)“,196 und weiter: „Anders denn als Jude wird man das Judentum, anders denn als Pharisäer den Pharisäismus, anders denn als Theologe die Theologie nicht los.“197 Der alte Barth äußerte in Gesprächen: „Es ist ja gewiß nicht nötig, dass wir uns gegenseitig belehren wollen. All die Bemühung, die anderen zum Übertritt zu bewegen, ist nie gut gewesen. Sondern die Katholiken sollen gute Katholiken sein und die Evangelischen gute Evangelische.“198 „Auf die Frage, wie er einen Hindu verstehe, der Jesus zwar nicht für den einzigen, aber doch für einen bedeutenden Vertre­ ter in der Reihe der großen Alten halte, antwortete Karl Barth: ‚Der Wind weht, wo er will‘ (Joh. 3,8) Durchbrüche (Offenbarungen) des verborgenen Christus sind immer möglich: innerhalb und außerhalb der Kirche: sogar im Leben und Werk und in der Botschaft von Fremden (Melchisedek (Gen. 14, 18 f.; Hebr. 7,1–4)), von Heiden, von Atheisten!“199 Es geht nicht darum, seine Identität in Frage zu stellen, um eine neue Identität anzunehmen. Vielmehr geht es darum, sich selbst stets als in Frage gestellt zu verstehen. Damit dürfte auch klar sein: Reformiert ist nicht, wer einer reformierten Gemeinde angehört und entsprechend seine Kirchensteu­ er oder Mitgliedsbeiträge entrichtet. Reformierte gibt es überall. Das hat Folgen für die Ekklesiologie insofern, als Gemeinde nicht an ihrem Namen zu erkennen ist, den sie im Schaukasten des Gemeindezentrums oder im eigenen Kirchenblatt führt. Es bedeutet schließlich auch, dass zwischen der Kirche und der bürgerlichen Gesellschaft heute so wenig wie zur Zeit der Reformation unterschieden werden kann, weil sie aus reformierter Sicht im Sinn Barths damals und heute als eine Identität von Identität und Nichtiden­ 196  Barth

(1978), (1978), 198  Barth (1997), 199  Barth (1997), 197  Barth

S. 376. S. 377. S. 468. S. 4.

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tität zu denken ist. Die Lehre von der Prädestination ist insofern handlungs­ leitend, als sie Exkommunikation verwehrt. Im Verhältnis zwischen Juden und Heiden ist paradigmatisch abgebildet, wie republikanische Integration zu denken ist. Sie ist zunächst Angebot der Inklusion gegenüber jeder Fremdidentität (theologisch gesprochen ist die Inklusion die Gnade, die zu leistende Integration Glaube), die der Fremd­ identität nicht eine eigene Identität aufzwingt (Assimilation), ihr allerdings zumutet, die Freiheit und Rechtsgleichheit als Prinzipien und damit ihre grundsätzliche Nichtidentität anzuerkennen (letztlich entspricht diese Aner­ kennung dem, was theologisch Glaube ist). Die Verstockung äußerte sich dagegen im Beharren auf einer sich selbst gleichbleibenden Identität, auf die eine über die Toleranz hinausgehende Rücksicht zu nehmen sei. Wer sich die Freiheit nimmt, seine Identität zu behaupten, begibt sich damit gerade seiner Freiheit. Die reformierte Prädestinationslehre (Prädestination wird auch anderswo gelehrt, auch im Luthertum) ist angesichts dessen nicht mehr metaphysisch auszulegen. Wenn auf Grund der geglaubten Menschwerdung Gottes über Gott nur christologisch, im Hinblick auf die paulinische Auferstehungslehre über Christus nur ekklesiologisch sinnvoll geredet werden kann, ist die Rede über einen Gott, der vor dem Sündenfall oder gar schon vor der Er­ schaffung der Welt die einen zum Heil erwählt und die anderen zur Ver­ dammnis bestimmt habe, sinnlos. Die Prädestinationslehre kann nur noch bedeuten, dass die Inklusion nicht von einer Vorleistung der zu Inkludieren­ den abhängig gemacht wird, was ihre Zugehörigkeit begründet, sondern dass sie republikanische Bringschuld ist gegenüber jedermann, und dass sie es auch für den Fall bleibt, dass Integration zunächst nicht gelingt. Die Exkommunikation freilich, die politische Freund-Feind-Unterscheidung, vollzieht jeder, wenn er mit seiner Selbstbehauptung innergesellschaftliche Freund-Feind-Unterscheidung herbeiführt, sei es, dass er über Identitätsbe­ hauptung Integration verweigert, sei es, dass er Assimilation in eine als Leitkultur behauptete Identität fordert. Die Prädestinationslehre rechtfertigt damit das Nichthandeln im Hinblick auf Exkommunikation. Im Verständnis des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum spiegelt sich das Verständnis des Verhältnisses zwischen Altem und Neuem Testament wider und dem daraus abzuleitenden Verständnis von Evangelium und Gesetz. Das Verständnis vom Gesetz und von Regeln überhaupt als Handlungsan­ weisungen entspricht nicht dem jüdischen Gesetzesverständnis. Die Thora enthält zwar auch eine Vielzahl an Regelungen, ist aber vor allem Urkunde des Bundes (hebr. berit) und bedarf der immerwährenden Interpretation. So etwas wie klare Regelungen, von denen oft die Rede ist, wenn Entscheidun­



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gen angemahnt werden, gibt es nicht. In diesem Zusammenhang kann auch auf die beiden sich gegenüberstehenden Schulen der Verfassungsinterpreta­ tion in den USA hingewiesen werden, die contemporary originalists und die living constitutionalists, die Lawrence B. Solum in einer erhellenden Studie gegenüberstellt.200 Carl Schmitt hat zu Beginn seiner Karriere 1912 schon darauf aufmerksam gemacht, dass richterlichen Entscheidungen keine Inter­ pretation des jeweiligen Gesetzes oder des Willens des Gesetzgebers zu Grunde liege: „Das Gesetz bleibt eine Richtschnur für den Richter“.201 Die Freiheit der Interpretation ist der Raum, der Politik ermöglicht, wie Schmitt dann im Verlauf seiner Karriere ausführen wird. Das gilt für republikanisch orientierte Politik entsprechend, was John Dewey in seinem Buch über die Öffentlichkeit erläutert: „Die Vorschriften und Gesetze des Staates werden deshalb mißverstanden, wenn sie als Befehle betrachtet werden.“ Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen, wenn man Dewey folgt, nämlich dass dieses Gesetzesverständnis nur für Republiken gilt und nicht für Staa­ ten: „Die ‚Kommando‘-Theorie des geschriebenen Rechtes und des Ge­ wohnheitsrechtes ist in Wirklichkeit eine dialektische Folge der (…) Theo­ rien, welche den Staat in Begriffen einer vorangehenden Verursachung de­ finieren, speziell jener Theorie, welche den ‚Willen‘ für die kausale Kraft hält, die den Staat erzeugt.“202 Folgt man Dewey, hätte Schmitt in Gesetz und Urteil republikanisch argumentiert. Allerdings ging es Schmitt um die Freiheit des Richters, Dewey dagegen um die Freiheit der Gesellschaft: „Rechtsvorschriften bedeuten in Wirklichkeit die Einsetzung von Bedingun­ gen, unter denen Personen ihre gegenseitigen Verabredungen treffen.“203 Aus reformierter Sicht gibt es ohne das Gesetz, um es allgemeiner zu sagen ohne Verfassung, keine Freiheit, sondern nur Willkür und Toleranz. Die Freiheit ist keine allgemeine Freiheit ohne die Gleichheit vor dem Ge­ setzt. Erst die Gleichheit vor dem Gesetz ermöglicht und legitimiert die persönliche Freiheit, anders als die Anderen zu sein. Diese Ungleichheit ist nur gerechtfertigt und möglich im Hinblick auf die Gleichheit vor dem Gesetz. Theologisch gesprochen gibt es keine Gnade ohne Gesetz, und da­ mit kann es die Freiheit nur im Rahmen des Rechts geben. Ein Aspekt dieser Freiheit ist es, sowohl als Christ als auch als Jude im republikani­ schen Rahmen frei zu sein, denn für beide gilt dasselbe Gesetz. Es wird verständlicher, wenn man statt Gesetz, womit die Thora gemeint ist, eben 200  Solum

(scholarship.law.georgetown.edu/cgi/viewcontent.cgi?article…). (1969), S. 42. Schmitt fordert Rechtsbestimmtheit der richterlichen Entscheidung, die sich darin äußere, dass eine „richterliche Entscheidung (…) heute dann richtig (ist), wenn anzuerkennen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschie­ den hätte.“ (Schmitt 1969, S. 71). 202  Dewey (1996), S. 58. 203  Dewey (1996), S. 59. 201  Schmitt

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nicht die summarische Sammlung der Einzelbestimmungen in den Blick nimmt, sondern die Thora als Verfassung, als Bund. Übertragen auf die bürgerliche Gesellschaft heißt das, dass die bürgerlichen Freiheiten, deren wir uns erfreuen, das bürgerliche Recht der Republik als demokratischem Rechtsstaat voraussetzen. Melanchthon und Calvin unterschieden einen dreifachen Gebrauch des Gesetzes, Luther nur einen zweifachen. In seinem dritten Gebrauch (tertius usus legis bzw. usus in renatis) bedeute es die Freiheitsordnung der im Bund von Gott Erwählten. Daraus zog Calvin den Schluss, dass das Gesetz nicht zu sehr vom Evangelium unterschieden werden dürfe.204 Der Bund hat als Bundesurkunde die Thora und ist ohne die Thora nicht zu denken, er wäre ansonsten inhaltsleer, so dass, wie es das Luthertum zeigt, Schöp­ fungsordnungen an seine Stelle treten müssten. Die Rigorosität, mit der Calvin für das Gesetz stritt, trug zu seinem schlechten Ruf außerhalb des Reformiertentums maßgeblich bei. Es muss aus der Perspektive besonders des Luthertums zu Recht befremden, dass eine Tradition zur Begründung der bürgerlichen Freiheiten herangezogen werden soll, die sich auf Jean Calvin beruft, der in Genf unter Berufung auf das Gesetz ein Regiment führte (tatsächlich beriet Calvin nur den Magistrat und führte in diesem Sinne indirekt), das sich nicht gerade durch Liberalität ausgezeichnet hat.205 Inwiefern ließe sich dann das Genf Calvins noch als Republik verstehen und nicht doch eher als Staat? Wo der bürgerlichen Freiheit die Unterschei­ dung zwischen öffentlich und privat zu Grunde liegt, fällt es in der Tat schwer, Genf als ein bürgerliches Gemeinwesen anzuerkennen. In dieser Frage darf Thomas Hobbes als weitaus liberaler betrachtet werden als Cal­ vin. Schließlich sollte mit seiner Unterscheidung zwischen confessio und fides der Religionsfrieden im Innern gesichert werden. Im Rahmen des öf­ fentlichen Bekenntnisses, dass Jesus der Christus sei, sollte jeder privat auslegen dürfen, wie er es verstehen wollte. Letztlich praktiziert die angli­ kanische Kirche das bis heute, wenn sie unter ihrem Dach ganz verschiede­ ne protestantische Bekenntnisse vereint. Die Bandbreite reicht von der Tradition der Highchurch über den gemäßigten Presbyterianismus bis hin zum lutherischen Bekenntnis. Hobbes hat mit seiner Unterscheidung zwi­ schen fides und confessio das Fundament des anglikanischen Selbstver­ ständnisses gelegt. Allerdings anerkennt Hobbes nicht die uns heute wie Calvin, Institutio II,9,4. Luthertum ist der dritte Gebrauch des Gesetzes neben dem usus politicus und dem usus elanchticus später übernommen worden, blieb aber immer umstritten. Im usus politicus leitet das Gesetz die bürgerliche Rechtsprechung. Für Luther lag die eigentliche Bedeutung aber im usus elenchticus, in dem das Gesetz die Sünder als solche überführt. Die Zählung zwischen erstem und zweitem Gebrauch kann darum auch umgekehrt erfolgen. 204  Vgl. 205  Im



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selbstverständlich erscheinende Unterscheidung zwischen Kirche und Staat. Vielmehr ist für ihn der Staat als Garant des Religionsfriedens über die Kirche gestellt. Der Souverän hält im Emblem des Titelblattes der Erstaus­ gabe des Leviathans nicht nur das Zepter, sondern auch den Bischofsstab in der Hand. Diese Form des Absolutismus hat sich nicht durchhalten lassen. Entsprechend ist die liberal angelegte anglikanische Kirche heute, ohne den Schutz des staatlichen Regiments, eine zutiefst gespaltene Institution. In Genf vollzog sich die Entwicklung unter umgekehrten Vorzeichen, so dass sich Hobbes und Calvin zueinander chiastisch verhalten: Calvin ließ die Unterscheidung zwischen confessio und fides nicht zu. Er betrieb mit Nach­ druck die Unterscheidung zwischen Kirche und öffentlicher Gewalt, nicht im Interesse der Freiheit des Politischen, sondern der Freiheit der Kirche. So ist zu bestreiten, dass Calvin, wie Bernard Cottret es in seiner Biographie des Reformators behauptet, die absolute Monarchie bejaht und gerechtfertigt habe.206 Cottret missversteht völlig, was Absolutismus ist, indem er Absolu­ tismus mit Totalitarismus verwechselt. Insofern wäre Calvin als Vertreter einer totalitären Verfassung wesentlich moderner als Hobbes gewesen, was bestritten werden kann.207 Zudem ist Totalitarismus ein ausgesprochen mo­ dernes Phänomen und war noch für das neunzehnte Jahrhundert nur eine li­ terarisch-utopische Vision.208 Die Vorgänge während der Französischen Re­ volution wurden literarisch überhöht und bedienten eine Phantasie, die sich rückwirkend selber in die Historie projizierte. Mit Calvins Unterscheidung zwischen Kirche und Obrigkeit lässt sich kein Totalitarismus begründen. Es lässt sich vielmehr zeigen, dass das moderne republikanische Selbstverständ­ nis, trotz der nicht gerade als heiter zu bezeichnenden Zustände im Genf zur Zeit Calvins, nicht an Hobbes, sondern an Calvin anschließt. Die Trennung zwischen Kirche und Staat entlässt die Öffentlichkeit aus der religiösen Be­ vormundung, während bei Hobbes dem Staat die Bekenntnispflege obliegt, die sich darin erschöpft, die Interpretation des Bekenntnisses, das Jesus der Christus ist, in das Private zu verbannen. Mit Hobbes lässt sich Staat ma­ chen, mit Calvin nicht, insofern Calvin die Freiheit der Kirche als öffentliche Freiheit gegenüber der Obrigkeit verteidigt.209 206  Cottret,

S. 394. Walzer 1965. Es ließen sich freilich noch andere Beispiele vor den Pu­ ritanern finden, die als Vorläufer des modernen Totalitarismus in Betracht kämen, namentlich im spätantiken Judentum. 208  So ist unser Bild der relativ kurzen Diktatur der Jakobiner während der Fran­ zösischen Revolution mehr literarisch als durch die Quellen geprägt worden (etwa durch Charles Dickens, A Tale of Two Cities, aber auch Georg Büchners, Dantons Tod, in dem die Quellen für die Bühne bearbeitet worden sind). 209  Der Fall Servets ist gesondert davon zu betrachten. Die Verurteilung Servets und seine Hinrichtung lösten unter Protestanten heftige Reaktionen aus. Sie ist aber 207  Vgl.

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Anstatt im absolutistischen Denken verortet Josef Bohatec Calvin mit seinem Staatsdenken in der Tradition der antiken Schriftsteller Cicero und Aristoteles. Bei letzterem sei Calvin von dem Gedanken einer Mischform aus Aristokratie und Demokratie als ideal angesprochen worden. Der Be­ griff der Aristokratie, den Bohatec in diesem Zusammenhang verwendet, ist aber so missverständlich wie der Begriff des Absolutismus bei Cottret, weil Calvin eigentlich aller ererbten Herrschaft misstraute; besser wäre es, hier von Meritokratie zu sprechen, wobei aber die Tugendhaftigkeit der Gläubi­ gen wieder in den Fokus geriete. Alle staatliche Gewalt steht für Calvin nämlich unter dem Gesetz und kann nur als solche legitimiert werden, was impliziert, dass die Herrschenden dem Gesetz gehorchen. Hier spielt die berühmte, für manche aber auch berüchtigte Gesetzlichkeit der Reformier­ ten schon hinein. Ihr muss darum im Folgenden Aufmerksamkeit geschenkt werden. So wenig Freiheit gleich Freiheit ist, so wenig ist Gesetz gleich Gesetz. Zunächst unterscheidet Calvin drei Gesetze im Pentateuch: das stets gültig bleibende Sittengesetz einmal vom Zeremonialgesetz und schließlich noch von den an Raum und Zeit gebundenen profanen Gesetzen. Nur ersteres ist für Calvin noch von Bedeutung für die Kirche. Hier lässt sich noch ein kurzer Seitenblick auf das Verhältnis zwischen Reformiertentum und Juden­ tum werfen. Die Einhaltung oder Nichteinhaltung des Zeremonialgesetzes ist ohne Bedeutung, ist eine feststellbare Ungleichheit im jeweiligen Verhal­ ten, die über die formale Rechtsgleichheit, die das Gesetz Christen und Juden gewährt, überhaupt erst ermöglicht wird. Darüber wird im Zusam­ menhang mit Martin Bucer noch einmal zu sprechen sein. Beides, Einhal­ tung und Nichteinhaltung, kann in einer Republik nebeneinander Bestand haben. Das stets gültig bleibende Sittengesetz ist also nicht identisch mit dem Wortlaut der gesamten Thora. Neben diesen drei Unterscheidungen der gesetzlichen Bestimmungen gibt es aber noch die Unterscheidung des dreifachen Gebrauchs des alleine gültigen Sittengesetzes der Thora wie folgt: 1. Der usus politicus dieses Gesetzes leitet die bürgerliche Gesetzgebung des Staates an; 2. im usus paedagogicus bzw. elenchticus erfährt der Mensch, dass er dem Gesetz (jetzt nicht zu verwechseln mit den Gesetzen der Gemeinwesen) nicht zu genügen vermag; nicht alleine in ihrem theologischen, sondern auch in ihrem politischen Kontext zu betrachten, denn mit der Leugnung der Trinität hatte sich Servet selber der Ketzerei überführt, und Toleranz ihm gegenüber hätte Genf in eine mehr als prekäre Situa­tion gebracht.



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3. im tertius usus legis findet der Erwählte die Anleitung für die seiner Erwählung entsprechende Lebensführung, seiner Heiligung, die seine Freiheit begründet. Die Auffassung vom dritten Gebrauch ist nicht nur vielen Lutheranern suspekt, sie wird auch nicht immer präzise genug verstanden. Oberman schreibt, dass die totalitäre Versuchung bei Calvin im Verständnis des tertius usus legis lauere: „Schwierigkeiten bereitet nicht der tertius usus legis, jenes dritte Verständnis des Gesetzes als Vorschrift der Dankbarkeit des Christen, sondern die Verlängerung des tertius usus in den primus usus ­legis, den ersten Gebrauch des Gesetzes als Maßstab der politischen Gesellschaftsordnung.“210 Oberman will Calvin keineswegs einen Hang zum Totalitarismus unterstellen. Er warnt vielmehr vor der Gefahr, der die Aus­ legung erliegen könne. Auch Obermann konstatiert, mit Calvin könne man keineswegs Staat machen.211 Aber wird hier von Obermann nicht die Unter­ scheidung von Gesetz als allein gültigem Sittengesetz und den bürgerlichen Gesetzen mit der Unterscheidung des Gebrauchs des immer gültigen Sitten­ gesetzes und der Geltung der bürgerlichen Gesetze verwechselt und ver­ mengt, d. h. unterliegt Obermann hier nicht einem Kategorienfehler? Be­ trachtet man seine Formulierung genauer, ist bei ihm im angeführten Zitat von Verständnis und Gebrauch die Rede, was den Denkfehler zu bezeichnen, freilich nicht zu erklären vermag. Was bedeutet „Verlängerung des tertius usus in den primus usus legis“? Gebrauch bedeutet doch nicht, dass die Normen von dem einen, dem Bereich der Heiligung, in den profanen Be­ reich so einfach transferiert würden. Der Gebrauch im usus politicus ist nicht die Übertragung der Bestimmungen des allein gültigen Sittengesetzes in die bürgerliche Rechtsprechung, sondern die Anleitung der Gesetzgebung im Bereich der bürgerlichen Ordnung. Auf diesen Unterschied ist zu achten. Es ist der Unterschied zwischen Verfassung und Gesetz. Bohatec betont zu Recht, der primus usus impliziere, dass die bürgerli­ chen Gesetze, anders als das allein gültige Sittengesetz, der aequitas, also der Billigkeit unterlägen. Das ist ein wichtiger Hinweis, weil die aequitas für den usus elanchticus und den tertius usus völlig bedeutungslos ist. Die Gläubigen haben den zweiten und dritten Gebrauch des Gesetzes auch al­ leine auf sich selber zu beziehen, nicht auf andere. Gebrauch ist also nicht einfach Übernahme von Bestimmungen, anders gesagt Transfer aus einem geheiligten in einen profanen Bereich. Wohin sollte vom immer gültigen Sittengesetzt transferiert werden, das doch in seinem dreifachen Gebrauch mit sich identisch bleibt? Gebrauch darf darum nicht mit Anwendung im Rechtsvollzug verwechselt werden. Denn die Gläubigen geraten mit ihrem 210  Oberman, 211  Oberman,

S. 203. S. 204.

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dritten Gebrauch des Gesetzes, das die aequitas nicht kennt, die dem ersten Gebrauch aber inhärent ist, nicht in Konflikt mit den bürgerlichen Gesetzen. Die Nichtbeachtung der aequitas im Rahmen der bürgerlichen Gesetze wä­ re dagegen ein Verstoß gegen die bürgerlichen Gesetze und damit kein Handeln auf der Grundlage der rechten Unterscheidung des dreifachen Gebrauchs des Gesetzes. Sie wäre unvereinbar mit dem usus politicus. Öf­ fentliche Rigorosität von Eiferern, die sich im Calvinismus zugegeben häufig ausbildete, ist gemäß des tertius usus Rechtsbruch im Bereich der bürgerlichen Rechtsordnung und zudem unsachgemäß im Hinblick auf den usus politicus. Am rechten Verständnis dessen, was die Reformatoren unter Gebrauch verstehen, lässt sich dagegen m. E. aufzeigen, dass die Lehre vom dreifa­ chen Gebrauch des Gesetzes die republikanische Gleichheit und republika­ nische Freiheit zu begründen vermag. Bohatec weist den Weg, geht ihn aber nicht konsequent. Die bürgerlichen Gesetze seien, insofern sie der Natur des Menschen entsprächen, identisch mit dem Naturgesetz. „Kraft dieser inneren Verbindung des göttlichen Sit­ tengesetzes mit dem Naturgesetz kann das Urteil ausgesprochen werden, dass die in den profanen Gesetzen vorausgesetzte Rechtsidee, die Billigkeit, das göttliche Gesetz also einzig und allein allen anderen Gesetzen Ziel, Regel und Grenze sein muß, auch dann, wenn diese von dem jüdischen Gesetz, d. h. von seinen zeremonialen und judiziellen Bestimmungen abwei­ chen und selbst untereinander verschieden sind.“212 Das lässt sich biblisch begründen, etwa mit Röm 1, 18 ff. Aber die Gesetzgebung und darüber hi­ naus die Anwendung des Gesetzes in Rechtsverfahren unter Berücksichti­ gung der aequitas ist nicht Gebrauch im Sinne der Reformatoren. Mit Ge­ brauch ist Anleitung der Gesetzgebung und die Rechtfertigung der Billigkeit in der bürgerlichen Rechtsprechung gemeint. Das Gesetz Gottes ist nämlich in jedem Gebrauch das eine Gesetz.213 Es entfaltet sich mitnichten in drei verschiedenen Gesetzen in verschiedenen Bereichen. Es wirkt aber verschieden, indem es schützt bzw. abwehrt, über­ führt und schließlich die Frommen anleitet. Dabei steht für Bohatec der zweite Gebrauch des Gesetzes im Zentrum: „Calvin sieht gerade so wie Luther die wahre Natur (pura legis natura) und das ‚eigentliche Werk‘ des Gesetzes in seinem ‚Todesamt‘ (administratio mortis, damnationis ministerium, praedicatio mortis), das den wiedergeborenen Sünder seiner Schuld überführt, ihm den Zorn und die Gerechtigkeit Gottes offenbart, im Gegen­ satz zu der erlösenden, tröstenden, belebenden und befreienden Macht des 212  Bohatec,

S. 16. Bonhoeffer versteht den dreifachen Gebrauch als dreifache Wirkung des einen und selben Gesetzes (Bonhoeffer, S. 601). 213  Dietrich



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Evangeliums. (…) Was aber vom Gesetz ewig bleibt, das ist die sittliche Regel, die in der Furcht Gottes den Menschen festhaltende Schranke, die die Trägheit des Fleisches anspornende, den Menschen bessernde, überfüh­ rende und zum guten Werk erziehende Kraft. Darin besteht eben der tertius legis usus, der wesentlich ist und den eigentlichen Zweck des Gesetzes im Auge hat und für die Gläubigen, in denen bereits der Geist Gottes herrscht, in Betracht kommt. (…) (S)o wird die niederdrückende und unangenehme Wirkung zu einer Wohltat, zum Erweis einer besonderen Gnade, durch de­ ren Verheißung die Bitterkeit in die Süßigkeit verwandelt wird.“214 Es gibt also eine reformierte Thorafreude in diesem dreifachen Gebrauch. Jedoch stehen erster und dritter Gebrauch des Gesetzes in einer gewissen Spannung zueinander, insofern beide Male das Gesetz etwas fordert. Die jeweilige Forderung ist aus der Perspektive der jeweils Aufgeforderten zu betrachten und zu verstehen, das ist entscheidend. Die vom stets gültigen Sittengesetz angeleitete bürgerliche Rechtsordnung betrifft alle, die Erwähl­ ten und die Nichterwählten, gleichermaßen. Soweit alle auf Grund ihrer gleichen Natur als Sünder gleich angesprochen und zum Gesetzesgehorsam gegenüber diesen bürgerlichen Gesetzen aufgerufen werden, sind alle gleich. Damit ist die rechtspraktische Bedeutung der Lehre vom Menschen als simul iustus et peccator offengelegt. Aus dem usus politicus folgt unmittelbar der Grundsatz der Rechtsgleichheit zwischen den der Erwählten, die peccatores bleiben, und den Nichterwählten. Beide haben einen Anspruch auf Billigkeit. Aus dem zweiten Gebrauch erfolgt Einsicht in die eigene Unzu­ länglichkeit, aber nur für die Glaubenden, was ihren Rechtsstatus gegenüber den Nichtglaubenden im Bereich des bürgerlichen Rechts in keiner Weise verändert. Und der dritte Gebrauch des Gesetzes betrifft nur die Glaubenden als justi und bewirkt ihre Thorafreude. Der dritte Gebrauch tangiert ihren Rechtsstatus im Bereich des bürgerlichen Rechts ebenfalls nicht. Damit wird über den dritten Gebrauch des Gesetzes die besondere Verantwortung der Erwählten für das Gesetz und damit die bürgerliche Rechtsordnung begründet, die primär nichts anderes ist als Verantwortung für die Durchset­ zung und schließlich den Bestand der allgemeinen Rechtsgleichheit, die später zu einem republikanischen Prinzip wird und Ungleichheit in der Lebensführung und damit Freiheit begründet, nicht zuletzt die Freiheit der Juden, an Zeremonialgesetzen weiter festhalten zu können. Wie das reformierte Verständnis des Gesetzes dem hebräischen Denken entspricht, zeigt sich an Paolo Prodis Thoraverständnis als Grundlegung für den Dualismus der beiden Gerechtigkeitsforen, des inneren Forums des Gewissens und des öffentlichen Forums im Bereich der Rechtsordnung. Er habe das abendländische Selbstverständnis entscheidend geprägt. Prodi führt 214  Bohatec,

S.  319 ff.

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unter Verweis auf Jaques Ellul wie folgt aus: „Im Gegensatz zum gängigen Denken führt die Bejahung der Heiligkeit und Transzendenz Gottes nicht zu einer Sakralisierung des Rechts, sondern zu einer Dialektik zwischen der Ordnung Jahwes und der natürlichen Ordnung der Welt; es ist die Gegen­ wart Gottes, welche die Institutionen desakralisiert‚ und das Recht auf sei­ nen (unersetzlichen und äußerst nützlichen) relativen und pragmatischen Wert reduziert‘. Damit eröffnet sich die Möglichkeit eines Forums, eines Verwaltungssitzes der Gerechtigkeit, der nicht mit dem Staat gleichzusetzen ist und zuweilen in einen Anti-Staat münden kann“.215 Zu fragen bleibt hier nur, wie es Prodi gelingt, die Transzendenz Gottes mit seiner Gegenwart zusammenzudenken. Zu präzisieren wäre, dass es nicht die Transzendenz, sondern vielmehr die Gegenwart Gottes ist, theologisch gesprochen der Geist, der im usus politicus die Desakralisierung der Rechtsordnung be­ wirkt. Von daher ist ein reformiertes Law-and-Order-Denken ausgeschlossen. Wäre law-and-order eine theologische Formel, wäre die Auflösung des Widerspruchs eine unierte Theologie: So wird aber nur die einheitliche Verwaltung von lutherischen und reformierten Gemeinden bspw. in den Landeskirchen der ehemaligen Preußischen Union oder in der Evangelischen Kirche Hessen Nassau bezeichnet, um nur zwei Beispiele zu nennen. Ob beide Konfessionen sich verwaltungstechnisch zusammenführen lassen, ist schon fraglich. Eine unierte Theologie kann es m. E. nicht geben. Denn das lutherische Bekenntnis unterstellt der Berufung auf das Gesetz Werkge­ rechtigkeit als Motiv. Das Gesetz ist für das Luthertum explizit kein Heils­ weg, es tötet. Das Evangelium mache lebendig! Der begnadete Sünder stehe nicht mehr unter der Herrschaft des Gesetzes, sondern in der Liebe des Herrn. Sola gratia – solus Christus – sola scriptura – sola fide. Vom Gesetz ist im Hinblick auf das Heil keine Rede. Das Verhältnis von Gnade und Gesetz wird im reformierten Denken ana­ log zu dem Verhältnis von Freiheit von und Freiheit zu gedacht, wie Isaiah Berlin es formuliert hat.216 Die Gnade befreit von der Sünde, aber gleich­ zeitig von der Last der Identitätssicherung: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2, 20). Wer das anerkennt, mit anderen Worten wer glaubt, dem wird sich die Bedeutung des dreifachen Gebrauchs des 215  Prodi,

S. 23. Berlin, S.  201 ff. Isaiah Berlins Unterscheidung zwischen Freiheit von (negative Freiheit) und Freiheit zu (positive Freiheit) bildet eine formale Bestim­ mung, über die sich in konkreten Situationen Grade von mehr oder weniger Freiheit feststellen lassen. Wer frei von Zwang ist, aber auf Grund der fehlenden Ressourcen oder genereller Armut dazu verdammt ist zu verbleiben, was er ist, ist sicher nicht frei zu nennen. Robinson Crusoe z B. ist alles andere als ein freier Mann. 216  Vgl.



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Gesetzes eröffnen. Gnade und Glaube sind damit auch schon implizit im Gesetz, und indem sie Anerkennung des Gesetzes bewirken und leisten, sind sie eine ursprüngliche Übereinkunft, auf die später in unserem Zusammen­ hang mit dem Begriff des Geistes näher eingegangen wird. Freiheit von der Sünde und Freiheit vom Zwang zur Identitätssicherung ist Befreiung für die Sorge um die Freiheit der Öffentlichkeit. Für die Reformatoren des Reformiertentums ist das Gesetz eine Freiheits­ ordnung, zunächst im Rahmen der Kirche, über den usus politicus dann auch im öffentlichen Bereich. Die Vielfalt der rechtlichen Regelungen, ihre Unterschiedlichkeit in den verschiedenen Bereichen und im Verlauf der Zeit setzt eine Ganzheit voraus, die Vielfalt erst ermöglicht. Theologisch gespro­ chen ist diese Ganzheit in ihrer Unterschiedenheit Gnade, Geist und Glaube: Gnade, die dem Sünder unverdient geschenkt wird, ohne dass er aufhörte, Sünder zu sein, und Geist, der den Glauben als Anerkennung dieser Nicht­ identität bewirkt. Keiner kann sich rühmen, diese Anerkennung sich selber zu verdanken. Sie setzt Verkündigung voraus. In diesem Zusammenhang, im Verständnis des Gesetzes als Gnade, ist darum zu erwägen, inwiefern statt im zweiten Gebrauch nicht doch im dritten Gebrauch des Gesetzes sich die wahre Natur des Gesetzes offenbart. Das alles leitet über zu der Frage, wie das Gesetz in seinem dreifachen Gebrauch zu lesen und zu verstehen ist. Es ist die Frage nach dem spezifi­ schen Charakter reformatorischer Bibelexegese, die nicht nur als eine intel­ lektuelle Übung, sondern als Grundübung im Vollzug republikanischer Po­ litik zu begreifen ist. Das Gesetz bedarf der Auslegung, wobei diese Ausle­ gung als freie Auslegung zu vollziehen ist. Freiheit, Gesetz und Auslegung des Gesetzes bedingen sich gegenseitig in dem reformatorischen Prinzip, dass die Schrift ihre eigene Interpretin ist: Scriptura sui ipsius interpres.217 Das Schriftprinzip allein begründet zunächst noch nicht die Autonomie der Schrift, sondern ihre legitime Auslegung. Diese Auslegung ist nicht zu tren­ nen von der vom Geist bewirkten fides, die diese Auslegung leitet. Nach der formalen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gesetz und Gnade muss der Vollzug dieses Verhältnisses im Glauben am Beispiel der Schriftausle­ gung aufgezeigt werden. Gnade ist dann nicht anders zu verstehen als die Integration in die biblische Interpretationsgemeinschaft, und Glaube ist die aktive Teilnahme an dieser biblischen Interpretation und dem ihr entspre­ chenden Glaubensgehorsam gegenüber dem immer gültigen Sittengesetz in seinem dreifachen Gebrauch.

217  Mit diesem hermeneutischen Prinzip wandte sich Luther gegen die hermeneu­ tische Praxis des vierfachen Schriftsinns, d. h. der buchstäblichen, allegorischen, anagogischen und moralischen Auslegung.

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4. Schriftprinzip und Freiheit der Interpretation Stand bei Luther die Rechtfertigungslehre im Zentrum seines reformato­ rischen Anliegens (sola gratia), so war es bei Zwingli das Schriftprinzip (sola scriptura). D. G. Hart bringt es wie folgt auf den Punkt: „The diffe­ rences between Lutheran and Reformed initiatives were evident in each tradition’s critique of Rome. Whereas for Luther the doctrine of justification by faith alone became the centerpiece for correcting the church’s abuses, for Zwingli the guiding light was the sufficiency of Scripture as the rule for church teaching and believers’ devotion.“218 Für Luther war der Einzelne Adressat des Gnadenzuspruchs, für Zwingli die Gemeinde, die er wesentlich als Interpretationsgemeinschaft ansah. Diese unterschiedlichen Ansätze haben Auswirkungen auf die jeweiligen Gemein­ deverständnisse: Bei Zwingli ist die Gemeinde und damit der Diskurs primär gegenüber dem Einzelnen, bei Luther ist es umgekehrt. Es bleibt die Frage zu klären, wie im Luthertum die vereinzelt gedachten Gläubigen Gemeinde werden. Das bringt die Obrigkeit ins Spiel, die für die Gemeinde im Hin­ blick auf ihre Ordnung Sorge zu tragen hat. Die reformierte Gemeindever­ fassung strahlt auf die bürgerliche Welt aus, im lutherischen Kontext verhält es sich umgekehrt, wie Hans Grünberger ausführt: „Während – zumindest formal – die der lutherischen Neuordnung faktisch vorausgehende Zürcher Reformation auf stadtgemeindlicher Basis der Disputation sich bedient und ein durch gemeinsame Beratung ermitteltes bonum commune anvisiert, wird eben dieses Gemeinwohl in den streng monarchisch verfaßten Territorial­ fürstentümern landesherrlich definiert und das Interesse des Fürsten mit dem Gemeinwohl seiner Untertanen in Einklang zu bringen versucht. Der Fürst als eine von Gott in Verantwortung gegenüber Gesetz und Evangelium ge­ setzte Oberkeit hat seinen Untertanen Schutz und Trutz zu gewähren. Hierzu zählt auch und in besonderem Maße die Durchsetzung einer Kirchen‑ und Sittenzucht“.219 Greift man auf Schmitts Unterscheidung zwischen absolu­ tem und relativem Verfassungsbegriff zurück, lässt sich sagen: Verfassung im Sinne des relativen Verfassungsbegriffs haben die lutherischen Gemein­ den dank der Obrigkeit. Reformierte Gemeinden sind im Sinne des absoluten Verfassungsbegriffs verfasste Interpretationsgemeinschaften und geben sich selber Gemeindeordnungen. Ihre Verfassung ist die Schrift. Das hat Folgen für das jeweilige konfessionelle Selbstverständnis. Luthe­ rische Identität wird als dogmatisch eindeutig bestimmbar behauptet, refor­ mierte Identität ist Interpretation als Rezeption. Lutherische Identität ist darum auch als individuell vorstellbar (aber eben nicht denkbar), reformier­ 218  Hart,

S.  7 f.

219  Grünberger

(1999), S. 105.



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te dagegen nur als soziale Identität. Um es noch präziser und schärfer zu formulieren: Lutherische Theologie ist wesentlich Dogmatik, die die Her­ meneutik anleitet. Reformierte Theologie ist dagegen wesentlich Hermeneu­ tik, der sich die Dogmatik zu beugen hat. Die reformierten Interpretationsgemeinschaften sind insofern verfasst, als sie, wie Hart es auch bemerkt, geleitet bzw. ausgerichtet sind. Ihre Interpre­ tation hat einen Gegenstand, dessen Auslegung keinesfalls im herrschafts­ freien Diskurs erfolgt, dessen Regeln transzendental begründet wären. Ihr gemeindliches Selbstbewusstsein ist ein Anerkennungsverhältnis von Herr­ schaft und Knechtschaft insofern, dass die Schrift in der Arbeit der Ausle­ gung Herr bleibt. Das impliziert, dass man nicht so sehr darauf achten darf, was die Reformatoren in ihren Bibelkommentaren schrieben, sondern wie sie ihre Exegese als solche aufgefasst wissen wollten: Sie beanspruchten nicht, dass ihre Texte an die Stelle der kirchlichen Lehrautorität treten soll­ ten, sondern sie wollten sie als Anleitung für alle verstanden wissen, wie die Schrift zu lesen sei, ohne dass die Leser sich einer Autorität auslieferten, die die Schrift nicht selber legitimierte. Keine Interpretation darf als festge­ schrieben und für überzeitlich gültig erklärt werden, und keine traditionell ausgebildete Hermeneutik darf sich zwischen die Leser und die Schrift stellen, auch kein kirchliches Lehramt. Das begründet die historisch-kritische Bibelexegese. Dieses Vorgehen will alle nicht biblisch begründete Verkün­ digung ermitteln und ausschließen. Die historisch-kritische Methode genügt alleine nicht, das Verständnis des Textes zu ermitteln, aber ohne sie wäre das Prinzip, dass die Schrift sich selber auslegt, nicht zu sichern. Wer die Schrift dagegen wörtlich und damit fundamentalistisch auszulegen versucht, exkludiert sich selber aus der Interpretationsgemeinschaft, weil er eine be­ stimmte Lesart für verbindlich erklärt, was dem Prinzip, die Schrift sei ihre eigene Interpretin, eklatant widerspricht. Schon die Rekonstruktion der Texte wäre ohne die historisch-kritische Methode nicht zu leisten. Nur wer von ihr absieht, kann einen Urtext der Bibel phantasieren, dessen Rekonst­ ruktion gar nicht gelingen kann. Es gibt vielerlei Textüberlieferungen der biblischen Literatur, und Originalmanuskripte sind in keinem Fall erhalten. Die Schrift ist von daher schon vor aller Interpretation so zu verstehen, dass sie sich nicht in die Hände einer identitätsstiftenden Gemeinschaft überant­ wortet, deren Streben Begründung eindeutiger Identität wäre. Jan Rohls verortet den Ursprung der historisch-kritische Methode nicht ohne Grund im reformierten Protestantismus.220 Im reformierten Umgang mit der Schrift spiegelt sich strukturell wider, was im römischen Recht die Unterscheidung zwischen dominium und possessio bedeutet. Der Umgang mit der Schrift als Interpretation lässt sich mit 220  Rohls

(1999), S. 15.

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dieser Unterscheidung so erläutern: Die Schrift bleibt Eigentum der Inter­ pretationsgemeinschaft, auch wenn sie in den Besitz derer übergeht, die sie jeweils aktuell interpretieren. Die Rechte von Eigentümer und Besitzer müssen gesichert bleiben. Eine Aneignung der Schrift über die Festsetzung einer bestimmten Interpretation oder auch schon einer bestimmten Überset­ zung ist nicht statthaft. Die Art und Weise der reformierten Textexegese hat ausgestrahlt und sich z. B. auf die Geschichtswissenschaft ausgewirkt. Der britische Historiker R. G. Collingwood hat die Exegese biblischer Texte als Vorbild für den Um­ gang der historischen Forschung mit ihren Quellen erklärt: „(S)o history finds its proper method when the historian puts his authorities in the wit­ ness-box, and by cross-questioning extorts from them information which in their original statements they have withheld, either because they did not wish to give it or because they did not possess it.“221 Wie bei Kant wird hier Gerichtssprache bemüht, wobei es allerdings nicht um Urteilsbegründung geht, sondern um Zeugenbefragung! „The peculiar treatment which narrative demands is generally called by such names as higher criticism, Quellenkritik, and so forth. A very remarkable and almost unique example is to be found in the present state of New Testament criti­ cism, which has been undertaken with the deliberate intention of testing with the utmost possible rigour the trustworthiness of those narratives on whose truth Christianity stakes its hope of human happiness and salvation. The fact that this critical study of the New Testament has been taken in hand entirely by persons anxious to believe as much of Christian faith as possible is an extraordinary and almost incredible testimony to the moral dignity and intellectual sincerity of our age; and the fact that, to find a perfect example of modern historical method, it is necessary to turn to this particular field, shows that theologians have by no means adopted a weapon which others had prepared, but have gone ahead of historians in the sphere of historical technique. It is safe to say that nowadays the average profes­ sional historian is far less critical in his attitude to Herodotus than the average professional theologian in his attitude to St Marc.“222 Der von Collingwood geforderte Umgang mit den Quellen, seine Question-Answer-Logic, lässt sich mit der Auffassung, die Geschichte sei als Ab­ folge von Challenge und Response zu verstehen (Toynbee), gut vermitteln (auch wenn Collingwood Toynbee sehr kritisch beurteilt).223 Das entspricht 221  Collingwood,

S. 237. S.  387 f. 223  Collingwood kritisiert aber, dass Toynbee Gesellschaften mit naturwissen­ schaftlichen Methoden untersucht, er betrachte sie als biologische und nicht als mentale Entitäten (Collingwood, S. 163). 222  Collingwood,



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dem vorne skizzierten reformierten Geschichtsverständnis bei Calvin: Ge­ schichte ist nicht als teleologischer Ablauf zu verstehen, sondern als die Zeit, in der sich Herausforderungen stellen, auf die Antworten vereinbart werden müssen. Geschichte hat damit ihren Anfang nicht nur in der Vergan­ genheit, sondern auch in der Zukunft. Das Verhältnis zwischen Freiheit und Gesetz wird in der Praxis der Schriftauslegung anschaulich als Gebundenheit an die Schrift bei gleichzei­ tiger Freiheit der Interpretation. Die an die Schrift gebundene Interpreta­ tionsgemeinschaft bleibt in dieser Bindung nur, wenn sie die Schrift nicht eindeutig auslegt, sondern der historisch-kritischen Überprüfung unterwirft. Im anderen Falle unterwürfe sie sich und die Schrift wiederum einer als gültig festgelegten Interpretation, sei es die einer bestimmten gewachsenen Tradition oder die einer Schulphilosophie. Die Interpretation ist an die Schrift gebunden, aber ausgerichtet auf eine Lebenswelt, die ebenfalls in einen historisch-kritischen, besser gesagt in einen geschichtlich-kritischen Blick genommen werden muss.224 Denn die Interpretationsgemeinschaft der reformierten Gemeinden ist in einer Welt, die selber nichts anderes ist als Interpretation. Die Schrift wird im Hinblick auf die Welt, über die es sich ebenfalls zu verständigen gilt, ausgelegt mit dem Ziel, Herausforderungen rechtzeitig zu verstehen und ihnen erfolgreich zu begegnen. Die Freiheit der Interpretation kann auch unter Rekurs auf eine Stelle bei Karl Marx verstanden werden. Es wird von Marx zugestanden, dass die Menschen ihre Geschichte selber machen, aber unter den jeweils gegebenen 224  Heidegger versteht das Geschichtliche im Unterschied zum Historischen. Die­ se Unterscheidung ist im Hinblick auf die Beurteilung einer Lage und der Ausrich­ tung des Handelns von entscheidender Bedeutung, denn im Unterschied zu Histori­ schen ist das Geschichtliche als Geschichtsmächtigkeit zu verstehen: „Das Geschehen und die Geschichte ist (sic!) nicht das Vergangene und das als solches Betrachtete, d. h. das Historische. Das Geschehen ist aber ebensowenig das Gegen­ wärtige. Das Geschehen und Geschehende der Geschichte ist zuerst und immer das Zukünftige, das verhüllt auf uns Zukommende, aufschließende, wagende Vorgehen, das zu sich Vorzwingende. Das Zukünftige ist der Anfang alles Geschehens. Im Anfang liegt alles beschlossen. Wenngleich das Begonnene und Gewordene alsbald über seinen Anfang hinwegzuschreiten scheint, bleibt dieser – scheinbar selbst das Vergangene geworden – doch in Kraft und das noch Wesende, mit dem jedes Künf­ tige in die Auseinandersetzung kommt.“ (Heidegger 1992, S. 36). Damit wird kon­ servative Politik für Heidegger zu einem Selbstwiderspruch: „Der ursprüngliche und echte Bezug zum Anfang ist deshalb das Revolutionäre, das durch die Umwälzung des Gewöhnlichen das verborgene Gesetz des Anfangs wieder ins Freie bringt. Der Anfang wird deshalb gerade nicht bewahrt – weil gar nicht erreicht – durch das Konservative.“ (Heidegger 1992, S. 37). Und weiter: „Denn durch bloßes Erhalten läßt sich gerade der Anfang nie fassen, weil Anfangen heißt: aus dem Zukünftigen, Ungewöhnlichen denken und handeln, aus dem Verzicht auf die Krücken und Aus­ wege des Gewöhnlichen und Gewohnten.“ (Heidegger 1992, S. 41).

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Umständen: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie ma­ chen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“225 Analog lässt sich die Schriftauslegung begreifen: Übersetzung und Ausle­ gung bleiben an den Text gebunden, sind aber frei, ihn in ihre Lebenswelt verständlich zu vermitteln, sofern dies im Rahmen eines Diskurses der In­ terpretationsgemeinschaft geschieht. Das hat auf das Verständnis und die Gestaltung der Lebenswelt Auswirkungen. Auslegung ist damit auch nicht creatio ex nihilo, sie steht in einer Inter­ pretationsgeschichte. Insofern ist Kirche die Kirche der Lebenden und der Toten. Die Interpretationsgemeinschaft Kirche umfasst nicht alleine die jetzt Interpretierenden, sie ist auch die Gegenwart vergangener Interpretation im Hinblick auf die Möglichkeit zukünftiger Interpretation. Die Freiheit in der Bindung an die Textüberlieferung setzt die Interpretation der Schrift inso­ fern gegenüber der Tradition frei, als sie der Verknöcherung in eine festge­ schriebene und zeitbedingte Übersetzung und Auslegung wehrt. Dennoch bleibt die hermeneutische Arbeit der Vergangenheit präsent. Im Hinblick auf sie geschieht die Neuausrichtung. Die reformierte Tradition, die Überset­ zung der Bibel nach Abschluss einer Übersetzung wieder von vorne neu zu beginnen, so dass seit Zwinglis Übersetzung bis heute im Abstand von ungefähr siebzig Jahren stets eine Neuübersetzung der Zürcher Bibel vorlag, verdankt sich nicht allein der Nähe der Schweizer Reformation zum Huma­ nismus, sondern auch dem reformierten Verständnis des Schriftprinzips. Die Schrift leitet die Interpretation der Gemeinde, verwehrt dem Einzelnen, Empfänger unmittelbarer Offenbarung zu sein, und befreit ihn vom Zwang zur eigenen Identitätssicherung über wörtliches Bibelverständnis. Die Gläu­ bigen machen also die Geschichte ihrer Interpretationsgemeinschaft selber, aber nicht aus freien Stücken, sondern im Rahmen der unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und bindenden biblischen Überlieferung. Es ist darum misslich, und hier sei ein Vorgriff schon auf Bucers Herme­ neutik erlaubt, die in den Kontext der reformierten Hermeneutik zu verorten ist, dass Johannes Müller in seiner gründlichen Ausarbeitung der Hermeneu­ tik Bucers mit dessen Menschenbild, mit seiner Psychologie anhebt und nicht mit seiner Ekklesiologie.226 Das Menschenbild Bucers ist im Hinblick auf sein Verständnis des Geistes nicht Grundlage seiner Ekklesiologie, viel­ mehr lässt sich seine Anthropologie alleine aus seiner Ekklesiologie verste­ hen. Bucer gehört damit zur reformierten Tradition, obwohl er sich in seinen 225  Marx

(1974), S. 15. Johannes, S. 18 f.: „Bucer verwendet seine ganze Sorgfalt darauf, den Akt des Glaubens, der die Wiedergeburt einleitet, psychologisch verständlich zu machen.“ (Müller, Johannes, S. 18). 226  Müller,



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späteren Jahren wieder sehr der Theologie Luthers angenähert hat. Grund­ sätzlich gilt aber: Das Subjekt des Glaubens ist im reformierten Verständnis nicht der individuelle Christ, sondern die Kirche als die Gemeinschaft des Glaubens. Sie ist das Subjekt der Exegese. Die Übersetzung der Zürcher Bibel als andauernder Prozess geht auf Zwingli zurück. Am 19.6.1525 wurde in Zürich die Prophezey eröffnet. Ihre Lehrtätigkeit erfolgte öffentlich. Die Bibeltexte wurden zunächst in hebräischer, dann in griechischer und schließlich in lateinischer Sprache vorgelesen. Nach jeder Lesung erfolgte eine sowohl philologische als auch sachliche Erläuterung. Fragen und Anregungen der Zuhörer waren er­ wünscht.227 Wer die Schrift auslegte, musste dies öffentlich rechtfertigen. Die Schrift gehört nicht demjenigen, der sie übersetzt, sie gehört allen, die sie lesen und hören. Darum setzt die Exegese Öffentlichkeit zum Zwecke der Kritik voraus. In diesem hermeneutischen Geist schreibt Calvin an Si­ mon Grynäus, er wisse, dass viele vor ihm schon den Römerbrief kommen­ tiert hätten, „(d)ennoch wird mir hoffentlich zugestanden, dass nichts unter Menschen jemals so vollkommen gewesen ist, um nicht der Anstrengung der Späteren in der Ausarbeitung, Ausschmückung oder Erläuterung noch Raum zu lassen.“228 Mission war entsprechend für die Reformierten in der Regel Bildung als Ermöglichung des freien Zugangs zur Schrift.229 Man kann daher sagen: Die bürgerliche Freiheit fand in der reformierten bibli­ schen Hermeneutik ihren ersten Ausdruck und ist in der Schriftauslegung das erste Mal eingeübt worden. Im Studium der Schrift ist Freiheit von der Tradition nur zu denken als Bindung an den Text und damit Freiheit zur Interpretation. In Bezug auf das dogmatische Denken schreibt Calvin: „In der Dogmatik hingegen, in der der Herr in besonderer Weise die Übereinstimmung der Seinen gewünscht hat, sollen wir uns weniger Freiheit nehmen.“230 Im Rahmen der Schriftgebun­ denheit sei uns in der Dogmatik auch Freiheit zugestanden, allerdings weniger als im Studium der Schrift. Hier zeigt sich, dass Calvin der Dogma­ tiker der Reformierten war, während Zwingli die Dogmatik eindeutig der Hermeneutik unterordnete. Calvin kann man darum auch nicht als einen Schüler Bucers betrachten, auch wenn er von Bucer tief beeindruckt war und seine Gemeindeorganisati­ on in Straßburg als Vorbild für Genf nahm. Theologisch unterscheiden sich beide darin, dass Bucer wie Zwingli primär Hermeneutiker und nicht Dog­ Locher, S.  161 f. (2005), S. 23. 229  Vgl. Eichhorn (2002). 230  Calvin (2005), S. 25. 227  Vgl.

228  Calvin

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matiker war. Für Calvin hatte die Dogmatik nicht nur mehr Gewicht, er kann als der erste Dogmatiker der reformierten Tradition gelten. Seine Institutio ist die erste systematische Glaubenslehre des reformatorischen Christentums. Bucer ordnete dagegen die Dogmatik der Exegese unter, folgte aber wieder­ um dabei nicht der humanistisch geleiteten Exegese Zwinglis, sondern be­ gründete sie pneumatologisch. Er unterstellte einen afflatus spiritus, d. h. er begriff den Verstand in der rechten Schriftauslegung als vom Heiligen Geist gelenkt. Der menschliche Verstand sei ohne die Hilfe des Heiligen Geistes nicht in der Lage, den Autor der Schrift, nämlich selbigen Heiligen Geist, zu verstehen. Bucer stand also auf dem Standpunkt der Inspirationslehre. Was auf den ersten Blick fundamentalistisch klingt, ist bei genauerem Zusehen das Gegenteil. Bucer entpuppt sich in seiner pneumatologischen Argumentation als ein Exeget, der die recht verstandene Freiheit der Inter­ pretation nicht nur gegen eine bestimmte Schultradition der Auslegung, sondern auch gegen die Dogmatik verteidigen will: Die Autoren der Schrift hätten den Text nicht wörtlich diktiert bekommen, sondern philologische Freiheit gehabt in der Wahl der Formulierungen. Johannes Müller schreibt zur Hermeneutik Bucers: „Bucers Inspirationslehre ist offensichtlich ein Kompromiß zweier einander widerstrebenden Tendenzen. Bucers Offenba­ rungslehre mit ihrer extremen Fassung der Antithese ‚Deus verax – homo mendax‘ fordert die Verbalinspiration. Nur Bucers exegetischer Sinn und seine glänzende humanistisch-philologische Schulung konnten eine Ab­ schwächung der Verbalinspiration erreichen. Diese Kompromißformel läßt Bucer aufgrund ihrer Unklarheit sowohl vom Heiligen Geist, als auch vom biblischen Schreiber als vom Urheber der sprachlichen Fassung der Heili­ gen Schrift reden. Der Vorteil dieser Lösung war bestechend: Die Objekti­ vität des Bibelwortes blieb gewahrt, und dennoch war, in gewissen Grenzen, eine kritische Exegese möglich.“231 Es ging Bucer jedoch nicht nur um eine kritische Exegese, sondern auch um die Kritik der Exegeten selber. Wie beim Verfassen, so ist auch beim Lesen und Hören davon auszugehen, dass das Verständnis eine Kooperation von Leser bzw. Hörer und Heiligem Geist ist, was eine endgültig Festle­ gung einer Lesart auf Grund der Inspirationslehre ausschließt. Bucer wendet somit eine Lesart, die fundamentalistisches Bibelverständnis bis heute legi­ timiert, gegen denselben Fundamentalismus an. Damit begründete er die Freiheit der Hermeneutik bzw. über die Hermeneutik die Freiheit der Inter­ pretation in dem Sinn, wie sie z. B. von der Rezeptionstheorie ausformuliert worden ist.232 231  Müller,

Johannes, S. 75. Robert Jauß unterscheidet in der ästhetischen Erfahrung zwischen Poi­ esis, Aisthesis und Katharsis. In der Rezeption eines Werkes sei der Rezipient in alle 232  Hans



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Wenn Ulrich K. Preuß darauf hinweist, die Bedeutung der Schriftlichkeit der Verfassung sei in Amerika mit dem protestantischen Glauben an die Autorität der Schrift verbunden gewesen, und unter Verweis auf eine Be­ merkung von Thomas Paine, der die Verfassung als die politische Bibel des Staates bezeichnet habe, weiter schreibt: „Deutlich klingt hier an, daß die Verfassung für die amerikanischen Siedler und ihre politischen Absichten einen ähnlichen Status hatte wie die Luther’sche Übersetzung für den Pro­ testantismus“, dann wird nur die Schriftgebundenheit betont, aber nicht das spezifisch protestantische Prinzip, dass die Schrift sich selber Interpretin ist, abgesehen davon, dass Preuß nur auf die Lutheraner rekurriert.233 Denn die Lektüre sowohl der Schrift als auch der Verfassung im Sinne des originalism ist nicht im Sinne reformierter Exegese. Der freie Zugang zur Schrift für alle bestimmt und sichert die Ordnung der Gemeinde als Anordnung zur demokratischen Deliberation und Ent­ scheidungsfindung. Den freien Zugang zur Schrift sichert wiederum diese Ordnung der Gemeinde, die gemäß der reformierten Tradition immer Be­ standteil des Bekenntnisses ist. Die Kirche versteht sich so als ecclesia reformata et semper reformanda. Kirche ist immer Gemeinde, aber nicht jede Gemeinde ist Kirche! Die Schrift ist, mehr noch als die Gemeindebekenntnisse, die eigentliche Verfas­ sungsurkunde der Kirche. Ihre Auslegung bestimmt die Bekenntnisse, die Bekenntnisse wiederum leiten die Auslegung inhaltlich und praktisch. Sie bündeln die Interpretation in Lehrsätze und bestimmen den institutionellen Rahmen der Gemeinde, der die Freiheit der Interpretation zu sichern hat. Die Bedeutung der reformierten Bekenntnisse für die Herausbildung der staatlichen demokratischen Ordnung, beispielsweise in den USA, stellt ein Thema dar, das den Rahmen der vorliegenden Fragestellung sprengte.234 Es geht hier nicht um juristischen bzw. politischen Nachvollzug der Institutio­ nenbildung, sondern darum, ihre logische Grundierung freizulegen. Die re­ formierten Gemeindeordnungen schützen im Kern schon das, was später drei Vorgänge mit einbezogen. In der Konfrontation des Werkes mit der Lebenssitu­ ation der Betrachter, Leser oder Hörer würden sie selber Schöpfer oder Autoren dessen, was sich uns darbiete. „(D)as vollendete Werk entfaltet in der fortschreiten­ den Aisthesis und Auslegung eine Bedeutungsfülle, die den Horizont seiner Entste­ hung bei weitem übersteigt.“ (Jauß, S. 89) 233  Preuß, S. 22. 234  Vgl. Perry, der freilich ganz in der Tradition Webers auch die Moral in den Fokus nimmt: „Democracy, like puritanism, has its perennial spring in the moral consciousness“ (Perry, S. 628), ausgehend davon, dass der Staat nicht als ein Gefü­ ge von Institutionen gesehen wird, sondern unbestimmt als „a system of political habits, of ways of thinking, feeling and acting, which are shared and reciprocally adjusted.“ (Perry, S. 28).

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offene Gesellschaft genannt wird. Darum ist die Bekenntnisbildung bei den Reformierten, anders als im Luthertum, nie für abgeschlossen erklärt wor­ den (die Barmer Theologische Erklärung heißt Erklärung in Rücksicht auf die Lutheraner, für die Reformierten ist sie ein Bekenntnis).235 Wie gegenüber der Schrift gilt auch gegenüber dem Bekenntnis die spe­ zielle biblisch begründete Freiheit der Gemeinde, die sich nicht der Ver­ nunft, sondern ihrer Erwählung verdankt, auferstandener Leib des Herrn zu sein. Die Gemeinde ist damit nicht als autonom zu denken, denn dann wäre sie nicht Kirche. Letztlich spielt Autonomie dennoch mit hinein, wenn man an das Prinzip denkt, dass die Schrift sich selber auslegt. Hier wird nicht wie von Kant der Vernunft, sondern der Schrift die Autonomie zuge­ sprochen. Der springende Punkt ist, dass mit der Autonomie der Schrift die Eindeutigkeit der Schrift ausgeschlossen wird, m. a. W. die Schrift wird gerade im Hinblick auf den afflatus spiritus nicht als mit sich selbst iden­ tisch angenommen, sondern im Sinne der Rezeptionstheorie als lebendig. Erst die Nichtidentität eröffnet die Freiheit der Interpretation. Kants Auto­ nomie ist im Vergleich dazu keine Freiheit im republikanischen Sinn, auch keine Freiheit des Einzelnen, sondern Autonomie der mit sich selbst iden­ tisch bleibenden Vernunft. Aus reformierter theologischer Sicht wie auch aus der Sicht Hegels ist alles, was danach trachtet, mit sich selber identisch zu bleiben, unfrei, mehr noch: nichtig, während alle, die Identität der Frei­ heit vorziehen, alles, was frei ist, als beliebig betrachten. Der Vorwurf ist aber nicht gerechtfertigt. Er wäre es nur, wenn die Freiheit Individuen zu­ gesprochen würde. Es handelt sich bei der reformierten Bibelexegese aber um soziale Rezeption. Der Vorwurf der Beliebigkeit unterstellt jenen, denen er gemacht wird, sie dächten wie jene, die den Vorwurf erheben. So ist die Autonomie derjenigen, die sich auf Kant berufen, nur eine scheinbare Au­ tonomie, tatsächlich ein Zwang, Vernunft in einer bestimmten Weise zu denken. Kants Verständnis von Autonomie sowie auch von Mündigkeit, Mündig­ keit nämlich nur im öffentlichen, nicht im privaten Gebrauch der Vernunft, ist mit dem reformierten Freiheitsdenken nicht vereinbar. Statt des dreifa­ chen Gesetzesgebrauchs kennt Kant einen zweifachen Vernunftgebrauch, den privaten und den öffentlichen Gebrauch, was sich nicht in eine Formel bringen lässt wie Sünde und Rechtfertigung in der reformatorischen Formel simul iustus et peccator, im Gegenteil: Während der Sünder zugleich der Gerechtfertigte ist und dennoch als Gerechtfertigter Sünder bleibt, während 235  Die Barmer Erklärung wurde auf der Bekenntnissynode in Wuppertal-Barmen vom 29. bis 31. Mai 1934 verabschiedet und begründete im Kirchenkampf die Be­ kennende Kirche, die sich, anders als die fortbestehende Reichskirche, den Gleich­ schaltungsversuchen der Nationalsozialisten widersetzte.



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er in dieser Spannung der Nichtidentität lebt, schweigt die Vernunft als öffentliche Vernunft gerade in ihrem privaten Gebrauch. Beides lässt sich nicht miteinander vermitteln. Die Autonomie der Vernunft ist das eigentliche Anliegen Kants gewesen, und sie war nur so zu begründen, dass ihre Dialektik als Schein überführt werden musste, um die Fragen, die nach Kant die Vernunft bedrängen, über die praktische Vernunft entscheiden zu können. Die Einheit der Vernunft wird nur gesichert über die Behauptung der Dichotomie im Handeln, das, wie oben gezeigt, Dewey zu einem entschiedenen Gegner des deutschen Idealismus hat werden lassen. Die Autonomie dieser Vernunft ist nicht nur in pragmatischer Hinsicht irrelevant, sie ist nicht das Sein dieser Vernunft. Freiheit kann dieser Autonomie entsprechend im Rahmen der Weltklugheit als ein Wert unter anderen verstanden werden, vielleicht sogar als ein Grundwert. Sie lässt sich niemals als ihr Prinzip denken. Erst die Autono­ mie der Schrift als Einladung zur Interpretation im Rahmen einer Interpre­ tationsgemeinschaft begründet wirkliche, republikanische Freiheit, die pragmatische Freiheit ist, und das ist Freiheit zum Pragmatismus. Ihr gegen­ über sind alle Werte relativ. Heiko Oberman übersieht das, wenn er schreibt: „Paradoxerweise musste der Beitrag des Calvinismus zum modernen Staat und zur heutigen Gesell­ schaftsordnung dem Calvinismus abgerungen werden und trug erst Früchte, nachdem er in seinem Versuch gescheitert war, die Macht zu ergreifen. Erst dann, dann aber mit wahrhaft gewaltiger Verve, wurde er zu einer Säule der Demokratie und Toleranz. Dies kennzeichnet die Grenzen von Calvins Erbe, jedenfalls was den Bereich des öffentlichen Lebens betrifft“.236 Bei Oberman bleibt die Frage unbeantwortet, wer dem Calvinismus sei­ nen Beitrag zur Moderne und unserem heutigen Freiheitsverständnis abge­ rungen haben soll. Dass der Calvinismus mit wahrhaft gewaltiger Verve zu einer Säule der Demokratie und Toleranz hat werden können, wie Oberman urteilt, oder im Sinne Max Webers als der eigentliche Betreiber der moder­ nen Gesellschaften im Westen anzusehen ist, setzt voraus, dass diese Leis­ tung nicht von außen der reformierten Theologie abgerungen, sondern in­ nerhalb der reformierten Theologie durchgesetzt werden konnte. Wie sonst hätte sich der Calvinismus mit Verve für etwas gewinnen lassen können, hätte es nicht zumindest einem Moment seines Wesens entsprochen und ihn motiviert, seine eigene Neutralisierung anzustreben. Die Antwort darauf scheint mir zu sein, dass die Autonomie der Schrift und die sie begründen­ de Freiheit der Interpretation dafür entscheidend waren. Es entspricht der reformierten Rezeption der Reformatoren, sie vor allem als Exegeten zu 236  Oberman,

S. 217.

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lesen und ihre Auslegungspraxis zum Vorbild dafür zu nehmen, sie selber auszulegen. Dann wäre aber nicht dem Calvinismus zuzusprechen, mit Ver­ ve zur Säule von Demokratie und Toleranz geworden zu sein. Die refor­ mierte Theologie hat das nur werden können, indem sie die Bedeutung der Hermeneutik gegen den Calvinismus wieder mehr betonte als die Dogmatik. Wenn der reformierten Auffassung gemäß nicht der Einzelne die Schrift für sich auslegt, sondern die Interpretationsgemeinschaft das Subjekt der Schriftauslegung ist, die ihre eigene Geschichte im Blick hat und sich aus ihr heraus in die Zukunft entwirft, wirft das erneut die Frage auf, wie eine solche Interpretationsgemeinschaft verfasst sein muss, um geschichtsmäch­ tig zu bleiben. Sie bedarf einer Verfassung, die ihrer Hermeneutik entspricht. Diese Verfassung sichert nicht die Eindeutigkeit des Schriftverständnisses, sondern anerkennt und begrüßt Kontroversalität in der Auslegung. Die Mög­ lichkeit der kontroversen Interpretation setzt Bereitschaft zum Kompromiss voraus und muss die Kompromisslosigkeit ausschließen. Dieser Bereitschaft müssen Institutionen korrespondieren, die sich gegebenenfalls zu blockieren vermögen, und nicht Institutionen, die über eine Hierarchie Entscheidungen durchsetzen können. Neben der Gewaltenteilung wird man in diesem Zu­ sammenhang noch an eine föderal organisierte Gewaltenteilung inklusive der Beachtung des Subsidiaritätsprinzips zu denken haben.237 Einer Kultur der Hermeneutik, die der Neutralisierung verpflichtet ist und nicht der Festschreibung einer verpflichtenden Interpretation, leisteten zu­ dem noch die innerreformatorischen Widersprüche erheblichen Vorschub. Der Druck aus dem römisch-katholischen Bereich zwang die reformatori­ schen Bekenntnisse zum innerreformatorischen Kompromiss, auch wenn sich die Protagonisten der theologischen Auseinandersetzungen, allen voran Luther, immer wieder Kompromissen zu widersetzen trachteten. Das hatte zur Folge, dass die Vermittler, die sich zur Vermittlung durch den Umstand eigneten, dass sie der Rolle eines Protagonisten zu entsagen bereit waren, in ihrer Rolle aufgewertet wurden. Ihre Rolle war durch die Bibelauslegung geprägt, weil Exegese im Kern schon Vermittlung ist. Die Suche nach Kom­ promissen setzt die Bereitschaft zur Interpretation voraus. Der Respekt vor dem Prinzip, dass die Schrift sich selber Interpretin ist, ist Einübung in die 237  Eva Maria Hausteiner weist darauf hin, dass weltweit der Föderalismus als einem Ordnungssystem jenseits des Staates einen Aufwind erfahre: „Sowohl Groß­ britannien als auch Spanien reagieren auf separatistische Tendenzen mit Autonomie­ zugeständnissen und Dezentralisierung durch Verfassungstransformation, und Kana­ das Politik regionaler Autonomie gilt als zentrales Beispiel für die Stabilisierung ethnischer und vor allem linguistischer Diversität.“ (Hausteiner 2016, S. 11) Freilich dient damit der Föderalismus fatalerweise gerade der Identitätssicherung. Es muss damit die Souveränität bei der als Republik konstituierten Republik verbleiben. Im­ merhin bedingt der Föderalismus ein Zweikammernsystem in der Gesetzgebung.



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Neutralität im theologischen Streit, die keine Neutralität im Sinne der rich­ terlichen, überparteilichen Unabhängigkeit ist, sondern theologisch beteiligte Neutralität. Sie muss sich ihren Ort in den Auseinandersetzungen jeweils neu suchen. Das ist das Moment der reformierten Theologie, das mit der von Oberman bemerkten Verve die Neutralisierung der Theologie bis hin zu ihrer Verwindung zu motivieren vermochte. Der theologische Diskurs wurde weder unterbrochen noch abgebrochen, stattdessen wurde den Begriffen ihre semantische Eindeutigkeit genommen. Sie wurden verflüssigt. Damit entsprachen sie plötzlich dem Gegenstand, den sie zu fassen ver­ suchten, strukturell, nämlich dem dreieinigen Gott, der sich in der Schrift offenbart. Die Schriftgebundenheit Gottes ist ebenso wie die Schriftgebun­ denheit der Kirche die Begründung seiner Freiheit. Der Gott der biblischen Offenbarung ist im Unterschied zum Gott der Philosophen kein Postulat, keine absolute Instanz, sondern lebendig, und er ist nicht transzendent, sondern gegenwärtig in der Interpretation der Schrift, in der er sich letztlich selbst interpretiert. Zwischen Gott und seinem Wort kann so wenig unter­ schieden werden, wie die Rezeptionstheorie zwischen Werk und Wirkung unterscheidet.238 Als Bundesgott ist er nicht Substanz, sondern Relation und damit Subjekt mit einer Geschichte. So zeigt sich, dass die reformierte Hermeneutik als kirchliche und nicht nur akademische Hermeneutik einer Theologik sowohl unterworfen bleibt, sie aber auch in ihrer Schriftgebun­ denheit erst offenlegt und entwickelt. In der Interpretation geschieht Selbst­ offenbarung Gottes, die theologisch Geist genannt wird. „Die Wirklichkeit ist vollständig erkannt, sobald sie in ein System von Bewegungen aufgelöst ist“,239 heißt es bei Ernst Cassirer. Aus Substanzbe­ griffen werden Relationsbegriffe in dem Sinne, dass sie Bedeutungsfelder zwar begrenzen, aber Interpretationen zulassen, in denen sich antagonistisch gegenüberstehenden Positionen als aufgehoben betrachten können. Die Lo­ gik der Theologie ist die Analogie, über die es bei Cassirer heißt: „Die echte und wahrhaft fruchtbare Analogie beruht denn auch nicht auf einer sinnlichen Übereinstimmung der Merkmale, sondern auf einer begrifflichen Übereinstimmung im Relationsgefüge.“240 Das ist, auf die Theologie über­ tragen, analogia fidei. Zu ihren Protagonisten gehörten u. a. Paulus, Martin Bucer und Karl Barth. Im Hinblick auf die Schaffung von Institutionen der Neutralisierung als der unabdingbaren Voraussetzung des modernen republikanischen Selbst­ verständnisses darf weniger Calvin als Betreiber des Prozesses der Neutra­ 238  Jauß,

S. 62. S. 156. 240  Cassirer, S.  333 f. 239  Cassirer,

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lisierung angesehen werden, schon gar nicht Luther, aber auch nicht Zwing­ li, sondern eine Linie von Autoren, die über den Jahwisten im Alten Testament über Paulus und Martin Bucer hin zu Karl Barth führt. Die Interpretationsgemeinschaft der Kirche ist aber nicht nur als Gemein­ schaft im Wort zu denken, sondern auch als Gemeinschaft im Sakrament. Während im reformatorischen Lager Einigkeit über das Schriftprinzip herrschte, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen und schließlich zur Kirchentrennung wegen des unterschiedlichen Abendmahlsverständnisses. Selbst unter den Reformierten war das Abendmahl umstritten. Alle namhaf­ ten Reformatoren bemühten sich zudem um ein eigenes Abendmahlsver­ ständnis. Das erscheint heute im Rückblick unverständlich. Auch hier ging es um Schriftauslegung, d. h. darum, wie die Einsetzungsworte, die die synoptischen Evangelien und der Erste Korintherbrief ( 1 Kor 11, 23–26) überliefern, zu verstehen sind, doch etwas anderes spielte noch mit: Es ging auch um das Verhältnis von Dogmatik und Hermeneutik. Die Eucharistie war zur Reformationszeit ein seit mehr als vierhundert Jahre altes Ritual, in dem die aristotelische Logik zum sinnlichen Erlebnis geworden war. Um diesen Streit in seiner ganzen Reichweite verstehen zu können, bedarf es darum zunächst einer Betrachtung des Altarsakraments und seiner Bedeutung für die Verfassung der Kirche des Hochmittelalters. Die Auseinandersetzungen um Eucharistie und Abendmahl sind nicht alleine Kämpfe um liebgewordene Riten und Gewohnheiten gewesen. Es ging um das, was als logisch selbstverständlich galt und um die Anschaulichkeit der selbstverständlichen Logik in Ritualen und Institutionen für jene, denen die Feinheiten der aristotelischen Distinktionen nicht geläufig waren. Rituale bestätigen Logik über Anschauung, sei diese Logik mythologischer, aristo­ telischer oder welcher logischen Art auch immer.

B. Der Streit um das Abendmahl I. Wort und Sakrament als Handlungslogik Im Zusammenhang mit dem politischen Selbstverständnis einer Gesell­ schaft, ihrer Logik und der entsprechenden Sozialisierung spielen Rituale eine entscheidende Rolle.1 Sie üben über ihren Vollzug das Selbstver­ ständliche der Logik ästhetisch ein. Dass Bekenntnisgemeinschaften nicht nur eine gemeinsame Wertevorstel­ lung eint, sondern dass sie einer gemeinsamen Logik nicht entbehren kön­ nen, hat Emile Durkheim betont: Eine Kategorie werde dann als notwendig betrachtet, „wenn sie sich durch einen inneren Zwang dem Geist aufdrängt, ohne von irgendeinem Beweis begleitet zu sein. Sie beinhaltet also in sich etwas, das die Intelligenz bestimmt, das Zustimmung ohne vorhergehende Prüfung abverlangt. (…) Wenn sich also die Menschen zu allen Zeiten nicht über diese wesentlichen Ideen hätten einigen können, wenn sie nicht eine einheitliche Auffassung der Zeit, des Raums, der Ursache, der Zahl usw. hätten, dann würde jede Übereinkunft unter den Geistern, und folglich jedes gemeinsame Leben unmöglich sein. Daher kann die Gesellschaft die Kate­ gorien nicht der Willkür der Individuen überlassen, ohne sich selbst aufzu­ geben. Um leben zu können, braucht sie nicht nur einen genügenden mora­ lischen Konformismus; es muß auch ein Minimum an logischem Konfor­ mismus vorhanden sein, den sie nicht entbehren kann. Aus diesem Grund setzt sie ihre ganze Autorität gegenüber ihren Mitgliedern ein, um Mei­ nungsverschiedenheiten zu vermeiden.“2 1  In der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann geht es umfassender um das gesellschaftliche Selbstverständnis, Logik spielt in Bezug auf die Institutionen eine untergeordnete Rolle: „Die Logik steckt nicht in den Institutionen und ihrer äußeren Funktionalität, sondern in der Art, in der über sie reflektiert wird. Anders ausgedrückt: das reflektierende Bewußtsein überlagert die institutionale Ordnung mit seiner eigenen Logik.“ (Berger/Luckmann, S.  68 f.). Berger und Luckmann fassen den Begriff der Institution aber weiter: „Institutionalisierung findet statt, sobald ha­ bitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution.“ (Berger/Luckmann, S. 58). Demgegenüber geht es in der vorliegenden Untersuchung um Institutionen als Verfahren. Der Begriff der Institution wird auf Verfahren beschränkt, deren Ergebnisse allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen. 2  Durkheim, S. 38.

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B. Der Streit um das Abendmahl

In den institutionell abgesicherten Verfahren wird diese selbstverständ­ liche Logik erlebt, in den Ritualen wird sie anschaulich. Zeit und Raum und die von Durkheim noch aufgezählten Begriffe lassen sich auf den Begriff der Substanz beziehen, so dass, wer den Substanzbegriff als solchen in Frage stellt, damit dem Denken und den auf ihm beruhenden Verfahren der formalisierten Sprechakte an die Substanz geht. Die Heilige Messe war zur Zeit der Reformation ein zentrales Ritual, das die Kirche als Institution absicherte. Die Entscheidung, jemanden von der Heiligen Messe und dem Genuss des Messopfers auszuschließen, war an institutionelle Verfahren gebunden. Die Entscheidung hatte für die ökono­ mische und politische Existenz der Betroffenen weitreichende Folgen. Vor der Trennung von Kirche und weltlicher Obrigkeit lässt sich gar nicht klar zwischen Ritualen und institutionellen Verfahren unterscheiden. Die Chris­ tengemeinden und die Bürgergemeinden waren personell identisch. Die kirchlichen Entscheidungsverfahren waren ab dem Hochmittelalter stärker institutionalisiert als die weltlichen Entscheidungsverfahren. Das hatte Ur­ sachen, und das hatte Folgen. Was die Ursachen betrifft, spielte ab dem elften Jahrhundert ein neues Verständnis des Altarsakraments der Eucharistie eine entscheidende Rolle. Seine Logik legitimierte die kirchlich institutionalisierten Entscheidungsver­ fahren, und sein Ritual machte ihre Logik anschaulich. Mit der Teilnahme am Ritual wurde die Anerkennung der ihm zu Grunde liegenden Logik vollzogen. In der Gewährung der Sakramente wurde die Anerkennung amt­ lich bestätigt. Das Politische fand so seinen Ausdruck im theologischen Denken. Das ist spätestens seit der Spätantike offensichtlich. Die Verwal­ tung dieser Logik, die die Verfassung des Politischen verständlich machte, oblag der kirchlichen Verkündigung in Lehre und Sakrament. Trinität, im­ manent und ökonomisch gedacht, spielt im Altarsakrament die entscheiden­ de Rolle und wird im Empfang des Sakraments erfahren. Dass es schon in der Spätantike im Streit um das Verhältnis zwischen Vater, Sohn und schließlich auch dem Heiligem Geist um das Verständnis der Verfasstheit von Macht ging, um das Verständnis und Selbstverständnis der Macht des Kaisers, insbesondere auch gegenüber der Kirche, ist von Erik Peterson in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts thematisiert worden. Zwischen Carl Schmitt und Peterson bestand Einigkeit darüber, dass juristische Begriffe säkularisierte theologische Begriffe seien. Peterson, der später zum Katholizismus konvertierte Lutheraner, verstand seinen Be­ griff des Politischen aber im Widerspruch zu Carl Schmitt vom Staat her, während Schmitt den Begriff des Politischen dem des Staates logisch vor­ ordnete. Das hat im Zusammenhang mit der hier vorgeschlagenen Unter­ scheidung zwischen Staat und Republik und im Hinblick auf Böckenfördes



I. Wort und Sakrament als Handlungslogik135

Behauptung der Voraussetzungen, die der Staat habe, ohne für sie sorgen zu können, unmittelbare Bedeutung und verdient, kurz erörtert zu werden. Denn wenn auch Peterson das Politische dem Staat zuwies, verband er da­ mit keineswegs eine Emanzipation des Politischen von der Theologie, son­ dern umgekehrt die Autonomie der Theologie gegenüber den politischen Machthabern. Peterson teilte Schmitts Verständnis des Politischen und entsprechend Schmitts Behauptung, es gebe keine unpolitische Theologie, keineswegs. Er widersprach Schmitts Verständnis der politischen Logik als einer Konven­ tion, nämlich dass die Entscheidung darüber, ob etwas politisch sei oder nicht, schon als politische Entscheidung begriffen werden müsse.3 Peter­ son wollte die letztendliche Hoheit über die Semantik des Theologischen und damit implizit auch des Politischen der Kirche vorbehalten. Das Politi­ sche ist für Erikson die Substanz des Staates. Der Staat verwaltet den Be­ reich des Politischen. Die Theologie ist dagegen die Sache der Kirche. Die Verwaltung und Pflege ihrer Logik über die Liturgie, die Sakramente und die Lehre der Kirche gehört zu dem, was im Hinblick auf Böckenförde zu den Voraussetzungen des Staates gezählt werden muss, über die der Staat selber nicht verfügt. Schmitts Begriff des Politischen ist dagegen nicht ein­ deutig, ist aber ganz und gar nicht Substanzbegriff. Die Deutungshoheit über das, was politisch oder nicht politisch ist, band er nicht an eine insti­ tutionelle Kontinuität, weder die Kirche noch den Staat. Sie war für ihn, darin ist Schmitt Republikaner, öffentliche Konvention. Wenn behauptet wird, die Entscheidung darüber, ob etwas politisch sei oder nicht, sei selber eine politische Entscheidung, ist das nicht so zu ver­ stehen, dass damit alles politisch wäre. Denn dann wäre der Begriff des Politischen der allgemeinste Begriff. Das Unpolitische weist vielmehr das Politische aus, dem es sich verdankt. Wäre alles politisch, gäbe es keine politische Entscheidung, die erst das Unpolitische aus sich heraus entlassen kann. Das, was unpolitisch ist, verdankt sich nicht sich selber, sondern einer politischen Entscheidung, die nicht vom Staat ausgeht, sondern die den Staat erst schafft. Sie ist damit allgemeine, öffentlich anerkannte Konventi­ on, die weder Staat noch Kirche verwalten, im Gegenteil: Das Politische im Sinne von Carl Schmitt geht nicht nur dem Staat, sondern auch der Kirche logisch voraus. Peterson behauptet umgekehrt einen Bereich der Logik, der sich nicht dem Politischen verdankt, sondern das Selbstverständnis des Politischen als Staat bedingt, die Theologie. Unter Berufung auf Gregor von Nyzanz und dessen Trinitätsverständnis, dass nämlich die Trinität keine Entsprechung in 3  Schmitt

(1979a), Vorbemerkung.

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B. Der Streit um das Abendmahl

der kreatürlichen Welt habe, schreibt er: „Damit ist nicht nur theologisch der Monotheismus erledigt und der christliche Glaube aus der Verkettung mit dem Imperium Romanum befreit worden, sondern auch grundsätzlich der Bruch mit jeder ‚politischen Theologie‘ vollzogen, die die christliche Verkündigung zur Rechtfertigung einer politischen Situation mißbraucht.“4 Peterson dachte eschatologisch und suchte einen Bereich abzusichern, der spirituelle Sicherheit gegenüber den Ansprüchen des Politischen gewähren sollte. Für Peterson ist darum der Begriff Gottes nicht eindeutig, sondern trinitarisch, um nicht politisch im Sinne einer Legitimierung der Monarchie oder einer politischen Identität wie dem Staat vereinnahmt werden zu kön­ nen. Umgekehrt ist der Begriff des Politischen für Schmitt nicht mit sich identisch. Für Schmitt ist das Politische das Absolute, für Peterson ist das Absolute der dreieinige Gott. Im Hinblick auf beide gilt zu bedenken, dass Entscheidungen notgedrun­ gen logische Unterscheidungen vorausgegangen sein müssen. Im Falle von Peterson ist diese Logik dogmatisch begründet, nicht wie im Reformierten­ tum hermeneutisch. Im politischen Unterscheiden des Politischen vom Un­ politischen handelt es sich um eine Unterscheidung des mit sich selbst Identischen, das etwas von sich selber unterscheidet, und das ist eine Logik, die auch die Theologie beherrscht. Sie begründet die Christologie, die Ek­ klesiologie und das innerweltliche Verhältnis der Mächte und Gewalten. Während Peterson das Politische als Substanz versteht, wie man heute von der Politik oder von der Wirtschaft spricht, als handelte es sich um abgrenz­ bare Seinsbereiche, ist für Schmitt das Politische im Sinne von Kant eigent­ lich gar kein empirischer Begriff, sondern eine Form der empirischen Anschauung. Dem setzt Peterson die Logik der spätantiken Theologie entgegen. Sie widersetzte sich in seinen Augen den Anmaßungen der weltlichen Mächte in Gestalt der Kaiser. Es handelt sich, mit Lyotard gesprochen, bei dem Streit zwischen Schmitt und Peterson nicht um einen Rechts‑, sondern um einen Widerstreit. Die Logik, auf die Peterson sich beruft, bedarf, will sie sich institutiona­ lisieren, der Anschauung. Über die Institutionalisierung wird aus einer An­ schauungsweise auf den ersten Blick ein Seinsbereich. In der Kirche wird der Seinsbereich dieser Logik der Theologie in den Sakramenten wiederum anschaulich gemacht. Das christologische Sakrament schlechthin ist die Eucharistie. Und es ist die Eucharistie, die im Hochmittelalter, also im elften Jahrhundert, in den Fokus der kirchlichen Öffentlichkeit tritt, als es erneut darum ging, gegenüber den Übergriffen der weltlichen Mächte, die­ ses Mal in Gestalt der mittelalterlichen Kaiser, Widerstand zu leisten. 4  Peterson,

S. 59.



I. Wort und Sakrament als Handlungslogik137

Darum ist es später auch der Abendmahlstreit gewesen, der die Reforma­ toren entzweite. Es ging nicht nur um einen Teilaspekt der Theologie, sondern um das zentrale Selbstverständnis einer Epoche, das die kirchliche sakramentale Praxis geprägt und gepflegt hatte. Die Folge der kulturellen Revolution, die das eucharistische Denken im Interesse der Institutionalisierung der Kirche beförderte, war dann auch die Institutionalisierung der weltlichen Macht als Staat, die es ebenfalls logisch und sakramental zu begründen und abzusichern galt. Substanzlogik und Relationslogik standen als unterschiedliche Konzepte zur Begründung von Institutionen zur Verfügung. Sie fanden ihren Ausdruck in theologischer Terminologie und in sakramentaler Praxis. Sie förderten jeweils ein unter­ schiedliches gesellschaftliches Verhalten. Der hierarchisierten Amtskirche entsprach im weltlichen Bereich der Staat, der städtischen Republik ent­ sprach im kirchlichen Bereich die synodal verfasste Kirche. Die Umkehrung lässt sich so erklären, dass die Amtskirche dem Staat historisch vorausging, während die Reformation in der Schweiz in schon bestehenden städtischen Republiken durchgeführt wurde. Wie Logik das Verhalten zu steuern vermag, lässt sich heute an ökono­ mischen Entscheidungen ablesen. Der Streit um das Abendmahl ist nicht abgeschlossen, sondern hat sich, um es mit Carl Schmitt zu sagen, nur in ein anderes Kerngebiet verlagert. Ökonomisches Denken wird von der Sub­ stanzlogik beherrscht, wenn dem Geld Wertaufbewahrung als eine Funktion zugesprochen wird, oder generell von Werterhalt die Rede ist. Wer dagegen Wert als relativ zu anderen Werten versteht, als ein relatives Maß ohne Bezug auf einen absoluten Maßstab, so dass die Relationen insgesamt in Raum und Zeit nicht als konstant gedacht werden können, wird die Subs­ tanzlogik im Interesse einer effizienten Versicherung vor Wertverlust oder im Hinblick auf künftigen Gewinn verabschieden. Aus den unterschiedli­ chen Logiken ergeben sich sehr verschiedene Gemütslagen, die wiederum sehr verschiedene Lebens- und Weltanschauungen zu begründen vermögen. Sie steuern das Verhalten. Wer den Preis vom Wert unterscheidet, tröstet sich beim Kursverfall einer im Depot befindlichen Aktie damit, dass sein Wertpapier aktuell unter Wert gehandelt werde. Wer nicht unter Wert bereit ist oder nicht gezwungen ist zu verkaufen, vermeint, mit dem Papier gleich­ zeitig den Wert zu halten. Werten wird im Sinne der dem mittelalterlichen Realismus zu Grunde liegenden aristotelischen Philosophie ein Sein jenseits der Konvention zugesprochen. Der Glaube an solches Sein vermittelt Halt und Sicherheit. Wer Wert als Substanz versteht, setzt sein Vertrauen in im­ mobiles Eigentum oder in Gold oder andere Wertmetalle bzw. Edelsteine. Wer Wert als Relationsbegriff versteht, wird entsprechend Relationen und Beziehungen den Vorzug geben und eher gesinnt sein, Sachkapital in die Pflege von Sozialkapital oder kulturellem Kapital zu investieren.

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B. Der Streit um das Abendmahl

Die Pflege der maßgeblichen Logik obliegt heute nicht mehr wie in der Spätantike der Theologie, sondern dem finanzwirtschaftlichen Denken, das aktuell die Debatten beherrscht und über die entsprechenden Institutionen, z. B. über die Zentralbanken sowie die als systemrelevant erachteten Ge­ schäftsbanken, die Machtverhältnisse ordnet. Deren Logik fordert Karl‑Heinz Brodbeck so heraus, wie im Mittelalter der Nominalismus den Realismus herausgefordert hat. „Vergesellschaftung ist niemals die äußere Zusammen­ fassung einer Menge von Gegenständen, nicht die Einheit des mechanischen Verhaltens von Individuen, nicht ein empirischer Gegenstand des solipsisti­ schen Wissenschaftlers, nicht die sprachliche Koordination vorher getrenn­ ter Subjekte – Vergesellschaftung ist immer ein Prozess der Bedeutung, der sich durch das Bewusstsein, das Denken hindurch bewegt. Die Bedeutung dieses Prozesses wird durch ihren Vollzug verstanden. Die Weise, wie in diesem Vollzug gedacht wird, leistet zugleich die soziale Koordination der Vielen. Dieses Denken kommt nicht zu etwas hinzu, das außerhalb des Bewusstseins objektiv vorliegt: durch genetische, neurologisch determinier­ te oder objektiv seelische Prozesse, durch Tauschabstraktion hinter dem Rücken der Beteiligten, die Spontanität des Marktes, angeborene Muster des Verhaltens usw. Vielmehr vollziehen die Subjekte ihre Vergesellschaf­ tung in ihrem Denken. Wie das Denken beschaffen ist, ebenso ist die Gesellschaft.“5 Es mangelt der finanzpolitischen Logik auf den ersten Blick an sakra­ mentaler Anschaulichkeit. Wie wenig auf Anschaulichkeit verzichtet wer­ den darf, zeigen jedoch die Proteste gegen die gelegentlich gemachten Vorschläge, das Bargeld abzuschaffen. Die Funktion der Wahrung von In­ terdependenz, die das Geld in modernen Gesellschaften hat, kann der Sinn­ lichkeit so wenig entbehren wie die institutionalisierte Kirche der Sakra­ mente, wie später der Staat auf die Zertifikate, Amtssiegel usw. hätte ver­ zichten können. Im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts hat die Philosophie dazu beige­ tragen, den Glauben an ein Substrat der Logik in Nichts aufzulösen, wenn man sich die Entwicklung des Denkens bei Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein diesseits und John Dewey jenseits des Atlantiks, um nur diese drei zu nennen, vergegenwärtigt. Sowohl bei Dewey als auch bei Heidegger (nicht so bei Wittgenstein) steht der politische und sozioökonomische Kon­ text des logischen Denkens explizit im Fokus der Aufmerksamkeit, auch wenn er z. B. von Heidegger nicht explizit ausgeführt wird.6 Der Kampf 5  Brodbeck,

S. 29. Honneth urteilt m. E. unzutreffend, wenn er bemerkt, die gesellschaftli­ che Dimension sei „Heidegger stets so fremd geblieben, daß er nicht einmal den leisesten Versuch unternommen hat, die von ihm kritisierte Tradition der Ontologie 6  Axel



I. Wort und Sakrament als Handlungslogik139

um die Logik ist heute immer noch ein eminent politischer Kampf, ein Kampf um institutionelle und individuelle Selbstvergewisserung auf der einen Seite, das Recht auf individuelle Nichtidentität als Voraussetzung für institutionell ermöglichte und abgesicherte Selbstveränderung auf der ande­ ren Seite.7 Nicht umsonst hielt Heidegger nach dem Scheitern seines Rektorats im Sommersemester 1934 eine Vorlesung über Logik. Kämpfe über das Verstehen der Wirklichkeit treten nicht spontan auf, wirken aber auf die Entwicklung der Beziehungen, die sie generieren, zurück. Die mar­ xistische Unterscheidung zwischen materieller Basis und kulturellem Über­ bau ist wenig hilfreich, wenn man bedenkt, dass technologische Entwicklung und technischer Fortschritt sich nicht nur im Rahmen von ökonomischen Prozessen vollziehen, sondern sich nur unter der Voraussetzung rechtlicher und politischer Konventionen vollziehen können, die sich einem logischen Denken verdanken, das selber Konvention ist und Institutionen begründet. Diese Konventionen sind besonders im US-amerikanischen Kontext auch theologisch geprüft, herausgefordert und gerechtfertigt worden. Offenba­ rungstheologie und Philosophie standen sich dort nicht mit gegenseitigem Ausschließlichkeitsanspruch gegenüber, ihr Verhältnis war auch keines der Unter‑ bzw. Überordnung. Philosophie und Theologie verwendeten diesel­ ben Begriffe. Begriffe werden in Urteilen expliziert, die wiederum in Schlüssen zu Theorien zusammengefasst werden. William James denkt z. B. Glaube (belief) im Sinne von Anerkennung, nämlich als ein Postulat, das nicht nur die praktische Vernunft leite, sondern auch die theoretische Er­ kenntnis. Im amerikanischen Kontext gibt es keinen Widerspruch zwischen Offenbarungstheologie und Philosophie, sondern vielmehr das theologische Bemühen, sich als Philosophie zu äußern, wie umgekehrt die Philosophie, auf ihre sozialen Wurzeln hin zu befragen.“ (Honneth 2005, S. 31). Heidegger geht nicht mehr von einem Subjekt aus, das mit anderen in Gesellschaft lebt, sein Aus­ gangspunkt ist das, was er als „man“ bezeichnet, dem das Dasein in seiner ontolo­ gischen Verfassung des In-der-Welt-Seins und des Für-Andere-Seins zunächst unter­ liegt und das sich gerade in der von Honneth behaupteten Subjektkonstruktion ver­ dinglicht: Man ist eben heute Subjekt und hat entsprechend Subjekt zu sein! Die Ermöglichung der Infragestellung dieser vermeintlichen existenziellen Möglichkeit liegt nun nicht darin begründet, dass sich das Subjekt als solches vom dispositionel­ len Sein des „man“ unterscheidet, sondern ist für Heidegger seynsgeschichtlich be­ gründet, d. h. in der Kehre geht es ihm eigentlich darum, im Rahmen der Verfallen­ heit die Offenlegung des Sachverhalts selber zu klären. Sie über Gesellschaftstheorie zu erklären, hieße nichts anderes, als einen subjektiven Standpunkt jenseits des Daseins zu behaupten und damit der Tradition des cartesianischen Subjektdenkens verhaftet zu bleiben. Die von Honneth angesprochene Unterscheidung zwischen Teilnehmerperspektive und Beobachterperspektive (Honneth 2005, S. 36) ist nur im Rahmen des cartesianischen Subjektdenkens stimmig. 7  Einen Überblick über die wissenssoziologische Erforschung der sozialen Be­ dingtheit der Logik verschafft Arno Bammé.

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B. Der Streit um das Abendmahl

insbesondere die des Pragmatismus, sich in ihren Anfängen als moderner Ausdruck theologischer Wahrheit verstand. Beides verschmilzt, weil beides in einem spezifischen theologischen Selbstverständnis wurzelt, das den Pragmatismus begründete. Das war einer Skepsis gegenüber der Vernunft geschuldet, die sich der schottischen Aufklärung verdankte. In der Einleitung seines Überblicks über die Entwicklung der amerikani­ schen Theologie schreibt E. Brooks Holifield: „The overarching theme of this book is the claim that a majority of theologians in early America shared a preocupation with the reasonableness of Christianity that predisposed them toward such an understanding of theology. The book interweaves this claim about the quest for reasonableness with five other themes that amplify and qualify it: the continued insistence on theology’s ‚practibility‘ and its ethical functions, the importance of Calvinism, the interplay between Ame­ ricans and Europeans, the denominational setting of theology, and the dis­ tinction between academic and populist strands of thought.“8 Nach Holi­ field lässt sich Logik nicht als ein Substrat verstehen, sondern als eine sich entwickelnde Konvention, die keinen Nullpunkt als Ausgangspunkt kennt, keine Sprünge. Wenn Holifield in diesem Zusammenhang den Calvinismus und damit die reformierte Theologie besonders würdigt, heißt das, dass die besondere reformierte Theologik in ihrer Bedeutung für ein republikanisches Selbstverständnis hoch einzuschätzen ist. Daraus darf auf die Reformation zurückgeschlossen werden, dass die Auseinandersetzungen um die dem jeweiligen Abendmahlsverständnis zu Grunde liegende Logik keine Nebensächlichkeit war, sondern das Zentrum des lebensweltlichen Selbstverständnisses betrafen. In der Zeit der Reforma­ tion wurde ein Diskurs öffentlich, der in den Universitäten als der Streit zwischen via antiqua und via moderne schon längere Zeit in großer Heftig­ keit geführt worden war.9 Während aber die Eucharistie im reformatorischen 8  Holifield,

S. 4. ist dabei allerdings in Betracht zu ziehen, dass namentlich Zwingli der sich auf den Realismus beziehenden via antiqua zugerechnet wird, insbesondere auf Grund der Nähe zum Humanismus, Luther dagegen der Tradition des Nominalismus, obwohl er im Abendmahlstreit einer aristotelischen Substanzlogik das Wort redete. Denn während im Realismus zwischen der Sache und dem zufälligen Namen unter­ schieden wird, also die wörtliche (sermozinale) Bedeutung hinter der sachlichen Bedeutung zurückzutreten hat, unterscheidet die Auslegungsmethode der via moder­ na nicht mehr zwischen Name und Sache, was einer Krise der metaphysisch begrün­ deten Erkenntnislehre gleichkommt. „(H)inter der Lehre vom subjektiven Charakter der Erkenntnis droht die Leugnung der realen Bedeutung der metaphysischen Be­ griffe, wie sie eben damals Nikolaus von Autrecourt bis zu extremer Negation aller Metaphysik trieb.“ (Ritter, S. 22). Nun zeigt aber Ritters Studie auf, wie schwer Zuordnungen zu machen sind, insbesondere auch, inwiefern pauschal gesagt werden könne, dass der Humanismus sich ausschließlich im Umfeld der via antiqua verord­ 9  Es



II. Die Eucharistie141

Kontext in diesen Streit hineingezogen wurde, blieb sie im römisch-katho­ lischen über das Konzil von Trient hinaus unbeanstandet, was ihre zentrale Bedeutung für das römisch-katholische Selbstverständnis bis heute unter­ streicht.

II. Die Eucharistie Im Folgenden soll von einer Revolution die Rede sein, die den neuzeitli­ chen Staat erst denkbar gemacht hat. In seinen Vorlesungen über den Staat vertritt Pierre Bourdieu in Paris zur ungefähr gleichen Zeit wie Herfried Münkler in Frankfurt die Auffassung, dass sich das moderne Staatsverständ­ nis bürgerlichen Intellektuellen verdankt habe, die als Juristen die Verwal­ tung der entstehenden Flächenstaaten gestaltet hätten. Aber das hatte Vor­ aussetzungen. Die Entstehung des Staates ist keiner politischen, vielmehr einer kulturellen Revolution geschuldet. Staat ist nichts weiter als die Insti­ tutionalisierung des bürgerlichen Sicherheitsdenkens zu Lasten der kleineren Feudalherren, die es im Verbund mit den Landesherren zu entmachten galt. Das war insbesondere während der Reformation ein Thema. Der niedere Adel, oft im Bund mit den freien Bauern, hat mit seinem Widerstand gegen die Zentralisierung der politischen Macht die Reformation gründlich miss­ verstanden, als er hoffte, die Reformatoren stünden auf seiner Seite. Die von Bourdieu und Münkler angesprochenen Juristen, Diplomaten und Sekretäre hatten etwas, auf das sie zurückgreifen konnten. Wenn Bourdieu meint, dass der Staat eine Erfindung der Juristen sei, vergisst er, dass der Staat sich einer kulturellen Revolution verdankt, aus der zunächst die Insti­ tutionalisierung der Kirche hervorging, die zum Vorbild der Staatsmacher wurde. Die Amtskirche ging dem Staat voraus. Dabei spielte das Altarsak­ rament der Eucharistie eine entscheidende Rolle. Der Staat musste also nicht erfunden werden. Er war in Gestalt der Kirche schon da, als die weltliche Obrigkeit daran ging, sich mit Hilfe der Juristen der Kirche anzu­ gleichen. Was in der Kirche schon geschaffen worden war, musste nur in den weltlichen Bereich transformiert werden. Anders als politische oder soziale Revolutionen untergraben kulturelle Revolutionen Institutionen, indem sie das, auf dem sie beruhen, was als selbstverständlich gilt, logisch und ästhetisch in Frage stellen. Wie Bourdieu in seinen Vorlesungen über den Maler Manet und die von ihm angestoßene Revolution in der französischen Malerei im neunzehnten Jahrhundert zeigt, nen lasse. Zwingli war freilich insofern ein Vertreter der via antiqua, weil er die Vernunftgemäßheit des Glaubens behauptete, während Luther auf den allmächtigen Willen Gottes über alle Vernunft insistierte, was ihn wiederum als einen Vertreter der via moderna ausweist.

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B. Der Streit um das Abendmahl

soll dispositionelles Handeln im Rahmen des Gewohnten und damit Selbst­ verständlichen dauerhaft irritiert werden, so dass sich ein zunächst virtueller Raum öffnet, in dem sich neues Verstehen ausbilden kann.10 Dispositionelles Handeln ist kein gedankenloses Handeln, sondern wird in der empfundenen Kongruenz von Selbstverständnis und Weltverständnis als selbstverständlich empfunden. Es entlastet von der Reflexion. Die poli­ tischen Machthaber sind im Interesse ihres Machterhalts bestrebt, dieses Selbst­ verständliche institutionell abzusichern. So legitimieren sie ihre Macht. Ihre Legitimität zu unterwandern ist das Bestreben derjenigen, de­ nen das Selbstverständliche unverständlich geworden ist. An die Stelle des bisher Verständlichen müssen andere Selbstverständlichkeiten treten, die neue institutionelle Verfahren begründen, weil ansonsten keine stabilen Machtverhältnisse entstünden. „Eine Institution ist erfolgreich, wenn es ihr gelungen ist, sich als selbstverständlich aufzudrängen.“11 Die Irritation der kulturellen Revolution, für die der Name Edouard Ma­ nets steht, wird im neunzehnten Jahrhundert über eine Malerei möglich, die Sehgewohnheiten und den ihnen angemessenen Kunstproduktionen nicht mehr entspricht. Bourdieu zeigt am Beispiel Manets, welche vielfältigen Voraussetzungen bestanden, dass diese Revolution gelang. Er verweist z. B. auf die persönlichen Voraussetzungen Manets, seine gutbürgerliche Her­ kunft, die Unterstützung seiner Familie, seine ökonomische Unabhängigkeit, und auf die schon einsetzende Auflösung bzw. Zersetzung selbstverständli­ cher Handlungs‑ und Wahrnehmungsschemata in verschiedenen Feldern sowohl der Ökonomie als auch der Kunstkritik. Er verweist auch darauf, dass die althergebrachte Institution der Akademie in ihrem herkömmlichen Kunstverständnis schon Risse aufwies. Es gibt weder in der Natur noch im kulturellen Bereich creatio ex nihilo. Die Malerei wie die Kunst überhaupt vermögen es, den herrschenden Insti­ 10  Bourdieus Vorlesungsreihen am Collège de France zunächst über den Staat (1989 bis 1992) und dann über Edouard Manet (1998 bis 2000) stehen in einem Zusammenhang. Staat und andere Institutionen sind nicht nur funktionalistisch zu verstehen, entscheidend sei, dass sie spezifische Handlungslogiken pflegten. Ihre Herausforderung besteht entsprechend nicht darin, sie auf ihrer funktionalen Ebene anzugreifen, sondern ihre Handlungslogik zu unterminieren. 11  Bourdieu (2014), S. 209. Bourdieus Verständnis des Habitus wird m. E. dem, was protestantische Ethik genannt wird, nicht gerecht, weil die protestantische Ethik sich über Reflexion ausbildet. Protestanten wird unterstellt, sie unterzögen sich einer permanenten Gewissensprüfung. Sicher ist diese Gewissensprüfung nicht permanent, aber sie ermöglicht zweckrationales Handeln gegen die Gewohnheiten. Bourdieus Soziologie ist auf die Milieus mehr traditionell geprägter Gesellschaften ausgerichtet. Einen protestantischen Habitus im Verständnis Bourdieus kann es wohl in traditionel­ len Lebensgemeinschaften wie z. B. den Amischen geben. Inwiefern im urbanen Um­ feld der Individualisierung Bourdieus Begriff des Habitus greift, ist zweifelhaft.



II. Die Eucharistie143

tutionen zwar nicht die Logik, dafür die Anschaulichkeit ihrer Legitimität zu verleihen. Entsprechend kann ihnen von diesem Gebiet aus auch Legiti­ mität anschaulich bestritten werden. Die Malerei im Frankreich des neun­ zehnten Jahrhunderts liefert dafür gute Beispiele. Bourdieu betont, dass Ästhetik nicht unabhängig von Logik verstanden werden kann. Wenn auf dem Feld der Kunst anschaulich gemacht wird, dass eine Logik des Selbst­ verständlichen keine allgemeine Anerkennung mehr findet, gilt umgekehrt auch, dass die neue Anschauung des Wortes bedarf, der Reflexion der Kunstkritik, besonders der Literatur. Die Revolution Manets hat ähnliche Voraussetzungen, wie die theologi­ schen Revolutionen im Hochmittelalter und in der Zeit der Reformation. Sie müssen in ihrem historischen Kontext betrachtet werden und nicht alleine in ihrer Logik, und damit auch im Hinblick darauf, wie sie Logik anschau­ lich machten. Das Sakrament der Eucharistie ist auf dem Wege einer kulturellen Revo­ lution zum zentralen Sakrament der vorreformatorischen Kirche geworden und konnte dann selber zum Zentrum der Auseinandersetzung um eine weitere kulturelle Revolution im Verlauf der Reformation werden. Wenn es in der allgemeinen Einleitung in dem von Andreas Scheib herausgegebenen Buch über die Eucharistiedebatte zwischen Anhängern des Thomas von Aquin und der des Descartes im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert heißt, „(d)ie im Tridentinum im Anschluss an das Lateranense festgelegte Auffassung vom eigentlichen Transsubstantiationsvorgang ist so im wesent­ lichen ein Gegenstand philosophischer Erörterung“,12 so ist das irreführend, wenn es weiter unten heißt: „Neben kirchenrechtlichen Aspekten, die in die Diskussion hineinspielen und die Frage nach der Verbindlichkeit der von Konzilien getroffenen Feststellungen betreffen, sind hier insbesondere auch solche des spirituellen Selbstverständnisses der Kirche entscheidend, die weiß, dass dem Eucharistiesakrament zentrale Bedeutung für das Profil des katholischen Bekenntnisses zukommt.“13 Hier spielt Kirchenrecht nicht nur hinein. Über das Sakrament der Eucharistie ist nicht nur ein neues Verständ­ nis des Rechts und seiner Institutionen vermittelt worden, sondern auch das spirituelle Selbstverständnis der Kirche selber. Als dieses spirituelle Selbst­ verständnis selbstverständlich war, war es der Kirche gelungen, als Institu­ tion erfolgreich zu sein. Das Verständnis der Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi im Rahmen der Heiligen Messe wird erst im Zusammen­ hang mit den großen Gregorianischen Reformen im Hochmittelalter dring­ 12  Scheib, 13  Scheib,

S. 16. S. 27.

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B. Der Streit um das Abendmahl

lich. Dabei konnte auf die christologischen Auseinandersetzungen der Spät­ antike zurückgegriffen werden, über die Carl Schmitt und Erik Peterson ihre Kontroverse führten. Einen Vorläufer hatten die Debatten, die die Gregorianischen Reformen begleiteten, schon im frühen neunten Jahrhundert, als in der Abtei Corbie die Mönche Paschasius Radbert und Ratramnus über die Frage, wie Chris­ tus in Brot und Wein anwesend sei, disputierten. Diese Debatte blieb sei­ ner Zeit noch folgenlos. Im elften Jahrhundert aber, als Berengar von Tours die Wandlung der Substanz von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi nicht mehr anzuerkennen bereit war, wurde er zum Widerruf verurteilt. Die Zeiten hatten sich geändert. Das Altarsakrament, das bisher neben den anderen Sakramenten stand (die Siebenzahl wurde erst im zwölften Jahrhundert festgeschrieben), sollte zum zentralen Sakrament avancieren. Die Voraussetzung für diesen Bedeutungswandel der Sakramentsvorstel­ lung bildete nicht nur die Neuentdeckung der aristotelischen Philosophie, sondern vielmehr das Bedürfnis der Päpste, das priesterliche Amt im Inter­ esse der Zentralisierung und Hierarchisierung der Ämter in der Kirche neu zu begründen. Ein Amt ist die jeweils in Raum und Zeit zu leistende Ver­ gegenwärtigung einer zentralisierten Hierarchie. Wer ein Amt innehat, hat zwei Körper: Neben seiner persönlichen Anwesenheit in seiner biologischen Leiblichkeit verkörpert er auch die Körperschaft, die ihm das Amt verliehen hat. Das Amt besteht über den Tod seines Trägers hinaus. Es hat nicht nur ein höheres Sein, sondern auch eine höhere Würde als der Amtsträger, der seine Würde zwar nicht ausschließlich, aber maßgeblich dem Amt und da­ mit der Körperschaft verdankt, die ihm das Amt verliehen hat. Die Bewegung, die diese Bürokratisierung der Kirche im elften Jahrhun­ dert initiierte, ging von der burgundischen Benediktinerabtei Cluny aus und hat, folgt man Harold Berman, in der Folge das gesamte westliche Institu­ tionenverständnis maßgeblich bestimmt.14 Im Zentrum stand der cluniazen­ sische Mönch Hildebrand, der spätere Papst Gregor VII. Die von ihm und seinen Mitarbeitern durchgesetzten Reformen sollten die Unabhängigkeit der Kirche von der politischen Macht zunächst durchsetzen und dann garan­ tieren. Die politischen Machthaber im Verbund mit dem sich konsolidieren­ den Bürgertum nahmen später diese kirchlichen Reformen zum Vorbild für den Aufbau des neuzeitlichen Flächenstaates, dessen Beamtenverständnis im Amtsverständnis des Priesters sein Paradigma fand. Im Zusammenhang mit der Kirchenreform entstand aber auch schon eine vorbürgerliche Öffentlichkeit. Die Gläubigen wurden aufgefordert, die An­ 14  Vgl.

Berman, Recht und Revolution.



II. Die Eucharistie145

nahme der Sakramente von nicht zölibatär lebenden und nicht ordnungsge­ mäß geweihten Priestern zu verweigern. Den weltlichen Machthabern wurde die Legitimität bestritten, über das kirchliche Personal zu bestimmen. Darum bedurfte es einer Aufwertung der Sakramente. Dennoch, was gespendet werden kann, kann auch verweigert werden, und zwar sowohl die Spendung als auch der Empfang. Öffentlichkeit als res publica verdankte sich nicht dem Humanismus, der lediglich eine Gelehrtenrepublik bildete, sondern schon vorher der Kirche. Anerkennung, Verweigerung von Anerkennung und überhaupt Kämpfe um Anerkennung sind öffentliches intentionales Handeln. Anerkennung von Macht und Öffentlichkeit sind gegenseitig be­ dingt. Wer auf Öffentlichkeit angewiesen ist, muss sie organisieren, um ihre Anerkennung nicht zu verlieren. Wer auf Anerkennung angewiesen ist, entlässt jene, deren Anerkennung er bedarf, in die Freiheit.15 Neben der Taufe spielten das Bußsakrament im Hinblick auf die indivi­ duelle Existenz eine entscheidende Rolle, das Ehesakrament im Hinblick auf die rechtliche und damit soziale Stabilität der Ständegesellschaft. Mo­ dern gesprochen erfüllte die Kirche im feudalen Vertragssystem nach der Völkerwanderung die Rolle des Notars, und der Kaiser ab dem neunten Jahrhundert das Amt des Wächters über die Verträge sowie des militärischen Vollstreckers. Was ein Amt war und wie es legitimiert werden konnte, er­ schien in den Jahrhunderten vor der Jahrtausendwende noch nicht als Pro­ blem. Zunächst erkannten die weltlichen Machthaber ihre Macht als von Gott übertragen und über die Kirche vermittelt an. Im Hochmittelalter dagegen war der Kampf zwischen Kirche und weltli­ cher Macht um die Investitur der Bischöfe und schließlich sogar der Päpste voll entbrannt. Die lokalen Vertreter der Kirche waren jetzt mit dem Prob­ lem konfrontiert, ihre Macht zu legitimieren, wollten sie gegenüber den weltlichen Ansprüchen Widerstand leisten. Auch Rom konnte nicht mehr alleine darauf vertrauen, dass die persönliche Integrität der kirchlichen Amtsträger vor Ort sie mit der entsprechenden Autorität ausstattete. Außer­ dem war die Bindung der Gläubigen an die Kirche in Gefahr, wenn Priester und Bischöfe charakterlich oder aus anderen Gründen den Erwartungen oder Anforderungen nicht entsprachen. Miri Rubin, der die Entstehung und Entwicklung der Eucharistie und des Fronleichnamfestes im Hochmittelalter untersucht hat, fasst das so zusammen: „Whereas early Christianity looked to holy men and early medieval society turned to saints to effect the con­ 15  Prägnant formuliert das Bourdieu wie folgt: „Der Fürst kann von seinen Dich­ tern, Malern und Juristen einen wirklich effizienten symbolischen Dienst nur dann erlangen, wenn er ihnen die (relative) Autonomie einräumt, die die Bedingung eines unabhängigen Urteils darstellt, aber auch die Möglichkeit kritischer Infragestellung zuläßt.“ (Bourdieu 1997, S. 133).

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nection between God and humankind through prayers of intercession, a different order was now emerging.“16 Die Gregorianischen Reformen zielten darauf ab, das kirchliche Amt als von der jeweils diensttuenden natürlichen Person getrennt zu denken, so dass die Würde des Amtes sich nicht von der Würde seines Trägers ablei­ tete, sondern umgekehrt der Amtsträger seine priesterliche Würde aus­ schließlich dem Amt verdankte. So konnten die Amtshandlungen, der Voll­ zug der Sakramente, auch Geltung haben, selbst wenn die Träger des Amtes sich als unwürdig erweisen sollten (ex opere operato). Der Preis, der für diese Anerkennung zu entrichten war, bestand in der Anerkennung einer anerkennungsstiftenden Öffentlichkeit. Dem Geflecht der neu entstandenen Anerkennungsverhältnisse fielen traditionelle Aner­ kennungsverhältnisse zum Opfer. Berman spricht von einer Revolution, die stattgefunden habe. Es gelang, bisher lokale Besonderheiten in der Ordnung und Verwaltung der vielfältig und undurchsichtig gewordenen Machtverhält­ nisse zu überwinden. An ihre Stelle trat eine Institution, die erfolgreich universelle Gültigkeit ihrer Entscheidungen durchsetze, und zwar über eine institutionelle Komplexitätsreduzierung und eine damit verbundene Verein­ fachung der Anschauung von Macht. An den Machtverhältnissen selber änderte sich strukturell wenig. Es handelte sich zwar um eine Revolution, aber eine Revolution der Denkart, eine kulturelle Revolution im Sinne von Bourdieu. Das Interesse, das Gregor VII verkörperte, war organisationsfä­ hig, konfliktfähig und ließ sich institutionalisieren. Der Begriff der Macht bekam eine neue Bedeutung. Macht war bis zum Hochmittelalter denen vorbehalten, die erfolgreich das Gewaltmonopol be­ anspruchten. Jetzt bedurfte Macht der Anerkennung. Die Reform der Kirche bedeutete darum keineswegs eine Machtverschiebung im großen Umfang, keinen Umsturz der sozialen Verhältnisse, sondern eine Konsolidierung der Machtverhältnisse weit über die innerkirchlichen Strukturen hinaus. Die Öffentlichkeit war bisher auf die Kirche beschränkt gewesen, sie wurde vom Klerus maßgeblich gestaltet. Disputationen fanden in den Klöstern unter Klerikern statt. Aber als Empfänger der Sakramente mussten von nun an die Laien in die bisher den Klerikern vorbehaltene Öffentlichkeit, in die kirchliche res publica, integriert werden. Auf die öffentliche Anerkennung der Amtsgewalt der Amtsträger über den Empfang der Sakramente kam es an. Die Gregorianische Revolution hatte eine demokratische Komponente. Damit schuf sie in Form der Öffentlichkeit aber eine Bühne, auf der sie von den lernfähigen weltlichen Machthabern spätestens im Rahmen der Refor­ mation herausgefordert werden konnte. 16  Rubin,

S. 13.



II. Die Eucharistie147

Schon um das Jahr 1000 hatte der Abt Odilo von Cluny das Fest Aller­ seelen eingeführt und auf den Tag nach dem Kirchenfest Allerheiligen ter­ miniert. So wurde die Kirche der Lebenden mit den Toten vereint: „Das Jüngste Gericht wurde als eine große allumfassende Demokratie gesehen, das Fegefeuer als eine große christliche Demokratie.“17 Das erforderte eine Umorientierung im theologischen Denken, das von Theologen wie Anselm von Canterbury unternommen wurde. Die öffentliche Anerkennung der kirchlichen Amtsvollmacht gelang da­ durch, dass der neue Ansatz in der Theologie nicht an der Lebenswelt der mittelalterlichen Menschen vorbei formuliert worden ist, sondern sie aufgriff und sowohl logisch als auch rituell bestätigte. Die Sakramente wurden nicht als von der Alltagslogik zu unterscheidende Mysterien empfunden, sondern als ein die Alltagslogik anerkennendes Ritual, eine gottesdienstliche Verge­ wisserung des Selbstverständlichen im allgemeinen Seinsverständnis. Über die Theologie Anselms und ihren Sitz im Leben schreibt Harold Berman: „Es wurde behauptet – zum Beispiel von Karl Barth –, Anselm habe unter dem vernünftigen Beweis einen besonders auf den Gegenstand des Glau­ bens zugeschnittenen Beweis verstanden, und wenn sich der Gläubige mit seiner Vernunft an den Ungläubigen wende, so tue er so, als ginge dieser von denselben theologischen Vorstellungen aus wie er. Dabei wird überse­ hen, daß Anselm dieselben Beweiskriterien auf die Existenz Gottes und die Notwendigkeit seiner Inkarnation in Christus anwandte, die damals – von ihm und anderen – auch sonst auf Erscheinungen der Erfahrungswelt ange­ wandt wurden.“18 Während Barth Anselm eine analogia fidei unterstellt habe, handele es sich in Wirklichkeit um eine analogia entis. Berman un­ terstellt, der Mensch des Mittelalters sei von Natur her Aristoteliker gewe­ sen. So mag es sich verhalten haben. Die metaphysische Grundlage der Transsubstantiationslehre ist die auf der aristotelischen Philosophie basierende scholastische Unterscheidung zwi­ schen Substanz und Akzidenzen. Die Substanz bezeichnet das Wesen eines Dings, das sich selber gleichbleibt, während sich seine Eigenschaften, die Akzidenzen, verändern. Wasser z. B. tritt in den drei Aggregatzuständen auf, bleibt aber immer Wasser. Bei der Transsubstantiation verhält es sich um­ gekehrt: Während sich in der geschaffenen Natur nur die Akzidenzen ver­ ändern, die Substanzen sich selber gleichbleiben, verändert sich dem eucha­ 17  Berman,

S. 280. S. 291  f. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass Barth die Theologie Anselms in der Absicht rezipiert, ein Verständnis von Glauben zu gewinnen, das vom Pragmatismus vertreten wurde, nämlich dass Glaube nicht über Erkenntnis zu sichern sei, sondern Erkenntnis vielmehr Anerkenntnis als Vor­ aussetzung habe. 18  Berman,

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ristischen Verständnis nach in der Heiligen Messe während der vom Priester durchgeführten Zeremonie der Wandlung die Substanz von Brot und Wein in den Leib und das Blut des Herrn, ohne dass die neuen Substanzen die Eigenschaften von Brot und Wein verlören. Das Sakrament der Eucharistie ist ästhetische Vergewisserung einer Lo­ gik, die das mittelalterliche Selbst in seiner Fragilität metaphysisch stabili­ sierte. Das gelang, wenn die gläubigen Empfänger des Sakraments sichtbar, hörbar und schließlich im rechten Empfang Gehorsam gegenüber dem Amt bekundeten. Eine Fülle des Missbrauchs im Empfang war möglich, so z. B. das unerlaubte Mitnehmen der Hostie, Verfütterung an krankes Vieh usw. Die Kirche hatte dafür Sorge zu tragen, dass das Altarsakrament nicht in den Dienst des weit verbreiteten Aberglaubens genommen wurde. Amt und Altarsakrament bedingen sich gegenseitig, weil nur der über die Priesterweihe ins Amt berufene Kleriker in der Messe die Transsubstantia­ tion durchzuführen vermag. Die Taufe darf in einer Notsituation auch von einem getauften Laien vollzogen werden, und heute werden die Taufen aller Konfessionen gegenseitig als rechtmäßig vollzogenes Sakrament anerkannt. Das Altarsakrament bleibt dagegen auch heute noch im Bereich des römi­ schen Katholizismus alleine dem Priester vorbehalten. Das Sakrament der Eucharistie vermittelt nicht allein das Seelenheil, sondern es stiftet, mehr noch als das Sakrament der Ehe, sozialen Zusam­ menhalt. Dabei ist nicht nur an den lokalen Zusammenhalt zu denken: „The eucharist emerged as a unifying symbol for a complex world, as a symbol unburdened by local voices and regional associations. (…) Within the developing parochial net cast over Europe in these centuries the eucharist was reckoned to be equally efficacious in Vienna or Valladolid, viewed or received by women or men, at cathedral altar or village chan­ cel: it mediated grace and supernatural power in rituals independent of contingent boundaries of political variations. Thus, it possessed universal meaning.“19 Es drohte andererseits auch die Exklusion, die entsprechend härter emp­ funden werden musste als vormals. Nicht alleine der Ausschluss als solcher belastete, das Bewusstsein seiner universalen Gültigkeit belastete zusätzlich. Zum Genuss des Sakraments waren nur jene zugelassen, die die Amtsleis­ tung zuvor in öffentlicher Akklamation im Rahmen der Messe anerkannten, was implizierte, dass sich die Teilnehmer der Lehre der Kirche unterwarfen. „Die Eucharistie wurde zum Symbol der Zugehörigkeit zur Kirche als Or­ ganisation, und die Exkommunikation, d. h. der Ausschluß von der Kommu­ 19  Rubin,

S. 348.



II. Die Eucharistie149

nion, wurde das Hauptmittel des Ausschlusses aus der Kirche.“20 Der Preis für die Zugehörigkeit war die Akzeptanz des Amtsvollzugs. Die Zustimmung konnte aber eben auch verweigert werden. Es handelte sich um ein gegenseitiges Anerkennungsverhältnis, das wie alle Anerken­ nungsverhältnisse reziprok ist, wenn es zustande kommt. Aufkündigung ei­ nes Anerkennungsverhältnisses ist nicht mehr reziprok, sie kann einseitig erfolgen. „If sacramental bread were like any other bread, then the priestly function, the particular sacerdotal efficacy which justified priestly privilege, and ultimately the whole ecclesiastical structure, was put into question. This is a problem which had been dealt with repeatedly, especially from the period of Gregorian reform“.21 Schon vorreformatorische Dissidenten wie John Wycliff nahmen gezielt das Altarsakrament in den Blick, um die Amtskirche frontal anzugreifen und radikal in Frage zu stellen: „It was only when Wycliff significantly com­ mented upon the eucharist that he became really dangerous, and only then that he lost his position in Oxford and his patron.“22 Über Wycliff schreibt Rubin, dass ihn seine Studien über Logik, Optik und Physik auf der einen, seine biblischen Untersuchung auf der anderen Seite zur Kritik an der Eu­ charistie angereizt hätten. Es gab noch andere Gründe für Kritik oder Un­ behagen, die eine ganze Reihe von Debatten entfachten, etwa welche Folgen es habe, wenn das konsekrierte Brot von den Mäusen gefressen werde. Nicht zuletzt bereitete es ein Problem, dass über den Genuss des Altarsak­ raments der Leib des Herrn sich nicht nur irgendwann im Verdauungstrakt befindet, sondern auch ausgeschieden wird. So verhalf die Eucharistie der Kirche nicht nur zu ihrer spezifischen juridischen Form, sondern brachte auch Probleme mit sich, die eine Flut von scharfsinnigen Schriften hervor­ rief, die zu lesen und zu erwidern zahlreichen Theologen Beschäftigung verschaffte. Der andauernde Diskurs über das Altarsakrament weckte so aber auch ein wachsendes öffentliches Interesse an logischem Denken. Bedenkt man die Identität von Christen- und Bürgergemeinde vor und während der Reformation, bedeutete die Möglichkeit der Verweigerung des Altarsakraments, dass die Priester ein öffentliches Amt ausübten, mit dem auch Bürgerschaft aberkannt werden konnte. Alle anderen Sakramente konnten nicht auf Dauer verweigert werden, insbesondere nicht das Buß­ sakrament, wenn der Sünder Reue zeigte Der Ausschluss vom Genuss des Altarsakraments bedeutete nicht die öffentliche Widerrufung der Taufe, aber die Erklärung des Exkommunizierten zum öffentlichen Feind. Für die poli­ 20  Berman,

S. 285. S. 328. 22  Rubin, S.  326 f. 21  Rubin,

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tischen Machthaber, die der Emanzipation der Kirche zunächst nichts ent­ gegenzusetzen vermochten, wurde die Kirche nicht nur administratives Vorbild. In dem Moment, in dem sie selber die Freund-Feind-Unterschei­ dungen treffen wollten, mussten sie sich im Streit mit der Kirche um die Unterstützung der schon bestehenden Öffentlichkeit bemühen. Öffentlichkeit und damit Republik im nachantiken, freilich vordemokratischen Verständnis ist demnach nicht eine Staatsform, sondern zunächst eine dem kirchlichem Emanzipationsstreben geschuldete vorstaatliche Öffentlichkeit. Die Repub­ lik geht dem Staat logisch voraus. Staat und Amtskirche gibt es nur auf Grund öffentlicher Anerkennung. Die Pflege dieser Anerkennung des Amts­ verständnisses oblag der Liturgie und des in sie integrierten Altarsakraments. Im Ringen der Reformatoren um das Amtsverständnis stand entsprechend das Abendmahlverständnis nicht zufällig im Mittelpunkt. Aber die Protago­ nisten des Widerstands gegen das römisch-katholische Verständnis der Messe waren sich nicht einig in der Argumentation, sie fanden keine ge­ meinsame Logik, die sie gegen die aristotelisch begründete Transsubstan­ tiationslehre hätten richten können. Luthers logische Inkonsequenz bestand darin, am herkömmlichen Amtsverständnis nicht mehr festzuhalten, ohne dabei die Logik der Transsubstantiation aufzugeben, auch wenn die Luthe­ raner es Konsubstantiation nennen. Er argumentierte im Kontext der via moderna zwar nicht mehr mit Aristoteles, unterwarf Gottes Handeln nicht mehr nachvollziehbaren Vernunftgründen, aber seinen Gegnern musste es so erscheinen, als vertrete er weiter die Lehre von der Transsubstantation. Dass sich sein Widerstand gegen die Durchsetzung der Schweizer Auffas­ sung noch mit dem politischen Interesse seines Kurfürsten verbinden konn­ te, dem evangelischen Bündnis, das Philipp von Hessen und die Schweizer gegen den Kaiser schmieden wollten, nicht beizutreten, war Luther nur Recht. Letztendlich dürfte es den protestantischen Fürsten aber nicht nur um diese tagesaktuelle politische Frage wie das angestrebte Bündnis ge­ gangen sein. Ihnen stand es nicht frei, das Substanzdenken aufzugeben, das die Messe und die Eucharistie anschaulich machte und über das auch dem staatlichen Amtsverständnis Ansehen zu vermitteln war. Wie ein Wun­ der muss es wirken, dass Philipp von Hessen aus dieser Phalanx der Fürsten ausscherte.

III. Luther und Zwingli schließen keinen Kompromiss Kompromisse werden geschlossen, vermieden oder verhindert, schließ­ lich, wenn sie gelingen, gelegentlich wieder aufgekündigt und eventuell neu verhandelt. Das setzt Verfahren voraus. Sind sie institutionalisiert, handelt es sich üblicherweise um orts‑ und zeitgebundene Versammlungen, z. B. in Parlamenten, Synoden oder ähnlichen Gremien oder auch um regelmäßig



III. Luther und Zwingli schließen keinen Kompromiss151

wiederkehrende Verhandlungsaufnahmen an wechselnden Orten wie bei Tarifverhandlungen. Wesentlich komplizierter sind Verhandlungen in Gang zu setzen, wenn Ort, Zeit und Personal noch nicht feststehen, sondern erst noch zu verein­ baren sind. Neben Zeit im Hinblick auf Terminierung der Verhandlungen, Raum im Sinne des Verhandlungsortes und den Personen, die die Verhand­ lungen führen sollen, heißt es, noch die allgemeine politische und sozioökonomische Konstellation, die Lage, zu berücksichtigen. Verhandlungen, die zustande kommen sollen, müssen für alle Beteiligten als unausweichlich empfunden werden. Zeit, Raum, Personal und Lage, in gewisser Weise ist man versucht, an Heideggers Geviert zu denken, an Erde, Himmel, Gott und Mensch.23 In unserem Fall beinhaltet dieses Geviert, nicht als Substanz zu denken, sondern als sehr instabile Relation, also als zusammenspielende Vierung, in der sich die Verhandlungsstrategen zu orientieren hatten, zunächst die Zeit nach dem Reichstag in Worms von 1521. Das ist die Periode der nicht vollzogenen, immer wieder auch auf den folgenden Reichstagen vertagten Entscheidung, wie mit den Reichsfürsten und Reichsstädten zu verfahren sei, die sich der Reformation angeschlossen hatten. In dieser Zeit entwickel­ te sich eine Lage, in der sich die handelnden Akteure positionieren mussten. 23  Heidegger (1990), S. 170 ff. Im Zusammenhang mit dem Begriff der Richtig­ keit im Hinblick auf Aussagen im Rahmen einer, wenn man so will, Ontologie der Sprechakte spricht Heidegger die Vierung schon an, aber anders und für den vorlie­ genden Zusammenhang brauchbarer: „In der Richtigkeit des aussagenden Vorstellens waltet somit eine vierfache Offenheit: 1. des Dinges, 2. des Bereichs zwischen dem Ding und dem Menschen, 3. des Menschen selbst für das Ding, 4. des Menschen zum Menschen.“ (Heidegger 1992, S. 19) Wolfgang Welsch greift das tedradische Denken Heideggers auch auf, hält es aber mit dem postmodernen Denken im Sinne von Lyotard nicht vereinbar, weil es nicht freie Pluralität gewähre, „sondern von vornherein im Sinne einer Fügung der Momente zum Ganzen.“ zu verstehen sei (Welsch, S. 211). Aber missversteht Welsch die Vierung Heideggers als ein allgemein aussagenlogisches Modell, das die Vielheit verfehle, während es bei Heidegger strikt ontologisch verstanden werden sollte? „Zudem kann man sich schwerlich blind da­ für stellen, daß hier altes kosmologisches Denken in neuem Gewand wiederkehrt. Gewiß, Tedraden sind weniger zwingend als Triaden, aber ganzheitlich sind allemal auch sie.“ (Welsch, S. 212). Wer die Interdependenz der Lebenswelten leugnet, ver­ schließt die Augen vor dem Politischen, das im Sinne Heideggers eminent geschicht­ lich ist. Um das Politische geht es Welsch. wenn er schreibt, dass intragenerische Konflikte lösbar, intergenerische aber nicht lösbar seien. Das impliziert ja, dass, wenn auch keine harmonisch gefügte Gesamtordnung gegeben ist, dennoch eine Ordnung als Unordnung da sein muss. Immerhin erhebt Welsch die politische For­ derung: „Daher ist postmodern ein Positionstypus ausgeschlossen: der absolutisti­ sche, der Alleinvertretungs‑ und Universalgeltungs-Ansprüche erhebt.“ (Welsch, S. 244). Was aber ausgeschlossen ist, hat seinen Ort in einem Ganzen, zu dem sein Draußen gehört.

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B. Der Streit um das Abendmahl

Sie war von dem Gegensatz zwischen Habsburg und Frankreich geprägt, in dessen Kontext auch die Türkengefahr eine gewichtige Rolle spielte. Hinzu kam, dass die Verhältnisse nicht nur zwischen den Reichsständen kompli­ ziert waren, sondern dass auch innerhalb der entstehenden Flächenstaaten im Reich die Stände in Spannung zueinander standen und entweder Privile­ gien erfolgreich verteidigten oder von den Reichsfürsten erfolgreich abge­ sprochen bekamen. Die Lage war unübersichtlich geworden. Marburg in Hessen war der Ort, der für die Verhandlungen verabredet war, und die ersten Oktobertage des Jahres 1529 waren die Zeit. Ort und Zeit sind, falls Verhandlungen nicht institutionalisiert sind, meist umstritten. Zeit ist befristet. Der eine hat mehr, der andere hat weniger Zeit. In Mar­ burg war die Zeit für die Schweizer dringlicher als für die anderen Teilneh­ mer. Ortsfragen können, abgesehen von der Erreichbarkeit der Verhand­ lungsorte für alle Beteiligten, zu Prestigefragen werden. Marburg lag im Herrschaftsbereich eines der Parteigänger, des Landgrafen Philipp I von Hessen, und war somit kein neutraler Ort. Beim Verhandlungspersonal ist hauptsächlich an Martin Luther, Huldrich Zwingli und Martin Bucer zu denken. Am Rande verdient auch Melanch­ thon eine Erwähnung, aber interessant wird er erst nach Marburg und dem Scheitern des dort angestrebten Kompromisses. Wer die Auseinandersetzung zwischen Luther und Zwingli in Marburg alleine auf die dogmatischen Differenzen reduziert und sie nicht im Kontext der Vierung betrachtet, wer sie also dekontextualisiert, missversteht nicht nur das Geschehen, sondern verleiht der dogmatischen Argumentation eine Bedeutung, die ihr nicht zukommt. Im Bereich der Vierung hat die Lage eine besondere Bedeutung. Ihre Kompliziertheit ergab sich daraus, dass das alte Heilige Römische Reich Deutscher Nation in seiner Verfassung ein Gewebe, mehr noch ein Gewirr von Zuständigkeiten bildete, in dem sich alle Stände im Wechsel von Kooperation und Konkurrenz begegneten. Die Entwicklung begünstigte die Landesfürsten, die nicht mehr bereit waren, sich der zentralen Macht des Kaisers zu beugen. Kaiser war, als die Refor­ mation Fahrt aufnahm, Karl V.,24 der gegen die Bestrebungen der Landes­ fürsten das Konzept einer Universalmonarchie verfolgte. So sehr sich die Landesfürsten auch gegen den Machtanspruch des Kaisers weitgehend einig waren, standen sie dennoch in z. T. scharfer Konkurrenz gegeneinander, auch im protestantischen Lager. Dies betraf auch Hessen und Kursachsen. Die reichsunmittelbaren Städte waren auch nicht auf einen Nenner zu brin­ gen: Zum einen waren sie auf den Kaiser angewiesen, um sich gegenüber 24  Karl V. wurde vom Papst zwar erst 1530 zum Kaiser gekrönt, führte aber den Titel erwählter Kaiser.



III. Luther und Zwingli schließen keinen Kompromiss153

den Bedrängnissen von Seiten der Landesfürsten erfolgreich zur Wehr set­ zen zu können, andererseits pochten sie auf größtmögliche Unabhängigkeit, nicht zuletzt in Fragen der Religion. Die Schweizer Städte gehörten schon nicht mehr dem Reich an und verfolgten eine antihabsburgische Politik. Straßburg als freie Reichstadt, die Stadt Martin Bucers, war der Schweizer Reformation verbunden, hatte aber besonders auf Frankreich zu achten, von dem eine Bedrohung ausging. Ein Bruch mit Habsburg konnten sich die Straßburger trotz der in der Stadt durchgeführten Reformation nicht leisten. Darauf war Rücksicht zu nehmen. Die Lage Straßburgs bot Bucer die Ge­ legenheit, zwischen den Schweizern und den Wittenbergern vermitteln zu können. Seine Vermittlung fand politischen Rückhalt und konnte entspre­ chend nicht ignoriert werden. Zusammenfassend lässt sich sagen: Was die Reformation im Reich begünstigte, stand den Bemühungen um Einigkeit im reformatorischen Lager entgegen. Waren auf dem Reichstag in Worms 1521 noch über Luther die Reichs­ acht verhängt und seine Schriften verboten worden (Wormser Edikt), so entspannte sich die Lage der Evangelischen in den folgenden Jahren. Die endgültige Entscheidung über die Religionsfrage wurde immer wieder ver­ tagt und zudem an die Einberufung eines allgemeinen Konzils gebunden. In Speyer war 1526 beschlossen worden, dass die Durchsetzung des Wormser Edikts in der Verantwortung einer jeden Obrigkeit im Reich liege. Erst auf dem Reichstag 1529, der wiederum in Speyer tagte, forderte Ferdinand, der Bruder des Kaisers, der für Karl V. die Geschäfte im Reich führte, das Wormser Edikt endlich durchzusetzen, wogegen sechs Fürsten und 14 Reichsstädte ihre Protestation einlegten. Diese Protestanten in ein gemein­ sames Bündnis gegen den Kaiser einzubinden, war mittelbares Ziel des Marburger Religionsgesprächs. Unmittelbares Ziel war, als Grundlage für das Bündnis möglichst große theologische Übereinstimmung in allen refor­ matorischen Fragen zu erzielen. Die Reformation war ein öffentliches Er­ eignis, und ihre Kontroversen fanden öffentliche Aufmerksamkeit in allen Lagern. Predigt und Sakrament betraf die Menschen direkt, während die Öffentlichkeit nicht darauf vorbereitet war, die politischen Verhältnisse zu durchschauen. Die theologischen Streitigkeiten beunruhigten sie mehr. Die Theologie war keineswegs die alleinige Grundlage für eine politische Einigung, auch wenn es den Beteiligten seiner Zeit so vorgekommen sein mag: Vielmehr spielten die politischen Kontroversen eine viel gewichtigere Rolle, was so aber öffentlich nicht zum Ausdruck gebracht werden konnte, weil es die Ausdrucksmöglichkeiten noch gar nicht gab. Es ging nicht nur um die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten, zwi­ schen den protestantischen Reichsständen und dem Kaiser, sondern auch um die Auseinandersetzung innerhalb des protestantischen Lagers. Alles war verwoben mit der Frage, wie das Reich und das Verhältnis der Stände zum

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Kaiser zu verstehen sei. Neben der Theologie trat das juristische Denken in Gestalt des römischen Rechts eigenständig auf. Der sich formierende Staat sprach im Umfeld von Marburg in juristischer Sprache schon ein gewichti­ ges Wort mit. Ein generelles Widerstandsrecht gegen die Monarchie zu behaupten, wie es später von den reformierten Monarchomachen vertreten worden ist, kam in der Zeit der Reformation noch nicht in Frage. Selbst die Schweizer be­ durften der Unterstützung der Fürsten, um gegen Habsburg bestehen zu können. Sollte sich der Kaiser auf die Seite der Katholischen schlagen und ein Kriegsbündnis gegen die protestantischen Stände zustande bringen, ließ sich das Widerstandsrecht juristisch begründen, wobei die Schrift als Bezug nicht außen vor blieb. Auf der einen Seite wurde die Position vertreten, die Reichsstände stünden in einem Lehensverhältnis zum Kaiser und seien zum Gehorsam verpflichtet, die so genannte freie Ausnehmung, während auf der anderen Seite die beschränkte Ausnehmung unter Berufung auf das römi­ sche Recht und auf die Schrift vertreten wurde. Luise Schorn‑Schütte ver­ weist in diesem Zusammenhang auf die Bestimmung des römischen Rechts, dass der Vater sich selber seines Amtes begebe, wenn er seine Kinder töten wolle. Darauf beriefen sich die Vertreter der beschränkten Ausnehmung. Schorn‑Hütte referiert und erläutert die weitere juristische Argumentation, wobei es ihr darauf ankommt zu zeigen, wie sich die juristischen und theo­ logischen Rechtfertigungsnarrative besonders im Luthertum verzahnten. In unserem Zusammenhang erscheint der Hinweis wichtig, dass der säch­ sische Kurfürst zu dem Zeitpunkt, als Luther sich schon auf dem Weg nach Marburg befand, Johannes Bugenhagen mit einem Gutachten über die Frage des Widerstandsrechts gegen den Kaiser beauftragt hatte, und dass Bugen­ hagen den Einsatz militärischer Gewalt für den Fall, dass obrigkeitliche Gewalt sich gegen Gottes Wort wende, für die niedere Obrigkeit als ver­ pflichtend betrachtete.25 Vielleicht hätte Luther in Marburg in Kenntnis dieses Gutachtens entgegen seinen theologischen Neigungen geschmeidiger verhandeln müssen. Zusätzlich erschwert wurden die Verhandlungen in Marburg durch den Umstand, dass Philipp von Hessen und Zwingli die theologische Einigung nicht nur als Grundlage für ein Abwehrbündnis gegen ein eventuell vom Kaiser geführtes katholisches Bündnis ansahen, sondern darüber hinaus ein Offensivbündnis gegen Habsburg anstrebten, in das Frankreich hätte einge­ bunden werden sollen. Der sächsische Kurfürst hatte kein Interesse daran, 25  Schorn-Schütte (2015), S. 36 f. Insbesondere geht es Schorn-Schütte in ihrem Buch darum aufzuzeigen, dass sich eine Lehre vom Recht auf Widerstand gegen die Obrigkeit nicht nur im reformierten Bereich entwickelt habe (die sogenannten Mo­ narchomachen), sondern auch im Bereich des Luthertums.



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sich an einer offensiven antihabsburgischen Koalition zu beteiligen, im Gegenteil: Johann von Sachsen suchte nach einem Ausgleich mit Habsburg und stand bereits in Verhandlungen mit dem Kaiser. Die katholische Seite stand unter Verhandlungsdruck, weil die Türken schon bis Wien vorgerückt waren. Der Kaiser brauchte die Reichsstände in diesem Abwehrkampf. Das wollte sich Kursachsen zu Nutze machen. Den Wittenberger Theologen waren in Marburg also weitgehend die Hände gebunden, zumindest für ein offensives Bündnis gegen Habsburg. Ein Abwehrbündnis zu schließen wäre vielleicht möglich gewesen. Die Vierung war in Marburg elastisch, was hätte ausgenutzt werden können. So gesehen kann man anstatt Luther und seinem Starrsinn mehr noch Philipp von Hessen für das Scheitern des Re­ ligionsgesprächs verantwortlich machen. Träfen all die Vermutungen zu, dann hätten die theologischen Kontroversen gegenüber dem politischen Kalkül Philipps keine große Rolle mehr gespielt. Dieses Kalkül dominierte vielleicht schon im Vorfeld des Marburger Tref­ fens das Geschehen. Im Rahmen der Vierung der Kompromissverhandlung muss Übereinkunft nicht zuletzt über die Frage des Verhandlungspersonals vorhanden sein. Die Verhandlungspartner müssen sich gegenseitig anerken­ nen und darüber hinaus auch berücksichtigen, dass ihr Gegenüber wie sie selber Repräsentanten sind. Eine Einigung unter ihnen wäre nichts wert, könnte das Verhandlungsergebnis nicht jenen vermittelt werden, in deren Namen verhandelt wird. Ort, Zeit und Lage mögen für einen Kompromiss günstig sein, aber wenn in Hinsicht der teilnehmenden Personen die Über­ einkunft zwischen den Parteien fehlt, können Kompromisse allenfalls er­ zwungen werden. Sie überdauern dann gewöhnlich nicht lange. Die Rück­ kehr der Protagonisten in die ihnen angestammten Orte setzen die wider­ strebenden Kräfte wieder frei. So auch nach Marburg: In allen Fragen außer dem, wie das Abendmahl zu verstehen sei, war Übereinkunft erzielt worden, die von den Wittenbergern nach ihrer Heimkunft widerrufen wurde. In Mar­ burg hatte es nicht nur einen der Lage geschuldeten politischen Dissens gegeben, der zu überbrücken gewesen wäre. Die Wittenberger hatten nicht mit der Anwesenheit Zwinglis gerechnet. Sie erwarteten den Baseler Refor­ mator Ökolampad, der den Standpunkt Zwinglis hätte vertreten sollen.26 Philipp hatte die Wittenberger bewusst über die Anwesenheit Zwinglis ge­ täuscht. Wer einen Kompromiss anstrebt, wird Kompromissverhandlungen so nicht vorbereiten dürfen. Allerdings muss auch bedacht werden, dass Verhandlungen gelegentlich nicht anberaumt werden, um zu einem Kompromissergebnis zu kommen, 26  Ökolampad war stark von dem mystischen Verständnis des Abendmahls, wie es Erasmus vertrat, eingenommen und war darum von den Wittenbergern als Ver­ handlungspartner anerkannt worden.

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sondern um sie scheitern zu lassen. Man kann Philipps Einladung an Zwingli und sein Erscheinen in Marburg so deuten, dass Philipp keinen Fehler machte, sondern bewusst auf das Scheitern der Verhandlungen ge­ setzt hat. Dann wäre ihm selbst an einem Defensivbündnis gegen Habsburg wenig gelegen gewesen. Im Hinblick auf die Lage war das Zustandekommen eines breiten protes­ tantischen Offensivbündnisses unter Einbeziehung Frankreichs für jeden, der sie durchschaute, eine Unmöglichkeit. In dieser Hinsicht kann Philipp mehr Einsicht zugetraut werden als den Schweizern, deren Not größer war. Hätte Philipp so wenig wie die Wittenberger an eine Übereinkunft geglaubt, dann hätte er, anders als die Kursachsen, die öffentliche Wirkung des Schei­ terns, für das die Wittenberger verantwortlich gemacht werden konnten, im Blick gehabt. Es wäre Philipp dann darum gegangen, Luther und dessen Landesherren, seinen Rivalen im protestantischen Lager Johann von Sach­ sen, auf Grund der offenbaren Obstruktionspolitik des lutherischen Lagers schlecht aussehen zu lassen. Man kann das in Betracht ziehen. Philipp un­ terschied sich im Beherrschen des politischen Ränkespiels erheblich von seinem kursächsischen Glaubensbruder, den man Johann den Beständigen nennt. Was aus Schweizer Sicht in Marburg wie ein Scheitern aussehen musste, wäre dann für Philipp ein Gewinn gewesen. Auch Philipp sah Habs­ burg von den Türken bedrängt und mag geglaubt haben, auf Zeit spielen zu können, um im öffentlichen Ansehen Punkte zu sammeln. Luther hatte schon gezeigt, dass ihn sein Gemüt vor keiner Falle bewahrte, die man ihm stellte. In der öffentlich geführten Auseinandersetzung über den freien Wil­ len war es Erasmus gelungen, als Opfer dazustehen, obgleich er selber der Angreifer war. Luther war leicht auszurechnen. Philipp war sicher ein Meis­ ter im Arrangieren von Konstellationen, was ihn zu einem Protagonisten der Politik seiner Zeit machte. Inwiefern Philipp zu Recht den Beinamen der Großmütige trägt, sei da­ hingestellt. Sein Eheverständnis darf als übertrieben großmütig bezeichnet werden, je nach Standpunkt.27 Anders als Johann in Kursachsen, der zu­ nächst mit seinem Bruder Friedrich dem Weisen die Herrschaft teilte und erst nach dessen Tod 1525 auch die sächsische Kurfürstenwürde trug, ver­ dient es Philipp, nicht mehr als Renaissancefürst, sondern schon als frühab­ solutistischer Herrscher bezeichnet zu werden. 1518 kam er, noch nicht volljährig, mit Unterstützung des Kaisers an die Macht und musste die Herrschaft gegen den hessischen Adel und gegen den Reichsritter Franz von Sickingen in blutigen Fehden behaupten. Dabei hatte das hessische Territo­ rium keine leicht zu verteidigenden Grenzen. Hessen hatte nicht die ge­ 27  Philipp heiratete 1540 Margarethe von der Sale und führte somit eine Zweit­ ehe. Er berief sich dabei auf die Patriarchen im Alten Testament.



III. Luther und Zwingli schließen keinen Kompromiss157

schlossene geographische Gestalt der meisten sich damals bildenden Flä­ chenstaaten. Um 1524 schloss sich Philipp der Reformation an. Dabei hat wohl auch die Rivalität mit den Erzbischöfen von Mainz eine Rolle gespielt, die in Teilen Hessens die Gerichtsbarkeit ausübten. Die feudalen Rechte überschnitten sich in Hessen in vielfältiger Weise. Philipp ging es vor allem um eine Zentralisierung der Verwaltung als Mittel der Konsolidierung seiner Macht, was ihm mit Hilfe einer sehr effizienten Kanzlei weitgehend gelang. Er stieg im Reich schnell zu einer politischen Führungsfigur des Protestan­ tismus auf. Es war ihm früh gelungen, den Gemeinden in Hessen eine Kirchenordnung zu geben. Philipp setzte sie auf der Homberger Synode im Oktober 1526 durch. Das strahlte auf die Reformation im Reich aus. Die Kirchenordnung in Hessen beinhaltete eine sehr weitgehende Autonomie der Gemeinden. Philipps Protestantismus gründete im Schriftprinzip, was ihn mit den Schweizern verband. Seine Gemeindeordnung orientierte sich an der Schilderung der biblischen Urgemeinde in der Apostelgeschichte. In der Praxis brachte das die eine oder andere Schwierigkeit mit sich, aber generell neigte Philipp dazu, sich in die Glaubensbelange seiner Untertanen nicht einzumischen. Theologische Spitzfindigkeiten, die er als Streitigkeiten um Worte empfand, lagen ihm fern. Philipp war Pragmatiker mit einer ihm ei­ genen Neigung zur Reformation,28 die ihn nicht davon abgehalten hatte, 1523 die Tochter des Herzogs von Sachsen aus der albertinischen Linie des Hauses Wettin, das katholisch geblieben war, zu ehelichen. Sein Pragmatis­ mus erklärt seine Duldsamkeit gegenüber den radikaleren Vertretern der Reformation, vor allem auch gegenüber den Juden.29 Die geopolitische Lage Hessens nötigte Philipp dazu, um Gefolgschaft in der Bevölkerung zu werben. Philipp achtete auf Liberalität in seiner öffent­ lichen Erscheinung. Oft war er gezwungen, als Hasardeur zu agieren, der die Bündnisse ständig wechseln musste. Aber selbst wenn ihn Kanzlei und Untertanen zu harten Formulierungen in der Gesetzgebung in Religionsfra­ gen drängten, war deren praktische Umsetzung von großer Billigkeit ge­ prägt, weil Philipp es sich mit niemandem ganz verderben wollte. Man kann seine Religionspolitik schon erastianisch nennen, nach dem Zwinglianer Thomas Erastus, der die Kirche dem Staat unterordnete, Kirchenzucht ab­ lehnte und insbesondere die Auffassung vertrat, dass der Kirche das Recht der Exkommunikation verwehrt werden müsse. Thomas Erastus war eine, wenn man so will, zwinglianische Neuauflage des Marsilius von Padua.30 28  „His correspondence with his mother Anna, his father-in-law Duke George, and the Franciscan Superior Ferber provide a clear and certain view of Philipp’s own convictions.“ (Cahill, S.  81 f.). 29  Zu Philipps Herrschaft und Regentschaft vgl. Schneider-Ludorff. 30  Marsilius von Padua verteidigte im 14. Jahrhundert den Machtanspruch des Kaisers gegenüber der Kirche (Defensor pacis, 1324) und gilt zudem als vormoder­

158

B. Der Streit um das Abendmahl

Ein Ruhmesblatt für Philipp war die Gründung der Marburger Universität im Jahre 1527, womit der Raum als Verhandlungsort im Rahmen der Vie­ rung in den Blick tritt. Mit der Gründung der Marburger Universität wurde zwar der Protestantismus im Reich gestärkt, aber gleichzeitig auch Witten­ berg der Alleinvertretungsanspruch für die reformatorische Theologie im Reich bestritten. War Wittenberg zunächst noch am Aufbau der Universität beteiligt und bei den Professorenberufungen zu Rate gezogen worden, geriet es schließlich ins Hintertreffen und verlor nahezu jeglichen Einfluss auf die Berufungen. In Marburg herrschte theologischer Pluralismus. Philipps Initia­ tive zur Vereinigung des protestantischen Bekenntnisses war 1529 darum legitim. Die Lutheraner konnten sich entsprechend der Einladung Philipps nach Marburg nicht entziehen, werden den Weg aber nur widerwillig ange­ treten haben. Inhaltlich stand Philipp Zwingli und besonders Bucer näher. Er war sich mit Bucer darin einig, dass es sich bei dem Abendmahlsstreit nur um einen Streit um Wort handele. Sein frühabsolutistischer Herrschaftsstil vertrug sich besser mit dem auf Duldung ausgerichteten bürgerlichen Selbstver­ ständnis in den oberdeutschen Städten als mit dem landesherrschaftlichen Selbstverständnis, das in Sachsen, Brandenburg und den anderen Fürstentü­ mern im Reich vorherrschend war. Die Freiheit, die er seinen Untertanen in Religionsfragen gewährte, stärkte seine Stellung in Hessen gegenüber dem hessischen Adel, den zu unterwerfen es viel Mühe und Kämpfe gekostet hatte. Aus einem Brief hessischer Bauern aus Balhorn, denen Philipp das ner Vorläufer der Lehre von der Volkssouveränität. Darum hinkt der Vergleich, weil Erastus die Souveränität dem Staat zuspricht, ohne das Volk zu berücksichtigen. Wie sehr aber die jeweiligen Diskurse über das Abendmahl den politischen Diskrepanzen Ausdruck zu verschaffen in der Lage waren, zeigen die Auseinandersetzungen in der Kurpfalz, bevor die ursprünglich an Zürich orientierte reformierte Landeskirche in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts wieder lutherisch wurde: „Die pfäl­ zische Kirche war durch das Zusammenwirken von Zwinglianern und Calvinisten aufgebaut worden. An dem gemeinsamen Werk mußte sich die proklamierte Einheit bewähren. Sobald die Existenz der Kirche nur einigermaßen gesichert war, zeigten sich die inneren Gegensätze, die ohne das landeskirchliche Kirchenregiment und ohne den Friedenswillen der beiden geistlichen Zentren zu neuer Spaltungen Anlaß gegeben hätten. So aber begann gerade in der pfälzischen Kirche die gegenseitige Durchdringung der beiden Richtungen. Auf theologischem Gebiet und besonders in der Abendmahlslehre behielt der Calvinismus das Übergewicht, bei der Zuordnung von Staat und Kirche setzte sich zunächst die staatskirchliche Organisation durch, wie sie der Züricher Kreis vertrat, der damit nur eine Entwicklung bejahte, die schon lange im deutschen Raum im Gang war. Die Zeit brachte auch auf kirchenpoliti­ schem Gebiet mit der immer weiter fortschreitenden Säkularisation des Staates in rein geistlichen Belangen von selbst eine gewisse kirchliche Autonomie und damit eine Annäherung an die calvinistischen Prinzipien äußerer Kirchenorganisation.“ (Wesel-Roth, S. 44).



III. Luther und Zwingli schließen keinen Kompromiss159

Recht bestätigt hatte, sich ihren Pfarrer selber zu wählen, zitiert Richard Andrew Cahill: „Your Princely Grace should be our pope and Emperor.“31 Während Philipp von Hessen glaubte, es herrsche zwischen den Reforma­ toren Übereinkunft auf der Basis der Schriftgebundenheit, und Zwingli und die anderen Reformierten die gemeinsam vertretene Rechtfertigungslehre als ausreichende Grundlage für Kompromisse betrachteten, war für Luther in Marburg die Abendmahlslehre von entscheidender Bedeutung, die er als nicht verhandelbar behauptete. Die Auseinandersetzung schwelte schon lan­ ge, hatte mit Luthers Sermon von dem Sakrament des Leibes und Blutes Christi wider die Schwarmgeister im Oktober 1526 begonnen, auf den Zwingli mit seiner Amica exegesis Anfang 1527 geantwortet hatte. Luthers Entgegnung darauf erfolgte im April 1527, Daß die Worte ‚Das ist mein Leib’ noch fest stehen, wider die Schwarmgeister‘. Zwingli konterte im Juni desselben Jahres mit seiner Schrift Daß diese Worte ‚Das ist mein Leib, das ist mein Blut‘ ewiglich den alten Sinn behalten werden. Luther veröf­ fentlichte im März 1528 noch Vom Abendmahl (Christi Bekenntnis), und Zwingli abschließend Uiber doctor Martin Luters buch bekenntnuss genannt.32 Die Hauptkampflinie war damit abgesteckt. Wie oben gezeigt, dienten die Eucharistie und das Kirchenfest Fronleich­ nam der kirchlichen Bürokratie während des Hoch‑ und Spätmittelalters dazu, die Zentralisierung der Verwaltung der abendländischen Kirche zu veranschaulichen. Kein Wunder, dass sich die Reformatoren in der Bekämp­ fung der Messe einig waren. Neben der Taufe hielten sie aber am Abend­ mahl fest, nicht zuletzt weil es biblischer Auftrag war, z. B. Lk 22, 19: „Dies tut zu meinem Gedächtnis!“ Zwingli brach völlig mit der Transsubstantiationslehre, wie auch die radi­ kalen Reformatoren, indem er das während des Gottesdienstes zu feiernde Abendmahl als ein reines Erinnerungsmahl auffasste. Ging damit aber nicht auch der Sakramentscharakter des Abendmahls verloren? Luther verdächtigte Zwingli immer, ein Schwärmer zu sein, also jenem Flügel der Reformation anzugehören, der in der Kirche keine Unterscheidung mehr machen wollte und die Ämter verleugnete. Zwingli ging aber nicht soweit, die Identität von Identität und Nichtidentität von Bürger‑ und Christengemeinde zugunsten der Christengemeinde aufzuheben, was ihn tatsächlich als einen Schwärmer aus­ gewiesen hätte, oder anders gesagt: Es ist nicht verwunderlich, dass mit ­Thomas Erastus ein Zwinglianer forderte, die Kirche vollständig dem Staat unterzuordnen. Entsprechend vertrat Erastus uneingeschränkt die Abend­ mahlslehre Zwinglis. Rohls fasst Zwinglis Sakramentsverständnis wie folgt 31  Cahill,

32  Über

S. 75. die Geschichte der Auseinandersetzung informiert Rohls (2006), S. 51 ff.

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B. Der Streit um das Abendmahl

zusammen: Zwingli habe das Verständnis des est als bedeutet von dem nie­ derländischen Humanisten Cornelius Hoen übernommen. Das Mahl sei für ihn „ein Mahl der Erinnerung, der commemoratio an das bereits geschehene Kreuzesopfer zur Sündenvergebung, zudem eine öffentliche gemeinschaftli­ che Bestätigung des Glaubens, ein Bekenntnis- und Pflichtzeichen, durch das die gläubigen Teilnehmer die sündenvergebende Kraft des Todes Christi ver­ künden und sich verpflichten, gemäß dem Gebot Christi zu leben. Und Zwingli begründet dieses Verständnis des Abendmahls zudem mit seiner Deutung des Sakramentsbegriffs, wonach ‚sacramentum‘ im profanen Be­ reich ursprünglich ‚Fahneneid‘ – sacramentum militare – bedeutete.“33 Die Reformation war in Zürich in den Anfängen stecken geblieben. An­ ders als Bucer in Straßburg verstand es Zwingli nicht, eine Ekklesiologie auszuarbeiten. So sehr die Reformatoren die Zentralisierung der Ämterver­ gabe auch bekämpften und das allgemeine Priesteramt der Gläubigen ver­ traten, musste dennoch geklärt werden, wie aus dem allgemeinen Priesteramt die speziellen Verfahren in der Kirche abzuleiten waren, und wer wie befugt sein sollte, innerhalb der Kirche die rechtlich qualifizierten Unterscheidun­ gen zu machen, etwa zwischen Ehe und Konkubinat, Zugehörigkeit oder Ausschluss usw. Es ist die entscheidende Frage der Kirchenzucht, die im Hinblick auf die Nichtunterscheidbarkeit zwischen Kirchen und Bürgerge­ meinde unmittelbar politische Konsequenzen zeitigte. Erastus hat später daraus die Konsequenz gezogen und der weltlichen Obrigkeit die Aufgabe der Kirchenzucht zugesprochen. Wie sollte im Zusammenhang mit dem allgemeinen Priesteramt die Anwe­ senheit des Herrn als dem Hohepriester in seiner Kirche gedacht werden? Luther dachte in seiner Theologie von der Inkarnation aus, dass Gott in Christus Mensch wurde, was nicht als eine Vermischung der Naturen, son­ dern als eine unio personalis zu verstehen sei. Darum legte er im Abendmahl nicht nur Wert auf die geistige, sondern besonders die leibliche Anwesenheit Christi, ohne ihre Vermittlung verständlich machen zu können. Hier zeigte er sich als ein Vertreter der via moderna, der der Vernunft nicht zutraute, die Geheimnisse Gottes ergründen zu können. Helmut Gollwitzer schreibt dazu: „Die unio ist weiter keine unio naturalis seu physica. Das bedeutet: es versa­ gen hier alle Kategorien der Vernunft und der Erfahrung, unter denen wir sie uns begreiflich machen könnten. Gerade diese Unvorstellbarkeit der Abend­ mahlsgegenwart auszudrücken war wesentliches Anliegen des Luthertums.“34 Luther befahl nicht nur die gläubige Hinnahme dessen, was die Schrift ver­ kündige. Luther betonte, dass in Christus Gott selber nicht nur Mensch ge­ worden sei, sondern auch den Kreuzestod erlitten habe, um dem Menschen 33  Rohls

(2006), S. 54 f. S. 142.

34  Gollwitzer,



IV. Martin Bucers Vermittlung als Neutralisierung161

ewiges Leben zu erwirken. Brot und Wein waren im Abendmahl für ihn wah­ res Fleisch und wahres Blut Christi, so dass sich in der Austeilung des Abend­ mahls die Heilstat Gottes immer wieder ereignet. Christus ist das Ursakra­ ment, von dem her sich das Geschehen im Abendmahl ableiten lässt. Entspre­ chend lehrte Luther auch die manducatio impiorum: Fleisch und Blut des Herrn werden auch von denen gegessen, die ungläubig am Abendmahl teil­ nehmen. Für die Reformierten vertrat Luther damit aber weiterhin den Stand­ punkt der Transsubstantiationslehre, insbesondere die Auffassung von der manducatio impiorum war für sie unannehmbar. Bedenkt man Luthers Beharrlichkeit darin, dass Einigkeit über das Abendmahl in Marburg die grundlegende Übereinkunft hätte sein sollen, auf deren Basis Kompromisse überhaupt erst hätten geschlossen werden kön­ nen, anders als seine Gegner, die die Rechtfertigungslehre als ausreichende Basis für eine Verständigung ansahen, dann lässt sich weiter schließen, dass Übereinkunft über Vernunft, wie später Kant und Hegel es verstehen, für Luther von vorneherein ausgeschlossen war. Die Vernunft diktiert Kompro­ misse, aber Übereinkunft stellt sich für Luther anders her. Es ging in Mar­ burg nicht vernünftig zu, weil die lutherische Seite von vorne herein nicht bereit war, sich Vernunftgründen zu unterwerfen. Das war für die Schweizer, die dem Humanismus wesentlich näher stan­ den als die Wittenberger, ein Affront, den sie nicht verstanden. Schon hier deutet sich an, dass Martin Bucer, der auf Grund seiner bereits angespro­ chenen Pneumatologie Vernunftgründen gegenüber ebenso misstrauisch war wie gegenüber fest behaupteten dogmatischen Wahrheiten, in Marburg we­ der mit den Schweizern noch mit Luther übereinstimmte, wenngleich er zu Zwingli hielt. Auch wenn Bucer dem Humanismus nahe stand, den Weg der via antiqua war er nicht bereit mitzugehen. Bevor Bucers Lösung des Pro­ blems des Abendmahlsverständnisses erläutert wird, soll sein Verständnis des Heiligen Geistes kurz skizziert werden, weil sich von ihm aus die theo­ logische Grundlage seiner Vermittlungsarbeit erschließt. Bucer stand mit seiner Geisttheologie Luther näher als Zwingli, aber unterschied sich doch von Luther in einem wesentlichen Aspekt.

IV. Martin Bucers Vermittlung als Neutralisierung 1. Martin Bucers Theologie vom Heiligen Geist Alle Reformatoren haben den Geist als die Kraft verstanden, die über die äußerlichen Mittel der Schrift und die Sakramente den Glauben bewirke. Bei Luther und Zwingli bewirkt der Geist theologische Unterscheidungs­ kraft auf Grund der Klarheit und Eindeutigkeit der Schrift. Aus diesem

162

B. Der Streit um das Abendmahl

Grund bestand Luther in Marburg auf der wörtlichen Auslegung der Einset­ zungsworte. Zwingli hielt dagegen und konnte dafür gute philologische Gründe angeben. Luther urteilte entsprechend, die Schweizer hätten einen anderen Geist.35 Die Betonung des Schriftprinzips war besonders gegen die Schwärmer gerichtet, die behaupteten, der Geist wirke in ihnen unmittelbar. Während nun Luther und Zwingli die Kraft des Heiligen Geistes zur Unterscheidung zwischen Christus und Antichristus im Blick haben, stellt Bucer die versöh­ nende Kraft des Geistes, die Liebe bewirke, ins Zentrum seiner Theologie, und gewinnt so ein Unterscheidungskriterium, mit dem präziser zwischen rechtem Glauben und Häresie unterschieden werden kann. Bucer formuliert mit seinem Kompromissvorschlag nicht eine mittlere Position zwischen Luther und Zwingli. Wie hätte die sich auch formulieren lassen? Mit dem Bezug auf die versöhnende Wirkung des Heiligen Geistes zeigt sich aber die logische Überlegenheit Bucers sowohl gegenüber Zwing­ li als auch gegenüber Luther, und es ist schon verwunderlich, dass Hegel, der sich auf die lutherische Seite stellte, sie nicht erkannt hat. Hegel hat die Positionen im Abendmahlsstreit wahrscheinlich nicht gründlich gekannt. In seinen Vorlesungen über die Religion entpuppt er sich eher als Calvinist denn als Lutheraner, wenn er Luthers Standpunkt in der Abendmahlsfrage so interpretiert, als habe Luther die ausschließlich geistige Anwesenheit des Herrn im Abendmahl behauptet.36 Luther ging es nicht um die Anwesen­ 35  „Ich bin euer herr nicht, euer Richter nicht, euer lerer auch nicht, so reymet sich unser gayst und euer gayst nicht zusamen, sonnder ist offenbar, das wir nicht ainerley gayst haben, dann das kann nicht ainerley gayst sein, da man an einem ort die wort Christi einfeltigklich glaubt unnd am anndern denselben glauben tadelt, widerfichtet, lugstraffet und mit allerley frefeln lesterworten antasstet.“ (zit. n. Friedrich, S. 54). 36  Hegel (1986a), S. 327 ff. Das ewige Opfer, also die Heilstat Christi und damit die hergestellte Einheit des Subjekts mit dem absoluten Objekt, werde den Gläubi­ gen zum Genuss auf dreifache Weise gereicht: In der katholischen Religion werde Gott ein Ding in der Weise eines empirischen Dings, das Wahre werde als etwas Festes und Äußerliches vorgestellt. „Das Subjekt ist in jeder Hinsicht das passive, empfangende, das nicht wisse, was wahr, recht und gut sei, sondern es nur anzuneh­ men habe von anderen.“ (Hegel 1986a, S. 328). Die lutherische Vorstellung gehe zwar vom Äußerlichen aus, schreite dann aber insofern weiter, „daß (…) der Genuß, das Selbstgefühl der Gegenwärtigkeit Gottes zustande kommt, insoweit und insofern die Äußerlichkeit verzehrt wird, nicht bloß leiblich, sondern im Geist und Glauben. Im Geist und Glauben nur ist der gegenwärtige Gott.“ (Hegel 1986a, S. 328). Hegel unterstellt nun der reformierten Vorstellung, sie vertrete „eine geistlose, nur lebhafte Erinnerung der Vergangenheit, nicht göttliche Präsenz, keine wirkliche Geistigkeit. Hier ist das Göttliche, die Wahrheit in die Prosa der Aufklärung und des bloßen Verstandes heruntergefallen, ein bloß moralisches Verhältnis.“ (Hegel 1986a, S. 329). Die von Hegel Luther unterstellte Position benennt aber das Abendmahlsverständnis



IV. Martin Bucers Vermittlung als Neutralisierung163

heit des Geistes, darüber gab es keine Kontroverse, sondern um die Anwe­ senheit des Leibes. Im Hinblick darauf, dass Zwingli im Zusammenhang mit dem Abendmahl mit Geist die Anwesenheit des Herrn in der Erinnerung meinte, ist Luthers Misstrauen gerechtfertigt, ob mit Geist auf der Gegen­ seite dasselbe gemeint war, was er unter Geist verstand. Bucer versteht den Heiligen Geistes nicht als etwas Jenseitiges, sondern als eine ursprünglich von Gott gestiftete Übereinkunft, die allen über die Vernunft vermittelbaren Übereinkünften vorausgeht und alles begleitet. Er ist kein individuelles Wesen, sondern soziale Voraussetzung und Wirklich­ keit. In der Loyalität zu ihr erweist sich der Glaube. Geist und Glaube sind so wenig individuell wie Sprache und Diskurs. Geist und Glaube bezeich­ nen eine Relation. Der Glaube ist anwesender Geist in der Liebe, nicht in der Vernunft. Geist ist damit kein metaphysischer Begriff, sondern sinnlich erfahrbares soziales Geschehen. Er ist aber auch nicht das Andere der Ver­ nunft. Liebe ist nicht blindes Vertrauen oder einfach nur Hingabe. Die Liebe Bucers ist prüfende Liebe und darum nicht unverständig. Vielleicht kommt man der Sache näher, wenn man an Heideggers Bestim­ mung dessen denkt, was für ihn Gestimmtheit ist. Man kann Heideggers Denken noch in den Rahmen der Phänomenologie stellen, deren Anliegen es war, zurück zu den Sachen selbst zu gehen. Was uns begegne, nähmen wir nicht war, wie es sei, sondern gefiltert von sowohl Alltagstheorien als auch Wissenschaften, von denen es zu abstrahieren gelte. Husserl verwen­ dete hierfür den Begriff der epoché, landete aber wieder im kategorialen Bereich, letztlich in der Transzendentalität. Indem Heidegger die Grammatik als die Grundlage der Logik freilegte, gelang es ihm, die Kategorien auch in den Bereich der epoché einzubeziehen und als nicht wegzudenkendes Sein des Daseins die Gestimmtheit freizulegen. In seiner Freiburger Vorle­ sung über Metaphysik im Wintersemester 1929 / 30 analysiert er am Beispiel der Langeweile die Gestimmtheit auch dahingehend, dass sie keineswegs ein nur das jeweilige Individuum betreffendes Phänomen sei. Im Zusam­ menhang mit der Traurigkeit sei „unbeschadet der Selbigkeit dessen, was wir tun und wofür wir uns einsetzen, das Wie, in dem wir zusammen sind“, anders.37 Daraus folge: „Die Stimmung ist sowenig darinnen in irgendeiner Seele des anderen und sowenig auch daneben in der unsrigen, daß wir viel eher sagen müssen und sagen: Diese Stimmung legt sich nun über alles, sie Calvins, der die geistige Anwesenheit im Abendmahl vertrat. Auch wenn Calvin dann im Consensus Tigurinus weitgehend auf Bullinger, der die Auffassung Zwing­ lis verteidigte, zugegangen war, ist der Geist weiterhin von allen Reformierten inso­ fern im Abendmahl als anwesend geglaubt, als er durch die Elemente wirke. Hegel hat die Unterschiede zwischen den Konfessionen im Abendmahlsstreit nicht wirklich gewusst und zudem die reformierte Ansicht auf die Zwinglis reduziert. 37  Heidegger (1983), S. 99.

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B. Der Streit um das Abendmahl

ist gar nicht ‚darinnen‘ in einer Innerlichkeit und erscheint dann nur im Blick des Auges; aber deshalb ist sie auch ebensowenig draußen. (…) Die Stimmung ist nicht ein Seiendes, das in der Seele als Erlebnis vorkommt, sondern das Wie unseres Miteinander-Daseins.“38 Was bei Heidegger Stimmung ist, kommt dem, was für Bucer Geist ist, sehr nah. Das Wie des Miteinander-Daseins in der Kirche ist für Bucer Geist, der Glaube bewirkt. Bucer konnte Luther in Marburg zustimmen, er und die Schweizer hätten einen anderen Geist, aber im Unterschied zu Lu­ ther hat er die Wittenberger und nicht die Schweizer draußen gesehen. Anders als bei Luther bildet bei Bucer der Verstand zwar die Mitte seiner Theologie, aber der theologische Verstand habe sich als vom Geist geleitet zu betrachten, wenn er beanspruche, theologischer Verstand zu sein. Geist steht somit für Bucer nicht im Dienst einer Logik, sondern nimmt seiner­ seits die Logik im Namen der Liebe, die Versöhnung bewirkt, in seinen Dienst. Luther dagegen trennt nicht so sehr zwischen Geist und Logik, der Geist ist bei ihm dogmatisch bestimmt und entsprechend dogmatisch bestimmend. Er wendet sich an den Einzelnen und bewirkt über die Predigt und die Sakramente den Glauben. Bucer war dezidiert nicht der Auffassung, der Heilige Geist sei ein dogmatischer Theologe. Die Gelehrsamkeit lieferte für ihn kein Kriterium für Wahrheit. W. P. Stephens betrachtet Bucers Theologie insgesamt als eine Theologie des Geistes und setzt für seine Erläuterung bei der Prädestinationslehre an, auf deren Basis ausgeschlossen sei, dass der Mensch etwas für sein Heil tun könne. Die Gnade sei unverdient. Wie Luther und später Calvin unterschei­ det Bucer zwischen Erwählten und Nichterwählten, wobei er sich wie die anderen Reformatoren darin enthält zu bestimmen, wie sie zu unterscheiden seien. Alle guten Werke seien vom Geist bewirkt, aber die Erwählten sün­ digten weiter (simul iustus et peccator), was die Unterscheidung zwischen Erwählten und Verworfenen unmöglich mache. Es gebe eine Sünde gegen den Heiligen Geist, die nicht vergeben werde (hier ist das gemeint, was in 1 Joh 5, 16 die Sünde genannt wird, die zum Tode führe), aber Bucer bleibt in der Bestimmung dessen, was das für eine Sünde sei, so unbestimmt wie 38  Heidegger (1983), S. 100. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen kommt Heidegger auf Nietzsche zu sprechen und dessen Selbstcharakterisierung als eines Menschen, der nicht habe bleiben wollen, was er gewesen sei. Diese Nichtidentitäts­ zuschreibung bei Nietzsche entspricht dem, was ich unter Nichtidentität verstanden wissen will. Weder bei Nietzsche noch bei Heidegger werden daraus Schlüsse auf die Verfasstheit des Miteinanders gezogen. Es ist aber sicher kein Zufall, dass Nietz­ sche eine besondere Aufmerksamkeit in der pragmatischen Hermeneutik Richard Rortys genießt.



IV. Martin Bucers Vermittlung als Neutralisierung165

schon der Erste Johannesbrief. Von der Prädestinationslehre her werden alle weiteren Bestimmungen der Erwählten dann entfaltet: „The doctrine of election gives rise to two emphases in the understanding of salvation: The one is restrictive – it is only the elect who will believe. The other is forward looking – the elect will be called, justified, sanctified, and glorified.“39 Der vom Geist bewirkte Glaube als zuversichtliche Überzeugung, durch Christus mit Gott versöhnt zu sein, wird nicht als Leistung verstanden, sondern als Verpflichtung zur Liebe. „Real faith is always faith which is active in love.“40 Wer hier an Romantik oder an Caritas alleine denkt, bedenkt nicht, dass der Romantiker wie der caritative Mensch ohne Glauben lieben kann. Die Liebe, die aus dem Glauben erwächst, ist eine Haltung, die im Umgang mit anderen Menschen diese nicht in den Dienst der eigenen Selbstverwirklichung nimmt. Dieses die Liebe ermöglichende Selbstver­ ständnis des Glaubens, der aus dem Geist kommt, zeigt an, dass der Geist, der gemeint ist, nicht gleichgesetzt werden darf mit der Vernunft. Er leitet die Vernunft in praktischer Absicht: „However important the mind is to Bucer, it is never simply the intellectual part of man, set over against the heart or the spirit. It often means virtually heart and mind.“41 Auf der anderen Seite ist der Geist verständig, weil er den Glauben der Erwählten über das Hören der biblischen Verkündigung weckt.42 Geist im Sinne Bucers ist nicht Geist im Sinne von Hegel, auch nicht die Sittlichkeit im Sinne der Gewohnheit, in die man wie in die Gemeinschaft im Unterschied zur Gesellschaft hineingeboren wird, sondern ursprüngliche Übereinkunft, die dem Verständnis von Übereinkunft bei Hegel diametral entgegengesetzt ist. Was Hegel unter Übereinkunft versteht, formuliert er in der Vorrede der Phänomenologie gegen Schleiermacher: „Indem jener sich auf das Gefühl, sein innerliches Orakel beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft zu dringen, und ihre Existenz nur in der zustande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewusstsein(e).“43 Was Hegel also an den Schluss stellt, 39  Stephens,

S. 38. S. 65. 41  Stephens, S. 67. 42  „In this it is the idea of faith as persuasion that is uppermost, a persuasion that is linked to the word of God, wether to the word preached or to the word of scripture. Bucer insists that faith comes from hearing, and for that reason he does not allow that infants can have faith in Christ.“ (Stephens, S.  66 f.). 43  Hegel (1952), S. 56. Dem, was ich ursprüngliche Übereinkunft nenne, widmet sich Lukas Ohlys Studie über den Begriff des Geistes. Im Prozess einer phänomeno­ logischen Untersuchung dessen, was Anwesenheit bedeutet, kommt Ohly, nachdem er 40  Stephens,

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B. Der Streit um das Abendmahl

angestrebte Übereinkunft, muss eigentlich den Anfang bilden und die Ver­ nunft und den Verstand lenken, damit Übereinkunft im Sinne Hegels über­ haupt angestrebt werden kann. Im Gegensatz zu Hegel wäre Übereinkunft als Ziel von Verhandlungen einer dem Verhandlungsprozess zu Grunde liegenden, einer ursprünglicher zu denkenden Übereinkunft zu verdanken, die unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass überhaupt Verhandlungen mit dem Ziel eines Kompromisses zu Stande kommen können. Diese ursprüngliche Übereinkunft kann nicht auf eine im Rahmen der sittlichen Welt erworbene Gewohnheit zurückge­ führt werden, weil sie im Bereich der Gesellschaft verortet werden muss. Das ist die Position Bucers. Hier wird Hegel vom Kopf auf die Füße ge­ stellt. Übereinkunft ist ein Anfängliches im gesellschaftlichen Kontext, das Prinzip des Prozesses, den sie in Gang setzt. Diese ursprüngliche Überein­ kunft, die sich nicht der Sittlichkeit verdankt, sondern sie negiert, ist im Sinne des Vernunftverständnisses der Aufklärung weder unvernünftig noch von der Vernunft bewirkt. Sie lässt sich aber vernünftig reflektieren. Die Theologie bezeichnet sie als Geist. drei verschiedene Anwesenheitsdimensionen unterschieden hat, nämlich Anwesenheit von Dingen, Anwesenheit von Menschen, Anwesenheit meiner selbst, auch auf Spra­ che zu sprechen, die eine Voraussetzung dafür sei, dass etwas als anwesend empfun­ den werden könne: „Sprache muss uns gegeben sein, damit wir Anwesenheit erfahren können. Ist also die Sprache ein transzendentaler Typ von Anwesenheit?“ (Ohly, S. 32). Im Rekurs auf Hermann Schmitz betrachtet Ohly die Sprache als ein Halbding, wobei Halbdinge dingliche Eigenschaften besäßen, aber keine kausale Unmittelbar­ keit hätten (Ohly, S. 32 ff.) und sich darüber hinaus ihre Anwesenheit auch nicht über die aristotelische Kategorienlehre verstehen lasse. (Ohly, S.  35 ff.). Ohly bezieht sich neben Heidegger auf die Erstheit bei Peirce als Kategorie der Anwesenheit, in deren Rahmen eine theologische Interpretation der Gottesbegegnung möglich werde, und er verweist auf den Theologen Johannes Fischer, der die Anwesenheit der sozialen ­Sphäre als unabdingbar dafür betrachte, dass menschliche Kommunikation stattfinde (Ohly, S. 43). Dabei müsse aber darauf geachtet werden, die Gottesbegegnung nicht so zu verstehen, dass etwa Gott als anwesend gedacht werde, sondern Anwesenheit als solche. Dennoch kommt Ohly zu dem Schluss: „Sie (Anwesenheit; Anm. M. E.) stellt soziale Verhältnisse her. Durch Anwesenheit verliert der Mensch seine Isolation. Er ist fortan ‚Bei-Sein‘: bei sich selbst, in der Welt, mit anderen, die auch bei sich selbst in der Welt sind.“ (Ohly, S. 51). Ohly nähert sich dem Phänomen des Geistes von lutherischer Seite, und darum ist sein Ausgangspunkt das Individuum, während von reformierter Seite aus das Individuum sich selber überhaupt erst dem Geist ver­ dankt, wie es sehr schön in Jes 43, 1 zum Ausdruck gebracht wird: „Und nun, so spricht der Herr, dein Schöpfer, Jakob, und der dich gebildet hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir.“ Auch wenn letztlich Ohly den Begriff des Geistes mit den Kategorien der Anwesenheit und der Anerkennung zu fassen versucht, geht er doch von einer zu­ nächst sich selbst gleich bleibenden Identität aus, die sich über Anerkennung gemein­ schaftsfähig machen muss. „Subjektivität ist eine evidente Erfahrung, die phänomenal unhintergehbar ist.“ (Ohly, S. 25).



IV. Martin Bucers Vermittlung als Neutralisierung167

Geist als ursprüngliche Übereinkunft heißt später bei Rousseau volonté générale. Die politische Ideengeschichte kennt das Problem, das zu benen­ nen, was als Anfang jeder politischen Übereinkunft notwendig zu denken ist. Auch der nüchterne Niklas Luhmann, der Rousseaus volonté générale auf die formale Zustimmung gegenüber den Verfahren reduziert, muss es im Hinblick auf seinen Legitimitätsbegriff bedenken, denn der beruhe „gerade nicht auf ‚frei-williger‘ Anerkennung, auf persönlich zu verantwortender Überzeugung, sondern im Gegenteil auf einem sozialen Klima, das die Anerkennung verbindlicher Entscheidungen als Selbstverständlichkeit insti­ tutionalisiert und sie nicht als Folge einer persönlichen Entscheidung, son­ dern als Folge der Geltung der amtlichen Entscheidung ansieht.“44 Luhmann anerkennt die nicht rational zu vereinbarende Voraussetzung der Anerken­ nung von Entscheidungen. Es handelt sich andererseits aber auch nicht um eine irrationale, rein gefühlsmäßige Voraussetzung. Sie zu denken gelingt nicht, wenn der Einzelne als der Gesellschaft vorgängig gedacht wird, son­ dern nur, wenn der Einzelne als solcher die Gesellschaft zur Voraussetzung hat, die ihn erst als Einzelnen konstituiert. Wenn er seine vom Geist gestif­ tete Konstitution vergisst, begeht er die im Ersten Johannesbrief erwähnte Sünde gegen den Heiligen Geist, für die es keine Vergebung gibt. Er bricht, theologisch gesprochen, die Bundestreue. 2. Bucers Verständnis der leiblichen Anwesenheit Das Sakrament der Eucharistie hatte schon in vorreformatorischer Zeit in besonderer Weise institutioneller Stabilität zu dienen und sie zu vermitteln. Es diente ab den Gregorianischen Reformen im elften Jahrhundert dazu, die Institutionen der Kirche und ihre besondere Verfasstheit im Hochmittelalter in der westlichen, also in der lateinischen Christenheit, zu legitimieren. Von daher stritten Luther und Zwingli in Marburg nicht nur um ein Geheimnis des Glaubens als vielmehr auch um Logik und damit um Politik im Sinne der Verfassung der kirchlichen Macht als einer Institution und ihre Aus­ strahlung tief in die weltlichen Geschäfte hinein. Mit der Zulassung und der Teilhabe am Abendmahl wurde die Anerken­ nung der Logik vollzogen, die den jeweiligen weltlichen Erwartungen der Gläubigen Rechnung trug, und die im Luthertum ein Amtsverständnis be­ gründete, das Stabilität und seelsorgerische Versorgungsmentalität begüns­ tigte, was die reformierte Seite zu verhindern trachtete. Streit um Logik musste der Seite, die trotz ihres Misstrauens gegenüber der Vernunft an der Vorstellung festhielt, es gebe ein substanzhaft bestehendes logisches Subst­ rat, unerträglich sein, während die Seite, die Logik (im Verständnis der Zeit 44  Luhmann,

S. 34.

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B. Der Streit um das Abendmahl

als Dogmatik) schon im modernen Verständnis als Konvention betrachtete, damit leben konnte, dass andere anders dachten. Sie interpretierten eben anders. Im Kern haben wir hier schon vorliegen, was eingangs als die spezifisch republikanische Freund-Feind-Unterscheidung genannt worden ist: Feind ist, wer im Interesse der eigenen Identitätssicherung glaubt, im Rahmen der Republik zwischen Freund und Feind unterscheiden zu müssen. Für Bucer war Feind, wer den Rahmen der Logik, in der zu Denken erlaubt sein soll­ te, so einengte, dass er es gestattete, Freund-Feind-Unterscheidungen vorzu­ nehmen. Während Bucer allerdings nicht bereit war, die Evangelischen lu­ therischer Prägung aus der Kirche zu exkludieren, sondern ihnen das Recht auf Interpretation ihrer Identität zuerkannte, betrachteten die Lutherischen die Schweizer und den Vermittler als Häretiker. Bucer verstand die Kirche republikanisch, aber die Lutheraner betrachteten die Kirche in Korrespon­ denz zum Staat als Substanz. Die Ekklesiologie hatte für Bucer im Kontext seines theologischen Den­ kens über den Heiligen Geist einen besonderen Stellenwert, auf den Gott­ fried Hammann hinweist: „Ohne den Stellenwert der Ekklesiologie im Denken Bucers überbetonen zu wollen, muß jedoch auf ihre besondere Funktion hingewiesen werden: sie ist mehr als ein Thema neben anderen. Die ganze Zielsetzung seiner Theologie wird durch sie bestimmt, sie ist deren Kompaß.“45 Im Hinblick auf diese Ekklesiologie muss auch die Prä­ destinationslehre gesehen werden. Bucer denkt die Kirche alleine als ein Werk Gottes, was ihre Unvergänglichkeit garantiere. Die Kirche sorgt damit also insofern nicht für sich selbst, vielmehr wird sie von Gott erhalten. Das tut er durch die, die er sich erwählt, so dass der Glaubende die Pflicht hat, sich zu den Erwählten insofern zu rechnen, als er der Kirche dient. Auch wenn sich der Glaubende als iustus et peccator zu betrachten hat, kann er umgekehrt aus seinem Dienst wiederum nicht auf seine Erwählung schlie­ ßen. Es gibt die Volkskirche, die mit der Bürgergemeinde weitgehend über­ einstimmt, aber eben auch die bekennende Kirche innerhalb dieser Volks­ kirche, die sich Gott erwählt hat.46 Die Kirche wird bei Bucer nicht auf Pfingsten, sondern schon auf Abraham, bei anderen Reformatoren sogar auf das Paradies zurückgeführt (so z. B. Luther und Melanchthon). 45  Hammann,

S. 90. der Bezeichnung der Unterscheidung folge ich Hammann. Prodi urteilt über Bucer im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen den beiden Kirchen: „In Straßburg löst Martin Bucer auf der Grundlage der dualistischen Ekklesiologie deut­ lich die Ebene der persönlichen Buße, der Beziehung des Sünders zu Gott, von der Ebene der öffentlichen Disziplin; während er schlüssig die Privatbeichte ablehnt, ist er auf der öffentlichen Ebene extrem hart.“ (Prodi, S. 190). 46  In



IV. Martin Bucers Vermittlung als Neutralisierung169

Was nun beide, Volkskirche und bekennende Kirche, betrifft, lassen sie sich nicht von der menschlichen Urteilskraft unterscheiden. Die Unterschei­ dung ist also auch für jene nicht möglich, die im Glauben verpflichtet sind, sich zu den Erwählten zu rechnen. Auf den ersten Blick mag das Verunsi­ cherung herbeiführen, aber nur dann, wenn man, wie in der lutherischen Tradition, das Heil als dem Einzelnen zugesprochen versteht, nicht aber der Kirche als dem leiblich auferstandenen Christus. „Der Christ wird nicht als Individuum von Gott erwählt und angenommen, sondern als Mitglied einer Gemeinschaft, mit der er organisch verbunden ist.“47 Aus der Sicht dieses Heilsverständnisses ist die über die Prädestinationslehre vermittelte Sicher­ heit, dass es in den schlimmsten Zeiten des Niedergangs allen kirchlichen Lebens Glaubensgewissheit darüber gibt, dass der Glaubende in einer Ge­ meinschaft eingebunden bleibt, komme was will, ein Trost. Vordergründig scheint Bucer hier die Kirche auch substanzhaft zu verste­ hen. Sie wird ja in der Zeit erhalten. Aber dem ist nicht so, denn es fehlt die sakramentale Bestätigung des substanzhaften Denkens. Die Kirche ist als ecclesia semper reformata et reformanda keine mit sich selbst identisch bleibende Identität im Sinne des Substanzdenkens, sondern, um es mit He­ gel zu sagen, Subjekt. Im Zusammenhang mit der Beständigkeit des Subjekts stellt sich das Problem der Anwesenheit des Herrn anders als im Zusammenhang mit der Beständigkeit der Substanz. Die Kirche verkündet den menschgewordenen, den gekreuzigten und den auferstandenen Gott in der Person Jesu Christi und damit seine Anwesenheit. Diese Anwesenheit sakramental zu verwalten ist neben der Verkündi­ gung die Aufgabe der Kirche, wobei freilich die Verwaltung der Sakramen­ te auch Verkündigung ist, neben der verbalen Verkündigung eine dingliche Verkündigung. Die geistige Anwesenheit ist für Bucer nur dinglich zu denken. Die Sakramente sind der dingliche Ausweis der Wahrheit der Ver­ kündigung. Im Bereich des Protestantismus sind konfessionsübergreifend das Wort und damit der Geist entscheidend für das Sakramentsverständnis. Die Sakramente sind nicht Ersatz für die Schrift wie z. B. Bilder, die die Schriftunkundigen zu belehren vermögen und darum als didaktisches Mittel zum Einsatz kommen können. Vielmehr liegt dem Sakrament eine theologi­ sche Entscheidung zu Grunde, die besonders die lateinische Christenheit auszeichnet, nämlich dass Gott selber nicht Wort alleine, also lediglich logos ist, sondern in Jesus Christus Mensch wurde im Sinne der Lehre von der ökonomischen Trinität, unter der Voraussetzung, dass Gott gemäß der Lehre von der immanenten Trinität seinem Wesen nach insofern Mensch ist, 47  Hammann,

S. 127.

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B. Der Streit um das Abendmahl

als er dieser Logik entsprechend nur werden kann, was er schon ist. Seine Anwesenheit in einem materiellen Sinne ist ihm darum wesentlich, analog wie eine Institution nur als solche ist, wenn sie materiell manifest ist. Dar­ um ist der Gott der Bibel ein sprechender Gott. John Searle hat die notwendige materielle Angebundenheit performativer Sprechakte, die über Institutionen vermittelt werden und letztlich nichts anderes sind als diese Institutionen, untersucht. „What is true of money is true of chess games, elections, and universities. All these can take different forms, but for each there must be some physical realization. This suggests what I think is true, that social facts in general, and institutional facts es­ pecially, are hierarchically structured. Institutional facts exist, so to speak, on top of brute physical facts. Often, the brute facts will not be manifested as physical objects but as sounds coming out of peoples’ mouths or as marks on paper – or even thoughts in their heads.“48 Selbst das mitgeteilte Wort bedarf des sinnlich wahrnehmbaren Ausdrucks, also als gesprochenes Wort der Schallwellen im Medium der Luft, und der es formulierende Ge­ danke bedarf des Denkorgans. Das wird gerne vergessen, wenn vom Geist die Rede ist, als wäre Geist sich selbst genügende, sich selbst identisch bleibende Substanz ohne Materialität. Aber ihre Vermittlung zu denken birgt den Widerstreit. Für die einen ist Christus als der menschgewordene Gott im Sakrament anwesend, in Brot und Wein als seinem Leib und seinem Blut. Dies betrifft freilich nicht den Wein und das Brot als solche, denn Gottes Sinnlichkeit ist nicht so zu denken, wie das Heidentum seine Götter verstand, als die energeia der Dinge, als ihre Wirkkraft. Gott ist der Schöpfer der Dinge, nicht alleine ihr Beweger. Sie sind von ihm zu unterscheiden. Im Verständnis der hochmittelalterlichen Kirche ist der geweihte Priester infolge der ihm über­ tragenen Amtsgewalt befugt, die stofflichen Dinge im Rahmen eines vorge­ schriebenen Rituals in Sakramente zu verwandeln, so dass sich ihre Substanz verändert. So legitimieren die Sakramente die herausgehobene Stellung der Priesterschaft, sofern sie über das Verfahren der Priesterweihe Priester ge­ worden sind. Die Weihe wird vermittelt über die Päpste in ihrer Nachfolge in dem durch Christus selber gestifteten Petrusamt: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Tore des Totenreichs werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmel­ reichs geben, und was du auf Erden bindest, wird auch im Himmel gebun­ den sein, und was du auf Erden löst, wird auch im Himmel gelöst sein.“ (Mt 16, 18–19) Die Priesterschaft garantiert und verwaltet über die Verkün­ digung und die Sakramente die Anwesenheit Gottes in seiner Kirche und 48  Searle

(1995), S. 35.



IV. Martin Bucers Vermittlung als Neutralisierung171

damit in der Welt. Die diesem Amtsverständnis zu Grunde liegende Logik vermittelt auch die ontologische Unterscheidung zwischen einem nichtmate­ riellen Geist und einer an sich geistlosen Materie, der über legitimierte performative Sprechakte Geist vermittelt werden kann. Keines der Sakra­ mente bietet mehr Anschaulichkeit der logischen Begründung dieses Den­ kens als das Sakrament der Eucharistie. Für Luther ist Christus nicht nur in seiner Gemeinde geistig anwesend, dem hätte Zwingli zugestimmt. Es ist die Anerkennung der leiblichen An­ wesenheit, die er von den Schweizern forderte. Bucer war bereit, diese Anerkennung zu leisten, ohne Zwingli vor den Kopf zu stoßen: Bucer löst das Problem der leiblichen Anwesenheit Christi in seiner Kirche nicht mit dem Verweis auf Sakramente, schon gar nicht auf das des Abendmahls. Darum konnte ihm das Abendmahl auch gleichgültig sein. Bucer betrachte­ te, unter Berufung auf Paulus, die Kirche im Sinne der wahren, zu Christus gehörenden, also der bekennenden Kirche im Unterschied zur Volkskirche, die mit der Bürgergemeinde identisch ist, als den auferstanden Leib Christi (Röm 12 und 1 Kor 12). Mit Luther konnte er so die leibliche Anwesenheit des Herrn im Abendmahl in einer Weise behaupten, die Zwingli wohl ak­ zeptiert hätte. Bucers Auffassung hätte nicht die Lösung des Konflikts be­ deutet, hätte aber die Kompromissformel bilden können. Anders als für Zwingli war für Bucer der leibliche Christus nicht im Himmel. An diesen auferstandenen, leiblich anwesenden Herrn bindet Bucer das Amt der Kirche, von ihm leitet er die Ämter in der Kirche ab. Das Abendmahl wird somit nicht mehr christologisch über die Menschwerdung, sondern von der Auferstehung her verstanden. Das war ein völlig neuer Ansatz, ein Umsturz geradezu. Er hätte es aber den beiden in Marburg gegenüberstehenden Lagern gestattet, ihre jeweiligen Formeln in ihn hinein­ zulesen bzw. aus ihm herauszulesen. Tatsächlich steht Bucer mit seinem Abendmahlsverständnis Luther näher, weil sich über Zwinglis Position die Kirche nicht als Körperschaft verstehen ließ, sondern nur als Versammlung. Auf der anderen Seite waren die Schweizer in Marburg kompromissbereiter als die Wittenberger. Bucers Kalkül hätte aufgehen können. Aber Bucer hatte sich persönlich kompromittiert. In der Zeit vor dem Marburger Treffen, als er schon theologisch zwischen Luthers und Zwinglis Standpunkt zu vermitteln suchte, geschah es, „dass er (…) seine Deutung des Abendmahls in zwei Bücher der Wittenberger hineinschrieb. Im ersten Fall, bei der deutschen Übersetzung von Bugenhagens Psalmenkommentar, fügte Bucer zu PS. 111,5 einen entsprechenden Abschnitt ein, ohne ihn als seinen Zusatz kenntlich zu machen. Im anderen Fall, bei der lateinischen Übertragung des vierten Bandes von Luthers Postille, korrigierte Bucer dessen Abendmahlsverständnis ausdrücklich durch besondere Anmerkun­

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B. Der Streit um das Abendmahl

gen.“49 Die Wittenberger tobten. Martin Greschat fragt: „Legte Bucer es nicht auf Täuschung und Betrug an, wenn er einerseits auf Eintracht und Verständigung drängte und andererseits die eigene Auffassung vom Abend­ mahl privat und öffentlich gezielt zu verbreiten suchte?“50 Bucers Vorgehen war nicht frei von Fehlern. Angesichts der politischen Lage Straßburgs und der anderen süddeutschen Städte, die zusammenzuhalten auch nicht immer gelang, blieb Bucer aller­ dings gar keine andere Wahl, als eine eigene Abendmahlslehre zu entwi­ ckeln und öffentlich zu machen, sollten sich die Städte nicht auf Gedeih und Verderb der Skylla der Schweizer oder der Charybdis der protestantischen Landesfürsten ausliefern. Die politische Mitte musste theologisch begründet werden, d. h. über einen theologischen Sprechakt geschaffen werden. Dieser musste so formuliert sein, dass die politische Mitte zu halten und zu erwei­ tern war. Unter den Umständen, die Bucer zu ändern nicht die Macht hatte, mussten Opfer gebracht werden, so wie Odysseus im Mythos Teile der Mannschaft opfert, um das Schiff und das Leben des größten Teils der Männer zu retten. Aber im Vorfeld hatte Bucer sein Schiff schon so manö­ vriert, dass er scheitern musste. Es war ihm nicht gelungen, allgemeines Vertrauen aufzubauen. Wenn Gollwitzer schreibt, es sei im Abendmahlsstreit „auch um eine geistesgeschichtliche Entscheidung über die ganze geistige und politische Ordnung der gesamten europäischen Welt“ gegangen, dann mag das durch­ aus das Denken Zwinglis und Luthers beherrscht haben, aber Bucer hatte in Marburg noch andere Sorgen als das Schicksal der abendländischen Meta­ physik. Seine Auffassung wird in einem Brief aus dem September 1525 an Jakob Otter, der als reformierter Theologe u. a. in Esslingen wirkte, deutlich zum Ausdruck gebracht: Bucer verteidigt darin die Position Zwinglis, schreibt aber gleichzeitig, dass es sich „Gott sei Dank nur um eine nicht allzu grosse Angelegenheit“ handele.51 So sehr Bucer der Sache selber we­ nig Gewicht beimaß und seine Abendmahlslehre in seiner Zeit keine Chan­ ce hatte, sich durchzusetzen, besitzt sie dennoch einen eindrücklichen Charme. Gollwitzer ist dahingehend zu präzisieren, dass die geistesge­ schichtliche Entscheidung, die in Marburg anstand, nicht die zwischen Zwingli und Luther, sondern die zwischen Zwingli und Luther auf der einen und Bucer auf der anderen Seite war. Bucer wusste, dass ein Kompromiss Dissens nicht aus der Welt schafft. Der Kompromiss unterbricht den Dissens und vertagt ihn. Der Kompromiss 49  Greschat,

S. 91. S. 87. 51  Zit. n. Greschat, S. 90. 50  Greschat,



IV. Martin Bucers Vermittlung als Neutralisierung173

ist immer als befristet gedacht, auch wenn das nicht explizit vermerkt wird, auch wenn er sich dann verewigt. Er schafft einen Zustand, mit dem keiner der Beteiligten zufrieden ist, und er wird beendet, wenn er seinen Zweck erfüllt hat. Es gibt wohl Verträge, die Veränderungen dokumentieren oder hervorrufen. Im Kompromiss wird aber nichts Neues geschaffen, und die Personen, die ihn schließen, verändern sich nicht, sondern bleiben sich gleich. Ein Kompromiss muss auch nicht förmlich aufgekündigt werden, sondern ist hinfällig, wenn der Kontext sich ändert, in dem er geschlossen worden ist. Mit der Unterscheidung zwischen Kirche und Staat und der Ermöglichung des Kirchenaustritts in Deutschland, also seit der Weimarer Republik, ist der Abendmahlsstreit, der in Marburg die Geister trennte, hinfällig geworden, und entsprechend herrscht innerhalb des Protestantismus auch allgemeine Abendmahlsgemeinschaft. Man kann einen Schritt weiter gehen und sagen, dass das Abendmahl seinen Sakramentscharakter überhaupt verloren hat und verlieren musste als Voraussetzung dafür, dass Abendmahlsgemeinschaft im Protestantismus heute herrschen kann. Niemand außerhalb der universitären Theologie vermag noch die innerprotestantischen Auseinandersetzungen aus der Reformationszeit zu verstehen, wenn er am Abendmahl teilnimmt. So sehr Zwingli zu seiner Zeit, in der die in sich unterschiedene Identität zwi­ schen Bürger- und Christengemeinde bestand, unzeitgemäß erschien, ist er heute zeitgemäß geworden. Auch Bucer war seiner Zeit voraus.52 Seine Wirkung strahlte weiter aus, was noch nicht ausreichend gewürdigt wird. Es ist verwunderlich, dass in der politischen Ideengeschichte die drei Großen der Reformation, nämlich Luther, Zwingli und Calvin, rezipiert werden, Martin Bucer dagegen nicht. Bucers Ämterlehre bereitet eine Un­ terscheidung vor, die sich im Herausbilden eines Identitätsprozesses der modernen westlichen Gesellschaften als äußerst fruchtbar herausstellte, nämlich der Unterscheidung zwischen Herrschaft und Regiment, wobei Bucer diese Begriffe selber nicht unterscheidet.53 Sie lassen sich gebrau­ 52  Vgl. Leuenberger Konkordie (1973), die die Unterschiede der Reformations­ zeit und der sich ihr anschließenden Orthodoxie ganz im Sinne von Martin Bucer aufhebt: „Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein. Er gewährt uns dadurch Vergebung der Sünden und befreit uns zu einem neuen Leben aus Glauben. Er lässt uns neu erfahren, daß wir Glieder an seinem Leib sind. Er stärkt uns zum Dienst am Menschen. Wenn wir das Abendmahl feiern, verkündigen wir den Tod Christi, durch den Gott die Welt mit sich selbst versöhnt hat. Wir bekennen die Gegenwart des aufer­ standen Herrn unter uns. In der Freude darüber, daß der Herr zu uns gekommen ist, warten wir auf seine Zukunft in Herrlichkeit.“ 53  Jan Zamojski formulierte im sechzehnten Jahrhundert: Le roi règne et ne gouverne pas. Die französische Überlieferung gibt nicht exakt wieder, was Zamojski

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chen, um die Unterscheidung zwischen Amt und Ämtern bei Bucer zu er­ läutern. In der Kirche herrscht Christus in seiner leiblichen Anwesenheit, während über die Ämter regiert wird. In unserer aktuellen Demokratiedebatte wäre es sehr hilfreich, wenn man diese Unterscheidung im Blick behielte. Das Volk herrscht, aber es regiert nicht. Wie die Herrschaft des Souveräns über das Regiment ausgeübt werden soll, ist eine Frage der Verfahren. Wahlen können ein solches Verfahren sein. In der Reformation wurde die Wahl der Ämter in der Kirche, besonders die Wahl der Pfarrer, mancherorts durch die Gemeinde durchgesetzt. Die Zugehörigkeit zur Gemeinde zeigte sich in der Teilnahme am Abendmahl, die hartnäckigen Sündern über das Verfahren der Exkommunikation verweigert werden konnte. Indem Bucer die Kirche als Bekenntnisgemeinschaft schon als die leibliche Anwesenheit Christi ver­ steht, die sich als Volkskirche in Raum und Zeit erfährt und darum notge­ drungen auch die umfasst, die eigentlich nicht dazugehören, ist für ihn die leibliche Anwesenheit des Herrn im Abendmahl selbstverständlich bzw. sogar unabweisbar, auch wenn er das Abendmahl als ein Zeichen deutet.54 Für Bucer sind alle welthaften Dinge Zeichen, die einer gewissen Mate­ rialität unterliegen. Die Freundschaft bedarf der Freundschaftszeichen, z. B. der Geschenke, des gemeinsamen Mahls, die Ehe einer institutionellen Stiftung und des Eherings, der Vertrag, auch wenn er mündlich geschlossen wird, mindestens des Handschlags. Selbst das Wort bedarf des Schalls bzw. des Papiers, der Tinte oder der Druckerschwärze. Der leiblich auferstandene Christus bedarf des Zeichens des gemeinschaftlichen Abendmahls.55 Bucers Lösung des Problems, nämlich die Verabschiedung der Metaphy­ sik des Dualismus von Himmel und Erde, Gott und Welt aus der Christolo­ gie, konnte in Marburg weder von der Schweizer noch von der Wittenberger Seite akzeptiert werden. Sie stellte eine völlig neue Grundlage dar, die, obzwar sie schriftgemäß war, die schon vorhandenen Gemeinsamkeiten zwischen Reformierten und Lutheranern in der theologisch als selbstver­ ständlich gedachten Unterscheidung zweier Welten noch mehr in Frage gestellt und damit die Probleme noch mehr verschärft hätte. Sie hätte darum im polnischen Reichstag in Anwesenheit Sigismunds III. nicht in Französisch, son­ dern in Latein formulierte, und was Adolphe Thiers dann ins Französische übersetz­ te: Regna, sed non impera. 54  „Der ‚Leib‘-Begriff konnte die Schwierigkeit der Realpräsenz im Sakrament durch die ‚leibliche‘ Prägung in der Kirche beheben.“ (Hammann, S. 189). 55  „Das ganze alltägliche Leben ist voller Realitäten, die durch Zeichen ausge­ drückt oder erfahren werden: die Freundschaft kommt durch Grußzeichen zum Aus­ druck, die eheliche Gemeinschaft durch einen Ehering, die königliche Macht durch eine Krone usw.“ (Hammann, S. 160).



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nicht den Konsens bilden können, der Kompromisse ermöglicht hätte. Mehr noch, sie hätte die ganze verfahrene Situation zusätzlich verwirrt. Dem Himmel der Schweizer als ihrem Ort der Leiblichkeit des Herrn hätte Bucer die irdische Welt als den Aufenthaltsort dieser Leiblichkeit gegenüberge­ stellt, und plötzlich hätten die Wittenberger mit ihrer Ubiquitätslehre die Mitte gebildet, freilich eine leere Mitte. Dennoch erwies sich Bucer, wenn auch nicht in Marburg, so doch einige Jahre später in Kassel, als derjenige, der sowohl gegenüber Zwingli, der dann freilich schon tot war, als auch gegenüber Luther den längeren Atem bewies. Wer den Kompromiss sucht, muss gelegentlich, wenn es die Umstände erlauben, auf die Konstellation warten, die ihn ermöglicht, und dafür braucht er Zeit, wenn er nicht über Strategen verfügt, die für die nötige Konstellationsherbeiführung Sorge zu tragen vermögen. Und er braucht auch den geeigneten Partner im gegneri­ schen Lager, der verbindlich zu verhandeln vermag. Einen solchen Partner fand Bucer ab 1534 in Melanchthon. 3. Der Kompromiss in Kassel Sofern es um Fragen der Lehre und damit des gemeinsamen Verstehens geht, stehen alle an einem Kompromiss Beteiligten in einem Verhältnis, indem sich die Gebiete, in denen es jeweils Konsens und Dissens gibt, überschneiden. Das gemeinsame Verstehensinteresse, über das Konsens herrscht, wird zum gemeinsamen vordergründigen Interesse erklärt, gegen­ über dem andere Bereiche, in denen Dissens herrscht, zurückzutreten haben. Ein Kompromiss wird dadurch erreicht, dass die einen Kompromiss schlie­ ßenden Verhandlungspartner darauf verzichten, die Auffassungen, über die Dissens herrscht, über die Lagergrenzen hinweg zu interpretieren. Auf der anderen Seite muss die Interpretation der Kompromissformel innerhalb der Lager fortgesetzt werden können, und sie darf nicht so formuliert werden, dass die Identität eines der Kompromissschließenden in Frage gestellt wird.56 Der Kompromiss hat öffentlichen Charakter und ist wesentlich öf­ fentliche Interpretationsenthaltung über die Lagergrenzen hinweg, während er auf der anderen Seite die Interpretation in den jeweiligen Lagern zulässt. Im Abendmahlsstreit hätten die Reformierten anerkennen müssen, dass ihre Auffassung von Luther schon darum nicht geteilt werden konnte, weil 56  Es weist die Leuenberger Konkordie als einen Kompromiss aus, wenn es heißt: „Die Gemeinschaft mit Jesus Christus in seinem Leib und Blut können wir nicht vom Akt des Essens und Trinkens trennen. Ein Interesse an der Art der Ge­ genwart Christi im Abendmahl, das von dieser Handlung absieht, läuft Gefahr, den Sinn des Abendmahls zu verdunkeln“, und weiter in Rücksicht auf die Lutheraner: „Die Konkordie lässt die verpflichtende Geltung der Bekenntnisse in den beteiligten Kirchen bestehen. Sie versteht sich nicht als ein neues Bekenntnis.“

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B. Der Streit um das Abendmahl

Luther sich in seinem eigenen Lager der Anhänger Karlstadts zu erwehren hatte, die inhaltlich die Position der Schweizer vertraten, sie aber völlig anders und auch für die Schweizer inakzeptabel begründeten. Karlstadt ar­ gumentierte nämlich wie die Widertäufer und leugnete nicht nur die Bedeu­ tung der Sakramente, sondern auch der Verkündigung für die Verleihung des Geistes. Der Geist wirke unmittelbar. Letztendlich gilt es, die Unterscheidung zwischen fides und confessio, die Thomas Hobbes als die Grundlage des gesellschaftlichen Friedens betrach­ tet hat, zu akzeptieren. So einigten sich Bucer und Melanchthon schließlich auf einem wiederum von Philipp von Hessen initiierten Treffen in Kassel im Jahre 1534: „Christus sei gewiss im Abendmahl gegenwärtig – und zwar auf ‚sakramentliche Weise‘, mit Brot und Wein verbunden‘. Bei dieser Fest­ stellung wollte man es bewenden lassen und nicht weiter nach dem Wie jener Verbindung fragen, auch nicht neue Einigungsformeln schaffen.“57 Dieser Kompromiss bildete die Grundlage für die Wittenberger Konkordie von 1536, die das große protestantische Bündnis gegen Habsburg vorberei­ tete, das nun auch von Kursachsen gewünscht wurde. Dieses Mal war die Vierung aus Personal, Ort – Kassel und nicht Marburg! –, Konstellation und Zeit stimmig.58 Bucer konnte in Wittenberg bei den Verhandlungen über die Wittenberger Konkordie zu allen Forderungen Luthers hinsichtlich der leib­ lichen Gegenwart Christi im Abendmahl ja sagen, auch wenn die Schweizer, besonders der empörte Bullinger, der Zwinglis Nachfolge in Zürich angetre­ ten hatte, die Zustimmung zur Konkordie verweigerten – obgleich ihm Bucer schrieb, die Formel von der sakramentalen Weise sei letztlich unbe­ greiflich.59 Um diese Unbegreiflichkeit war es Bucer im Hinblick auf den Kompromiss gerade gegangen. Kompromiss ist wesentlich Verzicht auf Interpretation. Das Ergebnis nach Kassel und der dort maßgeblich ausgehandelten Wittenberger Konkordie war: Wenngleich die Schweizer die Zustimmung zur Wittenberger Konkordie auch verweigerten und dem Bündnis nicht beitraten, war es Bucer doch gelungen, die Eigenständigkeit der oberdeutschen Städte gegenüber den evangelischen Landesfürsten zu demonstrieren. Philipp von Hessen war es gelungen, das Misstrauen der Oberdeutschen gegenüber den Landesherren zu beruhigen. Zudem musste sich Luther dieses Mal den politischen Inter­ 57  Greschat, S. 155. In ähnlicher Weise versucht auch Reinhard Schwarz, Luther zu verstehen, wenn er statt von Realpräsenz lieber von Personalpräsenz sprechen möchte (Schwarz, S. 46). 58  Die Vorverhandlungen wurden zwar in Kassel geführt, der Kompromiss sollte in Eisenach geschlossen werden. Bucer hatte sich dann aber doch nach Wittenberg zu begeben. 59  Vgl. Greschat, S. 162.



IV. Martin Bucers Vermittlung als Neutralisierung177

essen seines Kurfürsten beugen, er hatte in ihm bzw. in der politischen Konstellation keinen Rückhalt mehr für seinen charakterlichen Starrsinn. Kompromisse binden ja nicht nur jene, die sie vereinbaren. Sie müssen auch einer Öffentlichkeit vermittelt werden, besonders den Parteigängern der zu Kompromissen Bereiten, die die Vereinbarung zum Zeitpunkt ihrer Abmachung noch nicht umfasst. Deren Loyalität darf nicht gefährdet wer­ den. Der Kompromiss ist also Interpretationsverzicht und Interpretationszu­ lassung zugleich, nämlich erklärter Interpretationsverzicht über die Lager­ grenzen hinweg, gleichzeitig Interpretationsgewährung in den jeweiligen Lagern. Damit darf der Kompromiss als der erste Schritt hin zur Neutralisierung verstanden werden. Er ist quasi die Mitte, in die der Keim der Neutralisierung gepflanzt wird, der dann wachsen muss und sie verbreitert. Der Wille zur Neutralisierung war die Übereinkunft, über die sich Melanch­ thon und Bucer in Kassel einig waren. Darüber musste zwischen beiden kein Wort mehr verloren werden, obwohl, wie Reinhold Friedrich unter Hinweis auf Briefe Bucers nach dem desaströsen Gesprächsverlauf in Mar­ burg bemerkt, Bucer Melanchthon daselbst noch als unversöhnlicher in Erinnerung hatte als selbst Luther.60 4. Bucers Verständnis von Häresie Bucers Rekapitulation des Marburger Religionsgesprächs erfolgte in zwei Briefen aus dem Jahre 1530: zum einen in einem Schreiben an den Konstan­ zer Ambrosius Blaurer vom 26. Januar 1530, in dem Bucer ausführt, dass der Streit um Lehrsätze nicht zu Parteiungen und Spaltungen der Kirche führen dürfe, sondern dass die Liebe diese Gegensätze zu überbrücken habe, und zum zweiten in einem Widmungsschreiben, das Bucer an die Marburger Aka­ demie richtete.61 Im Brief an Blaurer betont Bucer die Kompromissbereit­ schaft der Schweizer, verweist aber auf die schroffe Ablehnung der Wittem­ berger. Berndt Hamm betrachtet Martin Bucers Analyse der Ereignisse in Marburg, die Bucer in seinem Widmungsschreiben vom 20. März 1530 zur zweiten Ausgabe seines Evangelienkommentars unternahm und an die Mar­ burger Universität schickte, als eine prinzipiell neue und außerordentlich moderne Neubestimmung der christlichen Gemeinschaft: „Er gelangte (…) im Frühjahr 1530 zu einer grundsätzlichen Neubestimmung der christlichen Gemeinschaft. Innovativ im Prinzipiellen ist dieser Weg Bucers einerseits gegenüber dem traditionell katholischen Verständnis von Kirchengemein­ schaft und Häresie, andererseits in deutlichem Kontrast zur lutherischen 60  Friedrich, 61  Bucer

S. 56. (2000), S. 9 ff. und S. 37 ff.

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Verhältnisbestimmung von Wahrheit des Glaubens und Duldsamkeit der Liebe; er führt aber im Kontext einer pointiert biblisch-reformatorischen Theologie auch hinaus über die entdogmatisierende Friedens‑ und Einheits­ ideale des erasmischen Humanismus und den unduldsam-dogmatischen, streitbaren Wahrheitsanspruch Zwinglis.“62 Auf Grund der Sündhaftigkeit der Menschen könne es nicht anders sein, als dass Irrtümer aufträten, und Bucer zeige das nicht nur an Beispielen in der Kirchengeschichte auf, sondern ver­ weise auch auf das Neue Testament selber, etwa auf die Auseinandersetzun­ gen, die Paulus mit seinen Gegnern innerhalb der frühen Gemeinden geführt habe. Bucer habe daraus zwei Folgerungen gezogen: Erstens habe er stets seine Position selber relativiert, und zweitens habe er Duldsamkeit gefordert. Die Ketzerei werde nicht mehr an einer irrenden Lehre festgemacht, sondern an der Unduldsamkeit: „Kennzeichen des Häretikers ist vielmehr die Preisga­ be der Liebe: daß er das Band der geschwisterlichen Liebe zu seinen Mit­ christen zerreißt und ihnen die Gemeinschaft aufkündigt.“63 Hamm ergänzt abschließend: „Bei Martin Bucer scheint mir der Grad prinzipieller und pro­ grammatischer Duldsamkeit erreicht zu sein, der die Verwendung des Termi­ nus ‚Toleranz‘ rechtfertigt – freilich mit der Einschränkung, daß bei ihm keine innerreligiöse Toleranz im Blick ist, sondern nur eine innerchristliche Duldsamkeit und Irenik, die das grundlegende Bekenntnis zu Jesus Christus, ‚unserem einzigen Erretter‘, als Basiskonsens voraussetzt.“64 Es kann in die­ sem Zusammenhang nicht verschwiegen werden, dass Bucer allerdings auch einen ausgesprochen unduldsamen Antijudaismus vertrat. Im Hinblick auf die innerreformatorischen Auseinandersetzungen er­ scheint der Hinweis, den Bucer im Widmungsschreiben auf Augustinus und seine Auseinandersetzung mit dem Donatisten Cyprian macht, nicht unbe­ deutend.65 Der Donatismus war unmittelbar nach dem Ende der antiken Christenverfolgungen aufgekommen und hatte eine reine Kirche als Ge­ meinschaft derjenigen zum Ziel, die während der Verfolgungen nicht abge­ fallen waren. Als die Abgefallenen wieder in die Kirche aufgenommen wurden, spalteten sich die Donatisten ab. Zur Zeit des Augustinus spielten die Verfolgungen keine große Rolle mehr. Aber die Frage, wie sich jene, die sich für die bekennende Kirche halten, denen gegenüber verhalten sollen, die sie für die Volkskirche erachten, war und ist zu allen Zeiten ein Prob­ lem, nicht nur in der Kirche, sondern in allen Gruppen, die ein Bekenntnis vertreten oder eine gemeinsame Identität behaupten, d. h. für alle Interpre­ tationsgemeinschaften. 62  Hamm,

S. 87. S. 94. 64  Hamm, S.  98 f. 65  Bucer (2000), S. 45 f. 63  Hamm,



IV. Martin Bucers Vermittlung als Neutralisierung179

Zur Zeit des Augustinus hatte sich die puritanische Bewegung der Dona­ tisten zwar gewandelt, aber auch erhalten. Ihr gegenüber behauptete Augus­ tinus kompromisslos die Auffassung, die Kirche sei eine Gemeinschaft von Sündern und damit eine Versammlung von nicht mit sich in einer eindeuti­ gen Identität befindlichen Glaubenden. Darum könne auch ihre Identität nicht eindeutig sein. Das führte bei Augustinus wiederum nicht dazu, den Ausschluss dieser puritanischen Gruppe zu fordern. Diese Argumentation wiederholt Bucer, wenn er Luther Puritanismus vorwirft, aber gleichzeitig nicht den Ausschluss der puristischen Vertreter fordert, sondern ihnen ge­ genüber Liebe und das bleibende Angebot der Kompromissbereitschaft an­ mahnt. Zumindest kann sein Hinweis auf diesen Streit, den Augustinus mit den Donatisten seiner Zeit ausfochte, so verstanden werden. Die Bedeutung, die Hamm dem Widmungsschreiben zumisst, wird da­ durch unterstrichen, dass Bucer den Argumentationsgang im Widmungsschreiben für seinen so genannten deutschsprachigen Ratschlag A übernahm. Er sollte jenen Delegierten auf dem Reichstag in Augsburg 1530, die sich weder mit den Zwinglianern noch mit den Lutheranern auf ein gemeinsames Bekenntnis geeinigt hatten, Orientierung in Verhandlungen bieten. Sie hat­ ten ein eigenes Bekenntnis vorgelegt, die Confessio Tetrapolitana, sollten aber weiterhin unabhängig auf der Grundlage des Ratschlags zwischen der lutherischen und der zwinglianischen Position zu vermitteln suchen.66 Die Confessio Tetrapolitana ist maßgeblich von den Straßburgern Martin Bucer und Wolfgang Capito formuliert worden. Der Ratschlag A gehört nicht zu den ursprünglich veröffentlichten Schrif­ ten Bucers und ist nur in einer Handschrift überliefert. Sie beginnt mit dem entscheidenden Hinweis, „das kainem Cristen gebüre, Dem andern, so hier­ inn mißhellig, Cristennlich lieb vnnd bruderschafft abtzuschlagen, Vnnd das diser hanndel so wichtig, Das er nicht Dann in ainem Cristennlichenn Freyen Concilio, Wie Recht, erörtert werden mag.“67 Er verweist auf Christus, der die Irrenden und Unverständigen selbst unter den Aposteln geduldet habe, und auf die Lehrstreitstreitigkeiten in der Urkirche, die nicht zu Spaltungen geführt hätten. „Darbey sölt aber kainer sich yemermer so gelert oder haylig achten, Das er meinte, nirgent inne zu irren“.68 In dieser Welt lebe niemand ohne Irrtum und Unwissen, gleich wie heilig er auch sei, und oft hätten die am meisten geirrt, die vermeint hätten, der Wahrheit gewiss zu sein. Die Lutherischen stehen mehr im Fokus der Kritik, weil sie, 66  Neben Straßburg gehörten Memmingen, Lindau und Konstanz dazu. Die Con­ fessio Tetrapolitana ist maßgeblich von den Straßburgern Martin Bucer und Wolf­ gang Capito formuliert worden. 67  Bucer (1969), S. 323. 68  Bucer (1969), S. 324.

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anders als die Schweizer, die Verurteilung der gegnerischen Lehre mit der Aufkündigung der Bruderliebe verbunden hätten. So habe Luther Zwingli, der ihm unter Tränen in Marburg die Hand habe reichen wollen, den Hand­ schlag verweigert. Die Lutherischen hätten somit nicht nur den Kompromiss, sondern auch die Bruderliebe verweigert, obgleich es Einigkeit in allen grundsätzlichen Lehrfragen gegeben habe, außer in der Frage über die Bedeutung der Abendmahlsformel. Martin Bucer urteilt darüber, auf Luthers Lehre hindeu­ tend: „Man lert ainhellig mit D. Luther, Das wir alle von vns selb nichts vnnd durch die Erbsinde ganntz verderbt sind, das der herr sich deß eusser­ lichenn worts vnnd Sacrament gebrauche, vnns zu leren vnnd ermanen vnnd allso sälig zemachen, vnnd findt sich aller ding im sinn vnnd verstannd ainhelligkayt, alain ausgenomen der verstannd diser wort: Das ist mein leyb.“69 Bucer verweist darauf, dass die Zwinglianer Bilder, Messkleider und dergleichen abgestellt und sich den Gebräuchen der in der Schrift überlie­ ferten Tradition der Urkirche wieder angenähert hätten, es aber gleichwohl als statthaft betrachteten, wenn all das im Bereich der lutherischen Refor­ mation beibehalten oder gar wieder eingeführt worden sei, „so man sollicher ding Frey ist vnnd macht hat, zuthun, was man will, soll angesehen werden, was besserlich sey“.70 Häresie sei darum nicht falsche oder fehlerhafte Lehre, sondern die Sucht nach Parteiung und Abgrenzung und damit die Selbstausschließung aus der Gemeinschaft der gerechtfertigten Sünder, die der Leib Christi sei. Die entscheidende Stelle lautet: „Heresis, das man zu teütsch etwan ketzerey oder Secten nennet vnnd von Paulo vnnder die werck deß Flaysches, zun Gallatern 5, 20, getzellet würt, ist eygenntlich die sucht, So yemannds seiner oder anndrer sünd vnnd mainungshalb, die doch zur besserung nit dienen, sich von den Rechtglöybigenn sönnderet vnnd, souil im möglich, annder an sich hennckt vnnd allso ain Spaltung vnnd Rotte in der kirchen Christj anrichtet.“71 Damit wird theologisch über die Rechtfertigung alleine aus Gnade das begründet, was als Begründung für die Freiheit als die Entlassung in die Ungleichheit schon angesprochen worden ist, nämlich die republikanische Rechtsgleichheit, die so wenig eine eindeutige Identität sichert, von keiner Leitkultur abhängt, von keiner mit sich selbst identisch bleibenden Vernunft, sondern die Gleichheit in der Nichtidentität ist. Der gerechtfertigte Sünder ist das Paradigma dieser Nichtidentität, die die formale prinzipielle Gleich­ 69  Bucer,

(1969)S. 330. (1969)S. 330. 71  Bucer, (1969)S.  326 f. 70  Bucer.



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heit in der Kirche begründet und damit die Freiheit zulässt, in sekundären Fragen unterschiedlicher Auffassung zu sein. Innerhalb der Lager mag es weiter Identitätssicherungen geben, sie lassen sich nicht vermeiden. Es bedarf der Anerkennung gemeinsamer Verfahren für alle Lager, die in der Zeit der Reformation nur eine Abfolge von Reli­ gionsgesprächen waren. Diese Gespräche, die zu Vereinbarungen führten, die trotz der eigenen Identitätsbehauptung allgemeine Anerkennung fanden, zu institutionalisieren, d. h. auf Dauer zu stellen, bedeutet die Installierung der Republik. Im Verlauf der Zeit wird sich die kollektive Identitätsfrage immer weniger stellen. An diesem Punkt sind wir heute, folgt man z. B. Charles Taylor, bereits angekommen. Die individuelle Identitätspflege ge­ lingt dagegen nur Fundamentalisten, die aber in einem stabilen republikani­ schen Kontext einen längst verlorenen Kampf nicht aufzugeben bereit sind. Wenn sie zu einer bedeutenden Minderheit werden, gefährdet das aber die Republik so, wie die Parteiungen in der Zeit der Reformation die Reforma­ tion insgesamt gefährdeten. Reformierte Theologie steht heute in diesem Kampf um eindeutige indi­ viduelle oder kollektive Identität so wenig auf neutralem Boden wie zur Zeit Bucers. Im Verständnis der Reformatoren wird zwar die als ursprüng­ lich zu denkende Übereinkunft in der Anerkennung der Rechtfertigung al­ leine aus Gnade nicht in menschlicher Anstrengung erreicht, denn dann begründete sie Identität und nicht Nichtidentität, vielmehr ist sie der Heils­ tat Jesu Christi geschuldet. Gnade und der ihr entsprechende Glaube sind dem reformierten Verständnis nach keineswegs individueller Zuspruch, sondern Bewusstsein des Hineingenommenseins in die Übereinkunft, die stets ein soziales Verhältnis ist. In diesem Sinne ist die reformierte Prädes­ tinationslehre zu verstehen. „Der Christ wird nicht als Individuum von Gott erwählt, sondern als Mitglied einer Gemeinschaft, mit der er organisch verbunden ist. Er ist Bestandteil eines Leibes, der seinen individuellen Stel­ lenwert und seine individuelle Funktion festlegt. Der Gemeinschaftsbegriff definiert die Kirche und ihre irdische Realität. Er macht Besonderheit und Gewicht von Bucers Ekklesiologie aus.“72 Diese Position aufrechtzuerhalten ist Aufgabe reformierter Verkündigung. 72  Hammann, S. 127. Im Kontext meiner Überlegungen müsste eigentlich statt von Mitgliedschaft hier von Zugehörigkeit gesprochen werden, statt von Gemein­ schaft von Gesellschaft. Wer Zugehörigkeit abspricht, vergisst, dass Zugehörigkeit eine existenziale Bestimmung des Daseins ist, die gar nicht abgesprochen werden kann, während in der Mitgliedschaft der Einzelne überhaupt erst in den Blick tritt. Er erscheint als solcher aber nur im Übergang von Zugehörigkeit in Mitgliedschaft. Die Individualität ist eigentlich Grenze im Sinne der Logik Hegels, sie ist nämlich das Gemeinsame des Etwas und des Anderen: „Daß die Grenze, die am Etwas über­ haupt ist, Schranke sei, muß es zugleich in sich selbst über sie hinausgehen, sich an

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Anders als es Vertragstheoretiker voraussetzen, dass Gesellschaft über die Willen ihrer zuvor als vereinzelt gedachten Mitglieder erreicht wird, hat reformierte Theologie darauf zu pochen, dass das Soziale als das Primäre zu denken ist, das die Einzelnen aus sich unter den Bedingungen, die oben dargestellt worden sind, in die Freiheit entlässt. Aus reformatorischer Sicht ist ein weiteres Grübeln darüber, wie diese ursprüngliche Übereinkunft zu Stande kam, über die Heilstat Christi erklärt, der vom Zwang des Mit-sichidentisch-Bleibens befreit, d. h. der zu kenosis befreit. Die ursprüngliche Übereinkunft, die sich im Glauben bewährt, ist ein beobachtbares, empirisch auszuweisendes Phänomen, theologisch gesprochen die leibliche Auferste­ hung des Herrn in seiner republikanisch verfassten Kirche. Aber so wenig sie durch Sakramente oder andere Praktiken herstellbar ist, so wenig sie also Werk ihrer selbst ist, so bedarf sie doch der Pflege, und zwar in Ver­ kündigung und Verwaltung der Sakramente, was die Verwerfung des Schwärmertums begründet. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf John Dewey verwiesen: „Die Frage, wie Individuen dazu kommen, assozi­ iert zu sein, ist sinnlos. Sie existieren und operieren in Assoziation.“73 Letztendlich gilt das für jede Übereinkunft, sei sie ökonomisch oder po­ litisch: Ihr Woher ist metaphysische Grübelei, ihr Bestand dagegen politi­ sche Arbeit. Die Großen Erzählungen bedürfen der permanenten Interpreta­ tion, nicht der Traditionssicherung.74 Im letzten Fall schließen sie aus der Interpretationsgemeinschaft aus, im ersten Fall integrieren sie in die Inter­ pretationsgemeinschaft hinein, die in einer Übereinkunft gründet, die ihren Ausdruck wiederum in der Zustimmung zu den Verfahren findet. Integration ist dann die Überführung der nicht abzusprechenden Zugehörigkeit in die ihm selbst auf sie als auf ein Nichtseiendes beziehen. Das Dasein des Etwas liegt ruhig gleichgültig, gleichsam neben seiner Grenze. Etwas geht aber über seine Gren­ ze nur hinaus, insofern es deren Aufgehobensein, das gegen sie negative Ansichsein ist. Und indem sie in der Bestimmung selbst als Schranke ist, geht Etwas damit über sich selbst hinaus.“ (Hegel 1975a, S. 120). Zugehörigkeit und Mitgliedschaft lassen sich so verstehen, dass im Übergang von der bloßen Zugehörigkeit zur Mitglied­ schaft das Individuum über sich als Individuum hinausgeht. Es ist nichts weiter als Moment des Übergangs aus dem Bereich der Sittlichkeit in seine Vergesellschaftung. 73  Dewey (1996), S. 34 f. 74  Vgl. Bammé, der den europäischen Sonderweg in drei Zäsuren einteilt: Zu­ nächst habe sich das griechische Mirakel ereignet, dann das europäische Mirakel, womit im Wesentlichen der Durchbruch des rationalen Denkens im Anschluss an die Renaissance gemeint ist (Bammé verweist besonders auf Newton). In der gegenwär­ tigen Zäsur, die sich dadurch auszeichne, dass Forschung nicht mehr auf das Labor beschränkt bleibe, um dann verwertet zu werden, sondern die Welt selber zum Labor und damit Forschung zum Risiko im Sinne von Ullrich Beck werde (Bammé S. 686 ff.), verlören die herkömmlichen Denkabstraktionen den Nimbus des fraglos Hingenommenen, womit vielleicht eine neue Große Erzählung ihren Anfang nehme (Bammé, S. 832).



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Mitgliedschaft. Aber wie die Theologie als rationaler Versuch, die ursprüng­ liche Übereinkunft in den Griff zu bekommen, sich in Widersprüche und Aporien auflöst, die Freund-Feind-Unterscheidungen zu rechtfertigen ver­ mögen, gibt es überall auch außerhalb der Kirche die Versuche, Identitäten über Zugehörigkeiten so zu begründen, dass andere ausgeschlossen werden. Dem zu wehren, ist der eigentliche politische Gottesdienst in der Tradition Martin Bucers auch über die Kirche hinaus. Was für Rousseau volonté générale, für Schleiermacher Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, für Luhmann soziales Klima ist, ist für Bucer Geist, der Liebe wirkt.75 Hiermit ist nicht gemeint, dass die zuerst genannten Begriffe mit dem Geistbegriff Bucers identisch seien, sondern lediglich, dass der reformatorische Begriff des Geistes sich mit den genannten Begriffen ex­ plizieren lasse, freilich am besten mit Rousseau, weil Bucers Geist auch Wil­ le ist.76 Mit Liebe ist weder die erotische noch die sentimentale Liebe ge­ meint. Liebender ist, wer die eigene Nichtidentität anerkennt, die Vernunft und Verstand gefährden, wenn sich Vernunft über den Verstand als mit sich selber identisch zu behaupten versucht. Liebe ist Verpflichtung und damit dem Recht verbunden, ohne sich ihr Recht herauszunehmen. Das Recht der Religionsfreiheit anzuerkennen bedeutet ihr, keiner Religion anzuhängen. Denn die Relativität religiöser Wahrheit ist mit der Anerkennung der Religi­ onsfreiheit mit anerkannt. Das Recht auf Eigentum anzuerkennen bedeutet die Verpflichtung, es als Besitz zu betrachten und entsprechend zu pflegen („Was du ererbst von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“, heißt es in Goethes Faust). Das Recht auf freie Meinungsäußerung bedeutet nicht, alles sagen zu dürfen, sondern dass die Folgen in Betracht gezogen werden müssen. Das gilt auch für Satiriker, die glauben, alles zu dürfen. So beinhaltet die Prädestinationslehre gerade nicht Puritanismus, denn für den Reformator Bucer ist die grundsätzliche Übereinkunft in der Kirche die Anerkennung der Rechtfertigung, die wiederum als vom Geist bewirkt an­ erkannt sein muss und in der Kirche als dem Leib des auferstandenen Herrn niemanden ausschließt, alle einlädt und entsprechend Kontroversen duldet. Die Geschichte der Kirche ist dann nichts Anderes als ein dauernder Pro­ zess sich ablösender Kompromisse in der Kontinuität der kontrovers verlau­ fenden Interpretation auf der Basis ursprünglicher Übereinkunft, also Geist, der dogmatisch nicht polarisiert, sondern neutralisiert. 75  Hiermit ist nicht gemeint, dass diese Begriffe identisch seien, sondern ledig­ lich, dass der reformatorische Begriff des Geistes sich mit den genannten Begriffen explizieren lässt. 76  Das unterscheidet Bucers Geistbegriff von dem Hegels: „Der wichtigste Punkt für die Natur des Geistes ist das Verhältnis nicht nur dessen, was er an sich ist, zu dem, was er wirklich ist, sondern dessen, als was er sich weiß;“ (Hegel 1975a, S. 16).

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Diese Vorstellung ist mit Luthers Denken nicht zu vereinbaren gewesen. Selbst Hegel gelingt nicht die Synthese der Positionen. Um Luther in sei­ nem Sinn zu verstehen, muss er ihn z. T. missverstehen: „Wenn schon die beständige Erhaltung der Gemeinde, die zugleich die ununterbrochene Er­ schaffung derselben ist, die ewige Wiederholung des Lebens, Leidens und Auferstehens Christi in den Gliedern der Kirche ist, so wird diese Wieder­ holung ausdrücklich im Sakrament des Abendmahls vollbracht. Das ewige Opfer ist hier dies, daß der absolute Gehalt, die Einheit des Subjekts und des absoluten Objekts dem Einzelnen zum unmittelbaren Genuß dargeboten wird, und indem der Einzelne versöhnt ist, so ist diese vollbrachte Versöh­ nung die Auferstehung Christi. Daher ist auch das Abendmahl der Mittel­ punkt der christlichen Lehre, und von hier aus erhalten alle Differenzen in der christlichen Kirche ihre Farbe und Bestimmung“77 Hier erweist sich Hegel als Lutheraner. Denn Luther dachte in der Tat vom Einzelnen aus, also existenziell-soteriologisch. Er suchte einen gnädigen Gott. Luther war ein individualisierter Gottessucher. Als er zu der reformatorischen Einsicht durchgedrungen war, dass er sich als ein von Gott Gefundener zu betrachten habe, hörte er nicht auf, dieses neue Gottesverhältnis theologisch auf den Einzelnen ausgerichtet abzusichern. Für Luther baut sich die Gemeinde aus Einzelnen auf. Aber sie bedarf des Staates, der ihre Ordnung garantiert. Für das reformierte Denken ist Gemeinde dagegen die Voraussetzung für die Rechtfertigung des Einzelnen, und nur in ihrem Rahmen kann er seiner Rechtfertigung gerecht werden. Die Reformatoren der oberdeutschen Städte und in der Schweiz hatten die Reform ihrer Gemeindearbeit im Blick und damit immer auch die Kon­ sequenzen für die Bürgergemeinde, mit der ihre Gemeinden identisch waren. Für diese Männer trat der Einzelne nur im Verbund mit dieser sich in sich selber unterscheidenden Einheit hervor. Es stand hier die Reinheit der Leh­ re von vorneherein nicht im Vordergrund, sondern nur die Organisation der Verfahren ihrer Interpretation. In den oberdeutschen und Schweizer Städten wurde sogar Duldsamkeit gegenüber den Täufern versucht, wobei nicht unterschlagen werden darf, dass es auch zu Verfolgungen kam. Sie waren aber nicht dogmatisch, sondern politisch begründet. Die Glaubensflüchtlin­ ge, die in die protestantischen Städte strömten, fanden zunächst, unabhängig von ihrem jeweiligen Bekenntnis, Aufnahme, was die Städte sehr oft vor erhebliche Probleme stellte. Das Genf Calvins gibt davon beredtes Zeugnis. In Wittenberg stellte man sich diesen Problemen nicht. Entsprechend war das Ämterverständnis in den Städten ein anderes als bei den Lutheranern. Zwingli übersetzte das griechische Wort diakonia gar nicht mit Amt, son­ dern mit Dienst. 77  Hegel

(1986a), S. 327 f.



IV. Martin Bucers Vermittlung als Neutralisierung185

Bekenntnisse verdanken sich für Reformierte interpretierenden Sprechak­ ten, die der Interpretation überantwortet bleiben. Luther und das Luthertum suchten dagegen die Festschreibung eines einmal gefunden Verständnisses für alle Zeit. Bekenntnis wird hier als erreichte Übereinkunft im Sinne Hegels verstanden. Wer widerspricht, ist ein Schwärmer. Luther begrüßte Bucer in Marburg mit dem Ausruf tu es nequam. Als sich die politische Lage änderte und auch für Kursachsen ein Bündnis mit den oberdeutschen Städten dring­ lich wurde, also im Vorfeld der Wittenberger Konkordie, gab sich Luther wei­ ter unversöhnlich und hielt sich nicht an die zwischen Bucer und Melanch­ thon vereinbarte Regelung, das „sakramentlich“ in der Einigungsformel der Wittenberger Konkordie zwar jeweils intern zu interpretieren, aber nach au­ ßen hin darauf zu verzichten, Anerkennung für die eigene Interpretation ein­ zufordern. Wenn auch Luther sich persönlich zurückhielt, nicht zuletzt krank­ heitsbedingt, ein Teil seiner Anhänger fügte sich nicht in den Kompromiss. Wie interpretiert man aber, ohne zu interpretieren? Wie findet und sichert man seine Identität, ohne dabei gleichzeitig andere Identitäten in Frage zu stellen? Martin Bucers Ekklesiologie scheint darauf eine unerwartet moder­ ne Antwort zu geben, dass nämlich die Identität als Nichtidentität christli­ ches Selbstverständnis sei. Sie ist letztlich auch die Voraussetzung für das Lernen, wenn man unter Lernen nicht die Ansammlung lexikalischen Wis­ sens versteht, sondern Anderswerden, also Bildung. Betrachtet man das weitere Schicksal der Protagonisten und wie sich das gescheiterte Religionsgespräch in Marburg auf ihren weiteren Lebensweg auswirkte, stellte man fest, dass Kompromisse in einer Lage gesucht wur­ den, die keine zuließ. Dennoch hat sich über einen der Reformatoren, näm­ lich Melachthon, in der lutherischen Linie der Reformation der Geist Bucers forttradieren können. Zwingli und Luther scheiterten. Zwingli fiel in der Schlacht bei Kappel im Oktober 1531, gut ein Jahr nach dem Marburger Religionsgespräch. Luther verfiel in Depressionen und musste erleben, dass der zunächst in seinem Schatten stehende Melanchthon die Zügel mehr und mehr in die Hand nahm. Schließlich spaltete sich das Luthertum in die Gneseolutheraner und die Philippisten. Es bestätigte sich am Beispiel von Melanchthon schon damals, was Amy Gutmann und Dennis Thompson in ihrer Studie über den Kompromiss bemerken: „With the uncompromising at their flanks, compromisers gain bargaining power.“78 Philipp von Hessen blieb einer der unbestrittenen politischen Führer der Evangelischen im Reich, wenngleich auch nicht unumstritten. Insbesondere 78  Gutmann /Thompson, S. 42. Beide untersuchen die Befindlichkeit der gegen­ wärtigen US-amerikanischen Gesellschaft im Hinblick auf die innenpolitische Lage. Die gegenseitige Blockadehaltung sei dem auf Dauer gestellten Wahlkampf geschul­ det.

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sein sehr modernes Verständnis des Ehestandes kostete ihn Ansehen. Es gelang ihm, sowohl Melanchthon als auch Bucer zu seiner umstrittenen Hochzeit nach Marburg zu locken. Beide hatten der Zweitehe Philipps mit Margarethe von der Sale nur zugestimmt, weil Philipp ihnen zugesichert hatte, sie geheim zu halten. Die Braut und ihre Familie drangen auf öffent­ liche Bekanntgabe, und Philipp war der häusliche Friede wohl wichtiger als die Reformation. Nach der Niederlage des evangelischen Lagers im Schmal­ kaldischen Krieg (1546 bis 1547) wurde er vom Kaiser fünf Jahre gefan­ gengesetzt, konnte dann aber an der Modernisierung Hessens weiterarbeiten, und das weiter unter strenger Wahrung der Toleranz, nicht zuletzt gegenüber den Juden. Eine dauerhafte Sicherung Hessens als Flächenstaat gelang nach seinem Tode allerdings nicht. Bucer selber musste nach der Katastrophe des Schmalkaldischen Krieges und der Unterwerfung Straßburgs unter den Kaiser 1549 nach England emigrieren und verlebte seinen Lebensabend in Cambridge. Maria die Ka­ tholische, die man die Blutige nennt, die Tochter Heinrichs VIII aus dessen Ehe mit Katharina von Aragón, ließ nach seinem Tode 1551 seine Gebeine ausgraben und post mortem verbrennen. Bucers Ruhm verblasste. In Calvin lebte sein Geist z. T. weiter, obgleich Calvin mehr Dogmatiker als Exeget war. Insbesondere übernahm Calvin Bucers Ämterlehre, d. h. die Verteilung der gemeindlichen Aufgaben auf die Pastoren, die Lehrer, die Diakone und die Ältesten, sowie die Kirchenzucht als Aufgabe der Gemeinde in Unab­ hängigkeit von der weltlichen Obrigkeit. Der Schwerpunkt der Überlegungen zum gescheiterten Kompromissver­ such in Marburg 1529 lag auf dem Personal und der Lage, in der es sich be­ fand. Aber erst der Einbezug von Raum und Zeit zeigen die Verfügung des Ganzen, nicht nur ihr Beieinandersein. Das Personal muss sich in einer be­ stimmten allgemeinen Lage bewegen und entsprechend Zeit haben, die im­ mer Frist ist. Und nicht jeder der Beteiligten hat die gleiche Zeit. Oft herrscht im Hinblick auf die Zeit als Frist Asymmetrie anstelle von Symmetrie. Zeit ist relativ. Wer den Ort der Verhandlung, den er vielleicht gar nicht aufsuchen wollte, nach vollbrachter Einigung wieder verlässt, gewinnt an seinem ange­ stammten Ort vielleicht erneut die Freiheit, das Vereinbarte in Frage zu stel­ len. Nicht von ungefähr werden für Friedensverhandlungen gerne Orte ge­ wählt, die im Hinblick auf die Konfliktaustragenden neutrale Orte sind. Das Ganze ist die Wahrheit. Aber das Ganze ist weder in einem binären Code verfasst noch der dialektischen Logik der Dreiheit als Einheit unter­ worfen. Das Ganze ist als Vierung gefügt. Die Vierung des Kompromisses besteht nicht aus vier Komponenten, die zusammengestellt werden könnten. Die Vierung ist nicht geschaffen und nicht zu schaffen. Nur wenn sie sich fügt, stimmt sie. In diese Fügung haben sich auch die Verhandlungspartner



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zu fügen. Aber ihr sich Fügen ist alles andere als eine passive Hinnahme. In Zeit und Raum werden sie bewegt, selbst wenn sie sich nicht bewegen wollen. Ihre Bewegung wirkt aber auf die Vierung zurück. Darum ist die Vierung Resultat von Politik. Politik bewirkt über die politischen Akteure in Raum und Zeit die Lage. Republikanische Vierung ist elastisch und blickt auf die Lage, um sich den Herausforderungen zu stellen. Staat ist Geviert, das sich gegenüber der Lage zu panzern versucht. Über die Unterscheidung zwischen republikanischem und staatlichem Politikverständnis wird noch zu sprechen sein. Staatliche Politik gipfelt nicht selten in der Dezision, die von nicht wenigen gerne in Krisenzeiten herbeigesehnt wird. Kompromiss ist Verzicht, Dezision Durchsetzung. Aber Verzicht auf Dezision hat, Konsens im eigenen Lager vorausgesetzt, den längeren Atem. Der Teufel habe keine Zeit, heißt es in Offb 12, 12. In Kompromisse müssen sich alle fügen. Kompromiss ist die Unterbre­ chung der gemeinsamen Interpretation, wenn sie Übereinkünfte gefährdet. Ist die Interpretation in der Übereinkunft öffentlich anwesend, so ist sie es im Kompromiss gerade nicht. Der Kompromiss ist Verzicht auf öffentliche Interpretation. Das macht ihn politisch so interessant, weil er die interne Unterscheidung zwischen Freund oder Feind zu vermeiden trachtet. Für Carl Schmitt bestünde der Verdacht, Kompromisse seien wesentlich dilato­ risch. Schmitt weinte dem Staat nach, ohne dass er sich in die Republik gefügt hätte, die ihm doch der Kontext seines Denkens war. Fruchtbarer im Verstehen des politischen Alltags scheint Rudolf Smends Verfassungsver­ ständnis zu sein, das die Integration wesentlich als Kompromiss und nicht im Sinne Hegels als Übereinkunft denkt, was ihn dazu bringt, den Staat als Prozess und nicht als Substanz zu verstehen.

V. Kompromiss und Toleranz Im Streit um das Abendmahl ging es nicht nur um Hermeneutik, sondern auch um Christologie. Dogmatisch ließ sich an den spätantiken Streit um die Trinität anknüpfen. Luthers Position basiert auf dem Konzil von Chal­ cedon, das die Einheit der beiden Naturen Jesu (wahrer Gott und wahrer Mensch) und ihre gegenseitige Durchdringung (wenngleich auch nicht Ver­ mischung) in der communicatio idiomatum ins Bekenntnis aufnahm. Luther schloss daraus für seine Abendmahlslehre, dass Christus nicht nur in seiner Gottheit, sondern auch als Mensch allgegenwärtig sei (Ubiquitätslehre). Im Abendmahl würden seine Inkarnation und sein Leiden für den jeweils Emp­ fangenden zum unmittelbaren Ereignis. Die spätantike Christologie spielte für die Reformierten kaum eine Rolle. Für Zwingli war Christus im Abendmahl in der Erinnerung der Teilnehmer

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anwesend. Bucer begründete die geistige und leibliche Anwesenheit formal völlig anders, dass Christus geistig und leiblich in der Gestalt seiner Ge­ meinde anwesend sei. Calvin bestritt später in seiner eigenen Abendmahls­ lehre die leibliche Anwesenheit (Extra Calvinisticum). Die inhaltliche Übereinstimmung Bucers mit Luther, dass Christus im Abendmahl sowohl geistig als auch leiblich anwesend sei, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass für Luther nicht die Gemeinde, sondern der sakramentale Zuspruch für den Einzelnen im Vordergrund seines Abendmahlsverständnisses stand. Lu­ ther war daran interessiert, die persönliche Heilsgewissheit zu begründen. Die Reformierten stellten dagegen die Gemeinde als Empfängerin des Sak­ raments in den Vordergrund. Daher betonen Bucer und Calvin den Geist. Das hat Folgen für die Handlungslogik. Das punktuell verstandene Sub­ jekt wird Kompromisse als Identitätsbeschädigung auffassen, umgekehrt weiß das sich im Allgemeinen reflektierende Subjekt schon als Anerken­ nungsverhältnis. Die ursprüngliche Übereinkunft, die Kompromisse ermög­ licht, ob theologisch Geist oder politisch Allgemeinwille genannt, ist nicht irrational, sondern auch Übereinkunft in dem, was logisch als selbstver­ ständlich erscheint. Das hat Hegel in seiner Phänomenologie ausgearbeitet. Das Selbstbe­ wusstsein ist für ihn die Gewissheit, alle Realität zu sein. Darum lässt es sich nicht als punktuelles bzw. individuelles Bewusstsein denken, sondern als Geist. „Der Geist ist hiemit das sich selbst tragende absolute reale We­ sen. Alle bisherigen Gestalten des Bewußtseins sind Abstraktionen dessel­ ben; sie sind dies, daß er sich analysiert, seine Momente unterscheidet und bei einzelnen verweilt. Dies Isolieren solcher Momente hat ihn selbst zur Voraussetzung und zum Bestehen, oder es existiert nur in ihm, der die Exis­ tenz ist.“79 Indem das Selbstbewusstsein sich seiner selbst in seinem Verhältnis zur Welt der Natur vergewissert, kommt es zur Vernunft und anerkennt sich schließlich als Erscheinung des Geistes, der sich zunächst in der Sittlichkeit zeigt. Die Sittlichkeit ist aber nicht ursprüngliche Übereinkunft, sondern unreflektierter Vollzug dessen, was als selbstverständlich gilt. Sie ist im Sinne Bourdieus habituell. Hegel verweist auf die Antigone des Sophokles, in der zunächst über das Wesen und dann die Gesetze der Sittlichkeit zu lesen ist: „‘nicht etwa jetzt und gestern, sondern immerdar / lebt es, und keiner weiß, von wannen es erschien.‘ Sie (die Gesetze der Sittlichkeit; Anm. M.  E.) sind. Wenn ich nach ihrer Entstehung frage und sie auf den Punkt ihres Ursprungs einenge, so bin ich darüber hinausgegangen; denn ich bin nunmehr das Allgemeine, sie aber das Bedingte und Beschränkte. 79  Hegel

(1952), S. 314.



V. Kompromiss und Toleranz189

Wenn sie sich meiner Einsicht legitimieren sollen, so habe ich schon ihr unwankendes Ansichsein bewegt und betrachte sie als etwas, das vielleicht wahr, vielleicht auch nicht wahr für mich sei.“80 Das bedeutet, dass die Sittlichkeit so wenig eindeutig ist wie das Allgemeine. Die individuelle Persönlichkeit, die sich aufzureiben droht im Gehorsam zwischen sich wi­ derstreitenden sittlichen Ansprüchen, die Hegel göttliches und menschliches Gesetz nennt, entsteht erst in diesen Konflikten und erfährt sich in der Reflexion, die es ist, als das Allgemeine. Dieses Besondere als Allgemeines verdankt sich damit, wie Hegel bemerkt, dem Krieg. Denn das Gemeinwesen wirkt nach Hegel negativ auf die Familie. „Der Geist der allgemeinen Zusammenkunft ist die Einfachheit und das negative Wesen dieser sich isolierenden Systeme. Um sie nicht in dieses Isolieren einwurzeln und festwerden, hiedurch das Ganze auseinanderfallen und den Geist verfliegen zu lassen, hat die Regierung sie in ihrem Innern von Zeit zu Zeit durch Kriege zu erschüttern“.81 Auch die Individualität verdankt sich damit laut Hegel dem Krieg. Das Volk könne nur Individualität für sich sein, wenn andere Individualitäten für es seien. „Die negative Seite des Gemeinwesens, nach innen die Vereinzelung der Individuen unterdrückend, nach außen aber selbsttätig, hat an der Individualität seine Waffen.“82 Das Gemeinwesen führt also in der Sozialisierung Krieg gegen die Vorherrschaft familiärer Bindungen. Im Übergang von Sittlichkeit zum Rechtszustand wiederholt sich, was das Selbstbewusstsein an sich selber erfahren hat, nämlich Anerkennung seiner allgemeinen Bedingtheit, die sich jetzt konkret als gesellschaftliche Bedingtheit herausstellt. Es kann nicht für sich sein als bourgeoises Herrenbewusstsein, sondern muss sich als dem Gemeinwesen dienender Knecht, als citoyen anerkennen, und erfährt umgekehrt vom Ge­ meinwesen dann seine Anerkennung als bourgeois. Mit der Auflösung der Sittlichkeit zersplittere die Individualität, was im Abschnitt über den Rechtszustand ausgeführt wird. Hegel verweist auf einen Herren der Welt, wobei wohl weniger an historische Herrscher wie Napole­ on als vielmehr an die herrschende Vorstellung von Identität als Substanz zu denken ist, verkörpert im Staat: „Der Herr der Welt hat das wirkliche Bewußtsein dessen, was er ist, der allgemeinen Macht der Wirklichkeit, in der zerstörenden Gewalt, die er gegen das ihm gegenüberstehende Selbst seiner Untertanen ausübt. Denn seine Macht ist nicht die Einigkeit des Geis­ tes, worin die Personen ihr eigenes Selbstbewußtsein erkännten, vielmehr sind sie als Personen für sich und schließen die Kontinuität mit andern aus der absoluten Sprödigkeit ihrer Punktualität aus; sie sind also in einem nur 80  Hegel

(1952), S. 311. (1952), S. 324. 82  Hegel (1952), S. 341. 81  Hegel

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negativen Verhältnisse wie zueinender so zu ihm, der ihre Beziehung oder Kontinuität ist. Als diese Kontinuität ist er das Wesen und der Inhalt ihres Formalismus, aber der ihnen fremde Inhalt, und das feindliche Wesen, wel­ ches gerade dasjenige, was für sie als ihr Wesen gilt, das inhaltsleere Für­ sichsein, vielmehr aufhebt; – und als die Kontinuität ihrer Persönlichkeit eben diese zerstört. Die rechtliche Persönlichkeit erfährt also, indem der ihr fremde Inhalt sich in ihr geltend macht, – und er macht sich in ihnen gel­ tend, weil er ihre Realität ist, – vielmehr ihre Substanzlosigkeit. Das zerstö­ rende Wühlen in diesem wesenlosen Boden gibt sich dagegen das Bewußt­ sein seiner Allherrschaft, aber dieses Selbst ist bloßes Verwüsten, daher nur außer sich, und vielmehr das Wegwerfen seines Selbstbewußtseins.“83 Punktuelle Identitäten, die ihre Selbstsicherung zum Lebensprinzip erhe­ ben, erleben die sozialen Prozesse als Zumutung. Sie haben laut Hegel vergessen, dass ihre Vorstellung von einer eigenen individuellen, punktuell gegebenen und mit sich selbst identisch bleibenden Individualität sich ei­ ner allgemeinen Individualitätsvorstellung verdankt, einer kollektiven Indi­ vidualität. Die frohe Botschaft der Philosophie Hegels lautet, dass diese Allgemeinheit nicht so allgemein ist und ihren Widerspruch in sich trägt. Das Staatsdenken als Behauptung des Herrenbewusstseins ist substanzlos und muss in republikanisches Selbstbewusstsein überführt werden oder un­ tergehen. Hegel hat in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes die menschli­ che Natur dahingehend bestimmt, dass sie auf Übereinkunft angelegt sei, die begrifflich geleistet werden müsse, verbunden mit einer scharfen Zu­ rechtweisung Schleiermachers, der die Religion als das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit bezeichnet hat. Hegel ist mit philosophischen Positi­ onen, die er nicht teilte, in der Regel mild-ironisch umgegangen, aber gegen Schleiermacher wurde er rabiat, indem er ihm entgegnete, dann verdiene es der Hund, der beste Christ genannt zu werden.84 Gefühle seien subjektive Empfindung ohne argumentative Kraft. Wer sich auf Gefühle berufe, breche das Gespräch ab und verweigere Übereinkunft.85 83  Hegel

(1952), S. 345 f. sich die Religion im Menschen nur auf ein Gefühl, so hat solches richtig keine weitere Bestimmung, als das Gefühl seiner Abhängigkeit zu sein, und so wäre der Hund der beste Christ, denn er trägt dieses am stärksten in sich und lebt vornehmlich in diesem Gefühle. Auch Erlösungsgefühle hat der Hund, wenn seinem Hunger durch einen Knochen Befriedigung wird.“ (Hegel 1986b, S. 58). 85  „Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit andern Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Überein­ 84  „Gründet



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Es ist zweifelhaft, ob sich diese Beurteilung des Phänomens des Gefühls so ohne weiteres aufrechterhalten lässt. Man könnte sogar Hegel gegen Hegel anführen. Laut Karl Barth kann man alles, was gegen Hegel einzu­ wenden sei, bei ihm selber finden.86 Gelegentlich muss man Hegel gegen Hegel Recht geben. Hätte Hegel sich darauf beschränkt, die Humanität als das Drängen auf Übereinkunft und damit als ein ergebnisoffenes Verfahren auszuweisen, hätte der Kompromiss als eine Variante von anderen Verfahren im Rahmen dieses Prozesses unterschieden werden können, oder als die für eine bestimmte oder auch unbestimmte Zeit vereinbarte Unterbrechung der Prozesse. Aber die „zu Stande gebrachte Gemeinsamkeit der Bewußtseine“ bringt den Prozess in dem Rahmen, den die Gemeinsamkeit abdeckt, zum Stillstand. Das wertet den Kompromiss ab. Übereinkunft ist diesem Verständnis nach Friede im Sinn des positiv bestimmten materialen Friedens, während Kompromiss negativer, rein for­ meller Friede im Sinne der Abwesenheit der Auseinandersetzung ist. Mit seiner Bestimmung der Natur der Vernunft als eines Drängens auf Überein­ kunft steht Hegel in der Tradition Kants und fällt entsprechend wie Kant ebenso der Kritik Deweys anheim. Axel Honneth kann sich in seinem Verständnis von Anerkennung darum auch auf Hegel berufen, womit er aber den eigentlichen Ansatz Hegels verfehlt. Jedenfalls ist der Friede, der so vorgestellt und erstrebt wird, Friede einer mit sich selbst identisch gedach­ ten Vernunft. Er wäre das Ende der Geschichte. Anstatt von diesem Ende her den Kompromiss zu verstehen, soll der Blick auf die Voraussetzung für den Kompromiss gelenkt werden. Der negative Frieden des Kompromisses setzt etwas voraus, das nicht gering zu achten ist: die Bereitschaft zur Einstellung der Feindseligkeiten. Diese Bereitschaft kann sich auf Grund von allgemeiner Erschöpfung ein­ stellen, oder weil sich weitere Herausforderungen abzeichnen, auf die ge­ meinsam reagiert werden muss. Dem Kompromiss geht etwas voraus, das den Kontrahenten die Anerkennung abnötigt, einen Kompromiss schließen zu müssen. Der Kompromiss drängt sich auf. Die Bereitschaft zu Kompro­ missverhandlungen wird nicht über Vernunftschlüsse erreicht, sondern von der Lage erzwungen und verdankt sich einer Interpretation, der alle am Konflikt Beteiligten zustimmen, ohne dass sie hätte extra verhandelt werden müssen. Diese gemeinsame Einsicht in die Lage ist eine Art ursprünglicher Übereinkunft. Sie herbeizuführen und zu fördern ist die Arbeit einer repub­ likanisch ausgerichteten Politik. kunft mit andern zu dringen, und ihre Existenz nur in der zustande gebrachten Ge­ meinsamkeit der Bewusstseine.“ (Hegel 1952, S. 56). 86  Barth (1985), S. 354.

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Schon der gesunde Menschenverstand muss nicht reformatorische oder philosophische Studien betreiben, um sich das bestätigen zu lassen. Paare wissen um die Vergeblichkeit der logischen Argumentation, wenn die Über­ einkunft der Willen nicht mehr gewährleistet ist. Beziehungen beginnen nicht mit einem herrschaftsfreien Vernunftdiskurs, aus dem nach Abwägung aller Folgen ein gegenseitiges sexuelles Begehren erwüchse, und umgekehrt führt nicht jedes sexuelle Begehren zu Aufnahme einer Beziehung. Partner­ schaftliche Konflikte werden zudem selten über Vernunftdiskurse gelöst, weil nämlich ein der Vernunft unzugänglicher Kontext die Bedeutung der Begriffe stiftet. Kosenamen können leicht zu Schimpfnamen werden. Man muss sich über ursprüngliche Übereinkunft auf dem Weg der Reflexion begrifflich vergewissern, man kann sie über Vernunftdiskurse aber nicht erreichen. Die Vernunft vermag den Willen nicht zu steuern, vielmehr steu­ ert der Wille die Vernunft. Wille ist aber kein irrationales Phänomen, wenn er die Lage berücksichtigt. Ansonsten wäre er bloßes Wünschen. Sozialwissenschaft in der Tradition von Habermas untersucht den Kom­ promiss in der Regel in einem Zusammenhang mit der Toleranz und im Rahmen des bürgerlichen Vertragsdenkens, z. B. Martin Greifenhagen. Die Kompromissbereitschaft der Einzelnen gilt auch hier als Voraussetzung von Verhandlungen. Greifenhagen setzt für einen gesellschaftlichen Zusammen­ halt einen Vorschuss an Vertrauen voraus. Er sieht einen Vorschuss an Vertrauen schon bei nichtmenschlichen Primaten als gegeben an: „So gibt es z. B. die ‚goldene Regel‘ bereits bei Schimpansen.“87 Dieser Rückgriff auf die Welt der Instinkte behauptet eine Kontinuität der menschlichen Na­ tur unter Missachtung ihrer Vergesellschaftung. Der Hinweis Hegels, dass der Übergang aus der Welt der Sittlichkeit in den Rechtszustand ein gewalt­ samer Vorgang ist, kann dann ignoriert werden. Vertrauen ist in der Natur angelegt und entwickelt sich evolutionär als gesellschaftlicher Fortschritt. Gegenüber Greifenhagen lässt sich behaupten, dass republikanisches Den­ ken weniger auf zwischenmenschlichem Vertrauen als auf Misstrauen be­ ruht. Im Bereich der ökonomischen Bildung gilt das im Hinblick auf die Verbraucherschulung als selbstverständlich. Sollten die verschiedenen An­ sätze der politischen Philosophie nicht entsprechend auch unter Verdacht zu 87  Greifenhagen, S. 16. Dazu kann einem Lichtenberg einfallen, der einmal be­ merkte, von allen Tieren komme der Mensch dem Affen am nächsten (Sudelbücher B, S. 107). Hegel schreibt dagegen: „Es kann in unsern Tagen nicht oft genug daran erinnert werden, daß das, wodurch sich der Mensch vom Tier unterscheidet, das Denken ist. In alles, was ihm zu einem Innerlichen, zur Vorstellung überhaupt, wird, was er zu dem Seinigen macht, hat sich die Sprache eingedrängt, und was er zur Sprache macht und in ihr äußert, enthält eingehüllter, vermischter, oder herausgear­ beitet, eine Kategorie; so sehr natürlich ist ihm das Logische, oder vielmehr dassel­ be ist seine eigentümliche Natur selbst.“ (Hegel 1975a, S. 9 f.).



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stellen sein? Karsten Fischer formuliert prägnant: „An die Stelle von Personenvertrauen tritt also in der Moderne Institutionenvertrauen. Dieses bleibt wiederum paradox, weil Institutionen die Organisationsform des Misstrauens in Personenvertrauen sind: Intakte und stabile, also vertrauens­ würdige Institutionen sind ein Ausdruck effektiven Misstrauens, das heißt jener erfolgreichen, wechselseitigen Kontrolle, die den Rechtsstaat aus­ zeichnet.“88 Luc Boltanski hat darauf aufmerksam gemacht, dass die moderne indus­ trielle Gesellschaft parallel zur Soziologie das Genre der Kriminalerzählung bzw. des Kriminalromans hervorgebracht habe. Das lässt sich für das repu­ blikanische Denken fruchtbar machen. Denn angesichts der Unübersicht­ lichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Dynamik treten sowohl in den Wissenschaften als auch im Bereich der Verbrechensbekämpfung Probleme erst auf, sobald sich Störungen im gewohnten und daher kaum reflektierten Alltag ergeben, die nicht über die üblichen induktiven oder deduktiven Schlussverfahren gelöst werden können. Das erfordert die Be­ reitschaft, das von Charles Sanders Peirce in den Vordergrund gestellte Schlussverfahren der Abduktion als Forschungsmethode ins Zentrum zu stellen, was sowohl in der Soziologie als auch im Kriminalroman geschieht. Entscheidend ist bei diesem Verfahren, dass empirisch ausgewiesene Stö­ rungen, die sich mit den herkömmlichen Erklärungen nicht mehr (oder noch nicht) verstehen lassen, neugierig machen auf neue Lösungswege. Die Ab­ duktion lädt zur Theoriebildung oder zur Theorieumbildung ein. Sie geht nicht von einem Einzelfall aus, der einer Regel subsumiert wird, und nicht von einer Regel, die Einzelfälle klassifiziert. Sie schließt nicht auf Notwen­ digkeit und nicht auf Wahrscheinlichkeit, sondern auf Stimmigkeit. Ein Problem, das auf herkömmliche Weise nicht verstanden, geschweige denn gelöst werden kann, fordert zur Hypothesenbildung auf, die sich, soll sie den Ansprüchen wissenschaftlicher Arbeit genügen, im Rahmen der nicht in Frage stehenden Plausibilität des Verstehenshorizonts bewähren und empi­ risch bestätigen lassen muss. Im Rahmen des abduktiven Vorgehens werden wissenschaftliche Theorien von Verschwörungstheorien unterscheidbar. Die Republik bedarf darum weniger des Vertrauens als vielmehr einer uneingeschränkten Pressefreiheit und eines qualitätsvollen, investigativen Journalismus. Freie Presse und investigativer Journalismus sind die Nach­ richtendienste einer Republik. Autoritäre Regime, die auf Vertrauen grün­ den, sind nur scheinbar stabil, weil sie lediglich über staatliche Nachrich­ tendienste und keine freie Presse informiert werden. Autokraten bekommen nur gesagt, was sie hören wollen. In der autokratischen Regierung wird die substanzhaft verstandene Individualität zur Karikatur. 88  Fischer,

Karsten, S. 23.

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Boltanski macht in seiner Untersuchung über den Zusammenhang zwi­ schen dem Aufkommen der Soziologie und der Kriminalliteratur noch auf einen Unterschied im Genre der Kriminalliteratur aufmerksam: Im kontinen­ talen Kriminalroman ermittelten beamtete Ermittler. Sie repräsentierten eine staatliche Behörde, die als solche zwar nicht per se als sonderlich effektiv dargestellt werde, aber gescheiten Menschen die Möglichkeit gebe, im Sin­ ne des Gemeinwohls zu wirken. Boltanski verweist auf den Kommissar Maigret, den Protagonisten der Kriminalromane von Georges Simenon. Im britischen Kontext erschienen die staatlichen Agenturen dagegen als über­ fordert und bedürften privater Sicherheitsunternehmer wie etwa Sherlock Holmes.89 Die Unterscheidung zwischen Staat und Republik lässt sich in der Unterhaltungsliteratur bzw. im Unterhaltungsfilm aufzeigen: Auf der einen Seite grundsätzliches Misstrauen gegenüber den Ermittlungsbehörden, z. B. im amerikanischen Kriminalfilm, auf der anderen Seite die Verkündi­ gung deutscher Staatsmetaphysik über die Tatort-Reihe und zahlreiche an­ dere Produktionen im gleichen Stil, und das mittlerweile nicht mehr nur an den Wochenenden, sondern täglich. Im Hinblick auf Greifenhagens Schim­ pansen sollten freilich die vielen Tiersendungen nicht unerwähnt bleiben. Greifenhagen bemerkt, dass die Kultur des Kompromisses in der angel­ sächsischen Welt ausgebildet worden sei und in unserer Gesellschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges das neue Paradigma des Politischen bilde. Vor 1945 habe sich die deutsche Kultur von der angelsächsischen Kultur deutlich zu unterscheiden versucht. Es habe die Ansicht geherrscht, wer Kompromisse mache, kompromittiere sich.90 Seit 1945 setze sich das angelsächsische Paradigma des Kompromisses auch zunehmend internatio­ nal durch. Der Zusammenbruch des Ostblocks habe dem Prinzip, das in der Formel Reziprozität, nicht Homogenität kulminiere, noch mehr Dynamik verliehen: „Der Schritt auf den Gegner zu bedeutet stets gleichzeitig einen Schritt weg von der eigenen Identität.“91 Der Einschätzung, der Kompromiss habe in Deutschland vor 1945 im Unterschied zum angelsächsischen Raum keine oder nur geringe Bedeutung gehabt, kann man widersprechen: Nicht nur Carl Schmitt hat die Jahre vor 89  Boltanski, S. 64 ff. Schon Collingwood hat die Arbeit des Historikers mit dem eines Detektiven verglichen: „The hero of a detective novel is thinking exactly like an historian.“ (Collingwood, S. 243). In diesem Zusammenhang sei auf eine weitere Unterscheidung in der Kriminalliteratur aufmerksam gemacht, nämlich dass Conan Doyles Sherlock Holmes seine Fälle über logische Schlussfolgerungen aus Spuren am Ort des Verbrechens löst, während K. G. Chestertons Father Brown über die psychologische Recherche zu Ergebnissen kommt. Chestertons Ansatz ist der theo­ logisch interessantere. 90  Greifenhagen, S. 19. 91  Greifenhagen, S. 100.



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1933 als Zeit der dilatorischen Kompromisse bezeichnet, und der National­ sozialismus war kein monolithischer Herrschaftsblock, in dem die volonté générale als Führerwillen die einstimmige volonté de tous bewirkt hätte. Greifenhagen unterschlägt, dass selbst Räuberbanden ohne Kompromiss keinen Bestand haben. Kompromisse als solche sind nicht schon an sich moralisch.92 In der Frage, ob es mit dem nationalsozialistischen Deutsch­ land einen Verhandlungsfrieden geben könne, waren die Alliierten kompro­ misslos. Greifenhagens Studie erschien zwei Jahre vor den Anschlägen in New York und Washington. Seitdem lebt die westliche Öffentlichkeit in dem Bewusstsein, dass sie sich in einem asymmetrisch geführten Krieg mit ei­ nem extremen Islamismus befindet, dessen Strategie in der Aufkündigung der Reziprozität gründet. Reziprozität herrscht zwischen symmetrisch sich gegenüberstehenden Gegnern und basiert auf einem gemeinsamen strategi­ schen Interesse, z. B. dem, einen Konflikt möglichst begrenzt zu halten und in kurzer Zeit zu entscheiden. Solche Konflikte sind im internationalen Kontext selten geworden. Greifenhagens Vorstellung von Kompromiss setzt für den Kompromiss, der erst noch geschlossen werden muss, schon einen Kompromiss voraus, und Kompromisse müssen dann letztlich endlos als immer schon vorausgesetzt gedacht werden, bis hin zum Instinkt. Dennoch konzediert auch er: „Bevor man über Sachen diskutiert, muß erst ein Ver­ trauensverhältnis geschaffen (Hervorhebung M. E.) werden, das eine solche Diskussion trägt.“93 Vertrauensverhältnisse entstehen in gesellschaftlichen Verhältnissen nicht von selbst. Vermittlung kann aber erst greifen, wenn es zwischen den sich gegenüberstehenden Parteien eine der Lage geschuldeten Einsicht gibt, die Kämpfe zu unterbrechen oder gar zu beenden. Auseinandersetzungen kön­ nen nicht über Appelle beendet werden. Toleranz kann nicht verordnet und dann durchgesetzt werden, wie Rainer Forst zu Recht bemerkt. Forst nähert sich dem Begriff der Toleranz zunächst über dessen techni­ sche Bedeutung an, demgemäß Abweichungen von einer Norm, die das Gesamtsystem nicht in Frage stellten, als Toleranz bezeichnet würden. Die­ se Bestimmung könne nicht auf die Gesellschaft übertragen werden, weil hier weder eine allgemeingültige Norm noch entsprechende Messgeräte zur Feststellung der Unverträglichkeiten mit dem Gesamtsystem zur Verfügung stünden. „Denn schon die Idee eines ‚vorgegebenen Sollwerts‘ mit objekti­ ver Geltung ist problematisch: Gibt es einen solchen, oder wird Toleranz 92  Vgl. Margalit, Avishai, der am Beispiel des Münchner Abkommens von 1938 erläutert, was einen faulen Kompromiss ausmache. 93  Greifenhagen, S. 36.

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auch und gerade dort nötig, wo ein solcher fehlt und die je einzelnen Indi­ viduen oder Gruppen ihre Ideale unterschiedlich bestimmen?“94 Es gibt aber gesellschaftliche Normen und Verfahren, die über die Ver­ träglichkeit bestimmter Ideale mit dem Gesamtsystem entscheiden. In Forsts näherer Bestimmung des Toleranzbegriffs wird das auch berücksichtigt. Von seinen sechs Merkmalen seien hier genannt: − Tolerant sei man gegenüber einer Haltung, die man ablehne, − für deren Duldung es dennoch Gründe gebe, − die ihre Grenze habe, − Toleranz könne zudem nicht erzwungen werden.95 Forst bindet sein Toleranzkonzept an die Idee der Gerechtigkeit: „Die Normen, die basale Rechte und die Verteilung sozialer Güter legitimieren und den Anspruch auf generelle und kategorische Verbindlichkeit erheben, müssen mit Gründen gerechtfertigt werden können, die ein jeder Bürger akzeptieren können muß – bzw., um es negativ zu formulieren, die kein Bürger vernünftigerweise, d. h. mit reziprok-allgemeinen Gründen, zurück­ weisen kann.“96 Niemandem dürften Rechte vorenthalten werden, die man selber beanspruche. So unterscheidet Forst zwischen allgemeinen Normen auf der einen und Werten und Überzeugungen auf der anderen Seite. „Bür­ ger sind folglich dann tolerant, wenn sie die Grenze von Reziprozität und Allgemeinheit anerkennen (…). Die erwähnte Grenze stellt somit gleichzei­ tig die ‚Grenze der Toleranz‘ dar, denn alle ethischen Werte und Lebensfor­ men, die diese Grenze anerkennen, sind zu respektieren, und Intoleranz tritt genau dann auf, wenn diese Grenze verletzt wird, d. h. wenn keine ausrei­ chenden Gründe für Ansprüche an andere vorgebracht werden.“97 Forst unterscheidet zwischen vier Arten der Toleranzgewährung: 1. Toleranz als Erlaubniskonzept bzw. Verordnung; 2. Toleranz als Koexistenz, weil die potenziellen Gegner die Kosten der Auseinandersetzung scheuen; 3. Toleranz aus Respekt gegenüber demjenigen, der sie fordert; 4. schließlich Toleranz aus Wertschätzung, weil die andere Position, auch wenn es nicht die eigene sein kann, prinzipiell auch für wertvoll erachtet wird.98 94  Forst,

S. 7. S. 9 und S. 120 ff. 96  Forst, S. 132. 97  Forst, S. 134. 98  Forst, S.  124 ff. 95  Forst,



V. Kompromiss und Toleranz197

Forst sieht seine gerechtigkeitsorientierte Toleranz im Respekt begründet. Dieser Respekt beruhe auf der Einsicht in die Endlichkeit der Vernunft: „Das epistemologische Element besteht in der Einsicht in die Bürden der Vernunft und die Unvermeidlichkeit ethischer Differenzen – eine Einsicht in die Endlichkeit der theoretischen wie auch der praktischen Vernunft in be­ zug auf die Frage nach dem richtigen oder ‚wahren‘ Leben.“99 Auch wenn Forst Kant nicht erwähnt: Die Einsicht in diese Endlichkeit wird über die Kritik der reinen und der praktischen Vernunft gewonnen. Eine Zusammenfassung der Position von Rainer Forst liefert Lothar Hä­ berle: Der Schwerpunkt der Argumentation bei Forst liege auf der Men­ schenwürde, die Toleranz gegenüber einer Einstellung auch dann einfordere, wenn sie mit Vernunftgründen abgelehnt werden könne (Rekurs auf Haber­ mas): „Toleranz bedeutet mithin nicht Achtung vor der Überzeugung eines Anderen, sondern Achtung vor ihm, der diese von mir abgelehnte Überzeu­ gung hat, also Achtung vor seiner Person.“100 Dieser Ethik liegt eine Meta­ physik zu Grunde, die davon ausgeht, eine Person als Substanz habe akzi­ dentielle Überzeugungen, und dass beides getrennt werden könne. Anerken­ nung der Überzeugung wird dann vereinbar mit der Verordnung von Ein­ schränkungen in der praktischen Wirksamkeit.101 Häberle warnt vor einer Herrschaft des Relativismus: „Eine wertneutrale Verfassung zu etablieren, die nur das demokratische Verfahren selbst absichert, aber keine Rechts­ziele angibt, genügt demnach nicht“,102 und fordert eine nicht wertneutrale Inter­ pretation des Art. 1 GG: „Nicht zuletzt deshalb ist Wert zu legen auf die Rekonstruktion der historischen Grundentscheidung.“103 Da aber entschei­ dend sei, wer die Interpretationshoheit gewinne und behalte, bedürfe es „treuer Diener und Vollstrecker“.104 Die Frage, wer über Tabuzonen in der Gesellschaft entscheide, sei eine Machtfrage.105 Wer diese Metaphysik nicht anerkennt, wird es aber als eine Beschädi­ gung seiner Identität empfinden, wenn ihm zwar zugestanden wird, eine Überzeugung zu haben, er aber Einschränkungen ihrer praktischen Wirk­ samkeit auferlegt bekommt. Auf der Basis der von Forst und Häberle an­ erkannten Metaphysik ließe sich Diskriminierung begründen, z. B. von Ho­ mosexuellen, indem man ihre Person achtete, ihre Praxis aber kriminali­ sierte. 99  Forst,

S. 140. S. 22. 101  Häberle, S. 28. 102  Häberle, S.  38 f. 103  Häberle, S. 39. 104  Häberle, S. 39. 105  Häberle, S. 41. 100  Häberle,

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B. Der Streit um das Abendmahl

Das lässt noch einmal an die Kritik Deweys an Kant denken. Über das Verständnis individueller Identität lässt sich republikanische Toleranz nicht begründen, im Gegenteil: Die Gewährung von Toleranz bzw. der Entzug von Toleranz bleibt insofern willkürlich, weil Toleranz und auch Kompro­ misse dann grundsätzlich als Identitätsverlust oder Identitätsbeschädigung verstanden werden. Sie beeinträchtigen die Ideale. Aber ideale Identität ist nur ein Traum. „Ideale sagen etwas darüber aus, wie wir sein möchten. Kompromisse zeigen, wer wir sind.“106 Als ein Anerkennungsverhältnis sind wir aber schon Kompromiss, bevor wir welche schließen. Wir sind unserem Wesen, unserer Natur nach Kompromiss.

VI. Politische Strategie im republikanischen Kontext Vereinzelung, wie sie die Vertragstheoretiker voraussetzten, ist eine Fik­ tion. Der Mensch ist immer eingebunden in Interpretationsgemeinschaften, denen gegenüber er loyal ist. Er verlässt sie und ihre Loyalität, indem er einer anderen beitritt, der gegenüber er fortan loyal ist. Es gibt creatio ex nihilo im sozialen Leben so wenig wie grundsätzliche Illoyalität, d. h. es gibt grundsätzlich kein illoyales Leben. Rousseau kritisierte die Vertragstheoretiker dahingehend, nicht bedacht zu haben, dass ein Volk, bevor es einen Vertrag schließen könne, erst einmal ein Volk werden müsse: „Gäbe es keine vorausgehende Übereinkunft, wo käme dann – außer bei einstimmiger Wahl – die Pflicht der Minderheit her, sich der Entscheidung der Mehrheit zu unterwerfen? Und woher haben hundert, die einen Herren wollen, das Recht, für zehn zu stimmen, die kei­ nen wollen? Das Gesetz der Stimmenmehrheit ist selbst eine Übereinkunft und setzt wenigstens einmal Einstimmigkeit voraus.“107 Mit anderen Wor­ ten: Die volonté générale ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass eine volonté de tous überhaupt zustande kommen und schließlich festgestellt werden kann. Was Rousseau als volonté générale bezeichnet, ist für Bucer und Calvin Geist. Er ist nicht Sittlichkeit, sondern über die Sittlichkeit hin­ aus, aber auch noch nicht Vertrag, also nicht Rechtszustand. Ohne den Begriff des Habitus auf den des Geistes anwenden zu wollen, bringt m. E. Pierre Bourdieu dennoch an einer Stelle mit Abstrichen zum Ausdruck, wie Geist verstanden werden kann, nämlich als eine vis insita, eine Art beharrender Kraft im Interesse der constantia sibi, als ein „Ort dauerhafter solidarischer Bande, unüberwindlicher, da auf inkorporierten Gesetzen und Bindungen, eben den Gesetzen des Korpsgeistes (von dem 106  Margalit,

107  Rousseau,

S. 14. S. 391.



VI. Politische Strategie im republikanischen Kontext199

der Familiengeist einen Sonderfall darstellt) beruhender Treue, jener tiefin­ neren Verwachsenheit des sozialisierten Körpers mit dem sozialen Körper, der ihn geschaffen hat und mit dem er eins ist. Daher ist er die Basis eines impliziten Einverständnisses zwischen allen Akteuren, die das Produkt ähn­ licher Bedingungen und Konditionierungen sind, und auch Basis einer praktischen Erfahrung der Transzendenz der Gruppe, ihrer Seins­­‑ und Hand­ lungsweisen: findet doch jeder in dem Verhalten aller seinesgleichen die Billigung und Rechtfertigung (‚das gehört sich‘) seines eigenen Verhaltens, das wiederum das der anderen billigt und gegebenenfalls korrigiert. Als spontane, keine bewußten Absprachen und noch weniger eine vertragliche Abmachung voraussetzende Übereinkunft im Urteilen und Handeln begrün­ det jenes Einverständnis (collusio) ein praktisches gegenseitiges Verstehen, wie es beispielhaft zwischen den Mitgliedern einer Mannschaft, aber auch, über die Gegnerschaft hinweg, zwischen allen an einer Partie beteiligten Spielern herrschen kann.“108 Bourdieu bestimmt hier den Habitus soziolo­ gisch zu weit. Eine Familie hat nicht Korpsgeist, und der Familiengeist unterscheidet sich sehr vom Mannschaftsgeist. Aber dem, was Geist im Sinne von Heiliger Geist ist, kommt nahe, dass er „praktisches gegenseiti­ ges Verstehen“ ist – allerdings von Fremden, von Nichtverwandten, was Bewusstsein voraussetzt. Die ursprüngliche Übereinkunft ist weniger die völlige Gleichmäßigkeit der Willen als vielmehr ein gemeinsames, aber gemeinsam gewusstes Ge­ fühl. Aber mit Gefühl ist hier nicht eine Emotion wie Liebe oder Sympathie gemeint, sondern Gefühl im Sinne der Gewissheit, dass z. B. etwas so nicht weitergehen kann wie bisher. Das wäre dann die Einsicht in die Ausweglo­ sigkeit einer zuvor intendierten Richtung des Vorgehens, die einen Kompro­ miss als den negativen Willen ermöglicht, unterschiedliche Positionen nicht mehr interpretieren zu wollen. Ohne gemeinsame Projekte gibt es keine Kompromisse,109 ohne eine gemeinsam empfundene Not gibt es keine ur­ sprüngliche Übereinkunft. Ursprüngliche Übereinkunft bewirkt den gemein­ samen Willen, dass den sich stellenden Herausforderungen gemeinsam be­ gegnet werden soll. Als ursprüngliche Übereinkunft ist sie oft weniger ge­ meinsames Wollen als vielmehr gemeinsames Müssen. Der Kompromiss ist im Kontext des gemeinsamen Müssens ein für einen bestimmten Bereich und eine bestimmte Frist vereinbartes bestimmtes Nichtwollen, das die Not­ wendigkeit von Kooperation anerkennt. Der Kompromiss ist ein beschränk­ 108  Bourdieu

1997, S. 185 f. Analyse der vielfältigen Formen des Kompromisses untersucht Klaus Günther. Er erläutert sie auch an Beispielen aus verschiedenen europäischen Län­ dern, namentlich Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland. Damit setzt er aber schon Institutionen der Kompromissbildung voraus, auch wenn er ihre Verzahnung mit einer deliberierenden Öffentlichkeit in den Blick nimmt. 109  Eine

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tes, ein begrenztes Nichtwollen, aufgehoben im gemeinsamen Müssen oder Wollen der ursprünglichen Übereinkunft. Wie aber bildet sich ein allgemeiner Wille als Einsicht in das Müssen, als Einwilligung in das begrenzte Nichtwollen im Entschluss auf ein gemeinsa­ mes Wollen, wenn nicht über den Vernunftdiskurs? Es scheint auf den ersten Blick, dass Carl Schmitts Verständnis des Politischen eine plausible Antwort darauf gibt, nämlich über die Konfrontation mit einem gemeinsamen Feind. Der Feind als die eigene Frage in Gestalt ist die Personifizierung der Iden­ titätsfrage. Der Feind zwingt alle, die er konfrontiert, sich die Frage zu stellen, wer sie kollektiv sind. Er zwingt alle von ihm in Frage Gestellten in eine Interpretationsgemeinschaft, in der sie ihre internen gegenseitigen Infragestellungen zumindest unterbrechen müssen. Carl Schmitts Begriff des Politischen ist darum für den politischen Liberalismus, gegen den Schmitt ihn eigentlich gerichtet hat, fruchtbar zu machen. Der Liberalismus kann im Interesse seiner Selbstbehauptung des Politi­ schen nicht entbehren und muss Republikanismus werden. Die Republik ist das allgemeine Selbst, aber anders als der Staat. Sie begegnet ihren Feinden nicht reziprok, indem sie substanzhafte Identität ausbildete.110 Sie bestreitet die Denkbarkeit und damit Duldung solcher Identitätssicherung überhaupt. Das bewirkt dann letztlich auch die innerrepublikanische Solidarität, weil sie Rechtsgleichheit und Freiheit begründet. Aus der Sicht Schmitts ist sol­ che Bestreitung der Denkbarkeit von Identität schon Aggression, so dass er seine Feindschaft gegenüber dem Liberalismus als defensiv auffasste, und sicher zu Recht. Der Liberalismus ist, wie eingangs aufgezeigt, seinem Wesen nach imperial. Carl Schmitt hat das in mehreren völkerrechtlichen Schriften behandelt.111 Der Liberalismus als Politik bedarf also einer spezi­ fischen politischen Strategie, die sich vom Imperialismus der Staaten unter­ scheidet. Das ist keine Frage der Moral. Die republikanische Strategie ist dem republikanischen Selbstverständnis geschuldet und folgt der Logik des republikanischen Selbstverständnisses. In den Augen ihrer autokratischen Gegner führen Republiken darum asymmetrische Kriege. Das Politische ist ein kulturelles, ein konventionelles Phänomen. An­ dernfalls brächte sich das Politische als ein Phänomen der Natur im Sinne eines Naturgesetzes selber hervor, und zwar unter Regeln, die unabhängig vom menschlichen Willen wären. Aber die Gesetze, die unser Handeln 110  In den Auseinandersetzungen mit dem autokratischen Russland führt der Wes­ ten einen asymmetrischen Krieg, indem er sich weigert zu werden, was Russland ist. Würde er es, hätte Russland gesiegt. 111  U. a. beispielhaft in: USA und die völkerrechtlichen Formen des modernen Imperialismus (in Schmitt 2005).



VI. Politische Strategie im republikanischen Kontext201

steuern, sind Konventionen und nicht Instinkte. Geschichtlichkeit und ent­ sprechend ihre Voraussetzung der Nichtidentität des Daseins ist neben den biologischen und geographischen Voraussetzungen eine existenziale und damit wesentliche Bestimmung zumindest des historischen Menschen (in­ wiefern der prähistorische Mensch als geschichtlich verstanden werden kann, muss Spekulation bleiben) und nicht eine existenzielle Möglichkeit. Nach Aristoteles ist der Mensch wesentlich zoon politikon. Die Bedeutung dieser aristotelischen Bestimmung ist nicht deckungsgleich mit der Bedeu­ tung der lateinischen Übersetzung animal sociale. Als animal sociale ist der Mensch eingebunden in Gemeinschaft und im Sinne Heideggers histo­ risch bestimmt, als zoon politikon ist er auf die Zukunft hin ausgerichtet und, auch wieder im Sinne von Heidegger, ein geschichtliches Wesen ge­ worden. Nicht jede Gemeinschaft weist die Qualität des Politischen auf, so dass auch gilt, dass nicht jeder Mensch zoon politikon in actu ist.112 Er ist es aber für Aristoteles seiner Potenz nach. Dann wäre das Politische frei­ lich nicht vom Staat bzw. vom Recht her zu verstehen, sondern vielmehr umgekehrt, das Recht und damit der Staat, also alle Konventionen, setzten das Politische schon voraus. Dass ein Volk ein Volk ist, ist nach Rousseau nicht Konvention im Sinne eines konventionellen Vertrags. Das Wesen des Politischen wäre dann nicht Übereinkunft im Sinne eines vorauszusetzen­ den Vertrags, sondern der Prozess der immer neu zu leistenden und mal gelingenden, mal scheiternden Übereinkünfte und Vereinbarungen. Inwie­ fern ist dann das Politische nicht doch Natur in dem Sinne, dass es sich nach Regeln, die der Mensch nicht zu kontrollieren vermag, selbst repro­ duziert? Und impliziert nicht die Vorstellung vom Naturzustand, gleich wie er gedacht wird, und dem aus ihm hervorgehenden Gesellschaftsvertrag, dass das Politische der Natur des Menschen entspringt? Aber niemand wird wiederum behaupten, dass das Politische so an die biologische Kon­ stitution des Menschen gebunden sei, dass in der Prähistorie schon vom Politischen gesprochen werden könnte. Es erscheint erst, wenn der histori­ sche Mensch die Bühne betritt und zwischen den naturwüchsigen Bindun­ gen und den über sie hinausgehenden konventionellen Loyalitäten zu un­ terscheiden und zu wählen vermag. Unter Berufung auf Aristoteles schreibt der britische Politikwissenschaftler Bernard Crick: „Politics arises then (…) in organized states which recognize themselves to be an aggregate of many members, not a single tribe, religion, interest, or tradition“.113 112  Das schließt nicht aus, dass gemeinschaftlich konstituierte Verbände sich ge­ gen Vergesellschaftung zur Wehr setzen und damit politisch verstanden werden können. Dass die Entscheidung darüber, ob etwas politisch ist oder nicht, eine poli­ tische Entscheidung ist, bleibt davon unberührt. Man kann den Terrorismus als ein politisches Phänomen betrachten, ihn aber auch schlicht zum Verbrechen erklären. 113  Crick, S. 4.

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B. Der Streit um das Abendmahl

Wer die Natur des Politischen im Sinne einer Physik des Politischen leugnet,114 wer also lediglich untersucht, wie Anerkennung gelingt und nicht in Betracht zieht, dass es ein wesentlicher politischer Akt ist, Anerkennung wie auch Kompromiss zu verweigern, stößt letztendlich nicht nur auf Schwierigkeiten in der politischen Umsetzung von politischer Philosophie. Anstatt das Postulat einer naturbedingten Individualität zu hinterfragen, behauptet er in der Tradition Kants anstatt der Natur des Politischen umge­ kehrt das bürgerliche Individuum als natürlich, das dann, vorgestellt als mit ewigen und unwandelbaren Rechten ausgestattet, vermeint, das Politische ewigen und unwandelbaren Normen unterwerfen zu können. Er betrachtet das Politische so, wie nach Kant die empirische Welt Gegenstand der Un­ tersuchung wird, nämlich „daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“, damit zwar auch belehrt werde, „aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“115 Die transzendental begründe­ te Ethik wird zur unabdingbaren Voraussetzung für die Erfahrung des Poli­ tischen. Alles, was außerhalb ihres normativen Denkens liegt, wird nicht mehr als Politik verstanden, was heute gängige Urteile begründet, im Kriegsfall habe die Politik versagt. So berücksichtigt Crick nicht, dass states, in denen das Politische als politics sich ausbilde, organisiert werden müssen, was schon als politischer Akt zu verstehen ist. Crick identifiziert den Begriff der Politik im Sinne von politics mit dem der Freiheit und re­ duziert ihn unter Berufung auf den griechischen Begriff der politeia darauf, dass Zweck von politics die Vermittlung von gegensätzlichen Interessen sei. Damit reserviert er seinen Politikbegriff für Regierungshandeln in pluralis­ tischen Gesellschaften und nimmt gleichzeitig Stellung gegen jedes platoni­ sche Einheitsdenken, insbesondere gegen Rousseau, den er zusammen mit Hobbes einen „great anti–politician“ nennt.116 Anderes fällt auch noch aus dem Begriff der Politik heraus: „Politics is one form of human activity; diplomacy or the conduct of international relations is another.“117 Darum erscheint die von Carl Schmitt inspirierte Fassung des Politischen von Christian Meier hilfreicher: „In einer Theorie des Politischen ließen sich die je besonderen Weisen von Assoziation und Dissoziation begreifen und vergleichbar machen und in einer umfassenden Theorie gesellschaftlicher Struktur einbringen.“118 Eine Entscheidung für eine bestimmte, nicht tradi­ Münkler (2005), S. 70, wo er Realpolitik als Physik der Politik bezeichnet. (1990), S. 18. 116  Crick, S. 140. 117  Crick, S. 153. 118  Meier, Christian (1983), S. 17. 114  Vgl.

115  Kant



VI. Politische Strategie im republikanischen Kontext203

tionell geforderte Loyalität bedarf der Begründung. Alle, die in Wettbewerb um Loyalität stehen, müssen ihre Forderungen nach Gehorsam legitimieren. Das gilt auch für den Fall, dass der Wettbewerb gewaltsam ausgetragen wird. Erst mit dem Erscheinen des Politischen wird der Satz des Heraklit ver­ ständlich, dass der Krieg der Vater von allem sei (Polemos pater panton). Das griechische Wort polemos impliziert das Politische schon. Der unpoli­ tische Streit wird im Griechischen mit dem Wort eris bezeichnet. Privater Streit kann erst als solcher bestimmt werden, wenn er sich vom politischen Kampf unterscheiden lässt. Das Private setzt nicht die Natur, sondern das Öffentliche und damit das Politische voraus. Die Republik als der über ur­ sprüngliche Übereinkunft geschaffene öffentliche Bereich, der Nichtidentität garantiert, ist ursprünglicher politischer Prozess, der den identitätsstiftenden Gemeinschaften wie Familie, Clan, Stamm usw. das Ende bereiten musste und weiter bereiten muss, und die ursprüngliche Übereinkunft der Nicht­ identität ist sein einziges und sein ständig ihn treibendes Prinzip. Diese Nichtidentität ist aber individuelle Nichtidentität. Die Individualisierung ist gegen die identitätsstiftenden Gemeinschaften gerichtet, die Nichtidentität der Individuen aber die Voraussetzung für gelingende Vergesellschaftung. Die Bereitschaft zur ursprünglichen Übereinkunft verdankt sich strategischem Handeln und ist nicht vernunftgesteuertem Wollen, sondern notgehor­ chendem Müssen geschuldet. Das lässt sich am Scheitern des Marburger Religionsgesprächs im Jahre 1529 aufzeigen, als die eine Seite wollte, aber die andere Seite nicht musste. Eine politische Herbeiführung von Kompro­ missbereitschaft wird darum nicht so sehr über Appelle erfolgreich sein, sondern über strategisches Vorgehen insofern, als dem Gegner die Freiheit des Wollens genommen wird, so dass er in die Notwendigkeit des Müssens einwilligt.119 119  Die Geburtsstunde der großen reformatorischen Politik schlägt mit Calvins Wirken in Genf, worauf Wesel-Roth hinweist: „Calvin (…) erkannte in der europäi­ schen Konstellation die Notwendigkeit einer protestantischen Politik für die kämp­ fende Kirche. (…) Wie kein anderer hat er die Reformationsbewegung bis in ihre letzte Konsequenz zu Ende gedacht und das Endziel, den völligen Sieg der refor­ mierten Kirche, nie aus den Augen verloren. (…) Er wollte einen geistig und poli­ tisch geeinten deutschen Protestantismus, der dem französischen König als ein wertvoller Bundesgenosse erscheinen mußte gegen die spanisch-habsburgische Macht. Politische Notwendigkeit sollte der Reformation in Frankreich den Weg eb­ nen, den französischen König zu der Verbindung mit den Hugenotten zwingen.“ (Wesel-Roth, S. 14 f.). So erklärt sich Calvins Zustimmung zum Consensus tigurinus, in dem sich die Züricher unter der Führung Bullingers und die Genfer unter Führung Calvins auf ein gemeinsames Bekenntnis hinsichtlich des Abendmahlverständnisses einigten, das aber tatsächlich ein Kompromiss war, über den letztlich die Überein­ kunft bestand, den Sachverhalt innerhalb des abgesteckten Rahmens nicht mehr in­ terpretieren zu wollen.

204

B. Der Streit um das Abendmahl

Aber dann schlägt nicht die Stunde der siegreichen Strategen, sondern die der Vermittler, die schließlich als die eigentlichen Revolutionäre, aber auch als die eigentlichen Protagonisten des weiteren Verlaufs gelten dürfen. Man kann auf Clausewitz zurückgreifen, dem zu Folge es gilt, die drei Ebenen der Politik, der Strategie und der Taktik voneinander zu unterscheiden. Die Politik formuliert den Zweck des Vorgehens und stellt die Mittel zur Verfü­ gung, die zur Erreichung des Zwecks von Nöten sind. Die Strategie ent­ scheidet über den Raum und die Zeit des Einsatzes der Mittel, also im Hinblick auf die allgemeine Lage, während die Taktik die Mittel vor Ort anwendet. Übertragen auf die Herbeiführung eines Kompromisses im repu­ blikanischen Kontext lässt sich nun sagen, dass die Vermittler die eigent­ liche politische Ebene besetzen, sie sind die Hüter der republikanischen Verfassung. Die im staatlichen Kontext auftretenden Politiker sind im Rah­ men der republikanischen Verfassung nur Strategen, deren Beamtenstäbe für die Taktik zuständig sind. Die Republik basiert auf politischer Arbeit. In diesem Zusammenhang sei auf die Bemerkung Hans-Georg Gadamers verwiesen, dass sich die Freiheit von Hegel aus verstanden gerade in der Arbeit ausdrücke.120 Damit rückt die Politik als Beruf in den Blickpunkt.

120  Gadamer,

S.  60 ff.

C. Sachlichkeit und Loyalität I. Webers zwiefacher und entsprechend zwiespältiger Sachlichkeitsbegriff Sein Selbstverständnis gewinnt ein Berufspolitiker nicht unabhängig von seinem gesellschaftlichen Kontext. Republikanisches Selbstverständnis un­ terscheidet sich von staatlichem. In Deutschland fand das Selbstverständnis des Berufspolitikers seinen Ausdruck durch Max Weber. Weber wollte in seinem 1919 an der Univer­ sität in München gehaltenen Vortrag Politik als Beruf die Studenten, deren bisherige Lebenswelt die Monarchie und während des Krieges der politi­ sche Burgfrieden gewesen war, auf die politischen Auseinandersetzungen unter den Bedingungen der Demokratie vorbereiten. Die Studenten kannten weder Berufspolitiker aus eigener Anschauung, noch hatte sich den we­ nigsten von ihnen bis dahin auch nur die Denkmöglichkeit geboten, nach dem Studium eine politische Laufbahn einzuschlagen. Das war nach der Revolution anders geworden. Indem Weber in seinem Vortrag seine im Rahmen der Religionssoziologie entwickelte Unterscheidung zwischen Job und Beruf auf das Politische übertrug, setzte er in gewisser Weise die Tradition des Kaiserreichs fort, nämlich die Politik als einen Bereich zu verstehen, der, wie eben jeder andere Arbeitsbereich auch, Spezialisten er­ fordere. Politik wird Fachleuten vorbehalten, deren Handeln die nicht oder nur unzulänglich Begabten zwar zu verfolgen, nicht aber selber zu betrei­ ben in der Lage seien. So sehr der oft als liberaler Demokrat bezeichnete Weber mit seinem Vortrag dem von ihm vorausgesetzten Ressentiment der Münchner Studenten gegenüber der Weimarer Republik vielleicht hat be­ gegnen wollen, er versteht das Politische gerade nicht als eine res publica, als eine öffentliche Sache. Bestimmte Felder der Politik, insbesondere das der Außenpolitik, fordert Weber ausdrücklich der öffentlichen Betrachtung und Debatte zu entziehen. Weber denkt ausschließlich in den Kategorien von Staatlichkeit. Weber verknüpft mit dem Begriff des Berufs den Begriff der Sachlichkeit. Jeder Beruf habe seine eigene Sachlichkeit. Sachlichkeit ist ein zentraler Begriff im Denken Webers. Sachlichkeit steht in einem Verhältnis zu Rati­ onalität im Sinne von Zweckrationalität. Das wird auf die Politik als Beruf übertragen, aber auf eine vertrackte Weise, was erhebliche Folgen hat.

206

C. Sachlichkeit und Loyalität

In jedem Beruf gehe es um eine spezifische Sache mit einer jeweils spe­ zifischen Rationalität. Die Sachlichkeit des Beamten etwa sei eine andere als die des Unternehmers oder die des Wissenschaftlers. In der Feindifferen­ zierung der Aufgaben widerspiegele sich auch die Aufsplitterung der Sach­ lichkeit in vielerlei Rationalitäten. Dennoch könnten die vielen Sachen auf Grund einer gemeinsamen Rationalität als miteinander kompatibel gedacht werden. Weber setzt damit in der Tradition des kontinentaleuropäischen Rationalismus eine mit sich selber identisch bleibende Rationalität voraus, die entsprechend transzendental begründet sein muss. In der jeweiligen Ausbildung wird für ihn dann die transzendental vorausgesetzte Sachlichkeit in Spezialistentum verwandelt. Es muss auch Spezialisten der rationalen Kompatibilität geben, die die jeweils verschiedenen Sachlichkeiten zu ver­ mitteln vermögen. Das rechtfertigt die Stellung der Philosophie, aber auch der Soziologie im Rahmen der Wissenschaften. Weber vertritt entsprechend eine hermeneutische Soziologie, deren Ergebnisse als forschungsleitend proklamiert werden. Die Geschichte sei ein akzelerierender Prozess der Versachlichung, der in alle Lebensbereiche übergreife, auch in die Politik. Weber hat aber einen entscheidenden Vorbehalt: Es müsse zwar von einer eigenen Sachlichkeit der Politik ausgegangen werden, aber einer, die sich mit den Rationalitäten der anderen Berufe als gerade nicht mehr kompatibel denken lasse. Entsprechend diesem dualistischen Weltbild musste Weber einen zwiefachen Begriff von Sachlichkeit ausbilden. Die Sache des Politikers hat für Weber nämlich nicht nur einen anderen Sachbezug als die der anderen Berufe, sie hat eine ganz andere Qualität. Sie setzt nicht Ausbildung einer spezifischen Rationalität voraus, sondern besteht in einem Glauben, der sich rational überhaupt nicht begründen lasse. Die Sache des Politikers steht mit den Sachen der anderen Berufe nicht nur in einer gewissen Spannung, sondern ist mit ihnen schlechterdings unvereinbar. Nicht in Politik als Beruf, in seinem zweiten Vortrag, den er in München hielt, in Wissenschaft als Beruf, hat Weber diesen Bezug benannt: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entstei­ gen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen un­ tereinander wieder ihren ewigen Kampf.“1 Diese Götter sind die Sachen, die die Sachlichkeit des Politikers aus Beruf in den Augen Webers ausmachen. Wie lässt sich aber die rationale Sachlichkeit z. B. des Wissenschaftlers mit der irrationalen Sachlichkeit des Politikers so vermitteln, dass Politik nicht einfach zum Glaubenskampf mutiert? Wie wäre im Rahmen dieser von Weber behaupteten Sachlichkeit des Politischen eine Republik zu den­ ken, in der Wissenschaft und Politik nicht zu kommunizieren vermögen, 1  Weber

(1968), S. 605.



I. Webers zwiefacher und entsprechend zwiespältiger Sachlichkeitsbegriff 207

Wissenschaft zudem keine politische Rolle spielte, allenfalls eine instru­ mentelle, also eine dienende? Wie soll das Verhältnis zwischen Politikern und den Stäben der Berufsbeamten gedacht werden? Wird da nicht vom Berufsbeamten eine Haltung gefordert, die noch hinter Kants Unterschei­ dung zwischen privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft zurück­ fällt, weil ihm, dem Beamten, der öffentliche Vernunftgebrauch als Illoyali­ tät ausgelegt werden könnte, wenn er seine Sachlichkeit im privaten Ver­ nunftgebrauch schon verleugnen muss? Die sachliche Politik der charisma­ tischen Führer bedeutete zudem, dass ein irrationaler Voluntarismus legitimer Weise die Berufssachlichkeit der Stäbe in den Dienst nähme. Wird hier nicht der sogenannte Schreibtischtäter stillschweigend zum Ideal erhoben? Webers Verhältnis zur Sachlichkeit ist ambivalent, und wenn er dem Be­ rufspolitiker eine Sachlichkeit abverlangt, dann eine im Hinblick auf die sonstigen Sachlichkeiten gegenläufige. Die Geschichte des Okzidents und namentlich die Entwicklung des Kapitalismus von seinen Anfängen über den Unternehmerkapitalismus bis hin zu den großen Trusts und Aktienge­ sellschaften ist für Weber nichts anderes als die nicht aufhaltbare Durchset­ zung von Sachlichkeit. Ihre spezifische Organisation ist der Betrieb. Nicht nur alle Unternehmen, auch alle Institutionen und Organisationen des Poli­ tischen Bereichs werden sich, wenn sie sich an ihrer jeweils spezifischen Sachlichkeit und der übergeordneten Sachlichkeit der allgemeinen Rationa­ lität orientieren, um den Preis des Untergangs im Gefolge dieser Entwick­ lung in Betriebe verwandeln müssen. Das Kennzeichen des modernen Be­ triebs ist die Trennung des Arbeiters von seinen Arbeitsmitteln, im wirt­ schaftlichen Bereich des Arbeiters von seinen Werkzeugen und Maschinen, im universitären Bereich des Wissenschaftlers von seinen Büchern usw., nicht zuletzt im staatlichen Bereich die Trennung des Beamten von seinen spezifischen Arbeitsmitteln, also von Schreibgeräten, Akten, Diensträumen, Uniformen und schließlich Waffen. An die Stelle des Eigentums tritt die Verfügungsgewalt, zu der Ausbildung und die entsprechenden Zertifikate ermächtigen. Im Staatsbetrieb sind die Berufsbeamten im Unterschied zu den politischen Beamten die eigentlichen Träger der Staatsgewalt. Die der Sachlichkeit verpflichteten Spezialisten sichern mit ihrer spezifischen sach­ lichen Verantwortung den Bestand des Betriebs gegenüber den Ansprüchen jener, deren Egoismus zu stark und deren Altruismus nicht weitsichtig ge­ nug ist, oder deren Ansprüche unsachlich, deren Verhaltungen also irrational sind. In der Gesellschaft sind das vor allem alle Vertreter von Partiku­ larinteressen. Im Gegensatz zu ihnen wird der Beamte grundsätzlich als unpolitisch qualifiziert. Aber wie verträgt sich dieses Staatsdenken mit dem spezifischen Beruf des Politikers? Ist der Berufspolitiker mit seiner spezifi­ schen Sache nicht auch ein Vertreter von Partikularinteressen? Aus der Logik, in deren Bahnen Weber denkt, folgt zwingend eine Handlungslogik,

208

C. Sachlichkeit und Loyalität

die aber nie in wirklicher Handlung sich äußern kann. Webers Denken ist darum nur vorgetäuschte Handlungslogik. Denn wenn Weber die Beamten als die Garanten dafür ansieht, dass den unsachlichen Partikularinteressen gewehrt wird, dass die Rationalität des Staates eine ist, in der alle anderen Sachlichkeiten integriert werden können, ihnen anders als den anderen Berufstätigen auch kein Gewinnstreben gestat­ tet werden kann, wie ließe sich zudem ihre politische Enthaltsamkeit erklä­ ren? Hier führt Weber einen Begriff ein, der merkwürdiger Weise gerade nicht der nüchternen Sachlichkeit entspricht, die er doch sonst so gerne in ihrer Kälte betont und hervorhebt, und das ist der Begriff der Ehre, die sich dem Beamten über seine Zertifikate vermittele. Hier wie im Verständnis des Berufspolitikers transformiert Weber Ideale der Monarchie und des sie tragenden Adels in einen republikanischen Kon­ text. Weber betrachtet Republik und Demokratie als säkularisierte Monar­ chie in dem Sinn, dass sie sich im Prozess der Rationalisierung des monar­ chischen Schmucks und Personals entledigt hätten. Dennoch stehe dem Gewinnstreben in der Wirtschaft „die Entwicklung des modernen Beamten­ tums zu einer spezialistisch durch langjährige Vorbildung fachgeschulten geistigen Arbeiterschaft“ gegenüber, „mit einer im Interesse der Integrität hochentwickelten ständischen Ehre, ohne welche die Gefahr furchtbarer Korruption und gemeinen Banausentums als Schicksal über uns schweben und auch die rein technische Leistung des Staatsapparates bedrohen würde“.2 Während Kleinbürger und Bourgeois die Zeichen der Ehre wie Labels zu tragen befugt sind, wie Auszeichnungen, tritt beim Beamten im Sinne Webers, wie überhaupt beim Berufsmenschen, die Ehre bzw. die je­ weilige berufliche Sachlichkeit an die Stelle der Person. Das Persönliche geht ganz im Sachlichen auf bzw. aus der Perspektive der Kleinbürger unter, so dass letztere sich auch entsprechend charakterlich nicht für die Berufs­ hingabe des Beamten eigneten. Für Weber kann nun der Berufspolitiker nicht glaubwürdig auch Wissen­ schaftler oder Beamter sein. Er unterscheidet sich in seiner Hingabe völlig von ihnen. Weber weist den Beamten eine Ehre zu und unterscheidet sie so von den Berufspolitikern und den kalkulierenden, egoistischen Berufstätigen in der privaten Wirtschaft gleichermaßen. Offen bleibt die Frage, wie beide Sphären miteinander vermittelt werden sollen. Max Weber hat mit einem dem kühlen Gegenstand entsprechenden kalten Enthusiasmus das stählerne Gehäuse der kapitalistischen Moderne geschil­ dert und ihre alles durchdringende sachliche Rationalität. Diesem Betrieb setzt er mit dem Politischen etwas entgegen, das in der Mode der Zeit als 2  Weber

(1980), S. 516 f.



I. Webers zwiefacher und entsprechend zwiespältiger Sachlichkeitsbegriff 209

Leben verstanden wurde, das letztlich wieder Wille ist, nicht Rationalität. Die Begriffe Leben und Wille beherrschten das metaphysische Denken der Zeit Max Webers und bezeichneten für viele die Substanz des Seins. Hier ist z. B. an Bergson, an Schopenhauer, nicht zuletzt an Nietzsche zu denken. Nietzsche eignet sich allerdings nicht dazu, Larmoyanz gegenüber der zu­ nehmenden Entzauberung der Welt zu begründen, weil diese Entzauberung für Nietzsche geradezu die Voraussetzung für Verzauberung ganz anderer Art, einer neuen Art der Verzauberung war. Hier zeigt sich die Nähe Webers zu Nietzsche. Nietzsches Denken ließe sich aber, anders als das Webers, durchaus dem Republikanismus zurechnen. Nicht umsonst berufen sich der linguistic turn und die Pragmatische Hermeneutik etwa Richard Rortys ge­ rade auch auf Nietzsche. Aber bei Weber spielt, abgesehen davon, dass ihm dieses Denken auch nicht fremd geblieben ist, dass er auch davon affiziert war, doch ein anderer Bezug eine Rolle. Leben und Wille sind ihm, im Unterschied zum Betrieb, Natur, und Naturzustand ist für Weber noch im Bereich der internationalen Beziehungen, also der sogenannten großen Po­ litik. Leben und Wille herrschen in den internationalen Beziehungen, und um in diesen Beziehungen als Player im Spiel bleiben zu können, muss für den Staat innerstaatlich alles betriebsmäßig organisiert sein, weil es die ef­ fizienteste Methode ist, der Außenpolitik die nötigen Mittel der Macht­ durchsetzung zu verschaffen. Webers Berufspolitiker ist im Kontext interna­ tionaler staatlicher Machtpolitik entworfen worden. In der internationalen Politik herrschen für Weber kein Recht und keine über die Wirtschaft durchgesetzte Rationalität. Hier ist keine Berechenbarkeit gegeben, so dass die spezifische Rationalität aller anderen Berufe in der internationalen Politik versagen muss. Die Außenpolitik ist für den Deut­ schen Max Weber, was für die Amerikaner das Jenseits ihrer frontier war, ein Bereich jenseits der zivilisatorischen Grenze. Während aber zur Zeit Webers die internationalen Beziehungen aus amerikanischer Sicht schon längst diesseits der frontier verortet wurden, weil sich die nationalen priva­ ten und öffentlichen Rechtssysteme in einem Prozess gegenseitiger Durch­ dringung befanden, den es aus amerikanischer Sicht zu steuern und zu ge­ stalten galt, sind sie für Weber eine unberechenbare Außenwelt, die nie und nimmer zu vereinnahmen ist und ständige Herausforderung bewirkt, auf die politisch geantwortet werden muss. Es lohnt, zum Verständnis des Ansatzes von Weber einen Blick in Leo­ pold von Rankes Schrift Die großen Mächte zu werfen: Ranke beginnt mit der Schilderung der Durchsetzung der französischen Hegemonie unter Lud­ wig XIV., wobei er bemerkt: „Gegen den Anwachs der Macht und des poli­ tischen Übergewichtes konnten die minder Mächtigen sich vereinen.“3 3  Ranke,

S. 261.

210

C. Sachlichkeit und Loyalität

Ranke verweist auf Peter den Großen, Friedrich II. und Karl XII. Letzteren unterscheidet er von den beiden zuvor genannten Monarchen, weil er nicht im Interesse seiner Nation gehandelt, sondern aus persönlicher Eitelkeit Schwedens Großmacht zerstört habe. Diese kritische Sicht auf eitle Politiker wird sich bei Max Weber wiederfinden.4 Entscheidend ist Rankes Unterord­ nung der Innenpolitik unter die Außenpolitik. Die Französische Revolution hat für Ranke nicht etwa soziale oder ökonomische Ursachen: „Halten wir an diesem Gesichtspunkt der auswärtigen Verhältnisse fest, so können wir von der Revolution folgende Ansicht fassen. Allenthalben hatte man, um zur Ausbildung einer größeren Macht zu gelangen, die nationalen Kräfte auf eine ungewohnte Weise zusammengenommen; dazu hatte man viele Hinder­ nisse, die in den inneren Verhältnissen lagen, wegräumen müssen und nicht selten die alten Berechtigungen angetastet.“5 Innenpolitik ist darum nicht nur präskriptiv dem Primat der Außenpolitik untergeordnet, es herrscht schlicht und einfach ein Seinsverhältnis der Unter‑ bzw. Überordnung zwi­ schen beiden Bereichen, das der Politiker aus Beruf anzuerkennen hat. Es ließe sich einiges über die Wortwahl Rankes sagen. Wüsste man nicht, dass er hier über die Französische Revolution schreibt, man könnte auch an die preußischen Reformen denken, die eine Reaktion auf die drückende militärische Überlegenheit der hoch motivierten französischen Heere waren, und die in der Tat „Hindernisse, die in den inneren Verhältnissen lagen“. wegräumten „und nicht selten die alten Berechtigungen angetastet“ hatten. Die preußischen Reformen bemerkt Ranke nicht, er begründet die Befreiung Deutschlands von der französischen Besatzung unter Napoleon anders: „Als in wohlgeordneten Reichen ganze Einwohnerschaften ihre althergebrachten Wohnsitze, an die sie selbst die Religion knüpfte, verließen und sie den Flammen preisgaben – als große Bevölkerungen, von jeher an ein friedli­ ches bürgerliches Leben gewohnt, Mann bei Mann zu den Waffen griffen – als man zugleich des ererbten Haders endlich wirklich vergaß und sich ernstlich vereinigte – erst da, nicht eher gelang es, den Feind zu schlagen, die alte Freiheit herzustellen und Frankreich in seine Grenzen einzuschlie­ ßen, den übergetretenen Strom in sein Bett zurückzutreiben.“6 Man wird Weber nicht einfach in die Tradition dieser hausbackenen Re­ aktion stellen können, im Gegenteil. Weber machte sie für den verlorenen Weltkrieg verantwortlich. Folgendes Zitat aus Rankes Schrift vermag zu 4  „Denn es gibt letztlich nur zwei Arten von Todsünden auf dem Gebiet der Politik: Unsachlichkeit und – oft, aber nicht immer, damit identisch – Verantwor­ tungslosigkeit. Die Eitelkeit: das Bedürfnis, selbst möglichst sichtbar in den Vorder­ grund zu treten, führt den Politiker am stärksten in Versuchung, eine von beiden, oder beide, zu begehen.“ (Weber 1980, S. 547). 5  Ranke, S. 283. 6  Ranke, S. 287.



I. Webers zwiefacher und entsprechend zwiespältiger Sachlichkeitsbegriff 211

verdeutlichen, wie sehr Weber dennoch diesem Denken und seiner Sach­ logik verpflichtet bleibt: „Man ist fast allgemein der Ansicht, unsere Zeit habe nur die Tendenz, die Kraft der Auflösung. Ihre Bedeutung sei eben nur, daß sie den zusammenhaltenden, fesselnden Institutionen, die aus dem Mittelalter übrig, ein Ende mache; dahin schreite sie mit der Sicherheit ei­ nes eingepflanzten Triebes vorwärts; das sei das Resultat aller großen Er­ eignisse, Entdeckungen, der gesamten Kultur; eben daher komme aber auch die unwiderlegliche Hinneigung zu, die sie zu demokratischem Leben und Einrichtungen entwickele; und diese bringe dann alle die großen Verände­ rungen, deren Zeuge wir sind, mit Notwendigkeit hervor. Es sei eine allge­ meine Bewegung, in der Frankreich den anderen Ländern vorangehe. Eine Meinung, die freilich nur zu den traurigsten Aussichten führen kann. Wir denken indes, daß sie sich gegen die Wahrheit der Tatsachen nicht zu halten vermögen wird.“7 Man ersetze Auflösung durch stählernes Gehäuse oder Betrieb und Frankreich durch England oder die USA, die am Ende be­ schworenen Tatsachen bleiben dieselben, nämlich die Kräfteverhältnisse der großen Mächte. „Sie blühen auf, nehmen die Welt ein, treten heraus in dem mannigfaltigsten Ausdruck, bestreiten, beschränken, überwältigen einander; in ihrer Wechselwirkung und Aufeinanderfolge, in ihrem Leben, ihrem Ver­ gehen oder ihrer Wiederbelebung, die dann immer größere Fülle, höhere Bedeutung, weiteren Umfang in sich schließt, liegt das Geheimnis der Weltgeschichte.“8 Wie hier Ranke hat auch Max Weber das Leben im Bereich der internationalen Politik verortet. Gegenüber den Sachen der einzelnen, über Zertifikate erworbenen Berufe ist für Weber die Sache der Politik die Nation im Kräftemessen mit anderen Nationen. Diese Ausschließlichkeit wird nicht deutlich, wenn man nur We­ bers Vortrag Politik als Beruf in den Blick nimmt. Vom nationalen Stand­ punkt aus gelingt es Weber, alle andere mögliche Sachlichkeit des Politi­ schen entweder als hoffnungslos romantisch oder als bigottes Spießertum zu denunzieren. Die rein technische oder organisatorische Sachlichkeit des Beamtenapparates ist für ihn ohne die entsprechende politische Orientierung auf die Stellung der Nation in der Welt korrumpierbar, wie er das am Bei­ spiel des Kaiserreichs und der Politik Bismarcks und besonders dessen Nachfolger aufzeigt. Als 1917 schon alles verloren war, fordert Weber in Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland die Parlamentari­ sierung des Reichs als aus seiner Sicht letzte Maßnahme, um den Sieg noch erringen zu können. Im Deutschen Reich sei die Beamtenschaft ein Bündnis mit den konservativen Kräften eingegangen und habe die politische Erzie­ hung und Ertüchtigung nicht nur der breiten Massen, sondern auch heraus­ 7  Ranke, 8  Ranke,

S.  287 f. S. 289.

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C. Sachlichkeit und Loyalität

ragender Führerpersönlichkeiten verhindert. In neoliberal klingender Manier heißt es über den Versorgungsstaat bismarckscher Prägung: „Wir erhielten Renten für die Kranken, die Beschädigten, die Invaliden, die Alten. Das war gewiß schätzenswert. Aber wir erhielten nicht die vor allem nötigen Garan­ tien für die Erhaltung der physischen und psychischen Lebenskraft und für die Möglichkeit sachlicher und selbstbewußter Interessenvertretungen der Gesunden und Starken, derjenigen also, auf die es, rein politisch betrachtet, doch gerade ankam.“9 Sachliche Interessenvertretung der Gesunden und Starken, da ist im Sinne von Weber sicher auch an Gewerkschaften zu den­ ken. Deren Ziele bestehen in der sozialen Absicherung für den Fall eintre­ tender Schwäche. Es muss also noch anderes im Spiel sein, nämlich letzt­ endlich die Bindung aller Gesunden und Starken an die nationale Sache, die alle anderen Sachen im Rahmen der Politik ihre Legitimität verleiht. Unter der Zwischenüberschrift Beamtenschaft und politisches Führertum wird darauf eingegangen, wie die Korruption der Beamtenschaft verhindert werden könne: „Wie kann, angesichts der steigenden Unentbehrlichkeit und der dadurch bedingten steigenden Machtstellung des uns hier interessieren­ den staatlichen Beamtentums, irgendwelche Gewähr dafür geboten werden, daß Mächte vorhanden sind, welche die ungeheure Übermacht dieser an Bedeutung stets wachsenden Schicht in Schranken halten und sie wirksam kontrollieren? Wie wird Demokratie auch nur in diesem beschränkten Sinn überhaupt möglich sein?“10 Und Webers Antwort lautet, dass diese Mächte nur ein Parlament oder ein Monarch sein könnten. Zu ergänzen wäre hier noch der charismatische Führer, der parlamentarische Monarch ohne dy­ nastische Nachfolge. Bismarck, den Weber für die Verhältnisse als Haupt­ verantwortlichen ausmacht, sei zumindest noch eine solche Führungspersön­ lichkeit gewesen. Solche Gestalten seien in der Geschichte Ausnahmen. Die Parlamentarisierung vermöge die bürokratische Verkrustung der Beamtenap­ parate aufzubrechen, wenn den ins Parlament gewählten Abgeordneten als Gewinn die Besetzung der Spitzenpositionen in den Ministerien und schließlich die Regierungsbildung in die Hand gegeben werde. Wenn Weber die Parlamentarisierung des Reichs fordert, dann nur in dem Interesse, Bedingungen zu schaffen, in denen sich charismatische Führer herauszubilden vermögen. Der Amerikaner Martin Green, der ein Buch über die Richthofenschwestern geschrieben hat – eine war mit dem britischen Schriftsteller D. H. Lawrence verheiratet, die andere war Schülerin und schließlich Geliebte Webers – schreibt über Weber und seine Verhältnis zum cäsaristischen Politikverständnis Bismarcks: „he cultivated its roots in 9  Weber

(1980), S. 318. (1980), S. 333.

10  Weber



I. Webers zwiefacher und entsprechend zwiespältiger Sachlichkeitsbegriff 213

himself even as he clipped its thorns.“11 Man darf Webers Eintreten für die Parlamentarisierung nicht mit dem Ansatz verwechseln, den Arthur Rosen­ berg 1928 in Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik vertrat, auch wenn Parallelen sichtbar sind: „Wenn ein großes Volk im Kriege um seien Existenz kämpft, muß es alle Kräfte entfesseln, die in seinem Innern schlummern. Mit allen Mitteln muß der Geist und Wille gerade der ärmeren Volksmassen geweckt werden. Das ist aber nicht möglich unter der Losung ‚Ruhe ist die erste Bürgerpflicht‘, sondern nur unter höchster freier Selbst­ tätigkeit der Massen. Das berühmteste Beispiel eines solchen Volkskrieges ist die Verteidigung des revolutionären Frankreichs 1793 / 94 gegen das monarchistische Europa.12“ Während für Weber der charismatische Führer der Handelnde ist, der die Gefolgschaft hinter sich vereint, sind es bei Rosenberg die Massen, die treiben und agieren, und es ist für Rosenberg nicht einheitliche Gefolg­ schaft, aus der die Macht erwächst, sondern revolutionärer Kampf. Rosen­ berg verweist auf die Jahre des terreur im revolutionären Frankreich und erwähnt auch den Krieg Englands gegen das Frankreich Ludwigs XIV., während dem die revolutionäre britische Seemacht die Jakobiten aufge­ knüpft habe, wo immer sie habe ihrer habhaft werden können. Weber stellt die Innenpolitik in den Dienst der Außenpolitik, Rosenberg umgekehrt die Außenpolitik in den Dienst der Innenpolitik. Aus republikanischer Sicht ist aber Rosenbergs Position so wenig akzeptabel wie die Webers, weil die Republik auch für ihn nur Mittel zum Zweck der revolutionären Umgestal­ tung der sozialen Verhältnisse ist, während echtes republikanisches Denken die Republik als Zweck will. Rosenberg gehörte in der Weimarer Republik einem politischen Lager an, das mit dem Slogan auftrat: Republik, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel. Eine Republik hat sich selbst als Sache, Rosenberg und Weber hatten andere Sachen im Blick. Was bleibt vom Denken Webers und Rosenbergs übrig, wenn den politi­ schen Führern, die die parlamentarische Demokratie hervorbringt, nicht mehr Hingabe an Sachen möglich ist? Inwiefern könnte die Vermittlung solcher Sachlichkeit auf der einen mit der Sachlichkeit der Spezialisten auf der anderen Seite im Alltag der fortschreitenden Globalisierung gelingen? Muss nicht Weber der gleiche Vorwurf gemacht werden, den er selber ge­ genüber jenen äußerte, die in seiner Zeit die ehernen Gehäuse von innen aufzubrechen versuchten, dass er ein politischer Romantiker war? In Politik als Beruf, dem ungleich populäreren Vortrag Webers im Ver­ gleich zu seiner Parlamentarismusschrift, vertritt er dann eine vollkommene 11  Green,

S. 123. S. 69.

12  Rosenberg,

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Gleichgültigkeit gegenüber der politischen Sachlichkeit mit der Folge, dass sein Denken die ihm innewohnende Inkonsistenz offenbart. Keine der Sachen, an die der Politiker zu glauben habe, könne einen ver­ nünftig begründeten Vorrang vor den anderen Sachen beanspruchen, sie seien gleichgültig. Nur die leidenschaftliche Hingabe zähle. Politische Leidenschaft verhält sich bei Weber zur Sachlichkeit wie die Form zum Stoff. Aus ihr er­ wächst die Verantwortung. Es sei das eine ohne das andere für das Machtstre­ ben des Berufspolitikers nicht denkbar. „Die Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs aber beginnt da, wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung wird, anstatt ausschließlich in den Dienst der ‚Sache‘ zu treten. Denn es gibt letztlich nur zwei Arten von Todsünden auf dem Gebiet der Politik: Unsachlichkeit und – oft, aber nicht immer, damit identisch – Verantwortungslosigkeit.“13 Leben wird nicht mehr im Außenraum der internationalen Machtpolitik, sondern im Geflecht seelischer Vermögen verortet, als Zusammenspiel von Leidenschaft, Sachlichkeit und Verantwortung. Die Frage, wie sich das Le­ ben des Politikers mit den Betriebsrationalitäten jenseits des Bereichs des Politischen vereinbaren lässt, stellt sich damit erneut. Wenn die internatio­ nale Perspektive wegfällt, können diese Rationalitäten nicht mehr der Au­ ßenpolitik dienstbar gemacht werden. Weber bleibt nur, auf die Tragik des Politikers hinzuweisen: Der Politiker müsse in Verantwortung gegenüber seiner Sache unter Berücksichtigung der Sachlichkeit des stählernen Gehäuses seine Sache gerade im Interesse seiner Sache hintanstellen. Darin unterscheide sich der Verantwortungsethiker vom Gesinnungsethiker. Mit Schiller könnte man sagen: Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.14 Schillers Sachen sind aber die sich begegnenden politischen Interessen, sie sind in der Welt. In Webers Welt herrschen die Sachrationalitäten der Beru­ fe außerhalb des Politischen, dessen Sachlichkeit wiederum alleine im Reich der Gedanken verortet werden kann. Die paradoxe Formulierung Webers, dass im Alltagsbetrieb des Politischen die Sache der Sache zu opfern sei, will das Kunststück vollbringen, Gesinnungsethik als Prinzip der Verant­ wortungsethik erscheinen zu lassen. Die Gesinnung wird im Sinne Kants zur regulativen Idee der Verantwortungsethik erklärt. Die Ausbalancierung der Gesinnungs‑ und der Verantwortungsethik erfor­ dere vom Politiker Augenmaß. Wie aber an einem konkreten Beispiel diese Einheit anschaulich zu machen ist, bleibt Webers Geheimnis. Was jetzt von ihm vertreten wird, ist nicht mehr eine politische Sache wie die der Nation, 13  Weber

(1980), S. 547. Tod II,2.

14  Wallensteins



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sondern keine Sachlichkeit mehr, stattdessen ein ethos. Nicht wofür einer kämpft, sondern wie er kämpft wird wichtig. In der Gleichgültigkeit der Sachen wird die Sachlichkeit des Politikers in Wahrheit gegenüber anderen Sachlichkeiten ungültig. Denn dem Politiker bleibe nur das „Wissen um die Tragik, in die alles Tun, zumal aber das politische Tun, in Wahrheit ver­ flochten ist. Es ist durchaus wahr und eine – jetzt hier nicht näher zu be­ gründende – Grundtatsache aller Geschichte, daß das schließliche Resultat politischen Handelns oft, nein: geradezu regelmäßig (Herv. M. E.), in völlig unadäquatem, oft in geradezu paradoxem Verhältnis zu seinem ursprüngli­ chen Sinn steht.“15 Damit zeigt sich aber: So wenig der Gesinnungsethiker tragisch genannt zu werden verdient, weil er unverantwortlich an der Gesinnung festhält, so wenig verdient der Verantwortungsethiker, als tragisch bezeichnet zu wer­ den, weil er die Gesinnung fahren lässt, wenn die Umstände es erfordern. Weber gelingt es nicht, solche Gesinnungslosigkeit als tragisch zu drapieren, wenn er weiter schreibt: „Aber deshalb darf dieser Sinn: der Dienst an einer Sache, doch nicht etwa fehlen, wenn anders das Handeln inneren Halt ha­ ben soll.“16 An die Stelle der Argumentation tritt jetzt die Beschwörung. Das von Max Weber vertretene tragische ethos lässt sich m. E. nicht wei­ ter begrifflich analysieren, sondern allenfalls bildlich zeigen. Webers Begriff der Tragik meint nicht das unschuldige Schuldigwerden, das die klassische Antike gerade mit dem Politischen verband. Keine Begriffe, die den Ver­ stand ansprechen, eher noch Musik, die das Gemüt bewegt, vermag das Selbstverständnis auszudrücken, das Weber vor Augen stand, als er über Politik aus Beruf nachdachte. Es ließe sich an Richard Wagner denken, dessen Opernhelden sich zwar nicht in ehernen Gehäusen die Köpfe blutig schlagen, sich aber im Gewirr der Verträge verfangen und daran zugrunde gehen. Als Bild scheint mir Ritter, Tod und Teufel von Albrecht Dürer Webers Selbstverständnis am besten anschaulich machen zu können. Da reitet einer in einem stählernen Gehäuse. Die Todsünde in Gestalt des Teufels hat er ungerührt passiert, der Tod kann ihn nicht schrecken. Letzterer lässt seinem Pferd die Zügel und wird dem Ritter nicht folgen. Der Ritter wird sich wohl an selbiger Stelle wieder einfinden. Das Wohin des Wegs ist gleichgültig. Im Stich Dürers könnte es die Stadt oder Burg sein, die auf dem Berge liegt (Mt 5, 14). Der Ritter hat sie aber nicht im Blick. Er reitet vom Betrachter aus gesehen nach links an ihr vorbei. Flieht er den als langweilig empfun­ denen städtischen Rechtsfrieden, um Kämpfe zu suchen, die die Zeit Dürers 15  Weber 16  Weber

(1980), S. 547. (1980), S. 547.

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C. Sachlichkeit und Loyalität

ihm nur noch um den Preis des Untergangs zu bieten hatte? Huttens und Sickingens Schicksal kündigt Dürers Bild schon an. Dieser Ritter macht den Eindruck, dass er auf kein Ziel mehr achtet, stattdessen auf Haltung, und dass er in Bewegung bleibt. Sein Hund leistet Gefolgschaft. Beide bilden eine Bewegung. Es ist darüber spekuliert worden, warum der Hund sich in größerer Geschwindigkeit fortbewegt als das Pferd. Das ist aber sicher dem Umstand geschuldet, dass sich Dürer bei der Darstellung von Reitern an italienischen Reiterstandbildern orientierte, vielleicht auch trotz der Gleich­ mütigkeit des Ritters die Unruhe darstellen wollte, die von den beiden Unheilsgestalten ausgeht. Abgesehen von Dürers Ritter wäre noch an Don Quijote und seinen Be­ gleiter Sancho Pansa zu denken. Sancho Pansa leistet nicht wirklich Gefolg­ schaft, sondern weiß um den Wahnsinn seines Führers. Wenn Weber nicht als tragische Gestalt im Sinne Dürers aufzufassen wäre, sondern als komi­ sche Figur im Sinne von Cervantes, dann könnte Carl Schmitt als sein Sancho Pansa gelten. Schmitts Dezisionismus war völlig gesinnungslos. Max Webers Verständnis des Politischen lässt sich mit republikanischem Selbstverständnis nicht versöhnen, was kurz an Hans J. Morgenthau de­ monstriert werden soll, womit noch ein abschließender Blick auf das repu­ blikanische Politikverständnis auch in Bezug auf die internationalen Bezie­ hungen angedeutet werden soll. Es unterscheidet sich nicht von der im vorigen Kapitel skizzierten politischen Strategie des Republikanismus. Morgenthau und andere Emigranten der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts verstanden nicht den amerikanischen Kontext, der sie aufge­ nommen hatte, und implantierten in ihn ein Staatsdenken, das dem ameri­ kanischen Selbstverständnis eigentlich fremd war. Morgenthau sah die ­internationalen Beziehungen so wie Max Weber, forderte aber gleichzeitig eine Diplomatie, die sich nicht dem Nationalismus oder einer anderen Ideologie ausliefert. Insofern vertrat er eine Politik der Neutralisierung. Nicht umsonst ist seine Essaysammlung Truth and Politics Hans Kelsen gewidmet. Dennoch geht sein Denken vom Staat als rationaler Anstalt aus, die von einer Staatselite beherrscht werden soll, die einer bestimmten Ethik folge. Morgenthau sah diese Ethik, wie Christoph Rohde ausführt, besonders in Abraham Lincoln verkörpert.17 Was hier aber übersehen wird: Lincoln war weniger von einer bestimmten Ethik beseelt, er hatte vielmehr eine Sache, wenn auch nicht eine Sache im Sinne Max Webers. Sie ist nicht mit anderen Sachen als gleichgültig zu betrachten, weil sie diese Gleichgültigkeit erst zu begründen und durchzusetzen vermag. Diese Sache ist die Republik. 17  Rohde,

S.  200 ff.



I. Webers zwiefacher und entsprechend zwiespältiger Sachlichkeitsbegriff 217

Morgenthau setzt dagegen auf den Staat als Agenten der Neutralisierung und beruft sich auf Kant. Im Essay Truth and Power vermittelt er die Be­ deutung dessen, was Kant den öffentlichen Gebrauch der Vernunft nennt, und schreibt über seine Rolle als Politikberater: „What enables the intel­ lectual to perform these vital roles for the democratic process and for the improvement of policy is his immunity from outside pressures, manifested in job security through tenure. (…) He has the freedom to speak truth to power without needing to be afraid of more than irritating reprisals of the powers-that-be. The White House could threaten me with the FBI and make the Internal Revenue Service waste many man-hours in repeated audits of my income tax return; it could order the secretary of Defense to fire me as consultant to the Department of Defense, banish me from the councils of government, and ostracize me socially. But it could not deprive me of my livelihood or of my freedom to speak and write, insofar as the media were willing to resist its pressure to deny me a hearing.“18 Das ist platonisch gedacht. Der Intellektuelle als Philosoph berät die Regierung, wenn er nicht selber regiert. Man bemerkt leicht, dass Morgen­ thau nicht so sehr der demokratische Prozess am Herzen liegt, nicht Rechts­ staatlichkeit und Unabhängigkeit der Gerichte, sondern die unkündbare Festanstellung an einer Universität, die er erstaunlicher Weise als ausrei­ chende Sicherheitsgarantie betrachtet. Nachzufragen wäre, ob es denkbar ist, dass von einer funktionstüchtigen Öffentlichkeit ausgegangen werden kann, die bereit wäre, Morgenthaus Ansichten zu veröffentlichen, wenn eine Regierung es sich schon trauen dürfte, ihn sozial auszugrenzen. Der Natio­ nalsozialismus hätte in dieser Hinsicht reiches Anschauungsmaterial liefern können, die Zustände in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 liefern es heute. Was Morgenthau zum Schluss erwähnt, gehört an den Anfang, aber er­ gänzt um den Aspekt, dass die öffentlichen Medien nicht nur willig, sondern auch noch fähig dazu sind, ihn anzuhören und seine Auffassung zu veröf­ fentlichen. Morgenthau betrachtet Lincoln als Staatsmann, aber das war Lincoln nicht. Lincoln musste erhebliche Rücksichten nicht nur auf den Kongress insgesamt, sondern auch auf seine Parteifreunde und letztlich sogar sein Kabinett nehmen. In seiner Strategie wandte er gerade darum ethisch frag­ 18  Morgenthau, S. 16  f. Morgenthau hat hier den Beamten im Blick, der für Münkler und Bourdieu den Staat bildet. Carl Schmitt hat die Macht der politischen Berater ebenfalls reflektiert (Schmitt 2012). Sie haben freilich gegebenenfalls auch auf die Ratschläge von Leo Strauss zu achten, der in seinem Kommentar zu Xeno­ phons Hiero zu erklären versucht, wie man Tyrannen berät, ohne in Gefahr zu ge­ raten (vgl. Strauss).

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C. Sachlichkeit und Loyalität

würdige Methoden an, um andere in die Republik hineinzuzwingen. Sein Glaube an die Republik legitimierte das. Ohne diese republikanische Loya­ lität gibt es keine Republik, und sie bedarf keiner intellektuellen Ratgeber aus der Tradition Kants. Republikanische Außenpolitik unterscheidet sich darum maßgeblich von staatlicher Außenpolitik. Sie ist auch Machtpolitik, Lincolns Beispiel zeigt das, aber eine, die die Inklusion zunächst indirekt zu erzwingen versucht, und nicht Anerkennung von Staatlichkeit über Ex­ klusion erreichen will. Das klassische Beispiel dafür ist die Wirtschaftssank­ tion. Das gilt freilich als unheroisch. Es ist aber oft sehr effizient. Die Herausforderung, die der Westen für autokratische Regime darstellt, ist die Attraktivität seiner republikanischen Verfasstheit, die übrigens die Eliten der autokratischen Regime durchaus anerkennen, indem sie ihr ökonomisches Kapital im Westen anlegen und nicht selten ihren Nachwuchs im Westen ausbilden lassen – ganz zu schweigen davon, dass sie westliche Gebrauchs­ güter konsumieren. Das offenbart die logische Bodenlosigkeit autokratischer Politik. Die Anerkennung autokratischer Macht wäre erreicht, wenn der Westen sich im Sinne der autokratischen Regime in Staat verwandelte. Die Nähe Wladimir Putins zu Donald Trump oder zum Front National in Frank­ reich erklärt sich so. Darum ist Krieg nur ultima ratio des Westens, was freilich die US-amerikanische Neigung begründet, ihn dann auch bis zur bedingungslosen Kapitulation des Gegners zu führen. Ansonsten setzt der Westen aber auf die Wirkung seiner soft power im Sinn von Joseph Nye.19 Die Republik kann eben nach außen nicht sein, was sie im Inneren nicht ist, nämlich Staat. Dass Republiken vor militärischen Kriegen zurückschre­ cken, hat nicht nur damit zu tun, dass ihre Gesellschaften postheroisch sind (da ist Herfried Münkler durchaus zuzustimmen), sondern es hat darüber hinaus auch strukturelle Gründe.20 Republiken funktionieren nicht wie Staaten über Befehlsstrukturen, Entscheidungen fallen öffentlich und sind ohne öffentliche Deliberation nicht zu verantworten. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Sachlichkeit steht bei Max Weber im Mittelpunkt seiner Konzeption des idealen Politikers, auch wenn er Augenmaß und Verantwortlichkeit der Forderung nach Sachlichkeit an die Seite stellt. Augenmaß bezeichnet die Distanz, die der Politiker aus Beruf gegenüber seiner Sache und damit seiner Gesinnung zu halten hat. Im Ab­ sehen von der Gesinnung entwickelt er dann gegenüber seiner Sache ein 19  Vgl. Nye, Bound to Lead. Nye betrachtet die Attraktivität nicht materieller Werte als softpower, allerdings muss bedacht werden, dass sie der hard power nicht entbehren kann. Jene, die der Attraktivität der Werte folgen, bedürfen der Solidarität und gegebenenfalls militärischer Unterstützung. 20  Die USA scheinen ein Gegenbeispiel zu sein. Aber die Kriege der USA wa­ ren, sieht man vom Vietnamkrieg ab, zumeist militärische Interventionen mit relativ kurzer Dauer. Schon in den Ersten Weltkrieg traten die USA spät ein.



II. Republikanische Loyalität219

neues, ein höher zu veranschlagendes ethos, nämlich sein Standhalten ge­ genüber dem Tragischen. Hier erweist sich Weber als ein säkularisierter protestantischer Denker lutherischer Prägung. Glaube wird zu „Frömmigkeit (…) für protestantische Liberale, definiert über Selbstgewißheit, Gewissen, Innerlichkeit, Identität, Individualität und den Aufbau subjektiver Plausibilitätsstrukturen“21 und dient dem buffed self Charles Taylors, sich in Krisen seiner Authentizität über tragisch gedeutetes Selbstmitleid zu er­ halten. Diese Konzentration auf das Individuum verdient aber nicht, tragisch genannt zu werden. Tragisch sind Konflikte, in denen der Einzelne in sei­ nem Verhältnis zu anderen und nicht gegenüber einer Gesinnung schuldlos schuldig wird, d. h. wenn er in einen Rechtskonflikt gerät und sich z. B. gegen Sittlichkeit und für das Recht des Gemeinwesens entscheidet. Der Individualismus Webers endet nicht im Tragischen, sondern in dem, was Hegel das unglückliche Bewusstsein nannte,22 und sucht Trost in einer fälschlich als tragisch bezeichneten Einsicht in die Notwendigkeit, die ihm Wahrheit wird. Das hat Folgen für die Loyalität der Gefolgschaft, die nur noch als Ge­ horsam zu denken ist. Der gesellschaftliche Idealtypus, den Weber in den Blick nimmt, ist der Beamte. Kaube urteilt über Weber wie auch über Ro­ bert Michels, der die politischen Parteien als beamtenähnliche Apparate beschrieb: „Weber wie Michels werden (…) zum Opfer ihres Vokabulars. Sie verbinden den Begriff der Zweckrationalität mit einer Vorstellung von Herrschaft, die ausschließlich an Befehlskausalität orientiert ist.“23

II. Republikanische Loyalität Die spezifische republikanische Loyalität ist dagegen von Josiah Royce ausformuliert worden. Royce ist im Zusammenhang mit Martin Bucer und der reformierten Tradition von besonderem Interesse, weil er den Begriff der Loyalität mit dem der Interpretation verknüpft. Royce wurde 1855 in Kalifornien geboren. Er war der Sohn eines Pio­ niers. Das frontier-Bewusstsein prägte ihn ebenso wie seine puritanische Herkunft. Er studierte Philosophie auch in Deutschland, u. a. in Göttingen bei Rudolf Hermann Lotze. Ab 1876 war er als Hochschullehrer tätig, zu­ nächst an der University of California, ab 1882 in Harvard (zunächst als 21  Graf,

S. 100. (1952), S. 151 ff. 23  Kaube, S. 320. Kaube fährt dann fort, dass die Führer selbst Geführte seien, weil es dem Amtschef gleichgültig sei, wer „unter seinem Gehorsam Minister“ sei, und dass es die Ressortleiter im Hinblick auf die Amtsleiter auch so sähen (Kaube, S. 321). 22  Hegel

220

C. Sachlichkeit und Loyalität

Philosophy instructor, ab 1892 als Professor). Er starb 1916. Royce und Weber waren Zeitgenossen, die sich gegenseitig nicht wahrnahmen. Ihre Gegenüberstellung vermag aber aufzuzeigen, wie Weber einen zwiefachen Begriff von Sachlichkeit hat und darum auch einen zwiefachen Verantwor­ tungsbegriff, wobei er beide nicht mit einander zu vermitteln vermochte, während Royce Loyalität und Sachlichkeit in dialektischer Einheit betrach­ tet. Das hat Folgen für die jeweilige Lösung von Loyalitätskonflikten. Im Denken von Royce muss das Tragische nicht bemüht werden. Royce bildet für das Politische eine Handlungslogik aus, die republikanisch Loyalität begründet. Mit Weber und Royce stehen sich letztlich Staatsdenken und republikani­ sche Gesinnung gegenüber. Weber steht in einer Tradition des Dualismus, die auf Luther und Kant rekurriert, Royce steht in der Tradition des abso­ luten Idealismus Hegels. In der ersten Denktradition wird der Staat über einen metaphysischen Dualismus begründet. Bei Luther ist es der Dualismus von Gnade und Gesetz, bei Kant der zwischen intelligibler und sensibler Welt. In dieser Tradition steht Max Weber, wenngleich auch nicht uneinge­ schränkt. Denn Weber versagt es der Politik, sich über Vernunftgründe im Hinblick auf eine mit sich selber gleichbleibenden Vernunft zu legitimieren. An die Stelle der Vernunft tritt ein frei gewählter Glaube durchaus im Sin­ ne dessen, was im amerikanischen Pragmatismus belief heißt. Während aber für Weber Glaube dem Politiker aus Beruf Orientierung und Legitimität verschafft, nicht zuletzt auch Trost angesichts der von ihm behaupteten Tragik des Politischen, liegt der Akzent im pragmatischen Verständnis des Glaubens darauf, dass er zur Tat motiviert. Royce ist nicht Vertreter des absoluten Idealismus ausschließlich im Sinn des deutschen Idealismus, er gehörte auch dem reformierten Bekenntnis an. Hegel ist in den USA des neunzehnten Jahrhunderts nicht nur in der Philo­ sophie rezipiert worden, sondern besonders in der reformierten Theologie, z. B. in der Mercersburg Theology.24 Es gab in den USA eine Verbindung zwischen der reformierten Dogmatik und dem absoluten Idealismus in ek­ klesiologischer und somit in pragmatischer Absicht. Das ist im Hinblick auf den absoluten Idealismus von Royce zu berücksichtigen, auch wenn Royce Verweise auf die reformierte Theologie seiner Zeit nicht macht. Der refor­ mierte Kontext hat aber seine Hegelrezeption anders beeinflusst als der lu­ therische die Hegelrezeption in Deutschland. Royce ist dem frühen amerikanischen Pragmatismus zuzurechnen. Er verankerte mit William James diese philosophische Schule in Harvard. Er gilt darum neben James und Charles Sanders Pearce als Begründer des 24  Holifield,

S.  467 ff.



II. Republikanische Loyalität221

Pragmatismus. In seiner Bekanntheit ist er heute allerdings weit hinter die beiden anderen zurückgefallen, mehr noch: Die heute die Debatte beherr­ schenden Vertreter des Pragmatismus, etwa Richard Rorty, behandeln Josiah Royce so, wie laut Marx seine Zeitgenossen Hegel behandelten, nämlich wie einen toten Hund.25 So erwähnt John P. Murphy in seinem Überblick über die Entwicklung des Pragmatismus von Peirce bis Davidson Royce mit keinem Wort.26 Die Ablehnung, die Royce in der angelsächsischen Welt erfährt und auch schon zu Lebzeiten erfahren musste, dürfte mehrere Gründe haben. Auf zwei ist schon verwiesen worden: Zum einen hielt Royce an der Bedeutung der christlichen Überlieferung fest, und zum anderen gilt er als ein Vertreter des absoluten Idealismus, der, wie oben gezeigt, dem Verdikt der späteren Vertreter des Pragmatismus unterlag, insbesondere dem John Deweys. Bru­ ce Kuklick zeigt zudem auf, dass der deutsche Idealismus mit dem Verlauf des Ersten Weltkrieges immer mehr mit der deutschen Kultur identifiziert worden ist und für den Kriegsausbruch mitverantwortlich gemacht wurde.27 Wenngleich nun auch Hegel nicht gänzlich aus dem amerikanischen Denken ausgeschieden worden ist, selbst bei Dewey finden sich genügend Anklänge,28 so isolierte sich Royce bei Kriegsausbruch mit seinem Festhal­ ten an Hegel von seinen Kollegen, auch wenn er die alliierte Politik publi­ zistisch unterstützte. Royce lehnte seinerseits den methodischen Individualismus von James ab. Vielleich berührt das den entscheidenden Punkt für die Ablehnung. Harold Bloom hat den Individualismus als die eigentliche American Religion be­ trachtet, die sich nur christlich verkleide,29 aber grundsätzlich gnostisch sei. Wer sich wie Royce in seinem Denken ausgerechnet auf den absoluten Idealismus beruft, erscheint damit einem individualistischen Denken im Hinblick auf das Soziale kommunitaristisch. Es lässt sich aber zeigen, dass das Werk von Royce geradezu wie geschaffen ist, die gnostischen und damit 25  Marx (1979), S. 27. Marx verweist im Nachwort zur 2. Aufl. des ersten Ban­ des des Kapitals in diesem Zusammenhang auf Moses Mendelson, der Spinoza so behandelt habe. 26  Richard Rorty vermerkt entsprechend in seinem Vorwort: „Anti-representation­ alism – the abandonment of a ‚spectator‘ account of knowledge and the consequent abandonment of the appeare/reality distinction – is the theme that runs through Professor Murphy’s book.“ (Murphy, S. 2). 27  Kuklick (1977), S. 435 ff. 28  Zur Bedeutung Hegels für den Pragmatismus vgl. Bernstein in: Bubner, S.  374 ff. 29  „I am hardly disconcerted to discover that the American Religion is postChristian, despite its protestation, and even that it has begun to abandon Protestant modes of thought and feelings.“ (Bloom, S. 28).

222

C. Sachlichkeit und Loyalität

auch gar nicht so aufklärerischen Motive des amerikanischen Selbstver­ ständnisses in der american religion aufzudecken. Der Pragmatismus, der James und nicht Royce folgte, bedarf der Aufklärung über sich selbst, die im Rekurs auf Royce geleistet werden kann. James bestimmt das Individu­ um in einer Weise, in der es sich nicht als gesellschaftlich bedingtes Indi­ viduum verstehen lässt, wie folgendes Zitat deutlich macht: „Your whole subconscious life, your impulses, your faiths, your needs, your divinations, have prepared the premises, of which your consciousness now feels the weight of the result; and something in you absolutly knows that that result must be truer than any logic-chopping rationalistic talk, however clever, that may contradict it.“30 Die Konklusion bei James heißt schließlich: „Instinct leads, intelligence does but follow.“31 Wenn nun Royce auch mit der heute das amerikanische philosophische Denken prägenden Strömung des Pragmatismus auf den ersten Blick unver­ einbar zu sein scheint, gilt doch, dass auch er die im kontinentaleuropäi­ schen Kontext vorherrschende Auffassung auf den Kopf stellt, dass über den methodischen Zweifel Erkenntnis das menschliche Handeln bestimme. Al­ lem Handeln und expliziten Selbstverständnis des Menschen liege ein Glau­ be zu Grunde, ein nicht mehr hinterfragbares, gegenüber der Rationalität tiefer liegendes Selbstverständnis, das sich in zum Teil unverstandenen Ri­ tualen und Mythen oder Bekenntnissen äußere. So sehr es auch der Aufklä­ rung bedürfe, sei es rational dennoch nicht einholbar. Die Aufklärung betrifft dann auch mehr die Offenlegung der pragmatischen Implikationen und möglichen Folgen für das Handeln als die Rationalisierung der jeweils zu Grunde liegenden Überzeugungen.32 Soweit sind sich Weber und Royce einig. Die frühe Begründung seines absoluten Idealismus weckte den Verdacht Deweys gegenüber Royce. Royce begründet die Erkenntnis des Irrtums damit, dass sie ein höheres Wissen voraussetze, über das der Irrtum zu identifizieren sei. Wer dieses höhere Wissen leugne, könne nicht zwischen Irrtum und Wahrheit unterscheiden: „A judgement cannot have an object and fail to agree therewith, unless this judgement is part of an organism of thought.“33 Wie wäre aber ein solcher Organismus zu denken? Dewey und die, die ihm in der Ablehnung von Royce folgten, waren sicher alarmiert, 30  James,

S. 56. S. 57. 32  Das Verständnis des religiösen Bekenntnisses (belief) als Motivationsgrund für action, wie es von William James in seiner Studie über die religiöse Erfahrung formuliert worden ist, ist richtungsleitend für das Verständnis von Religion im Prag­ matismus geworden. 33  Royce (2005a), S. 327. 31  James,



II. Republikanische Loyalität223

wenn es bei Royce heißt: „The words, This is true, or This is false, mean nothing, we declare, unless there is the inclusive thought for which the truth is true, the falsehood false. No barely possible judge, who would see the error if he were there, will do for us. He must be there, this judge, to constitute the error.“34 Hier zeigt sich deutlich, dass Royce seinen absolu­ ten Idealismus zunächst in metaphysischer, nicht in sozialer Absicht formu­ lierte. Aber wenn statt von Organismus besser von Verstehenshorizont ge­ sprochen würde, von einem konventionellen Sein des Geistes, dann ließe sich dieses Denken sehr wohl mit Deweys Ansatz verbinden, der menschli­ ches Leben mit Forschung gleichsetzt, und dass die Forschung nicht Logik voraussetze, sondern Logik schon ein Produkt von Forschung sei: „it means that while inquiry into inquiry is the causa cognoscendi of logical forms, primary inquiry is itself causa essendi of the forms which inquiry into in­ quiry discloses.“35 Dahingehend ließen sich Royce und Dewey vereinen, dass logisches Denken kein Ausdruck ist von loyalty to truth, sondern von loyalty to an infinite community. Die Logik Hegels weist zudem „Löcher“ auf wie die Schöpfung in dem Film Time Bandits, an dem mehrere Mitglie­ der von Monty Python mitgearbeitet haben. Der Vergleich mit dem Film liegt darum nahe, weil Hegel seine Logik als die „Darstellung Gottes (…), wie er seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines end­ lichen Geistes ist“, bezeichnet hat.36 Das Misstrauen Deweys gegenüber absolutem Idealismus war begründet. Es handelt sich aber m. E. bei dieser Kontroverse nicht um einen Widerstreit im Sinn von Lyotard. In einer seiner letzten Veröffentlichungen setzte sich Richard Rorty mit dem französischen Vertreter der analytischen Philosophie Pascal Engel über die Frage auseinander, was es für einen Nutzen habe, weiterhin den Begriff der Wahrheit zu verwenden. Gegenüber der Behauptung von Engel, der Wahrheitsbegriff sei unabdingbar als Norm für Forschung, für Untersuchun­ gen, als Kriterium für die Unterscheidung von Glaube und Wissen, konsta­ tiert Rorty, sein Denken in der Tradition der Postmoderne (er nennt an dieser Stelle Wittgenstein, Davidson und Brandom) sei „a rejection of the idea that some discourses, some parts of the culture, are in closer contact with the world, or fit the world better, than other discourses. If one gives up this idea, then one will view every discourse – literary criticism, history, physics, chemistry, plumbers’ talk – as on a par, as far as its relation to reality goes.“37 Rorty bezieht sich auf Patrick Savidan, der als Referenz einer Aussage oder einer Theorie nicht auf eine wie immer auch gedachte 34  Royce

(2005a), S. 348. (1938), S. 4. 36  Hegel (1975), S. 31. 37  Engel/Rorty, S. 36. 35  Dewey

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C. Sachlichkeit und Loyalität

Realität verweist, sondern auf die soziale Verantwortung. Hier ließe sich durchaus an den späten Royce anschließen. Der späte Royce begründete seinen Idealismus nicht mehr metaphysisch, sondern sozial. Der Weg führte nicht mehr direkt, sondern über Peirce zu­ rück zu Hegel. Und in der Tat lässt sich die Logik Hegels als Reflexion der sozialen Welt lesen, etwa in dem Abschnitt über die Unterscheidung des allgemeinen Begriffs vom besonderen Begriff. Denn jedes Besondere ver­ mag sich nur im Allgemeinen zu erkennen und muss darum das Allgemeine als seine Voraussetzung anerkennen, während das Allgemeine wiederum nur im Besonderen erscheinen kann und hier seinen Ausdruck findet. In das republikanische Denken übersetzt bedeutet das: Die Besonderheit der Iden­ tität verdankt sich einer Öffentlichkeit, die Besonderheit der Identität stiftet, so dass die besondere Identität dieser Öffentlichkeit gegenüber nicht nur verpflichtet ist, sondern sie darzustellen hat, ihr Sein wird. Identität ist so­ mit Nichtidentität in dem Sinne, dass sie das Besondere im Allgemeinen und das Allgemeine im Besonderen ist. Die sich selbstgenügsame Besonder­ heit, die nicht Allgemeinheit ist, geht dagegen zu Grunde. Folgender Ab­ schnitt aus der Logik hat eine verblüffende Aktualität und gibt zu denken, inwiefern das moderne Selbstverständnis des Individualismus durch den um sich greifenden Terrorismus nicht von etwas Fremdem und Archaischen herausgefordert und bedroht wird, sondern von etwas, das es selbst erst als Zerrbild seiner selbst hervorgebracht hat: „Die Selbständigkeit auf die Spit­ ze des fürsichseienden Eins getrieben, ist die abstrakte, formelle Selbstän­ digkeit, die sich selbst zerstört, der höchste, hartnäckigste Irrtum, der sich für die höchste Wahrheit nimmt, – in konkreteren Formen als abstrakte Freiheit, als reines Ich, und dann weiter als das Böse erscheinend. Es ist die Freiheit, die sich so vergreift, ihr Wesen in diese Abstraktion zu setzen, und in diesem Bei-sich-sein sich schmeichelt, sich rein zu gewinnen. (…) Sie ist das negative Verhalten gegen sich selbst, welches, indem es sein eigenes Sein gewinnen will, dasselbe zerstört, und dies sein Tun ist nur die Mani­ festation der Nichtigkeit dieses Tuns.“38 Kuklick, der Royce im Dialog mit William James zwar gebührend und ausführlich behandelt, schließlich überhaupt den Blick wieder auf Royce gelenkt hat,39 urteilt über Royce, Dewey und andere Vertreter des Pragma­ tismus hinsichtlich ihrer politischen Bedeutung abfällig: „A social theorist might today describe himself as a Marxist, a Weberian, perhaps a Veblenian; but he would never describe himself as a Jamesean or a Roycean (or a 38  Hegel

(1975a), S. 163. Kuklick (1972). Kuklick betont freilich die Logik bei Royce und betrach­ tet seine Philosophy of Loyalty als eine populärwissenschaftliche Ausführung ohne weitere Bedeutung. 39  Vgl.



II. Republikanische Loyalität225

Deweyan).“40 Weder James noch Royce hätten sich auf zeitgenössische Sozialwissenschaft bezogen, woraus Kuklick den Schluss zieht: „The quali­ ty of Harvard’s political and social philosophy was poor“.41 Das ist eine sehr überraschende Einschätzung, die auf einen sehr verengten Begriff des Politischen schließen lässt. Freilich muss man zugestehen, dass weder Royce noch Dewey sich Gedanken gemacht haben um die institutionelle Gestal­ tung der sozialen Räume, die sie im Blick hatten. Dennoch kommt Ludwig Nagel zu einer viel positiveren Einschätzung des Beitrags von Royce als Kuklick: „Vielleicht wäre es (…) sinnvoll (…) die folgenreiche Weichen­ stellung, die im Harvard des frühen zwanzigsten Jahrhunderts vorgenommen wurde, zu problematisieren und so dem zeitgenössischen pragmatisch-neo­ pragmatischen Argumentationsprozeß eine Fragedimension wiederzueröff­ nen, die seit dem Triumph des (vergleichsweise enggeführten) Jameschen und Deweyschen Pragmatismus über die komplexer verfaßte ‚pragmatizisti­ sche‘ Spätphilosophie von Peirce (und den – damit vielfältig verbundenen – Royceschen Rekonzeptualisierungsversuch der Dialektik von ‚endlich‘ und ‚unendlich‘ im Medium pluraler, semiotisch verfaßter ‚community‘‑Konzep­ tionen) abgeblendet blieb.“42 Im deutschen Sprachraum hat Ludwig Nagel entsprechend die Bedeutung von Royce besonders für die Sozialphilosophie gewürdigt. Er wirft dem Pragmatismus eine „ ‚instrumentalistische‘ Relektüre Hegels“ vor, die zwar verhindert habe, „daß Hegel aus der Pragmatismusdebatte Amerikas voll­ ständig verschwand, in der die Hegelsche Philosophie jedoch herunterbe­ stimmt wurde zu einem – dem antidogmatischen Grundimpuls des Pragma­ tismus nahestehenden, selbst allerdings noch metaphysisch deformierten – begriffs‚dialektischen‘ Überwindungsversuch ‚dichotomischer‘ Oppo­sitions­ voka­bularien.“43 Nagel leugnet nicht die Bedeutung von Kant und Hegel für Royce, sieht aber den absoluten Pragmatismus von Royce anders begründet als den des deutschen Idealismus, was er am Begriff der Community aus­ weist. Royce habe einen vierfachen Begriff von Community. Er orientiere sich an dem, was bei Kant Reich der Zwecke und bei Hegel Gemeinde sei: „Royces späte, von Peirce beeinflusste Semiotik, (…) schließt Grundideen dieser beiden Philosophen ein, wahrt zugleich aber sorgfältig Distanz zu allen ‚transzendentalen‘ oder ‚absolut-dialektischen‘ Geltungsansprüchen: seine Zuwendung zu Gedankenfiguren der klassischen neuzeitlichen Religi­ 40  Kuklick

(1977), S. 314. (1977), S. 314. 42  Nagel (2007), S. 392. Mit der Bezeichnung pragmatizistisch wollte sich Peirce von der Entwicklung des Pragmatismus z. B bei James abgrenzen, mit er nicht ein­ verstanden war, weil sie ihm zu utilitaristisch erschien. 43  Nagel (2007), S. 392. 41  Kuklick

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C. Sachlichkeit und Loyalität

onsphilosophie kann, so scheint es, auch heute – beim Versuch, engere (klassische und zeitgenössische) Versionen des Pragmatismus kritisch zu hinterfragen – eine wichtige Rolle spielen.“44 Im Folgenden wird sich die Argumentation auf zwei Bücher von Royce konzentrieren: einmal die The Philosophy of Loyalty von 1908 und zum anderen Problems of Christianity von 1913, die beide auf Vorlesungen be­ ruhen. Die letztgenannte Arbeit kann als das Hauptwerk von Royce gelten. Beide Bücher lassen sich m. E. sehr wohl als Begründung eines Republika­ nismus verstehen, der nicht auf die humanistische bzw. aufklärerische Tra­ dition rekurriert, sondern in der Tradition reformierter Theologie steht, ohne auf theologische Begriff zurückzugreifen. Royce stimmt mit James darin überein, dass dem Handeln und damit der Erkenntnis des Menschen, die das Handeln leite, Glaubensmotive zu Grun­ de liegen. Er betrachtet sie dennoch nicht als der Vernunftkritik entzogen, und sie seien auch nicht gänzlich irrational. Sie bedürften nämlich der Anerkennung. Insofern aber der Mensch für die Motive seines Handelns Aner­ kennung erheische, stehe er vor der Notwendigkeit, sie sprachlich sowohl öffentlich als auch vor sich selber zu rechtfertigen. Das bedeutet: Es gibt kein buffed self, keine substanzhafte letzte Instanz, die die Authentizität des Selbst autonom zu bestimmen wüsste. Weil andere uns interpretieren, sind wir gezwungen, uns selber zu interpretieren und die eigene Interpretation in der Konfrontation mit den Fremdinterpretationen zu bewähren oder gegebe­ nenfalls zu ändern. Das Selbst des Individuums ist damit immer schon öf­ fentliches Selbst und Reaktion auf Fremdinterpretation. Wer an seiner Selbstinterpretation mit zu gestalten in der Lage ist, ist mündig. Andere werden nur interpretiert, ohne selber öffentlich sich selber interpretieren zu können. Wer vermeint, er könne sich selber genügen mit dem Bild, das er von sich malt, und dann auch noch versucht, in seinem Sinne authentisch zu bleiben, d. h. wer nicht anerkennt, dass er der Anerkennung seiner Selbstinterpretation durch andere bedarf, schließt sich aus der Interpretati­ onsgemeinschaft selber aus. Er endet in dem, was Hegel negatives Verhalten gegen sich selbst nennt. Person ist man nur im Verhältnis zu Personen. Person ist kein Substanz­ begriff, sondern Relationsbegriff. Was für Weber Verantwortung ist, ist im Verständnis von Royce Loyalität, die gar nicht gegenüber einer Sache ge­ leistet werden könne, sondern eine personale Beziehung darstelle: „You can not be loyal to a merely impersonal abstraction“.45 Loyalität achtet diesem Verständnis nach nicht auf Gesinnungstreue, sondern auf die Einhaltung 44  Nagel

45  Royce,

(2010), S. 223 f. S. 874.



II. Republikanische Loyalität227

einer Verpflichtung gegenüber Personen. Die Sachen sind dem gegenüber sekundär. Personale Loyalität kann darüber hinaus für Royce nur horizontal, nicht vertikal gedacht werden. Während also im Kontext Webers Loyalität vertikal vermittelt wird, und zwar von unten nach oben, wird sie im Denken von Royce horizontal verstanden, in der diskursiven Auseinandersetzung um die Anerkennung der eigenen Selbstinterpretation. Wer sich auf diesen Kampfplatz begibt, muss seinerseits eine tiefer liegende Anerkennung und damit Loyalität leisten. Und diese Anerkennung zu begründen ist das Ziel der Argumentation von Royce. Damit zeigt sich, wie der Begriff der Inter­ pretation neben dem der Loyalität zu einem Schlüsselbegriff des späten Royce geworden ist. Mit seinem Verständnis der Interpretation kommt Royce nahe an die Auffassung heran, die Nietzsche im Willen zur Macht geäußert hat, nämlich dass es keine Fakten, sondern nur Interpretationen gebe.46 Royce darf so als einer der Vorläufer des linguistic turn betrachtet werden. Interpretation ver­ stand er im Rekurs auf Peirce als eine triadische Relation. Ein Zeichen, das sich einem fremden Verstehen verdankt, muss von einem anderen Verstehen für ein drittes Verstehen vermittelt werden. Jeder Einzelne ist mit Zeichen konfrontiert, die er sich selbst vermittelt. Jeder Mensch interpretiert sich selbst in der Reflexion für sich selber. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Tugend des Misstrau­ ens als einer republikanischen Kardinaltugend verwiesen, weil nicht jede Interpretation, die ich von mir habe, dem entspricht, was ich für andere bin. Für Royce ist Selbstbewusstsein, abgesehen davon, dass es öffentli­ ches Selbst ist, triadisch insofern, als es sein vergangenes Selbst im gegen­ wärtigen Selbst als sein zukünftiges Selbst in die Zukunft projiziere. Hier mag die Trinitätslehre des Augustinus Pate gestanden haben, der die Drei­ einigkeit an der zu unterscheidenden Einheit von memoria, intellectus, voluntas anschaulich machte (De trinitate X,II). Wird so das Selbst bei Roy­ ce als ein Verhältnis sozialer Beziehungen betrachtet, dessen Tätigkeit sich als Prozess der Selbstvermittlung als Interpretation erweist, so ist anzuer­ kennen, dass Interpretation ein Zeichensystem voraussetzt, das mit anderen geteilt und von anderen auch vermittelt wird. Interpretation wird als Mitte einer Gesellschaft vorgestellt, in der die Vermittler die entscheidende Rol­ le spielen. Dies sind im Idealfall alle, sofern sie sich mit ihrer Interpreta­ tion am allgemeinen Verstehen beteiligen, was ihre Loyalität gegenüber der Interpretationsgemeinschaft voraussetzt, der sie ihre Identität verdanken. Alle Interpretationsgemeinschaften eint aber eine Sache, Royce nennt es cause. 46  Nietzsche,

S. 337.

228

C. Sachlichkeit und Loyalität

Neben den vielen Loyalitäten gegenüber causes, die ein Mensch haben kann, gibt es für Royce nun gerade keine cause, die über allen stünde, der gegenüber die höchste Loyalität zu üben wäre. Vielleicht mag es von einem gemeinschaftlich vertretenen Wertesystem aus betrachtet höhere und minde­ re causes geben, aber das ist eine Frage, die Royce nicht interessiert. Ent­ scheidend dafür, ob Loyalität zu einer cause zu bejahen, zu dulden oder zu verneinen sei, ist für Royce, ob sie hin zur Loyalty to Loyalty führe oder die Entwicklung dahin verstelle. Loyalty to Loyalty ist der Schlüsselbegriff für das Verständnis des Sozialen und Politischen bei Royce. Loyalty to Loyalty bezeichnet, was bei Martin Bucer Geist ist, ursprüng­ liche Übereinkunft. Royce setzt die Loyalität zur Loyalität mit der Loyalität gegenüber der Menschheit gleich. Das klingt pathetisch. Carl Schmitt hat die Auffassung vertreten, dass wer Menschheit sage, betrügen wolle.47 Wer allerdings im amerikanischen Kontext republikanisch denkt, kann nur im Hinblick auf die Menschheit denken. Die Unabhängigkeit der USA und ihre imperiale Weltgeltung verdanken sich einer Freiheit, die die Unabhän­ gigkeitserklärung nicht einem bestimmten Kreis von Menschen oder nur Bürgern der USA zuspricht, sondern universal allen Menschen. Die aus aller Welt in die USA strömenden Immigranten haben eine Nation gebildet, die im eigentlichen Sinne des Begriffs gar keine Nation ist und sein kann, un­ abhängig von dem Wunsch vieler Amerikaner besonders weißer Hautfarbe, es sein zu wollen. Royce urteilt über die USA, auch wenn er hier nur von der Regierung spricht: „The history of our sentiment towards our national government is somewhat different from the history of the sentiment of pa­ triotism in other countries.“48 Die Menschheit kann nicht als konkreter Ansprechpartner einer Loyalty to Loyalty verstanden werden. Sie kann sich nur in der Loyalität der Ein­ zelnen gegenüber einem Regelungsraum äußern, in dem jeder für die Aner­ kennung seiner Sache werben könnte, wenn er es vermochte. Die Legitimi­ tät seiner Sache wäre damit zu begründen, dass sie Loyalty to Loyalty be­ fördert. Hier tritt die Pädagogik von Royce in den Blick. Der amerikanische Pragmatismus und insbesondere John Dewey zeigten für Bildung stets ein hohes Interesse, verwiesen sei auf Deweys Democracy and Education (1917). Anders als für Dewey ist für Royce aber der Einzelne nicht als Einzelwesen zu bilden. Er versteht Loyalität als die Grundbefindlichkeit des Menschen. Loyalität ist bei ihm eine existenziale Bestimmung des Daseins, die spezifiziert, was bei Heidegger das Mit-Anderen-Sein heißt und sich bei 47  Schmitt 48  Royce

(1979), S. 55. (2005), S. 947.



II. Republikanische Loyalität229

Heidegger im man und in der Abständigkeit konkretisiert. Das ist bei Roy­ ce anders. Schon das Kleinkind lebe, ohne es zu reflektieren, in der famili­ ären Loyalität. In der mit der Zeit einsetzenden Reflexion der familiären Loyalität erschienen später im Rahmen der Sozialisation die Loyalitäten, in die das familiäre Leben eingebunden sei. Die Familie bedürfe der Loyalität der Kommune, der Stadt und schließlich des Staatswesens als Republik, die allgemeinmenschliche Loyalität institutionell zu sichern habe. Loyalität be­ ruht auf Gegenseitigkeit. Sie kann sich nicht nur auf die Familie beschrän­ ken, sondern muss gerade im Interesse der familiären Loyalität auch gegen­ über der Kommune, dem Staatswesen, letztlich gegenüber der Menschheit gezeigt werden. Bildung ist für Royce nicht, dass die Loyalität der höheren Ebene z. B die familiäre Loyalität ersetzt, sondern dass sich die Einsicht einstellt, dass familiäre Loyalität die umfassenden Loyalitäten und letztlich die Loyalität zur Loyalität insofern zur Voraussetzung hat, weil Familie ohne diese Loyalitäten nicht wäre. So erweist sich die loyalty to loyalty als ursprüngliche Übereinkunft, der jeder schon angehört, ohne explizit Mit­ glied zu sein. Insofern niemandem Mitgliedschaft in diese Weltrepublik des Weltbürgertums verweigert werden kann, wenn seine Loyalität sich nicht der loyalty to loyalty in den Weg stellt, ist diese Loyalität Begründung von Republik. Im späteren Buch Problems of Christianity vertieft Royce diese Argumen­ tation. Er stellt den Aspekt in den Mittelpunkt, der in The Philosophy of Loyalty noch zu kurz kam, nämlich den sozialen Aspekt der Interpretation. Neben die existenziale Bestimmung des Menschen als eines loyalen Wesens tritt die der Interpretation als soziales Handeln, was m. E. auf die reformier­ te Tradition der Schriftauslegung zu verweisen vermag. Heidegger wird später in Sein und Zeit das Dasein auch als Verstehen bezeichnen, es aber als individuelles Verstehen ausführen. Für Royce ist diese Interpretation als Individualität ein sozial vermitteltes Verstehen. Der Mensch ist für ihn im­ mer Teil einer Interpretationsgemeinschaft, der gegenüber er sich loyal verhält und verhalten muss, sofern ihm am Erhalt seines Selbstverständnis­ ses liegt, weil es sich der Interpretationsgemeinschaft erst verdankt. Die persönliche Identität ist nicht einer Metaphysik geschuldet, die ewige und unwandelbare Wahrheit verkündet, sondern einem sozialen Geschehen, des­ sen Fortgang im Interesse der eigenen Identitätssicherung zu befördern ist. Identitätssicherung ist soziale Aufgabe in der Teilhabe an Interpretation. Individuelle Identität wird damit aber, weil sie sich in ihrer Identifikation mit dem Allgemeinen entweder partiell oder gänzlich in Frage zu stellen hat, Nichtidentität. Der Einzelne ist in diesem Prozess aufgefordert, Loyalität gegenüber seiner bisherigen Interpretationsgemeinschaft neu zu interpretieren, wenn er in Loyalitätskonflikte gerät. Und er wird, bricht er mit seiner bisherigen

230

C. Sachlichkeit und Loyalität

Interpretationsgemeinschaft, eine Identitätskrise durchleiden. Loyalität ist kein Gegenstand der Vorstellung (conception) oder der Wahrnehmung (perception). Ideen werden vorgestellt, Gegenstände werden wahrgenommen, soziale Beziehungen sind dagegen Interpretationen. „Now it appears that the word ‚interpretation‘ is a convenient name for a process which at least aims to be cognitive“49. Damit sind Glaubensvorstellungen, beliefs, keine irrati­ onalen, der Vernunft und der Begründbarkeit entzogene Vorstellungen mehr wie bei James. Sie sind Gegenstände der Interpretation, die sich in der öf­ fentlichen Auseinandersetzung um Anerkennung bewähren müssen. Mehr noch: Interpretation ist erkenntnistheoretisch fundamentaler als Vorstellung und Wahrnehmung, was der Herausgeber der Problems of Christianity, Frank M. Oppenheimer SJ, so zusammenfasst: „(R)eality is a temporal process of networking interpreters“.50 In der Interpretation offenbart sich die Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer Gruppe, und über die Anerken­ nung dieser Interpretation durch die Gruppe vermittelt sich die Mitgliedschaft. Im Interesse der Loyalty to Loyalty kann die Loyalty zu einer spezi­ fischen Interpretationsgemeinschaft, die individuelle Identität sichert, immer nur eine vorläufige sein, was die bewusste Selbstinfragestellung von Iden­ tität beinhaltet. Diese Selbstzumutung impliziert die Einsicht, dass Identität immer nur vorläufig ist, und das impliziert die Bereitschaft zur Anerkennung der eigenen Identität als einer Nichtidentität. In Problems of Christianity, das zeigt schon der Titel, expliziert Royce seine Gedanken am Beispiel der Kirche und verweist auf die paulinischen Briefe. Paulus habe mit der Interpretationsgemeinschaft der Pharisäer gebro­ chen und eine neue Interpretationsgemeinschaft aufgebaut und organisiert. Royce verweist im Zusammenhang mit der paulinischen Verkündigung auch auf die scientific community. Am Beispiel der Letzteren lasse sich die Funk­ tionsweise einer Gemeinschaft beschreiben, die nicht ausschließlich über Strafen Fehlverhalten sanktioniere, deren Kultur also zumindest nicht aus­ schließlich Schuldkultur sei, sondern die Elemente einer Schamkultur bein­ halte.51 Die Loyalität gegenüber der scientific community könne nicht er­ 49  Royce

(2001) S. 281. (2001), S. Xiii. 51  Freilich benutzt Royce diese Begriffe nicht. Was gemeint ist, vermag aber der § 249 der Rechtsphilosophie Hegels zu beleuchten : „Die polizeiliche Vorsorge verwirklicht und erhält zunächst das Allgemeine, welches in der Besonderheit der bürgerlichen Gesellschaft enthalten ist, als eine äußere Ordnung und Veranstaltung (…). Indem nach der Idee die Besonderheit selbst dieses Allgemeine das in ihrem immanenten Interesse ist, zum Zweck und Gegenstand ihres Willens und ihrer Tä­ tigkeit macht, so kehrt das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesell­ schaft zurück; dies macht die Bestimmung der Korporation aus.“ (Hegel 1955, S. 203). Dieses Sittliche ist aber nicht mehr das Sittliche der naturwüchsigen Ge­ 50  Royce



II. Republikanische Loyalität231

zwungen werden, zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft werde nicht unterschieden. Über Zugehörigkeit entscheide der Einzelne, indem er sich freiwillig den Regeln unterwerfe, die diese Interpretationsgemeinschaft im Interesse des Aufrechterhaltens ihres Interpretationsprozesses entwickelt habe. Mitgliedschaft wird, so ließe sich ergänzen, über Titelvergabe zuge­ sprochen. Verschulden wird nicht über Verfahren geahndet und damit aus der Welt geschafft, sondern bedeutet das Verlöschen der akademischen Identität. Das Plagiat im Bereich der scientific community bietet ein sehr anschauliches Beispiel dafür. Im Wissenschaftsbetrieb ist jeder als Wissen­ schaftler erledigt, der vorsätzlich plagiiert, unabhängig davon, wie über eventuelle Verfahren die Aberkennung von Titeln entschieden wird. Die Aberkennung von akademischen Titeln kann als Entzug der Mitgliedschaft betrachtet werden, also als Exkommunikation. Aber Titel verhalten sich zum kulturellen Kapital wie der Buchstabe zum Geist. Über die Mitgliedschaft entscheiden Verfahren, die Zugehörigkeit verdankt sich einem ethos und ist damit eigentlich im republikanischen Kontext der tiefere Begriff. Die Zuge­ hörigkeit kann aus republikanischer Sicht niemandem abgesprochen werden, der sich dem ethos verpflichtet zeigt. Die Inklusion ist die Entscheidung des Einzelnen, die ihm nicht verweigert werden kann. Die Exklusion ist wiede­ rum die eigene Entscheidung, das gemeinsame ethos aufzugeben. Das wird im formalen Entzug der Mitgliedschaft nur noch dokumentiert.52 meinschaften! Es hat eine andere Qualität, die sich nur zeigt, wenn Bevormundung nicht ist. 52  Hans Grünberger hat in Bezug auf Niklas Luhmann die Kirche als Organisa­ tion von einem sozialen System insofern unterschieden, als in Organisationen Herr­ schaft sich über Hierarchie, Befehl und Sanktion äußere, während die Volksreligion und die Sektenbildung als gegenläufig zur Organisationsgewalt der Kirche zu be­ trachten seien. (vgl. Grünberger 1981, S. 69 f.). Grünberger rekurriert auf den römi­ schen Katholizismus, aber auch auf die Parallelität von Kirchen- und Staatsregiment im Bereich des Protestantismus. Kirche im Sinne des römischen Katholizismus und auch Staat lassen sich systemtheoretisch so erfassen, wie Grünberger das durchführt. Die Theologie des Reformiertentums ist aber von Hause aus kein hierarchisches Organisationsprinzip. Im Unterschied zu Staat und Amtskirche ist die reformierte Kirche so wenig wie die Republik soziales System noch Organisation mit klaren Außengrenzen. Die Anwendung der Kategorien der Systemtheorien scheitert hier. Dennoch kann zwischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft unterschieden werden, und zwar in dem Sinne, dass Zugehörigkeit niemandem abgesprochen und entspre­ chend Mitgliedschaft nicht verweigert werden kann. Die Mitgliedschaft ist dann freilich mit Verpflichtungen verbunden. Aber sie zielen nicht auf Regelbefolgung, sondern sind Verpflichtung zur Anerkennung von Verfahren, die im Konfliktfall Entscheidungen herbeiführen. Die Mitgliedschaft erübrigt sich dann von alleine, wenn sich die Loyalität des Mitglieds anders orientiert, während auch in diesem Fall Zugehörigkeit nicht abgesprochen werden kann. Dass freilich Reformierte versucht waren, Kirche im Sinne dessen, was Grünberger Organisation nennt, im Interesse der Stabilisierung ihrer Binnenbeziehungen zu organisieren, bleibt freilich unbestrit­

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C. Sachlichkeit und Loyalität

Die scientific community ist eine sehr effiziente Interpretationsgemein­ schaft im Westen, und zwar in allen ihren Teilbereichen. Dass sie republi­ kanisch verfasst ist, auch dass sie republikanisch verfasst sein muss, gilt als selbstverständlich. Nicht umsonst spricht man von der scientific community auch als der Gelehrtenrepublik. Die akademische Freiheit kann aber nicht als Vorbild für republikanische Freiheit gelten, weil sie sich nicht ursprüng­ licher Übereinkunft verdankt, sondern gewährt worden war. Sie ist ständig in Gefahr. Sie hat keine Institutionen ausgebildet, die sie sichert. Und ab­ gesehen vom Streit der Fakultäten ist die Wissenschaft, das hat Weber richtig erkannt, anders Beruf als die Politik. Im Zusammenhang mit der Loyalität zur Interpretationsgemeinschaft, wie Royce sie in Problems of Christianity entwickelt hat, soll noch auf die Rezeptionstheorie verwiesen werden, die Interpretation so versteht, dass sie auf die herrschende Praxis der Interpretation zurückwirkt und Verknöche­ rung entgegenwirkt. Royce versteht nämlich Interpretationsgemeinschaft nicht so, dass sie sich ausschließlich um den ursprünglich intendierten Sinn einer Gründungsurkunde bemühte. Die ist in seinem Verständnis auch Inter­ pretation im Rahmen einer besonderen Situation. Dies gilt im Hinblick auf die Gründungsurkunden von Religionsgemeinschaften in besonderer Weise. Die interpretatorische Praxis der Interpretationsgemeinschaften ist im repu­ blikanischen Kontext daraufhin zu überprüfen, ob sie loyalty to loyalty be­ fördert. Das bedeutet nicht, dass die Traditionen entwertet würden. Die Rezeptionstheorie geht davon aus, dass Vergangenheit sich aus der vorma­ ligen Rezeption literarischer Werke rekonstruieren lasse, so dass Vergangen­ heit und ihre Rezeption auch nicht an Bedeutung verliere. Die Kirche z. B. ist die Kirche der Lebenden und der Toten, sie hat nicht nur lokale, sondern auch eine zeitliche Ausdehnung. Es gilt aber für alle Religionsgemeinschaf­ ten, die sich als Interpretationsgemeinschaften im Hinblick auf Heilige Schriften konstituieren: „It is, however a basic feature of the history of interpretation that questions once asked are not without influence when new ones are framed: they do not simply disappear from view, but turn into signs of a now blocked path of interpretation. The problems produced by old questions give rise to new ones, so that the old questions serve as pointers to new direction. (…) These questions could not have arisen had it not been for the old answers that they replaced. The latter, then, are not dead and buried but live on as a negative fountainhead for new questions.“53 ten. Aber dies geschah nicht im Hinblick, sondern unter Missachtung reformierter Theologie und gemahnt an die Widertäufer. Grünberger konzediert nämlich selber: „Im Bereich der (…) Stabilisierung findet sich das für die Systeme laufend gegebe­ ne Problem der Identitätssicherung gegenüber ihrer Umwelt.“ (Grünberger 1981, S. 18). Identitätssicherung ist aber gerade nicht das Anliegen reformierter Theologie. 53  Iser (2007), S. 59.



II. Republikanische Loyalität233

Die Loyalität zur Interpretationsgemeinschaft ist, wenn sie an einen tra­ dierten Text gebunden ist, nicht ungebunden gegenüber vergangener Ausle­ gung und ist zudem verpflichtet, ihre Interpretation so zu formulieren, dass sie die Möglichkeit zukünftiger Auslegung gestattet. Das impliziert den Widerspruch gegen die Auffassung, über Interpretation lasse sich die ur­ sprüngliche Intention eines Autors ermitteln. Es wird nicht behauptet, dass sie nicht mehr zu entbergen sei, es wird vielmehr geleugnet, dass es sie überhaupt gegeben habe. Wie Royce im Rekurs auf Peirce Interpretation triadisch versteht, tut es auch die Rezeptionstheorie: „Thus the author’s intention was replaced by the impact a piece of literature has on its poten­ tial recipient. (…) And finally, attention turned to the triadic relationship between author, text, and reader. Basically the focus switched from what the text means to what it does, and thus at a stroke relieved literary criticism of a perennial bugbear: namely, the attempt to identify the authors actual intention.“54 Es ist also im republikanischen Kontext auch darauf zu ach­ ten, welche Literaturtheorie die loyalty to loyalty befördert, welche sie nicht befördert, vor allem aber welche sie verstellt. Und das gilt besonders im Hinblick auf die Interpretation von so genannten Heiligen Schriften. Royce hat einen sehr präzisen Begriff von Interpretation, der mit dem der Rezep­ tionstheorie übereinstimmt und seine Wurzeln im reformierten Schriftprinzip hat. Das ist dem Umstand geschuldet, dass er ihn mit dem Konzept der loyalty to loyalty verknüpft hat als dem Geist, der, wie gezeigt, Bucer zu­ folge den Verstand zu leiten hat. Was nun die Entwicklung des Kontextes von Interpretation betrifft, auf die Interpretation zurückwirkt, also die dialektische Verwobenheit, schreibt Wolfgang Iser: „Every literary text normally contains selections from a variety of social, historical, cultural, and literary systems that exist as refe­ rential fields outside the text.“55 Iser unterscheidet zwischen System und Feld. Systemkonstruktionen reduzierten Felder in ihrer Komplexität. „We have to bear in mind that literary texts do not relate to contingent reality as such, but to systems through which the contingencies and complexities of reality are reduced to meaningful structures. The structures, however, are broken up and rearranged when selected features reappear in the text. The­ se rearrangements move the systems themselves into focus, so that they can be discerned as the referential field of the text.“56 In diesem Zusammenhang ist Isers Hinweis wichtig, dass Systeme, solange sie ihre regulative Funkti­ on in der Lebenswelt erfüllen, als Realität und damit als Selbstverständlich­ keit betrachtet werden und keinen Gegenstand der untersuchenden Beobach­ 54  Iser

(2007), S. 60. (2007), S. 60. 56  Iser (2007), S. 60 f. 55  Iser

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C. Sachlichkeit und Loyalität

tung darstellen. Literarische Texte reagierten auf diesen Sachverhalt: „This reaction is basically triggered by the system’s limited ability to cope with what it was set up to organize, thereby drawing attention to the deficien­cies of the system.“57 In diesem Zusammenhang sei noch angemerkt, dass Royce Loyalität zu einer verlorenen Sache, zu einer lost cause, besonders hochschätzt. Für Royce fördert der Misserfolg weniger den Intellekt als vielmehr die Phan­ tasie. Die Phantasie gebäre Lösungsvorschläge, die, abduktiv geprüft, neue Wege der Problemlösung beförderten. Die Interpretation seiner selbst müsse der Einzelne immer wieder einweben können in eine umfassendere Ge­ schichte, damit er seiner Loyalität Ausdruck verleihen könne. Das ist die Bedeutung dessen, was Lyotard die Großen Erzählungen genannt hat. Deren weitere Bedeutung hat er bestritten. Damit kann es nach Lyotard keine In­ terpretationsgemeinschaften mehr geben. Royce hätte das präziser formu­ liert, und unter Rückgriff auf die Rezeptionstheorie Wolfgang Isers ließe sich gegenüber Lyotard sagen: Nicht die Großen Erzählungen sind an ihr Ende gekommen, sondern die sie tragende Logik! Wolfgang Iser hat am Beispiel des Tristram Shandy von Laurence Sterne aufgezeigt, wie eine als selbstverständlich geltende Logik literarisch heraus­ gefordert worden ist: „The Lockean system of empiricism was the predomi­ nant thought system in eighteenth-century England. The system is based on a number of selective decisions regarding the acquisition of human know­ ledge, which was of increasing concern at the time in view of the general preoccupation with self-preservation. The dominance of this system can be gauged from the fact that existing systems endeavored to adapt themselves and so were relegated to subsystems. This was especially so with regard to theology, which accepted empirical premises concerning the acquisition of knowledge through experience, and so continually searched for natural ex­ planations of supernatural phenomena. By thus subjugating theological systems, empiricism extended the validity of its own assumptions. However, it is in the nature of a system that it gains its stability by excluding other possibilities. In this case the possibility of an a priori knowledge was ne­ gated, and this meant that knowledge could only be acquired subjectively. The advantage of such a doctrine was that knowledge could only be gained from the individual’s own experience; the disadvantage was that all tradi­ tional postulates governing human conduct and relationships had to be called into question. (…) Locke solved the problem of how humans acqui­ re knowledge from their experience, but in doing so he created the new problem of find­ing a possible basis for human conduct and relation. (…) 57  Iser

(2007), S. 61.



II. Republikanische Loyalität235

The association of ideas was, then, one of the dominant features of the empirical system. In Tristram Shandy, this basic norm is selected, and held up for inspection. The association of ideas becomes an ideé fixe, thus de­ manding a recodification of the whole basis of the empirical system. Sterne brings to the fore the human dimension that had been glossed over in Locke’s system.“58 Es ist schon verwunderlich, dass der methodische Individualismus weder von neoliberalen Vordenkern noch ihren Kritikern logisch begründet wird, aber dennoch vorherrscht. Denn die Kritik seiner logischen Unzulänglich­ keit begleitet ihn schon, seit es ihn gibt. Die Alternative ist auch keineswegs Kollektivität. Bei Royce entspringt die Reflexion aus der identitätsstiftenden schlechthinnigen Abhängigkeit des Kindes wenn nicht von Gott (Schleiermacher), so doch von den Eltern. Aber die Reflexion über die Aneignung der Sprache überwindet dieses Gefühl und öffnet den Blick für andere Konventionen, die Gegenstand der vernünftigen Anerkennung werden. Royce gehört nicht der Tradition der Vertragstheorie an, denn das Individuum, die Vorstellung der Individualität, ist für ihn sozial vermittelt. Royce ist aber auch kein Roman­ tiker. Die Gemeinschaft, das Soziale, ist logisch vorgängig, ohne sozial vorrangig zu sein. Die Gesellschaft hat zur Aufgabe, über Sozialisierung das Individuum hervorzubringen anstatt es zu vergemeinschaften. Nur Individu­ en sind als Träger der Loyalty to Loyalty denkbar. Der absolute Idealismus von Royce hat Individualismus zum Ziel, aber einen Individualismus, der nicht vom Individuum als einem Naturwesen, sondern vom sozialen Allge­ meinen ausgeht, dem er ein höheres Sein zuspricht als dem Einzelnen, weil es den Einzelnen erst hervorbringt. Royce geht es nicht um Gemeinschaft, sondern um Gesellschaft: „I doubt not that such a view of human life, – such an assertion that the social will is a concrete entity, just as real as we are, and of still a higher grade of reality than ourselves, – will seem to many of you mythical enough. Yet thus to view the unity of human life is, after all, a common tendency of the loyal. (…) That such a view need not be mythical, that truth and reality can be conceived only in such terms as these, that our philosophy is a rational part of a philosophy which must view the whole world as one unity of consciousness, wherein countless unities are synthe­ sized, – this is a general philosophical thesis“.59 Und an anderer Stelle: „We want more individuals and more rational individualism; but the only ethical use of an individual is to be loyal. He has no other destiny.“60 58  Iser

(2007), S. 61 f. (2005), S. 979. 60  Royce (2005), S. 943. 59  Royce

Schluss Die vorliegende Untersuchung ist eine Interpretation des reformierten Denkens im Sinne der Rezeptionstheorie. Sie will nicht aufzeigen, was re­ formierte Theologie ursprünglich war, sondern wie sie heute verstanden werden kann, und dass diese Verständnis von Rezeption sich der reformier­ ten Theologie selber verdankt. Diese Theologie ist wesentlich Hermeneutik und unterscheidet sich darum von Theologie, die wesentlich Dogmatik ist. Sie wird entsprechend von einer anderen Logik beherrscht. In der Bibelaus­ legung, getragen von der Vorgabe, dass sich die Schrift selber interpretiert, wird die Bibel zwar als Kanon aufgefasst, als eine Sammlung von Schriften, die sich auf einander beziehen lassen, aber in ihrer Beziehung keine fest zu behauptende theologische Wahrheit im Sinne einer immerwährenden Bedeu­ tung enthalten. Man kann es auch so formulieren, dass die Anordnung des Kanons das sogar ausschließen soll. Der Gott der Bibel ist nicht Substanz, sondern Subjekt, und das macht seine Lebendigkeit aus. Er ist nicht mit sich identisch. Er ist hineingenommen in die Interpretationsgemeinschaft. Im Licht der paulinischen Auferstehungstheologie ist er diese Interpretationsge­ meinschaft. Die kirchliche Republik hat als Interpretationsgemeinschaft ihre Verfas­ sung in der Schrift, deren Interpretation ihr Sein ist. Die Interpretation ist an die Schrift gebunden. Sie folgt dem Prinzip, dass sich die Schrift selber interpretiert. Die republikanische Freiheit der Kirche ist Gebundenheit an die Schrift. Reformierte Gemeinde ist als Interpretationsgemeinschaft kons­ tituiert. Die Philosophie der Aufklärung hat das irritiert. Sie misstraut der Interpretation und möchte den anthropomorphen Gott der Bibel durch einen abstrakten, mit sich selber identisch bleibenden Gott ersetzen. Aber der Gott der Bibel ist der menschgewordene Gott, der nicht auf Bilder, sondern auf Rede angewiesen ist. Er schließt Verträge, zeigt sogar Emotionen. Er wider­ spricht sich in dem Sinn, dass er sich zurücknimmt, an entscheidender Stelle in Gen 4, 15!1 Er befreit zur Interpretation. Im Verlauf der Aufklärung hat sich das Verständnis durchgesetzt, der Gott der Philosophen stelle ge­ genüber der biblischen Gottesvorstellung einen Fortschritt dar. Der Titel des Buches von Wilhelm Nestle Vom Mythos zum Logos scheint dem Ausdruck 1  Entgegen der ursprünglichen Absicht, Kain wegen des Brudermordes an Abel zu bestrafen, stellt Gott nach Kains Protest, die Strafe (gemäß der Übersetzung der Zürcher Bibel nicht seine Schuld!) sei zu groß, ihn unter besonderen Schutz.

Schluss237

zu verleihen. Allein es könnte auch umgekehrt sein. Nestles Buch versteht unter dem Logos nicht die platonisch-aristotelische Metaphysik, sondern die Sophistik, die auf der Seite der Interpretation steht und wesentlich Rhetorik ist. Ihr ordnet Nestle auch Sokrates zu. Vieles deutet darauf hin, dass der Gott der Bibel im Unterschied zum Gott der Philosophen nicht der ur­ sprünglichere Gott ist, der im Fortschritt des Denkens zu entmythologisieren wäre, sondern umgekehrt, dass der Gott der Philosophen ursprünglicher ist und vom biblischen Gott im Namen der Freiheit herausfordert wird. Die sogenannte natürliche Theologie heißt nicht umsonst so. Sie liegt in der Natur des Menschen als einem Vernunftwesen. Die Offenbarungstheologie setzt den Menschen als Götzenfabrik voraus. Sie befreit ihn in die Interpre­ tation, die sich nicht von Vormündern diktieren lässt, sondern Voraussetzung für Mündigkeit ist. Die vorliegende Untersuchung versteht sich als eine Propädeutik des politischen Liberalismus. Im Kontext eines antiken republikanischen Selbstverständnisses, das im­ mer wieder in die Krise geriet, entstanden im Judentum literarische Zeug­ nisse republikanischer Reflexion, die im Alten Testament überliefert sind. Das Neue Testament reflektiert die Verfasstheit von Macht im Ausgang der römischen Republik und im Hinblick auf die Formierung einer neuen Machtverfassung, die Republik und Monarchie zu vereinbaren suchte. In der Zeit dieser Unentschiedenheit, der Krise des römischen politischen Den­ kens, organisierte Paulus eine Interpretationsgemeinschaft, die den fragwür­ dig gewordenen Begriffen, die das Weltverständnis bisher geleitet hatten, eine neue Semantik verlieh. Paulus ging es nicht darum, dieser Interpreta­ tionsgemeinschaft eine Verfassung zu geben, vielmehr ging es ihm um die Dynamisierung ihrer Ausbreitung. Er wandte sich darum gegen die Versu­ che, in den Gemeinden Identität über die jüdische Tradition oder heidnische philosophische Traditionen abzusichern. Mit dem Niedergang des Imperiums veränderte sich der Resonanzraum der Interpretation. Erst jetzt entstand Theologie im klösterlichen Rückzugsraum. Mit den Gregorianischen Refor­ men kam sie erneut zur Welt und zog in die Universitäten der Städte. In der Zeit der Reformation war sie dann wieder auf den Straßen und Plätzen angekommen. Stets veränderte sie den Raum, in den sie sich ausbreitete. Die Philosophen hätten die Welt nur anders interpretiert, es komme aber darauf an, sie zu verändern.2 So heißt die früher einmal vielzitierte elfte Feuerbachthese von Marx. Seit der Sprechakttheorie lässt sich nun besser belegen, dass Denken über Sprechakte, die Verfahren begründen, ein ihnen 2  „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.“ (Marx 1969, S. 7).

238 Schluss

entsprechendes Handeln befördern und ein störendes Handeln unterbinden oder zumindest behindern können und dass Denken die Welt verändert. Staatsdenken ist dem gemeinen Verstand nach Denken über den Staat, und der ist dem vordergründigen Verständnis nach kein Denken, sondern ein dem Denken gegebener Gegenstand mit Realität. Aber Staat ist nichts an­ deres als ausgesprochenes und öffentlich anerkanntes Denken, das sich in Verfahren formalisiert, die einer Logik unterliegen, in die sich das Denken des Einzelnen eingliedert und dem es sich anpasst. Das ist letztlich auch der Sinn einer schulischen Sozialisation unter staatlicher Aufsicht. Werden die öffentlichen Verfahren als Staat anerkannt, dann entspricht dieser Logik zum Beispiel die Vorstellung, es gebe den Staat als Substanz, der seinen Bürgern über die Verfahren Existenzsicherung zu garantieren vermag. Die­ sem Denken entspricht eine Ethik, die von den vereinzelt gedachten Bürgern Staatstugenden auszubilden einfordert. Fataler Weise bildet diese Logik aber auch eine Handlungslogik aus, die in die Selbstzerstörung führt. Die Liberalität der westlichen Gesellschaften ist heute in die Defensive geraten. Das ist angesichts dessen verwunderlich, dass nicht wie in den späten zwanziger und dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Wirt­ schaftskrisen Massenelend haben aufkommen lassen. Jene, die sich antilibe­ ral aufführen, sind keineswegs sozial verelendet. Während das vorliegende Buch entstand, wurde Donald Trump Präsidentschaftskandidat der Republi­ kaner, entschied Großbritannien über ein Referendum, aus der EU auszutre­ ten, gewannen populistische Parteien in westlichen Gesellschaften wachsen­ de Zustimmung, wurden republikanische Errungenschaften in osteuropäi­ schen Staaten wie Ungarn und Polen in Frage gestellt, im Namen der De­ mokratie und mit Unterstützung weiter Teile der Öffentlichkeit in der Türkei sogar kassiert. Die russische Autokratie findet in Europa Bewunderer und auch Nachahmer. Das alles geschieht im Namen einer wie auch immer phantasierten eigenen Identität. Da erscheint es geradezu grotesk, dass der Islamismus die westlichen Gesellschaften nicht mit eigens dafür ausgebilde­ tem Personal bedroht, was noch den Terrorismus der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts kennzeichnete, er kann vielmehr auf Jugendliche zu­ rückgreifen, die den Identitätswahn soweit vorantreiben, dass sie vermeinen, Identität nur durch Selbstvernichtung gewinnen zu können. Wir kommen zweimal zur Welt. Zum Zeitpunkt unserer biologischen Geburt waren wir noch nicht. Die Integration in die Sprache bringt uns erst zu uns selbst. Im Übergang von der Gemeinschaft in die Gesellschaft ge­ winnen wir Individualität aus gesellschaftlichem Zuspruch. Sie verpflichtet uns gegenüber der Gesellschaft. Dieser Pflicht entsprechen wir im Eigen­ interesse mit republikanischer Gesinnung. Republik ist keine Staatsform, sondern zunächst nur die sich selbst bewusste Gesellschaft in der Summe

Schluss239

der möglichen Beziehungen, die ihre Mitglieder unabhängig von staatlicher Vermittlung und damit Verwaltung einzugehen vermögen. Diese sich selbst bewusste Gesellschaft ist auch unser individuelles Sein, das uns frei macht, die Beziehungen einzugehen, die wir eingehen wollen. Die Explikation der Begriffe Freiheit, Interpretation, Loyalität, Überein­ kunft und Kompromiss folgte in der vorliegenden Untersuchung der Logik einer bestimmten Ausprägung der reformierten Theologie, für die maßgeb­ lich der Name Martin Bucers steht. Seine Hermeneutik war antidogmatisch ausgerichtet. Bucers Theologie sollte im Hinblick auf Religionspolitik im republikanischen Kontext mehr Gehör geschenkt werden. Wenn in der ­Politikwissenschaft im Hinblick auf republikanisches Denken die Idee des Weltbürgertums an Aufmerksamkeit gewinnt, ist vielleicht weniger an die NGOs zu denken, die oft wie internationale Konzerne auftreten, als viel­ mehr an die Religionsgemeinschaften. Aus republikanischer Perspektive gebührt m. E. der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen eine besondere Aufmerksamkeit. Abschließend danke ich noch Lutz Stössel für seine sehr gründliche Durchsicht des Manuskripts. Sollten noch Fehler auftreten, so sind sie nicht ihm anzurechnen, sondern mir, der ich den Text vor der Drucklegung noch einmal abschließend redigiert habe.

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Sachregister aequitas  115, 116 Allgemeinwohl  24, 30 Alphabet  98 Amok  32, 51 Amtskirche  70, 137, 141, 149, 150, 231 analogia entis  147 analogia fidei  131, 147 animal sociale  201 arbitrium  103, 104, 105, 106 Athen  50, 59 Aufklärung  18, 26, 28, 37, 58, 59, 61, 72–75, 79, 84, 85, 95, 97, 105, 140, 162, 166, 222, 236, 245, 246 Augenmaß  214, 218 Augsburg  179, 241 Ausnahmezustand  12, 68 Beamte  26, 207, 219 berit  110 Beruf  67, 204–207, 210, 211, 213, 215, 218, 220, 232, 250 Besitz  11, 14, 23, 34, 46, 49, 122, 183 bourgeois  13, 15, 16, 40, 189 Bund  46, 48, 64, 65, 107, 112, 141 Bundestreue  48, 59, 60, 62, 167 Bürgerkrieg  55, 82, 100 Cambridge  186 citoyen  13, 15, 16, 74, 189 confessio  83, 112, 113, 176 contemporary originalists  111 Demokratie  20, 25, 33, 47, 55, 66, 70, 78, 79, 81, 99, 114, 129, 147, 205, 208, 212, 213, 238, 242, 243, 246, 248, 250 Dezision  187, 243

Dogmatik  38, 78, 87, 121, 125, 126, 130, 132, 168, 220, 236 dominium  11, 121 Eigentum  11–14, 23, 25, 34, 40, 46, 47, 64, 122, 137, 183 Ekklesiologie  37, 109, 124, 136, 160, 168, 181, 185 Entzauberung  23, 27, 37, 38, 209 eris  203 Ethik  17, 26, 34, 37–39, 43, 57, 66, 80, 95, 96, 101, 142, 197, 202, 216, 238, 245 ethos  41, 50, 215, 219, 231 Exodus  46, 48, 57, 75, 240 fides  61–64, 83, 112, 113, 119, 176 Föderaltheologie  46 fortuna  60, 61, 63 Frankreich  25, 51, 70, 143, 152–154, 199, 203, 210, 211, 213, 218 Geld  35, 40, 98, 137, 138 Genf  95, 112– 114, 125, 184, 203, 248, 249 Gettysburg  20 Habsburg  152–154, 156, 176 Heiden  29, 69, 107–110 Hermeneutik  38, 88, 96, 121, 124–126, 130–132, 164, 187, 209, 236, 239, 245, 246 Heroismus  41, 49 Hessen  118, 150, 152, 154, 156, 158, 159, 176, 185, 249 homo oeconomicus  31 Humanismus  18, 60, 61, 63, 64, 65, 98, 124, 140, 145, 161, 178

Sachregister253 Idealismus  26, 75–79, 129, 220–222, 224, 225, 235 Interessen  14, 20, 23–25, 33–35, 45, 51, 53, 74, 77, 99, 177, 202, 214 Interessenkonflikte  14, 46 Interpretationsgemeinschaft  49, 95, 119–124, 129, 130, 132, 182, 200, 226, 227, 229, 230, 232, 233, 236, 237 Juden  29, 107–110, 114, 117, 157, 186 Judenmission  107 Kaiser  136, 145, 150, 152–154, 186, 244 Kapitalismus  11, 17, 23, 27, 31, 32, 34, 37–40, 46, 70, 95, 96, 207, 248 Kassel  175–177 kenosis  33–35, 44, 182 Kirchenzucht  157, 160, 186 kommissarische Diktatur  12, 68, 69 Kompromisse  150, 155, 159, 161, 175, 177, 183, 185, 187, 188, 194, 195, 198, 199, 246 Kredit  35, 47 Krieg  19, 51, 52, 61, 81, 82, 84, 88, 93, 186, 189, 195, 200, 203, 213, 218, 246, 247, 250 Kriminalerzählung  193 Kulturprotestantismus  58, 96, 97 Kursachsen  152, 155, 156, 176, 185 Leuenberger Konkordie  173, 175 manducatio impiorum  161 Marburg  152, 154–156, 158, 159, 161, 162, 164, 167, 171–174, 176, 177, 180, 185, 186 Maryland  100 Misstrauen  79, 163, 176, 192, 194, 223 Mitgliedschaft  39, 181, 183, 229–231 Mündigkeit  97, 128, 237 Neutralisierung  18, 19, 37, 39, 45, 85, 101, 129, 130, 131, 161, 177, 216, 217

Öffentliche Theologie  26 Pennsylvania  101 polemos  203 possessio  11, 121 postheroisch  218 Prädestinationslehre  110, 164, 168, 169, 181, 183 Pragmatismus  43, 72, 97, 129, 140, 147, 157, 220–222, 224, 225, 228 pragmatizistisch  225 Priesteramt  26, 160 primus usus  115 providentia  60 Rechtsgleichheit  14, 16, 44, 45, 48, 110, 114, 117, 180, 200 Rechtsstaat  9, 10, 13, 94, 99, 112, 193, 248, 249 Reichstag  151, 153, 174, 179 Rezeptionstheorie  126, 128, 131, 232–234, 236 Risiko  19, 53 Sachlichkeit  71, 205–208, 211, 213–215, 218, 220 säkular  54 säkularisiert  58 Säkularisierung  38, 58, 101 Schöpfungsordnung  65, 66, 69 Scriptura sui ipsius interpres  119 Selbstmordattentat  30, 32 simul iustus et peccator  117, 128, 164 sola fide  95, 118 sola gratia  95, 120 sola scriptura  95, 118, 120 solus Christus  95, 118 souveräne Diktatur  12, 68, 69 Sozialstaat  9–11, 13, 99 Sparta  49, 50, 59 Speyer  153 Staatsräson  24, 246 Staatsverfall  19 Straßburg  57, 125, 153, 160, 168, 179, 241

254 Sachregister tertius usus  67, 112, 115 totaler Staat  19 Transsubstantation  150 Transsubstantiationslehre  147, 150, 159, 161

via moderna  140, 150, 160 virtù  61–63, 95 volonté générale  167, 183, 195, 198 voluntas  103, 105, 106, 227

ursprüngliche Übereinkunft  119, 165–167, 182, 183, 188, 192, 199, 203, 228, 229 usus elenchticus  112 usus paedagogicus  114 usus politicus  112, 114–119

Werte  14, 30, 33–35, 45, 129, 196, 218, 249 Wien  155 Wittenberg  56, 158, 176, 184 Wittenberger Konkordie  176, 185 Worms  56, 151, 153, 247

Verfassungsbegriff  67, 120 Vertrauen  20, 35, 137, 163, 172, 192, 193, 242 Verzauberung  26, 209 via antiqua  140, 161

zoon politikon  201 Zugehörigkeit  39, 110, 148, 160, 174, 181, 182, 230, 231 Zürich  125, 158, 160, 176, 240, 241, 245, 250