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German Pages 570 [571] Year 2020
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Band 51
Protestantischer König im Heiligen Reich Brandenburg-preußische Reichs- und Konfessionspolitik im frühen 18. Jahrhundert
Von Renate Wieland
Duncker & Humblot · Berlin
RENATE WIELAND
Protestantischer König im Heiligen Reich
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Begründet von Johannes Kunisch, fortgeführt von Wolfgang Neugebauer Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Prof. Dr. Hans-Christof Kraus und Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll
Band 51
Protestantischer König im Heiligen Reich Brandenburg-preußische Reichs- und Konfessionspolitik im frühen 18. Jahrhundert
Von Renate Wieland
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda-Henkel-Stiftung Die Philosophische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. hat diese Arbeit im Jahr 2016 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Satz: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0943-8629 ISBN 978-3-428-15267-4 (Print) ISBN 978-3-428-55267-2 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2016 bei der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation eingereicht. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Bei der Entstehung dieser Arbeit wurde ich von vielen Institutionen und Menschen unterstützt, denen ich meinen Dank aussprechen möchte: Der Gerda-HenkelStiftung sowie der Studienstiftung des deutschen Volkes danke ich für die finanzielle Unterstützung. Den damaligen Direktoren des Instituts für Europäische Geschichte, Prof. Dr. Heinz Duchhardt und Prof. Dr. Irene Dingel, danke ich für einen anregenden sechsmonatigen Studienaufenthalt in Mainz im Jahr 2010. Im Rahmen des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit hatte ich mehrfach die Gelegenheit, mein Forschungsprojekt vorzustellen – dafür möchte ich stellvertretend Prof. Dr. Anette Baumann und Dr. Eva Ortlieb danken. Bei meinen Recherchen im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin und im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien habe ich große Unterstützung durch die dortigen Mitarbeiter erfahren. Hierfür möchte ich mich stellvertretend bei Stephan Utpatel (Berlin) und Hofrat Dr. Ernst Petritsch (Wien) bedanken. Ein besonderer Dank gilt zudem dem „Aushebe-Team“ im Geheimen Staatsarchiv Berlin, das teilweise geradezu detektivische Arbeit für mich geleistet hat. Viele wichtige Hinweise für die Archivarbeit sowohl in Wien als auch in Berlin verdanke ich Dr. Tobias Schenk, der meiner Arbeit stets großes Interesse entgegengebracht hat und sich im selben Maße für Friedrich Wilhelm I. wie für den Reichshofrat begeistern konnte. Wesentliche Teile des Manuskripts wurden in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel sowie in der Bodleian Library Oxford verfasst. Den dortigen Mitarbeitern möchte ich für ihre Unterstützung bei der Suche nach teilweise recht entlegenen frühneuzeitlichen Publikationen danken. Ein besonderer Dank gebührt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Ronald G. Asch, der meine Arbeit über die Jahre und teilweise große Distanzen hinweg begleitet hat. Herzlich danken möchte ich auch Prof. Dr. Gabriele Haug-Moritz für die vielen wichtigen Anregungen, ihr nie nachlassendes Interesse und nicht zuletzt für die Bereitschaft, als Zweitgutachterin zu fungieren. Prof. Dr. Ronald G. Asch, Prof. Dr. Gabriele Haug-Moritz sowie Prof. Dr. Achim Aurnhammer als Mitgliedern der Verteidigungskommission sei zudem für ihre Fragen und Anregungen im Rahmen eines äußerst angenehmen „Prüfungsgesprächs“ gedankt.
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Vorwort
Ich danke den Herausgebern der Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, namentlich Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer, für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe. Der Gerda-Henkel-Stiftung danke ich für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Kritisch gelesen und kommentiert haben das Manuskript mein Schwiegervater Prof. Dr. Georg Wieland und meine Mutter Dr. Hella Adam. Ihnen und ihren jeweiligen Ehepartnern möchte ich für ihre durchgängige Unterstützung und ihr Interesse an dieser Arbeit (und ihrer Fertigstellung!) herzlich danken. Allen voran danke ich meinem Mann Christian Wieland. Er war über alle Jahre hinweg der geduldigste Zuhörer, kritischste Gesprächspartner und gründlichste Lektor. Renate Wieland
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Brandenburg-Preußen und das Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 II. Reich und Konfession nach 1648 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 III. Brandenburg-Preußen – Konfession – Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 IV. Zur Eingrenzung des Themas und zum Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 B. Brandenburg-preußische Konfessionspolitik in der Kurpfalz bis zum Ende des Spanischen Erbfolgekrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 I. Die konfessionelle Entwicklung in der Kurpfalz 1680 bis 1705 . . . . . . . . . . . . . 56 II. Das brandenburg-preußische Engagement in der Kurpfalz bis 1715 . . . . . . . . . . 58 1. Die reformierten Verbindungen zwischen Kurpfalz und Brandenburg-Preußen 60 2. Die konfessionelle Patronage in der Regierungszeit Friedrichs III./I. . . . . . . 62 a) Die Intervention des Corpus Evangelicorum 1698–1700 . . . . . . . . . . . . . 64 b) Die Behandlung der evangelischen Religionsgravamina 1700–1705 . . . . 72 c) Die brandenburg-preußische Konfessionspolitik in der Kurpfalz 1705 . . 78 d) Krone und Konfession: Der Streit um den reformierten Gottesdienst in der Reichsstadt Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 e) Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 f) Die Folgen der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik von 1705 . 97 g) Die Friedensschlüsse von Utrecht, Rastatt und Baden . . . . . . . . . . . . . . . 119 III. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung und Konfessionskonflikt . . . . . . . 129 I. Die Entwicklung des Corpus Evangelicorum und seiner Principia bis 1715 . . . 132 II. Brandenburg-Preußens Verhältnis zum Reichshofrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 III. Kaiserliche Reichspolitik und Brandenburg-Preußens agrandissement . . . . . . . 162 IV. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 D. Brandenburg-Preußen und das Reich im Zeichen der konfessionellen Krise . . 182 I. Konfessionelle Schmähschriften: Die Fälle Usleber und Thomasius . . . . . . . . . 182 II. Zwischen Berlin, Rom und Wien: Die katholischen Minderheiten in Magdeburg, Minden und Halberstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
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Inhaltsverzeichnis 1. Fiskalpolitische Streitsachen vor dem Reichshofrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 a) Das Kloster Hamersleben contra den König in Preußen I . . . . . . . . . . . . . 199 b) Das Kloster Hamersleben contra den König in Preußen II . . . . . . . . . . . . 204 2. Der brandenburg-preußische Summepiskopat und die Kirchenpolitik gegen über den katholischen Untertanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 3. Geistliche Streitsachen vor dem Reichshofrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 a) Das Kloster Hamersleben contra den König in Preußen III . . . . . . . . . . . 221 b) Das Domkapitel von Halberstadt contra den König in Preußen . . . . . . . . 226 III. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien. Brandenburg-preußi sche Reichspolitik vom Beginn des Religionsstreits bis zur Allianz mit dem Kaiser (1715–1728) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 I. Brandenburg-Preußen und das Kaisertum. Zwei Denkschriften aus dem frühen 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 II. Brandenburg-preußische Reichspolitik im Kontext der konfessionspolitischen Krise (ca. 1715–1724) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 1. Innerevangelische Positionierungen I: Brandenburg-Preußen und die Pfälzer Reformierten bis zum Beginn des Religionsstreits (ca. 1715–1719) . . . . . . . 259 2. Brandenburg-Preußen und die Formierung des Corpus Evangelicorum 1719/20 282 3. Der Konflikt mit dem Kaiser I (1719–1720) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 a) Der Fall Bylandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 4. Innerevangelische Positionierungen II: Konfessionelle Patronage und die Bemühungen um eine evangelische Union (ca. 1719–1724) . . . . . . . . . . . . . 326 a) Bemühungen um eine innerevangelische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 5. Die Reichspolitik Brandenburg-Preußens während der Religions- und Verfas sungskrise – Ziele und Prioritäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 a) Die reichspolitische Zusammenarbeit mit England-Hannover . . . . . . . . . 347 b) Der Kampf für eine souveräne Landesherrschaft. Die Auseinandersetzung mit dem Reichskammergericht über die Landesherrschaft im Geistlichen 362 6. Der Konflikt mit dem Kaiser II: Höhepunkt und Wiederannäherung (ca. 1721–1723) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 III. Von der Religions- und Verfassungskrise zum Herrenhauser Bündnis (ca. 1723– 1725) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 1. Versuche zur Wiederbelebung der gesamtevangelischen Reichspolitik . . . . 397 2. Brandenburg-preußische Reichspolitik im Kontext des Herrenhauser Bünd nisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
Inhaltsverzeichnis
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IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin. Die Beziehungen zwischen Wien und Berlin 1724–1728 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 1. Politische Annäherung zwischen Berlin und Wien 1724–1727 . . . . . . . . . . . 414 2. Kaiserliche Reichspolitik im Zeichen der Kriegsgefahr: Die Suche nach Alli ierten und die Bedeutung der Religionsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 3. Die Berliner Mission des Grafen Wurmbrand 1727 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 4. Die Bündnisverhandlungen 1727 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 a) Der Konflikt um die Herrschaft Zwingenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 5. Die Verständigung zwischen Berlin und Wien und die Konsequenzen für die evangelische Reichspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 6. Die letzte Phase der Verhandlungen und der Abschluss des Berliner Vertrags 1728 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 V. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Exkurs: Konfession als Paradigma für die Beziehungen zwischen BrandenburgPreußen und dem Kaisertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 I. Das so genannte „Stralendorfsche Gutachten“ und seine Renaissancen . . . . . . . 466 II. Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 1. Das ursprüngliche Gutachten aus dem 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 2. Die Publikationen des 18. Jahrhunderts als „Discursus Politicus“ . . . . . . . . . 472 III. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 1. Das „Stralendorfsche Gutachten“ im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 2. Die Publikation des „Discursus politicus“ von 1718 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 3. Die Ausgabe des „Discursus Politicus“ von 1727 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 4. Die Ausgabe des „Discursus Politicus“ von 1759 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 F. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 I. Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 II. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 III. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566
Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen für Zeitschriften richten sich nach den Richtlinien der Historischen Zeitschrift. ADB Den. rec. EStC
Allgemeine Deutsche Biographie Denegata recentiora Europäische Staats-Cantzley: darinnen zum Behuff der neuesten politischen-, Kirchen- und Reichshistorie was sowohl in Religions-Angelegenheiten merckwürdiges vorgefallen als in Staats- und Reichs-Geschäfften vor kurztem abgehandelt worden und zum Vorschein gekommen ist / in richtiger Ordnung vorgetragen und ohnparteyisch mitgetheilt von Anton Faber, hrsg. v. Leucht, Christian Leonhard, 115 Bde., Nürnberg u. a. 1698–1751. Fasz. Faszikel GStA PK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz HA Hauptabteilung HHStA Haus-, Hof- und Staatsarchiv IPO Instrumentum Pacis Osnabrugensis MEA Mainzer Erzkanzlerarchiv NDB Neue Deutsche Biographie N. F. Neue Folge Rep. Repositur RHR Reichshofrat RK Reichskanzlei RKG Reichskammergericht Vorträge Vorträge des Reichsvizekanzlers Vota Vota ad imperatorem Zedler, Johann Heinrich, Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Zedler Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Halle / Leipzig 1731–1754.
A. Einleitung In der jüngsten Gesamtdarstellung zur preußischen Geschichte hat Christopher Clark mit Blick auf die Reichspolitik Friedrichs des Großen während des Siebenjährigen Krieges die Suggestiv-Frage gestellt: „Wie hätte eine protestantische Macht wie Preußen die Struktur des Reiches besser zu ihrem eigenen Vorteil nutzen können, als dadurch, dass sie sich als Schutzherrin aller Protestanten in den deutschen Ländern definierte?“1 Clark kommt zu dem Schluss: „Die preußische Propaganda baute also auf die traditionelle Stärke der hohenzollerischen Konfessionspolitik und suchte Preußens Anspruch auf Vertretung der umfassenderen ‚protestantischen Sache‘ zu untermauern.“2 Indem er darauf verweist, dass Brandenburg-Preußen im Siebenjährigen Krieg die Struktur des Reiches (also die in der Reichsverfassung angelegte Verbindung politischer und konfessioneller Teilhaberechte) zu nutzen vermochte und sich gleichzeitig als „Schutzherrin aller Protestanten“ positionierte, benennt Clark zwei Entwicklungen, die unter Friedrich dem Großen zweifellos ihren Höhepunkt erreichten, deren Ursprünge aber wesentlich weiter zurückliegen. Neben den machtpolitischen Veränderungen, die Brandenburg-Preußen in der Mitte des 18. Jahrhunderts zur „zweiten Macht im Reich“ aufsteigen ließen, konnte Friedrich der Große offensichtlich auch erfolgreich auf (konfessions-)politische Traditionen zurückgreifen. Diese Feststellung gilt in zweifacher Hinsicht: sowohl mit Blick auf die konsequente Ausnutzung der paritätischen Reichsverfassung und des konfessionellen Gegensatzes im Sinne einer primär gegen Österreich bzw. das Kaisertum gerichteten evangelischen Oppositionspolitik als auch bezüglich des konfessionellen „Image“ Brandenburg-Preußens als der evangelischen Führungsmacht im Reich schlechthin. Die Entwicklung beider Aspekte im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert zu verfolgen, bezeichnet das Thema dieser Arbeit. Es stehen mithin zwei Prozesse im Zentrum der folgenden Untersuchung: 1. Die vorliegende Studie untersucht die Entstehung jener reichspolitischen Strukturen, die es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Friedrich dem Großen erlauben sollten, so erfolgreich mithilfe der evangelischen „Partei“ auf dem Reichstag, des Corpus Evangelicorum, zu agieren. Für die Entstehung dieser „Partei“ im Sinne einer zumindest zeitweilig geschlossen agierenden Einheit sämtlicher evangelischer Reichsstände war es notwendig, dass sich die Protestanten auf eine kongruente Auslegung des Religionsrechts festlegten und – damit verbunden – die innerevangelischen Gegensätze zwischen Lutheranern und Reformierten zumindest 1
Clark, Preußen, S. 260. Ebd., S. 261.
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A. Einleitung
bis zu einem gewissen Grad überwanden. An diesem Prozess wirkte Brandenburg-Preußen als eine der wichtigsten evangelischen Mächte im Reich mit; gleichzeitig hatte die Verfestigung der Strukturen des Corpus Evangelicorum und der von ihm vertretenen Rechtsgrundsätze auch Rückwirkungen auf die Politik Brandenburg-Preußens gegenüber Kaiser und Reich. 2. Eine zentrale These dieser Arbeit lautet, dass sich im Zuge dieser Entwicklungen auch die Rolle Brandenburg-Preußens als konfessionelle Schutzmacht im Reich insofern veränderte, als die Tatsache, dass sich die Dynastie zur reformierten Konfession bekannte, für das konfessionspolitische Selbstverständnis wie auch für die Fremdwahrnehmung allmählich in den Hintergrund rückte. Die vorliegende Untersuchung wird diesen Problemen für die Zeit vor 1740, genauer: in den Jahren von 1697 bis 1728, nachgehen. Dabei wird im Zentrum die brandenburg-preußische Konfessionspolitik in der Kurpfalz stehen, anhand der – so die Hypothese, die es einzulösen gilt – exemplarisch eben diese beiden Teilfragen untersucht werden sollen: einerseits die Konfessionspolitik der preußischen Könige und brandenburgischen Kurfürsten im Sinne einer anti-katholischen und potentiell immer auch gegen das katholische Kaisertum gerichteten Oppositionspolitik, die zunehmend im Rahmen des Corpus Evangelicorum stattfand; und andererseits die Frage nach der spezifischen Ausrichtung dieser „evanglischen“ Schutzpolitik im Sinne einer tendenziell reformierten Klientel-Politik – oder aber einer Patronage zugunsten der „protestantischen Sache“ schlechthin. Die Annäherung an das Thema erfolgt gleichsam von „oben nach unten“, also von den größeren Forschungsfeldern hin zum enger umrissenen Untersuchungsbereich. Dafür werden zunächst jene beiden Kontexte beleuchtet, in die die Fragestellung hineinragt: Den ersten Komplex bildet die Geschichte der Beziehungen Brandenburg-Preußens zum Reich und seinen Institutionen (A. I.). Den zweiten Forschungskontext stellt die Geschichte des Reichsverbandes nach 1648 dar, genauer: die Bedeutung des Konfessionellen für das Reichssystem seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (A. II.). Auf dieser Grundlage wird die brandenburg-preußische Konfessionspolitik im Rahmen des Reiches und in ihren Wirkungen auf das Reich besprochen und damit das Thema der Arbeit weiter konkretisiert (A. III.). In einem vierten Schritt wird der Gegenstand dieser Arbeit eine weitere Eingrenzung erfahren. Dabei wird zum einen dargelegt, was für die Wahl des Beispiels der Kurpfalz spricht; zudem wird die zeitliche Begrenzung der Untersuchung begründet und schließlich der Aufbau der Arbeit erläutert (A. IV.).
I. Brandenburg-Preußen und das Reich Betrachtet man die historiographischen Konjunkturen, die die einschlägigen Themen dieser Arbeit, Preußen hier und das Alte Reich dort, in den vergangenen rund anderthalb Jahrhunderten erlebt haben, kann es kaum erstaunen, dass die struktu-
I. Brandenburg-Preußen und das Reich
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rellen Beziehungen, die zwischen dem Reichsverband und Brandenburg-Preußen bestanden, vor allem für die Spätzeit des Alten Reiches nur punktuell erforscht worden sind. Der maßgebliche Grund hierfür liegt vermutlich in jenem grundlegenden Wandel, den die Sicht auf beide politische Einheiten, Brandenburg-Preußen wie das Alte Reich, durch die Geschichtswissenschaft im Laufe der Jahrzehnte erfahren hat.3 Bekanntermaßen stilisierte die in der borussisch-kleindeutschen Tradition stehende Historiographie die Geschichte des frühneuzeitlichen Brandenburg-Preußen in teleologischer Perspektive zum Vorläufer des deutschen Nationalstaates und wertete den Reichsverband entsprechend ab. In dieser Perspektive bildete das negative Bild vom kraftlosen Reichsverband gleichsam die Folie, auf der die borussisch-kleindeutsche Historiographie die Dignität ihres eigenen Forschungsgegenstandes begründete.4 Wenngleich die unmittelbare Dominanz der kleindeutsch-borussischen Schule mit dem Ende des 19. Jahrhunderts bereits verblasste,5 wirkten die Konzentration auf Brandenburg-Preußen und das Bild von der „Misere“ des dahinsiechenden Reiches zweifellos noch wesentlich länger, das letztere sogar weit über 1945 hinaus. Axel Gotthard hat jüngst noch einmal die Wirkung des Mythos von „Preußens deutscher Sendung“ bis in das späte 20. Jahrhundert nachverfolgt und betont, dass diese Konstruktion aufs Engste mit jener Bewertung des Westfälischen Friedens gekoppelt war, nach der die Macht des Kaisers mit dem Jahr 1648 unwiederbringlich abgesunken sei und stattdessen die Reichsstände die Souveränität erlangt hätten, auf deren Grundlage in der Folge der Aufstieg Brandenburg-Preußens zum „Musterstaat“ erfolgte.6 Umgekehrt erscheint es allerdings der „neuen Reichsgeschichte“ vielfach nötig, zur Legitimierung der „neuen Sicht auf das Alte Reich“ zwar nicht auf die historische Entwicklung Brandenburg-Preußens an sich, aber doch auf die langjährige Geschichtsschreibung zu Brandenburg-Preußen zu verweisen und diese wiederum als Negativfolie für die eigene Forschungstradition zu verwenden.7 So lässt sich auch erklären, dass in der jüngeren Reichsforschung mit der Abkehr von der borussisch-kleindeutschen historiographischen Tradition gleichfalls die Tendenz zur Abwendung von ihrem bevorzugten Untersuchungsgegenstand einherging.8 Tatsächlich hat sich die überwiegend positive Sicht auf die Leistungsfähigkeit des Reichsverbandes nach 1648 inhaltlich auch in der Konzen 3
Zu den historisch-gesellschaftspolitischen Gründen, die nach 1945 das Alte Reich in einem sympathischeren Licht erscheinen ließen und Preußen in einem entsprechend düstereren, vgl. ausführlich Eichhorn, Geschichtswissenschaft, S. 330–382. 4 Vgl. zusammenfassend Thamer, Das Heilige Römische Reich, S. 388–392. 5 Vgl. Neugebauer, Preußen in der Historiographie, S. 32. 6 Vgl. Gotthard, Preußens deutsche Sendung, bes. S. 348–369. 7 So mag die teilweise extreme, häufig stark moralisierende Gegenüberstellung der borussisch beeinflussten Geschichtswissenschaft und der „neuen Sicht auf das Alte Reich“, wie sie auch Gotthard, Preußens deutsche Sendung, verwendet, ihrerseits dazu beigetragen haben, dass Brandenburg-Preußen und das Reich – nun gewissermaßen unter umgekehrten Vorzeichen – als „unverträgliche“ Forschungsinteressen wahrgenommen wurden. Wissenschaftlich ist der von Gotthard noch 2004 gleichermaßen ausführlich belegte und beklagte Mythos von „Preußens deutscher Sendung“ jedenfalls schon längst nicht mehr aktuell. 8 Gotthard, Preußens deutsche Sendung, S. 369.
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A. Einleitung
tration auf die Reichsinstitutionen und ihre Nutzung sowie die so genannten „kaisernahen“ Gebiete des Reiches und damit die kleineren, mindermächtigen Reichsstände niedergeschlagen.9 Für die Gruppe jener Reichsstände, die tendenziell zur traditionellen kaiserlichen Klientel im Reich zählten, war naturgemäß die Akzeptanz einer starken kaiser lichen Präsenz im Reich grundsätzlich unproblematischer als für die mächtigeren Territorialherren, deren Interessen sich nur schwer mit einer traditionell-hierarchisch-monarchischen Ausgestaltung des Reichsverbandes vereinbaren ließen. Ob das Reich eine hierarchisch strukturierte Monarchie mit dem Kaiser an der Spitze oder aber eine Föderation von (Quasi-)Souveränen sei – diese Frage hatte der Westfälische Friede nicht beantwortet, sondern vielmehr perpetuiert.10 Noch während der Friedensverhandlungen sowie in den Folgejahren unternahm eine protestantisch-altfürstliche Reformpartei den Versuch, die Reichsverfassung föderativ umzugestalten und den Reichstag zu einer „nivellierte[n] Versammlung […] von weitgehend gleichberechtigten und gleichgestellten, vor allem fürstlichen, Partnern“ zu machen.11 Die Frage nach der zukünftigen Ausgestaltung der Reichsverfassung, mithin die Frage nach der Stellung des Reichsoberhauptes, war von Anfang an aufs Engste mit dem Problem verbunden, inwieweit der Kaiser als oberster Richter befugt war, in den aus der Religionsverfassung entspringenden Konflikten zu entscheiden.12 Denn die Bestimmungen des Religionsfriedens waren in vielen Punkten offen oder widersprüchlich (indem etwa das Verhältnis zwischen Jus reformandi und Normaljahresform offen blieb) und entfalteten besonders in solchen Fällen ihren konfessionspolitischen Konfliktstoff, in denen Landesherr und Untertanen unterschiedlichen Konfessionen angehörten – und das bedeutete nach 1648 fast immer: in einer Konstellation aus katholischem Landesherrn und überwiegend evangelischer Bevölkerung. Die aus den zahlreichen bewusst offen formulierten Bestimmungen des Religionsfriedens entspringenden Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten aber wurden für die kaiserliche Stellung im Reich virulent, sobald die – von der Verfassung ebenso offen gelassene – Frage berührt wurde, inwieweit der Kaiser in diesen Fällen seine Rolle als oberster Richter wahrnehmen konnte.13 Wurde sie von den Protestanten offen zurückgewiesen, bedeutete dies, dass die wichtigste Prärogative des Kaisers, die (neben dem Reichstag) für seinen Einfluss im Reich zentral war, angegriffen wurde – und damit die hierarchisch-monarchische Struktur des Reiches an sich.14
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Zur Begründung dieser Konzentration vgl. Schindling, Kaiser, Reich und Reichsverfassung, S. 34–36. 10 Vgl. Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider, S. 165; Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt, S. 256. 11 Vgl. Schindling, Der Westfälische Frieden und der Reichstag, S. 136–140, Zitat S. 138; Press, Kriege und Krisen, S. 398–399. 12 Vgl. Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 456. 13 Vgl. ebd., S. 466, 14 Vgl. Haug-Moritz, Corpus Evangelicorum, S. 200–201.
I. Brandenburg-Preußen und das Reich
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Parallel zu jenen Umgestaltungsversuchen der altfürstlichen, vornehmlich evangelischen Reformpartei bemühten sich nach 1648 die Kurfürsten um den Erhalt ihrer Präeminenz, die wiederum als Grundlage ihres Anspruchs auf die Honores regii (sowohl innerhalb des Reiches als auch – besonders – innerhalb der nach der zeremoniellen Logik des Völkerrechts funktionierenden europäischen Fürstengesellschaft) galt.15 Beide Vorstöße, die fürstlich-paritätischen Reformvorstellungen wie auch die kurfürstlichen Versuche zur Wahrung und Steigerung ihrer Präeminenz, zielten letztlich auf die Aufwertung des Status der jeweiligen Gruppe im Sinne einer Annäherung oder gar Angleichung an die europäische Fürstengesellschaft ab. Diese Versuche entsprangen mithin beide 1. der in der nachwestfälischen Reichsverfassung angelegten Spannung zwischen einer kaiserlich-traditionell-hierarchischen Interpretation und einem Modell, in dem zumindest mächtigere Reichsstände sich von ihrer Vasallenrolle zu emanzipieren suchten; mit anderen Worten: der grundsätzlichen Frage, ob sich das Reichssystem in seiner hergebrachten Form behaupten würde oder „in den Sog der völkerrechtlichen Nivellierung geraten“ würde.16 Beide Vorstöße standen 2. grundsätzlich im Widerspruch zur monarchischen Ausgestaltung des Reiches, sprich: einer klaren Unterordnung der großen, mächtigen Reichsstände unter den Kaiser, wenngleich auch auf unterschiedliche Art. Bauten die Bestrebungen der altfürstlichen Reformpartei nicht zuletzt auf der Parification, also auf dem Abbau des ständischen Unterschieds zwischen Fürsten und Kurfürsten im Reich auf,17 so mussten die kurfürstlichen Bemühungen naturgemäß auf die Wahrung der Distanz zu den Fürsten ausgerichtet sein.18 Insofern standen beide Ansätze sowohl verfassungstheoretisch als auch in der politischen Praxis im Gegensatz zueinander. Beide Ansätze entsprachen grundsätzlich den strukturellen Interessen Brandenburg-Preußens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts – als einer der wichtigsten evangelischen Mächte im Reich und gleichzeitig einem der mächtigsten Kurfürstentümer. Tatsächlich hat sich der Große Kurfürst auch – zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen politischen Kontexten – in beiden Richtungen engagiert. Für Brandenburg-Preußen führte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert die Tatsache, dass es sich um ein relativ mächtiges, armiertes Territorium handelte, das zumindest punktuell erfolgreich als quasi-autonomes Völkerrechts 15 Zur Konkurrenz dieser beiden Systeme und den daraus entspringenden Konflikten nach dem Westfälischen Frieden vgl. Schindling, Der Westfälische Frieden und der Reichstag, S. 119; Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider, S. 149–154; mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens: dies., Honores regii; ausführlich zu den Bemühungen der Kurfürsten zur Bewahrung ihrer Präeminenz nach 1648 vgl. Gotthard, Säulen, S. 724–840; zur Durchsetzung der völkerrechtlichen Souveränität als entscheidendem Maßstab für die zwischenstaatlichen Beziehungen im Europa der Frühen Neuzeit vgl. als Forschungsüberblick: Krischer, Souveränität. 16 Becker, Kurfürstenrat, S. 174, zit. nach: Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider, S. 146. 17 Die wichtigsten Forderungen der Fürsten betrafen neben der zeremoniellen Angleichung an die Kurfürsten ihre Beteiligung an der Königswahl und an den Verhandlungen über die kaiserliche Wahlkapitulation; vgl. Gotthard, Säulen, S. 787–794. 18 Zu den zahlreichen Konflikten zwischen Fürsten und Kurfürsten, die aus den fürstlichen Parifications-Bemühungen entsprangen, vgl. Gotthard, Säulen, S. 774–840.
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subjekt zu agieren vermocht hatte, gleichzeitig aber ein Reichsstand und als solcher nicht souverän war, immer häufiger zu zeremoniellen Problemen im Kontext der europäischen Diplomatie. Dieses Dilemma erklärt, warum der Große Kurfürst sich immer wieder und besonders nachdrücklich gegen Ende seiner Regierungszeit bemühte, die kurfürstliche Präeminenz gegenüber den Reichsfürsten zu verteidigen.19 Gleichzeitig aber teilte Brandenburg-Preußen als eines der mächtigsten evan gelischen Territorien im Reich auch die Interessen jener Gruppe der von Schweden unterstützten evangelischen Fürstendynastien, die auf und nach den Westfälischen Friedenskongressen eine Reform des kaiserlichen Regimentes forderten – und dies galt umso mehr angesichts eines mehrheitlich katholischen und tendenziell Habsburg-freundlichen Kurkollegs.20 So stand für die brandenburg-preußische Reichspolitik in den Jahren, die auf den Westfälischen Friedensschluss folgten, zunächst die Unterstützung der evangelischen Fürstenpartei in ihrer Interpretation der Friedensinstrumente im Vordergrund; und damit rangierte die konfessionelle Solidarität zumindest zwischenzeitlich vor der standespolitischen.21 Dass der Große Kurfürst mit den evangelischen Reformvorstellungen und den Bemühungen zur Durchsetzung der kurfürstlichen Honores regii bzw. der Wahrung der kurfürstlichen Präeminenz letztlich inkompatible politische Ziele verfolgte, trug maßgeblich dazu bei, dass Brandenburg-Preußen den übrigen Kurfürsten als standespolitisch unzuverlässig galt. So scheiterte der Große Kurfürst gegen Ende seiner Regierungszeit mit seinem zentralen standespolitischen Projekt, einer Reform des Kurvereins, nicht zuletzt an dem Misstrauen der übrigen Kurfürsten.22 Generell haben diese schwankenden Positionen im Bereich der Reichspolitik – neben der nicht weniger wechselhaften Haltung Brandenburgs im Nordischen Krieg und gegenüber Frankreich – der Politik des Großen Kurfürsten nicht nur von den Zeitgenossen, sondern auch von der Historiographie das Urteil der Unstetigkeit eingebracht.23 Die gescheiterte Wiederbelebung des Kurvereins war gleichzeitig der letzte Versuch, die zeremoniell herausgehobene Rolle der Kurfürsten wieder mit politischem Inhalt zu füllen. Nicht nur spielte der Kurverein nach 1685 politisch praktisch keine Rolle mehr; auch konnten die Kurfürsten ihren Anspruch auf die Honores regii bekanntlich weder im Reich noch in Europa realisieren.24 Aber auch jene altfürstliche und mehrheitlich evangelische Gruppe von Reichsfürsten vermochte sich in ihrem Streben nach einer föderativen Reform des Reichsverbandes nicht durchzusetzen. Das lag zum einen daran, dass Schweden und Brandenburg-Preußen seit etwa 1655 im 19 Vgl. Stollberg-Rilinger, Höfische Öffentlichkeit, bes. S. 156–168; Gotthard, Der „Große Kurfürst“, S. 13–14. 20 Vgl. Gotthard, Der „Große Kurfürst“, S. 12–22. 21 Der führende Kopf dieser Politik in den auf den Westfälischen Frieden folgenden Jahren war Graf Georg Friedrich von Waldeck; vgl. Gotthard, Der „Große Kurfürst“, S. 16–22; Opgen oorth, Friedrich Wilhelm, S. 262–283. 22 Vgl. Gotthard, Der „Große Kurfürst“, S. 22, 45–54. 23 Vgl. ebd.; Press, Kriege und Krisen, S. 403. 24 Gotthard, Säulen, S. 724–840, bes. S. 840 (zur Begründung, die Untersuchung mit den 1680er Jahren zu beenden).
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Kontext der Nordischen Konflikte immer stärker in Gegensatz gerieten, was wiederum mit einem deutlichen Kurswechsel in der brandenburg-preußischen Reichspolitik einherging;25 zum anderen aber scheiterten die fürstlichen Reformbemühungen nicht zuletzt am Gegensatz zwischen Fürsten und Kurfürsten, der wiederum dazu beitrug, dass es dem Kaiser gelang, die hierarchische Ordnung des Reiches zu verteidigen.26 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte sich die kaiserliche Stellung im Reich konsolidiert:27 Auf den Westfälischen Friedenskongressen hatte der Kaiser seine Stellung als oberster Lehnsherr und Richter im Reich behaupten können, 1653 konnte er die hierarchische Form des Reichstags bewahren. Die Einrichtung des Immerwährenden Reichstages und des Gesandtschaftswesens boten dem Wiener Hof zusätzliche Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme; auch war der Kaiser nach der Readmission Böhmens in der fürstlichen wie in der kurfürstlichen Kurie des Reichstages vertreten.28 Durch Standeserhöhungen und Familienpolitik gelang es vor allem Leopold I. zudem, die kaiserliche Position im Reich zu befestigen.29 Schließlich aber begünstigte die institutionelle Form des Reiches strukturell den Kaiser und die mindermächtigen (vornehmlich katholischen) Reichsstände schon allein aufgrund der deutlichen Stimmenmehrheit dieser Gruppe. So hatte sich in den auf den Westfälischen Frieden folgenden Jahren in der politischen Praxis die den Interessen von Kaiser und mindermächtigen Reichsständen entsprechende hierarchisch-traditionelle Interpretation der Reichsverfassung durchgesetzt.30 Die Kurfürsten allerdings hatten im Vergleich zu der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg deutlich an politischem Gewicht für die Reichspolitik eingebüßt und sahen sich auch zeremoniell seitens der Fürsten immer wieder in ihrer Vorrangstellung bedrängt. Mit Blick auf Brandenburg ging unter Kurfürst Friedrich III. die Politik des Großen Kurfürsten, der sich besonders nachdrücklich darum bemüht hatte, die „königsgleiche Behandlung“ in der europäischen Diplomatie durchzusetzen, gleichsam folgerichtig in die Bestrebungen um den Erwerb der Königskrone über. Das Streben Friedrichs III. nach der Königswürde stellte also gewissermaßen die logische Fortsetzung der kurbrandenburgischen Forderungen nach den kurfürstlichen Honores 25
Vgl. zusammenfassend Press, Kriege und Krisen, S. 400–409. Seit den 1670er Jahren änderte sich auch die kaiserliche Haltung unter Leopold I. dahingehend, dass die Kurfürsten in ihren Bemühungen um Präeminenz keine Unterstützung mehr durch den Kaiser erfuhren. Vielmehr betrieb der kaiserliche Prinzipalkommissar auf dem Immer währenden Reichstag in dieser Zeit geradezu einen Abbau des zeremoniellen Abstandes zwischen fürstlichen und kurfürstlichen Gesandten. Diese Haltung des Prinzipalkommissars führte vor allem mit dem kurbrandenburgischen Vertreter zu Konflikten; vgl. Gotthard, Der „Große Kurfürst“, S. 27–28. 27 Vgl. grundsätzlich nach wie vor Press, Die kaiserliche Stellung; zusammenfassend: Schindling, Reichsinstitutionen und Friedenswahrung, S. 273–280. 28 Vgl. Press, Die kaiserliche Stellung, S. 67–68. 29 Vgl. ebd., S. 60–61. 30 Vgl. Haug-Moritz, Corpus Evangelicorum, S. 193; zur „strukturellen Nähe von Katholizismus und Kaisertum“ vgl. dies., Württembergischer Ständekonflikt, S. 141. 26
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regii dar und war, anders als die letzteren, bekanntermaßen erfolgreich.31 Das gilt zumindest für die europäische Diplomatie, in deren Rahmen es dem neuen König Friedrich I., wenngleich mit einigen Schwierigkeiten, innerhalb weniger Jahre gelang, als Souverän im Sinne des Völkerrechts akzeptiert zu werden.32 Parallel zu diesen Entwicklungen lässt sich seit 1697 – ausgelöst durch den ijswijker Frieden und verstärkt durch eine Reihe von fürstlichen Konversionen R zum Katholizismus – eine allmähliche „Rekonfessionalisierung“33 der Reichspolitik beobachten, in deren Folge die evangelischen Reichsstände das Corpus Evange licorum vermehrt zur Artikulation ihrer Interessen nutzten und damit reichspolitisch aufwerteten. Dabei handelte es sich allerdings noch nicht um eine den Kaiser in seiner Stellung potentiell gefährdende Vereinigung, weil die Protestanten noch nicht grundsätzlich seine richterliche Kompetenz in Religionsangelegenheiten in Frage stellten. Das geschah erst im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, als die evangelischen Reichsstände sich im Kontext des Pfälzischen Religionsstreits als reichsständische Korporation und „Quasi-Institution“ der Reichsverfassung legitimierten und jene fürstlich-föderativ-paritätischen Vorstellungen in Form einer geschlossenen protestantischen Verfassungsinterpretation festschrieben, die – wenn sie politisch realisiert wurde – die kaiserlichen Handlungsmöglichkeiten massiv beschränkte.34 Denn jene Stände, für welche die zu Beginn des 18. Jahrhunderts herrschende Verfassungswirklichkeit zunehmend im Gegensatz zu den eigenen Interessen erscheinen musste, waren – mit der wichtigen Ausnahme Kurbayerns – praktisch ausschließlich evangelisch.35 Insofern kann man die Politik des Corpus Evangelicorum durchaus als Fortführung und Weiterentwicklung der Ziele jener evangelischen Fürstenopposition verstehen, die in den auf den Westfälischen Frieden folgenden Jahren entstanden war.36 Die konsequente Ausnutzung der in der Reichsverfassung verankerten paritätischen Rechte bot der Gruppe der evangelischen Reichsstände eine wirksame Möglichkeit, die hierarchisch-monarchische Ausgestaltung des Reiches anzugreifen, ohne gleichzeitig den Westfälischen Frieden als Grundgesetz und Fundament der Reichsverfassung in Frage zu stellen. Indem die Protestanten zu Beginn des 18. Jahrhunderts dazu übergingen, im Rahmen der von ihnen entwickelten Verfassungslehre die oberstrichterliche Gewalt des Kaisers in sämtlichen 31 Vgl. Stollberg-Rilinger, Höfische Öffentlichkeit, bes. S. 169; dies., Honores regii, bes. S. 21–22. 32 Vgl. etwa Baumgart, Ein neuer König; ders., Die preußische Königskrönung von 1701; Duchhardt, Das preußische Königtum von 1701; s. a. verschiedene Beiträge in Barmeyer-Hartlieb von Wallthor, Die preußische Rangerhöhung. 33 Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt, S. 138. 34 Vgl. Haug Moritz, Corpus Evangelicorum, S. 201; dies., Des „Kaysers rechter Arm“, S. 33. 35 Vgl. Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 453; Gotthard, Der „Große Kurfürst“, S. 11. 36 Zugegebenermaßen unter Überspringung von rund 50 Jahren Reichsgeschichte und anderen Versuchen fürstlicher Selbstorganisation bzw. Bemühungen, das Reich gegenüber dem Kaiser zu stärken – man denke etwa an den ersten Rheinbund der Jahre 1658–1668; Press, Kriege und Krisen, S. 399: „Die Fürstenopposition bildete den Kern des späteren ‚Corpus Evangeli corum‘[…]“; vgl. dazu auch systematisch: Haug-Moritz, Corpus Evangelicorum.
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„Religionsangelegenheiten“ (und was als „Religionsangelegenheit“ anzusehen war, entschieden sie selbst) zu verneinen, stellten sie zugleich die wichtigste Prärogative in Frage, die dem Kaiser nach 1648 verblieben war, und beanspruchten gleichzeitig das Recht der Intervention, die bis zur gewaltsamen Selbsthilfe gehen konnte.37 Es waren freilich die größeren und mächtigeren unter den evangelischen Reichsständen, die von der tatsächlichen Durchsetzung dieser Verfassungsinterpretation am meisten profitiert hätten und die sie deswegen auch vorantrieben. Denn erstens konnte auch die Tatsache, dass sich seit 1714 drei Kurfürsten mit einer europäischen Königskrone schmückten, nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen der Stellung, die diese und andere mächtige Reichsfürsten qua Reichsstände im Verfassungssystem besaßen, und ihrer tatsächlichen Machtstellung innerhalb und außerhalb des Reichs eine immer größer werdende Spannung bestand;38 und zweitens waren es eben diese Territorien, für deren territoriale Konsolidierung die nach wie vor bei Kaiser und Reich liegenden judikativen und lehnsrechtlichen Hoheitsrechte tendenziell Aspekte der Reichsverfassung darstellten, die es zumindest mit Blick auf das eigene Territorium und die eigene Dynastie möglichst zu begrenzen, wenn nicht gänzlich auszuschalten galt.39 Brandenburg-Preußen aber stellte zweifellos eines derjenigen Territorien dar, auf die beide Aspekte spätestens seit dem beginnenden 18. Jahrhundert in besonderem Maße zutrafen. Daher fragt diese Studie mit Blick auf die beiden skizzierten Probleme nach den spezifischen Interessen, die Brandenburg-Preußen im späten 17. und im frühen 18. Jahrhundert in der Reichspolitik im Allgemeinen und der im Reich betriebenen Konfessionspolitik im Besonderen verfolgte. Dabei steht zunächst das Engagement Brandenburg-Preußens im Kontext des sich zur politischen Korporation entwickelnden Corpus Evangelicorum im Mittelpunkt. Doch sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass man in Berlin auch in reichspolitischen Zusammenhängen schon unter Friedrich I., wesentlich stärker aber noch unter Friedrich Wilhelm I. auf die neu erworbene königliche Würde bzw. die Teilsouveränität zurückgriff. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Studie die Bedeutung der Krone mit Blick auf die brandenburg-preußische Reichspolitik und insbesondere auf das Verhältnis zum Kaiser einbezogen. Denn wenngleich die jüngere Forschung zu Recht betont hat, dass die Auswirkungen der preußischen Königskrone auf die Reichsverfassung durch den so genannten „Krontraktat“ zwischen Leopold I. und Friedrich III./I. gewissermaßen „neutralisiert“ wurden (und daher die Rangerhöhung entsprechend geringes Aufsehen in der Reichsöffentlichkeit erregte),40 spielten die königliche Würde und die damit einhergehenden Ansprüche doch schon bald zumindest punktuell auch im Kontext des Reichsverbandes und speziell im Verhältnis zum Kaiser eine Rolle. Dies gilt in besonderem Maße für die Zeit Friedrich 37 Zu den verschiedenen Möglichkeiten des Corpus Evangelicorum, zugunsten seiner Glaubensgenossen zu intervenieren, vgl. Belstler, Corpus Evangelicorum, S. 216–237. 38 Vgl. Haug-Moritz, Die Krise des Reichsverbands, S. 74. 39 Vgl. Smend, Brandenburg-Preußen, S. 196. 40 Vgl. Carl, „Und das Teutsche Reich“, bes. S. 59.
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Wilhelms I., unter dessen Regierung auch erstmals von den evangelisch-norddeutschen Mächten die protestantische Verfassungsinterpretation und das Corpus Evangelicorum im Sinne einer politischen Waffe gegen Wien eingesetzt wurden, nämlich in den Jahren 1719–1725 im Kontext des so genannten Pfälzer Religionsstreits. Dass Brandenburg-Preußen mit dem Ziel einer Relativierung der kaiserlichen Suprematie – in verschiedenen Kontexten aber nichtsdestoweniger parallel – auf die evangelisch-föderative Interpretation im Rahmen des Reichstages bzw. Corpus Evangelicorum und auf die königliche Würde resp. Souveränität zurückgriff, beweist mithin, dass „die genossenschaftlichen Strukturen des ständischen Reichskörpers aller Dynamik ständischen Aufstiegs zum Trotz intakt [geblieben waren]“.41 Mit anderen Worten: Weil die preußische Rangerhöhung auch langfristig gerade für das Reichstagszeremoniell keine Rolle spielte, konnte Brandenburg-Preußen auch nach dem Aufstieg zum Königtum als Wortführer einer streng auf dem korporativ-föderativen Prinzip aufbauenden, ständischen Oppositionsgruppe agieren.42 Gleichwohl schließt diese Beobachtung nicht aus, dass in anderen Kontexten auch auf die Königswürde zurückgegriffen wurde, um die kaiserliche Stellung (zumindest hinsichtlich ihrer Suprematie gegenüber einem preußischen König) explizit in Frage zu stellen.43 Es wird daher zu fragen sein, wie sich die von der brandenburg-preußischen Reichspolitik im Kontext des Corpus Evangelicorum vertretenen Rechtsauffassungen (denen ja eine radikal föderative Interpretation des Reiches und damit verbunden die Fiktion der Gleichrangigkeit aller Mitglieder zugrundelag) zu den Versuchen Brandenburg-Preußens verhielten, den königlichen Rang und den Anspruch auf Souveränität zumindest punktuell auch innerhalb des Reichverbandes zur Geltung zu bringen. Sowohl die föderativ-paritätische Argumentation der im Corpus Evangelicorum zusammengeschlossenen Protestanten als auch der von Berlin genutzte Verweis auf die königliche Würde und die Souveränität waren politische Antworten, die sich im weitesten Sinne auf das Problem zwischen der Autonomie einzelner Territorien und der Rolle des Kaisers bezogen, mithin die grundsätzliche Frage nach dem Zusammenhang von Reichsgliedern und Reichsoberhaupt betrafen. Insofern berührt eine Untersuchung des Verhältnisses Brandenburg-Preußens zum Reich vor allem für das 18. Jahrhundert auch immer das Problem der frühmodernen Staatsbildung. Das belegt überdies bereits der Blick auf die gegensätzlichen Antworten, die von der Geschichtswissenschaft auf diese grundsätzliche Frage entwickelt worden sind: 41
Carl, „Und das Teutsche Reich“, S. 61. Wenngleich für die vom Corpus Evangelicorum vertretene Argumentation naturgemäß schon deswegen die Königswürden einiger seiner wichtigsten Mitglieder keine Rolle spielten, weil dies der ständisch-föderativen Logik widersprochen hätte, konnten Brandenburg-Preußen und England-Hannover freilich nur aufgrund ihrer eigenen Machtstellung das Corpus Evangelicorum so effektiv gegen den Kaiser in Stellung bringen. Zu dieser Machtstellung aber gehörte nicht zuletzt auch die Tatsache, dass sie beide europäische Kronen trugen. 43 Carl, „Und das Teutsche Reich“, S. 61, vertritt dagegen die Meinung, die preußische Königskrone habe primär die genossenschaftlichen Strukturen herausgefordert und weniger die hierarchische Ordnung des Reichs. 42
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Als Extreme stehen sich dabei auf der einen Seite die Sicht der kleindeutsch-borus sischen Geschichtsschreibung, in der das frühneuzeitliche Brandenburg-Preußen zur Grundlage des deutschen Nationalstaats stilisiert wurde, und das Konzept des „Reichs-Staats“ auf der anderen Seite gegenüber.44 Dass eine Fragestellung, die explizit dem Verhältnis Brandenburg-Preußens zum Reichsverband im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert nachgeht, in jeder Hinsicht quer steht zur Vorstellung eines brandenburg-preußischen „Einheitsstaats“, versteht sich von selbst. Die Verwendung der von Georg Schmidt geprägten Kategorie des „komplementären Reichs-Staats“ erscheint allerdings aus den oben skizzierten Gründen ebenso wenig adäquat.45 Die vorliegende Arbeit sieht sich daher der gängigen Interpretation der frühmodernen Staatswerdung verpflichtet, der zufolge sich das Alte Reich trotz der deutlichen Verdichtung, die die Reichsverfassung in der frühen Neuzeit erfuhr, nicht zum „frühmodernen Staat“ entwickelte, wenn man es im Vergleich mit den großen west- und nordeuropäischen Monarchien Europas betrachtet; die früh moderne Staatswerdung innerhalb der Reichsgrenzen fand vielmehr in den großen Territorien statt.46 Für diese Territorien, auch für diejenigen unter ihnen, deren Zentralisierung und Homogenisierung wie im Falle Brandenburg-Preußens besonders weit vorangeschritten waren, blieb das Reich allerdings zweifellos bis ins späte 18. Jahrhundert eine präsente Größe. Diese Territorien blieben mit dem Reich auf vielfältige Weise verwoben. Das gilt insofern auch und besonders für Brandenburg-Preußen, als die brandenburgischen Kurfürsten noch im 17. Jahrhundert mit den rheinisch-westfälischen Gebieten und später mit Magdeburg, Minden und Halberstadt territoriale Zugewinne erhielten, die dazu führten, dass Brandenburg-Preußen verstärkt ins Reich hineinwuchs.47 Nichtsdestoweniger nahm langfristig die Intensität der Beziehungen zwischen Territorium und Reich im Laufe des 18. Jahrhunderts fraglos immer weiter ab, und die Einflussmöglichkeiten des Kaisers und der Reichsinstitutionen wurden kontinuierlich beschnitten. Die Dynamik dieses Prozesses verdeutlicht schon ein Blick auf das Verhältnis zwischen Reich und Territorium, wie es sich unter dem Großen Kurfürsten einerseits und unter Friedrich dem Großen andererseits gestaltete. Unter dem Großen Kurfürsten war die Existenz des noch wenig zentralisierten brandenburgischen Territorienkomplexes unbedingt an die Existenz des Reichsverbands gekoppelt (und dazu gehörte eben grundsätzlich ein „funktionierendes“ Kaisertum, wie unterschiedlich die Vorstellungen über dessen konkrete Ausgestaltung auch sein mochten). Dagegen war Brandenburg-Preußen unter Friedrich dem Großen zwar zweifellos noch Teil des Reiches, betrieb auch – 44
Zum Begriff „komplementärer Reichsstaat“ vgl. Schmidt, Geschichte des Alten Reiches, S. 40–44. 45 Dabei kommt für das Konzept des „komplementären Reichsstaats“ erschwerend hinzu, dass Schmidt gerade die Bedeutung der lehnsherrlichen Rechte des Kaisers für dessen Stellung im nachwestfälischen Reichsverband äußerst gering veranschlagt; vgl. Schmidt, Das frühneuzeitliche Reich, S. 377. 46 Vgl. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 56; in kritischer Abgrenzung zu Schmidt: ders., Frühmoderner Staat und deutsches Monstrum, bes. S. 343. 47 Vgl. Carl, „Und das Teutsche Reich“, S. 49; Schindling, Kurbrandenburg, S. 36–37.
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zumindest phasenweise – intensive und erfolgreiche Reichspolitik,48 aber das Reich war für das Überleben Brandenburg-Preußens keinesfalls mehr obligatorisch.49 Und in diesem Sinne gestaltete sich auch die friderizianische Reichspolitik, die unter den Bedingungen des preußisch-österreichischen Dualismus vorrangig darauf abzielte zu verhindern, dass der Kaiser seinen Einfluss im Reich – zum Nachteil Brandenburg-Preußens – geltend machte.50 Trotz dieser offensichtlichen grundlegenden Veränderungen der Bedeutung des Reiches für Brandenburg-Preußen scheinen die Themen „Brandenburg-Preußen“ und „Altes Reich“ nach wie vor in einem gewissen Gegensatzverhältnis zu stehen. Zwar wird mittlerweile in der Forschung zu Brandenburg-Preußen vermehrt darauf hingewiesen, dass der Reichsverband bis weit in das 18. Jahrhundert hinein eine „wesentliche Bedingung“ sowie „zentrales Orientierungssystem brandenburgisch-preußischen Regierungshandelns“51 bildete, und eine „aktive Teilnahme Kurbrandenburgs an den Reichsinstitutionen“52 existierte. Doch ungeachtet dieser allgemeinen – und in ihrer Allgemeinheit zweifellos zutreffenden – Aussagen lässt sich nach wie vor nur auf wenige Detailstudien verweisen, die sich mit der Verzahnung zwischen Brandenburg-Preußen und dem Reichsverband intensiver beschäftigt haben.53 Dabei fällt vor allem auf, dass man kaum auf langfristig angelegte Untersuchungen zu den Beziehungen Brandenburg-Preußens zum Reich zurückgreifen kann, um Veränderungen in diesen strukturellen Verbindungen zu identifizieren – und zwar auch und gerade für die Zeit vor der für dieses Verhältnis zweifellos wichtigen Zäsur des Jahres 1740. Jüngere Darstellungen, die sich ausführlicher mit Brandenburg-Preußens Verhältnis zum Reichsverband vor 1740 beschäftigen, existieren primär für die Regierungszeit des Großen Kurfürsten.54 Für Friedrich III./I. liegt der Schwerpunkt der Forschung mit Blick auf die Außen- und Reichspolitik nach wie vor tendenziell auf der Gewinnung der Königskrone und den damit verbundenen Verhandlungen im Reich und in Europa.55 Die Forschungen zur Regie 48
Dies betont vor allem Wilson, Relations, bes. S. 345. Vgl. etwa Rohrschneider, Österreich, S. 61. 50 Vgl. Press, Friedrich der Große als Reichspolitiker, bes. S. 33–34; Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt, S. 135; dies., Friedrich der Große als „Gegenkaiser“, S. 34–35. Allgemein zur Reichspolitik Friedrichs des Großen vgl. den Überblick bei Rohschneider, Österreich, S. 55–63; s. a. Wilson, Frederick the Great. 51 Carl, „Und das Teutsche Reich“, S. 48. 52 Neugebauer, Zentralprovinz im Absolutismus, S. 81–82. 53 Vgl. den Überblick bei Kleinehagenbrock, Brandenburg-Preußen und das Alte Reich, bes. S. 881–897, der ebenfalls eine weitere Erforschung der strukturellen Verbindungen Brandenburg-Preußens mit dem Reich als Desiderat bezeichnet. 54 Gotthard, Der „Große Kurfürst“; Schindling, Kurbrandenburg; ders., Der Große Kurfürst und das Reich; Press, Kriege und Krisen, S. 356–372; Arndt, Der große Kurfürst; Duchhardt, Friedrich Wilhelm der Große Kurfürst; Opgenoorth, Der Große Kurfürst; s. a. die Biographie von dems., Friedrich Wilhelm, die sich intensiv auch mit der Reichspolitik des Großen Kurfürsten befasst. 55 Vgl. den Überblick in Jochums, Bibliographie Friedrich III./I., S. 24–38; s. a. die Biographie über Friedrich III./I. von Göse, Friedrich I. 49
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rungszeit Friedrich Wilhelms I., dem „größten inneren König“,56 haben sich dagegen eindeutig auf die von ihm initiierten Strukturreformen im Innern konzentriert.57 Freilich hat bei aller „Entpreußung“ der deutschen Geschichtswissenschaft auch nach 1945 eine kontinuierliche Forschung zum frühneuzeitlichen BrandenburgPreußen in Ost- wie Westdeutschland stattgefunden, wobei sich jedoch vor allem für die westdeutsche Forschung zu Brandenburg-Preußen die erschwerten Zugangsbedingungen zu maßgeblichen Teilen des Preußischen Geheimen Staatsarchivs als Hindernis ausgewirkt haben.58 Trotz der fortgesetzten wissenschaftlichen Beschäftigung mit brandenburg-preußischer Geschichte und dem öffentlichen Interesse an dem Thema „Preußen“ ist die seit den 1990er Jahren intensiv betriebene Erforschung der frühneuzeitlichen Reichsgeschichte allerdings bisher in der brandenburg-preußischen Landesgeschichte kaum rezipiert worden.59 Und auch die klassische strukturgeschichtlich arbeitende „historische Staatswissenschaft“ des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (verbunden mit den großen Namen Schmoller und Hintze) sowie die spätere Forschung zum Absolutismus in Brandenburg-Preußen haben sich vorrangig auf die Faktoren Verwaltung, Wirtschaft, Militär, Bevölkerungs-, Bildungs- und Adelspolitik konzentriert;60 das Reich im Sinne der Reichsjustiz, des Lehnswesens und der Rolle des Kaisers als Schützer der Kirche sind dagegen in diesen Studien kaum behandelt worden. Für die vorliegende Arbeit kommen dagegen gerade diese letzteren Faktoren in Betracht: das Lehnswesen, die Justiz und nicht zuletzt die Religion, wobei wiederum gerade die beiden letztgenannten Aspekte, wie bereits oben skizziert, in der evangelischen Verfassungsinterpretation aufs Engste miteinander verquickt waren. Allerdings hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur das Bild vom Alten Reich gewandelt. Im Zuge der Abkehr von der nationalhistorischen Perspektive und der zunehmenden Distanzierung vom Absolutismus-Paradigma weist die jüngere Forschung in Anlehnung an das Konzept der „Composite Monarchy“ auch für Brandenburg-Preußen vermehrt auf die regionalen Besonderheiten und Eigenständigkeiten hin, die innerhalb des Gesamtterritoriums bestanden.61 Indem der unterschiedliche Grad an Integration in den Blick der Forschung geriet, wurde auch das politische Gewicht der Landstände neu bewertet.62 In einigen Gebieten sahen sich die brandenburg-preußischen Herrscher auch noch im 18. Jahrhundert nicht nur 56
So bereits die Zuschreibung im Titel bei Neuhaus, Friedrich Wilhelm I. Vgl. Jochums, Bibliographie Friedrich Wilhelm I., bes. S. 55–104. 58 Zum Überblick für die Forschung seit 1945 vgl. Neugebauer, Preußen in der Historio graphie, S. 75–109. 59 Vgl. Kleinehagenbrock, Brandenburg-Preußen und das Alte Reich, S. 871. 60 Vgl. Neugebauer, Preußen in der Historiographie, S. 41–60. 61 Exemplarisch für die Absolutismus-Debatte sei hier verwiesen auf Asch / Duchhardt, Einleitung; für eine knappe Zusammenfassung der wissenschaftlichen Diskussion vgl. weiterhin: Völker-Rasor, Nach 1648, bes. S. 35–38; speziell für Brandenburg-Preußen vgl. Arndt, Der Große Kurfürst. 62 Vgl. die Beiträge zu verschiedenen Landesteilen, in: Kaiser / Rohrschneider, Membra. 57
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mit umfangreichen landständischen Privilegien konfrontiert, sondern auch mit dem Willen der Landstände, für die Wahrung dieser Rechte Rückhalt bei auswärtigen Mächten oder bei den Reichsinstitutionen zu suchen. An diese Forschungen und die damit einhergehende Perspektive knüpft die vorliegende Studie insoweit an, als das Verhältnis zwischen Krone und Landständen auch Berücksichtigung findet. So wird zu zeigen sein, wie die von Friedrich III./I. und seinem Sohn im Reich betriebene Konfessionspolitik sich teilweise auch in der inneren Kirchenpolitik spiegelte und konkret immer wieder mit gezielten anti-katholischen Maßnahmen gegen kirchliche Korporationen mit Landstandschaft innerhalb des eigenen Machtbereichs einherging. Auch hier präsentiert sich mithin das Bild von einer regional sehr unterschiedlich ausgeprägten Integration der einzelnen Gebiete in das Gesamtterritorium – bzw. ein unterschiedlicher Grad an „Reichs-Bindung“. Neben den neueren Forschungsansätzen zur Integration der brandenburg-preußischen Landesteile im 17. und 18. Jahrhundert kann die vorliegende Untersuchung sowohl auf ältere als auch auf einige jüngere Studien zum Verhältnis Brandenburg-Preußens zur Reichsjustiz zurückgreifen.63 In der Zusammenschau bestätigen diese Arbeiten für den Bereich der Justiz grundsätzlich das ambivalente Bild von einer intensiven Verflechtung Brandenburg-Preußens mit dem Reich auf der einen Seite und den deutlichen Bemühungen der brandenburg-preußischen Landesherren, ihre Territorien soweit wie möglich gegenüber jeglichen Interventionen durch die Reichsjustiz abzuschirmen, auf der anderen Seite. Zwar lässt sich aus den bisherigen Forschungen noch keine eindeutige Bilanz für die Frage nach den Beziehungen Brandenburg-Preußens zur Reichsjustiz ziehen; für die vorliegende Arbeit bilden die verschiedenen Studien zur brandenburg-preußischen Haltung gegenüber dem Reichskammergericht und dem Reichshofrat gleichwohl wichtige Grundlagen.64
II. Reich und Konfession nach 1648 Die Feststellung, dass den Konfessionen, genauer: dem konfessionellen Dissens, auch in den Jahrzehnten nach dem Epochendatum von 1648 eine bedeutsame Rolle für die Verfassung und die politische Kultur des Alten Reich zukam, kann in der heutigen Forschung zum frühneuzeitlichen Reichsverband bereits als Gemeinplatz gelten. In der Tat sind seit den 1980er Jahren zahlreiche Arbeiten erschienen, die sich auf verschiedenen Ebenen mit dem konfessionellen Antagonismus bis weit ins 18. Jahrhundert befassen.
63 Smend, Reichskammergericht; Smend, Brandenburg-Preußen; Jahns, Brandenburg-Preußen; Perels, Die allgemeinen Appellationsprivilegien; Förstemann, Zur Geschichte; Schenk, Reichsjustiz; Weitzel, Kampf um die Appellation, bes. S. 137–147. 64 Wichtig für eine grundlegende Bewertung der Beziehungen Brandenburg-Preußens zur Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich wäre dabei nicht zuletzt der diachrone Vergleich mit anderen großen weltlichen Territorien.
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Mit Blick auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft ist die Hinwendung zu diesem Themenkreis der fundamentalen Neubewertung zuzuschreiben, die der nachwestfälische Reichsverband in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Zentral für diesen Wandel in der Sicht auf das Alte Reich war wiederum eine völlig veränderte Perspektive auf den Westfälischen Frieden, der heute gemeinhin nicht mehr als Beginn des Zerfalls gilt, sondern vielmehr als Grundlage für die Konsolidierung des Reichsverbandes nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges.65 Insbesondere die fortschreitende Juridifizierung und Institutionalisierung gerieten nun verstärkt in den Blick. Die neue Bewertung der Leistungsfähigkeit des Reichsverbandes nach 1648 lässt sich besonders deutlich an der gewandelten Beurteilung des Immerwährenden Reichstags ablesen, dessen Bilanz in der neueren Forschung grundsätzlich positiv ausfällt und eng mit einem weiteren wichtigen Aspekt für die Neubewertung des nachwestfälischen Reichsverbandes verbunden ist:66 nämlich mit dem Wiederaufstieg der habsburgischen Kaisermacht seit den 1670er Jahren, der „Rückkehr des Kaisers in das Reich“.67 Für die allgemeine Bewertung des Religionsfriedens bedeutete die skizzierte Verschiebung der historiographischen Perspektiven allerdings zunächst keine grundsätzliche Veränderung, denn auch in der älteren, abschätzigen Beurteilung des Westfälischen Friedens hatte der Religionsfrieden stets als (praktisch einziger) positiver Aspekt gegolten.68 Auch im Zuge der Neubewertung des Westfälischen Friedens wurde die Wirkung des Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO) als wirksame Barriere gegen den Religionskrieg weiterhin hervorgehoben, erfuhr aber durchaus unterschiedliche Bewertungen.69 Nach und nach kamen in Folge der intensiven Erforschung der Reichsgeschichte auch das Zusammenleben der Konfessionen und damit die Widersprüche des IPO und die daraus resultierenden Konflikte in den Blick. Heute besteht Einigkeit darüber, dass der konfessionelle Antagonismus mit 1648 zwar in rechtliche Bahnen überführt, aber keineswegs vollständig befriedet wurde, und dass die Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionsgruppen während des 18. Jahrhunderts nicht nur zu den „charakteristischen Lebensäußerungen“ des Alten Reiches zu zählen sind,70 sondern auch zu einer immer stärker werdenden 65
Exemplarisch für die neue, positive Sicht auf den Westfälischen Frieden im Kontext der „neuen Reichsgeschichte“: Burkhardt, Friedenswerk. Die historiographische Entwicklung ist zusammengefasst bei: Duchhardt, Der Westfälische Friede; Schönemann, Rezeption; Repgen, Der Westfälische Friede. 66 Dieses Bild legt bereits der Titel des Aufsatzes von Neuhaus, Der Reichstag als Zentrum eines „handelnden“ Reiches, nahe. 67 Vgl. Burkhardt, Verfassungsprofil; Schindling, Reichsinstitutionen und Friedenswahrung, S. 273–276. 68 So noch die Bewertung bei Oestreich, Verfassungsgeschichte, S. 41. 69 So sieht etwa Heckel, Parität, S. 110, das eigentliche religiöse Anliegen der Konfessionen durch das starre Korsett des Konfessionsrechts und insbesondere der Normaljahresnorm völlig entwertet; eine wesentlich positivere Bewertung der Verrechtlichung im Verhältnis der Konfessionsgruppen bei Schindling, Der Westfälische Frieden und das Nebeneinander. 70 Schindling, Reichsinstitutionen und Friedenswahrung, S. 288.
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Belastung für den Reichsverband wurden.71 In Hinblick auf die konfessionellen Zustände im Reich hat sich damit auch die Beurteilung des Westfälischen Friedens gewandelt: Während mindestens bis in die 1980er Jahre die Vorstellung einer klaren Grenze dominierte, werden mittlerweile zunehmend die Kontinuitätslinien zum „Konfessionellen Zeitalter“ betont.72 Dieser Relativierung entspricht auch, dass die neuere Forschung die vielfältigen und ambivalenten Wirkungen des Westfälischen Friedens für das Zusammenleben der Konfessionen wie auch für das Verhältnis von „Kirche und Staat“ im Reich des späten 17. und 18. Jahrhunderts hervorhebt.73 Die ambivalenten Wirkungen des Westfälischen Friedens sowie die Kontinuitäten zur Zeit vor 1648 werden besonders deutlich in den seit den 1990er Jahren zahlreich entstandenen Untersuchungen, die sich mit den zentralen konfessionsrechtlichen Widersprüchen und Ungenauigkeiten des IPO und den daraus resultierenden Konflikten beschäftigen.74 Im Mittelpunkt stehen dabei häufig so genannte „Konversionsterritorien“, in denen der im IPO angelegte Grundwiderspruch zwischen landesherrlichem Jus reformandi und dem durch die Normaljahresbestimmungen festgeschriebenen Konfessionsstand am deutlichsten zu Tage trat. Dort wurden naturgemäß die strittigen Fragen nach der Rechtmäßigkeit des Simultaneums sowie das Problem der geistlichen Gerichtsbarkeit katholischer Landesherren über protestantische Untertanen besonders virulent – handelte es sich doch bei den Fürstenkonversionen nach dem Westfälischen Frieden praktisch ausschließlich um Bekenntniswechsel vom Protestantismus zum Katholizismus.75 Im Zusammenhang mit der Erforschung von Konfessionskonflikten und der Bedeutung der konfessionellen Gruppierungen für die Reichspolitik nach 1648 hat auch die Institution des Corpus Evangelicorum verstärkt Aufmerksamkeit erfahren. Der dem politisch-konfessionellen Antagonismus bzw. dem Konflikt zwischen „katholischer“ und „evangelischer“ Sicht auf den Westfälischen Frieden zugrunde 71 Dies wurde bereits betont von Aretin, Die Konfessionen als politische Kräfte; vgl. auch Haug-Moritz, Kaisertum und Parität. Insgesamt nimmt das Thema „Konfessionskonflikte nach 1648“ und deren Bedeutung für die Reichspolitik auch in der einschlägigen Handbuchliteratur einen festen Platz ein: Vgl. etwa Aretin, Das Alte Reich 2, S. 163–172, 272–295; Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung, S. 326–346; Schmidt, Wandel durch Vernunft, S. 120–129; Whaley, Das Heilige Römische Reich, S. 179–187. 72 Vgl. etwa Burkhardt, Abschied vom Religionskrieg, S. 3–4. 73 Vgl. etwa Asch, „Denn es sind ja die Deutschen“, bes. S. 136–137. 74 Eine erste grundlegende Analyse der unterschiedlichen Auslegungen des Westfälischen Friedens stammt von Kremer, Der Westfälische Friede; s. a. ders., Interpretation. Es folgten zahlreiche Forschungen, die sich mit den praktisch-politischen Konsequenzen der divergierenden Interpretationen des Westfälischen Friedens befassen: Vgl. etwa Stievermann, Politik; ders., Rahmenbedingungen; Luh, Unheiliges Römisches Reich. Zum spezifischen Problem gemischtkonfessioneller Ehen: Freist, Glaubensfreiheit. Für die paritätischen Reichsstädte sei hier exemplarisch lediglich verwiesen auf François, Grenze. 75 So auch bei Stievermann, Politik; Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt; einen Überblick jüngeren Datums bieten: Schindling, Reichsinstitutionen und Friedenswahrung; Kleine hagenbrock, Erhaltung. Für eine systematische Untersuchung der Simultaneums-Problematik vgl. Schäfer, Simultaneum; neuerdings zur Genese der Normaljahresnorm: Fuchs, Medium.
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liegende Interessengegensatz zwischen der Gruppe jener Reichsstände, die, wie der Kaiser selbst, ein traditionell-hierarchisches Verständnis der Reichsverfassung vertraten, und den evangelischen, mittelmächtigen Reichsständen, die von einer föderativen Interpretation des Verfassungsprogramms des Westfälischen Friedens profitierten, ist in mehreren Studien von Gabriele Haug-Moritz dargelegt worden.76 Diese Untersuchungen bilden vielfach die Grundlage für die neueren Arbeiten zum konfessionellen Gegensatz, so auch für die vorliegende Untersuchung. Dies gilt sowohl in systematisch-verfassungshistorischer Hinsicht als auch für die Frage, wie sich der grundsätzliche Verfassungskonflikt zwischen evangelischer Interpretation und katholisch-kaiserlicher Sichtweise in der Praxis, also im politischen Handeln der Akteure, niederschlug. Die neueren Forschungen zum Corpus Evangelicorum bauen daneben auch auf den zahlreichen Abhandlungen der zeitgenössischen protestantischen Reichspublizistik77 sowie auf einigen ältereren, vornehmlich rechtshistorischen und kirchenrechtlichen Arbeiten auf.78 Die Konfessionsproblematik im Allgemeinen und die Rolle des Corpus Evangelicorum im Besonderen wurden auch in einer Reihe jüngerer Arbeiten untersucht, die sich sämtlich als Beiträge zur politischen Kulturgeschichte des Reiches verstehen, die Thematik allerdings aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachten. So hat sich Peter Brachwitz unter Verwendung eines kommunikationsgeschichtlichen Ansatzes auf die mediale Rezeption der Religionsgravamina und die Entstehung dieser Beschwerden auf lokaler und territorialer Ebene konzentriert, während Andreas Kalipke aus verfahrenstheoretischer Perspektive die Entscheidungsfindung und die politischen Abläufe innerhalb des Corpus in den Mittelpunkt stellt.79 Bei allen Unterschieden lassen sich dabei sowohl in der älteren wie auch in der jüngeren Forschung zum Corpus Evangelicorum folgende Tendenzen ausmachen: (1.) Es dominiert eine Perspektive, in der das Corpus Evangelicorum als eine geschlossene, einheitlich agierende Quasi-Institution des Reiches erscheint. Diese Sichtweise ist sicherlich nicht zuletzt der Selbstdarstellung der zeitgenössischen evangelischen Reichspublizistik geschuldet, die allein schon aus Gründen der Legitimierung darauf abzielte, eben dieses Bild zu vermitteln. Für einige der neueren Arbeiten bedeutet dies aber, dass die Frage nach dem politischen Kalkül einzelner Mitglieder tendenziell in den Hintergrund tritt.80 76
Vgl. Haug-Moritz, Kaisertum und Parität; dies., Corpus Evangelicorum. s. etwa Moser, Von der teutschen Religionsverfassung; ders., Von der Landeshoheit im Geistlichen; Bülow, Geschichte. 78 Heckel, Parität; Schlaich, Majoritas; Wolff, Corpus Evangelicorum; Belstler, Stellung; Hafke, Zuständigkeit; Frantz, Direktorium. 79 Kalipke, Weitläufftigkeiten; ders., Verfahren; Brachwitz, Autorität des Sichtbaren. 80 Dies gilt nicht für die Arbeiten von Gabriele Haug-Moritz, die ausführlich die Bedeutung der evangelischen Oppositionspolitik für die Reichspolitik Friedrichs II. von Preußen untersucht hat; vgl. bes. Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt, S. 293–390. Auch bei Thompson, Britain, wird die englisch-hannoverische Reichspolitik im Rahmen des Corpus Evangelicorum behandelt. Thompson geht ausdrücklich von der Frage nach der Bedeutung evangelischer Schutzpolitik für Großbritannien in den frühen Jahren der Personalunion aus. Für Kursachsen hat Vötsch, Kursachsen, S. 19–169, die Dresdner Positionen als katholischer Direktor in der evangelischen Ständevertretung auf dem Reichstag untersucht. 77
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(2.) Die Entstehung des Corpus Evangelicorum bzw. seine Entwicklung zum politischen Akteur innerhalb des Reichsgefüges sind hingegen bislang kaum untersucht worden. Diese Tatsache sowie die oben angesprochene Wahrnehmung des Corpus als voll ausgebildeter Institution bringen es mit sich, dass zwischen den Entwicklungsphasen dieses nach wie vor schwer greifbaren Gebildes häufig kaum differenziert und dem höchst unterschiedlichen Grad seiner politischen Aktivität teilweise wenig Beachtung geschenkt worden ist. Gerade die jüngeren Studien zur Tätigkeit des Corpus Evangelicorum im 18. Jahrhundert nehmen (3.) häufig einzelne regionale Konfessionskonflikte als Ausgangspunkt, um anhand dieser Fallstudien die Behandlung konfessioneller Gravamina durch die verschiedenen politischen Ebenen des Reiches nachzuverfolgen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Entstehung der Konfessionskonflikte vor Ort, den Strategien und Spielräumen der unmittelbar Betroffenen sowie auf der Frage, in welcher Weise die Religionsverfassung des Reiches und die maßgeblichen Institutionen auch in den lokalen Lebenswelten der Untertanen präsent waren und von ihnen genutzt wurden.81 Auch diese Herangehensweise begünstigt eine Sicht auf das Corpus Evangelicorum als einheitlichen politischen Akteur, dessen Handlungen sich primär an den einmal fixierten Verfassungsprinzipien orientierten, und weniger an den aktuellen reichspolitischen Konjunkturen oder den Interessen einzelner Mitglieder.82 Aufgrund der oben beschriebenen Tendenzen sind (4.) zudem bisher kaum die politischen Probleme thematisiert worden, die sich daraus ergaben, dass mit Reformierten und Lutheranern zwei evangelische Konfessionen im Corpus Evangelicorum vertreten waren.83 Die zeitliche Eingrenzung der vorliegenden Untersuchung bringt es hingegen mit sich, dass hier nicht a priori von einer bereits existenten, politisch gefestigten Institution „Corpus Evangelicorum“ und der entsprechenden, von der Gemeinschaft aller evangelischen Reichsstände grundsätzlich akzeptierten Auslegung des Westfälischen Friedens ausgegangen werden kann. Gabriele Haug-Moritz hat eingehend dargelegt, dass das Corpus Evangelicorum in seiner Gestalt als oppositionstaugliches Corpus politicum nicht schon seit den Beratungen auf dem Osnabrücker Friedenskongress existierte, sondern sich erst im Zuge der ersten beiden Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts als solches ausbildete, und dass diese Entwicklung wiederum maßgeblich auf der Verständigung seiner Mitglieder auf ein einheitliches Gebäude politisch-rechtlicher Grundsätze fußte.84 Ausgehend von diesen Beobachtungen fragt die vorliegende Arbeit (1.) nach den näheren Umständen, unter denen sich 81
Vgl. etwa Kleinehagenbrock, Erhaltung; ders., Konfessionelle Konflikte; Brachwitz, Autorität des Sichtbaren, S. 157–291; Kalipke, Weitläufftigkeiten; Weber, Konfessionelle Konflikte; Adam, Pfalz-Zweibrücken. 82 So etwa Kalipke, Weitläufftigkeiten, S. 445. 83 Erwähnung finden diese Differenzen immer wieder bei Vötsch, Kursachsen, etwa S. 101– 104, 127–138, 158–161. Die einzige Arbeit, die sich ausführlich dem innerevangelischen Verhältnis und seinen Auswirkungen auf das Corpus Evangelicorum widmet, ist eine kirchengeschichtliche Dissertation über den letzten großen innerevangelischen Unionsversuch im 18. Jahrhundert: Schäufele, Pfaff. 84 Vgl. Haug-Moritz, Corpus Evangelicorum, S. 197–203.
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diese Ausbildung des Corpus Evangelicorum zu einer geschlossenen, einheitlich agierenden politischen Gruppierung vollzog, und (2.) nach Brandenburg-Preußens Anteil an diesem Prozess. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage nach dem Verhältnis der beiden evangelischen Konfessionen zueinander Berücksichtigung finden. Das durchaus nicht spannungsfreie Verhältnis zwischen Lutheranern und Reformierten nimmt aus zwei Gründen einen zentralen Platz in dieser Studie ein: Zum einen aufgrund des gewählten Untersuchungszeitraums, denn die innerevangelischen Gegensätze – und die Versuche, diese zu überwinden – bildeten in den frühen Jahren der politischen Aktivität des Corpus Evangelicorum eine entscheidende Herausforderung für die reichspolitische Zusammenarbeit der evangelischen Reichsstände. Zum anderen stellte sich das Problem des Verhältnisses zwischen Lutheranern und Reformierten für Brandenburg-Preußen insofern besonders eindringlich, als Brandenburg-Preußen nicht nur fraglos neben dem seit 1714 mit England in Personalunion verbundenen Kurhannover eine der zwei wichtigsten evangelischen Mächte im Reich darstellte, sondern gleichzeitig auch eine der wenigen reformierten Dynastien im Reich repräsentierte und sich schon deswegen potentiell mit dem Misstrauen der lutherischen Mehrheit unter den evangelischen Reichsständen konfrontiert sah.85 Die Konzentration auf Brandenburg-Preußen und dessen Konfessionspolitik im Reich schließt zudem ein, dass die jeweiligen politischen Zusammenhänge, in denen dieser Reichsstand konfessionspolitisch im Rahmen des Corpus Evangelicorum (und teilweise auch jenseits desselben) agierte, nicht nur berücksichtigt werden, sondern einen zentralen Gegenstand der Untersuchung darstellen.86 Mit Blick auf die formative Phase des Corpus Evangelicorum wird folglich nach den Wechselwirkungen gefragt werden, die zwischen einer nach außen einheitlich agierenden korporativen Politik aller evangelischen Reichsstände auf der einen Seite und der konfessionellen Reichspolitik Brandenburg-Preußens auf der anderen Seite bestanden. Mit anderen Worten: In welcher Weise beeinflusste Brandenburg-Preußen als auch damals schon eine der wichtigsten evangelischen Mächte im Reich (aber eben noch nicht eindeutig die wichtigste) die Institutionalisierung der evangelischen Ständevertretung 85
Vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 127–138. Angesichts der Tatsache, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle die Interventionen des Corpus Evangelicorum ergebnislos blieben, hat Andreas Kalipke die Funktion des Corpus Evangelicorum als symbolische Aufrechterhaltung der Parität interpretiert (Kalipke, Weitläuffigkeiten, S 447) – und damit zumindest implizit die Bedeutung der spezifischen politischen Interessen einzelner Reichsstände in den Hintergrund gerückt. In den Zeiten, in denen das Corpus Evangelicorum aufgrund der geringen Interessenübereinstimmung seiner Mitglieder reichspolitisch nicht in Erscheinung trat, sondern die Konfessionsbeschwerden „auf dem Weg der Geschäftsordnung“ (Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 477) erledigte, diente die Tätigkeit des Corpus Evangelicorum in der Tat primär der Aufrechterhaltung von Rechtsansprüchen bestimmter evangelischer Untertanen sowie der Principia evangelicorum im Allgemeinen. Den politischen Interessen, die insbesondere die mächtigeren evangelischen Reichsstände wie EnglandHannover oder Brandenburg-Preußen zu Zeiten einer aktiven evangelischen Oppositionspolitik verfolgten, wird diese Perspektive hingegen nicht gerecht. 86
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A. Einleitung
auf dem Reichstag, und wie wirkte sich umgekehrt die Existenz eines zunehmend politisch aktiven Corpus Evangelicorum auf die Gestaltung der brandenburg-preußischen Reichspolitik aus? In welchem Zusammenhang standen diese Prozesse wiederum mit dem Verhältnis Brandenburg-Preußens zum Kaiserhaus? Wie wirkte sich die Tatsache, dass das Corpus Evangelicorum seit ca. 1715 mit seiner Verfassungsinterpretation die kaiserlichen Vorrechte massiv in Frage stellte, auf die Beziehungen zwischen Berlin und Wien aus; und welche Unterschiede lassen sich dabei zu jenen Jahren beobachten, in denen Brandenburg-Preußen konfessionspolitisch im Reich noch weitestgehend unabhängig vom Corpus agierte? Die Forschungen von Volker Press und Gabriele Haug-Moritz haben gezeigt, wie eindeutig unter den Bedingungen des preußisch-österreichischen Dualismus die Rekonfessionalisierung der Reichspolitik im Allgemeinen und die Aktivierung des Corpus Evangelicorum im Besonderen Brandenburg-Preußen nutzten.87 In einer Zeit, in der das Reich praktisch in eine nördlich-preußische und eine südlichösterreichische Einflusszone geteilt war, bot eine auf das Corpus Evangelicorum gestützte Reichspolitik für Friedrich den Großen die Möglichkeit, den Kaiser reichspolitisch weitgehend zu blockieren, ihm in „Religionskonflikten“ die Autorität als Schiedsrichter abzusprechen und selbst zu intervenieren, sowie die brandenburg-preußische Gefolgschaft im Reich auszubauen bzw. zu befestigen.88 Für die Zeit der ersten großen Auseinandersetzung zwischen Corpus Evangelicorum und Kaiser in den Jahren 1719–1725 gestaltete sich die Position Brandenburg-Preußens im Reichsverband dagegen noch wesentlich weniger eindeutig; es war noch nicht zur zweiten Macht im Reich aufgestiegen und repräsentierte kein „evangelisches Gegenkaisertum“ wie unter Friedrich dem Großen. Es liegt daher nahe, dass das Engagement Brandenburg-Preußens im Corpus Evangelicorum während der ersten großen Verfassungskrise der 1720er Jahre auch weniger eindeutig darauf abzielte, den eigenen Einfluss im Reich auf Kosten der kaiserlichen Macht zu steigern, sondern die Interventionsmöglichkeiten des Kaisers in seiner Funktion als oberster Richter mit Blick auf das eigene Territorium einzuschränken, dass also zu dieser Zeit stärker das Verhältnis Brandenburg-Preußens zur Reichsjustiz im Vordergrund stand. Daher sollen in dieser Untersuchung auch besonders die Interessen Brandenburg-Preußens in Hinblick auf das eigene Territorium untersucht werden – basierend auf der Annahme, dass eine durch die evangelische Verfassungsauslegung erreichbare Schwächung der höchsten Reichsjustiz und insbesondere der kaiserlichen Rechtsprechung auch und gerade für einen Reichsstand wie Brandenburg-Preußen attraktiv erscheinen musste, der sich besonders intensiv um die Verdrängung der Reichsjustiz aus den eigenen Herrschaftsgebieten bemühte. In diesem Kontext wird auch zu fragen sein, inwieweit sich die Interessenlagen der beiden evangelischen
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Vgl. Press, Friedrich der Große als Reichspolitiker, bes. S. 39–44; Haug-Moritz, Corpus Evangelicorum, S. 204–205. 88 Das am besten erforschte Beispiel dafür stellt der württembergische Ständekonflikt dar: vgl. Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt.
III. Brandenburg-Preußen – Konfession – Reich
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Vormächte im Norden des Reiches, England-Hannover und Brandenburg-Preußen, in Bezug auf die gemeinsame Konfessionspolitik im Corpus Evangelicorum voneinander unterschieden. Dass die Protestanten im Rahmen des Corpus Evangelicorum mit den so genannten Principia evangelicorum zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein Gedankengebäude entwickelten, das den Kaiser als höchsten Richter herausforderte, muss fraglos auch als Reaktion auf die seit der Regierungszeit Leopolds I. zunehmende Erstarkung des Kaisertums interpretiert werden. Parallel zu diesen beiden aufeinander bezogenen Entwicklungen – der Befestigung und Konsolidierung der kaiserlichen Machtstellung einerseits und der Entstehung einer diese Stellung in Frage stellenden Verfassungsinterpretation andererseits – fand schließlich auch der allmähliche Aufstieg Brandenburg-Preußens zu einem der mächtigsten Territorien im Reich statt.89 Eine Studie, die sich zum Ziel gesetzt hat, die brandenburg-preußische Konfessionspolitik im Reich vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Ende der ersten großen Verfassungskrise des Reiches zu untersuchen, muss sich notwendigerweise mit allen drei Entwicklungslinien auseinandersetzen. Den Ausgangspunkt soll dabei zum einen die Institutionalisierung des Corpus Evangelicorum bilden, zum anderen aber die Frage nach der Rolle, die Brandenburg-Preußen in diesem Prozess spielte, sowie nach den (reichs-) politischen Interessen, die es dabei verfolgte. In diesem Kontext werden besonders die Wechselwirkungen zwischen dem konfessionspolitischen Engagement Brandenburg-Preußens im Reich und dem Verhältnis zwischen Berlin und Wien zu berücksichtigen sein.
III. Brandenburg-Preußen – Konfession – Reich Die in dieser Studie vorgenommene Untersuchung des Verhältnisses von Brandenburg-Preußen zu Kaiser und Reich steht unter dem Blickwinkel der Konfession, verfolgt also im weitesten Sinne die Frage nach der Bedeutung konfessioneller Zuordnungen für die politische Kultur im Alten Reich des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Damit wird eine der Erkenntnisse der jüngeren Forschungen zum Alten Reich, nach der religiöse Entwicklungen für die Gestaltung des Politischen auch nach 1648 eine gewichtige Rolle spielten, auf die Geschichte eines der wichtigsten und einflussreichsten protestantischen Reichsstände angewandt. Zu den höchst unterschiedlichen Bewertungen, welche die vorstaatlichen Gebilde „Brandenburg-Preußen“ und „Reich“ durch die Geschichtswissenschaft erfahren haben, kommt also ein weiteres historiographisches Problem: In der Geschichtsschreibung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren die jeweiligen Perspektiven auf Brandenburg-Preußen und das Alte Reich eminent konfessionell geprägt. Die konfessionsspezifische Sicht auf Brandenburg-Preußen hier und das Reich dort 89 Vgl. zu diesem Zusammenhang für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts: Press, Kriege und Krisen, S. 352–384; Neugebauer, Hohenzollern.
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A. Einleitung
war schon deswegen aufs Engste mit der jeweiligen Interpretation der historischen „Staatswerdung“ gekoppelt, weil sich bekanntlich beide Probleme, Staat und Konfession, in der zeitgenössischen deutschen Nationalstaatsfrage verbanden.90 Trotz einer ähnlich teleologischen Ausrichtung handelte es sich allerdings bei den konfessionellen Lesarten anders als bei der Frage der Staatswerdung weniger eindeutig um Rückprojektionen aktueller politischer Fragen auf die Vergangenheit, sondern zumindest auch um eine Fortschreibug frühneuzeitlicher Deutungen, die dann im Laufe des 19. Jahrhunderts von der wissenschaftlichen Historiographie aufgenommen wurden.91 So interpretierten nationalliberale Historiker des späten 19. Jahrhunderts den preußisch-österreichischen Dualismus seit 1740, auf frühneuzeitliche Lesarten aufbauend, als jenen Kampf zwischen evangelischem und katholischem Deutschland, der sich gleichsam ungebrochen von Friedrich dem Großen (und früher) bis in ihre Gegenwart erstreckte. Die Diskussion zwischen „großdeutsch-katholischen“ und „kleindeutsch-protestantischen“ Historikern hatte bereits in den 1860er Jahren an Schärfe zugenommen und intensivierte sich durch die Gründung des deutschen Kaiserreichs und den anschließenden Kulturkampf nochmals deutlich.92 Dabei dominierte bald nach 1870/71 die kleindeutsch-preußisch-protestantische Sichtweise, in der die „nationale“ und die „protestantische Sendung Preußens“ eng gekoppelt waren. Dagegen vertraten katholische Historiker mehrheitlich eine „großdeutsche“ und entsprechend positive Sicht auf das Heilige Römische Reich und vor allem auf das Kaisertum, dessen Niedergang allerdings auch in dieser Perspektive spätestens mit dem Augsburger Religionsfrieden und dem dort bekräftigten Territorialstaatsprinzip einsetzte.93 In der katholischen Historiographie stand neben dieser durchaus auch in nationalstaatlichen Kategorien denkenden Schule freilich noch die konfessionalistisch-ultramontane Richtung, die wiederum stark durch den Kulturkampf beeinflusst war. Ein sprechendes und wissenschaftlich entsprechend vorsichtig zu handhabendes Beispiel für die extremen konfessionellen Gegensätze, die sich naturgemäß ganz besonders auf dem Gebiet der Kirchengeschichte zeigten, bieten die ersten,1878–1881 noch ganz unter dem Eindruck des Kulturkampfes entstandenen Bände der von Max Lehmann herausgegebenen Quellenedition „Preussen und die katholische Kirche“ und die ausführlichen Gegendarstellungen, die 1880/81 in der Zeitschrift „Der Katholik“ erschienen.94
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Vgl. auch zum Folgenden Lill, Großdeutsch und kleindeutsch. Vgl. exemplarisch zu dieser Frage das Exkurs-Kapitel sowie Kap. F. am Ende dieser Arbeit; anders und mit Schwerpunkt auf kollektivbiographischen Aspekten und wissenschaftlicher Prägung: Weber, Protestantismus. 92 Vgl. auch zum Folgenden Gräf, Reich. 93 Der bekannteste und einflussreichste Exponent dieser Richtung war vermutlich Onno Klopp. Zur Biographie Klopps vgl. Matzinger, Onno Klopp. 94 Vgl. Der Katholik 60 (1880), 61 (1881). Vgl. auch Aretin, Das Alte Reich 2, S. 519, Anm. 23, der die Beiträge im „Katholik“ als „Ergänzung“ zu Lehmanns Werk beschreibt. 91
III. Brandenburg-Preußen – Konfession – Reich
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Die konfessionell-partikularistischen Deutungen verloren im Laufe des 20. Jahrhunderts zwar ihren kämpferischen Grundton, sie beeinflussten gleichwohl die Geschichtswissenschaft auch über beide Weltkriege hinaus.95 So lässt sich mit der Dominanz der kleindeutsch-borussisch-protestantischen Geschichtsschreibung seit Ende des 19. Jahrhunderts sowie der späteren Indienstnahme preußischer Traditionen durch den Nationalsozialismus vielleicht auch erklären, warum sich nach 1945 zunächst mehrheitlich katholische Historiker mit dem frühneuzeitlichen Reich auseinandergesetzt haben.96 Während die historiographische Sicht auf das Reich (und auch auf Preußen) bis weit ins 20. Jahrhundert konfessionell gefärbt war, sich mithin „katholische“ und „evangelische“ Bewertungen des frühneuzeitlichen Reichsverbandes deutlich unterschieden, stellte die Erforschung der brandenburg-preußischen Konfessionsgeschichte lange Zeit ein nahezu ausschließlich evangelisch geprägtes Forschungsgebiet dar. Auf diesem Gebiet erfuhren wiederum die beiden evange lischen Konfessionen – Luthertum und reformierte Konfession – eine deutlich unterschiedliche Bewertung hinsichtlich der großen Fragen von Modernisierung und Staatswerdung. Anders als bei der „evangelischen“ bzw. der „katholischen“ Sicht auf das Reich bestand hinsichtlich der brandenburgischen Konfessionsgeschichte unter den Historikern allerdings weitgehend Einigkeit: Vom späten 19. Jahrhundert bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hat die Forschung einen Schwerpunkt auf die Bedeutung der reformierten Konfession für die brandenburg-preußische Staatswerdung in dieser Epoche gelegt. Bereits Droysen betonte in seiner „Geschichte der preußischen Politik“ die Unterschiede zwischen den beiden großen evangelischen Konfessionen hinsichtlich ihrer politisch-sozialen Weltanschauung.97 Für Otto Hintze stand dann der Übertritt der Hohenzollern zum reformierten Bekenntnis gleichsam an der Wiege des brandenburg-preußischen Staates: Repräsentierte das ständisch dominierte Luthertum einen unpolitischen Geist und territoriale „Kleinstaaterei“, hielt mit dem reformierten Bekenntnis auch das Potential zu einer der 95
Konfessionell gefärbte Deutungen lassen sich naturgemäß besonders deutlich bei der Bewertung konfessionell konnotierter Konflikte beobachten, etwa bei der Beurteilung des für diese Arbeit im Fokus stehenden Religionsstreits der 1720er Jahre: So wird in den sämtlich aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts stammenden Arbeiten von Biederbick, Reichstag, Borgmann, Religionsstreit, und Naumann, Österreich, die Verantwortung für den Ausbruch des Religionskonflikts um die Kurpfalz den Katholiken, insbesondere aber dem Reichsvizekanzler, Friedrich Karl von Schönborn, zugeschrieben. Gewissermaßen unter umgekehrten Vorzeichen bewertete dagegen Hantsch, Reichsvizekanzler, den Religionsstreit in seiner Biographie über den Reichsvizekanzler Schönborn. In enger Anlehnung an Hantsch argumentierte später auch Aretin, der Reichsvizekanzler habe als Einziger „wahrhafte Reichspolitik“ betrieben, indem er die Interessen des Reichs über die der streitenden Konfessionsparteien gestellt habe. Im Gegenzug schildert Aretin die Protestanten am Regensburger Reichstag, insbesondere den kurhannoverischen Gesandten Wrisberg, als die eigentlichen „Kriegstreiber“, die einen vernünftigen Vergleich verhindert hätten; vgl. Aretin, Das Alte Reich 2, S. 272–295, bes. S. 272. Für alle genannten Arbeiten gilt im Übrigen, dass die jeweilige Perspektive sich nicht zuletzt an der Auswahl der Quellen ablesen lässt. 96 So die Einschätzung von Eichhorn, Geschichtswissenschaft, S. 351; eine wichtige Ausnahme stellt freilich Dickmann, Der Westfälische Frieden, dar, vgl. ebd. 97 Vgl. z. B. Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 2, Bd. 1, S. 612.
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Staatsräson verpflichteten Politik und der Schaffung eines einheitlichen, straff organisierten Staatswesens Einzug, verbunden mit der Durchsetzung der landesherrlichen Souveränität und einer an den Niederlanden orientierten selbstbewussten Außenpolitik im Kampf gegen den katholischen Imperialismus.98 Voll entfalten konnte sich dieses Potential aber – so die generelle Forschungsmeinung – erst unter der Regierung des Großen Kurfürsten.99 Unter diesen Gesichtspunkten haben nach Hintze auch zahlreiche andere Historiker, namentlich Gerhard Oestreich und Ernst Opgenoorth, den umfassenden Modernisierungsschub, den der Übertritt der Hohenzollern zum Calvinismus für die politische Entwicklung Brandenburg-Preußens bedeutete, insbesondere für die Regierung des Großen Kurfürsten unterstrichen.100 Die Forschung zur brandenburg-preußischen Konfessions- resp. Kirchenpolitik nach 1648 zeichnet sich mithin durch zwei Tendenzen aus, die sich auch im Allgemeinen für die ältere Forschung zur Geschichte Brandenburg-Preußens beobachten lassen: die Konzentration auf die Frage der staatlichen Entwicklung Brandenburg-Preußens sowie, damit verbunden, eine Konzentration auf die Regierungszeit des Großen Kurfürsten. Einen zentralen Faktor für diese positive Bewertung der hohenzollernschen Konfessionspolitik des 17. und 18. Jahrhunderts als zukunftsweisend und „modern“ stellt die nach wie vor gängige Einschätzung dar, dass mit dem Übertritt der Dynastie zum reformierten Bekenntnis eine aktive kirchliche Toleranzpolitik einherging, die sich besonders auf das innerevangelische Verhältnis zwischen Reformierten und Lutheranern auswirkte.101 Auch mit Blick auf Toleranz, Irenik und Union wurde und wird dem Großen Kurfürsten eine Vorreiterrolle zugeschrieben; unter seiner Regierung, so der Tenor, habe sich unter dem Einfluss von Naturrecht und Calvinismus nicht nur ein starkes landesherrliches Kirchenregiment entwickelt, sondern gleichzeitig eine Form der Religionsfreiheit etabliert, die Brandenburg-Preußen an die Spitze der europäischen Entwicklung von Gewissensfreiheit und Toleranz führten.102 Daneben wurde allerdings auch schon in der älteren Literatur darauf hingewiesen, dass seit Johann Sigismund die reformierte Minderheit planmäßig durch die Landesherrschaft gefördert und – durchaus auf Kosten der lutherischen 98
Vgl. Hintze, Kalvinismus; besonders deutlich auch ders., Hohenzollern, S. 140–144; zu dieser Thematik vgl. aus der jüngeren Literatur: Hahn, Calvinismus. Nischan, Confessionalism, bietet eine interessante Auseinandersetzung mit der älteren Forschungsmeinung und zugleich eine moderne Analyse der (konfessions-)politischen Gründe und Konsequenzen der Konversion Johann Sigismunds. 99 Vgl. Hintze, Hohenzollern, bes. S. 202–221; s. a. die im Folgenden angegebene Literatur. 100 Oestreich, Calvinismus; ders., Fundamente; Opgenoorth, Die Reformierten. 101 Vgl. schon Hintze, Hohenzollern, S. 165; Thadden, Fortsetzung, S. 104–105. Von einer Toleranzpolitik in Bezug auf die katholischen Untertanen lässt sich allerdings für die beiden ersten preußischen Könige nicht sprechen; vgl. zum Überblick und zur einschlägigen Literatur: Kraus, Staat und Kirche, S. 72–76; zur begrenzten Toleranz gegenüber der katholischen Minderheit unter Friedrich dem Großen vgl. Rudolph, Öffentliche Religion. 102 So repräsentiert etwa für Whaley, A Tolerant Society?, die brandenburg-preußische Kirchenpolitik das Beispiel für frühneuzeitliche Toleranzpolitik schlechthin.
III. Brandenburg-Preußen – Konfession – Reich
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Mehrheit – bevorzugt wurde, dass mithin die von den Hohenzollern betriebene Konfessionspolitik weniger als aktive Toleranzpolitik beurteilt werden könne, sondern eher die „Voraussetzungen für eine künftige staatliche Toleranzpolitik und für das Heranwachsen eines Toleranzbewußtseins“ geschaffen habe.103 Gleichwohl sind in jüngerer Zeit diese positiven bis ambivalenten Deutungen wieder grundsätzlich in Frage gestellt worden.104 In der Tat kann man berechtigterweise die Frage stellen, ob gerade die Aufnahme reformierter Glaubensflüchtlinge durch einen reformierten Fürsten einen Akt der Toleranz darstellte. Indessen ist es höchst zweifelhaft, ob man für Brandenburg-Preußen überhaupt von einer „reformierten Konfessionalisierung“ sprechen kann.105 Vielmehr war es gerade das Scheitern der „zweiten Reformation“ in Brandenburg bzw. das sich aus diesem Scheitern ergebende dauerhafte Nebeneinander von zwei evangelischen Konfessionen, die in einen „gewissen politischen Zwang zur Irenik und Toleranz“ seitens der Landesherrschaft mündeten.106 Freilich verfolgte die von Johann Sigismund und seinen Nachfolgern betriebene Kirchenpolitik primär das Ziel, die Reformierten in Brandenburg-Preußen zu protegieren – aber sie waren dabei immer mit dem zum Teil vehementen Widerstand der lutherischen Stände konfrontiert.107 Diese spezifische Konstellation hat schließlich maßgeblich dazu beigetragen, dass die Hohenzollern seit 1613 eine betont gemäßigte Form des reformierten Glaubens vertraten, die traditionell die Gemeinsamkeiten mit dem Luthertum hervorhob. Es ist daher eine problematische Schlussfolgerung, wenn man aus der richtigen Beobachtung, dass es sich etwa bei den Verboten von Kanzel-Polemiken und den Bemühungen um Religionsgespräche um politische Taktik handelte, die Erkenntnis ableitet, bei der Förderung innerevangelischer Irenik durch die Hohenzollern habe es sich eben um keine „echte“ Toleranz, sondern schlicht um „reformierte Konfessionalisierung“ gehandelt. Eine solche bewusst vereinfachende und (unter der impliziten Verwendung eines aufgeklärten Toleranzbegriffs als Norm) moralisierende Darstellung übersieht, dass die konsequente Förderung irenischer Strömungen – aus welchen politischen Intentionen sie auch herrührte – langfristig zur Etablierung theologischer Richtungen führte, deren Vertreter tendenziell ein friedliches und tolerantes Miteinander der evangelischen Konfessionen vertraten und bestehende dogmatische Unterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten zumindest nicht in den Mittelpunkt rückten.108
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Heinrich, Religionstoleranz, S. 74. So vertritt Jürgen Luh in einer Studie zur Konfessionspolitik der Hohenzollern vom Großen Kurfürsten bis Friedrich Wilhelm I. die These, die bisherige Forschung habe reformierte Konfessionalisierung mit Toleranzpolitik verwechselt; der Prozess der Konfessionalisierung aber habe in Brandenburg-Preußen schlicht „einige Jahre länger als im übrigen Reich“ gedauert; vgl. Luh, Konfessionspolitik, Zitat: S. 324. 105 Vgl. Nischan, Prince, S. 217–234. 106 Schilling, Nochmals „Zweite Reformation“, Zitat: S. 510–511; Thadden, Fortsetzung, bes. S. 247–248. 107 Für die Zeit Johann Sigismunds vgl. Nischan, Prince, S. 161–223. 108 Zu den Auswirkungen dieser grundsätzlichen politischen Linie auf den Umgang mit innerevangelischen Konflikten im kirchlichen Alltag vgl. neuerdings Leibetseder, Alltag. 104
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Zu diesen theologischen Richtungen wird gemeinhin besonders der Pietismus gerechnet, dem – ähnlich wie für das frühe 17. Jahrhundert dem Calvinismus – ein entscheidender Beitrag für die Entstehung eines „neuen Staates und einer neuen Gesellschaft“ im Brandenburg-Preußen des 18. Jahrhunderts zugeschrieben wird.109 Indem die geistliche Erneuerungsbewegung sich in Brandenburg-Preußen schon früh eng mit der landesherrlichen Macht verband, entwickelte sich der Pietismus dort zu einer breitenwirksamen gesellschaftlich-sozialen Reformbewegung mit einem nicht unerheblichen politischen Einfluss.110 Mit der Berufung Philipp Jakob Speners zum Propst der St. Nicolai-Kirche in Berlin 1691 begann eine auf das umfangreiche pietistische Netzwerk gestützte und von der landesherrlichen Kirchenpolitik befürwortete Personalpolitik, die in nur wenigen Jahren zahlreiche pietistische Theologen aus dem Ausland nach Brandenburg-Preußen führte.111 Unter diesen sollte August Hermann Francke, den Spener selbst berufen hatte, nach dessen Tod die wichtigste Figur für die Ausbreitung und Etablierung des von ihm geprägten Halleschen Pietismus während der Regierung Friedrich Wilhelms I. werden.112 Wie die Reformierten profitierten auch die Pietisten in großem Maße von landes herrlichen Begünstigungen in Form von umfangreichen Privilegien und finanziellen Zuwendungen sowie einer entsprechenden Personalpolitik.113 Die brandenburgpreußische Kirchenpolitik verfolgte mit dieser gezielten Förderung des Pietismus nicht zuletzt das Ziel, eine betont undogmatische Richtung des Luthertums in Konkurrenz zur mehrheitlich lutherisch-orthodoxen Landeskirche zu etablieren. Tatsächlich genossen die Pietisten in den zahlreichen Lehrstreitigkeiten mit Vertretern der lutherischen Orthodoxie vielfach die Unterstützung des Hofes.114 Allerdings bestanden zwischen den verschiedenen Gruppierungen unter den Pietisten in Brandenburg-Preußen auch durchaus Unterschiede hinsichtlich der Frage, in welchem Maße sie die Zusammenarbeit mit Vertretern der lutherischen Orthodoxie im Rahmen der Landeskirche befürworteten.115 109
So etwa bei Schilling, Höfe und Allianzen, S. 392. Einen guten, wenngleich leicht veralteten Forschungsüberblick bietet Schicketanz, Pietismus. 110 Nach wie vor grundlegend sind die Arbeiten von Carl Hinrichs und Klaus Deppermann: Hinrichs, Der Hallische Pietismus; ders., Preußentum und Pietismus; Deppermann, Der hallesche Pietismus; ders., Die politischen Voraussetzungen. 111 Vgl. Wallmann, Philipp Jakob Spener. 112 Aus der Masse der Literatur sei hier lediglich verwiesen auf die jüngere Studie von Obst, August Hermann Francke. 113 Zum pietistischen Netzwerk vgl. Lehmann, Vorüberlegungen; exemplarisch zur pietistischen Personalpolitik und Patronage im Bereich des Feldpredigerwesens: Marschke, Absolutely Pietist. 114 Vgl. zusammenfassend Klingebiel, Pietismus und Orthodoxie, bes. S. 295–302; bekanntes tes Beispiel für die Unterstützung des Berliner Hofes ist vermutlich die Auseinandersetzung zwischen August Hermann Francke und Christian Wolff, die mit der Vertreibung des letzteren von der Universität Halle endete; vgl. dazu: Hinrichs, Preußentum und Pietismus, S. 388–441, 467–473. 115 Mit Blick auf den Berliner Beichtstuhlstreit (1696–1698) vgl. dazu Kraus, Staat und Kirche. Ausführlich zum Beichtstuhlstreit vgl. Simon, Der Berliner Beichtstuhlstreit.
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Mit Verweis auf die vom Pietismus demonstrativ vertretene Abwertung dogmatischer Unterschiede zugunsten einer lebensweltlichen Frömmigkeit und der Konzentration auf Bildung und karitative Arbeit hat die allgemeine Geschichtsschreibung zu Brandenburg-Preußen dem Pietismus auch das Verdienst zugeschrieben, maßgeblich zur Nivellierung der innerevangelischen Konfessionsgrenzen beigetragen zu haben.116 Diese vereinfachende Darstellung verkennt allerdings den insbesondere im frühen 18. Jahrhundert nach wie vor virulenten Gegensatz zwischen den evangelischen Konfessionen sowie die Tatsache, dass es sich mindestens bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts bei Unionstheologie und Irenik um ein Elitenphänomen handelte. Hinzu kommt, dass auch und gerade der Pietismus Hallescher Prägung sich fraglos als lutherischer Pietismus verstand – und nicht als eine gleichsam „überprotestantische Konfession“, sondern vielmehr als eine Alternative zum orthodoxen Luthertum. Dabei wurden die Differenzen zur lutherischen Orthodoxie und deren Traditionen in den zahlreichen (teil-)öffentlich ausgetragenen Lehrstreitigkeiten des 17. und 18. Jahrhunderts von beiden Seiten deutlich benannt; die Abgrenzung zu den Reformierten hingegen formulierten die Pietisten aus Rücksicht auf die Landesherrschaft naturgemäß weniger offen.117 Nichtsdestoweniger verdeutlicht die Distanz, mit der das pietistische Lager den innerevangelischen Unionsbemühungen in Brandenburg-Preußen begegnete, dass der Hallesche Pietismus nicht undifferenziert als Wegbereiter von Union und Irenik vereinnahmt werden darf – zumindest nicht für die in dieser Arbeit untersuchte Zeitspanne.118 Das Verhältnis zwischen den beiden evangelischen Konfessionen in Brandenburg-Preußen, der Einfluss der Reformierten als „Hofkonfession“, die Frage nach Toleranz und Irenik und schließlich die Rolle des Pietismus werden in die vorliegende Arbeit insofern einfließen, als alle skizzierten Aspekte der inneren Kirchenpolitik freilich nicht strikt von der durch die Hohenzollern im Reich betriebenen Konfessionspolitik getrennt werden können. Allerdings können und sollen in dieser Arbeit die Kirchenpolitik der Hohenzollern sowie die konfessionellen Verhältnisse im Innern nur insoweit Berücksichtigung finden, als sich offensichtliche Wechselwirkungen mit der Konfessionspolitik im Reich ergaben. So wird etwa zu fragen sein, inwieweit die hohenzollernsche Reichspolitik auf die spezifische konfessionelle Konstellation im eigenen Territorium rekurrierte, um bestimmte politische Entscheidungen zu begründen oder sich innerhalb der protestantischen Reichsstände zu positionieren. Anschließend an die bereits aufgeworfene Problematik des auch auf Reichsebene nach wie vor virulenten innerevangelischen Gegensatzes soll weiterhin die Rolle der reformierten Elite für die Ausrichtung der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik im Reich entlang der folgenden Fragen untersucht werden: Lässt sich ein Einfluss der reformierten Amtsträgerschaft auf die evangelische 116
Vgl. etwa Opgenoorth, Die Reformierten, S. 452; Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit, S. 251–252; Grosser / Kreutz, Barock, S. 48. 117 Vgl. Kraus, Staat und Kirche, S. 79; deutlicher und mit zahlreichen Beispielen: Marschke, Mish-Mash. 118 Vgl. zu diesem Thema auch Kap. E. II. 4.
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Schutzpolitik Brandenburg-Preußens beobachten? Veränderte sich die Orientierung der konfessionellen Patronage der Hohenzollern im Kontext der Institutionalisierung des Corpus Evangelicorum? Bemühte man sich in Berlin, die im Rahmen der eigenen Kirchenpolitik immer wieder unternommenen Versuche, innerevangelische Religionsgespräche zu initiieren, auch auf Reichsebene fortzuführen und sich damit verbunden als Anwalt von Irenik und Toleranz zu präsentieren? Und umgekehrt: Wie wurden die brandenburg-preußischen Herrscher im Spannungsfeld der evangelischen Konfessionen wahrgenommen? Galten sie den zeitgenössischen politischen Akteuren als eindeutig reformiert, oder wurden die Bemühungen um eine vermittelnde Haltung zwischen den evangelischen Konfessionen auch außerhalb Brandenburg-Preußens positiv rezipiert – und wenn ja, von welchen Gruppen? Aus der Perspektive der kursächsischen Politik hat Jochen Vötsch die Zugehörigkeit der Hohenzollern zum reformierten Bekenntnis als „reichs- und konfessionspolitische Hypothek“ beschrieben.119 Diese Wertung bezieht sich allerdings primär auf den so genannten „Direktorialstreit“ innerhalb des Corpus Evangelicorum (in Folge des Bekanntwerdens der Konversion des sächsischen Kurprinzen 1717) sowie auf die Tatsache, dass es Brandenburg-Preußen nicht gelang, sich in Konkurrenz gegen das – formal nach wie vor als evangelisches Kurfürstentum geltende – Kursachsen als Direktor durchzusetzen.120 Vötsch hat in diesem Kontext überzeugend dargestellt, dass die brandenburg-preußischen Ambitionen maßgeblich an dem Misstrauen scheiterten, das die Mehrheit der lutherischen Reichsstände einem reformierten Fürsten als Direktor des Corpus Evangelicorum entgegenbrachten.121 An diese und andere Forschungen anschließend wird zu fragen sein, ob auch in Berlin das reformierte „Image“ Brandenburg-Preußens im Reich tendenziell als reichspolitische Belastung wahrgenommen wurde und wie man ggf. darauf reagierte.122 Bereits der hier nur angedeutete Konflikt um das evangelische Direktorium illustriert mithin, dass Brandenburg-Preußen offensichtlich schon lange vor dem Siebenjährigen Krieg innerhalb des Corpus Evangelicorum bzw. des evangelischen Reichsteils einen Führungsanspruch erhob.123 Dieser Anspruch war freilich 119
Vötsch, Kursachsen, S. 127. Zu den Bemühungen Friedrichs III./I., das Direktorium im Corpus Evangelicorum zu erlangen, und den daraus entstehenden Konflikten mit Kursachsen vgl. auch Göse, Friedrich I., S. 300–308. 121 Vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 127–138. 122 Vgl. das Fazit von Luh, Religionspolitik, bes. S. 164, demzufolge der Erfolg Friedrichs III./I. auf dem Gebiet einer dezidierten pro-reformierten Schutzpolitik auf Kosten der Durchsetzung seiner übrigen religionspolitischen Ziele ging. 123 Die Meinungen zur der Frage, inwieweit Brandenburg-Preußen vor 1740 tatsächlich die Führungsstellung im Corpus Evangelicorum innehatte, gehen in der Forschung allerdings weit auseinander. So behauptet Schindling, Kurbrandenburg, S. 38, dass Kurbrandenburg bereits nach der Konversion Augusts des Starken (1697) „die faktische Führung“ des Corpus Evangelicorum übernahm; ähnlich: Baumgart, Friedrich Wilhelm I., S. 157. Dagegen erklärt Thompson, Britain, bes. S. 77–79, die Vormachtstellung Brandenburg-Preußens im Corpus Evangelicorum für die Zeit vor Friedrich dem Großen zum „Prussian myth“ und betont dagegen die eindeutige Führungsposition England-Hannovers. 120
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nie Selbstzweck, sondern es ging dabei immer auch um eine Positionierung der brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige innerhalb des gesamten Reichssystems und insbesondere gegenüber dem Kaisertum. Daher liegt ein Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung auf der grundsätzlichen Frage, wie sich die – im weitesten Sinne als „evangelisch“ zu bezeichnende – konfessionelle Reichspolitik Brandenburg-Preußens zur Stellung der brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige zum Reich und insbesondere zum Kaiserhaus verhielt. In dem in dieser Arbeit untersuchten Zeitraum führte der oben geschilderte Grundwiderspruch zwischen den großen, in ihrem Staatsbildungsprozess fortgeschrittenen Territorien und dem System des hierarchisch auf die monarchische Spitze des Kaisers ausgerichteten Reichsverbandes Brandenburg-Preußen und das Kaisertum noch in keinen virulenten politischen Gegensatz, wie er in Form des preußisch-österreichischen Dualismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts virulent wurde. Gleichwohl bestanden auch schon im späten 17. und im frühen 18. Jahrhundert strukturelle Konflikte zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaisertum, die sich aus dem beschriebenen Grundantagonismus speisten und in denen sich letztlich unvereinbare Vorstellungen über die „richtige“ Gestaltung des Verhältnisses Brandenburg-Preußens zum Reich resp. des preußischen Königs zum Kaiser artikulierten – und damit über die politische Wirklichkeit des Reiches an sich. Und diese Konflikte – so eine zentrale These, die am Beginn dieser Untersuchung stand – waren schon deswegen potentiell „konfessionalisierbar“, wurden also von den Zeitgenossen zumindest auch und immer wieder in konfessionellen Kategorien wahrgenommen und beschrieben, weil Brandenburg-Preußen auch schon vor der Regierungszeit Friedrichs des Großen beanspruchte, eine der führenden Mächte des Protestantismus im Reich zu sein. Anders ausgedrückt: Es handelte sich bei diesen Problemen großenteils weniger um konfessionelle Konflikte im engeren Sinne, sondern vielmehr um Spannungen, die durch die zeitgenössischen Akteure grundsätzlich auch unter konfessionellen Vorzeichen interpretiert werden konnten. Ein Beispiel für eine solche konfessionelle Interpretation struktureller Konflikte bietet etwa die in Berlin gängige Klage über die konfessionelle Parteilichkeit des Reichshofrats (und damit implizit auch des Kaisers selbst), in der sich aber letztlich ein grundsätzlicher Konflikt über die reichshofrätliche Rechtsprechung manifestierte: Zum einen stellte die kaiserliche Justiz schon deswegen einen Konfliktpunkt zwischen den großen Territorien und dem Kaiser dar, weil der Reichshofrat es dem Kaiser noch im 18. Jahrhundert erlaubte, in gewissem Umfang selbst in ein Territorium der Größe Brandenburg-Preußens „hineinzuregieren“.124 Zum anderen vertrat der Reichshofrat in seiner beratenden und rechtsprechenden Funktion grundsätzlich die Tendenz, Untertanen (d. h. vor allem Landstände) und mindermächtige Reichsstände gegen Übergriffe von mächtigen Territorialherren zu schützen, mithin – den (verfassungs-)politischen Interessen des Kaisers entsprechend – die traditionelle 124
Vgl. Hughes, The Imperial Aulic Council; Press, Die kaiserliche Stellung, S. 71.
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Forma imperii zu schützen.125 Umgekehrt ließ sich auf kaiserlich-katholischer Seite die grundsätzliche Sorge vor dem Machtstreben der Potentiores und die damit einhergehende Gefährdung der bestehenden politischen Ordnung mit Blick auf die mächtigen norddeutsch-protestantischen Fürsten auch konfessionell lesen: Musste doch jede Machsteigerung dieser Fürsten nicht nur auf Kosten der Mindermächtigen gehen, sondern – so die konfessionelle Lesart – auch auf Kosten der katholischen Konfession, so dass also mit jeder politischen Veränderung zugunsten der evangelischen Potentiores immer auch die Gefahr einer Veränderung der konfessionellen Verhältnisse im Reich einherging, mithin der „Umsturz“ des Reiches.126 Welches Ausmaß und vor allem welche Formen die konfessionelle Interpretation solcher grundlegenden Spannungen annahm, hing maßgeblich von den politischen Konjunkturen ab. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird also zum einen nach den konkreten bilateralen Beziehungen zwischen Berlin und Wien und zum anderen nach den reichspolitischen Rahmenbedingungen insgesamt zu fragen sein. Eine wichtige Veränderung im Reichsgefüge brachte ab ca. 1715 die institutionelle Etablierung des Corpus Evangelicorum mit sich, das, selbst Produkt einer rekonfessionalisierten Reichspolitik, seinerseits die Tendenz zur konfessionellen Polarisierung der Reichspolitik verstärkte. Einerseits beeinflussten die in den frühen Jahren des 18. Jahrhunderts von der evangelischen Reichspublizistik entwickelten Rechtsgrundsätze auch die brandenburg-preußische Politik, andererseits ging die Entwicklung des Corpus Evanglicorum zum politischen Akteur maßgeblich auf brandenburg-preußische Interessenpolitik zurück. Die Existenz des Corpus Evangelicorum als geschlossene evangelische „Partei“ erlaubte es Brandenburg-Preußen zudem zwischenzeitlich, die eigene (Konfessions-)Politik als Teil einer gesamtevangelischen Politik im Reich zu präsentieren. Aus diesen Veränderungen der politischen Handlungsmöglichkeiten auf Reichsebene ergaben sich zwar für das Verhältnis zwischen dem Kaisertum und Brandenburg-Preußen keine völlig neuen strukturellen Konflikte; die bestehenden Spannungen wurden aber in veränderten Formen ausgetragen und entwickelten damit eine ganz andere reichspolitische Sprengkraft. Von den politischen Konjunkturen hing aber auch die Intensität ab, mit der Brandenburg-Preußen eine dezidiert evangelische „Image-Politik“ betrieb. Eine solche evangelische Profilierung lässt sich bereits für die Regierungszeit des Großen Kurfürsten ausmachen, und sie ging auch unter Friedrich III./I. und Friedrich Wilhelm I. häufig mit einem offensiven Antikatholizismus einher.127 Unmittelbares Objekt dieses Antikatholizismus waren primär die eigenen katholischen Untertanen. Die 125 Vgl. etwa Westphal, Kaiserliche Rechtsprechung; Haug-Moritz, Des „Kaysers rechter Arm“, S. 35; Feller, Die Bedeutung des Reiches, S. 131–181. 126 Vgl. Schröcker, Ein Schönborn, S. 18–24; Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 273–284. 127 Zur Kirchenpolitik gegenüber den katholischen Minderheiten im brandenburg-preußischen Territorialkomplex unter der Regierung des Großen Kurfürsten vgl. Lackner, Kirchenpolitik, S. 250–258. Für die Regierungszeiten Friedrichs III./I. und Friedrich Wilhelms I. vgl. Kap. B., D. und E. dieser Arbeit.
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Tatsache, dass Brandenburg-Preußen als einziger der großen evangelischen Reichsstände über eine nennenswerte Minorität katholischer Untertanen herrschte, war die zentrale Bedingung für eine bisweilen ostentative anti-katholische Politik, die über die reine Rhetorik hinaus ging und entsprechend öffentlichkeitswirksam inszeniert wurde.128 Dabei spielten im Kontext der katholisch-evangelischen Auseinandersetzungen über die gegensätzlichen Interpretationen der einschlägigen Bestimmungen des Religionsfriedens im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert vor allem die säkularisierten Stifte Minden, Magdeburg und Halberstadt eine Schlüsselrolle. Magdeburg, Minden und Halberstadt kamen in diesem Zusammenhang deswegen primär in Betracht, weil die dortigen Katholiken durch die Normaljahresnorm des Westfälischen Friedens geschützt waren, während der Konfessionsstand in den niederrheinisch-westfälischen Territorien durch spezielle Vereinbarungen festgelegt war, die von Brandenburg und Pfalz-Neuburg im 17. Jahrhundert ausgehandelt worden waren.129 Zwischen der Situation der Katholiken in Magdeburg, Minden und Halberstadt und derjenigen der evangelischen Unteranten in anderen Gebieten des Reiches, die – so der Vorwurf – von ihren katholischen Landesherren in ihren durch den Westfälischen Frieden garantierten Religionsrechten eingeschränkt wurden, ließen sich daher besonders deutliche Parallelen ziehen. Allgemein wurde die Kirchenpolitik gegenüber den eigenen katholischen Untertanen von den Hohenzollern immer wieder explizit für ihre Konfessionspolitik im Reich bzw. ihre konfessionelle Profilierung in Dienst genommen; sie verband sich mitunter aber auch mit der Politik gegenüber den Landständen, da sich vor allem in Halberstadt zahlreiche katholische Korporationen mit Landstandschaft befanden.130 Adressaten einer bewusst öffentlich gemachten restriktiven Politik gegenüber den katholischen Untertanen waren potentiell zum einen einzelne katholische Reichsstände oder aber der Kaisers selbst, teilweise auch die römische Kirche bzw. das Papsttum. Sowohl für Wien als auch für Rom hatten diese durchaus nennenswerten Überreste des Katholizismus in einem mehrheitlich evangelischen Umfeld, die noch dazu unter der Regierung einer der mächtigsten und profiliertesten evangelischen Dynastien im Reich standen, eine hohe symbolische Bedeutung.131 Für Wien verband sich im Falle der Katholiken in Minden, Halber stadt und Magdeburg dabei die allgemeine Schutzfunktion des Kaisers für den 128 Zu den Zahlenverhältnissen für die Zeit um 1700 vgl. Wendland, Die Entwicklung. Eine enge Verbindung zwischen evangelischer Schutzpolitik und anti-katholischer Kirchenpolitik gegenüber den eigenen Untertanen zeigt sich besonders deutlich in den niederrheinisch-westfälischen Gebieten bzw. in den Religionsvereinbarungen zwischen Brandenburg und Pfalz-Neuburg, die als Schutz gegen Verstöße auch die Möglichkeit vorsahen, dass die beiden Landesherren mit Gewaltmaßnahmen gegen die jeweils fremdkonfessionellen Untertanen reagierten; für das Herzogtum Kleve vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte; exemplarisch s. a. Kap. E. II. 3. (Der Fall Bylandt). 129 Vgl. zusammenfassend: Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 78–90. 130 Vgl. Grübel, Halberstadt. 131 Zur Bedeutung, die die Kurie insbesondere den Halberstädter Katholiken zumaß, vgl. Kap. D. II. und D. III.
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Katholizismus im Reich mit der Wahrung des religiösen und ständischen status quo im Sinne der im Westfälischen Frieden für diese Gebiete festgeschriebenen Rechte und Privilegien.132 Für die Kurie wiederum waren die katholischen Untertanen der brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige schon deswegen von Bedeutung, weil hier der hohenzollerische Anspruch auf die umfassende Landesherrschaft im Geistlichen (Summepiskopat) seinen Ursprung hatte.133 Insofern war es für Rom wie für Wien auch eine Frage der eigenen Glaubwürdigkeit, für die Rechte der katholischen Minderheit unter brandenburg-preußischer Herrschaft einzutreten. Für die brandenburg-preußische Seite diente die zeitweilig offensive Profilierung der Hohenzollern als „anti-katholisch“ primär dem Ziel, das Bild eines kämpferischen Protestantismus darzustellen. Dass die Hohenzollern durch ihre konfessionelle Positionierung in der Reichspolitik immer wieder unterstrichen, eine Führungsstellung unter den evangelischen Reichsfürsten zu beanspruchen, ist für die Regierungszeit des Großen Kurfürsten gezeigt worden – man denke etwa an den Einsatz Friedrich Wilhelms für die Durchsetzung einer neuen protestantischen Kur nach 1685.134 Gleichzeitig ist aber auch für die Regierungszeit des Großen Kurfürsten von der Forschung zu Recht hervorgehoben worden, dass der Einsatz für den Protestantismus mit einer dezidiert reformierten Interessenpolitik im Reich einherging, beispielsweise bei der Anerkennung der reformierten Konfession als Teil der A. C.-Verwandten im Zuge der Westfälischen Friedensverhandlungen oder aber im Kontext der Politik am Niederrhein nach 1648.135 Die Vertretung reformierter Interessen auf Reichsebene korrelierte mit einer spürbaren Förderung der Reformierten innerhalb Brandenburg-Preußens – auch das ist für die Zeit des Großen Kurfürsten gezeigt worden.136 Diese Tendenz schwächte sich im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts offensichtlich ab; unter Friedrich dem Großen jedenfalls scheint Brandenburg-Preußen eine eindeutig „evangelische“ Konfessionspolitik im Reich betrieben zu haben, ohne dass dabei zwischen Luthertum und reformiertem Bekenntnis unterschieden worden wäre bzw. ohne dass das reformierte Bekenntnis von König und Herrscherhaus für die Akzeptanz der Führungsposition Brandenburg-Preußens seitens der Protestanten im Reich eine Rolle gespielt hätte. Diese Entwicklung spiegelt sich wiederum auch in den Forschungen zur Bedeutung reformierter Amtsträgerschaft und der hohenzollerischen Kirchenpolitik im Innern. 132
Zu diesem Aspekt vgl. Kap. D. II. und D. III. Dazu vgl. eingehender Kap. D. II. 2. zu den Konflikten mit der Erzdiözese Köln hinsichtlich des Herzogtums Kleve vgl. ausführlich Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 211–371. 134 Vgl. Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 225–227. 135 Zu den Zielen Kurbrandenburgs auf den Westfälischen Friedensverhandlungen vgl. Baumgart, Kurbrandenburgs Kongreßdiplomatie; speziell zu den konfessionspolitischen Zielen: Landwehr, Kirchenpolitik, S. 32–63; Lackner, Kirchenpolitik, S. 71–89; Brandstetter, Kurbrandenburgische Unionsbestrebungen; eine allgemeinere aber auch einseitige Beurteilung der Außenpolitik des Großen Kurfürsten aus konfessionspolitischer Perspektive bietet die ältere Arbeit von Hensell, Das protestantische Moment. 136 Vgl. Opgenoorth, Die Reformierten, S. 443–446; Ribbe, Brandenburg; Landwehr, Kirchenpolitik, S. 191–240. 133
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In beiden Bereichen deutet vieles darauf hin, dass die dezidierte Bevorzugung der Reformierten bereits unter Friedrich Wilhelm I. abnahm.137 Für die vorliegende Arbeit ergibt sich aufgrund der Themenstellung die Frage, ob und wie sich diese Veränderungen auf der Ebene der konfessionellen Reichspolitik der Hohenzollern beobachten lassen, konkret: im späten 17. und im frühen 18. Jahrhundert, unter den Regierungen Friedrichs III./I. und Friedrich Wilhelms I. Dass Friedrich III./I. um 1700 im Zusammenhang der ersten größeren konfessionspolitischen Intervention in der Kurpfalz eine reformierten-freundliche Politik betrieb, ist grundsätzlich bekannt.138 In Hinblick auf die in dieser Zeit wachsende Bedeutung des Corpus Evangelicorum wird allerdings zu fragen sein, inwiefern Brandenburg-Preußen bei seiner im Reich betriebenen Konfessionspolitik auf die lutherische Mehrheit unter den evangelischen Reichsständen Rücksicht nahm bzw. sich genötigt sah, die eigene Politik zu rechtfertigen. Insbesondere für die Zeit der erneuten Intervention des Corpus Evangelicorum in der Kurpfalz im Kontext des „Pfälzer Religionsstreits“ ab 1719 wird dann vergleichend zu untersuchen sein, ob die überkommenen reformierten Klientel-Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen und den pfälzischen Reformierten aufrechterhalten wurden. Inwieweit lässt sich also ein Zusammenhang zwischen einer langsamen Abschwächung des reformierten Profils brandenburg-preußischer Schutzpolitik und der Institutionalisierung des Corpus Evangelicorum resp. der Entwicklung einer evangelischen Interpretation des Reichs-Religionsrechts als einem für alle Protestanten verbindlichen Normengefüge beobachten? Bestanden Verbindungen zwischen diesen Entwicklungen und den zeitgenössischen theologischen Unions- und Irenik-Bewegungen?
IV. Zur Eingrenzung des Themas und zum Aufbau der Arbeit Die oben entwickelten Fragestellungen können selbstverständlich nur exemplarisch untersucht werden. Die Kurpfalz, genauer: die Konflikte um die konfessionellen Verhältnisse in der Kurpfalz eignen sich für die Untersuchung der Konfessionspolitik Brandenburg-Preußens im Reich unter Friedrich III./I. und Friedrich Wilhelm I. in besonderer Weise. Bereits ein Blick in die einschlägigen Überblickswerke zur Reichsgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert beweist: Wer die Entwicklung der Konfessionspolitik im Reich nach 1648 betrachtet, kommt an der Kurpfalz nicht vorbei.139 Die Kurpfalz bzw. die dortigen konfessionellen Verhältnisse bildeten 137
Vgl. Opgenoorth, „Ausländer“, S. 46–50. Vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 227–274; Luh, Religionspolitik, S. 159; s. dazu ausführlich Kap. B. II. 139 Von den jüngeren Überblickswerken vgl. etwa Aretin, Das Alte Reich 2, S. 272–293; Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung, S. 327–338; Whaley, Das Heilige Römische Reich, S. 180–185; aus der älteren Literatur vgl. etwa Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte 2, S. 356–361. 138
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den zentralen Ausgangspunkt für die im späten 17. Jahrhundert einsetzende neue Welle von Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken im Reich. Nach dem Tod des letzten reformierten Kurfürsten aus der Linie Pfalz-Simmern war dort im Jahr 1685 die katholische Linie Pfalz-Neuburg an die Regierung gelangt. Im Zuge des Orléanschen Krieges wurden dann bis 1697 weite Teile der Pfalz zerstört und viele der linksrheinischen Ortschaften unter der französischen Besatzung zwangskatholisiert.140 Diesen Konfessionsstand schrieb die berühmte Zusatzklausel zum vierten Artikel des Friedens von Rijswijk (1697) fest. Bekanntlich bildete diese Klausel für rund ein halbes Jahrhundert den heftigsten Streitpunkt zwischen Protestanten und Katholiken – sowohl vor Ort in den betroffenen Gebieten als auch auf Reichsebene. Für die Protestanten stellte die Klausel ein grundsätzliches reichsrechtliches Problem dar, weil sie die universelle Geltung des Normaljahresprinzips durchbrach; ihre unmittelbare Sprengkraft entwickelte sie aber in den folgenden Jahren angesichts der praktischen Folgen in der Kurpfalz, wo die Kurfürsten Johann Wilhelm und Karl Philipp eine deutlich pro-katholische Kirchenpolitik betrieben.141 In der Folge entwickelte sich die Kurpfalz zum wichtigsten konfessionspolitischen „Zankapfel“ des Reiches; mehrfach intervenierten sowohl das Corpus Evangelicorum als auch der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. und spätere König Friedrich I. Diese erste intensive Phase konfessionspolitischen Engagements unter der Beteiligung Brandenburg-Preußens und des Corpus Evangelicorum endete mit der so genannten Religionsdeklaration von 1705, in der sich der Pfälzer Kurfürst und der preußische König auf die zukünftige Regelung der konfessionellen Verhältnisse in der Kurpfalz einigten.142 Einige Jahre später entbrannte der reichsweite Religionskonflikt, der sich zu einer Verfassungskrise auswachsen sollte, erneut an den Verhältnissen in der Kurpfalz. Auch in diesen Konflikt war Brandenburg-Preußen involviert, agierte diesmal aber wesentlich eindeutiger als noch in den Jahren 1698–1705 in der Rolle eines der Glieder des Corpus Evangelicorum.143 Bereits aufgrund dieser Konstellationen eignet sich das Beispiel der Kurpfalz besonders gut, um der Frage nachzugehen, welche Rolle Brandenburg-Preußen für die Entwick 140
Vgl. Herrmann, Religionspolitik; zur konfessionspolitischen Entwicklung der Kurpfalz seit dem Erlöschen der Dynastie Pfalz-Simmern vgl. Schaab, Katholiken. 141 Vgl. Krisinger, Religionspolitik; Sante, Kurpfälzische Politik; Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 114–149. 142 Die Vorgänge rund um die kurpfälzischen Religionsgravamina aus dieser Zeit sind in den Grundzügen zwar in der Literatur zu finden, die einzelnen Phasen des Engagements des Corpus Evangelicorum bzw. Brandenburg-Preußens bis 1705 werden aber beispielsweise bei Aretin, Das Alte Reich 2, S. 165–171, nicht klar getrennt. Problematisch ist auch die Beurteilung Aretins, Friedrich I. habe sich durch die Intervention in der Kurpfalz, die 1705 zum Abschluss der Religionsdeklaration führte, „zum Schutzherrn der Protestanten und zum Gegenpol des Kaisers entwickelt“ (ebd., S. 170). Auch die Einschätzung, die Rijswijker Klausel sei durch die Religionsdeklaration von 1705, wie Aretin meint, tatsächlich „gegenstandslos“ geworden (ebd., S. 171), verwundert angesichts der intensiven Bemühungen der evangelischen Reichsstände, eine Revision derselben auf den Friedenskongressen von Utrecht und Baden durchzusetzen; vgl. dazu ausführlich Kap. B. 143 Die Jahre des so genannten „Pfälzer Religionsstreits“ behandelt ausführlich Kap. E.
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lung des Corpus Evangelicorum spielte und wie sich wiederum dessen Existenz als „Quasi-Institution“ auf die konfessionspolitischen Handlungsmöglichkeiten Brandenburg-Preußens im Reich auswirkte. Hinzu kommt, dass die Kurpfalz auch den Zeitgenossen in konfessioneller Hinsicht als exemplarisch galt: Gerade weil die Kurpfalz in vieler Hinsicht einen konfessionellen Extremfall im nachwestfälischen Reichsverband darstellte, wurden die zahlreichen Debatten über die „richtige“ Auslegung der konfessionsrechtlichen Bestimmungen des Westfälischen Friedens immer wieder am Beispiel der Kurpfalz bzw. über die dortigen Verhältnisse geführt.144 Daher stellten die Konfessionskonflikte in der Kurpfalz auch einen zentralen Katalysator für die Entwicklung der so genannten Principia evangelicorum und damit für die Institutionalisierung des Corpus Evangelicorum insgesamt dar. Schließlich empfiehlt sich die Kurpfalz auch für die Untersuchung des Verhältnisses zwischen den beiden evangelischen Konfessionsgruppen im Reich. Denn neben der reformierten Mehrheit existierte in der Kurpfalz sowohl eine katholische als auch eine lutherische Minderheit, so dass sich neben der evangelisch-katholischen Konfliktlinie auch von einem innerevangelischen Gegensatz sprechen lässt.145 Es wird also mit Blick auf die spezifische Ausrichtung der evangelischen Schutzpolitik Brandenburg-Preußens unter Friedrich III./I. und Friedrich Wilhelm I. zu fragen sein, wie eindeutig „reformiert“ sich die Konfessionspolitik in der Kurpfalz gerierte. Mit welchen Widerständen war Brandenburg-Preußen seitens seiner lutherischen Mitstände konfrontiert? Und schließlich: Wie ging man in Berlin mit diesen Spannungen im Kontext der sich abzeichnenden Entwicklung des Corpus Evangelicorum zur zentralen Interessenvertretung der Protestanten um – deren Etablierung man selbst maßgeblich vorantrieb? Schließlich bietet das Untersuchungsobjekt der kurpfälzischen Konfessionskonflikte einen weiteren Vorteil: Hier standen sich dieselben Landesherren gegenüber wie in den niederrheinisch-westfälischen Gebieten des jülich-klevischen Erbes. Die Erbansprüche beider Dynastien auf das gesamte Erbe des letzten Jülicher Herzogs waren von beiden Seiten niemals aufgegeben worden; die Erb- bzw. Sukzessionsfrage aber wurde in den frühen Jahren der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. von neuem aktuell, als sich abzeichnete, dass mit dem Tod des regierenden Herzogs Karl Philipp die Familie Pfalz-Neuburg im Mannesstamm aussterben würde. Die Erbansprüche beider Dynastien auf den gesamten Territorialkomplex wurden aber nicht zuletzt dadurch aufrechterhalten, dass die Landesherren jeweils als Patrone für ihre Konfessionsangehörigen in denjenigen Gebieten agierten, die nicht von ihnen selbst regiert wurden, also die Neuburger für die Katholiken in Kleve-Mark und die Brandenburger für die Protestanten in Jülich-Berg.146 Diese gegenseitige konfessio 144
Vgl. etwa Moser, Vollständiger Bericht; Pütter, Systematische Darstellung. Einen Überblick über die konfessionellen Verhältnisse in der Kurpfalz seit der Reformation bietet: Schindling / Ziegler, Kurpfalz. 146 Vgl. zusammenfassend für die territoriale Entwicklung der Herzogtümer bis 1741: Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 71–78. 145
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nelle Schutzherrschaft war in den diversen Verträgen, die im 17. Jahrhundert zwischen Pfalz-Neuburg und Brandenburg geschlossen worden waren, niedergelegt.147 Insofern erlaubt die Konzentration auf die Kurpfalz auch die Frage, ob sich zwischen der konfessionellen Patronage, die Brandenburg-Preußen für die Protestanten in den Kurlanden der Neuburger betrieb, und der Konkurrenzsituation der beiden Dynastien in den niederrheinisch-westfälischen Territorien Zusammenhänge be obachten lassen.148 Auch im Herzogtum Kleve zeichnete sich ab Beginn des zweiten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts ein deutlicher Anstieg von Konfessionskonflikten ab, der darauf hinweist, dass, obwohl in den niederrheinisch-westfälischen Gebieten spezifische, vom Rest des Reichsverbandes unterschiedene Religionsvereinbarungen galten, die dortigen Entwicklungen offenbar ebenfalls von der allgemeinen Rekonfessionalisierung im Reich beeinflusst waren.149 So wäre mit Blick auf die niederrheinischen Gebiete und die dortigen konfessionellen Spannungen schließlich auch zu fragen, ob diese Konflikte vor dem Hintergrund des sich ab 1718 abzeichnenden Aussterbens der Linie Pfalz-Neuburg und der offenen Sukzessionsfrage sich nicht auch auf die jeweilige Konfessionspolitik Karl Philipps von der Pfalz und Friedrich Wilhelms I. auswirkten.150 Eine befriedigende Untersuchung dieser Frage kann und soll die vorliegende Arbeit naturgemäß nicht bieten, liegt der Schwerpunkt hier doch eindeutig auf der Analyse brandenburg-preußischer Konfessionspolitik in der Kurpfalz. Gleichwohl soll an verschiedenen Stellen der Untersuchung versucht werden, die für die Kurpfalz gewonnenen Ergebnisse mit der brandenburg-preußischen Politik gegenüber den Katholiken in Kleve zu vergleichen und schließlich auch die Frage der Sukzession in Jülich-Berg aus dieser Perspektive zu betrachten. Dies empfiehlt sich umso mehr als der – bekanntlich nicht realisierte – Erwerb Jülich-Bergs laut der einschlägigen Forschung „geradezu den Nukleus der gesamten Außenpolitik König Friedrich Wilhelms I. bildete“.151 Mit den erfolglosen Sukzessionsplänen für Jülich und Berg verbindet sich auch die gängige Einschätzung, Friedrich Wilhelm sei außenpolitisch gescheitert – eine Wertung, die gewissermaßen die Kehrseite der ebenfalls üblichen Charakterisie 147
Für die Jahre nach dem Westfälischen Frieden und den Streit um mögliche Normaljahres termine vgl. Fuchs, Verschiedene Normaljahre. Die verschiedenen Verträge aus dem 17. Jahrhundert zwischen Pfalz-Neuburg und Kurbrandenburg über die Landesherrschaft und das Religionsrecht in den jülich-klevischen Herzogtümern sind abgedruckt bei Moerner, Kurbrandenburgs Staatsverträge. 148 Hierbei lässt sich auf die neue Forschungsarbeit über Konfessionsbeschwerden der Katholiken im Herzogtum Kleve und ihre Behandlung im 18. Jahrhundert von Weber, Konfessionelle Konflikte, zurückgreifen. Diese Studie erlaubt es, die Entwicklungen in der Kurpfalz bzw. auf Reichsebene punktuell an der Situation in Kleve zu spiegeln. 149 Vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 146–220. 150 Weber, Konfessionelle Konflikte, stellt allerdings weder diese Beobachtung noch andere Ergebnisse in den Kontext der dynastischen Konkurrenz zwischen den Häusern Pfalz-Neuburg und Brandenburg, so dass auch und gerade der sich ab ca. 1718 deutlich abzeichnende erneute Konflikt um die Sukzession in Jülich-Berg völlig unberücksichtigt bleibt. 151 Duchhardt, Balance of Power, S. 163.
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rung Friedrich Wilhelms I. als „größter innerer König“ (Neuhaus) darstellt.152 Diese negative Perspektive auf die Außen- und Reichspolitik Friedrich Wilhelms I. wird maßgeblich dazu beigetragen haben, dass dieser Aspekt in der jüngeren Forschung praktisch keine Beachtung gefunden hat; und das gilt selbst für den markanten Einschnitt, den die Verhandlungen über die Sukzession in Jülich-Berg bedeuteten.153 Die Verhandlungen über Jülich und Berg bzw. über die Garantie der Pragmatischen Sanktion bedeuteten für die Beziehungen zwischen Berlin und Wien eine entscheidende Phase, die schließlich 1728 in Gestalt des Berliner Vertrags Brandenburg-Preußen und den Kaiser erneut in eine Allianz führten. Aus diesem Grund schließt die vorliegende Arbeit auch nicht mit dem Jahr 1725, mit dem man gemeinhin die durch den Religionsstreit ausgelöste Verfassungskrise enden lässt,154 sondern erweitert den Untersuchungszeitraum bis zum Abschluss der Berliner Allianz von 1728. Nachdem sich das Verhältnis Brandenburg-Preußens zum Kaiser mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. gegenüber der Regierungszeit seines Vaters deutlich verschlechtert hatte, begann 1726 mit dem Wusterhausener Vertrag wieder eine Phase der politischen Annäherung an Wien. In der hier eingenommenen Perspektive muss dabei die Frage im Zentrum stehen, wie im Zusammenhang dieser Verhandlungen die langanhaltenden Konflikte zwischen Berlin und Wien, die auch und gerade im Zuge des Verfassungskonfliktes ausgetragen worden waren, für das bilaterale Verhältnis zwischen Kaiser und König politisch „neutralisiert“ wurden. Denn eine zentrale Annahme dieser Untersuchung lautet: Die Beobachtung, dass sich in dem Verfassungskonflikt zwischen Corpus Evangelicorum und dem Kaisertum ab 1719 letztlich alte strukturelle Konflikte zwischen den Interessen der großen evangelischen Territorialstaaten und einem erstarkten Kaisertum entluden, gilt – mutatis mutandis – auch für das bilaterale Verhältnis zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaiser. Auch hier brachen sich nach Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges ältere Konflikte Bahn, die sich bereits unter Friedrich III./I. abgezeichnet hatten und nun, unter geänderten politischen Rahmenbedingungen, auch in neuen Formen ausgetragen wurden.155 Die außen 152
Vgl. etwa die Charakterisierung bei Baumgart, Friedrich Wilhelm I., bes. S. 134, 156–157; Duchhardt, Balance of Power, S. 161–162. Die Geringschätzung, die Friedrich Wilhelm I. den auswärtigen Beziehungen entgegenbrachte, änderte sich nach einhelliger Forschungsmeinung erst mit der Einrichtung des Departements für auswärtige Angelegenheiten im Jahr 1728; vgl. ebd. 153 In der älteren Literatur ausführlich behandelt bei: Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 2, Bd. 1, S. 411–453; Bd. 2, S. 1–74; relativ kurz abgehandelt von Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 308–309. In der neueren Literatur werden die Verhandlungen um die Sukzession in Jülich und Berg bzw. die Garantie der Pragmatischen Sanktion intensiver beschrieben von: Kuntke, Seckendorff, S. 160–170. Hans, Kurfürst Karl Philipp, S. 150–258 u. passim, behandelt die Sukzessionsfrage naturgemäß aus der Pfälzer Perspektive. 154 Vgl. etwa Biederbick, Reichstag; Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt, S. 154; Belstler, Corpus Evangelicorum, S. 25–33, der das Jahr 1724 als Ende des pfälzischen Konflikts angibt. 155 Im Falle des Corpus Evangelicorum war neben der Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges und der starken kaiserlichen Präsenz im Reich ein weiterer wichtiger Faktor die Umschichtung bei den fürstlichen Stimmen im Corpus Evangelicorum, die bis 1715 dazu ge-
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politische Orientierung Brandenburg-Preußens an Habsburg, die seit 1686 bestand und erst 1740 in eine offene Gegnerschaft umschlug, sollte nicht den Blick darauf verstellen, dass sich auch schon unter Friedrich III./I. und noch deutlicher unter Friedrich Wilhelm I. strukturelle Probleme zwischen den brandenburgischen Kurfürsten bzw. preußischen Königen und dem Kaisertum aufgebaut hatten, die zwar bis 1740 immer wieder politisch handhabbar gemacht wurden, die aber wiederum auch niemals endgültig gelöst werden konnten und damit gleichsam als Dauerthemen die Beziehungen zwischen Berlin und Wien nachhaltig belasteten. Hingegen findet sich in der Literatur über Friedrich III./I., besonders aber über Friedrich Wilhelm I. häufig das Urteil, diese Herrscher hätten sich durch eine besondere „Reichstreue“ ausgezeichnet – im Gegensatz zu Friedrich dem Großen.156 Speziell mit Blick auf die Zeit des preußisch-österreichischen Bündnisses seit 1728 ist dabei nicht zuletzt auf die emotionale Bindung Friedrich Wilhelms I. an den regierenden Kaiser Karl VI. hingewiesen worden, für die in der Tat zahlreiche persönliche Äußerungen des Königs überliefert sind, etwa im Rahmen des berüchtigten „Tabakskollegiums“.157 Allerdings handelt es sich bei derlei Zitaten, die in der Literatur häufig angeführt werden, sicherlich nicht um bedingungslose Bekenntnisse zu Kaiser und Reich.158 Zum einen stammen diese Äußerungen überwiegend aus führt hatte, dass die Zahl der Stimmen, die von den „Großen“, also Brandenburg-Preußen und Hannover, geführt wurden, deutlich angestiegen war; vgl. Haug-Moritz, Corpus Evangelicorum, S. 201; anschaulich dargestellt bei Kleinehagenbrock, Brandenburg-Preußen und das Alte Reich, S. 888. 156 So etwa die generalisierende Aussage von Baumgart, Friedrich Wilhelm I., S. 157: „Der preußische König [Friedrich Wilhelm I.] erfüllte seine Pflichten als Reichsstand ohne Zögern, allerdings verstand er sich dabei als Protektor der evangelischen Interessen auf der Basis des Westfälischen Friedens […].“ Dieses Urteil berücksichtigt nicht die bekannten Konflikte mit Wien während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. über die notorischen Versäumnisse Brandenburg-Preußens hinsichtlich zahlreicher „Reichspflichten“ wie etwa die Zahlung des Kammerzielers, die Ignorierung praktisch sämtlicher reichsgerichtlicher Anordnungen, die trotz aller Ermahnungen weiter durchgeführten gewaltsamen Werbungen in fremden Territorien usw. Im Falle Friedrichs III./I. bezieht sich die ihm zugeschriebene „Reichstreue“ meist primär auf die Allianz mit dem Kaiser während des Spanischen Erbfolgekrieges; vgl. etwa Neugebauer, Friedrich III./I., S. 126–128. Grundsätzlich ist es bemerkenswert, wie sehr auch im Falle Friedrichs des Großen für lange Zeit dessen eigene überlieferte Äußerungen zum Reichsverband von der Forschung zur Beurteilung seiner Reichspolitik übernommen worden sind. Während heute allerdings für Friedrich den Großen vermehrt darauf hingewiesen wird, dass diese abschätzigen Bewertungen des Reiches und seiner Institutionen zunächst einmal als Stilisierung des Monarchen verstanden werden müssen (vgl. etwa Rohschneider, Österreich, S. 57), werden Friedrich Wilhelms I. Äußerungen von der Forschung nach wie vor wesentlich ungefilterter „beim Wort genommen“. 157 Vgl. etwa für den Kontext der Allianz-Verhandlungen der Jahre 1726–1728 neuerdings Kuntke, Seckendorff, S. 170. 158 Vgl. dazu etwa die Bewertung der Abkehr vom Bündnis mit dem Kaiser gegen Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. bei Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit, S. 320: „Diese Lehre [die Übergehung der brandenburg-preußischen Ansprüche auf Berg durch Österreich, Frankreich und die Niederlande im Jahr 1728, R. W.] saß tief, und dies umso mehr, als damit die emotionale Außenpolitik des brandenburg-preußisch-kaiserlichen Bündnisses, wie sie Friedrich Wilhelm I. aus prinzipieller Reichstreue vertreten hatte, auf eine
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der Zeit des engen außenpolitischen Bündnisses zwischen Wien und Berlin bzw. aus dem Kontext der „Werbemaßnahmen“, die Friedrich Wilhelm I. zugunsten der Garantie der Pragmatischen Sanktion im Reich unternahm.159 Zum anderen darf hier auch die familienpolitische Komponente der überlieferten Zitate, nämlich der „Generationenkonflikt“ über die außenpolitische Orientierung Brandenburg-Preußens, nicht unberücksichtigt bleiben:160 Derartig ostentative Beteuerungen der Treue zum Kaiser zielten in dieser Zeit nicht zuletzt auf den Kronprinzen und dessen Partei am Hof, die bekanntlich das Bündnis mit Wien ablehnten und stattdessen eine Annäherung an Frankreich vertraten. Freilich wird man für die hier untersuchte Zeit noch keine offene Infragestellung des Reichs und des Kaisertums finden; der „ideelle Grundkonsens“ (Haug-Moritz) bestand nach wie vor. Nichtsdestoweniger aber divergierten die Vorstellungen über die Ausgestaltung des Verhältnisses von Kaiser und Reich bzw. von Kaiser und Reichsständen gerade zwischen Berlin und Wien erheblich. Daher soll im Rahmen dieser Untersuchung, die den Fokus eindeutig auf die politischen Verhältnisse innerhalb des Reiches legt,161 der Begriff der „Reichstreue“ nicht als historisch-analytische Kategorie verwendet werden;162 vielmehr sollen die mit diesem zeitgenössischen Begriff – explizit wie implizit – verbundenen unterschiedlichen Vorstellungen zum Objekt der Analyse gemacht werden. Auch aus diesen Gründen nimmt diese Arbeit bewusst eine längerfristige Perspektive ein als dies für die älteren Spezialuntersuchungen zum Pfälzer Religionsstreit gilt, die sich auf die Jahre 1719–1721/25, also die Zeit des akuten Gegensatzes zwischen Protestanten und Kaiser, beschränkt haben. Zudem erscheint in diesen spektakuläre Weise gescheitert war“. Zur Betonung der „prinzipiellen Reichstreue“ Friedrich Wilhelms I. vgl. auch ebd., S. 319. 159 Vgl. dazu die einschlägigen Zitate aus den wichtigsten Quellen, etwa die Korrespondenz des Grafen Seckendorff; dazu Kuntke, Seckendorff, S. 156–207, oder das Reisejournal des Grafen Seckendorff: Wagner, Das Reisejournal des Grafen Seckendorff, sowie der Quellenanhang bei Förster, Friedrich Wilhelm I., Bde. 1–3. 160 Zitat: Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit, S. 321. Vgl. dazu auch Baumgart, Kronprinzenopposition; s. a. mit Blick auf den Konflikt zwischen Vater und Sohn hinsichtlich der außenpolitischen Orientierung im Kontext des Fluchtversuchs die Aufzeichnungen des Grafen Seckendorff: Wagner, Das Reisejournal des Grafen Seckendorff. 161 Nicht zufällig ist das Phänomen des „Reichspatriotismus“ in der jüngeren Forschung primär mit Blick auf das Verhältnis einzelner Reichsstände oder Gruppen von Reichsständen zu auswärtigen Mächten, namentlich den „Reichsfeinden“ Frankreich, Schweden und dem Osmanischen Reich, untersucht worden; so etwa bei Wrede, Das Reich und seine Feinde; für Brandenburg-Preußen und Hannover: Ders., Der Kaiser, das Reich und der deutsche Norden. 162 Das gilt für die vorliegende Arbeit auch für den Begriff des „Reichspatriotismus“, der gerade mit Blick auf die brandenburg-preußischen Herrscher häufig synonym mit dem Begriff der „Reichstreue“ verwendet wird; vgl. etwa Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, S. XIII; aber auch Wrede, Der Kaiser, das Reich und der deutsche Norden, bes. S. 362–373, verwendet für die Zeit des Großen Kurfürsten die in den Quellen zitierten Bekenntnisse zu Kaiser und Reich synonym mit dem Begriff des „Reichspatriotismus“ und bietet keine Erklärung dafür, inwieweit die zeitgenössischen Begrifflichkeiten in der historiographischen Kategorie „Reichspatriotismus“ aufgehen.
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älteren Studien die brandenburg-preußische Reichspolitik weitgehend irrational und erratisch. So schreiben diese Untersuchungen vielfach eine ältere Deutung fort, die auf einem psychologisierenden Bild Friedrich Wilhelms I. aufbaut, das stark auf die außenpolitischen Skrupel und das diplomatische Ungeschick des Königs abhebt:163 Im Kontext des Religionsstreits habe sich Friedrich Wilhelm I. zu noch nie dagewesenen Gewalttaten gegen seine eigenen katholischen Untertanen hinreißen lassen und habe es sich dadurch – wohlgemerkt wider seine „eigentlichen“ reichspolitischen Interessen – mit dem Kaiser verdorben.164 Dieser Lesart, die auch in manche Überblicksdarstellung zum Alten Reich im 18. Jahrhundert Eingang gefunden hat,165 soll hier eine Deutung an die Seite gestellt werden, in der weniger die individuelle Psychologie des Herrschers in den Mittelpunkt gerückt wird; stattdessen soll die brandenburg-preußische Politik der Jahre 1719–1725 und das Engagement im Rahmen des Corpus Evangelicorum stärker aus der Logik der langfristigen, strukturellen Beziehungen Brandenburg-Preußens zu Kaiser und Reich interpretiert werden. Die vorliegende Untersuchung ist chronologisch aufgebaut. In zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht liegt der Schwerpunkt auf den Jahren 1715–1728, in denen zum einen die wichtigsten Fundamente der evangelischen Reichsverfassungslehre gelegt wurden und sich das Corpus Evangelicorum zur politischen Korporation entwickelte. Zum anderen entwickelte sich in dieser Zeit aber auch das bilaterale Verhältnis zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaisertum immer krisenhafter, bis sich im Zuge der Allianzverhandlungen der Jahre 1726–1728 die diplomatischen Beziehungen wieder allmählich entspannten. Eine Untersuchung, die auch und gerade nach den Veränderungen fragt, die sich aus der Etablierung des Corpus Evanglicorum für die reichspolitischen Möglichkeiten Brandenburg-Preußens ergaben, muss allerdings vor 1715 einsetzen. Die Wahl, brandenburg-preußische Konfessionspolitik am Beispiel der Kurpfalz zu betrachten, bestimmt damit auch den Anfangspunkt dieser Untersuchung: der Beginn brandenburg-preußischer Interventionen zugunsten der Protestanten in der Kurpfalz Ende des 17. Jahrhunderts, noch vor Abschluss des Rijswijker Friedens. Zunächst wird daher die Konfessionspolitik Brandenburg-Preußens in der Kurpfalz während der späten Regierungsjahre Friedrichs III./I. behandelt (Kap. B.). In 163 Dieses Bild fußt wiederum maßgeblich auf den Aussagen, die Friedrich Wilhelm I. in seinem politischen Testament von 1722 hinsichtlich der Außenpolitik gemacht hat. Dort begründet der König die rechtlichen Bindungen außenpolitischer Ziele und die Warnung vor außenpolitischer Aggressivität mit religiösen Überlegungen und rät seinem Nachfolger, auf den Ratschlag seiner Minister zu vertrauen; vgl. Die Instruktion König Friedrich Wilhelms für seinen Nachfolger, in: Dietrich, Die politischen Testamente, S. 221–243, hier S. 238–239; zur Analyse vgl. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I, S. 44–45; Hartung, Friedrich Wilhelm I., S. 144–245; Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit, S. 315–317, der in diesem Kontext (S. 316) Friedrich Wilhelm I. sogar „außenpolitische Depressivität“ bescheinigt. 164 Besonders deutlich bei Borgmann, Religionsstreit, S. 44–94. 165 Vgl. etwa Aretin, Das Alte Reich 2, S. 279–282.
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dieser ersten Phase konfessionspolitischen Engagements in der Kurpfalz agierte Brandenburg-Preußen teilweise im Verbund mit den übrigen evangelischen Reichsständen, teilweise aber auch losgelöst vom Corpus Evangelicorum. Namentlich die so genannte Religionsdeklaration von 1705, die das Verhältnis von Katholiken und Reformierten festschrieb, die Lutheraner aber unberücksichtigt ließ, wurde auf bilateralem Wege zwischen Kurpfalz und Brandenburg-Preußen und ohne Beteiligung des Corpus Evangelicorum erreicht. Daher wird zunächst zu klären sein, wie sich diese beiden Formen konfessioneller Schutzpolitik zueinander verhielten und welche Rolle Brandenburg-Preußen innerhalb des Corpus Evangelicorum spielte. Im Zentrum steht in diesem Teil der Arbeit somit zum einen das Verhältnis zwischen Lutheranern und Reformierten (in der Kurpfalz ebenso wie auf der Ebene des Reichs). In diesem Zusammenhang wird auch zu erörtern sein, in welcher Weise die Situation in der Kurpfalz in den parallel geführten Toleranz- und Unionsdebatten rezipiert wurde und wie Brandenburg-Preußen sich unter Friedrich III./I. in diesen Diskussionen positionierte. Zum anderen soll die allmähliche Etablierung des Corpus Evangelicorum zur zentralen reichspolitischen Instanz für die protestantischen Interessen untersucht werden. Schließlich soll in diesem Kontext auch die Frage gestellt werden, wie sich die innerevangelischen Spannungen zu dem gemeinsamen Kampf gegen die Rijswijker Klausel verhielten. So wird anhand der Friedenskongresse zur Beendigung des Spanischen Erbfolgekriegs dargelegt, wie stark die gemeinsamen Bemühungen, eine Revision der Rijswijker Klausel durchzusetzen, von der Situation in der Kurpfalz beeinflusst wurden. Zwar führte die konfessionelle Schutzpolitik, die Brandenburg-Preußen unter Friedrich III./I. – mit und ohne Beteiligung des Corpus Evangelicorum – in der Kurpfalz betrieb, noch nicht zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Kaiser, wie dies 1719–1725 der Fall sein sollte. Nichtsdestoweniger zielte die brandenburg-preußische Konfessionspolitik im Reich freilich auch schon zu diesem Zeitpunkt darauf ab, Handlungsspielräume und Einflussmöglichkeiten im Reich auszudehnen und das konfessionspolitische Profil Brandenburg-Preußens zu schärfen. Dass diese Politik auch schon im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts das Potential für einen Grundsatzkonflikt mit dem Kaiser enthielt, zeigt eine Auseinandersetzung zwischen Brandenburg-Preußen und der Reichsstadt Köln, die parallel zu den untersuchten Entwicklungen in und um die Kurpfalz zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstand und ebenfalls einem Streit um die konfessionellen Rechte der beteiligten Akteure entsprungen war. Der entscheidende Unterschied zur Konfessionspolitik Brandenburg-Preußens in der Kurpfalz aber lag in dem Umstand begründet, dass Friedrich I., als er für seinen Residenten in Köln das Recht beanspruchte, öffentlich reformierte Gottesdienste abzuhalten, sich gerade nicht auf den Religionsfrieden berief, sondern auf das Jus gentium. Daher wird dieser Konflikt den Untersuchungen zum kurpfälzischen Konfessionskonflikt an die Seite gestellt. Denn hier, so die These, lassen sich bereits diejenigen Probleme in nuce beobachten, die in der ersten Hälfte der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. im Verhältnis zum Kaiser virulent werden sollten.
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Die beiden folgenden Kapitel (C. und D.) widmen sich den wachsenden Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken / Kaiser auf Reichsebene einerseits sowie zwischen Berlin und Wien andererseits, wie sie sich nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges und im Zeichen der zunehmenden Konfessionalisierung der Reichspolitik immer deutlicher abzeichneten. So wird für die Zeit vor dem Beginn der akuten Verfassungskrise untersucht, an welchen Aspekten sich sowohl in der politisch-juristischen Argumentation des Corpus Evangelicorum wie auch im bilateralen Verhältnis Brandenburg-Preußens zum Kaiser bereits jene Konfliktlinien erkennen lassen, die auch dem ab 1719 offen ausgetragenen Streit zwischen Kaiser und protestantischem Reichsteil zugrunde lagen. Kapitel C. beginnt daher mit einer exemplarischen Untersuchung zweier in diesem Zeitraum von den Protestanten an den Reichstag gebrachter Rekurse, anhand derer verdeutlicht werden soll, wie weit die Protestanten zu diesem Zeitpunkt bereits ein geschlossenes Rechtsgebäude evangelischer Verfassungsauslegung entwickelt hatten. Der zunehmenden und systematischen Infragestellung der Zuständigkeit beider Reichsgerichte für evangelische „Religionsangelegenheiten“ werden im Folgenden die Beziehungen Brandenburg-Preußens zum Reichsverband im Allgemeinen und zur Reichsjustiz im Besonderen an die Seite gestellt. Dabei steht zum einen das Verhältnis Brandenburg-Preußens zum Reichshofrat im Zentrum; zum anderen – und in Verbindung dazu – werden die territorialen Arrondierungsversuche Brandenburg-Preußens im Reich untersucht und schließlich die daraus entstehenden Konflikte mit dem Kaisertum analysiert, die sich nicht zuletzt auf dem Gebiet des Zeremoniells niederschlugen, mithin erneut auf die preußische Königswürde und ihre Rolle im Reich verweisen. Dabei sollte deutlich werden, dass zahlreiche jener Konflikte mit dem Kaisertum, die unter Friedrich Wilhelm I. akut wurden, auf die Regierungszeit Friedrichs III./I. zurückgingen oder sogar noch früher entstanden waren. Wie sich die in der Literatur für die Zeit nach 1700 allgemein konstatierte „konfessionelle Krisenstimmung“ im Reich konkret äußerte, soll in Kapitel D. anhand eines vor dem Reichshofrat geführten Verfahrens gegen Christian Thomasius dargestellt werden. In diesem Verfahren ging es vordergründig um den Vorwurf, Thomasius habe eine konfessionelle Schmähschrift verfasst; gleichzeitig wurde im Kontext dieses Verfahrens aber auch das Verhältnis Brandenburg-Preußens zur Reichsgerichtsbarkeit ganz grundsätzlich diskutiert. Damit beleuchtet dieser Fall besonders eindrücklich die enge Verbindung zwischen Konfessionskonflikt und kaiserlicher Gerichtsbarkeit. Dieser Verbindung wird auch im Folgenden weiter nachgegangen, indem vier Reichshofratsverfahren untersucht werden, die katholische Untertanen in Halberstadt gegen ihren Landesherrn anstrengten. Obwohl die Gruppe der katholischen Untertanen im ehemaligen Fürstbistum Halberstadt quantitativ kaum ins Gewicht fiel,166 nahm sie für die Profilierung Brandenburg-Preußens im Sinne eines kämpferischen Protestantismus vor allem 166 Im Gebiet des ehemaligen Fürstbistums Halberstadt existierten nach 1648 noch elf Klöster bzw. Stifte; vgl. Kühne, Stifte und Klöster; s. a. Maseberg, Das Fürstentum Halberstadt.
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in dem seit 1719 ausgetragenen Pfälzer Religionsstreit eine Schlüsselrolle ein. Es waren jene Klöster und Kirchen in Halberstadt, gegen die sich die 1719 erlassenen Repressionen richteten und gegen die auch bereits Friedrich III./I. im Kontext seiner Konfessionspolitik zugunsten der Pfälzer Reformierten Gewaltmaßnahmen erlassen hatte. Bereits in den Klagen der geistlichen Korporationen, die sämtlich vor Ausbruch des Pfälzer Religionsstreits angestrengt worden waren, verdichten sich mehrere Konfliktlinien, die letztlich alle auf die Grundfrage nach dem Verhältnis Brandenburg-Preußens zu Kaiser und Reich zuliefen: das Verhältnis Brandenburg-Preußens zur Reichsjustiz (und das hieß primär: zum Reichshofrat), die Stellung von Landständen in einem nach Zentralisierung und Souveränität strebenden Territorium, das Verhältnis katholischer Untertanen zur evangelischen Landesherrschaft im Geistlichen und schließlich die Nähe von Katholizismus und Kaisertum. Kurz: In ganz Brandenburg-Preußen vertrat vermutlich keine andere Untertanengruppe so eindeutig eine traditionelle Auffassung von „Herrschaft“ und also das hierarchisch-katholische Reichsverständnis wie die in ihrem Bestand durch das Normaljahr geschützten katholischen Stände in Halberstadt, Magdeburg und Minden. So dient auch die Untersuchung dieser ausgewählten Prozesse nicht zuletzt dem Ziel, die Konfessionspolitik, die Brandenburg-Preußen im Kontext des Pfälzer Religionsstreits vertrat, stärker in ihren Kontinuitätslinien zu betrachten. Die politischen Entwicklungen rund um den Pfälzer Religionsstreit, der seit 1719 die Reichspolitik beherrschte, bilden den Mittelpunkt von Kapitel E. Dabei wird erneut die Stellung Brandenburg-Preußens innerhalb des nun als reichspolitischer Akteur auftretenden Corpus Evangelicorum zu betrachten sein. In diesem Kontext wird nach der Machtverteilung innerhalb der evangelischen Partei wie auch nach den Beziehungen zwischen Lutheranern und Reformierten gefragt sowie nach der Stellung Brandenburg-Preußens – insbesondere mit Blick auf die Unionsdebatte der 1720er Jahre. Die genannten Aspekte sollen dabei mit der in weiten Teilen analogen Situation der Jahre 1698 bis 1705 (Kap. B.) verglichen werden, um zu zeigen, wie sich die Beziehungen Brandenburg-Preußens zur reformierten Klientel im Reich im Zeichen eines politisch aktiven (und damit zumindest zeitweise geeinten) Corpus Evangelicorum veränderten. Untrennbar mit der von Brandenburg-Preußen im Rahmen des Corpus Evangelicorum betriebenen Politik dieser Jahre verbunden sind die bilateralen Beziehungen zwischen Wien und Berlin. Wie die Jahre des akuten Verfassungsstreits eine Krise im Verhältnis des evangelischen Reichsteils zum Kaisertum bezeichnen, so markieren sie auch eine Zuspitzung der angespannten diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und Wien. Eine erste Annäherung an die zeitgenössische Deutung dieses Verhältnisses bieten politische Denkschriften aus Berlin und Wien, in denen die Beziehungen zwischen den beiden Höfen zu Beginn des 18. Jahrhunderts behandelt werden (Kap. E. I.). Daneben wird die diplomatische Praxis betrachtet, wie sie in Gestalt der einschlägigen diplomatischen Berichte beider Seiten überliefert ist. Inhaltliche Schwerpunkte bilden hier zum einen der Abbruch der diplomatischen Beziehungen im
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Jahr 1721 und zum anderen der langsame Prozess der Wiederannäherung bis hin zu den Verträgen von Wusterhausen und Berlin in den Jahre 1726/28 (Kap. E. II.–IV.). Im Hintergrund dieser Untersuchungen steht dabei stets die Frage, welchen Zielen die brandenburg-preußische Reichspolitik in beiden Handlungsfeldern – im Rahmen des Corpus Evangelicorum resp. des Religionskonflikts und auf dem Feld der bilateralen Beziehungen zu Wien – folgte und mit welchen Argumenten sie jeweils von Berlin aus verfochten wurde. So sollte am Ende deutlich werden, dass beide politische Bereiche nicht getrennt betrachtet werden können, weil in ihnen gleichermaßen jene strukturellen Widersprüche zwischen Kaisertum und evangelischen Potentiores aufbrachen, die letztlich im Rahmen des bestehenden Reichssystems unlösbar waren. Eben diese fundamentalen Probleme und ihre Deutungen nimmt ein abschließender Exkurs noch einmal in einer anderen und längerfristigen Perspektive auf. Im Zentrum steht die Interpretation des so genannten „Stralendorfschen Gutachtens“ und seiner Wirkungsgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert sowie die Rezeption, die dieser Text in der Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts gefunden hat. Das Ziel einer solchen dichten Quellenanalyse besteht zunächst darin, zum Schluss und losgelöst von dem engeren Untersuchungszeitraum und -gegenstand dieser Arbeit anhand einer einzelnen aber aufschlussreichen Quelle die grundsätzliche Frage zu stellen, auf welche Art die Beziehungen zwischen Wien und Berlin von Zeitgenossen und Historikern im Sinne einer eminent konfessionellen Gegnerschaft interpretiert wurden. Die Tatsache, dass auf brandenburg-preußischer Seite über Jahrhunderte hinweg immer wieder auf diesen einen zentralen Text zurückgegriffen wurde, um eine bestimmte politische Haltung Berlins gegenüber Wien zur rechtfertigen, bietet damit gleichzeitig eine Art Panorama der politischen Konjunkturen für genau diese konfessionalisierende Deutung des Verhältnisses Brandenburg-Preußens zum Kaisertum. Wie in dem genannten Exkurs wird auch an verschiedenen anderen Stellen dieser Arbeit auf Denkschriften zurückgegriffen, die mittel- oder längerfristige politische Analysen der zeitgenössischen Akteure überliefern. Das Gros der benutzen Quellen bilden hingegen diplomatische Korrespondenz und Verwaltungsschrifttum. Unter dem Sammelbegriff der diplomatischen Korrespondenz sind konkret die Relationen und Reskripte zu verstehen, die zwischen Wien und Berlin auf der einen Seite und den jeweiligen Repräsentanten des Kaisers bzw. Brandenburg-Preußens auf der anderen Seite gewechselt wurden. Dabei konzentriert sich die Untersuchung auf die Zentren Berlin, Wien und Regensburg. Dass die diplomatische Repräsentation in Wien bzw. Berlin für das Verhältnis zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaisertum eine zentrale Bedeutung besitzt, versteht sich von selbst. Regensburg als Sitz des Reichstags und damit auch als Tagungsort des Corpus Evangelicorum kommt angesichts der Schwerpunktsetzung dieser Untersuchung ebenfalls eine Schlüsselstellung zu: zum einen aufgrund der Institution des Reichstags als Ort, an dem politische Interessengegensätze zwischen einzelnen oder zusammengeschlossenen Reichsständen und dem Kaiser aufeinander trafen; zum anderen als
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Ort der verdichteten politischen Kommunikation und der Öffentlichkeit.167 Daher wird neben den genannten „klassischen“ diplomatischen Quellen auch auf die zeitgenössische politische Publizistik zurückgegriffen, die allerdings für den hier gewählten Untersuchungszeitraum primär für die evangelische Seite überliefert ist. Die interne Kommunikation innerhalb der jeweiligen Regierungen und anderer beratender oder bürokratischer Institutionen bildet eine weitere wichtige Quellengruppe. Hierzu zählen beispielsweise der Schriftverkehr zwischen der Zentralregierung in Berlin und den Provinzregierungen, aber auch Gutachten, die für die jeweiligen Regierungen in Berlin oder Wien verfasst wurden. Für die Wiener Seite ist hierbei vor allem der Reichshofrat zu berücksichtigen, der neben seiner gerichtlichen Tätigkeit auch als Beratungsgremium in Reichsangelegenheiten fungierte und dessen Voten daher nicht nur als juristische, sondern auch als politische Gutachten zu verstehen sind.168 Daneben werden aber auch juristische Quellen im engeren Sinne berücksichtigt, vor allem für Verfahren vor dem Reichshofrat, an denen der brandenburgische Kurfürst bzw. preußische König als Partei oder „Interessierter“ beteiligt war. Sowohl in den Prozessakten des Reichshofrats als auch in der diplomatischen Korrespondenz finden sich zudem zahlreiche Suppliken und Bittgesuche, die eine weitere wichtige Quellengruppe bezeichnen. Auf brandenburg-preußischer Seite handelt es sich dabei primär um Gesuche evangelischer Klienten, vornehmlich der Reformierten in der Kurpfalz; auf kaiserlicher Seite dagegen um Beschwerden katholischer Untertanen aus Brandenburg-Preußen und ihrer Patrone.
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Zu diesem letzteren Aspekt vgl. die Untersuchung von Friedrich, Drehscheibe Regensburg. Vgl. Haug-Moritz, Des „Kaysers rechter Arm“, bes. S. 26, 30–34.
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B. Brandenburg-preußische Konfessionspolitik in der Kurpfalz bis zum Ende des Spanischen Erbfolgekrieges I. Die konfessionelle Entwicklung in der Kurpfalz 1680 bis 1705 Die durch den Dreißigjährigen Krieg innerhalb der vormals geschlossen reformierten Kurpfalz hervorgerufenen konfessionellen Veränderungen wurden durch die Bestimmungen des Westfälischen Friedens zu einem großen Teil rückgängig gemacht. Die kirchlichen Verhältnisse wurden laut Vertragstext so geregelt, wie sie „ante motus Bohemicos“ gewesen waren, also entsprechend dem für die Reformierten günstigen Stand von 1618.1 Durch die Vermittlung Schwedens war allerdings für die Lutheraner das für sie vorteilhaftere Normaljahr 1624 festgeschrieben und gleichzeitig die unter der Besatzung Gustav Adolfs erreichte Religionsfreiheit bestätigt worden.2 Kurfürst Karl Ludwig betrieb nach dem Krieg energisch den Wiederaufbau und die Peuplierung des durch den Krieg zerstörten und entvölkerten Landes. Durch die tolerante Bevölkerungspolitik Karl Ludwigs entstand während der Nachkriegsjahre in der Kurpfalz neben der offiziellen Wiederherstellung der reformierten Landeskirche praktisch eine „stillschweigende Multikonfessionalität“3. Unter dem Nachfolger Karl Ludwigs, seinem Sohn Karl, erlebte der Calvinismus noch einmal eine Renaissance. Diese Förderung der Reformierten wirkte sich vor allem in einer rigiden Kirchenpolitik gegenüber den Lutheranern aus, die in ihren Rechten stark eingeschränkt wurden.4 Nach dem Tod des letzten reformierten Kurfürsten aus der Linie Pfalz-Simmern im Jahr 1685 gelangte schließlich die katholische Linie Pfalz-Neuburg an die Regierung. Zwar hatte der letzte reformierte Kurfürst Karl seinen katholischen Nachfolger Philipp Wilhelm in einem Vertrag, dem so genannten Schwäbisch-Hallischen Rezess, auf Schutz und Erhalt des reformierten Bekenntnisses in der Kurpfalz verpflichtet, doch starb Karl noch vor der Ratifizierung des Vertrags. Der erste Neuburger Kurfürst, Philipp Wilhelm, förderte den Katholizismus zwar zunächst recht zurückhaltend;5 doch die nachfolgenden Kriege gegen Frankreich und die französische Konfessionspolitik in den besetzten
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Zeumer, Quellensammlung, IPO, Art. IV § 6, S. 397. Vgl. Schindling / Ziegler, Kurpfalz, S. 42–43. 3 Vgl. ebd., S. 43. 4 Vgl. ebd., S. 12–13. 5 Vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 18–26. 2
I. Die konfessionelle Entwicklung in der Kurpfalz 1680 bis 1705
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Gebieten sollten den Schwäbisch-Hallischen Rezess vollends entwerten.6 Bereits bis 1688 waren so zahlreiche linksrheinische Ortschaften in der Kurpfalz rekatho lisiert worden. Mit Berufung auf die Erbansprüche Lieselottes von der Pfalz begann Ludwig XIV. schließlich 1688 den Orléanschen Krieg, in dem bis 1697 große Teile der Pfalz zerstört wurden. In der Folge wurde in weiteren Gebieten der katholische Gottesdienst eingeführt.7 Gegen den Widerstand der protestantischen Reichsstände, die sich auf den Westfälischen Friedensvertrag beriefen, gelang es Frankreich, die Änderungen des Konfessionsstandes in den nach Ende des Krieges zurückgegebenen Gebieten durch die berühmte Zusatzklausel zum vierten Artikel des Friedens von Rijswijk (1697) festzuschreiben: „Religione tamen Catholica Romana in locis sic restitutis in statu quo nunc est remanente“.8 Diese Klausel sollte ein halbes Jahrhundert lang den heftigsten Streitpunkt zwischen Protestanten und Katholiken bilden. Die Protestanten behaupteten, die Klausel widerspräche dem Westfälischen Frieden und insbesondere der Normaljahrsregelung, und beriefen sich darauf, dass der protestantische Reichsteil die Klausel nie angenommen habe; in den Augen der Katholiken stellte der Rijswijker Frieden samt seiner Religionsklausel dagegen einen verbindlichen Staatsvertrag dar. Nach Abschluss des Friedens betonten die Katholiken zunächst gegenüber den evangelischen Reichsständen, dass lediglich die vom französischen König gebauten oder dotierten Kirchen unter die Bestimmung der Klausel fielen. Im Juni 1699 überreichte der französische Gesandte du Chamois den Gesandten in Regensburg eine Liste mit insgesamt 1922 Orten, die von der Klausel betroffen waren. Auf den scharfen Einspruch der Protestanten hin wurde die Liste selbst von den Franzosen nicht mehr als Verhandlungsgrundlage für die Festsetzung der Konfessionsverhältnisse in den betroffenen Gebieten benutzt und spielte so keine Rolle mehr.9 Für die Protestanten im Reich bedeutete der Abschluss des Rijswijker Friedens mit seiner für sie so nachteiligen Religionsklausel dennoch eine schwere Niederlage. In ihren Augen wurde durch die Rijswijker Klausel das Normaljahrsprinzip reichsrechtlich in Frage gestellt und somit allen gegenreformatorischen Aktivitäten katholischer Landesherren in den ehemaligen Reunionsgebieten Tür und Tor geöffnet. Zudem wurde die Rijswijker Klausel 1714 im Frieden von Baden noch einmal von Frankreich bestätigt, was beim protestantischen Reichsteil große Verbitterung hervorrief.10 Nach dem Frieden von Rijswijk ging der pfälzische Kurfürst Johann Wilhelm in seiner Religionspolitik noch über dessen Bestimmungen hinaus und förderte zudem den Zuzug von Katholiken in das nach dem Krieg erneut 6
Der Vertrag ist abgedruckt bei Struve, Bericht, S. 687–696. Vgl. Hermann, Religionspolitik. 8 Zum Rijswijker Frieden vgl. die Beiträge in Duchhardt, Friede von Rijswijk; s. a. Aretin, Das Alte Reich 2, S. 163–172, sowie zum Anteil Leopolds I. und des pfälzischen Kurfürsten Johann Wilhelm an der Entstehung der Rijswijker Klausel: Krisinger, Religionspolitik. 9 Vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 96–97; detailliert zur Geschichte der Chamoischen Liste: Hägele, Chamoische Liste. 10 Vgl. Aretin, Das Alte Reich 2, S. 247. 7
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B. Brandenburg-preußische Konfessionspolitik
zu weiten Teilen entvölkerte Territorium.11 Im Juni 1699 ließ Johann Wilhelm für das bislang vom Reformierten Kirchenrat verwaltete Kirchenvermögen eine kurfürstliche Administrationskommission einrichten,12 die auch Katholiken und Lutheranern Zuwendungen zuteil werden lassen sollte, und führte das Simultaneum für alle drei reichsrechtlich anerkannten Konfessionen ein;13 die neu errichteten katholischen Kirchen wurden von dieser Regelung aber ausgenommen.14 Das Corpus Evangelicorum, das daraufhin von den Reformierten angerufen wurde, protestierte gegen diese Neuerungen, konnte aber beim Kurfürsten nichts erreichen. Erst die Intervention des ersten preußischen Königs Friedrich I. sowie der Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges (1701–1714) und des Nordischen Krieges (1700–1721) führten dazu, dass Johann Wilhelm einlenkte und sich in der kurpfälzischen Religionsdeklaration von 1705 mit Brandenburg-Preußen vertraglich einigte:15 Der pfälzische Kurfürst garantierte für seine Untertanen die Gewissensfreiheit und hob das generelle Simultaneum auf; die Kirchenbauten und Kircheneinkünfte wurden nach einem komplizierten Verfahren zwischen Reformierten und Katholiken im Verhältnis fünf zu zwei aufgeteilt.
II. Das brandenburg-preußische Engagement in der Kurpfalz bis 1715 Der brandenburgische Kurfürst und spätere preußische König Friedrich III./I. engagierte sich seit 1692 bis zum Ende seiner Regierungszeit immer wieder für die Belange der reformierten Konfession in der Kurpfalz. Doch nahm die reformierte Patronagepolitik Brandenburg-Preußens in diesen Jahren durchaus unterschiedliche Formen an: Sie reichte von unmittelbaren Verhandlungen mit dem Pfälzer Kurfürsten Johann Wilhelm über Versuche der indirekten Einflussnahme mithilfe des Kaisers bis hin zu vermittelter Interessenpolitik im Verbund des Corpus Evangelicorum. Die Konjunkturen der Durchsetzungsmöglichkeiten brandenburg-preußischer Konfessionspolitik (sei es gegenüber dem Pfälzer Kurfürsten, dem Kaiser oder innerhalb des Corpus) waren wechselhaft, und es wäre verkürzt, sie in Form einer linearen Entwicklung darzustellen – gleichsam von einer autonomen calvinistischen Patronage Berlins hin zu einer von allen protestantischen Reichsständen in Regensburg „gemachten“ einheitlichen evangelischen Reichs-Konfessionspolitik. Dennoch wuchs im genannten Zeitraum die Bedeutung gesamtprotestantischen Handelns in Gestalt einer fortschreitenden Institutionalisierung des Corpus Evangelicorum zweifellos, wobei die für die Protestanten traumatischen Erfahrungen 11 Zur konfessionspolitischen Entwicklung seit dem Erlöschen der Dynastie Pfalz-Simmern vgl. Schaab, Katholiken. 12 Grundsätzlich zum Heidelberger Reformierten Kirchenrat im 18. Jahrhundert vgl. Maesel, Kirchenrat. 13 Vgl. Häusser, Geschichte der Rheinischen Pfalz 2, S. 812–814. 14 Vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 124; Schaab, Geschichte der Kurpfalz 2, S. 156. 15 Hierzu weiter unten, Kap. B. II. 2. b).
II. Das brandenburg-preußische Engagement in der Kurpfalz bis 1715
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der Friedensschlüsse von Rijswijk (1697), Utrecht, Rastatt und Baden (1713/14) Schwellen markieren, die eine katalysierende Wirkung auf die Formierung eines handlungsfähigen Corpus hatten.16 Im Folgenden soll es darum gehen, zum einen die unterschiedlichen Phasen der konfessionellen Patronage Brandenburg-Preußens – im Corpus und losgelöst vom Corpus – näher zu betrachten, um zu zeigen, wann und unter welchen Umständen es Brandenburg-Preußen gelang, in der Gruppe der evangelischen Reichsstände die Führung zu übernehmen. Zum anderen soll gezeigt werden, mit welchen Widerständen aus den Reihen der anderen evangelischen Reichsstände sich die Berliner Politik in ihrer Patronage für die Glaubensgenossen in der Kurpfalz im Laufe der Jahre konfrontiert sah und wie sie diesem Misstrauen begegnete. Mit der zunehmenden Bedeutung gesamtprotestantischen Handelns musste man in Berlin darauf reagieren, dass Brandenburg-Preußen gerade mit Blick auf seine Patronage in der Kurpfalz als dezidiert reformierte Macht wahrgenommen wurde, und sah sich genötigt, die in der Kurpfalz verfolgten konfessionspolitischen Ziele im Sinne des „evangelischen“ Interesses zu rechtfertigen. Die Auseinandersetzungen zwischen Brandenburg-Preußen und der Mehrheit der evangelischen Reichsstände wurden zwar konkret um die Verhältnisse in der Kurpfalz geführt, sie müssen aber auch als Teil des Institutionalisierungsprozesses des Corpus Evanglicorum betrachtet werden, beinhalteten sie doch die Verständigung auf einheitliche juristische Normen – und kreisten damit letztlich um die Grundlage gesamtevangelischer Politik schlechthin. Die Entwicklungen der Jahre 1692 bis 1713 und darüber hinaus sind bedeutungsvoll zum einen für die Entstehung der gesamtevangelischen Interessenvertretung durch das Corpus Evangelicorum, zum anderen für die Entwicklung brandenburg-preußischer „evangelischer“ Konfessionspolitik im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts. Im Zusammenhang des großen Konfessionskonfliktes nach 1719 orientierte sich Friedrich Wilhelm I. auffällig eng an der politischen Tradition seines Vaters und Vorgängers; der Großteil der politischen Argumentation und der Maßnahmen schloss direkt an die brandenburg-preußische Konfessionspolitik in der Pfalz unter Friedrich III./I. an. Und doch fand diese zweite wichtige Phase brandenburg-preußischer Konfessionspolitik zugunsten der Reformierten in der Pfalz unter völlig geänderten Rahmenbedingungen statt: und zwar diesmal aufs Engste eingebunden in einen sich gerade in diesem Zusammenhang zu einem schlagkräftigen Instrument evangelischer Konfessions- bzw. Oppositionspolitik entwickelnden politischen Verband. Dass sich Friedrich Wilhelm I. nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges gerade auf diese letztere Funktion gesamtevangelischer Politik stützten sollte (nämlich die Opposition gegen das katholische Kaisertum), musste sich auch – soweit die These – auf die Ausrichtung der konfessionellen Patronagepolitik Brandenburg-Preußens auswirken und damit nicht zuletzt auf den Umgang mit den alten reformierten Klienten in der Kurpfalz. 16
Vgl. Belstler, Corpus Evangelicorum, S. 19–24.
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B. Brandenburg-preußische Konfessionspolitik
1. Die reformierten Verbindungen zwischen Kurpfalz und Brandenburg-Preußen Die engen Beziehungen zwischen Brandenburg und der Reformierten Kirche in der Kurpfalz gingen auf zahlreiche direkte und indirekte dynastische Verbindungen zwischen den brandenburgischen Hohenzollern und den pfälzischen Wittelsbachern zurück, die Ergebnis einer dezidiert reformierten Heiratspolitik im 17. Jahrhundert waren, also aus einer Zeit stammten, in der die Kurfürsten von der Pfalz und die Kurfürsten von Brandenburg die beiden vornehmsten reformierten Dynastien im Reich repräsentierten.17 Die bedeutendste und bekannteste Verbindung stellt sicherlich die Heirat des späteren Kurfürsten Georg Wilhelm, des Vaters des Großen Kurfürsten, mit Elisabeth Charlotte, einer Tochter Friedrichs IV. von der Pfalz, dar. Der Bruder Elisabeth Charlottes, Ludwig Philipp von der Pfalz, heiratete 1631 mit Maria Eleonora eine Tochter des Brandenburgers. Zur engen Beziehung der Herrscherhäuser trugen auch die Heiratsverbindungen beider Dynastien zur ebenfalls reformierten Dynastie der Oranier bei.18 Gefördert durch die dynastischen Verbindungen entwickelte sich auch ein intensiver Austausch theologischer und administrativer Eliten zwischen den geistigen Zentren Kurbrandenburgs und der Pfalz. Mit der Nachfolge der katholischen Linie Pfalz-Neuburg und den Verheerungen des Orléanschen Krieges setzte eine verstärkte Migration Reformierter, darunter auch Theologen und Juristen, in die brandenburgischen Territorien ein.19 Der daraus entstandene enge Kontakt zwischen dem Reformierten Kirchenrat in Heidelberg und Berlin lässt sich bereits für die Jahre des Orléanschen Krieges nachweisen und wurde durch die Rivalität zwischen den Brandenburger Hohenzollern und Pfalz-Neuburg um das jülich-klevische Erbe erheblich gefördert.20 Der bekannteste Repräsentant von Pfälzern in brandenburgischen Diensten war gewiss der langjährige „Premierminister“ Johann Kasimir Kolbe von Wartenberg, der vom Hof des Pfalzgrafen Ludwig Heinrich Moritz bzw. dessen Witwe Maria von Nassau-Oranien 1688 nach Brandenburg in den Dienst Friedrichs I. wechselte.21 Bis zum Sturz des sogenannten „gräflichen Dreigestirns“, bestehend aus Graf
17 Zu den Verbindungen und dem theologischen Austausch zwischen Kurpfalz und Kur brandenburg im Kontext der „Zweiten Reformation“ in Brandenburg vgl. Nischan, The Pala tinate. 18 Zum genealogischen Überblick für die Pfälzer Wittelsbacher und die Brandenburger Hohenzollern im 17. und frühen 18. Jahrhundert vgl. Huberty / Giraud / Magdelaine, L’Allemagne dynastique 4, S. 79–80, 139–140, 196–198; dies., L’allemagne dynastique 5, S. 39–41, 65–67. Zu den Heiratsverbindungen des Hauses Nassau-Oranien, Generalstatthalter der Niederlande, vgl. Freytag v. Loringhoven / Schwennicke, Europäische Stammtafeln, N. F. 1, Tafel 115. 19 Besonders in Magdeburg und Halle entstanden zu Beginn des 18. Jahrhunderts große Pfälzer Kolonien, vgl. Fischer, Pfälzer Kolonie. 20 Vgl. Danckelmann, Kirchenpolitik Friedrichs III., S. 110–111. 21 Vgl. Isaacsohn, Kolbe von Wartenberg. Zur Familiengeschichte der Kolbe von Wartenberg vgl. Weber, Adelsgeschlecht.
II. Das brandenburg-preußische Engagement in der Kurpfalz bis 1715
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Wartenberg, Graf August von Sayn-Wittgenstein22 und Graf Alexander Hermann von Wartensleben23, übte Wartenberg großen Einfluss nicht zuletzt auf die Patronagepolitik Brandenburg-Preußens zugunsten der Reformierten in seiner Heimat, der Pfalz, aus.24 Auch Wittgenstein war vor seinem Übertritt in brandenburg-preußische Dienste am kurpfälzischen Hof tätig gewesen und kann daher ebenfalls als ein Exponent der gut vernetzten reformierten Elite im Reich und speziell der reformierten Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen und Kurpfalz gelten.25 Einen vermutlich noch größeren Einfluss auf die brandenburg-preußische Konfessionspolitik – nicht nur, aber insbesondere in der Frage der Kurpfalz – besaß der ebenfalls aus der Pfalz stammende, zunächst am Hofe der Pfalzgräfin-Witwe Maria und später als Hofprediger und Theologieprofessor in Heidelberg tätige Karl Konrad von Achenbach. Er wurde 1700 als Hofprediger und Konsistorialrat nach Halle berufen, von wo er wiederum zwei Jahre später als Kirchenrat sowie Hof- und Domprediger nach Berlin wechselte.26 In Berlin beriet Achenbach in konfessionellen Fragen auch den Minister Heinrich Rüdiger von Ilgen, der seit 1699 die brandenburg-preußische Innen- und Außenpolitik maßgeblich mitbestimmte.27 Enge Kontakte zwischen Berlin und Heidelberg bestanden auch durch die Angehörigen der pfälzischen Familie Mieg, die im 17. und 18. Jahrhundert mehrere kurpfälzische hohe Beamte und Geistliche hervorbrachte: Ludwig Heinrich Mieg wurde, nachdem er bereits als Kandidat nach Berlin gekommen war, 1704 zum Hof- und Domprediger berufen; sein Neffe Ludwig Christian Mieg war bis 1740 Mitglied des Reformierten Kirchenrats und Theologieprofessor an der Universität Heidelberg.28 Die engen Beziehungen zwischen der Kurpfalz und Kurbrandenburg bestanden auch weiter, nachdem die Verbindungen über die Dynastien durch das Aussterben der reformierten Linie Pfalz-Simmern und den Übergang der Kurlande
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Vgl. Loewe, Sayn-Wittgenstein-Hohenstein. Vgl. Poten, Wartensleben. 24 Vgl. Hecht, Pfälzer, bes. S. 176–177. 25 Vermutlich wurde Wittgenstein auf Initiative Wartenbergs nach Berlin berufen; vgl. Op genoorth, Ausländer, S. 42. 26 Zu Achenbach vgl. Thadden, Hofprediger, S. 206–207; Acta Borussica, Behördenorganisation 1, S. 31. 27 Vgl. dazu eine Denkschrift Ilgens über seine Leitung der auswärtigen Angelegenheiten vom 21.8.1714, in: ebd., S 30–34, hier S. 31; zu Achenbachs Einfluss auf die konfessionelle Ausgestaltung der Reichspolitik s. a. Kap. E. Ilgen stammte aus Minden, war lutherischer Konfession und bereits unter dem Großen Kurfürsten als Kammersekretär tätig; er wurde unter Friedrich III. dann zum Geheimen Rat und erlangte unter dem Minister Kolbe von Wartenberg eine einflussreiche Stellung, die er auch über den Sturz Wartenbergs hinweg erhalten konnte. Ilgen hatte maßgeblichen Anteil an den Vorbereitungen für den Erwerb der preußischen Königskrone und wurde 1701 von Friedrich I. in den preußischen Adelsstand erhoben. Auch unter Friedrich Wilhelm I. übte Ilgen bis zu seinem Tod im Dezember 1728 größten Einfluss auf die Gestaltung der äußeren Angelegenheiten aus. Zur Biographie vgl. Baumgart, Ilgen, Heinrich Rüdiger von; ders.; Heinrich Rüdiger von Ilgen; Ulbert, Der Leiter der preußischen Außenpolitik. 28 Vgl. die Ahnentafel der Familie Mieg bei Thadden, Hofprediger (Anhang). 23
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B. Brandenburg-preußische Konfessionspolitik
an die katholischen Neuburger abgebrochen waren; sie wurden gewissermaßen durch die geistliche und administrative Elite fortgesetzt.29 2. Die konfessionelle Patronage in der Regierungszeit Friedrichs III./I. Die ersten Versuche Friedrichs III., sich unter anderem mit Hilfe des Markgrafen von Baden und des englischen Königs für die reformierte Kirche in der Kurpfalz einzusetzen und im Rahmen der Gespräche um die Hannoveraner Kur zugunsten der Reformierten in der Kurpfalz Verbesserungen auszuhandeln, scheiterten 1694 und führten zunächst zur Beendigung jeglicher direkter Verhandlungen zwischen Düsseldorf und Berlin.30 Bestehen blieb aber die Verbindung Friedrichs III. mit dem Reformierten Kirchenrat, mit dem die brandenburgische Regierung schon seit spätestens März 1692 in engem Kontakt stand und der seither immer wieder umfangreiche Gravamina-Sammlungen nach Berlin sandte.31 Schon im März 1694 drohte Friedrich III. zum ersten Mal, gewaltsame Gegenmaßnahmen, so genannte Repressionen oder Repressalien,32 gegen seine eigenen katholischen Untertanen vornehmen zu lassen.33 Bereits in dieser Phase des Orléanschen Krieges bzw. in der Erwartung eines baldigen Friedensschlusses mit Frankreich begann die Berliner Regierung in der Frage des zukünftigen Schicksals der Reformierten in der Kurpfalz, Verbindungen
29 Eine interessante Parallele zum Fall der Kurpfalz stellt das Schutzverhältnis Brandenburg-Preußens gegenüber der reformierten Untertanenschaft der Reichsgrafschaften Sayn und Wittgenstein im 18. Jahrhundert dar, nachdem auch hier die Beziehungen zum Grafenhaus selbst im frühen 18. Jahrhundert erloschen waren; vgl. Neugebauer, Klientel; ders., Konfessionelle Klientelpolitik. 30 Vgl. Sante, Kurpfälzische Politik, hier S. 28. 31 Vgl. Danckelmann, Kurbrandenburgische Kirchenpolitik, S. 578–582; ders., Kirchen politik Friedrichs III., S. 110–111. 32 Von der brandenburg-preußischen Politik wurden diese Maßnahmen als legitime Reaktion auf Rechtsbrüche katholischer Landesherren gegenüber ihren evangelischen Untertanen verstanden, häufig auch als „Retorsionen“ bezeichnet bzw. als Anwendung des allgemeinen Jus retorsionis (Wiedervergeltungsrecht) verstanden. Die zeitgenössische Rechtswissenschaft verstand unter Repressalien „ausserordentliche Mittel, welche sodann erlaubt, wann der Gegentheil keine Justiz verstatten wollen, oder von ihm sonst kein Recht zu erhalten gewesen“; Oberländer, Lexicon, S. 612. Im protestantischen Verfassungsverständnis waren Repressalien Teil des evangelischen Selbsthilferechtes, das auf der Interpretation von Art. XVII §§ 5 und 6 des IPO fußte; vgl. Belstler, Corpus Evangelicorum, S. 227–237. Nach diesem Verständnis konnten Repressionen legitimerweise sowohl von einzelnen Reichsständen als auch vom gesamten Corpus Evangelicorum verfügt werden. Zu einigen Argumentationslinien, die in diesem Kontext insbesondere von Brandenburg-Preußen und vom Corpus Evangelicorum im 18. Jahrhundert gebraucht wurden, vgl. Hafke, Anwendung. 33 Vgl. Hymmen, König, S. 20; Struve, Bericht, S. 729–231. Zum Briefwechsel zwischen Johann Wilhelm und Friedrich III. im Jahr 1694 vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 54–58, 66.
II. Das brandenburg-preußische Engagement in der Kurpfalz bis 1715
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mit der Krone Schweden – als Garantiemacht des Westfälischen Friedens und Vermittler auf dem Friedenskongress in Rijswijk –34 aufzunehmen.35 Die Vermittlungsversuche über den schwedischen König scheiterten allerdings bereits vor den Friedensverhandlungen nicht zuletzt an den Klagen der lutherischen Gemeinden in der Kurpfalz, die sich mit ihren Beschwerden ebenfalls an den schwedisch-bremischen Deputierten auf dem Regensburger Reichstag gewandt hatten. Die Lutheraner, die zu diesem Zeitpunkt noch unter der Oberaufsicht des Reformierten Kirchenrats standen, verlangten primär einen Anteil an der Kirchenverwaltung,36 aber auch die Rückgabe verschiedener Güter und Kapitalien, die ihnen unter den reformierten Kurfürsten entzogen worden waren. Seit dem Regierungsantritt des katholischen Kurfürsten Philipp Wilhelm bemühten sie sich bei ihrem Landesherrn um größere administrative und finanzielle Eigenständigkeit37 – und der katholische Landesherr unterstützte die Gesuche der Lutheraner nachdrücklich, da Differenzen zwischen den beiden evangelischen Konfessionen einer pro-katholischen Religionspolitik nur nutzen konnten.38 Friedrich III. machte mehrfach den Versuch, die evangelischen Gesandten bei den Friedensverhandlungen im Haag bzw. die evangelischen Gesandten am Regensburger Reichstag zu einem gemeinsamen Vorgehen in der Frage der Religions verhältnisse in der Kurpfalz zu bewegen und auch die Niederlande sowie England für das Schicksal der so genannten reunierten Länder zu interessieren; auch in diesem Fall aber war ein einheitliches Vorgehen aufgrund der divergierenden Interessen sowie der Sorge der Seemächte, den Frieden durch religionspolitische Forderungen der Protestanten zu gefährden, nicht zu erreichen.39 Bekanntlich gelang es der französischen Diplomatie, durch Geheimverhandlungen die Allianz zu zerstören und Kaiser und Reich zu isolieren. In dieser Situation schloss schließlich auch der Kaiser für sich und das Reich Frieden mit Frankreich und unterzeichnete im Friedensvertrag von Rijswijk 1697 auch jene auf französisches Betreiben zurückgehende Zusatzklausel über die Beibehaltung der veränderten Religionsverhältnisse in allen Reunionsgebieten. Zwar wiesen die evangelischen Gesandten die Klausel zurück, doch auch sie unterschrieben – wenn auch verspätet – schließlich den Friedensvertrag, bestanden allerdings in der Folge durchgängig auf einer Deutung des Wortlauts
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Zur schwedischen Vermittlerrolle auf dem Rijswijker Friedenskongress vgl. Buchholz, Glanz und Ohnmacht; zu Schwedens Rolle im Zusammenhang mit der Rijswijker Klausel sowie zum Widerstand Brandenburgs bes. S. 243–255. Schweden war zudem von der Eroberungspolitik Ludwigs XIV. direkt betroffen, weil es mit dem Herzogtum Pfalz-Zweibrücken in Personalunion verbunden war. 35 Vgl. Danckelmann, Kurbrandenburgische Kirchenpolitik, S. 583–586. 36 Vgl. Struve, Bericht, S. 749–751, 758–760. 37 Vgl. Flegel, Rijswijker Klausel, S. 276. 38 Vgl. Struve, Bericht, S. 760. Die Bemühungen Johann Wilhelms, die Spaltung zwischen Lutheranern und Reformierten in der Kurpfalz zu befördern, sollten sich vor allem in den Folgejahren zeigen; vgl. Hans, Religionsdeklaration, passim, bes. S. 252. 39 Vgl. Danckelmann, Kurbrandenburgische Kirchenpolitik, S. 590–596.
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B. Brandenburg-preußische Konfessionspolitik
der Klausel im Sinne des Westfälischen Friedens, der wiederum ausdrücklich im 3. Artikel des Rijswijker Friedens als Grundlage genannt wurde.40 Für die weiteren Entwicklungen in der Kurpfalz bedeutete der Friedensschluss von 1697, dass die von Kurfürst Johann Wilhelm bereits vor dem Frieden eingeleitete pro-katholische Kirchenpolitik in der Unterpfalz durch die Rijswijker Klausel rechtlich abgesichert war.41 Zwischen Herbst 1698 und Sommer 1699 erreichte die radikalisierte Religionspolitik Johann Wilhelms mit einer Reihe von Erlassen ihren Höhepunkt. Zunächst wurde im Oktober 1698 das allgemeine Simultaneum für alle drei Konfessionen eingeführt. Dieser Erlass bedeutete im Zusammenspiel mit der Rijswijker Klausel für die Katholiken in der Kurpfalz einen immensen Gewinn an Besitz- und Nutzungsrechten: Die Rijswijker Klausel sicherte in ihrem Geltungsbereich den Katholiken den alleinigen Besitz ihrer Kirchen; die Einführung des Simultaneums eröffnete ihnen zusätzlich noch das Mitnutzungsrecht an allen reformierten und lutherischen Kirchen.42 Zudem entsprach der Kurfürst dem immer wieder vorgetragenen Wunsch der Lutheraner auf ein eigenes Konsistorium, das sie der Jurisdiktion des Reformierten Kirchenrates entzog.43 Schließlich wurde im Juni 1699 die reformierte Güterverwaltung durch eine kurfürstliche Administrationskommission ersetzt, was den Reformierten Kirchenrat seiner bisherigen Unabhängigkeit beraubte und damit auch eine Ausweitung der simultanen Nutzung der reformierten Einkünfte ermöglichte.44 In den Jahren seit 1692 hatte sich die Situation der reformierten Konfession in der Kurpfalz somit immer weiter verschlechtert; Friedrich III. wiederum hatte – mit Rücksicht auf die außen- bzw. reichspolitische Situation – lediglich in gemäßigter Form versucht, zugunsten der Reformierten in der Kurpfalz zu intervenieren, hauptsächlich über die Einbindung anderer evangelischer Mächte. a) Die Intervention des Corpus Evangelicorum 1698–1700 Mit dem Beginn der radikalisierten Konfessionspolitik Johann Wilhelms wurde auch erstmals das Corpus Evangelicorum in den Pfälzer Religionsangelegenheiten aktiv, und zwar indem die Beschwerden vom Kirchenrat über die brandenburg-preußische Diplomatie direkt an die Evangelische Konferenz in Regensburg gelangten.45 Die evangelischen Reichsstände waren nun, Ende 1698, anders als noch ein gutes Jahr zuvor, offenbar bereit, sich der kurpfälzischen Religionsgravamina anzunehmen. Die Ergebnisse des Friedens von Rijswijk hatten zu einem „Konfessionali 40
Vgl. die zeitgenössische ausführliche Darstellung bei Moser, Bericht von der Clausula. Zu den einzelnen Entwicklungen und zur Radikalisierung der Religionspolitik Johann Wilhelms nach dem Rijswijker Frieden vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 58–82, 111–120. 42 Vgl. Struve, Bericht, S. 768–769. 43 Vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 123–124. 44 Vgl. ebd., S. 127–128. 45 s. dazu den Schriftverkehr in: GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 15. 41
II. Das brandenburg-preußische Engagement in der Kurpfalz bis 1715
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sierungsschub“ auf dem Reichstag geführt, wo sich nunmehr die beiden großen Konfessionsgruppen der Protestanten und Katholiken angesichts des umstrittenen Verständnisses der Rijswijker Klausel wieder geschlossener gegenüberstanden, als dies noch zur Zeit des Friedensschlusses selbst der Fall gewesen war.46 Im Dezember 1698 beschloss das Corpus Evangelicorum sogar, sich zu keiner anderen Materie mehr zu äußern, bis „dem negotio clauslulae gänzlich abgeholffen“.47 In dieser Situation musste sowohl Brandenburg-Preußen als auch dem Heidelberger Kirchenrat die Wendung nach Regensburg als aussichtsreiche Alternative zu bilateralen Verhandlungen mit dem Pfälzer Kurfürsten erscheinen. Bereits vor der Einführung des Simultaneums hatten sich die Mitglieder des Reformierten Kirchenrats nach vergeblichen Protesten bei ihrem Landesherrn und der kurfürstlichen Regierung an das Corpus Evangelicorum in Regensburg gewandt.48 Nach der Einführung des Simultaneums und der Auflösung der reformierten Güterverwaltung reagierte das Corpus Evangelicorum im Dezember 1698 mit einem Protestschreiben, das man in Regensburg nicht nur dem kurpfälzischen Gesandten, sondern auch dem kaiserlichen Kon-Kommissar und dem kurmainzischen Direktorium zur Weitergabe an den Kaiser bzw. das Corpus Catholicorum übergab.49 Johann Wilhelm wies in einem scharfen Antwortschreiben sämtliche Vorwürfe mit Verweis auf seine Rechte als Landesfürst zurück. Bereits Anfang 1699 kündigte daraufhin das Corpus Evangelicorum die Sendung eines außerordentlichen Gesandten an den Düsseldorfer Hof an. Zu diesem Zweck bat man den Kurfürsten von Brandenburg, einen seiner „Minister“ auszuwählen, der als gemeinsamer Gesandter des Corpus ein Vorstellungsschreiben übergeben sollte.50 Für diese Gesandtschaft wurde ein Klever Rat, der Freiherr Wylich zu Boetzelaer, ausersehen.51 In dieser ersten – wenngleich erfolglosen – Intervention des Corpus Evangelicorum für die evangelischen Untertanen in der Kurpfalz erscheint der brandenburgische Kurfürst als entscheidende Triebkraft für das Eingreifen des Corpus Evangelicorum. Die Gründe für diese Konstellation innerhalb des europäischen und deutschen Protestantismus lagen zum einen in den kriegerischen Auseinandersetzungen, die man in der Folge des absehbaren Todes König Karls II. von Spanien 46
Vgl. Belstler, Corpus Evangelicorum, S. 19–24. Schauroth, Sammlung 3, S. 231 (Conclusum vom 6./16.12.1698). Tatsächlich setzte sich im Laufe des Jahres 1702 dann aber die Meinung unter den evangelischen Reichsständen durch, dass man angesichts der Umstände einen Boykott und damit die Verhinderung einer Reichskriegserklärung nicht mehr aufrechterhalten könne; vgl. Granier, Reichstag, S. 35. 48 Vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 120. 49 Vgl. Struve, Bericht, S. 775–776. Das Schreibens des Corpus Evangelicorum ist abgedruckt in: ebd., S. 773–775; s. auch Schauroth, Sammlung 2, S. 285–288. 50 Struve, Bericht, S. 778–779 (Schreiben der Evangelischen Stände an Johann Wilhelm vom 26.1./5.2.1699). Weder Hans, Religionsdeklaration, noch das ältere Werk von Hymmen, König, behandeln das Zustandekommen dieser Entscheidung innerhalb des Corpus Evangelicorum bzw. die Frage, ob die Beauftragung Brandenburgs mit der Auswahl und Sendung eines außerordentlichen Gesandten nicht ggf. sogar von Brandenburg selbst initiiert worden war. 51 Zu Wylich zu Boetzelaer vgl. Issaacsohn, Geschichte 2, S. 180. 47
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B. Brandenburg-preußische Konfessionspolitik
erwartete. Dieser drohende Krieg hielt sowohl die Niederlande als auch England zunächst von einer Intervention zugunsten der Protestanten im Reich ab. Aber auch die mächtigen evangelischen Reichsfürsten im Corpus Evangelicorum verfolgten bei weitem keine so einheitliche und energische Politik in der Frage der Kurpfalz, wie dies rund zwanzig Jahre später der Fall sein sollte. Kursachsen und Hannover waren beide aus Gründen ihrer jeweiligen Standeserhöhung eng an den Kaiser gebunden, zudem war August der Starke erst kürzlich im Zuge des Erwerbs der polnischen Krone zum Katholizismus konvertiert. Auch Friedrich III. war zu diesem Zeitpunkt mit Blick auf die Verhandlungen um seine eigene Standeserhöhung an keiner Konfrontation mit dem Kaiser interessiert und betrieb die Schutzpolitik für die Reformierten in der Kurpfalz relativ zurückhaltend, zumal Johann Wilhelm seit Dezember 1698 mit Österreich in einer Allianz verbunden war.52 Schließlich aber bestand zwischen Johann Wilhelm und Friedrich III. zu diesem Zeitpunkt auch hinsichtlich der Konfessionsproblematik in den geteilten Gebieten des jülich-klevischen Länderkonglomerats ein relativ konstruktives Verhältnis, hatte man sich doch im Zuge der Rheinberger Religionskonferenz von 1697 auf einen Modus für die Lösung der zahlreichen – beidseitigen – Religionsbeschwerden geeinigt.53 Diese politische Konstellation erklärt, weshalb in der Frage der Kurpfalz sowohl von den evangelischen Reichsständen insgesamt als auch von Friedrich III. zunächst für Johann Wilhelm wenig Unangenehmes zu erwarten war. So empfing der Pfälzer Kurfürst den evangelischen Sondergesandten zwar, hatte auch bereits vor dem Eintreffen Boetzelaers in Düsseldorf eine Verordnung erlassen, die die Gewissensfreiheit für alle Untertanen garantierte; ansonsten aber wies Johann Wilhelm alle Vorstellungen der evangelischen Reichsstände zurück.54 Hauptanliegen Boetzelaers, der sich in Düsseldorf für eine Zurücknahme der von Johann Wilhelm eingeführten konfessionspolitischen Neuerungen einsetzen sollte, war der Beweis, dass zum einen die Einführung des Simultaneums einen Bruch des Westfälischen Friedens bedeute, zum anderen, dass für die Reformierten das Normal jahr 1618 (nicht 1624) gelte, was der Friedensvertrag von Münster und Osnabrück mit den Worten „ante motus Bohemicos“ eindeutig bezeichne.55 In seinem Antwortschreiben bestritt der Pfälzer Kurfürst diese Auslegung des Normaljahres56 und verteidigte alle eingeführten Neuerungen mit dem Verweis auf sein Jus reform-
52 Zur Politik Philipp Wilhelms und Johann Wilhelms vgl. Press, Zwischen Versailles und Wien, S 232–243. 53 Vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 150–151; Danckelmann, Rheinberger Religionskonferenz. Allerdings scheint sich die verschlechterte Situation in den Pfälzer Konfessionsangelegenheiten wiederum negativ auf die Umsetzung der Rheinberger Beschlüsse ausgewirkt zu haben; vgl. ebd., S. 154. 54 Vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 140. 55 Die erste umfangreiche Denkschrift Boetzelaers ist abgedruckt bei Struve, Bericht, S. 789–830. 56 Anders als rund zwanzig Jahre später war die Interpretation der Worte „ante motus Bohe micos“ offenbar noch umstritten. Zu den Zusammenhängen von Konfessionspolitik, dynasti-
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andi. Neben Boetzelaer war auch der schwedische Gesandte am Düsseldorfer Hof instruiert, in der Religionsfrage zu verhandeln; dieser allerdings, nachdem er die Religionsfrage mit der schwedischen Anwartschaft auf die kurpfälzische Sukzession verbunden hatte, wurde nach einer scharfen Reaktion Johann Wilhelms umgehend aus der Kurpfalz abberufen.57 Statt durch den Schweden wurde Boetzelaer seit September 1699 durch einen holländischen Gesandten unterstützt, nachdem die Generalstaaten auf Bitten des Corpus Evangelicorum hin schließlich doch beschlossen hatten, sich für die evangelischen Interessen in der Kurpfalz einzusetzen.58 Boetzelaer wurde auch ein zweites Mal vom Corpus beauftragt, die evangelischen Rechtsauffassungen vorzutragen,59 doch nachdem auch dieser Versuch von Johann Wilhelm in ähnlicher Weise zurückgewiesen worden war,60 wurde Boetzelaer nach der kurfürstlichen Finalresolution Ende April 1700 aus Düsseldorf abberufen.61 Diese Episode kurbrandenburgischer bzw. gesamtevangelischer Schutzpolitik zugunsten der Protestanten in der Kurpfalz ist von der Literatur vor der Folie der einige Jahre später erfolgten erfolgreicheren Intervention Friedrichs I. negativ beurteilt worden.62 Angesichts der politischen Konstellation im Reich und in Europa ist es aber bemerkenswert, dass man sich im Corpus Evangelicorum – neben dem vereinten Protest gegen die Rijswijker Klausel – überhaupt in der Frage der Pfälzer Religionsgravamina auf eine einheitliche politische Haltung und sogar auf die Sendung eines gemeinsamen Gesandten einigen konnte. Der politische Elan ist – wie bereits angedeutet – zwar nicht mit dem Vorgehen des Corpus in den 1720er Jahren vergleichbar, was sich besonders deutlich am politischen Verfahren und dem verfassungspolitischen Selbstverständnis des Corpus um 1700 zeigen lässt.63 Dennoch gelang es offenbar für einige Zeit und in einer dem Kaiser nicht zu nahe tretenden Weise, eine gesamtevangelische Politik zu betreiben, die zumindest in den Reihen der evangelischen Reichsstände Akzeptanz und gemäßigte Unterstützung fand. Die starke Stelllung Brandenburg-Preußens innerhalb des Corpus zeigte sich bereits daran, dass man Friedrich III. bat, einen Gesandten zu stellen, der zwar nominell für das gesamte Corpus agierte, der jedoch neben den sehr allgemein gehaltenen Instruktionen aus Regensburg seine konkreten Weisungen von seinem eigenen Landesherrn empfing.64 Allerdings wurde Boetzelaer von Friedrich III. wiederholt schem Denken bzw. dynastischer Ehre und der Besitzstandswahrung der Konfessionsparteien am Beispiel der Westfälischen Friedensverhandlungen vgl. Fuchs, Normaljahresverhandlungen. Zu konkurrierenden Normaljahresvorstellungen vgl. ders., Autorität von „Normaljahren“. 57 Vgl. Struve, Bericht, S. 836–837; Hans, Religionsdeklaration, S. 144–145. 58 Vgl. ebd., S. 838–842. 59 Vgl. ebd., S. 844, 846–847. 60 Vgl. ebd., S. 858–915. 61 Vgl. ebd., S. 916–917. 62 Vgl. Hymmen, König, S. 23, aber auch Hans, Religionsdeklaration, S. 153. 63 Vgl. Haug-Moritz, Kaisertum, S. 467–473, bes. 473. 64 Schauroth, Sammlung 2, S. 340 („Danksagungs-Schreiben des Corporis Evangelicorum an Se. Churfürstliche Durchlaucht zu Brandenburg wegen gnädigst übernommener Beschickung des Chur-Pfälzischen Hofs“, 22.5.1700).
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darauf verpflichtet, den Rahmen der gesamtevangelischen Instruktion nie zu überschreiten, weder in seinen Verhandlungen noch in seinen schriftlichen Äußerungen, da „solches von dem Corpus Evangelicorum sonder zweiffel desavouiret worden [wäre]“,65 mithin Friedrich III. das Vertrauen der übrigen evangelischen Reichsstände aufs Spiel gesetzt hätte. Auch die brandenburg-preußische Korrespondenz dokumentiert deutlich die Führungsrolle, die Friedrich III. in der gesamtevangelischen Politik dieser Jahre einnahm: Die Kommunikation zwischen Heidelberg und Regensburg lief größtenteils über Berlin-Cölln, wo auch die wichtigsten Schriftstücke wie etwa die Widerlegung der Rechtmäßigkeit des Simultaneums in der Kurpfalz und weitere umfangreiche Deduktionen der evangelischen Rechtsansprüche verfasst wurden. Brandenburg-preußische Räte sorgten auch für die Veröffentlichung dieser in Berlin-Cölln verfassten und vom Corpus Evangelicorum legitimierten Deduktionen und Erklärungen.66 Dass auch von den Pfälzer Reformierten Brandenburg-Preußen als die primäre Schutzmacht im Reich wahrgenommen wurde, belegt die rege Korrespondenz, die der zu diesem Zeitpunkt noch in Heidelberg als Kirchenrat tätige Karl Konrad Achenbach nach Berlin unterhielt. Achenbach suchte bei der Berliner Regierung mehrfach für seine Glaubensgenossen sowie für sich selbst um Patronage an.67 Einerseits erscheint die Politik des Corpus Evangelicorum um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert stark geprägt vom brandenburgischen konfessionspolitischen Interesse. Andererseits hätte das Corpus Evangelicorum die Vorgänge in der Kurpfalz ohnehin wohl kaum dauerhaft ignorieren können, stritt man sich doch bereits seit 1697 mit den katholischen Reichsständen in zahlreichen Erklärungen und Gegenerklärungen um die Auslegung der Rijswijker Klausel. Als nun der Pfälzer Kurfürst, unter anderem mit Berufung auf die katholische Auslegung der Klausel, seine religionspolitischen Neuerungen begründete, mussten die evangelischen Reichsstände, nachdem sie die Rijswijker Klausel „in der Theorie“ so vehement bekämpft hatten, auch ihrer praktischen Anwendung etwas entgegensetzen. Gerade durch die einheitliche Ablehnung der katholischen Interpretation 65
Instruktion an Boetzelaer, Cölln, 15.8.1699, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 15. s. etwa Reskript an die Regensburger Gesandtschaft, Cölln, 7.11.1699, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 15. Daneben schickte Friedrich III. auch seinen Regensburger Legationssekretär Daniel Burchard nach Hessen-Kassel, um sich dort für die Unterstützung der reformierten Kirche in der Kurpfalz einzusetzen; Relation von Burchard, Marburg, 2./12.5.1699, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 15. 67 s. etwa Achenbach an Danckelmann, Frankfurt, 23./3.11.1697, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 15: Friedrich III. stellte Achenbach bereits im April 1699 in Aussicht, ihm für den Fall, dass die evangelische Intervention in der Kurpfalz keine Verbesserungen für die Reformierte Kirche ergeben sollte, „ein anständiges employ in unseren landen“ verschaffen zu wollen; vgl. auch Reskript an Burchard, Cölln, 30.4.1699, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 15. Dem kurpfälzischen reformierten Kirchenrat Just Wilhelm von Weissenbach verhalf Friedrich III. zu einer Stellung in Hessen-Darmstadt; Relation von Burchard, Marburg, 2./12.5.1699, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 15. 66
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der Rijswijker Klausel hatte das Corpus Evangelicorum in Form regelmäßigerer Konferenzen und gemeinsamer Äußerungen seit 1697 einen Institutionalisierungsschub erfahren, der die Sendung eines gemeinsamen Bevollmächtigten überhaupt erst ermöglichte.68 Eine Belastung für die Einheit der Protestanten stellte allerdings die enge politische Anlehnung der maßgeblichen evangelischen Reichsstände an den Kaiser (und zum Teil auch an Pfalz-Neuburg) dar. Besonders gefährdete den protestantischen Zusammenhalt auf Reichsebene aber der angesichts der antireformierten Kirchenpolitik Johann Wilhelms schärfer hervortretende Gegensatz zwischen den beiden evangelischen Konfessionsgruppen in der Kurpfalz selbst. Die kurpfälzischen lutherischen Pfarrer Johann Philipp Schlosser und Georg Debus wandten sich nicht nur in Form einer unter dem Titel „Wahrheit, Unschuld und Ehren-Rettung“ publizierten Denkschrift gegen die Reformierten und die von ihnen gegenüber dem Kurfürsten formulierten Ansprüche, sie statteten sogar Johann Wilhelm im Namen aller lutherischen Gemeinden offiziell Dank für seine kirchenpolitischen Maßnahmen ab, namentlich für die Einrichtung eines eigenen lutherischen Konsistoriums und die Einführung des Simultaneums.69 Mit dieser Haltung widersprachen sie indessen fundamental dem von Boetzelaer im Namen aller evangelischen Reichsstände formulierten Normaljahresverständnis. Diese maßgeblich von Boetzelaer geprägte Interpretation der Normaljahresnorm schloss an die vom Corpus Evangelicorum vertretene strikte Ablehnung einer Durchbrechung der Normaljahresnorm durch die Rijswijker Klausel an und qualifizierte im Allgemeinen jegliche Abweichung von der wörtlichen Geltung des Normaljahresprinzips als Verletzung des Westfälischen Friedens; im Besonderen aber verteidigte sie für die Reformierten in der Kurpfalz das Normaljahr 1618 und verurteilte die Einführung des Simultaneums als Friedensbruch.70 Boetzelaer hatte in seiner Denkschrift, die Bestimmungen des Westfälischen Friedens zitierend, den Nachweis geführt, dass grundsätzlich für die Pfalz das Normaljahr 1618 gelte und lediglich den Lutheranern als Ausnahme das Normaljahr 1624 zugestanden worden sei.
68 Zum Anstieg der gemeinsamen Willensbekundungen der evangelischen Reichsstände nach 1697 (und dem entscheidenden Anteil, den dabei die Thematik der Rijswijker Klausel bildete) vgl. das chronologische Register bei Schauroth, Sammlung 3, S. 1022–1029. 69 s. etwa die lutherische Streitschrift von Schlosser / Debus, Wahrheit / Unschuld und Ehren-Rettung; vgl. Struve, Bericht, S. 769; Hans, Religionsdeklaration, S. 342–343; vgl. auch Schauroth, Sammlung 2, S. 333 (Conclusum vom 12./22.11.1699: „… wegen der bey Sr. Churf. Durchl. zu Pfaltz genommenen Audienz einiger Pfälzischen Evangelischen Prediger“). 70 Die Denkschrift Boetzelaers ist abgedruckt bei Struve, Bericht, S. 789–830. Es sei allerdings bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich die durchweg ablehnende Haltung der evangelischen Reichspublizistik gegenüber dem Simultaneum erst später entwickelte. Vgl. dazu Schäfer, Simultaneum, S. 16–23, der zeigt, dass eine einheitliche evangelische Rechtsauffassung auch in dieser Frage erst im Zusammenhang des Religionsstreites ab 1719 entstand, und zwar auch hier maßgeblich durch das Corpus Evangelicorum gesteuert. Zur Haltung der protestantischen Reichsrechtslehre in der Frage des Simultaneums s. a. weiter unten, Kap. E. II. 5. a).
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Gabriele Haug-Moritz hat darauf hingewiesen, dass die Vorstellungen des Freiherrn zu Boetzelaer als Schlüsseldokumente für die Entstehung der evangelischen Interpretation des Westfälischen Friedens zu betrachten sind, da die darin beanspruchte unbedingte Geltung des Normaljahres insbesondere im Verhältnis zum Jus reformandi des Landesherren sich seither zu einem der Grundpfeiler des protestantischen Verfassungsbildes entwickelte und somit als ein Herzstück der so genannten Principia evangelicorum gelten kann.71 Diese durch Boetzelaer entwickelte Interpretation von Art. 5 § 31 des Osnabrücker Friedenswerkes72 sollte tatsächlich das Corpus Evangelicorum für die Zukunft insofern binden, als sich diese Norm (der unbedingten Geltung der Normaljahresbestimmungen) – zumindest nach außen – als nicht hintergehbar darstellte, wollte man nicht die einmal deduzierten Rechtsansprüche unterminieren. Man hatte sich also protestantischerseits 1699 auf eine Maxime festgelegt, die auf lange Sicht die politische Richtschnur für rechtliche Forderungen markieren sollte und die man nicht mehr verlassen konnte, ohne Gefahr zu laufen, inkonsistent zu argumentieren.73 Da am Fall der Kurpfalz diese „evangelische“ Interpretation des Westfälischen Friedens von Brandenburg gesteuert worden war und also den brandenburgischen konfessionspolitischen Interessen durchaus entsprach, kann es nicht verwundern, dass der brandenburgische Gesandte in Regensburg energisch die Diskreditierung der lutherischen Konsistorialen Schlosser und Debus betrieb und mehrfach in der evangelischen Konferenz Conclusa durchsetzte, die das Missfallen des Corpus Evangelicorum über die von den lutherischen Pfarrern verbreiteten „schädliche[n] Principia“ formulierten: Die lutherischen Pfarrer hätten in ihrer Schrift „dem Instrumento Pacis eine verkehrte Deutung darinn gegeben, folglich die Fundamenta der Sicherheit in Religions-Sachen angegriffen …“.74 Es wurde allen evangelischen Reichsständen in Erinnerung gerufen, dass „nach dem Inhalt des Instrumentum Pacis Westphalicae Art. 17. § 5. alle Consortes Pacis schuldig seind, beständig zusammen zu halten und alle dergleichen Angelegenheiten mit einmüthigem Rath und That zu einem gedeylichen Ende bringen zu helffen“.75 Dieser offiziellen Haltung entsprechend wurde auch ein Schreiben, das die beiden Konsistorialen an die lutherischen Reichsstände gerichtet hatten, nicht angenommen; vielmehr beschloss man im Corpus, es „nicht bey denen Actis zu behalten, sondern unverzüglich wieder zurück zu geben […], mit der Bedeutung, daß sie, die beyde Herren Geistliche künfftighin besser auf den Grund der Sach sehen, keiner Interpretation des Instrumenti Pacis oder eigenen Urtheils über andere Pacta publica sich anmassen [sollten]“76 – 71
Vgl. Haug-Moritz, Kaisertum, S. 473, Anm. 133. Zeumer, Quellensammlung, IPO Art. V § 31, S. 409–410. 73 Zu diesem Problem s. a. weiter unten in diesem Kapitel. 74 Schauroth, Sammlung 2, S. 333 (Conclusum vom 11./21.11.1699), S. 334 (Conclusum vom 11./21.1.1700), S. 335 (Conclusum vom 24.4.1700). 75 Ebd., S. 311 (Conclusum vom 9./19.9.1699). 76 Struve, Bericht, S. 988–989; Schauroth, Sammlung 2, S. 336 (Auszug des Protokolls der evangelischen Konferenz vom 24.4.1700). 72
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denn „ein Evangelisches Corpus [sei] weit besser von der eigentlichen Beschaffenheit der Sach instruiert“.77 Brandenburg-Preußen hatte sich also im Corpus Evangelicorum gerade durch die Sendung Boetzelaers und der von ihm „nomine Corporis“ deduzierten Rechtsauffassungen im Sinne der Reformierten in der Kurpfalz durchgesetzt – und das, obwohl von lutherischer Seite durchaus der Versuch gemacht worden war, auch für die pfälzischen Lutheraner eine Verbesserung zu erreichen. Dass große Differenzen zwischen den beiden evangelischen Konfessionsgruppen in der Kurpfalz bestanden, war auch vor den Veröffentlichungen der lutherischen Konsistorialräte in Berlin bekannt gewesen; auch wusste man von Versuchen, im nahe gelegenen Frankfurt zu einer Verständigung zwischen den Pfälzer Lutheranern und Reformierten zu gelangen. Seine Stellung innerhalb des Corpus Evangelicorum ermöglichte es Friedrich III. aber, sich in dieser Frage eindeutig hinter den Reformierten Kirchenrat und dessen Interessen zu stellen und sämtliche Forderungen der Lutheraner abzuwehren.78 Anders als einige Jahre später gelang es Kurbrandenburg in dieser ersten – gemäßigten – Intervention des Corpus Evangelicorum in den pfälzischen Religionskonflikten, praktisch unangefochten die Führung zu übernehmen und für die „Pfälzische Angelegenheit“ die Mehrheiten innerhalb des Corpus Evangelicorum zu mobilisieren, und zwar ohne nennenswerte politische Rücksichtnahmen auf (Kur-) Hannover und Kursachsen. Das kursächsische Direktorium befand sich zu diesem Zeitpunkt, kurz nach der Konversion Augusts des Starken, in einer schwachen Position und war seit Februar 1700 sogar nominell auf den Herzog von Weißenfels übertragen worden;79 die Hannoveraner Reichspolitik wiederum zeigte unter Ernst August – anders als nur einige Jahre später – innerhalb des Corpus Evangelicorum kaum Profil.80 Diese Konstellation ermöglichte es Friedrich III., das Corpus Evangelicorum stark in Richtung seiner eigenen – auch schon zuvor in der Frage der Kurpfalz vertretenen – konfessionspolitischen Interessen zu steuern bzw. gewissermaßen selbst als Repräsentant aller evangelischen Reichsstände zu agieren. Das zeigte sich unter anderem an der positiven Festlegung des Corpus Evangelicorum auf eine Interpretation der Normaljahresnorm, die für den kurpfälzischen Fall eindeutig die Reformierten begünstigte. Einerseits konnte sich die brandenburgische Reichspolitik hier auf ein aktionsfähiges und beschlusswilliges Corpus Evangelicorum stützen bzw. in dessen Rahmen agieren. Andererseits war die Institutionalisierung der gesamtevangelischen Politik im Reich noch relativ schwach ausgebildet – die politische Zurückhaltung gegenüber dem Kaiser und das erst im Entstehen
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Schauroth, Sammlung 2, S. 334 (Conclusum vom 11./21.1.1700). Für einen Verständigung zwischen Lutheranern und Reformierten in der Kurpfalz verwendete sich auch der Herzog von Württemberg erfolglos bei Friedrich III.; Reskript von Friedrich III. an die Geh. Räte, o. O., o. D. [1698], GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 15. 79 Zum Weißenfelser Direktorium in den Jahren 1700–1717 vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 78–108. 80 Vgl. Berney, König Friedrich I., S. 209; Press, Kurhannover, S 53–56. 78
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begriffene Verfassungsbild der Protestanten waren gleichermaßen Ursache wie Wirkung dieser Konstellation. Wie wenig die vom Corpus Evangelicorum selbst in den Jahren 1699/1700 vertretenen Grundsätze als „communis opinio evangelicorum“ gelten konnten, sollte in den Folgejahren bis 1719 gerade anhand der Pfälzer Verhältnisse deutlich werden. Die Geschlossenheit, die sich in der harschen Abmahnung der lutherischen Pfarrer aufgrund von deren konkurrierender Interpretation des Westfälischen Friedens zeigte, sowie die starke Position Brandenburgs innerhalb des Corpus Evangelicorum standen in den Folgejahren zur Disposition. b) Die Behandlung der evangelischen Religionsgravamina 1700–1705 Auch nach der ergebnislosen gesamtprotestantischen Intervention in der Kurpfalz blieb die Schutzpolitik zugunsten der Pfälzer Reformierten auf der Agenda der brandenburgischen Reichspolitik. Und auch von Seiten des Corpus Evangelicorum wurde weiterhin Druck auf Johann Wilhelm ausgeübt, indem die Protestanten in den Folgemonaten zahlreiche Berichte aus der Kurpfalz publizierten.81 Ende des Jahres 1700 wandten sich die evangelischen Reichsstände, nachdem sie bereits Ende 1698 und Anfang 1699 über die kaiserliche Prinzipalkommission bzw. das Corpus Catholicorum den Kaiser gebeten hatten, die Mission Boetzelaers „zu secundiren“, endlich direkt mit der Bitte an den Kaiser, sein Amt auszuüben, auf dass, „die eingeklagte viele Veränderungen circa statum religionis in der Untern Pfaltz forderlichst restituiret und abgestellet würden“; allerdings nicht ohne die Drohung anzufügen, man würde sonst Zuflucht „zu denen im Instrumento Pacis vorgeschriebenen Mitteln nehmen, und alle erlaubte Hülfe […] suchen“82 Solche „Hülfe“ aber konnte zum gegebenen Zeitpunkt nur auf Frankreich anspielen, das die evangelischen Reichsstände mit vagen Aussichten auf eine Revision der Rijswijker Klausel umwarb.83 Diese Bitte des Corpus Evangelicorum besaß in zweifacher Hinsicht eine neue Qualität: zum einen wandten sich die evangelischen Reichsstände diesmal direkt an den Kaiser (und nicht primär an den katholischen Landesherrn bzw. an die katho
81 Für die zahlreichen Publikationen vgl. die Sammlung bei Struve, Bericht, etwa S. 990, 1002. Besonders die Berichte aus dem Oberamt Germersheim erregten in Regensburg großes Aufsehen; vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 160–162. Ebenfalls sehr öffentlichkeitswirksam scheinen Berichte über die zwangsweise Erziehung evangelischer Waisenkinder im katholischen Glauben gewesen zu sein, die ihren Weg auch in die Zeitungen fanden; vgl. ebd., S. 170–171. Auch der Umgang mit Mischehen brachte dem Kurfürsten wiederholt den Vorwurf des Gewissenszwangs ein; zum Problem der Mischehe in der Kurpfalz vgl. ausführlich ebd., S. 189–211. 82 Schauroth, Sammlung 2, S. 399–400 (Bittschreiben des Corpus Evangelicorum vom 24.12.1700), Zitat S. 399. 83 Zu den innerevangelischen Diskussionen über direkte Verhandlungen mit Frankreich vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 81–82.
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lischen Reichsstände insgesamt), zum anderen taktierten sie mit einer unverhohlenen Drohung, die vom gestiegenen Selbstbewusstsein der Vereinigung zeugt. Die Forderung nach Rücknahme aller dem Westfälischen Frieden zuwiderlaufenden Neuerungen in der Kurpfalz aber stand in engem Zusammenhang mit den Verhandlungen zwischen der Hofburg und Friedrich III. um den sogenannten „Krontraktat“: Im 5. Artikel dieses Vertrags hatte der Kaiser nur einen Monat zuvor versprochen, die Gravamina der Reformierten in der Pfalz und die übrigen im Reich bestehenden Religionsstreitigkeiten, sobald diese vom Corpus Evangelicorum dem Kaiser vorgetragen würden, „dem instrumento pacis und denen reichsconstitutionibus gemäß“ untersuchen und abstellen zu lassen. Im Gegenzug verpflichtete sich Friedrich III. dazu, in dieser Frage gegen seine katholischen Untertanen keine „Repressalien oder Tätlichkeiten“ einzusetzen.84 Dieser Passus war nicht nur dem Interesse des Kaisers am Schutz der katholischen Institutionen in Brandenburg-Preußen geschuldet, sondern auch – und wohl primär – der verfassungsrechtlichen und symbolischen Dimension derartiger „Vergeltungsmaßnahmen“: Sobald der Kaiser sich in die Schlichtung eines Konfliktes einschaltete – wie er es im „Krontraktat“ ja explizit für die Religionsstreitigkeiten im Reich versprochen hatte –, konnte er keine Repressionsdrohungen der einen oder anderen Partei akzeptieren, mussten diese doch automatisch die oberstrichterliche Rolle des Kaisers desavouieren, indem die kaiserliche Entscheidung durch einen derartigen Versuch der Erzwingung gerade nicht als einzige legitime und letztgültige Schlichtung anerkannt würde. Als Friedrich III. 1694 schon einmal gegenüber dem Pfälzer Kurfürsten mit Repressionen gegen seine eigenen katholischen Untertanen gedroht hatte, handelte es sich dagegen um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Reichsständen, die ohne Einbeziehung des Kaisers stattfand und damit auch das kaiserliche Richteramt nicht direkt berührte. Wenngleich die Rechtmäßigkeit von Repressionen im Reichsrecht stark umstritten war, konnte der Kaiser unter Umständen derartige Vorgänge ignorieren, denn als ein rein bilateral gedachtes Verfahren wandten sie sich ausschließlich an die jeweilige Gegenpartei und stellten damit die kaiserliche Suprematie nicht in Frage. Die Versicherung des Kaisers bzw. die anschließende Bitte des Corpus Evange licorum führten jedoch nicht direkt dazu, dass der Reichstag die strittigen Religionsfragen behandelte. Auf das Schreiben der evangelischen Reichsstände vom Dezember 1700 hin geschah zunächst nicht mehr, als dass Leopold I. sich mit einem Ermahnungsschrieben an Johann Wilhelm wandte und diesen bat, die von den Protestanten formulierten Beschwerden abzustellen.85 Weder der Kaiser noch der Pfälzer Kurfürst selbst konnten aufgrund der Spannungen mit Frankreich an 84 Moerner, Staatsverträge, S. 810–824, 812; s. a. Lehmann, Preussen 1, Nr. 345, S. 473–475 (Bedingungen, unter welchen der kaiserliche Hof die preußische Krone anerkennen will, o. O., o. D. [6.8.1700]). Außerdem versprach Friedrich III. im 4. Separatartikel des „Krontraktats“, den katholischen Klerus in Kleve nicht in seinen ständischen Rechten zu beeinträchtigen; Moerner, Staatsverträge, S. 822. 85 Schauroth, Sammlung 2, S. 401 (Bittschreiben des Corpus Evangelicorum vom 30.5.1701); Hans, Religionsdeklaration, S. 175.
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einer Eskalation der Situation interessiert sein. Und so reagierte Johann Wilhelm auch zunächst mit einer gemäßigteren Religionspolitik auf die kaiserliche Ermahnung und die große Publizität, welche die aus der Pfalz eintreffenden Nachrichten von Religionsgravamina in der Reichstagsöffentlichkeit fanden.86 Neben dem anhaltenden Engagement für eine Behandlung der Religionsgravamina bzw. eine Revision der Rijswijker Klausel im Rahmen des Reichstags87 verlagerten sich die Versuche Brandenburg-Preußens, in der Kurpfalz für die Reformierten eine Verbesserung ihrer Situation durchzusetzen, teilweise auf die Ebene direkter Verhandlungen mit dem Kaiser und den Seemächten. Denn der mittlerweile als Friedrich I. zum König in Preußen gekrönte Brandenburger Kurfürst und Johann Wilhelm von der Pfalz waren seit dem Vertrag von Oranienburg im März 1701 politisch wie militärisch eng aneinander gebunden, insbesondere aufgrund der Bedrohung ihrer gemeinsamen Territorien am Niederrhein durch französische Truppen; beide Seiten wollten in dieser Situation direkte Auseinandersetzungen um die Religionsfrage vermeiden.88 Doch in den Verhandlungen mit den Seemächten89 und vor allem im Zusammenhang mit den Verhandlungen um den so genannten „Akzessionstraktat“ mit dem Kaiser über den Beitritt Brandenburg-Preußens als gleichberechtigter Kriegspartner in die Große Allianz90 konnte Friedrich I. mehrfach die Forderung nach einer Einlösung der in Art. 5 des „Krontraktats“ versprochenen Behandlung der kurpfälzischen Religionsbeschwerden bzw. die Beseitigung der Rijswijker Klausel vorbringen.91 Gleichzeitig nutzte Friedrich I. die aufgrund der 86 Im einem Dekret vom 29.4.1701 garantierte Johann Wilhelm allen seinen Untertanen völlige Gewissensfreiheit; vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 176–180. Zu den immer neuen Berichten aus der Pfalz vgl. Struve, Bericht, S. 1004–1064. Das Corpus Evangelicorum setzte ganz offensichtlich auf die Öffentlichkeitswirksamkeit dieser anhaltenden Berichterstattung und ließ im November 1702 eine umfangreiche Darstellung der pfälzischen Religionsangelegenheiten in lateinischer Sprache publizieren, „umb auch denen, welche der Teutschen Sprache nicht kundig, oder die Sach aus vorigen Actis noch nicht zur Genüge begriffen, von der Chur-Pfälzischen Reformation völligen und mehrern Unterricht zu geben“; Struve, Bericht, S. 1064–1104, Zitat: S. 1064; s. a. ein Schreiben an die englische Königin, abgedruckt ebd., S. 1102–1103. 87 s. etwa Schauroth, Sammlung 3, S. 240 (Extrakt des fürstlichen Protokolls vom 18.9.1702). 88 Vgl. Loewe, Staatsverträge Friedrichs I., S. 1–3; Feckl, Preußen, S. 41. 89 Vgl. Berney, König Friedrich I., S. 211. Konkret versuchte Friedrich I., für die Protestanten in Ungarn, Siebenbürgen, der Pfalz und Schlesien Verbesserungen zu erreichen; Loewe, Staatsverträge Friedrichs I., S. 11. 90 Allgemein zur brandenburg-preußischen Politik während des Spanischen Erbfolgekrieges: Feckl, Preußen; Naujokat, England. 91 Zu den Verhandlungen zwischen Friedrich I. und dem Kaiser 1702 vgl. Berney, König Friedrich I., S. 19–44, speziell zu den religionspolitischen Fragen: S. 211–213. Neben der Forderung nach einer vertragsgemäßen Behandlung der pfälzischen Religionsbeschwerden bemühte sich Friedrich I. auch intensiv um kaiserliche Garantien zugunsten der Protestanten in den Erblanden und vor allem in Schlesien sowie um eine Aufhebung der Rijswijker Klausel; s. a. verschiedene Schreiben zu den Religionsverhältnissen in den Erblanden und im Reich von Friedrich I. (z. T. im Verbund mit den Generalstaaten, Schweden und England) an den Kaiser aus den Jahren 1702–1703 bei [Leucht] Thucelius, Staats-Acta 2, S. 15–40.
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stockenden Verhandlungen um die Rijswijker Klausel eingeschränkte Teilnahme der evangelischen Gesandten an den Reichstagsverhandlungen, um im Sommer 1702 mit Rückgriff auf die ausbleibende Behandlung der Religionsfragen seinen Widerstand gegen die Reichskriegserklärung deutlich zu machen.92 Angesichts der bereits erfolgten Kriegserklärungen des Kaisers und der Seemächte im Mai 1702 und der gescheiterten Verhandlungen mit Kurbayern setzte diese implizite Drohung Brandenburg-Preußens, die Reichskriegserklärung auf dem Reichstag mit Verweis auf die konfessionellen Fragen zu behindern, den Kaiser so sehr unter Druck, dass Leopold I. noch im August zu gewissen Zugeständnissen bereit war.93 Der Kaiser gab zu verstehen, auch die konfessionspolitischen Forderungen Friedrichs I. berücksichtigten zu wollen, und stellte zumindest eine baldige Behandlung der Religionsgravamina in Aussicht – ein Versprechen, das bereits am 17. und 18. September 1702 durch alle katholischen Reichsstände und den kaiserlichen Prinzipalkommissar wiederholt wurde.94 Außerdem einigten sich die evangelischen und katholischen Reichsstände im Zusammenhang der Reichskriegserklärung auf eine vage Vereinbarung, die von den Protestanten als Verpflichtung zur Aufhebung der Rijswijker Klausel in den zukünftigen Friedensschlüssen interpretiert werden konnte.95 Schon im Januar 1703 beriet man im Corpus Evangelicorum über die „unter der Hand vorgekommene Nachricht“, die Religionsfragen sollten durch eine „Commission von beederseits Religions-Verwandten“ behandelt werden.96 Tatsächlich wurde im März 1704 schließlich auf Beschluss aller drei Reichstagskollegien mit dem Reichsschluss über die Kriegsverfassung auch die Bildung einer engen, paritä tischen, außerordentlichen Deputation für die Behandlung der Religionsfragen festgesetzt.97 Über die Ausgestaltung der Deputation wurde allerdings zwischen Protestanten und Katholiken in den Folgemonaten intensiv gestritten: Während die Protestanten eine Bevollmächtigung für diese Deputation nur durch amicabiliter 92 Vgl. Berney, König Friedrich I., S. 39; Granier, Reichstag, S. 34; Loewe, Staatsverträge Friedrichs I., S. 23–24. Zum zwischenzeitlichen Boykott der Reichstagsverhandlungen durch die evangelischen Reichsstände vgl. Granier, Reichstag, S. 35–36. In den schließlich erfolgten Reichsschluss zum Reichskrieg gegen Frankreich und den Herzog von Anjou wurde ein Conclusum des Corpus Evangelicorum aufgenommen, das die Aufhebung der Rijswijker Klausel verlangte; s. Schauroth, Sammlung 3, S. 240–241. 93 Die Zugeständnisse des Kaisers umfassten neben den konfessionellen Fragen auch die umstrittenen Rechte Friedrichs I. am Erbe Wilhelms von Oranien, die Zuerkennung des Titels „Prinz von Oranien“ und die Erhöhung der Appellationssumme des kurbrandenburgischen Privilegium de non appellando für alle seit 1588 von Brandenburg erworbenen Territorien auf 2500 Goldgulden; vgl. Berney, König Friedrich I., S. 38; Perels, Appellationsprivilegien, S. 49–51. 94 Schauroth, Sammlung 3, S. 239. Für eine chronologische Zusammenstellung der Deklarationen und Vorträge des Corpus Evangelicorum sowie der Antworten der kaiserlichen Prinzipalkommission bzw. des Corpus Catholicorum in den Jahren 1702–1703 s. [Leucht] Thucelius, Staats-Acta 2, S. 5–12. 95 Vgl. Granier, Reichstag, S. 35–36. 96 [Leucht], Thucelius, Staats-Acta 2, S. 7–8 (Auszug des Protokolls der evangelischen Konferenz vom 20.1.1703). 97 Schauroth, Sammlung 1, S. 460 (Auszug aus dem Beschluss der drei Reichstagskollegien vom 11.3.1704).
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geführte Verhandlungen zwischen beiden konfessionellen Corpora ausstellen lassen und die Gesetze, auf deren Grundlage sie arbeiten sollte, explizit benennen wollten (um damit eine Verwendung der Rijswijker Klausel unmöglich zu machen ), verfochten die Katholiken das kuriale Verfahren.98 Zudem forderten die Protestanten, dass die evangelischen Mitglieder der Deputation in ihrer Instruktion an das Corpus Evangelicorum gebunden werden und also den evangelischen Reichsständen Rechenschaft ablegen müssten. Mit einem solchen Verfahren hätten die Protestanten die Religionsfragen verfahrensparitätisch bearbeiten können, indem sie die Deputation faktisch an den Reichstag gebunden und damit wiederum die Einflussmöglichkeiten des Kaisers minimiert hätten.99 Als Mitglieder der Deputation wurden von katholischer Seite Kurmainz, PfalzNeuburg und die Stadt Köln bestimmt; für die Protestanten sollten Kursachsen, Magdeburg und Regensburg aufgenommen werden. Neben den verfassungsrechtlich relevanten Differenzen, die zwischen den Auffassungen der evangelischen und der katholischen Reichsstände über die Bevollmächtigung der Reichsdeputation bestanden, scheint der innerevangelische Gegensatz zwischen lutherischen und reformierten Reichsständen maßgeblich dazu beigetragen zu haben, dass sich die Arbeit der Deputation zunächst verzögerte und schließlich offenbar gänzlich zum Erliegen kam.100 Schon bevor im Reichsfürstenrat im November 1704 eine von Mainz ausgearbeitete Reichsvollmacht proponiert wurde, hatte Braunschweig-Celle Vorbehalte gegen die Zusammenstellung der Deputierten auf evangelischer Seite formuliert und – wenngleich vergeblich – versucht, neben dem reformierten König in Preußen als Herzog von Magdeburg einen weiteren lutherischen Fürsten als Deputierten durchzusetzen. Im Frühjahr 1705 scheint schließlich das Interesse der Mehrheit der lutherischen Reichsstände an der Behandlung der Religionsbeschwerden durch die Reichsdeputation gänzlich erloschen zu sein, nachdem sich im lutherischen Lager die Meinung durchgesetzt hatte, dass eine Deputation, der von evangelischer Seite der – katholische – Kurfürst von Sachsen und der reformierte König in Preußen angehörten, nicht im Sinne der Lutheraner sein könne.101 Obwohl die Reichstagsgesandten Magdeburgs und Kurbrandenburgs offenbar versuchten, das Corpus Evangelicorum den katholischen Reichsständen gegenüber zum Entgegenkommen zu veranlassen und der Reichsdeputation zur Existenz zu verhelfen, scheint die Arbeit an ihrem Zustandekommen schon bald nicht weiter verfolgt worden zu sein. So sprach sich der Herzog von Weißenfels als offizieller 98 Schauroth, Sammlung 1, S. 471–472 (Erklärung der katholischen Reichsfürsten vom 30.1.1705). 99 Zur Bedeutung der Verfahrensparität im Allgemeinen vgl. Heckel, Itio in partes; Schlaich, Majoritas. Zu den verfassungsrechtlichen Implikationen s. a. Haug-Moritz, Kaisertum, S. 69–472. 100 Zum Folgenden vgl. Granier, Reichstag, S. 59–61. Graniers Ergebnisse gründen auf der Auswertung hannoverischer Reichstagsakten; fehlerhaft und tendenziös dargestellt sind allerdings die Zusammenhänge zur brandenburg-preußischen Konfessionspolitik in der Pfalz (S. 87–88). 101 Granier, Reichstag, S. 60–61, zitiert ein Gutachten des Reichstagsgesandten von Hannover und Celle, das sich offenbar in gleicher Weise gegen das katholische Direktorium Kursachsens wie gegen eine reformierte Dominanz in Gestalt Brandenburg-Preußens ausspricht.
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Direktor des Corpus Evangelicorum in einem Rundschreiben an die evangelischen Reichsstände – wenngleich äußerst vorsichtig und verklausuliert – dagegen aus, die Lösung der Religionsfragen über eine Reichsdeputation weiterzuverfolgen, und forderte die evangelischen Reichsstände dazu auf, stattdessen verstärkt Unterstützung bei den Generalstaaten und England zu suchen.102 Einen weiteren Grund für die Abkehr des Corpus Evangelicorum von der ursprünglich vehement geforderten Behandlung der Religionsbeschwerden durch eine Deputation stellten sicherlich neben den beschriebenen Differenzen über die Ausgestaltung der Deputation auch die seit Beginn des Jahres 1705 zwischen Friedrich I. und Johann Wilhelm von der Pfalz laufenden Verhandlungen um eine Festschreibung der konfessionellen Besitzstände in der Pfalz dar. Umgekehrt trugen diese Verhandlungen, die Friedrich I. nunmehr losgelöst von Kaiser und Reichstag – und damit auch ohne Beteiligung des Corpus Evangelicorum – führte, vermutlich auch dazu bei, dass auch Brandenburg-Preußen die Frage der Religionsdeputation nicht mehr länger engagiert weiterbetrieb. Denn die kurpfälzischen Gravamina stellten den prominentesten derjenigen Streitfälle dar, die von einer potentiellen Reichsdeputation behandelt worden wären. Wenngleich also die außerordentliche Reichsdeputation wohl niemals arbeitete,103 bleibt doch mit Blick auf die Diskussion um ihre Entstehung und ihre Ausgestaltung folgendes festzuhalten: Zum einen war es dem Kaiser gelungen, in einer für Wien außenpolitisch heiklen Situation die konfessionelle Problematik zu neutralisieren, indem er die Religionsangelegenheit auf eine Deputation verwies, deren Zustandekommen für die unmittelbare Zukunft noch dazu nicht zu erwarten war.104 Dass der Kaiser sich aber überhaupt dazu verpflichtete, in der Frage der Religionsbeschwerden im Allgemeinen und derjenigen der Unterpfalz im Speziellen tätig zu werden, ging maßgeblich auf die wiederholten Verhandlungen zwischen Wien und Friedrich III./I. zurück. Neben den sich bereits abzeichnenden gegensätzlichen Vorstellungen von Katholiken und Protestanten über den Modus einer verfassungsmäßigen Behandlung von Religionsfragen lag es vor allem am innerevangelische Gegensatz bzw. der unter den mehrheitlich lutherischen Reichsständen bestehenden Furcht vor einem dominierenden Brandenburg-Preußen, dass die Behandlung der Religionsgravamina scheiterte und nicht einmal das Corpus Evangelicorum weiter geschlossen für die Abstellung der Beschwerden durch eine Reichsdeputation eintrat. Innerhalb des Corpus Evangelicorum gab es erste Anzeichen für eine lutherische Opposition gegen die Führungsrolle Brandenburg-Preußens; diese Opposition wurde aber (noch) nicht direkt formuliert.
102
Das Rundschreiben des Herzogs von Weißenfels an alle evangelischen Reichsstände vom 7.4.1705 ist abgedruckt bei [Leucht], Thucelius, Staats-Acta 3, S. 13–14. 103 Vgl. zu dieser Einschätzung auch Haug-Moritz, Kaisertum, S. 472. 104 Vgl. ebd., S. 469.
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c) Die brandenburg-preußische Konfessionspolitik in der Kurpfalz 1705 Seit Ende des Jahres 1704 hatte Friedrich I. erneut begonnen, sich auch wieder direkt gegenüber dem Pfälzer Kurfürsten und damit außerhalb des Corpus Evangelicorum verstärkt für eine Besserstellung der Reformierten in der Pfalz einzusetzen, und drohte erneut mit der Verhängung von Repressionen gegen seine eigenen katholischen Untertanen.105 Zunächst blieben diese Ankündigungen noch recht allgemein: Friedrich I. rechtfertigte die Verhängung von Repressionen in einem Schreiben an den Herzog von Sachsen-Weißenfels mit dem Verweis auf die zu erwartenden Friedensverhandlungen und den Vorteil, den es für die evangelischen Reichsstände bedeuten würde, wenn man auf diese Weise den Katholiken für die Aufhebung der Rijswijker Klausel etwas im Tausch anzubieten hätte.106 In einem Erlass an die Regierungen von Magdeburg, Halberstadt und Minden verwies Friedrich I. unterm 6. Dezember 1704 auf die Benachteiligungen, unter denen evangelische Untertanen katholischer Landesherren „in und außer Reichs und absonderlich in der Pfalz, auch in Hungarn und Schlesien“ zu leiden hätten.107 Explizit band Friedrich I. die Umsetzung der angedrohten Maßnahmen an den Erfolg oder Misserfolg der am Reichstag laufenden Verhandlungen um die Reichsdeputation. Während sich also diese Gewaltandrohungen Friedrichs I. gegen seine eigenen katholischen Untertanen zunächst noch auf die Benachteiligungen der Protestanten allgemein „in und ausser Reichs“ bezogen und als Forum zur Lösung dieser Probleme – zumindest innerhalb des Reichs – ausdrücklich auf die einzurichtende Reichsdeputation für Religionsangelegenheiten verwiesen wurde, konzentrierte sich die brandenburg-preußische Konfessionspolitik bereits zu Beginn des Jahres 1705 auf direkte Verhandlungen mit Johann Wilhelm und damit auf die Kurpfalz. Indem die Fragen der kurpfälzischen Religionsverhältnisse und des dortigen Umgangs mit der Rijswijker Klausel von der Ebene des Reichstages bzw. der Reichsdeputation auf die bilaterale Ebene in Gestalt von Verhandlungen zwischen Brandenburg-Preußen und Kurpfalz überführt wurden, tangierte auch das Problem der Repressionsdrohungen, die Friedrich I. trotz seiner im „Krontraktat“ eingegangenen 105 Lehmann, Preussen 1, Nr. 422, S. 563–564 (Erlass an die Magdeburger, Halberstädter und Mindener Regierung, Cölln, 6.12.1704). 106 Ebd., Nr. 421, S. 561–563 (König von Preußen an Herzog Johann von Sachsen-Weißenfels, Cölln, 5.12.1704). 107 Ebd., Nr. 422, S. 563–564 (Erlass an die Magdeburger, Halberstädter und Mindener Regierung, Cölln, 6.12.1704): „… daß Wir des beständigen Vorsatzes wären, im Fall besagte Regensburger Religions-Handlung den verlangten Success nicht haben sollte, Wir sie (Unsere der römisch-katholischen Religion zugethane Unterthanen) wie in andern Stücken, also auch in specie wegen des Exercitii Religionis simultanei, welches man in den pfälzischen evangelischen Kirchen den Katholiken gegeben, ingleichen wegen der Theilung der evangelischen Kirchengüter und Gefälle, an welchen man auch die Römisch-Katholische in der Pfalz participiren lässet, auf eben die Weise tractiren würde, wie gemelte Unsere evangelische Glaubensgenossen von ihren katholischen Obrigkeiten tractiret würden …“.
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Verpflichtung nun erneut aussprach, Karl VI. nicht direkt, da sich die Drohungen nun (und auch in der Folge) wieder eindeutig gegen Johann Wilhelm richteten und der Kaiser in den folgenden Verhandlungen in keiner Weise beteiligt war.108 Obwohl weder Literatur noch Quellen für diese Konzentration der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik auf die Kurpfalz eine Erklärung bieten, lassen sich – neben der traditionell engen Verbindung Brandenburg-Preußens den Reformierten in der Kurpfalz – die Gründe zum einen im Verlauf des Spanischen Erbfolgekrieges und zum anderen in der aussichtslosen Behandlung der Religionsbeschwerden auf Reichsebene vermuten: Zu Beginn des Jahres 1705 musste eine den evangelischen Vorstellungen genügende Beilegung der Religionsbeschwerden durch eine außerordentliche Reichsdeputation aufgrund der geschilderten Schwierigkeiten immer unrealistischer erscheinen;109 und auch die Aussicht, mit der erhofften Rückendeckung der Seemächte auf einem Friedenskongress erfolgreich zu verhandeln, zeichnete sich in allzu naher Zukunft nicht ab. Hinzu kam, dass sich die Spielräume sowohl der kurpfälzischen als auch der brandenburg-preußischen Reichspolitik verschoben hatten: Friedrich I. konnte, anders als noch 1699/1700, nach erfolgter Krönung freier agieren; außerdem bedeutete die geringe Wahrscheinlichkeit einer Behandlung der Religionsfragen auf Reichsebene gleichzeitig auch, dass der Kaiser sich vermutlich in die kurpfälzischen Angelegenheiten nicht einschalten würde – besonders angesichts des laufenden Krieges. Die relative Stärke der brandenburg-preußischen Position lässt sich besonders deutlich daran ablesen, dass Friedrich I. Repressionen androhte, obwohl er sich explizit im „Krontraktat“ darauf verpflichtet hatte, auf derartige Mittel zu verzichten – und dass eine scharfe Reaktion aus Wien dennoch ausblieb.110 Für Johann Wilhelm dagegen eröffnete der Wechsel Max Emanuels von Bayern auf französische Seite die Hoffnung auf eine Rückgewinnung der fünften Kur und der Oberpfalz. Diese Hoffnung hatte durch die Schlacht bei Höchstädt am 13. August 1704 entschiedenen Auftrieb erhalten, so dass sich der Pfälzer Kurfürst 108 Vgl. dazu auch weiter unten in diesem Kapitel; s. a. Haug-Moritz, Corpus Evangelicorum, S. 199–201. 109 So begründete Friedrich I. die Repressionen gegen seine katholischen Untertanen Anfang 1705 gegenüber seinem Regensburger Gesandten mit der Einschätzung, dass „man zwar von seiten der Catholischen von Zeit zu Zeit Vertröstung giebt, daß man ermeldte Deputation fortsetzen, und bey selbiger die Religions-Gravamina heben wolle, solches aber in Effectu weder bis daher erfolget ist, noch auch aufs künfftige der Römisch-Catholischen Geistlichkeit Intention seyn mag, sondern vielmehr die Sache zu trainiren, und solcher Gestalt zuforderst die Evangelische in der Pfaltz gäntzlich zu unterdrucken …“; EStC 10, S. 23–24 (Reskript an die königlich-preußische Gesandtschaft zu Regensburg, 3.1.1705). Die skeptische Haltung Berlins in Bezug auf die Einrichtung der Reichsdeputation und die tatsächliche Behandlung der Religionsgravamina zeichnet sich auch bereits im oben zitierten Schreiben Friedrichs I. an den Herzog von Sachsen-Weißenfels ab; Lehmann, Preussen 1, Nr. 421, S. 561–563 (König von Preußen an Herzog Johann Georg von Sachsen-Weißenfels, Cölln, 5.12.1704). 110 Dies gilt umso mehr, als Friedrich I. 1706 im Kontext der verzögerten Durchführung des in der Religionsdeklaration von 1705 festgelegten Prozedere einige der angedrohten Maßnahmen sogar umsetzen ließ; vgl. dazu weiter unten in diesem Kapitel.
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gegenüber Friedrich I. mit Blick auf die Regelung der kirchlichen Verhältnisse in der Kurpfalz verhandlungsbereit zeigte.111 Denn für die Ächtung Max Emanuels war die Zustimmung des Kurfürstenrats notwendig, und so war Johann Wilhelm auf die Unterstützung durch Friedrich I. auf dem Reichstag angewiesen. Bereits im September 1704 hatte Kaiser Leopold I. angekündigt, die Acht gegen die beiden Wittels bacher Kurfürsten von Bayern und Köln verhängen zu wollen; weder Brandenburg-Preußen noch Kursachsen erklärten aber eindeutig ihre Zustimmung, sondern bestanden nachdrücklich auf einer Entscheidung im Kurfürstenrat. Dabei scheint es Friedrich I. nicht zuletzt mit Verweis auf die unsichere Stellung des kursächsischen Direktoriums im Corpus Evangelicorum gelungen zu sein, Friedrich August von Sachsen soweit unter Druck zu setzen, dass dieser die Zustimmung Kursachsens trotz aller diplomatischen Bemühungen Johann Wilhelms weiterhin zurückhielt.112 Gespräche zwischen Brandenburg-Preußen und Kurpfalz wurden im Laufe des Jahres 1705 in Düsseldorf geführt, wo zunächst für den preußischen König der Geheime Rat Friedrich Wilhelm von Diest113 sowie der Hofrat Daniel Burchard114 mit der kurpfälzischen Regierung verhandelten. Seit September 1705 wurden die Verhandlungen hauptsächlich durch den Freiherrn Johann Moritz von Blaspiel geführt.115 Letzterer wurde ab 1706 auch mit der Vertretung der brandenburg-preußischen Interessen hinsichtlich der Konfessionsverhältnisse in den niederrheinischen Gebieten betraut, die offenbar stark von den Konjunkturen der Pfälzer Verhandlungen beeinflusst wurden;116 beide Auseinandersetzungen hingen freilich wiederum eng mit dem Verlauf des Spanischen Erbfolgekrieges zusammen. Die unterschiedlichen Stadien, welche die Verhandlungen durchliefen, ehe sie am 21. November 1705 111
Zu den außenpolitischen Zielen Johann Wilhelms ab 1702 vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 212–213. Erste Bemühungen Johann Wilhelms zur Ächtung Max Emanuels setzten schon unmittelbar nach der Reichskriegserklärung ein; vgl. Granier, Reichstag, S. 85. Diesen maßgeblichen Faktor für die Verhandlungen zwischen Johann Wilhelm und Friedrich I. übersieht Luh, Religionspolitik, S. 159. 112 Vgl. Woker, Steffani, S. 9. Hinzu kamen die für Kursachsen bedrohlichen Entwicklungen des Nordischen Kriegs, die Friedrich August wieder verstärkt Anlehnung an Brandenburg-Preußen suchen ließen, sowie der Tod Kaiser Leopolds I. im Mai 1705; zu Letzterem vgl. Press, Zwischen Versailles und Wien, S. 236–245. 113 Friedrich Wilhelm von Diest war seit März 1678 Kleve-Märkischer Geheimer Regierungsrat und seit 1695 Vizekanzler; vgl. Acta Borussica, Behördenorganisation 1, S. 302. 114 Daniel Burchard (auch Burchardt) stand seit 1696 in brandenburgischen Diensten, war zunächst Geheimer und Legationsrat in Regensburg, wurde 1704 Resident im Niedersächsischen Kreis und im April 1713 von Friedrich Wilhelm I. in diesem Amt bestätigt. Er war mit einer der Töchter des reformierten Hofpredigers Karl Konrad Achenbach verheiratet und starb am 16.1.1720 in Wien als dortiger brandenburg-preußischer Resident; vgl. Acta Borussica, Behördenorganisation 1, S. 566; s. a. Kap. E. II. 1. 115 Johann Moritz von Blaspiel (auch Blaspeil oder Blaspil), aus Kleve gebürtig, war seit 1696 klevischer Kriegs- und Kommissionsrat und wurde von dort aus häufig mit diplomatischen Missionen betraut. 1709 wurde er gemeinsam mit Printzen zum Oberdirektor der Pfälzischen Kolonien ernannt, 1713 zum Präsidenten der Klevischen Regierung; vgl. Acta Borussica, Behördenorganisation 1, S. 85–86. 116 Vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 154–56.
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in der so genannten Religionsdeklaration mündeten, sind in der Literatur ausführlich behandelt worden, weshalb an dieser Stelle eine kursorische Darstellung genügen mag.117 Im Verlauf der Gespräche drohte Friedrich I. erneut mehrmals damit, Repressionen gegenüber seinen katholischen Untertanen in Magdeburg, Halberstadt und Minden zu verhängen. Er kündigte den katholischen Klöstern und Kirchen Einschränkungen ihrer Freiheiten und die zeitweilige Schließung an, sollte der Kurfürst von der Pfalz sich nicht zu einem Vergleich bereitfinden bzw., nach 1705, den schließlich gefundenen Kompromiss vertragsgemäß durchführen. Bemerkenswerterweise beschränkten sich diese Drohungen auf die Landesteile Magdeburg, Halberstadt und Minden, wogegen die niederrheinischen Gebiete trotz ihres nennenswerten katholischen Bevölkerungsanteils nicht betroffen waren. Anders als in den durch den Westfälischen Frieden an Brandenburg gefallenen ehemaligen Stiften war Friedrich I. in seinen niederrheinischen Territorien aus dem jülich-klevischen Erbe durch diverse Religionsrezesse mit Pfalz-Neuburg gebunden – hier hatte man in einer Reihe von Verträgen die konfessionellen Verhältnisse festgesetzt.118 In Magdeburg, Halberstadt und Minden war er dagegen ausschließlich auf den Westfälischen Frieden verpflichtet und konnte so auf die beanstandeten Friedensbrüche des Pfälzer Kurfürsten seinerseits mit bewussten und öffentlich gemachten Übertretungen des „Reichsgrundgesetzes“ gegenüber seinen katholischen Untertanen reagieren.119 So wurde die Drohung mit Repressionen von Maßnahmen begleitet, die – in Analogie zu den Normaljahresansprüchen der Reformierten in der Kurpfalz – zur Klärung des „rechtmäßigen“ Besitzstandes der katholischen Minderheiten in den genannten Gebieten dienen sollten. Die lokalen Regierungen wurden zunächst angewiesen, ausführlich zu untersuchen und zu berichten, was „die Katholische mehr geniessen als ihnen iuxta Statum Anni 1624 zukommet“.120 Auch formal orientierte sich Friedrich I. an den Mitteln der kurpfälzischen Kirchenpolitik gegenüber den Reformierten und ließ im Juli 1705 ebenfalls in expliziter Analogie
117
Vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 227–263. Vgl. die einschlägigen Verträge der Jahre 1666–1674 bei Moerner, Staatsverträge; für eine zusammenfassende Darstellung vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 71–91. 119 Vgl. etwa die Argumentation bei Lehmann, Preussen 1, Nr. 421, S. 561–563 (Der König von Preußen an den Herzog Johann Georg von Sachsen-Weißenfels, Cölln, 4.12.1704), bes. S. 562. Auch Johann Wilhelm verzichtete mit Rücksicht auf die Religionsrezesse mit Friedrich I. als formalem Mitbesitzer darauf, eine vergleichbar rigorose Konfessionspolitik in Jülich-Berg durchzusetzen; vgl. Press, Zwischen Versailles und Wien, S. 238, Anm. 117. 120 Lehmann, Preussen 1, Nr. 424, S. 564 (Erlass an die Magdeburger, Halberstädter und Mindener Regierung, Cölln, 10.4.1705); s. a. die archivalische Überlieferung zur Untersuchung der katholischen Klöster in den brandenburg-preußischen Landen 1704–1720 in: GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 25, Fasz. 1. Der Plan, den katholischen Institutionen in Magdeburg, Minden und Halberstadt nichts über ihren Normaljahresstatus hinaus einzuräumen, hatte allerdings Vorläufer in den frühen Jahren der Regierungszeit Friedrichs III./I.: vgl. Lehmann, Preussen 1, z. B. Nr. 506, S. 611–612 (Bericht der Mindener Regierung, Minden, 18.8.1694). 118
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zur kurpfälzischen Administrationskommission die Einrichtung einer „Administrations-Commission für die katholischen Kirchen in Magdeburg, H alberstadt und Minden“ ankündigen, zu der er unter anderen auch den reformierten Hofprediger und ehemaligen kurpfälzischen Kirchenrat Achenbach bestellte und deren Zweck offenbar darin bestand, die katholischen Rechts- und Besitzverhältnisse für das Normaljahr möglichst rasch zu klären und damit die angekündigten Repressionen vorzubereiten.121 Den Ausschlag dafür, dass Johann Wilhelm schließlich bereit war, sich auf einen Kompromiss mit Friedrich I. einzulassen, gaben aber wohl nicht die Repressionsdrohungen Friedrichs I., sondern der weitere Kriegsverlauf im Jahr 1705, der zwischenzeitlich einen Umschwung zugunsten Max Emanuels von Bayern wahrscheinlicher werden ließ.122 Am 21. November 1705 schlossen Johann Wilhelm und Friedrich I. schließlich einen Vertrag, der Rechte und Besitzstände der drei im Reich anerkannten Konfessionsgruppen in der Kurpfalz regelte; und nur einige Tage später stimmte die kurfürstliche Kurie in Regensburg einer Ächtung Max Emanuels von Bayern zu. Der „Religions-Tractat“ zwischen Kurpfalz und Brandenburg-Preußen schrieb die Gewissensfreiheit für die drei reichsrechtlich anerkannten Konfessionen in allen kurpfälzischen Landen fest – übrigens in dezidierter Anlehnung an den jülich-bergischen Religionsvergleich zwischen Neuburg und Kurbrandenburg von 1672 –,123 und enthielt detaillierte Regelungen für das Verhältnis zwischen Katholiken und Reformierten. Der Vergleich beinhaltete u. a., dass die Konfessionsentscheidung für Kinder aus Mischehen freigestellt blieb. Weiterhin wurde das allgemeine Simultaneum aufgehoben, Kirchen, Schulen, Spitäler, Waisen- und Armenhäuser sowie kirchliche Vermögenswerte aber wurden zwischen Reformierten und Katholiken im Verhältnis fünf zu zwei aufteilt. Allen drei Konfessionen sollte es erlaubt sein, an Orten, wo ihre jeweilige Konfessionsgruppe keine Kirche oder Pfarrgüter besaß, in Privathäusern ihren Glauben zu exerzieren sowie neue Kirchen, Pfarr- und Schulhäuser zu errichten. Auch alle geistlichen Gefälle sollten zu fünf Siebteln für die Unterhaltung des Reformierten Kirchenrats sowie reformierter Gotteshäuser, reformierter Pfarrer, Lehrer etc. verwendet werden, die übrigen zwei Siebtel aber in der Verfügung des Landesherrn verbleiben. Der Verwaltung der Güter sollten jeweils zwei katholische und reformierte Räte vorstehen. Der Reformierte Kirchenrat wurde entsprechend seiner Verfasstheit von 1685 restituiert und erhielt erneut die geistliche Jurisdiktion sowie das Recht, über die Bestellung von Lehrern und Pfarrern selbst zu entscheiden. Auch die Universität Heidelberg wurde wieder mit zwei reformierten Theologieprofessuren ausgestattet, für deren Berufung der Kirchenrat das Vorschlagsrecht besaß. Das Almosenwesen schließlich sollte von allen drei Konfessionen getrennt verwaltet werden. Für die Lutheraner nannte der 121 Lehmann, Preussen 1, Nr. 428, S. 567 (Erlass an die Wirklichen Geheimen Etats-Räte v. Ilgen, v. Printz, den Kammergerichtsrat Beck und den Hofprediger Achenbach, Charlottenburg, 9.6.1705). 122 Vgl. Hymmen, König, S. 36. 123 Vgl. ebd., S. 43–45.
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Traktat explizit das Jahr 1624 als Grundlage für die ihnen zugesprochenen Kirchen und Gefälle, beließ ihnen darüber hinaus aber alle seither erbauten Kirchen und das vom Reformierten Kirchenrat unabhängige Konsistorium.124 Ein geheimer Nebenrezess125 regelte unter anderem die Frage der Durchführung der im Hauptrezess enthaltenen Teilungsbestimmungen für Kirchen und Kirchengüter. Grundsätzlich erklärte der Nebenrezess die Deklaration als Interimslösung „bis man von gesambten Reichs wegen sich der Religions-Gravaminum halber etwan anderst vergleichen oder in deßen Entstehung eine Comitial-Decision erfolgen möchte“, wobei sich die Reformierten freilich ihre sämtlichen aus dem Westfälischen Friedensschlüssen fließenden Rechte ausdrücklich reservierten.126 Bis zu diesem Zeitpunkt allerdings verpflichtete sich Brandenburg-Preußen explizit, keine Beschwerden der kurpfälzischen Protestanten mehr am Reichstag anzunehmen oder zu vertreten, sowie – implizit – Johann Wilhelm im Kurkolleg beim Achtverfahren gegen Max Emanuel zu unterstützen. Obwohl zunächst zumindest von brandenburg-preußischer Seite aus vorgesehen war, den Vergleich in Form eines Vertrages zwischen Landesherrn und Untertanen unter Garantie Brandenburg-Preußens, Englands, der Generalstaaten sowie Hessen-Darmstadts und Württembergs abzuschließen, willigte Friedrich I. auf Wunsch Johann Wilhelms ein, den Vergleich in Gestalt einer landesherrlichen Deklaration zu veröffentlichen.127 Die Durchführung der Deklaration, also die Teilung aller Kirchen sowie sonstiger Gebäude und Besitzungen, ließ Friedrich I. von Beobachtern in Düsseldorf begleiten, die in ständigem Kontakt mit dem Reformierten Kirchenrat in Heidelberg standen. Weil sich aber die Arbeit der Religionskommission, die Johann Wilhelm zur Durchführung der Bestimmungen eingesetzt hatte, immer wieder verzögerte, drohte Friedrich I. seit Oktober 1706 erneut mit Repressionen und machte mit der Umsetzung dieser Ankündigungen im März 1707 tatsächlich den Anfang, indem er die Einkünfte zweier Halberstädter Klöster, der Klöster Huysburg und Hamersleben, jeweils zur Hälfte einziehen ließ und der Halberstädter Regierung zudem befahl, Vorschläge zur Einführung eines reformierten Simultaneums in einigen der katholischen Kirchen zu entwerfen.128 Indem Friedrich I. die mit den Repressionen belegten Klöster explizit dazu aufforderte, sich – um ihres eigenen Schicksals willen – am kürfürstlich-pfälzischen 124 Die Religionsdeklaration ist vollständig abgedruckt bei Hans, Religionsdeklaration, S. 365–372. 125 Abgedruckt ebd., S. 372–374. 126 Nebenrezess der Religionsdeklaration von 1705, zitiert nach Hans, Religionsdeklaration, S. 372. 127 Vgl. Hymmen, König, S. 39–40. Hymmen behauptet, allerdings ohne hierfür Belege anzuführen, Friedrich I. habe dieses Verfahren selbst favorisiert, beinhaltete eine reine Deklaration doch immer noch die Möglichkeit, „bei passender Gelegenheit den Evangelischen noch einige Erleichterungen zu verschaffen“. 128 Lehmann, Preussen 1, Nr. 429, S. 567–568 (Erlass an die Magdeburger, Halberstädter und Mindener Regierung, Cölln, 2.10.1706).
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Hof für eine rasche Durchführung der Religionsdeklaration einzusetzen, erhielten die Repressionen eine verstärkte Außenwirkung.129 Für Johann Wilhelm stand aller dings erneut die Frage nach der Übertragung der bayerischen Kurwürde und der Oberpfalz im Mittelpunkt: Nachdem die Ächtung Max Emanuels glücklich vollzogen war, stand nun, im Frühjahr 1707, die Belehnung Johann Wilhelms mit der Oberpfalz noch aus, die wiederum vom Kurfürstenkolleg beraten wurde und eine einstimmige Resolution erforderte.130 Wenngleich in den folgenden Monaten und Jahren noch mehrfach Interventionen des brandenburg-preußischen Gesandten erfolgten und die Durchführung der Religionsdeklaration von Berlin aus genau beobachtet wurde, arbeitete die Religionskommission seit dem Sommer 1707 doch relativ zügig und reibungslos, bis sie schließlich 1713 aufgelöst wurde.131 Nach der Regierungsübernahme Friedrich Wilhelms I. wurde schließlich auch die preußische Sondergesandtschaft aus Düsseldorf abberufen.132 Seither bestand zwar weiterhin direkter Kontakt zwischen dem Reformierten Kirchenrat in Heidelberg und der brandenburg-preußischen Regierung in Berlin; die wichtigste Kontaktperson für die Pfälzer Reformierten wurde aber künftig der preußische Resident in Frankfurt am Main. Die geschilderten Repressionen zugunsten der kurpfälzischen Reformierten wurden von weiteren Drohungen begleitet, die sich ebenfalls gegen katholische Einrichtungen in Magdeburg, Halberstadt und Minden richteten, und die Friedrich I. als Vergeltungsmaßnahmen für die Behandlung reformierter Untertanen durch den Abt von Kempten ankündigte.133 Diese Maßnahmen richteten sich im Falle Kemptens wohl deswegen primär gegen Benediktiner, weil es sich beim Fürststift Kempten um eine Benediktiner-Abtei handelte. Die angedrohten Repressionen wurden per königlichen Befehl Ende Februar 1707 durchgeführt und bereits Anfang April desselben Jahres wieder aufgehoben, nachdem der Fürstabt von Kempten seinen reformierten Untertanen eine von ihnen beanspruchte Kirche wieder eingeräumt
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EStC 10, S. 27–30 (Denkschrift des Guardians zu Halberstadt an den Reichstag zu den Religionsgravamina, o. D. [1705]); ebd., S. 35–40 („Unvorgreiffliche Considerationes über die von Ihro Königliche Majestät in Preussen respectu der in Ihren Landen befindlicher Catholischen gefasste Resolution“, o. D. [1705]). 130 Tatsächlich sollte die Belehnung allerdings erst im Juni 1708 erfolgen; vgl. Sante, Kur pfälzische Politik, S. 45–55. Die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Pfalz-Neuburg und Brandenburg-Preußen, das sich offenbar ab 1708 abzeichnete, könnte (neben anderen Faktoren) mithin auch damit zu erklären sein, dass 1708 Johann Wilhelm seine wichtigsten reichspolitischen Ziele in Gestalt der Belehnung mit der Oberpfalz und der Übertragung der Kurwürde erreicht hatte. Anders die Analyse bei Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 145, Anm. 506, S. 156–159. 131 Zur Durchführung der Religionsdeklaration im Detail vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 291–301. 132 Vgl. ebd., S. 323. 133 Schauroth, Sammlung 2, S. 72–76; Lehmann, Preussen 1, Nr. 430, S. 568 (Erlass an die Regierungen zu Halle, Halberstadt und Minden, Cölln, 12.11.1706); Nr. 431, S. 568 (Erlass an die magdeburgische und halberstädter Regierung, Cölln, 4.1.1707).
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hatte.134 Weitere Repressionen, erneut gegen die Katholiken in Magdeburg, Halberstadt und Minden sowie in Preußen, wurden im Zusammenhang eines Konfliktes mit der Reichsstadt Köln verhängt, der ebenfalls im Jahr 1707 ausbrach. Alle diese Repressionen galten – in der einen oder anderen Weise – der Verteidigung bzw. Stärkung der reformierten Konfession im Reich und wurden teilweise von Friedrich I. durchaus in mehrere der geschilderten Zusammenhänge gestellt.135 Durch diese Häufung von Repressionen gegen katholische Einrichtungen profilierte sich Brandenburg-Preußen in den Jahren von 1705–1708 als evangelische, aber eben doch auch deutlich als evangelisch-reformierte Schutzmacht, die gewillt war, auch mit gewaltsamen Mitteln die protestantischen und besonders die reformierten Religionsrechte im Reich zu verteidigen. Die anti-katholischen Repressionen in brandenburg-preußischen Landesteilen, wie sie in den Auseinandersetzungen um die Kurpfalz, Kempten und Köln von Friedrich I. gebraucht wurden, sollten allerdings nicht ausschließlich als konfessionspolitische Maßnahme im Kontext der Reichspolitik betrachtet werden. Sie müssen vielmehr auch als Element einer mitunter anti-ständischen Integrationspolitik in den seit dem Westfälischen Frieden hinzugekommenen Territorien verstanden werden – mithin als Teil des brandenburg-preußischen Staatsbildungsprozesses. Im Falle der Repressionen gegen katholische Kirchen und Klöster verband sich offenkundig eine auf stärkere Integration zielende anti-ständische Politik mit anti-katholischen konfessionspolitischen Tendenzen der brandenburg-preußischen Kirchenpolitik. Diese Maßnahmen konnten aber eben auch mit reichspolitischen Zielen verknüpft und durch diese legitimiert werden; umgekehrt trugen reichspolitische Konstellationen dazu bei, diese bereits etablierten Formen der Zentralisierungspolitik zeitweilig zu radikalisieren.136 d) Krone und Konfession: Der Streit um den reformierten Gottesdienst in der Reichsstadt Köln Wie eng die Demonstration von konfessioneller Identität mit dem Anspruch, eine der bedeutendsten Mächte im Reich darzustellen, verbunden war, wird besonders an den Auseinandersetzungen mit der Reichsstadt Köln deutlich. Dieser Streit entbrannte im Jahr 1707 daran, dass im Haus des brandenburg-preußischen Residenten 134
Lehmann, Preussen 1, Nr. 432, S. 569 (Erlass an die Regierungen zu Halle, Halberstadt und Minden, Cölln, 26.2.1707); Nr. 433, S. 569–570 (Erlass an die Regierungen zu Halle, Halberstadt und Minden, Cölln, 2.4.1707). 135 Die Zusammenhänge werden durch die Zusammenstellung der bei Lehmann abgedruckten Quellen nicht erhellt; es ist auch nicht zweifelsfrei belegt, dass sich die im Februar / März 1707 tatsächlich begonnenen Ausführungen einiger Repressionen ausschließlich gegen J ohann Wilhelm bzw. die Verhältnisse in der Kurpfalz richteten; vgl. Lehmann, Preussen 1, Nr. 428–432, 567–569. 136 Zu dieser Thematik vgl. Kap. D. II.
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regelmäßig reformierter Gottesdienst abgehalten wurde.137 Der Konflikt fiel also in dieselbe Zeit wie die Auseinandersetzungen zwischen Berlin und Heidelberg bzw. Kempten und erwies sich als erstaunlich langlebig und – sowohl die beteiligten Akteure als auch die Argumentation betreffend – äußerst komplex:138 Im Januar 1708 hielt der brandenburg-preußische Resident in Köln, Reichard von Diest,139 einen reformierten Gottesdienst in seinem Hause ab, zu dem er auch Kölner Bürger einlud und der mithin als ein öffentlicher Gottesdienst zu begreifen war.140 Er tat dies mit expliziter Erlaubnis Friedrichs I. Der Magistrat der Stadt Köln protestierte dagegen umgehend beim Residenten und erließ ein Verbot an die evangelischen Einwohner der Stadt, den Gottesdienst im Hause des Residenten zu besuchen, um auf diese Weise eine Etablierung der öffentlichen reformierten Religionsausübung zu unterbinden. Gleichzeitig wandte sich der Magistrat sowohl direkt an Friedrich I. als auch an den Kaiser und bemühte sich, die juristische Argumentation, mit der von brandenburg-preußischer Seite die Abhaltung des Gottesdienstes gerechtfertigt worden war, zu widerlegen.141 Denn bereits unmittelbar nachdem die Protestnote des Magistrats dem Residenten übergeben worden war, hatte sich dieser auf das allgemeine Völkerrecht berufen, das allen königlichen und kaiserlichen Residenten überall freie Religionsausübung gestatte. Gleichzeitig hatte der König auch noch, für den Fall, dass dieser Anspruch vom Magistrat nicht respektiert werden sollte, Repressionen gegen die katholischen Untertanen in Halberstadt, Magdeburg, Minden sowie in Preußen angedroht.142 Der Resident bzw. Friedrich I. nutzen hier also die gerade erst erworbene königliche Würde bereits argumentativ, um statt des Reichsrechtes, das öffentliche Religionsausübung jenseits der Regelungen des Westfälischen Friedens nicht vorsah, das Jus gentium für sich zu beanspruchen und damit implizit auch innerhalb des Reichsverbandes als Souverän aufzutreten. Dass nicht nur die Stadt Köln als Reichsstand, sondern auch der Kaiser dieser Auffassung widersprachen, kann kaum verwundern. Der 137 Zum Residentenstreit in Köln vgl. grundsätzlich Meister, Residentenstreit; Bellingradt, „Lateinische Zedel“; Hatje, Repräsentationen, S. 75–112; Leibetseder, Ein umstrittener sozialer Raum. 138 Zum Folgenden vgl. Meister, Residentenstreit. 139 Zu Reichard von Diest vgl. Acta Borussica, Behördenorganisation 1, S. 277, Anm. 6. 140 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 124, S. 133–134 (Bussi an Paolucci, Köln, 5.2.1708). 141 Reichshofratsgutachten o. D. [1709], HHStA, RHR, Vota 9-22; EStC 14, S. 175–178 („Schreiben an Ih. Kön. Majest. in Preussen / von Burgermeister und Rath des Heiligen Reichs Freyen Stadt Cöln“, Köln, 10.2.1708); S. 197–202 („Schreiben an Ihr. Kayserl. Maj. von Burgermeister und Rath / der Stadt Cölln / in eadem causa des Königl. Preussischen Residentens Exercitium Religionis domesticum betreffend“, Köln, 16.2.1708). Zum Haus des Residenten, dem so genannten Klever Hof, vgl. ausführlich Leibetseder, Ein umstrittener sozialer Raum; zu Vorläuferkonflikten zwischen Brandenburg-Preußen und der Stadt Köln im späteren 17. Jahrhundert vgl. ebd., S. 188–191. 142 Leibetseder, Ein umstrittener sozialer Raum, S. 188–191; Lehmann, Preussen 1, Nr. 441, S. 573–574 (Erlass an die preußische, Magdeburger, Halberstädter und Mindener Regierung, Cölln, 14.2.1708); Nr. 442, S. 574 (Erlass an den Residenten Diest in Köln, Cölln, 16.2.1708); Nr. 444, S. 575 (Erlass an den Residenten Diest in Köln, Cölln, 6.3.1708).
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Kaiser ermahnte denn auch Friedrich I., den in seinen Augen widerrechtlichen Gottesdienst einzustellen und vor allem von den bereits angedrohten Repressionen gegen katholische Institutionen in brandenburg-preußischen Landen abzusehen.143 Dem königlichen Anspruch auf freie Religionsausübung seines Residenten entsprechend rechtfertigte Friedrich I. die Repressionen nun, anders als im Falle der Kurpfalz und Kemptens, nicht mit dem Reichsrecht, sondern bezog sich auch hier auf das Völkerrecht.144 Daneben und in erster Linie geriet der Konflikt um den reformierten Gottesdienst in Köln allerdings zu einer direkten Auseinandersetzung zwischen Brandenburg- Preußen und der katholischen Kirche: Der Kölner Nuntius Giambattista Bussi gehörte von Beginn an zu den treibenden Kräften der Opposition, die sich in Köln gegen den reformierten Gottesdienst formierte. Bussi agierte dabei auf verschiedenen Ebenen, indem er sich zum einen bemühte, unmittelbar auf den Magistrat Einfluss zu nehmen und diesen zu einer kompromisslosen Haltung gegenüber Friedrich I. zu bewegen. Andererseits berichtete er über die Ereignisse und Entwicklungen ausführlich ans römische Staatssekretariat, das sich seinerseits an den Kaiser wandte und den Wiener Nuntius gegen die Kölner Entwicklungen protestieren ließ.145 Für Friedrich I. ergab sich dagegen durch den Verlauf des Spanischen Erbfolgekrieges die Möglichkeit, im Konflikt mit Köln die Repressionsdrohungen auch direkt gegen den Papst zu richten und mit den brandenburg-preußischen Truppen in Italien eine militärische Drohkulisse gegen Rom zu errichten.146 Der Konflikt mit der Reichsstadt Köln war aber auch deswegen in weiten Teilen eine unmittelbare Auseinandersetzung mit der römischen Kirche, weil mit dem von Berlin formulierten Anspruch auf königliches „Traktament“ bzw. der Agitation des Nuntius gegen die Abhaltung des reformierten Gottesdienstes implizit auch die Nichtanerkennung der preußischen Krone durch Rom thematisiert wurde.147 Der Konflikt eskalierte schließlich im April 1708, nachdem der Resident Diest erneut einen reformierten Gottesdienst hatte abhalten lassen und es zu einer Studentenunruhe kam, infolge derer das königlich preußische Wappen am Haus des 143 EStC 14, S. 212–214 („Copia Kayserl. Rescripti an den König in Preussen / in Sachen der Stadt Cöln / in puncto Exercitii Religionis Reformatae daselbst“, Wien, 4.4.1708). 144 Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 262. 145 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 124, S. 133–134 (Bussi an Paolucci, Köln, 5.2.1708); Nr. 126, S. 135–136 (Paolucci an Bussi, Rom, 24.3.1708); Nr. 133, S. 143 (Paolucci an Santini, Rom, 11.8.1708). 146 Lehmann, Preussen 1, Nr. 447, S. 576–577 (Erlass an Generalmajor Ulrich Christof v. Stille in Italien, Potsdam, 30.4.1708); Nr. 450, S. 578 (Erlass an General-Major Stille in Italien, Charlottenburg, 8.5.1708); Nr. 454, S. 579 (Bericht des Generalmajors Georg Abraham v. Arnim, Paverino, 16.6.1708); Nr. 460, S. 583 (Erlass an Generalmajor Arnim in Italien, Cölln, 8.12.1708); Hiltebrandt, Preussen, Nr. 133, S. 143 (Paolucci an Santini, Rom, 11.8.1708), darin auch Korrekturen zu den Angaben bei Lehmann, Preussen 1, Nr. 454, S. 579. 147 Zum Protest der Kurie gegen die Annahme der preußischen Königswürde durch Friedrich III./I. und insbesondere zum Einfluss der französischen Politik vgl. Friedensburg, Kurie; s. a. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 91, S. 99.
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Residenten beschädigt wurde.148 Während die Stadt Köln sich bemühte, den König angesichts der angespannten Lage davon zu überzeugen, seinen Residenten abzuberufen, reagierte Friedrich I. mit der Umsetzung der angedrohten Repressalien, indem er den Befehl gab, die Hälfte der Einkünfte aller kirchlichen Institutionen der Katholiken in Halberstadt, Minden, Magdeburg und Preußen einziehen zu lassen, und ankündigen ließ, auch die zweite Hälfte einzuziehen, wenn innerhalb von sechs Wochen „diese Sache zu Cölln nicht repariret und Uns deshalb zureichende Satisfaction verschafft würde“.149 Direkt gegen die Stadt Köln aber richtete sich ein Verbot, das dem Herzogtum Kleve den Handel mit Köln bis auf Weiteres untersagte. Kölner Handelsschiffen wurde in Wesel die Weiterfahrt auf dem Rhein verwehrt.150 Darauf reagierte die Stadt Köln nun ihrerseits mit Einschränkungen des Handels mit Brandenburg-Preußen, woraufhin wiederum Friedrich I. den Freiherrn Marquard Ludwig von Printzen151 nach Köln zu ersten Gesprächen sandte.152 Nachdem die Stadt Köln sich um die Vermittlung des Bischofs von Münster und des Pfälzer Kurfürsten bemüht hatte, begannen im Sommer desselben Jahres neue Verhandlungen unter der Mitwirkung der benachbarten Fürsten, die aber zunächst auch zu keiner Einigung führten, da die Stadt weiterhin auf dem Vorrang des Reichsrechts bestand, und auch über die Form einer möglichen Entschuldigung für die Beschädigung des königlichen Wappens zwischen Köln und Berlin keine Einigung erzielt werden konnte.153 Friedrich I. forderte von der Stadt eine Depu 148 Dazu ausführlich Meister, Residentenstreit, S. 5–10; Leibetseder, Ein umstrittener sozialer Raum, S. 194–195; Hiltebrandt, Preussen, Nr. 128, S. 137; Nr. 129, S. 137–138; Nr. 133, S. 143. 149 Lehmann, Preussen 1, Nr. 448, S. 577 (Erlass an die Regierungen zu Halle, Haberstadt und Minden, Charlottenburg, 8.5.1708). 150 Das Verbot galt zunächst für sämtliche Kölner Schiffe, diejenigen protestantischer Kölner Kaufleute wurden aber bald davon ausgenommen; vgl. Meister, Residentenstreit, S. 13. Leibetseder, Ein umstrittener sozialer Raum, S. 194–195, behandelt die folgenden Verhandlungen nicht und interpretiert den Konflikt primär als einen Ehrkonflikt zwischen Reichsstadt und König; diese Deutung vertritt auch Hantje, Repräsentationen, S. 87–93, der allerdings auch die zweite Phase des Konflikts und die Beteiligung des Kaisers behandelt. 151 Marquard Ludwig von Printzen (reformiert) trat schon frühzeitig in brandenburgische Dienste und begann seine Karriere als Diplomat u. a. in Moskau. Bei einer Mission nach Franken setzte er beim Nürnberger Magistrat durch, dass den Reformierten in der Stadt der öffent liche Gottesdienst gewährt wurde. Nach dem Tod von Paul von Fuchs wurde Printzen 1704 zum Direktor des Lehnswesens ernannt und ein Jahr später zum Wirklichen Geheimen Staats- und Kriegsrat. 1706 erhielt er den neugestifteten Orden vom Schwarzen Adler; nach und nach wurden ihm zahlreiche Ämter der geistlichen Administration übertragen, u. a. das Direktorium des Mons Pietatis und das Präsidium des kurmärkischen Konsistoriums. 1713 wurde er Präsident des neu errichteten reformierten Oberkirchendirektoriums, 1714 auch Präsident des französisch-reformierten Oberkonsistoriums. Er wurde im Februar 1713 neben Ilgen und Dohna zum Leiter der auswärtigen Angelegenheiten berufen. Als Friedrich Wilhelm I. mit seinem Regierungsbeginn im Kabinettsministerium das Kollegialsystem einrichtete, berief er neben Ilgen und Christoph von Dohna auch Printzen zum Kabinettsminister. Printzen starb im November 1725; vgl. Naudé, Printzen; Acta Borussica, Behördenorganisation 1, S. 313–317. 152 Vgl. dazu die Berichte des Kölner Nuntius bei Hiltebrandt, Preussen, Nr. 129, S. 137–138; Nr. 131, S. 140–141. 153 Vgl. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 135–137, S. 144–149.
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tation, die mit einer offiziellen Entschuldigungsnote nach Berlin kommen sollte, was der Magistrat aber zunächst ablehnte. Unter der Vermittlung des Münsteraner Bischofs und des Pfälzer Kurfürsten wurde jedoch schließlich um die Jahreswende 1708/1709 ein Vergleich entworfen,154 der allerdings den zentralen Punkt, also die Frage nach der Berechtigung des Residenten zur Abhaltung reformierter Gottesdienste, letztlich in der Schwebe ließ. Die Stadt Köln bestritt dem König seinen Rechtsanspruch nicht mehr, der König aber – ohne sich seiner Rechte zu begeben – sagte zu, dass der Resident vorerst mit dem reformierten Gottesdienst in der außerhalb der Stadt liegenden Garnison Vorlieb nehmen werde. Obwohl – oder gerade weil – er die Kernfrage ungeklärt ließ, ermöglichte der Vergleich die Wiederaufnahme der bislang guten Beziehungen zwischen Stadt und König, indem eine städtische Gesandtschaft vorgesehen wurde, die beim König um Vergebung für die Ausschreitungen und um Wiederaufnahme in die königliche Gnade sowie um die Aufhebung der Repressalien bitten sollte.155 Friedrich I. sollte sich im Gegenzug dazu verpflichten, alles Vorgefallene zu vergessen und den Kölner Gesandten nichts widerfahren zu lassen, was der Ehre Kölns als Reichsstadt abträglich gewesen wäre. Schließlich sollten die Deputierten zum Handkuss vorgelassen werden. Friedrich I. reagierte auf dieses Ergebnis der Verhandlungen, indem er die Aufhebung der Repressalien ankündigte.156 Gegen diesen Vergleich wandten sich nun sowohl der Kölner Nuntius als auch der Reichshofrat. Der letztere verfolgte den Konflikt bzw. die Versuche seiner Beilegung, seitdem sich die Stadt Köln zu Beginn des Streites an den Kaiser gewandt hatte, und wurde sowohl durch den kaiserlichen Gesandten beim Niederrheinisch-Westfälischen Kreis als auch durch den Wiener Nuntius regelmäßig über den Gang der Verhandlungen informiert. Als im Januar der durch Münster und Pfalz vermittelte Vergleich abgeschlossen wurde, erklärte der Kölner Nuntius Bussi diesen im Namen des Papstes für nichtig.157 Gleichzeitig bemühte sich die kuriale Diplomatie beim Kaiser um eine Kassierung des Vergleichs.158 Trotz aller gegenteiligen Versuche seitens der beiden Vermittler, Münster und Pfalz, annullierte der Reichshofrat tatsächlich im Februar 1709 den Vergleich. Beide Fürsten wurden gegen ihren Wunsch qua Kreisdirektoren vom Reichshofrat mit einer neuen Kommission beauftragt, die nun den Konflikt im Rahmen der kaiserlichen Gerichtsbarkeit lö-
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Die unterschiedlichen Stadien der Verhandlungen sind ausführlich beschrieben bei Meister, Residentenstreit, S. 16–24. 155 Abgedruckt in EStC 14, S. 235–241 („Vergleich wie solcher zwischen Ihro Königl. Majestät in Preussen und dem Magsitrat zu Cölln wegen des Exercitii Religionis Domestici errichtet worden“, Köln, 16.1.1709). 156 Lehmann, Preussen 1, Nr. 465, S. 586–587 (Der König von Preußen an den Bischof von Münster und Paderborn, Cölln, 11.3.1709). 157 EStC 14, S. 242–250 („Des Päbstlichen Nuntii Contradiction zu Cölln wider den getroffenen Vergleich mit dem König in Preussen“, Rom, 16.2.1709). 158 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 137, S. 148–149 (Bussi an Paolucci, Köln, 13.1.1709); Nr. 139, S. 151–152 (Bussi an Paolucci, o. O., 6.6.1709).
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sen sollte; die Kommissare legten ihr Amt jedoch im September 1710 nieder.159 Dieses Vorgehen zog nun für beide Fürsten ein Verfahren am Reichshofrat nach sich, in dessen Folge sie wegen ihres zunächst eigenmächtigen Vorgehens als Vermittler und der darauf folgenden Niederlegung der kaiserlichen Kommission ernsthaft ermahnt und schließlich erneut mit der Kommission betraut wurden.160 Aber nicht nur die beiden ehemaligen Vermittler versuchten sich der kaiserlichen Intervention zu entziehen; auch der Kölner Magistrat war keineswegs glücklich, dass der Kaiser den Vergleich kassiert und ein neues Schlichtungsverfahren eingeleitet hatte, das erhebliche Kosten produzierte und zudem die gewünschte Einigung mit dem preußischen König in weite Ferne rücken ließ. Die Stadt versuchte in den folgenden Monaten immer wieder, sich der erneuerten, wiederum auf Münster und Kurpfalz übertragenen Kommission zu entziehen. Schließlich mussten sich jedoch sowohl die beiden Kommissare als auch der Kölner Magistrat dem kaiserlichen Verfahren beugen, das sich noch bis 1711 hinzog – und letztlich alles beim Alten beließ.161 Trotzdem stellten sich allmählich die guten Beziehungen zwischen der Reichsstadt Köln und Berlin wieder her, ohne dass jedoch die gesamte Angelegenheit ganz in Vergessenheit geraten oder gar seitens Brandenburg-Preußens der Anspruch auf die Abhaltung des reformierten Gottesdienstes zurückgenommen worden wäre. Ohne zu ausführlich auf die komplizierten Verstrickungen des Konfliktes um den reformierten Gottesdienst in Köln in die Kriegsereignisse dieser Jahre einzugehen, bleibt festzuhalten, dass die Reaktion des Kaisers auf den Kölner Konflikt nur vor dem Hintergrund des engen Bündnisses mit Brandenburg-Preußen zu verstehen ist. Im Jahr 1708 war der Kaiser angesichts der Entwicklungen in Italien besonders auf die brandenburg-preußischen Truppen angewiesen.162 Insofern kann es nicht verwundern, dass es primär die beiden Vermittler, der Bischof von Münster und der Pfälzer Kurfürst, waren, die den kaiserlichen Unwillen zu spüren bekamen – und nicht Friedrich I. Bereits in dem Anfang 1709 angefertigten Votum ad Imperatorem werden zwar die Gefahren der preußischen Argumentation für den Religionsfrieden und das gesamte Reichssystem deutlich angesprochen; das vom Reichshofrat angeratene Vorgehen bestand aber lediglich darin, den Magistrat in seiner unnachgiebigen Haltung gegenüber dem Residenten zu unterstützen, die Frage auf Kreisebene zu verhandeln und den König in Preußen zu ermahnen.163 Dass der Kaiser den Vergleich zwischen der Stadt Köln und Friedrich I. schließlich annullierte, wird 159
Hiltebrandt, Preussen, Nr. 142, S. 155–156 (Bussi an Paolucci, Köln, 21.9.1710). Zwischen zeitlich hatte der Magistrat der Stadt Köln einen neuen Vergleichstext nach Wien gesandt, verbunden mit der Bitte um kaiserliche Bestätigung. Der neue Vertrag entsprach allerdings in den wesentlichen Punkten dem alten, durch Münster und Pfalz vermittelten Projekt und fand ebenso wenig die Zustimmung Wiens; vgl. ebd. 160 Zum Folgenden: HHStA, RHR, Decisa 898. 161 Ebd. 162 Lehmann, Preussen 1, Nr. 458, S. 581–582 (Kaiser Josef I. an Friedrich I. in Preußen, Wien, 4.10.1708); Nr. 459, S. 582–583 (Friedrich I. in Preußen an Kaiser Josef I., Potsdam, 9.10.1708). 163 Reichshofratsgutachten o. D. [1709], HHStA, RHR, Vota 9-22.
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angesichts der zwischenzeitlichen Unterstützung Roms für Frankreich und der daher stark angespannten Beziehungen zwischen dem Kaiser und der Kurie zudem kaum auf die päpstlichen Bemühungen zurückzuführen sein; vielmehr reagierte der Reichshofrat offenbar direkt auf die Übermittlung des Vergleichstextes durch den kaiserlichen Bevollmächtigten im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis.164 Aber auch auf brandenburg-preußischer Seite beschwerte man sich lediglich gegen die Annullierung des Vergleichs durch den päpstlichen Nuntius, stellte überhaupt Bussi als entscheidenden Anstifter der ganzen Querele dar und suchte beim Corpus Evangelicorum Unterstützung.165 Dem Kaiser versicherte Friedrich I. hingegen nur, er habe mit dem Vergleich niemals etwas gegen den Religionsfrieden oder die Rechte der Stadt Köln unternehmen wollen.166 Obwohl sich die beiden „Großen“, der Kaiser und der preußische König, also in diesem Konflikt gewissermaßen gegenseitig schonten und die direkte Konfrontation mit Rücksicht auf die Bündnis- und Kriegslage offensichtlich vermieden, waren es im Kern freilich die von Friedrich I. vertretenen Ansprüche, gegen die der Kaiser vorgehen musste und die implizit durch den Vergleich sogar noch einmal bestätigt worden waren. Welche Gefahr man in Wien diesen Vorgängen beimaß, lässt sich deutlich an den Vorwürfen ablesen, mit denen der Kaiser die beiden Vermittler, den Bischof von Münster und den Kurfürsten von der Pfalz konfrontierte: Schon der Modus tractandi sei von höchst „schadhaffter Consequenz undt unserer allerhöchsten Kayserl. Authorität abbrüchig“ gewesen. Die beiden Vermittler hätten es maßgeblich zu verantworten, dass „man allenthalben mit vorbeygehung Unserers allerhöchstrichterlichen Ambts […] auff eine in allen Reichs-Constitutionibus unerlaubte weise sich selbst recht geschafft, daß commercium undt öffentliche ruhe standt durch allerhandt that handlungen und repressalien turbiret, ja so gahr die in brandenburgischen landen befindliche catholische geistlichkeit ohne ihr allerwenigstes verschulden darin gezogen […] mithin in effectu zu verstehen geben wollen, daß dero in den Religionsfrieden […] gegründete freyheit ahn selbigen ohrt nicht länger fäst stehe, alß biß zu derer Untertrückung der geringste prätext erscheinen, oder wohl gahr von neuem hervor gesucht wirdt“.167 Diese Vorwürfe trafen zwar eigentlich sämtlich auf den preußischen König zu, wurden aber nun den beiden Vermittlern, als denjenigen, die zu solchen Handlungen auch noch die Hand geboten hätten, gemacht. Selbstverständlich, so die Meinung des Reichshofrats, hätten Münster und Pfalz sich erst gar nicht auf die Streitfrage einlassen dürfen, die im Grunde ja gar keine sei, da dem brandenburg-preußischen Residenten das von ihm prätendierte Recht in keinem Fall eingeräumt werden dürfe, „der doch ahn selbigen
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Ebd. Vgl. EStC 14, S. 253–256 („Chur-Brandenburgisches Votum, das scandalöse Scriptum und Protestation des Päbstlichen Nuntii zu Cölln betreffend / abgelegt in Conferentia Evange licorum“, 19.2.1709). 166 Vgl. die entsprechenden Zitate bei Meister, Residentenstreit, S. 27, Anm. 2. 167 Kaiserliches Mandat vom 22.3.1722, HHStA, RHR, Decisa 898. 165
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ohrten nicht anders als pro ablegato status imperii angesehen werden kann“.168 Aber statt sich an das Reichsrecht zu halten, hätten die beiden Vermittler der Stadt Köln größtes Unrecht zugefügt, indem der Vergleich den Magistrat verpflichtete, eine Satisfaktion zu leisten, zu der er „nicht nur ex justitia nicht verbunden, sondern auch ohne verletzung des Reichsständischen Decori keines weeges anzuhalten gewesen“. Zwar räumte der Kaiser in diesem Mandat ein, dass offenbar der Reichshofrat „mehr als der Stadt magistrat selbst umb das Stadt Cöllnisch eygene Decorum bekümmert gewesen“, doch habe der Magistrat eben unter Zwang gehandelt. Schließlich kommt das Schreiben auf die für Kaiser und Reichshofrat entscheidende Frage zu sprechen: Abseits aller Schwierigkeiten, die sich für die Reichsstadt Köln aus dem Verfahren ergäben, sei es in jedem Fall für das „Decorum“ eines Römischen Kaisers wohl kaum zuträglich, wenn er zuließe, dass ein mächtiger Reichsstand auf eine „keinem Standt gegen den anderen Constatum zukommende und statthafte Weise“ einen mindermächtigen bedrohte und dem Schwachen derartige Satisfaktionsforderungen auferlege. Während also der Kaiser dem Bischof von Münster und dem Pfälzer Kurfürsten alle Gefährdungen des Reichsrechtes, die dieses eigenmächtige Verfahren hervorgebracht hatte, anlastete, wurde der König in Preußen explizit überhaupt nur insoweit erwähnt, als der Kaiser zum Schluss des Schreibens erklärte, man vertraue fest darauf, dass der König, seiner „sonderbahren aequanimität nach“, alles dies „von selbst begreiffen“, alle Repressionen einstellen und die gesamte Sache dem reichshofrätlichen Verfahren überantworten werde.169 Für den Kaiser bzw. den Reichshofrat galt es in diesem Konflikt zum einen, das oberste Richteramt gegenüber einem eigenständigen Verfahren zwischen Reichsständen zu verteidigen. Wichtiger noch aber war die Verteidigung des Reichsrechtes, genauer: des Reichs-Gesandtschaftsrechtes gegenüber dem Anspruch Friedrichs I. auf „königliches Traktament“,170 oder anders ausgedrückt: die Abwehr einer potentiellen Übertrumpfung des nach der Logik des Lehnsverbands gestaffelten Reichsverbandes durch das Rangsystem der europäischen Potentaten, das Friedrich I. hier gegen das Rangsystem des Reiches auszuspielen versuchte, indem er einem Mitstand gegenüber eben nicht als brandenburgischer Kurfürst, sondern als souveräner König in Preußen auftrat. Dieser Anspruch auf königlichen Status auch innerhalb des Reichsverbandes zeigte sich bereits am Stein des Anstoßes: der Abhaltung des reformierten Gottesdienstes mit Berufung auf das Jus gentium. Er zeigte sich aber auch an den Forderungen, die Friedrich I. als Voraussetzungen für eine Beendigung des Konfliktes erhob und die schließlich größtenteils in den durch Münster und Pfalz vermittelten Vergleich Eingang fanden: die Sendung der Delegation, 168 Ebd.; s. a. die entsprechende Argumentation in: Reichshofratsgutachten o. D. [1709], HHStA, RHR, Vota 9-22: Das Verhalten des Residenten Diest laufe eindeutig „entgegen den pactis, welche vor der creation [der preußischen Krone, R. W.] vorhero ergangen“, und die beinhalteten, „daß sub praetextu keine innovation in dem Reich solle gemacht oder ein einziger Stand des Reichs die geringste Beschwehrdung dadurch zugefügt werde …“. 169 Kaiserliches Mandat vom 22.3.1722, HHStA, RHR, Decisa 898. 170 Vgl. dazu aus rechtshistorischer Perspektive: Hafke, Anwendung, S. 484–491.
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die den König sowohl um die Aufhebung der Repressalien als auch um die Wiederaufname in die königliche „allerhöchste Hulden und Gnaden“ bitten und zum Zeichen der gewährten königlichen Gnade zum Handkuss zugelassen werden sollte. Die grundsätzliche Spannung, in der der Westfälische Frieden das Alte Reich hinterlassen hatte: die Frage ob das Reich ein hierarchischer Lehensverband unter kaiserlicher Spitze war oder ein Verband, in dem zumindest die mächtigeren Mitglieder als quasi-souveräne Herscher der europäischen Fürstengesellschaft agieren könnten, präsentiert sich hier also in gewisser Weise in Reinform und gleichzeitig in einer bemerkenswerten Variante. So spielte sich der Konflikt zwar im Bereich des Gesandtschaftsrechts ab und wurde somit in einem durchaus typischen Medium verhandelt; und auch die Haltung des Kaisers drückte erwartungsgemäß das Bemühen aus „die Logik der lehnsrechtlichen Hierarchie gegen die völkerrechtliche Gleichheit zu behaupten“.171 Allerdings wurde der Kölner Konflikt gerade nicht an einem der dafür in Frage kommenden Höfe (in diesem Fall also in Wien oder Berlin) oder am Regensburger Reichstag ausgetragen, sondern in der Peripherie. Zudem wurde im Kölner Konflikt die strittige Frage nach der Geltung von Reichsoder Völkerrecht durch Brandenburg-Preußen aufs Engste mit der konfessionellen Profilierung der beanspruchten Souveränität verbunden. Und gerade diese spezifische Verquickung benannte auch der Reichshofrat als eine der Hauptgefahren: die Indienstnahme der Souveränität für die brandenburg-preußische Konfessionspolitik im Reich und damit die Unterminierung des Religionsfriedens.172 Es sei, so führte der Reichshofrat in seinem Votum von 1709 aus, gar nicht abzusehen, wie weit Brandenburg-Preußen die „prätendierte libertas Juris Gentium“ auf die Religionsfrage anwenden werde, „wodurch in effectu der Status Religionis de Anno 1624 alterirt, und nicht allein zu Cölln, sondern auch an andern Orten unzehlbahre Verwirrungen in Religions-Sachen eingeführet werden könnten“. Dass der preußische König gerade zu diesem Zeitpunkt derartige Vorstöße mache, wo doch in der Reichskriegsdeklaration festgeschrieben worden sei, die Religionsfrage bis nach Beendigung des Krieges ruhen zu lassen, müsse höchstbedenklich stimmen. Offenbar nutze man in Berlin die Kriegssituation nun, um die Religionspolitik in den eigenen Landen voranzutreiben und sich selbst „aus Abschlagung einer unbefugten Anmaßung [also aufgrund der Zurückweisung des angemaßten Gesandtschafts-Gottesdiensts, R. W.], von demjenigen, wozu man durch die Grundt Gesätze des Reichs […] gehalten ist, zu befreyen“. Indem Friedrich I. die königliche Würde als Argument in einen ausschließlich reichsinternen Konflikt zwischen zwei Reichsständen integrierte, versuchte er, auch innerhalb des Reiches die – preußische – Souveränität voll zur Geltung zu bringen. Freilich konnte ein derartiges Exempel, das die königliche Würde auch im Reich valide machen sollte, nur an einem deutlich niederrangigen und mindermächtigen Reichsstand statuiert werden. So lässt sich der Konflikt um den refor 171
Vgl. Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider, S. 223, Zitat S. 162. Zum Folgenden: Reichshofratsgutachten o. D. [1709], HHStA, RHR, Vota 9-22.
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mierten Gottesdienst in der Reichsstadt Köln (und auch und gerade die Versuche seiner Beilegung) einerseits als eine Erprobung der neuen Würde innerhalb des Reichsverbandes verstehen; andererseits handelte es sich dabei jedoch auch in mindestens demselben Maße um eine Konfrontation mit der katholischen Kirche, ja sogar – durch die Person des Nuntius – direkt mit dem Papsttum, mithin um einen eminent konfessionellen Konflikt. Indem Friedrich I. die Frage seiner königlichen Souveränität an diejenige des reformierten Gottesdienstes in einer katholischen Reichsstadt band, präsentierte er das junge preußische Königtum gleichermaßen als dezidiert anti-katholisch wie reformiert. Hinzu kam, dass die Hohenzollern mit dem Bischof von Köln praktisch seit Beginn der brandenburgischen Herrschaft über Kleve und Mark in ständigen Auseinandersetzungen um die Frage der geistlichen Jurisdiktion begriffen waren.173 Angesichts der Weigerung des Heiligen Stuhls, die preußische Königswürde anzuerkennen, spielte in die Auseinandersetzung mit Rom aber auch die Souveränitätsfrage mit hinein. Aus allen diesen Gründen bot die Stadt Köln die perfekte Bühne, um sowohl gegenüber der katholischen Kirche bzw. Rom als auch innerhalb des Reiches die königliche Krone geltend zu machen und diese eindeutig als evangelisch bzw. reformiert darzustellen: Köln war zum einen Sitz desjenigen Bischofs, der die Ansprüche der brandenburgischen Herrscher auf Ausübung ihrer Landeshoheit im Geistlichen am meisten bekämpfte. Zum anderen galt zumindest für die römisch-katholische Kirche die Stadt Köln nach wie vor als rein katholisch174 – daher stellte auch die Einladung reformierter Bürger zum Gottesdienst im Haus des preußischen Residenten eine besondere Provokation für den Nuntius dar. Und schließlich war die freie Reichsstadt Köln ein mindermächtiger Reichsstand, der noch dazu durch die geographische Nähe zu den westlichen Landesteilen Brandenburg-Preußens auf gute wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Berlin angewiesen war. Indem der Resident Diest demonstrativ zum reformierten Gottesdienst in sein Haus lud, verletzte er zugleich das Reichskirchenrecht und das Gesandtschaftsrecht des Reichs. Auf diese Weise gelang es Friedrich I. besonders wirksam, den Rangunterschied zwischen der Reichstadt Köln und Brandenburg-Preußen zu markieren und nun nicht mehr als Kurfürst sondern als König aufzutreten und damit aus der – zwar hierarchisch gegliederten, aber in vieler Hinsicht auch gleichberechtigten – Gruppe der Reichsstände herauszutreten. Und genau gegen diese Vorstellung wandte sich der Reichshofrat mit allem Nachdruck: Die gesamte Rangordnung des Reiches war schließlich auf den Kaiser hin orientiert bzw. rührte von ihm her. Wenn ein Reichsstand aber einem anderen auf die Weise begegnete, wie Friedrich I. es in diesem Zusammenhang mit der Reichsstadt Köln tat, wurde mit der Beanspruchung einer Höherrangigkeit, die explizit nicht auf die Reichshierarchie verwies, gleichzeitig auch die Rolle des Kaisers in Frage 173
Vgl. ausführlich Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 221–371. Diese Auffassung spiegelt sich auch in dem Reichshofratsgutachten o. D. [1709], HHStA, RHR, Vota 9-22, wider: „Alldieweilen aber Ihnen [dem Magistrat der Stadt Köln, R. W.] und Ihrem gemeinen Stadt Wesen nichts empfindlicheres vorfallen können, alß sich […] aus dem Exercitio solitario Ihrer überalten (unter unzehlbaren gefehrlichen begebenheiten bey Ihrer Stadt dato annoch rein erhaltenen) Catholischen Religion gesetzet zu sehen …“. 174
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gestellt.175 Dass Konflikte zwischen zwei Reichsständen mitunter ohne Mitwirkung des Reichsoberhauptes und gegebenenfalls auch durch Vermittlung Dritter gelöst wurden, stellte dagegen an sich keine Gefährdung des kaiserlichen Amtes dar. In diesem Fall aber zeitigte die in reichsständischer Eigenregie hervorgebrachte Lösung des Konflikts ein Ergebnis, gegen das der Kaiser einschreiten musste, weil es auf die Akzeptanz der preußischen Königswürde in Reichsangelegenheiten hinauslief. Um das Ergebnis (sprich: den Vergleich) zu delegitimieren, musste der Kaiser aber das Verfahren selbst an sich reißen – was er tat, indem er nun seinerseits eine Kommission mit der Lösung des Konfliktes beauftragte. Die Überantwortung des Verfahrens an den Reichshofrat aber erlaubte es dem Kaiser – wieder einmal –, die ursprüngliche Streitfrage, nämlich das Recht des Residenten auf die öffentliche Feier des reformierten Gottesdienstes, offen zu lassen, also gerade kein Ergebnis festzuschreiben und so letztlich alles im alten Zustand zu belassen.176 e) Zwischenresümee In der Kurpfalz hatte Brandenburg-Preußen seine traditionelle Schutzpolitik gegenüber den Reformierten auch gegen Widerstände innerhalb des Corpus Evan gelicorum fortgesetzt. Das entscheidende Ergebnis der brandenburg-preußischen Patronagepolitik, die Religionsdeklaration von 1705, war dann auch tatsächlich ohne Beteiligung des Corpus Evangelicorum zustande gekommen und wäre wohl angesichts der sich immer stärker formierenden Opposition gegen Brandenburg-Preußen innerhalb des Corpus auch kaum gegen die Mehrheit der lutherischen Reichsstände durchsetzbar gewesen. Parallel zu diesen Entwicklungen innerhalb des Corpus Evangelicorum gewann die Konfessionspolitik auch für das bilaterale Verhältnis Brandenburg-Preußens zum Kaiser zunehmend an Gewicht. In den Verhandlungen um den „Krontraktat“ setzte sich Friedrich III./I. sowohl für gesamtprotestantische Anliegen ein (also primär die Behandlung der Religionsgravamina durch eine außerordentliche Reichsdeputation) als auch für konkrete Verbesserungen für die reformierte Konfession. In Wien war man sich zu diesem Zeitpunkt bereits bewusst, dass man Brandenburg-Preußen, für den Fall, dass sich der Kaiser in die Behandlung der Religionsbeschwerden einschalten sollte, unbedingt davon abhalten musste, Repressionen 175 Die Kurwürde, die ja ggf. auch als Argument der Höherrangigkeit Brandenburg-Preußens gegenüber Köln hätte in Anschlag gebracht werden können, wurde denn auch von Berliner Seite in diesem Konflikt konsequenterweise gar nicht bemüht; stattdessen bezog sich Friedrich I. ausschließlich auf seine neue königliche Würde und versuchte damit in gewisser Weise – wenngleich erfolglos – neues Recht zu schaffen. Es handelt sich hierbei also nicht in erster Linie um einen Versuch, das Reich in den Termini des unter den europäischen Potentaten geltenden Völkerrechts zu interpretieren (vgl. Stollberg-Rilinger, Des Kaisers Alte Kleider, z. B. S. 217), sondern vielmehr darum, den Reichsverband überhaupt für einen einzelnen Reichsstand als irrelevantes Bezugssystem zu übergehen. 176 Vgl. dazu auch Hantje, Repräsentationen, S. 86–87.
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gegen die eigenen katholischen Untertanen zu verhängen. Das Konfliktpotential brandenburg-preußischer Konfessionspolitik und insbesondere die Gefährdung des kaiserlichen Ansehens wurden durch die Verpflichtung Friedrichs I., auf gewaltsame Maßnahmen zu verzichten, gewissermaßen neutralisiert. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass die kaiserliche Position als oberster Richter und Vermittler in Religionsangelegenheiten durch brandenburg-preußische Gewalthandlungen in Zukunft erschüttert werden könnte. Diejenigen reichspolitischen Probleme, die in den „Krontraktat“ eingeflossenen sind, verweisen also zum einen auf die Sorge der Wiener Politiker vor einer anti-katholischen und damit potentiell anti-kaiserlichen Wendung der konfessionellen Reichspolitik Friedrichs I;177 zum anderen zeigt sich daran der Stellenwert, den für die brandenburg-preußische Politik zu diesem Zeitpunkt die Verteidigung der Konfessionsrechte der Protestanten im Allgemeinen und der Reformierten im Besonderen besaß – Krone und konfessionelle Schutzpolitik Brandenburg-Preußens waren mithin schon in diesem „Gründungsdokument“ eng miteinander verknüpft. Obwohl sich Friedrich III./I. in diesem Vertrag darauf verpflichtet hatte, in der kurpfälzischen Religionsangelegenheit keine Repressionen zu gebrauchen, drohte er im Kontext der Verhandlungen um die Religionsdeklaration erneut mit gewaltsamen Maßnahmen gegen seine eigenen katholischen Untertanen und setzte einige davon im Zusammenhang mit den Religionsbeschwerden gegen den Abt von Kempten auch um. Das nominelle Ziel der Repressionen: die Verhandlungsbereitschaft Johann Wilhelms von der Pfalz zu erzwingen, wurde allerdings weniger durch die Repressionen als vielmehr durch den Verlauf des Spanischen Erbfolgekriegs erreicht. Insofern müssen die Androhung und teilweise Ausführung der anti-katholischen Maßnahmen gegen die mit zahlreichen Privilegien ausgestatteten, landständischen katholischen Korporationen in den noch jungen Teilgebieten des brandenburg-preußischen Länderkonglomerats auch als innenpolitische Maßnahmen verstanden werden. Zum anderen dienten sie zweifellos der Stilisierung Friedrichs I. als entschlossener Verteidiger der evangelischen, besonders aber der reformierten Religionsrechte. Für das Verhältnis zum Kaiser war es entscheidend, dass diese Repressionen in ihrer spezifischen Ausrichtung gegen den Kurfürsten von der Pfalz gewissermaßen „kaiserschonend“ waren; denn der Kaiser selbst war an dem gesamten Verfahren nicht beteiligt. Dass ähnliche Maßnahmen in Wien auch ganz anders interpretiert werden konnten, nämlich als direkter Angriff auf die kaiserlicher Suprematie, wird vor allem im Vergleich zu den Gewaltmaßnahmen deutlich werden, die Friedrich Wilhelm I. knapp fünfzehn Jahre später anordnen sollte.178 Aber auch vor diesem großen, in den Religionsstreit der Jahre 1719–1725 eingebetteten Konflikt zwischen Kaiser Karl VI. und Friedrich Wilhelm I. zeichnete sich bereits
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Das zeigt sich im Übrigen daran, dass im „Krontraktat“ auch die Verhältnisse der katholischen Geistlichkeit in den niederrheinischen Territorien Brandenburg-Preußens berücksichtigt wurden; vgl. Moerner, Staatsverträge, S. 821–822 (Separatart. 4). 178 Vgl. dazu Kap. E. I.–E. III.
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während der Regierungszeit Friedrichs I. am Streit um den reformierten Gottesdienst in Köln ab, wie sich bestimmte strukturelle Konflikte zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaisertum mit der konfessionellen Profilierung Brandenburg-Preußens verbinden konnten. Anhand des Konfliktes um die Reichsstadt Köln wurde nur einige Jahre nach der Königskrönung offenbar, wie sich die neu erworbene Krone mithilfe einer (deutlich anti-katholische Züge aufweisenden) konfessionellen Profilierung – oder umgekehrt: das konfessionelle „Image“ Brandenburg-Preußens mithilfe der Krone – inszenieren ließen.179 Wie sensibel man in Wien gerade auf diese Verknüpfung reagierte, verdeutlicht das Reichshofratsvotum von 1709. Denn im Streit mit der Reichsstadt Köln kombinierte Friedrich I. gleichsam zwei gefährliche Hebel, um der eigenen Präsenz im Reich mehr Gewicht zu verleihen und damit potentiell die Position des Kaisers empfindlich zu schwächen: Der eine Hebel bestand in der Berufung auf die königliche Würde innerhalb des Reichsverbandes und bedeutete damit den Versuch, ein konkurrierendes System neben bzw. über dem Reichsrecht zu etablieren. Den zweiten Hebel bot das Konfessionsrecht: Agierte Brandenburg-Preußen in diesem öffentlichkeitswirksamen Bereich aggressiv anti-katholisch – und berief sich noch dazu darauf, dass dies angesichts der eigenen Souveränität auch legitim sei –, barg das auch immer das Potential, die kaiserliche Ohnmacht weithin sichtbar darzustellen. Hinzu kam, dass es sich bei dem komplizierten, eng mit politischen Partizipationsrechten verbundenen Reichskirchenrecht um ein hochsensibles Gebiet der Reichspolitik handelte, auf dem sich anti-katholische Ressentiments nur zu leicht schüren und in anti-kaiserliche Opposition überführen ließen und wo der Kaiser grundsätzlich Gefahr lief, auf allen Seiten Sympathien einzubüßen. Diese Gefahren erkannte und benannte man in Wien deutlich – die außenpolitischen Rahmenbedingungen führten gleichwohl dazu, dass sich das kaiserliche Missfallen (noch) nicht direkt gegen Berlin richtete. f) Die Folgen der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik von 1705 Vermutlich war das Ergebnis der konfessionellen Patronagepolitik Brandenburg-Preußens in der Kurpfalz für alle drei reichsrechtlich anerkannten Konfessionen eine Enttäuschung – zumindest aber für die betroffenen Konfessionsgruppen vor Ort. Für die Reformierten war die Religionsdeklaration erheblich hinter dem zurückgeblieben, was sie auf Grundlage des Westfälischen Friedens für sich beanspruchten. Die Katholiken mussten gegenüber den Jahren 1698 bis 1705 nun emp 179
Und zumindest auf katholischer Seite galt Friedrich I. als gefährlichster Prätendent für ein immer noch für möglich erachtetes protestantisches Kaisertum. Für dieses Szenario – so unwahrscheinlich es aus historiographischer Sicht auch erscheinen mag – aber war die Tatsache von großer Bedeutung, dass Brandenburg-Preußen seit 1701 über eine Krone verfügte; vgl. Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 255–260.
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findliche Einbußen verkraften, insbesondere durch die Aufhebung des allgemeinen Simultaneums. Letzteres war allerdings besonders schmerzhaft für die Lutheraner: Sie besaßen nun wesentlich weniger Möglichkeiten, öffentlich Gottesdienst zu feiern, und hatten außerdem ihren bisherigen Anteil am Kirchenvermögen eingebüßt, worunter auch die Besoldung für das eigene Konsistorium (das ihnen zumindest erhalten geblieben war) fiel. So schlägt denn auch die Reaktion der Lutheraner auf die in der Religionsdeklaration von 1705 vereinbarte Aufteilung der Kirchengüter im wahrsten Sinne am meisten zu Buche: In den folgenden Jahren publizierten die Pfälzer Lutheraner zahlreiche Streitschriften und Memoriale, in denen sie sich vehement gegen die Religionsdeklaration und insbesondere gegen die Reformierten richteten.180 Noch im Dezember 1705 wandte sich das lutherische Konsistorium mit seinen Klagen via Regensburg an die lutherischen Reichsstände.181 Auch Johann Wilhelm unterstützte das Ansinnen seiner lutherischen Untertanen und schrieb in ihrem Sinne an Friedrich I.182 Der preußische König lehnte die Forderungen der Lutheraner nach einem eigenen Anteil an dem zwischen Katholiken und Reformierten aufgeteilten Kirchenvermögen zwar entschieden ab,183 ignorieren konnte er die Diskussion, die darüber in den folgenden Monaten und Jahren in Regensburg geführt wurde, aber nicht. So fragte der preußische Gesandte Blaspiel Anfang 1706 aus Düsseldorf besorgt an, in „wie weit man auf das Ev. Lutherische corpus zu Regensburg zu reflectiren habe“, wenn man die Forderungen des kurpfälzischen lutherischen Konsistoriums abschlägig beantworte.184 In Berlin reagierte man auf diese Nachrichten, indem man den brandenburg-preußischen Reichstagsgesandten, Ernst von Metternich,185 anwies, die 180 Vgl. die umfangreiche Sammlung dieser Schriften bei Struve, Bericht, S. 1123–1257. Die meisten dieser Publikationen wurden auch in der EStC oder den Electa Juris Publici nachgedruckt. 181 Vgl. Struve, Bericht, S. 1124–1146 (Johann Philipp Schlosser, Georg Debus, Mathias Fuchs an die lutherischen Reichstagsgesandten, 26.12.1705). 182 Vgl. ebd., S. 1245–1257 (Johann Wilhelm an Friedrich I., 3.2.1706). 183 Reskript an Blaspiel, Cölln, 20.2.1706, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43. 184 Relation von Blaspiel, Düsseldorf, 9.2.1706, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43. 185 Ernst von Metternich war einer der Söhne des Freiherrn Johann Reinhard von Metternich, des Begründers der Linie Metternich-Chursdorf in der Neumark, der zum reformierten Glauben übertrat und als Administrator von Halberstadt tätig war. Ernst von Metternich wurde 1688 zum brandenburg-kulmbachischen Gesandten in Regensburg ernannt und vertrat dort zwischenzeitlich auch die Fürsten von Anhalt. Seit 1692 war er kurbrandenburgischer Bevollmächtigter am Reichstag und wurde 1696 in den Reichsgrafenstand erhoben. 1707 ging er, mittlerweile zum Wirklichen Königlich-Preußischen Geheimen Staats-Rat ernannt, als außerordentlicher Gesandter in die Schweiz, wo er für Friedrich I. über die Erbschaft von Neuchâtel verhandelte. Im Jahr 1710 wurde Metternich zwischenzeitlich an den Wiener Hof abgeordnet; 1713 vertrat er Brandenburg-Preußen auf dem Utrechter Friedenskongress und wurde in der Folge von Friedrich Wilhelm I. als brandenburg-preußischer Reichstagsgesandter bestätigt. 1715 absolvierte Metternich noch einmal eine kurze diplomatische Mission in Wien; 1727 trat er kurz vor seinem Tod in Regensburg zum Katholizismus über. Sein Bruder, Wolf(gang) von Metternich (gest. 1731) vertrat seit 1703 Brandenburg-Ansbach, das Gesamthaus Anhalt und später auch Brandenburg-Bayreuth auf dem Reichstag. Auch der Sohn Ernst von Metternichs, Ernst Eberhard
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Gefahren derartiger Forderungen von Seiten der Lutheraner dem gesamten Corpus Evangelicorum zu erläutern, könnten doch die Katholiken sich dieser Ansprüche bedienen, um die Reformierten noch mehr zu schwächen.186 Zum einen sei der Reformierte Kirchenrat mit den ihm durch die Religionsdeklaration verbliebenen Mitteln keinesfalls in der Lage, die Lutheraner weiterhin zu unterstützen. Was aber die rechtlichen Ansprüche der Lutheraner betraf, so wurden die brandenburg-preußischen Repräsentanten angewiesen, auf die Äußerungen des Corpus Evangelicorum aus der Vergangenheit zu rekurrieren: „Es hat nemblich gedachtes Corpus in der anno 1699 am churpfälzischen Hof beschehenen Religionsnegociation, vermög der gedachten publiquen Acten, beständig souteniret, den Ev. Reformierten in der Pfalz in ansehung Ihrer Religion cum annexis vermög des Westfälischen Friedens, den status anno 1618 wie er ante motus Bohemicos gewesen, wie dann auch vor die Ev. Lutherischen krafft dieses Friedens der status anno 1624 pacisiret sey“.187 Hier sei also die Rechtslage – und zwar im Namen aller Protestanten im Reich – ein deutig benannt worden, und so erübrige sich jede weitere Diskussion. Schließlich habe sich das Corpus Evangelicorum im Jahr 1700 in Gestalt von zwei Conclusa auch unmissverständlich gegen die Rechtsansprüche und anti-reformierten Angriffe der lutherischen Konsistorialen Schlosser und Debus verwahrt und diese beiden Geistlichen seinerzeit ermahnt, ihre Agitation einzustellen.188 Nichtsdestoweniger riefen die lutherischen Publikationen auf Seiten der Refor mierten bzw. ihrer Unterstützer die größte Erbitterung hervor, wie sich deutlich an einem Schreiben der beiden brandenburg-preußischen Diplomaten, Daniel Burchard und Johann Daniel Beck,189 die in Frankfurt residierten und die Durchführung der Religionsdeklaration in der Kurpfalz begleiten sollten, ablesen lässt. Sie argumentierten – freilich nur in der internen Kommunikation gegenüber dem König und dem Geheimen Rat – folgendermaßen: Sollte das Corpus bzw. dessen lutherische Mehrheit das Jahr 1624 als Normaljahr für die Lutheraner in der Pfalz mit der Begründung verwerfen, es bringe ihnen zu wenig Besitz ein, so müsse es „denen Reformierten Potentien und Reichs Ständen auch erlaubet seyn, in ihren Landen sich an den Westphäl. Friedensschluß ebenfals nicht zu binden, weilen die reformirte umb selbige Zeit auch wenig in besitz gehabt, welches argument die Evangelisch Lutherische Gesandte zu Regenspurg, wann sie schon anderer Meynung weren, bald (gest. 1717) war seit 1713 brandenburg-preußischer Mitgesandter am Reichstag; vgl. Fuchs, Art. „Metternich“, in: NDB 17, S. 232–235, hier: S. 243; Zedler 20, Sp. 1398–1399; Fürnrohr, Gesandtennepotismus, S. 171. 186 Reskript an Metternich, Cölln, 29.2.1706, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43. 187 Reskript an Blaspiel, Cölln, 20.2.1706, ebd. 188 s. etwa Reskript an Blaspiel, Cölln, 29.2.1706, ebd. 189 Johann Daniel Beck stammte wie viele der brandenburg-preußischen Amtsträger aus der Kurpfalz, stand zunächst in Solms-Braunfelsschen Diensten und war seit Dezember 1700 brandenburg-preußischer Rat. Seit 1702 war er Kammergerichtsrat und wirkte in dieser Funktion auch bei der Beaufsichtigung der kurpfälzischen Religionsexekutionskommission mit. Beck starb 1713 als Tecklenburger Regierungsrat; vgl. Acta Borussica, Behördenorganisation 1, S. 63, Anm. 2.
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auf beßere Gedanken bringen dörffte“.190 Die innerevangelischen Fronten wurden in der internen Kommunikation der brandenburg-preußischen Diplomatie klar benannt. Umgekehrt zielten die Vorwürfe der Lutheraner aber jetzt, anders als noch zwei Jahre zuvor, auch unverhohlen direkt auf Brandenburg-Preußen als wichtigste reformierte Macht im Reich, die den Lutheranern nicht Gutes wolle. Dabei spielten die Pfälzer Lutheraner auch auf die Kirchenpolitik Friedrichs I. in seinen eigenen Landen an: Der preußische König habe selbst in seinen Landen durch die Einführung des reformierten Simultaneums in lutherischen Kirchen den Westfälischen Frieden gebrochen.191 Je deutlicher sich abzeichnete, dass auch die lutherischen Reichsstände – anders als noch um 1700 – nun eher gewillt waren, die Anliegen ihrer Pfälzer Glaubensgenossen zu vertreten, desto dringlicher stellte sich für Berlin das Problem, sowohl auf die rechtlichen Ansprüche der Pfälzer Lutheraner als auch die immer expliziteren Angriffe gegen Friedrich I. zu reagieren. Auf königlichen Befehl und beim Hofbuchdrucker verlegt wurde 1706 die erste umfangreiche Zurückweisung der lutherischen Beschwerden aus der Kurpfalz gedruckt.192 Doch die Pfälzer Lutheraner, allen voran die den Gesandten am Reichstag bereits bekannten Pfarrer Schlosser und Debus, publizierten weiter und verschafften auf diese Weise ihrer Deutung der konfessionellen Rechtsverhältnisse in der Kurpfalz Gehör: Die umfangreichste und provokanteste aus einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen ähnlichen Tenors erschien 1708 unter dem Titel „Hellglänzender Wahrheitsspiegel“ – in bewusster Anlehnung an die „Wahrheits- und Ehrenrettung“ von 1700.193 In dieser Schrift entwickelten die Lutheraner ausführlich das Argument, dass das Jahr 1624 allein zwischen Katholiken und Protestanten Geltung besäße, nicht aber für das Verhältnis zwischen den beiden evangelischen Konfessionen; nur im Sinne eines Schutzes vor katholischen Ansprüchen sei das Normaljahr 1624 vom schwedischen König in den Westfälischen Friedensschluss eingebracht worden.194 Da die gesamte evangelische Kirche in der Kurpfalz ursprünglich lutherisch gewesen sei, dürfe man die Lutheraner in der Kurpfalz keinesfalls auf das ihnen ungünstige Normaljahr 1624 beschränken. Auch diese Schrift sollte auf Weisung Ilgens schleunigst „solide beantwortet werde[n]“,195 und zwar in diesem Fall vom reformierten Hofprediger und ehemaligen Heidelberger Kirchenrat Achenbach, dessen umfangreiche Widerlegung allerdings anonym veröffentlicht wurde.196 Der Magdeburger Reichstags-
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Relation von Burchard / Beck Frankfurt, 27.2.1706, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43. Ebd. 192 Anmerckungen über Der Evangelisch-Lutherischen unbefugtes Beschwerungs-Schreiben. 193 Hellgläntzender Warheits-Spiegel; in der Kurzfassung als: Kurtzer Begriff des hellgläntzenden Wahrheits-Spiegels, Heidelberg 1708, abgedruckt bei Struve, Bericht, S. 1157–1166. 194 Vgl. ebd., S. 1157. 195 Reskript an Becker (brandenburg-preußischer Resident in Düsseldorf), Cölln 7.7.1708, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43. 196 [Achenbach], Einiger Evangelisch-Lutherischer in der Chur-Pfaltz unbefugtes […] Memorial; s. a. den Abdruck ohne Nennung des Autors bei Struve, Bericht, S. 1166–1177. 191
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gesandte Henrik von Henniges197 hatte zu einem solchen Vorgehen explizit geraten, da man so „die sache mit beßerer grace recommendiren könnte, als wenn E. K. M. gleichsam Dero eigen Werk daraus machen laßen“.198 Es ging der brandenburg-preußischen Politik also zunächst darum, in der Form rechtlicher Deduktionen und indem man sich auf die vom Corpus Evangelicorum selbst in den Jahren 1699/1700 festgelegte Interpretation des Westfälischen Friedens für die kurpfälzischen Verhältnisse berief, die rechtlichen Ansprüche der Lutheraner auf einen Anteil am Kirchenvermögen zurückzuweisen, mithin die Rechtsfrage als eindeutig und nicht verhandelbar darzustellen. Dass die „richtige“ Interpretation der Normaljahresverhältnisse – und das hieß eben das Festhalten an dem exakten Wortlaut des Westfälischen Friedens – im konkreten Fall der Kurpfalz den Reformierten zu Gute kam, war freilich kein unwichtiger Faktor. Man versuchte aber gegenüber dem lutherischen Teil des Corpus Evangelicorum bzw. der Regensburger Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass es hier gerade nicht um das Ergebnis einer kritischen Überprüfung von konfessionellen Besitzstandsrechten ging. Vielmehr habe man sich als gesamtes Corpus Evangelicorum in der Vergangenheit – und schon damals am Präzedenzfall der Kurpfalz – auf eine bestimmte Interpretation des Westfälischen Friedens festgelegt, und an dieser müsse festgehalten werden. Durch eine Abkehr von diesen einmal von allen Protestanten als „richtig“ erkannten Deutung des Wortlauts des Westfälischen Friedens würde man sonst selbst die Durchlöcherung des wichtigsten reichsrechtlichen Schutzschildes der Protestanten betreiben.199 Die „korrekte“ und konsistente Interpretation der Ordnung von 1648 bzw. ihr Erhalt müsse, so die Argumentation des magdeburgischen und des kurbrandenburgischen Reichstagsgesandten, im Interesse aller Protestanten liegen, denn jede Unterminierung des Westfälischen Friedens werde notwendigerweise den „Rechtsverdrehungen“ der Katholiken nur noch weiter Tür und Tor öffnen – das sprechendste und tragischste Beispiel dafür böte die Durchbrechung des Normaljahresprinzips durch die Rijswijker Klausel.200 Dass der Westfälische Frieden je nach den Verhältnissen im einschlägigen Normaljahr die eine oder die andere evangelische Konfession begünstige, liege in der Natur der Sache; das Festhalten am „klaren“ Wortlaut 197
Bevor Henniges kurbrandenburgischer Legationssekretär und danach Gesandter für Magde burg in Regensburg wurde, war er als Professor Juris an der Universität Frankfurt / Oder tätig gewesen. Henniges verfasste zahlreiche juristische Arbeiten, u. a. eine zehnbändige Auslegung der Westfälischen Friedensverträge: Henniges, Meditationum. Henniges starb 1711 auf dem Wahltag in Frankfurt am Main; vgl. Zedler 12, Sp. 1407. Zu Henniges juristischem Werk vgl. Kremer, Der Westfälische Friede, S. 18, 68. 198 Relation von Henniges, Regensburg, 22.11.1708, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43. 199 Reskript an Blaspiel, Cölln, 20.2.1706, ebd. 200 So wurde der Magdeburger Reichstagsgesandte Henniges angewiesen, im Corpus Evangelicorum deutlich zu machen, dass es nicht nur um die Pfalz ginge, „sondern auch [darum] zu zeigen, wie viel dem gantzen Ev. Wesen daran gelegen, daß der in dem West. Frieden fest gesetzte status unverrücket bleibe, weilen man sonsten dehnen Catholischen gleichsahm die waffen, welche sie wider die Ev. gebrauchen können, in die hände geben [würde] …“; Reskript an Henniges, Cölln, 1.2.1709, ebd.
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der Friedensverträge aber käme allen Protestanten zugute, und deswegen seien die konkreten Rechtsansprüche der Reformierten in der Kurpfalz eben nicht verhandelbar.201 Dass diese Position gleichwohl im lutherischen Lager als reformierte Patronage wahrgenommen und damit auch als Parteilichkeit angreifbar wurde, dessen waren sich die Akteure der brandenburg-preußischen Reichspolitik offensichtlich bewusst. Und so versuchte man sich denn auch von der konkreten „Partei“ des Reformierten Kirchenrates in Heidelberg zu distanzieren, indem man zumindest rhetorisch vom Einzelfall abstrahierte und sich auf die Verteidigung des Prinzips konzentrierte. Wie zerstritten das Corpus Evangelicorum in der Folge der erfolgreichen konfessionspolitischen Intervention Brandenburg-Preußens in der Kurpfalz war, lässt sich auch an den Berichten aus Regensburg der Jahre 1706 bis 1709 ablesen: Die lutherischen Gesandten hielten regelmäßig Separatkonferenzen ab; und selbst das größte gemeinsame Projekt der evangelischen Reichsstände, die Revision der Rijswijker Klausel auf den zukünftigen Friedenskongressen, geriet ins Stocken.202 Angesichts dieser anhaltenden Differenzen, die alle gemeinsamen Bemühungen im Corpus (beispielsweise um eine Verbesserung der Bedingungen für die Protestanten in Schlesien) empfindlich beeinträchtigten, propagierte Friedrich I. seit 1707, gleichsam die unnachgiebige brandenburg-preußische Haltung in der Rechtsfrage flankierend, für die Gestaltung des innerevangelischen Verhältnisses das Prinzip der „mutuellen Toleranz“. Konkret bedeutete dies, dass Friedrich I. nun durchaus – und eindeutig entgegen den Interessen des Reformierten Kirchenrats in Heidelberg! – die Bereitschaft signalisierte, sich auf eine mögliche „freiwillige“ Abgabe seitens der Pfälzer Reformierten an die Lutheraner einzulassen. Im Gegenzug forderte er aber Zugeständnisse der lutherischen Reichsstände an die Reformierten auf Reichsebene, konkret: die Unterstützung der lutherischen Reichsstände beim Vorgehen gegen den die reformierte Konfession in Schmähpredigten verunglimpfenden Hamburger Gymnasialprofessor Sebastian Edzardi,203 ein Ende der anti-reformierten Veröffentlichungen der Lutheraner aus der Pfalz sowie die Einführung des reformierten Exerzitiums in den lutherischen Reichsstädten, namentlich in Frankfurt am Main.204 Schon in der Vergangenheit hatte die reformierte Gemeinde in der Reichsstadt Frankfurt durch Berlin Unterstützung erfahren.205 Im Zusammenhang mit der Visitation des Reichskammergerichts hatte sich Brandenburg-Preußen da 201 Friedrich I. an den König von Schweden, den König von Dänemark, den Herzog von Wolfenbüttel, die Markgrafen von Bayreuth und Ansbach, die Landgrafen von Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt, den Herzog von Württemberg, den Herzog von Mecklenburg-Schwerin, die Herzöge von Sachsen-Weimar und Sachsen-Eisenach und den Fürsten von Anhalt-Bernburg, Cölln, 1.2.1709, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43; Reskript an Henniges, Cölln, 1.2.1709, ebd. 202 Relation von Henniges, Regensburg, 7.4.1707, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43; Reskript an Henniges, Cölln, 1.2.1709, ebd. 203 Zur anti-reformierten Polemik Edzaris s. a. weiter unten in diesem Kapitel (B. II. 2 f)). 204 Relation von Henniges, Regensburg, 7.4.1707, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43. 205 Zum Verhältnis zwischen Lutheranern und Reformierten in Frankfurt am Main im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Soliday, Community, S. 41–43, 198–230.
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her auch um eine Verlegung des Gerichts nach Frankfurt am Main bemüht, denn dadurch hätte die Stadt zwangsläufig das öffentliche Religionsexerzitium für die reformierte Konfession zugestehen müssen.206 In den Jahren 1711 und 1713 setzte sich Friedrich I. auch direkt mit dem Frankfurter Magistrat über die Frage des reformierten Gottesdienstes auseinander. Als 1713 der Sohn des brandenburg-preußischen Residenten getauft wurde, zelebrierte der reformierte Hofprediger des Grafen Isenburg-Büdingen im Hause des Residenten einen Gottesdienst, was zu einem heftigen Konflikt zwischen dem Residenten bzw. der Berliner Regierung und dem Frankfurter Magistrat führte.207 Die erfolgreich durchgesetzte Religionsdeklaration in der Kurpfalz produzierte also nicht nur Schwierigkeiten im Verhältnis zu der lutherischen Mehrheit der evangelischen Reichsstände; sie verschaffte der brandenburg-preußischen Reichspolitik auch Spielräume, die sie in Verhandlungen mit den lutherischen Reichsständen nutzte, um eine Verbesserung der Situation reformierter Konfessionsangehöriger außerhalb der Kurpfalz durchzusetzen. So erklärte der Magdeburger Reichstagsgesandte Henniges im Frühjahr 1707 in der evangelischen Konferenz,208 „waßgestalten E. Königl. M. gedachten punct von der Salirung [der lutherischen Pfarrer in der Kurpfalz; R. W.] mit dem andern von der mutuellen Tolerantz dergestalt verbunden und combinirt hielten, daß Reformati eines ohne das andere nicht bewilligen könnten noch würden“.209 Denn, so formulierte Henniges seine Einschätzung in einem Schreiben an die Berliner Regierung, den lutherischen Reichsständen läge ausschließlich daran, die laufende Exekution der Religionsdeklaration in der Pfalz zu unterbrechen, bis sie einen Unterhalt für die dortigen Lutheraner ausgehandelt hätten. Daher war Henniges auch der Meinung, man täte in Berlin gut daran, weiter auf die vollständige und rasche Durchsetzung der Deklaration beim Pfälzer Kurfürsten zu dringen – ein fait accomplit wäre die beste Voraussetzung, „die mutuelle tolerantz bey denen [lutherischen Gesandten] allhier zu insinuieren, […] stehet es doch allezeit bey E. Königl. Mt. diesen leuthen [den Lutheranern in der Kurpfalz, R. W.] zu helffen“.210 206
Vgl. Smend, Reichskammergericht, S. 216, Anm. 5. Auch in Wetzlar stand die dortige, ursprünglich wallonische, später deutsch-reformierte Gemeinde seit dem Großen Kurfürsten unter brandenburg-preußischer Patronage; vgl. Chuno, Geschichte, bes. S. 17–37. 207 Gründliche Deduction Cum Rationibus Dubitandi Et Decidendi. Zur reformierten Tauffeier, die der Resident Philipp Reinhold Hecht in seinem Hause für eines seiner Kinder abhalten ließ, vgl. Hecht, Gebürtige Pfälzer, S. 216–218. Auch in diesem Fall berief sich der Resident in Analogie zum Kölner Fall auf die Souveränität des preußischen Königs. Allem Anschein nach wurde aber, anders als im Kölner Fall, der Kaiser von keiner der beiden Seiten angerufen, was vermutlich in erster Linie daran lag, dass es sich hier um einen innerevangelischen Konflikt handelte. Auch andere Vermittler wurden offenbar nicht eingeschaltet, weshalb der gesamte Konflikt keine zum Kölner Streifall vergleichbare politische Sprengkraft und auch keine nennens werte Publizität entfaltete. 208 Henniges vertrat den kurbrandenburgischen Gesandten Ernst von Metternich 1707–1709, während dieser in der Schweiz die Verhandlungen um den Erwerb Neuchâtels führte; vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 88, Anm. 266. 209 Relation von Henniges, Regensburg, 7.4.1707, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43. 210 Relation von Henniges, Regensburg, 10.6.1707, ebd.
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Der Versuch, über diese Art des do-ut-des zu einer Verständigung zu kommen, stieß beim Großteil der lutherischen Reichsstände aber offenbar nicht auf Gegenliebe; außer dem württembergischen und brandenburg-ansbachischen wollte sich kein anderer lutherischer Gesandter auf derartige Verhandlungen einlassen.211 Besonders von Seiten der Wettiner und Schwedens wurde deutlicher Widerstand geäußert, und auch die Bemühungen, durch den im schwedischen Hauptquartier in Sachsen weilenden Freiherrn Marquard Ludwig von Printzen den schwedischen König für die „mutuelle Toleranz“ zu gewinnen, scheiterten.212 Selbst die Hannoveraner standen dem Projekt ablehnend gegenüber: Intensiv warb Friedrich I. bei Kurfürst Ludwig Georg um dessen Unterstützung, indem er diesen an seine „gute intentionen“ für das Zustandebringen einer innerevangelischen Union erinnerte und wie er darin mit Brandenburg-Preußen „de concert gegangen“ sei. Dabei, so Friedrich I., lägen die Schwierigkeiten bei der „mutuellen Toleranz“ ähnlich wie in der Frage der Union. In beiden Fällen sei „dieses gute werk durch gehäßige Gemüther bißhero beständig hintertrieben [worden]“. Diese übelwollenden Leute brächten „dem größeten hauffen beyder Partey ausmachenden gemeinen mann, allerhand böse und falsche vorurtheile von seinem vermeindlichen gegentheil […], auch vor des bloßen nahmen Reformirt oder lutherische einen horrerur zu erkennen“. Um diese Vorurteile zu bekämpfen – und damit auf lange Sicht auch einer evangelischen Union näher zu kommen –, sei das Zusammenleben in „mutueller Toleranz“ der beste Weg, „dabey jedes theil aus des anderen öffentlichen lehren und gemein sahmen umgang und wandel sehen und selbst spühren könne, wie weit die ungütlichen Imputationen wahr oder falsch [seien]“.213 Friedrich I. stellte also selbst sein Werben für eine „mutuelle Toleranz“ in den Zusammenhang der zeitgenössischen Debatten um eine theologische Annäherung der beiden evangelischen Konfessionen, namentlich der zwischen Hannover und Berlin geführten Verhandlungen um eine Union. Tatsächlich waren Vorstöße in die Richtung einer von Hannover und Brandenburg-Preußen ausgehenden evange lischen Kirchenunion bereits um die Jahrhundertwende unternommen worden. In diesen Plänen hatte Friedrich III. als reformierter Landesherr vornehmlich lutherischer Untertanen auch für Unionsbefürworter außerhalb Brandenburg-Preußens eine zentrale Figur dargestellt.214 Im Jahr 1697 hatten zwischen Berlin und Hannover theologische Gespräche und Verhandlungen begonnen, die eine Annäherung der beiden Konfessionen vor
211
Daneben befürwortete auch das reformierte Hessen-Kassel die Initiative: Reskript an Printzen, Charlottenburg, 21.5.1707, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 27, Bl. 43. 212 Ebd.; Relation von Henniges, Regensburg, 10.6.1707, ebd., Bl. 109–116. 213 Friedrich I. an Kurfürst Georg Ludwig, Charlottenburg, 28.6.1709, ebd., Bl. 44–52. 214 Zu den Unionsversuchen in Brandenburg-Preußen im Allgemeinen vgl. Delius, Unionsversuche; Thadden, Hofprediger, S. 130–139; s. a. immer noch die ältere Studie von Hering, Geschichte der kirchlichen Unionsversuche. Zum Folgenden vgl. grundsätzlich Delius, Unionsversuche, S. 24–67.
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sahen – mit dem vagen Ziel einer eventuellen Vereinigung. An der Spitze der in den folgenden Jahren geführten Debatten standen auf Berliner Seite der reformierte Hofprediger Daniel Ernst Jablonski215 und der reformierte Theologieprofessor Samuel Strimesius,216 auf Hannoveraner Seite Leibniz (der über die Königin Sophie Charlotte in enger Beziehung zum Hof Friedrichs I. stand und mit Jablonski über die Gründung der Berliner Akademie der Wissenschaften verbunden war)217 sowie der Hannoveraner Kirchendirektor und Loccumer Abt Gerhard Wolter Molanus.218 Die Initiative hatte ihren Ursprung in Gesprächen zwischen Leibniz und dem kurbrandenburgischen Gesandten Ezechiel Spanheim und wurde seitens der Berliner Regierung vor allem durch den Minister Paul von Fuchs unterstützt.219 Damals schien angesichts des Rijswijker Friedens und der Konversion des sächsischen Kurfürsten der richtige Zeitpunkt für einen religiösen Zusammenschluss der Protestanten gekommen. Nicht zuletzt mit Verweis auf diese politischen Umbrüche, in welchen sich die immer stärker abzeichnende katholische Dominanz für die Zeitgenossen besonders deutlich manifestierte, warben die unionsfreundlichen Theologen bei ihren Landesherren für das Projekt. Bereits im selben Jahr betraute Friedrich III. eine Gruppe von Theologen mit Verhandlungen über die Unionsfrage und ließ Jablonski 1698 zu geheimen Gesprächen mit Leibniz nach Hannover reisen. Es folgten zahlreiche Schriften, Entgegnungen und Gutachten unterschiedlicher Gelehrter beider Konfessionen. Wenngleich die politische Unterstützung der beiden Höfe mit Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges erlahmte, setzten sich die theologisch-literarische Diskussion und der Briefwechsel zwischen Leibniz und Jablonski in den Folgejahren fort und erhielten die Unionsfrage grundsätzlich am Leben. Friedrich I. selbst nahm die Unionsfrage 1703 erneut auf und beauftragte eine Gruppe von brandenburg-preußischen lutherischen und reformierten Theologen, in geheimen Gesprächen die Frage einer Union zu diskutieren. Das so genannte Collegium Charitativum oder Irenicum stand unter der Leitung des reformierten Titularbischofs Ursinus,220 die reformierte Seite wurde durch Jablonski und Strimesius vertreten, die Lutheraner durch den Cöllner Propst Frans Julius Lütkens
215
Zu Jablonski vgl. nach wie vor die Biographie von Dalton, Daniel Ernst Jablonski; aus der jüngeren Forschung vgl. als Überblick Bahlcke, Daniel Ernst Jablonski; ausführlich: ders./ Korthaase, Daniel Ernst Jablonski; darin zu Jablonskis Beziehungen zu Leibniz und deren gemeinsamen Bemühen um eine innerevangelische Union: Rudolph, Daniel Ernst Jablonski und Gottfried Wilhelm Leibniz; ders., Nutzen; Bahlke u. a., Brückenschläge. 216 Für biographische Angaben vgl. Tschackert, Strimesius. 217 Vgl. zu Jablonskis und Leibniz’ Wirken für die Union im Kontext der Akademie: Rudolph, Akademie. 218 Zur Biographie vgl. Wagenmann, Molanus; Reichert, Molanus. Zu den Bemühungen von Leibniz und Molanus um eine evangelisch-katholische Union und ihr Engagement für die innerevangelische Annäherung in Zusammenarbeit mit reformierten Theologen vgl. Schunka, Union. 219 Zu Fuchs als Förderer Jablonskis vgl. Palladini, Hofpediger. 220 Für biographische Angaben und weiterführende Literatur vgl. Thadden, Hofprediger, S. 188–191. Im Zuge der preußischen Königskrönung war der reformierte Hofprediger Ursinus vom König zum Titularbischof ernannt worden; vgl. ebd, S. 189.
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und den Magdeburger Inspektor Johann Joseph Winckler. Spener, der zunächst angefragt worden war, hatte es abgelehnt, an den Gesprächen teilzunehmen. Das Collegium Charitativum scheiterte bereits in seinem Frühstadium, zum einen an dem Protest Lütkens, der das Kollegium verließ. Zum anderen erschien 1703 eine anonyme Schrift, welche die Unionsgespräche überhaupt erst bekannt machte, gleichzeitig aber beim Leser den Eindruck erweckte, der König plane eine Kirchenvereinigung „von oben“. Diese angeblich aus dem Arbeitszimmer des Königs entwendete Abhandlung wurde – vermutlich von einem Unionsgegner – unter dem vielsagenden Titel „Arcanum Regium“ publiziert.221 Der anonyme Verfasser des „Arcanum Regium“ forderte, der Landesherr müsse für das Ziel der Vereinigung der beiden evangelischen Konfessionen sein Jus episcopale nutzen und nannte gleichzeitig relativ unverhohlen die Pietisten als einzige theologische Gruppierung, die das Unionswerk voranbringen könne. Der Autor befürwortete also die Union, propagierte aber für eine erfolgreiche Umsetzung eine „Vereinigung von oben“ unter bewusster Übergehung der lutherischen Landeskirche. Durch die Veröffentlichung dieser im Genre eines „geheimen Ratschlags“ an den Fürsten verfassten Schrift wurde das gesamte Vorhaben, durch theologische Gespräche einen Prozess der behutsamen Verständigung über die fundamentalen Glaubensunterschiede beider Konfessionen zu initiieren, in Brandenburg-Preußen nachhaltig diskreditiert.222 Besonders die Tatsache, dass der Verfasser des „Arcanum Regium“ eindeutig dem pietistischen Lager zu entstammen schien, provozierte umso heftigere publizistische Reaktionen aus den Reihen der lutherischen Orthodoxie. Die nachfolgende literarische Debatte muss daher nicht ausschließlich als Schlagabtauch zwischen Befürwortern und Gegnern des Unionsgedankens, sondern zu weiten Teilen auch als Auseinandersetzung zwischen orthodoxem Luthertum und lutherischem Pietismus verstanden werden – wie dies ganz allgemein für die Unionsdiskussion in Brandenburg-Preußen unter Friedrich III./I. gilt.223 Doch auch außerhalb Brandenburg-Preußens provozierte das Erscheinen des „Arcanum Regium“ eine Fülle von Streitschriften. Auf der Seite der Unionsbefürworter führten neben einigen reformierten Theologen aus Brandenburg-Preußen
221
Auch zum Folgenden: [Welmer], Arcanum Regium. Die Streitschrift wurde zwar dem am Collegium Charitativum beteiligten Magdeburger Diakon Johann Josef Winckler zugeschrieben, stammte aber tatsächlich von dem lutherischen Pfarrer Johann Welmer (vgl. Delius, Unionsversuche, S. 41; s. a. den Eintrag im Katalog der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel: http:// opac.lbs.braunschweig.gbv.de/DB=2/SET=1/TTL=1/SHW?FRST=5); fehlerhaft dargestellt bei Luh, Religionspolitik, S. 163, der die Forschungsergebnisse von Delius nicht berücksichtigt und weiterhin von der Autorschaft Wincklers ausgeht. 222 Angesichts der Flut von Streitschriften, die auf das Erscheinen des „Arcanum Regium“ folgten, überrascht das Urteil von Thadden, Hofprediger, S. 134, das Religionsgespräch von 1703 habe „aber wenigstens keinen unguten Nachgeschmack“ hinterlassen. 223 Zur Polemik im Anschluss an das „Arcanum Regium“ inkl. Auflistung der wichtigsten Veröffentlichungen vgl. Delius, Unionsversuche, S 43–46, 105–107.
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die Schweizer Reformierten Samuel Werenfels224 und Jean Alphonse Turrettini225 die Debatte an. An der Spitze der lutherisch-orthodoxen Unionsgegner stand der spätere Dresdner Oberkonsistorialrat Valentin Ernst Löscher,226 der in den von ihm herausgegebenen „Unschuldige Nachrichten oder Sammlung von alten und neuen theologischen Sachen“ auch und gerade die Unionsfrage intensiv diskutieren ließ.227 Zahlreiche Publikationen gegen die Union verfasste auch der Hamburger Pfarrer Sebastian Edzardi, der dabei auch gegen die reformierte Konfession als solche polemisierte und sich insbesondere mit dem Frankfurter Theologen und Unionsbefürworter Strimesius auseinandersetzte.228 Aufgrund der heftigen anti-reformierten Angriffe bemühte sich Friedrich I., eine Bestrafung Edzardis beim Hamburger Senat zu erreichen; und auch das Corpus Evangelicorum forderte in den Jahren 1707 und 1708 auf Druck Brandenburg-Preußens schließlich die Stadt Hamburg auf, Edzardi die weitere Publikationen von anti-reformierten Traktaten zu untersagen.229 Allerdings unterließ man es in der Evangelischen Konferenz nicht, auch den preußischen König zu ermahnen, seinerseits darauf zu sehen, „daß von Seiten Ihrer Reformirten Theologorum mit ungebührlichen Schrifften ebenfalls nicht weiter exediret werde“.230 Obwohl nach dem Scheitern des Collegium Charitativum alle konkreten Schritte auf eine Union hin sowohl von Hannover als auch von Brandenburg-Preußen abgebrochen worden waren, unterhielten Jablonski und Leibniz ihre weit gespannte Korrespondenz mit zahlreichen Irenikern im Reich und in Europa aufrecht und verfolgten auch weiterhin die Idee einer über Brandenburg-Preußen und Hannover hinausweisenden Union. Insbesondere Jablonski sah in der anglikanischen Bischofskirche ein Modell für die Vereinigung der beiden evangelischen Kirchen im Reich231 – ein Gedanke, den auch Leibniz befürwortete und der in der Erwartung der Hannoveraner Nachfolge auf dem englischen Thron umso aussichtsreicher er 224
Zur Biographie vgl. Wenneker, Werenfels. Zur Biographie vgl. Wenneker, Turretini (Turrettinie). 226 Zur Biographie vgl. Heussi, Valentin Ernst Löscher. 227 Unschuldige Nachrichten, hrsg. v. Löscher. Die Fortsetzung erschien in den Jahren zwischen 1720 und 1750 unter dem Titel: Fortgesetzte Sammlung. In diesen Zeitschriften sind die wichtigsten Quellen für die Unionsdebatten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammengestellt. 228 Schauroth, Sammlung 2, S. 482 (Conclusum vom 6.11.1706: „In Sachen Sebastian Edzardi, Professoris des Gymnasii zu Hamburg, wegen seiner gegen die Reformirte Religion in Druck gegebene Schmäh-Schriften“); s. a. das entsprechende Schreiben an die Stadt Hamburg: Ebd., S. 487–488 (Nochmaliges Erinnerungs-Schreiben an die Stadt Hamburg vom 3.3.1708: „Um ihren Professorem Edzardi von Edirung fernerer Schmäh-Schriften gegen die Reformirte Religion ernstlich abzuhalten“). 229 Schauroth, Sammlung 2, S. 486 (Conclusum vom 31.1.1708: „Des Prof. Edzardi zu Hamburg fernere Schmäh-Schrifften gegen die Reformirte betreffend“). 230 Ebd., S. 487–488 (Conclusum vom 4.6.1707: „Um so wohl die Evangelisch- als Reformirte Theologos zu gebührender Bescheidenheit anzuhalten, und in denen Reichs-Landen keine derselben Schmäh-Schrifften zu dulden“). 231 Vgl. Schunka, Blick nach Westen; Richter, Unionspläne. 225
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schien.232 Signalwirkungen erhofften sich die Unionsbefürworter sowohl von der 1706 feierlich begangenen Zweihundertjahrfeier der Universität Frankfurt an der Oder, die der Darstellung konfessioneller Einheit unter den Protestanten besonderen Platz einräumte und die unter diesem Aspekt auch in England an der Universität Oxford Wiederhall fand, als auch durch die Verlobung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm mit der lutherischen Prinzessin Sophie Dorothea von Hannover im selben Jahr.233 Ab 1710 sollte dann mit Unterstützung Friedrichs I. nochmals eine Initiative zu Unionsverhandlungen mit der Church of England entstehen. Unter maßgeblicher Mitwirkung des Yorker Erzbischofs John Sharp, des englischen Gesandten in Berlin, Lord Raby, und dessen Gesandtschaftsprediger sowie Jablonskis und Marquard von Printzens wurden in Gesprächen und Korrespondenzen die Möglichkeiten einer Annäherung sondiert. Auch dieser neuerliche Anlauf zu Gesprächen scheint jedoch an der fehlenden politischen Unterstützung gescheitert zu sein.234 Theologisch standen vor allem zwei Punkte im Mittelpunkt der Diskussionen um eine evangelische Union: das unterschiedliche Abendmahlsverständnis sowie die Frage der Prädestination.235 Die größten Vorbehalte gegen eine Union bestanden grundsätzlich auf der Seite des orthodoxen Luthertums – sowohl innerhalb als auch außerhalb Brandenburg-Preußens. Aber auch die Haltung der Pietisten in Brandenburg-Preußen, die spätestens mit der Gründung der Hallenser Anstalten um das Waisenhaus und die Person Franckes zu einer immer einflussreicheren Gruppe im Luthertum Brandenburg-Preußens geworden waren, kann nicht durchweg als unionsfreundlich bezeichnet werden. Spener selbst, der zwar in seinen Schriften zweifellos für innerevangelische Toleranz geworben hatte, stand wie bereits erwähnt den konkreten, durch den Berliner Hof geförderten Unionsgesprächen distanziert gegenüber.236 Franckes Haltung zu den Unionsversuchen der 1720er Jahre war noch wesentlich ablehnender.237 Zudem bestanden selbst unter den eindeutigen Befürwortern einer Kirchenunion große Unterschiede bei der Frage nach dem Verhältnis von gegenseitiger Toleranz bzw. Kirchenfrieden, der Einführung gemeinsamer liturgischer Elemente (mithin einer Annäherung über die kirchliche Praxis) und der Bedeutung einer systematischen theologischen Verbindung beider Konfessionen, die eine Einigung über die fundamentalen Glaubensunterschiede in Religions gesprächen voraussetzte.238
232
Vgl. Delius, Unionsversuche, S. 29–50. Ausführlich zu diesen beiden Ereignissen und ihrer Bedeutung für die Unionsbestrebungen von Jablonski und Leibniz: Schunka, Brüderliche Korrespondenz. 234 Zu dieser Phase der Unionsbemühungen vgl. Barry Levis, Failure; aus der älteren Literatur vgl. Sykes, Daniel Ernst Jablonski. 235 Vgl. Schunka, Internationaler Calvinismus, bes. S. 174–178. 236 Vgl. Delius, Unionsversuche, S. 39; Klingebiel, Pietismus und Orthodoxie, S. 306–307. Zu Speners frühen theologischen Schriften vgl. Wallmann, Philipp Jakob Spener. Zu Speners wechselhaftem Verhältnis zu den Reformierten vgl. Delius, Spener und die Reformierten. 237 Zu Franckes Haltung zu den Unionsversuchen um 1722 vgl. Kap E. II. 4. 238 Vgl. etwa Rudolph, Zum Nutzen von Politik und Philosophie, bes. S. 117–119. 233
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Auch die Haltung des Berliner Hofes resp. des Monarchen zu der Unionsfrage unterlag offenbar gewissen Konjunkturen, die primär außen- und innenpolitischen Rücksichtnahmen geschuldet waren, wie sich besonders deutlich an der Auflösung des Collegium Charitativum infolge der Publikation des „Arcanum Regium“ und der darauf folgenden polemischen Debatte zeigen lässt.239 Es ist daher äußerst schwierig zu beurteilen, welches Gewicht die Idee einer innerevangelischen Union für die tatsächlich verfolgte Kirchen- und Reichspolitik Friedrichs III./I. besaß – auch und gerade mit Blick auf die sich verändernden Einflüsse unterschiedlicher theologisch-kirchlicher Gruppierungen am Berliner Hof. Für den Kontext der Repräsentation Brandenburg-Preußens im Corpus Evangelicorum ist jedenfalls festzuhalten, dass Friedrich III./I. praktisch während seiner gesamten Regierungszeit den theologischen Austausch über eine Annäherung von Lutheranern, Reformierten und Anglikanern sowohl für Brandenburg-Preußen als auch darüber hinaus grundsätzlich befürwortete bzw. förderte und sich gleichzeitig für eine Unterbindung der theologischen Polemik einsetzte. Insbesondere im eigenen Territorium bemühte sich Friedrich III./I. um den evangelischen Kirchenfrieden und knüpfte mit Blick auf die Propagierung eines gemäßigten Calvinismus an die Tradition der brandenburgischen Kurfürsten seit Johann Sigismund an.240 Die Frage, inwieweit diese von Friedrich III./I. und seinen Vorgängern betriebene Kirchenpolitik im Sinne einer aktiven „Toleranzpolitik“ bewertet werden kann, ist freilich nach wie vor stark umstritten. Während für Hintze noch der Übertritt des Herrscherhauses zum Calvinismus Hand in Hand mit der Entwicklung religiöser Toleranz ging und damit gleichsam doppelt in die Zukunft des modernen Staatswesens wies,241 wird neuerdings die hohenzollersche „Toleranzpolitik“ gerade mit Blick auf die strukturelle Förderung des Calvinismus teilweise radikal in Frage gestellt.242 Ohne hier auf die weit gespannte Frage nach der Beurteilung der brandenburg-preußischen Kirchen-, Wirtschafts- und Siedlungspolitik im Lichte von Toleranz und Konfessionalisierung weiter einzugehen, bleibt von den unterschied-
239
So erließ Friedrich I. infolge der Debatte um das „Arcanum Regium“ ein Reskript an alle Regierungen und Universitäten des Landes, bis auf Weiteres keine Schriften irenischen Inhalts mehr publizieren zu lassen; Mylius, Corpus, Teil 1, Abt. 1, Nr. 70, Sp. 425–428 („General-Verordnung, wegen der Theologischen Schrifften, wer dieselben vor den Druck censiren solle, und wie es mit Verkauff derer, so auswärtig gedruckt, zu halten“, 5.11.1703). 240 Für das 17. Jahrhundert vgl. Ribbe, Brandenburg. 241 Für Hintze bezeichnete der Übertritt Johann Sigismunds zum Calvinismus ähnlich wie für Droysen den entscheidende Schritt „aus dem territorialen Stillleben zum Anschluss an die Weltpolitik […]. In dem konfessionell so stark gespaltenen Deutschland konnte nur ein Fürstenhaus, das religiöse Duldung übte, sich zu einer Großmacht erweitern.“; Hintze, Epochen, S. 72. 242 Vgl. dazu Luh, Konfessionspolitik. Zu Luhs kritischer Auseinandersetzung mit der älteren Literatur sei angemerkt, dass bereits Gerd Heinrich unterstrichen hat, dass die „Toleranzpolitik“ als „eine der folgenreichsten Waffen“ gegen die Stellung der lutherisch-orthodoxen Geistlichkeit und den ihr verbundenen Adel genutzt wurde; Heinrich, Amtsträgerschaft, S. 203–205. Neuerdings zur brandenburg-preußischen Amtsträgerschaft im 17. Jahrhundert: Bahl, Hof. Zur idealisierten Toleranzpolitik vgl. z. B. Keller, Der Große Kurfürst.
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lichen – und mitunter das eine Extrem gegen das andere austauschenden243 – Bewertungen unbenommen, dass die Hohenzollern und speziell Friedrich III./I. sich fraglos als im zeitgenössischen Sinne „tolerant“ und der innerevangelischen Irenik zugetan präsentierten.244 Für die Regierungszeit Friedrichs III./I. lässt sich die ostentative Gleichbehandlung der beiden evangelischen Konfessionen an zahlreichen symbolträchtigen öffentlichen Akten und kirchenpolitischen Maßnahmen verdeutlichen: So wurde der 1701 in der Königsberger Schlosskirche gehaltene Krönungsgottesdienst demonstrativ von einem lutherischen und einem reformierten (Titular-)Bischof gemeinsam zelebriert; auch konnten sowohl die dritte Gemahlin Friedrichs I., Sophie Luise von Mecklenburg, als auch die Gattin des Kronprinzen Friedrich Wilhelm ihren lutherischen Glauben beibehalten und mussten nicht, wie bislang üblich, vor ihrer Trauung zum Calvinismus konvertieren.245 Allerdings zeigt auch hier der Blick auf die Verfügungen Friedrichs I. für seinen Nachfolger, dass dem König die beiden evangelischen Bekenntnisse insbesondere mit Blick auf das Selbstverständnis der Brandenburger Hohenzollern seit Johann Sigismund sicherlich nicht gleichwertig waren. Friedrich I. widmete der Konfessionsverschiedenheit des Kronprinzenpaares in seinem Testament von 1707 mehrere Seiten und setzte fest, dass sämtliche Nachkommen im reformierten Glauben erzogen werden müssten. Die Kronprinzessin aber, sollte sie Schwiegervater und Gemahl überleben, dürfe nur dann an der Erziehung ihrer Kinder sowie an der Vormundschaft des Regenten bzw. der Landesverwaltung teilhaben, wenn sie vorher zum reformierten Glauben übergetreten sei.246 Kirchenpolitisch wiederum förderte der König nicht nur den irenischen Diskurs, auch in der kirchlich-theologischen Praxis setzte er Signale der innerevangelischen Verständigung, z. B. durch die gemeinsame Promotion lutherischer und reformierter Geistlicher an der Frankfurter Universität247 oder die Einrichtung von lutherisch- reformierten Simultankirchen, wie die 1705 fertig gestellte Friedrich-Werdersche Kirche in Berlin.248 243 So bewertet Luh, Konfessionspolitik, S. 306, 324, die kirchliche Gesetzgebung der Hohen zollern ausschließlich als „ein Instrument landesherrlicher Konfessionalisierung“; ausgewogener im Urteil dagegen Heinrich, Religionstoleranz. 244 Mit Blick auf innerterritoriale Konflikte zwischen Reformierten und Lutheranern hat jüngst Leibetseder, Toleranz, darauf hingewiesen, dass, unabhängig davon, wie man die Toleranz gebote der brandenburg-preußischen Kirchengesetzgebung im Einzelnen beurteilt, sich die Konfliktbeteiligten vor Ort erfolgreich auf das Gebot der Toleranz berufen konnten, um den eigenen Standpunkt durchzusetzen. 245 Vgl. Gundermann, Verordnete Eintracht, S. 151. Zur Krönung Friedrichs I. vgl. dies., Die Salbung König Friedrichs I.; zur Verlobung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm: Krauske, Verlobung. 246 „Das letzte Testament König Friedrichs I. (1707)“, in: Caemmerer, Testamente, S. 345–347. Dieselben Bestimmungen sollten laut den Eheverträgen auch für potentielle Nachkommen aus Friedrichs I. dritter Ehe mit Sophie Luise von Mecklenburg gelten; ebd., S. 343. 247 Vgl. Schunka, Brüderliche Korrespondenz, S. 129–132. 248 Vgl. Delius, Unionsversuche, S. 50; hier auch zur Rezeption der Simultaneen seitens der lutherischen Orthodoxie. Zu den Kirchenbauten in Berlin unter der Regierung Friedrichs III./I.
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Eng verbunden mit der Förderung einer Annäherung der beiden evangelischen Konfessionen waren die Bemühungen zur Eindämmung konfessioneller Polemik, die ebenfalls seit der Konversion Johann Sigismunds einen traditionellen Bestandteil der hohenzollerischen Kirchenpolitik bildeten.249 Wenngleich Edikte gegen Kanzelpolemik und Schmähschriften grundsätzlich von Ermahnungen zur gegenseitigen Toleranz begleitet wurden, lag der Schwerpunkt bereits eindeutig bei den so genannten „Toleranzedikten“ des Großen Kurfürsten (in denen übrigens schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts der Begriff der „mutua tolerantia“ auftaucht) auf dem Versuch, die mitunter heftige lutherische Polemik gegen die Reformierten einzudämmen.250 Auch die von Friedrich III./I. hinsichtlich der Pfälzer Konfessionsverhältnisse betriebene Politik und insbesondere sein Verständnis von innerevangelischer Toleranz auf Reichsebene folgten diesen Prioritäten. Gleichzeitig unterstütze Friedrich III./I. in der Schweiz nachdrücklich die ursprünglich von der Akademie von Saumur ausgehenden Tendenzen, die reformierte Orthodoxie zu mäßigen. Auch in diesem Punkt setzte Friedrich III./I. die Tradition des Großen Kurfürsten fort, der anlässlich des Ediktes von Nantes und des großen Zuzugs von Hugenotten in den Kanton Bern 1686 beim Berner Rat dagegen protestiert hatte, von den Réfugiés die Unterzeichnung der streng calvinistischen Formula Consensus einzufordern,251 einer Bekenntnisformel, die erst zwanzig Jahre zuvor eingeführt worden war und eine besonders strenge Interpretation der Prädestination bzw. Gnadenlehre vertrat.252 Mit der Festlegung auf die „Formula Consensus“ als verpflichtende Symbolschrift grenzten sich die Schweizer Reformierten deutlich von den französischen und deutschen Reformierten ab. Der Große Kurfürst setzte sich in der Folge auch bei den übrigen reformierten Kantonen für die Abschaffung dieser streng ortho doxen Bekenntnisschrift ein.253 Als unter dem Einfluss Turrettinis 1706 nach Basel auch Genf die Pflicht zur Unterzeichnung der „Formula Consensus“ aufgehoben vgl. Wendland, Studien zum kirchlichen Leben, S. 133–138; hier auch zu den stark geförderten reformierten Neugründungen. 249 s. etwa Mylius, Corpus, Teil 1, Abt. 1, Nr. 29, Sp. 375–382 („Mandatum, wie so wohl zwischen Reformirten und Lutherischen Predigern als Unterthanen die Einträchtigkeit zu erhalten“, 2.6.1662); ebd., Nr. 36, Sp. 395–598 („Edict, daß Reformirte und Lutherische Priester sich aller Anzüglichkeiten auf der Cantzel gegen einander enthalten sollen“, 6.5.1668). 250 s. etwa Mylius, Corpus, Teil 1, Abt. 1, Nr. 45, Sp. 403–404 („Verordnung vom Gebrauch derer Postillen, und daß diejenigen abzuschaffen, worinnen Lästerungen wieder die Reformirten zu befinden“, 9.2.1681). Zu den Toleranzedikten des Großen Kurfürsten vgl. Lackner, Kirchenpolitik, S. 124–145; allgemein zur Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten s. a. immer noch die ältere Studie von Landwehr, Kirchenpolitik; als Überblicksdarstellung neuerdings auch: Kleine hagenbrock, Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst (1620–1688). Ein ebenfalls wichtiger Gesichtspunkt für das Verbot der Kanzelpolemik war die Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und Pietismus seit dem Ende des 17. Jahrhunderts; vgl. Klingebiel, Pietismus und Orthodoxie, bes. S. 301–304. 251 Vgl. Geiger, Unionsbestrebungen, S. 128. 252 Zur Geschichte der „Formula Consensus Helvetica“ vgl. Schweizer, Die protestantischen Centraldogmen, S. 439–503. 253 Vgl. Geiger, Unionsbestrebungen.
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hatte, bemühte sich Friedrich I. um eine verstärkte Einbeziehung der Genfer Geistlichkeit in die Unionsdebatte. Dass die Schweizer Ireniker ihrerseits auf Brandenburg-Preußen als ein Zentrum der Unionsdebatte Bezug nahmen, zeigt das Beispiel Turrettinis, der 1707 dem preußischen König eine Unionsschrift widmete und daraufhin von Friedrich I. zum Dank in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde.254 Die Verbindungen zu den gemäßigten, dem Pietismus und der innerevange lischen Irenik zugeneigten reformierten Theologen in der Schweiz (und zur dortigen Unionsdebatte) wurden unter der Regierung Friedrichs III./I. durch den Erwerb des Fürstentums Neuchâtel intensiviert. Neuchâtel galt mit seiner gemäßigt-reformierten, in vielen Punkten am Anglikanismus orientierten Liturgie für Jablonski als Modell für eine Annäherung der evangelischen Konfessionen über die kirchliche Praxis.255 Enge Kontakte zu den Schweizer Unionstheologen besaß im Übrigen auch der Reichstagsgesandte Ernst von Metternich aufgrund seiner diplomatischen Mission im Zuge der Erwerbung des Fürstentums Neuchâtel.256 Generell waren die Schweizer Irenik und die Unionsdebatten im Reich und England nicht zuletzt über die Verbindungen der preußischen Monarchie zu den Schweizer reformierten Kantonen eng verflochten und sollten auch für die Wiederaufnahme der Diskussion nach 1718 eine wichtige Rolle spielen.257 Friedrich I. vermochte sich mit dem Werben um eine Union genauso wenig wie mit dem Vorschlag, die zwischen Lutheranern und Reformierten herrschende Uneinigkeit durch „mutuelle Toleranz“ auf Reichsebene zu beheben, durchzusetzen. Doch vermittelt der letztere Vorstoß einen bezeichnenden Eindruck von der Haltung der brandenburg-preußischen Reichspolitik gegenüber den beiden evangelischen Konfessionen in den Jahren, die auf die Unionsbemühungen und den Abschluss der Pfälzischen Religionsdeklaration folgten – und während derer der publizistische Schlagabtausch zwischen Befürwortern und Gegnern der Union immer noch nicht völlig zur Ruhe gekommen war: Diese Haltung implizierte vorderhand die Anerkennung zweier grundsätzlich getrennter evangelischer Konfessionen und vor allem konfessionsspezifischer Interessen, die sich im Corpus Evangelicorum – zumindest immer wieder – gegenüberstanden, aber einander doch näher standen als dem Katholizismus, ja, deren maßgebliche Gemeinsamkeit in der Gegnerschaft zu den Katholiken bestand. Zwischen Reformierten und Lutheranern sollten dieselben Rechtsgrundsätze gelten wie zwischen Katholiken und Protestanten – jene waren genauso wenig verhandelbar wie diese. Aber in der Praxis, bezogen auf die lebensweltliche Koexistenz wie die politisch erwünschte Einheit, bestand durchaus
254 Turrettini setzte sich auch in der Zukunft gemeinsam mit seinen schweizerischen Mitstreitern Samuel Werenfels und Jean-Frédéric Ostervald (bekannt unter dem Namen des „Schweizer Triumvirats“) für eine evangelische Union ein. 255 Vgl. Delius, Unionsversuche, S. 51; Geiger, Unionsbestrebungen, S. 129–130. 256 Vgl. Geiger, Unionsbestrebungen, S. 129–130. 257 Vgl. hierzu Kap. E. II. 4.
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Verhandlungsspielraum, freilich ohne dass sich daraus wiederum Rechtsansprüche ableiten ließen. Die Argumentation der brandenburg-preußischen Politik war also zweigeteilt: Auf der Ebene des Rechts gab es keinen Raum für konkurrierende Interpretationen des IPO, denn eine Abkehr von den hehren Prinzipien von 1699/1700 würde den Untergang der Protestanten und die endgültige Dominanz der Katholiken im Reich herbeiführen. Hier galt es denn auch, vom konkreten Fall der Kurpfalz zu abstrahieren und die Verpflichtung des gesamten evangelischen Reichsteils auf einheitliche Principia zum Wohle des evangelischen Wesens im Reich zu befördern. Auf der Ebene der „christbrüderlichen Verständigung“ zwischen Lutheranern und Reformierten aber warb Friedrich I. für innerevangelische Toleranz. In diesem Zusammenhang war es zweifellos dienlich, sich als gemäßigt reformiert darzustellen, als ein reformierter Herrscher, der den Lutheranern prinzipiell wohl gesonnen war, das „tolerante“ Zusammenleben der evangelischen Konfessionen im eigenen Territorium nach Kräften förderte und zu Zugeständnissen an die „lutherischen Brüder“ grundsätzlich gerne bereit war.258 Tatsächlich entsprach die auf Reichsebene vertretene Politik hinsichtlich des innerevangelischen Verhältnisses cum grano salis durchaus den Grundlinien der Kirchenpolitik gegenüber Lutheranern und Reformierten im eigenen Territorium.259 Hier lässt sich für die Regierungszeit Friedrichs III./I. in vielen Punkten erneut eine Fortführung der Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten konstatieren. So wurden die Reformierten auch unter dem ersten preußischen König in vielerlei Hinsicht besonders gefördert, was sich nicht zuletzt an der Stellung der reformierten, häufig aus dem Ausland stammenden Amtsträgerschaft im Allgemeinen und dem Einfluss der reformierten Hofprediger im Besonderen ablesen lässt – und was zudem in einem engen Zusammenhang mit der Adelspolitik beider Herrscher stand.260 Auch die unter dem Großen Kurfürsten begonnene Aufnahme großer Gruppen verfolgter Reformierter vor allem aus Frankreich, der Schweiz und der Pfalz setzte Friedrich III / I. fort.261 Nicht zuletzt zur Unterstützung der nach Brandenburg-Preußen eingewanderten Glaubensflüchtlinge gründete 258
So betont ein Reskript an Blaspiel hinsichtlich des Verhältnisses Friedrichs I. zu den beiden evangelischen Kirchen, dass „[Wir] Uns derselben [Lutherischen] conservation nicht weniger als der Reformierten in undt außerhalb unserm Königreich und landen nach möglichkeit angelegen sein laßen, auch beeder seiths Evangelische bey ihrer Religion und Kirchenwesen gern gehandhabt sehen …“; Reskript an Blaspiel, o. O., 2.2.1706, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43. 259 Vgl. aus der neueren Literatur: Kraus, Staat und Kirche. 260 Vgl. als Überblick: Hahn, Calvinismus und Staatsbildung; Thadden, Fortsetzung. Speziell zu Amtsträgerschaft und Hofpredigern: Opgenoorth, Ausländer, S. 38–45; Heinrich, Amtsträgerschaft, S. 197–209, bes. S. 203–209; Thadden, Hofprediger, bes. S. 78–92; Eibach / Zwank, Hofprediger. Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass sowohl die eindeutige Begünstigung der Reformierten als auch die damit verbundene Bevorzugung von reformierten Zuwanderern als Staatsdiener offenbar unter Friedrich Wilhelm I. einen spürbaren Bedeutungsverlust erfuhren; vgl. Opgenoorth, Die Reformierten, S. 443, 452; ders. Ausländer, S. 46–50; s. a. Kap. E. II. 4. 261 Zur Ansiedlung von Réfugiés in Brandenburg unter Friedrich Wilhelm und Friedrich III./I. am Beispiel der Mark s. die ausführliche Studie von Asche, Neusiedler.
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Friedrich III. auf Vorschlag des Konsistorialrats-Präsidenten Sylvester Jacob von Danckelmann262 1696 die Stiftung „Mons Pietatis“ in Berlin, deren Aufgabe in der Förderung von Reformierten im In-und Ausland bestand.263 Aber auch mit Blick auf die lutherische Landeskirche führte Friedrich III./I. die Politik des Großen Kurfürsten in vielen Punkten fort, beispielsweise, indem er das Verbot für Theologen, in Wittenberg zu studieren, erneuerte.264 Hinzu kam freilich die Etablierung des Pietismus, dessen massive Begünstigung durch den Hof zu weiten Teilen auch dem Bemühen geschuldet war, eine lutherische Gegenkraft zur Orthodoxie zu fördern.265 Betrachtet man die politischen Testamente Friedrich III./I., so spricht er sich darin mit leicht verschobenen Nuancen für eine Förderung der Reformierten aus, verbunden mit einer grundsätzlichen Akzeptanz und positiven Haltung gegenüber dem Luthertum.266 Persönlich hat sich der erste preußische König bei aller Betonung der Toleranz eindeutig zum reformierten Glauben – wenngleich in einer gemäßigten Form – bekannt.267 Gleichwohl setzte er sich mit seinen Äußerungen zur innerevangelischen Irenik offenbar auch dem Vorwurf aus, unter dem Deckmantel von Toleranzforderungen und Unionsförderung nichts anderes als Synkretismus und religiöse Indifferenz zu vertreten.268 Ein Ende des 17. Jahrhundert entstandenes, angeblich von Friedrich III. persönlich verfasstes Glaubensbekenntnis lässt diese Tendenzen deutlich werden:269 Der Verfasser bekennt sich darin in einer demonstrativ theologisch anspruchslosen Sprache zum Christentum, relativiert in seinen Aussagen zu Prädestination, Abendmahl und Rechtfertigung aber die Unterschiede zwischen Luthertum und Calvinismus (teilweise sogar zum Katholizismus), so dass die Zugehörigkeit zu einer der drei Konfessionen am Ende mehr als lebensweltlicher Zufall denn als Entscheidung für die wahre Religion erscheint: 262
Vgl. Zedler 7, Sp. 114. Vgl. Odebrecht, Directorium Montis Pietatis. 264 Vgl. Niggemann, Kurfürst Friedrich III. 265 Vgl. Deppermann, Voraussetzungen, bes. S. 45; Klingebiel, Pietismus und Orthodoxie, bes. S. 300; dort auch zum eindrücklichen Beispiel des Berliner Beichtstuhlstreits zwischen Orthodoxie und Pietismus (ebd., S. 302–304). Immer noch grundlegend zum Verhältnis des Berliner und Hallenser Pietismus zu Hof, Staat und Gesellschaft Brandenburg-Preußens im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert: Hinrichs, Preußentum und Pietismus; ders., Der Hallische Pietismus; Deppermann, Pietismus. 266 In seinen Testamenten von 1690 und 1705 verpflichtete Friedrich III./I. seinen Sohn und Nachfolger, alle evangelischen Untertanen beider Konfession in ihrem Exerzitium und ihren Besitzrechten zu schützen und die Reformierten besonders zu fördern; „Das Testament Kurfürst Friedrichs III. (1690)“, in: Caemmerer, Testamente, S. 285–304, 293–295; „Testament König Friedrichs I.“, in: ebd., S. 322–342, 328–331. In diesem letzteren Testament legte Friedrich I. seinem Nachfolger auch explizit die Förderung der evangelischen Union ans Herz (ebd., S. 333). 267 Vgl. „Das Testament Kurfürst Friedrichs III. (1690)“, in: Caemmerer, Testamente, S. 285–304, 287; vgl. Wendland, Studien, S. 139–143. 268 Für weitere Beispiele konfessioneller Indifferenz vgl. von Greyerz, Konfessionelle Indifferenz, der allerdings keine systematische Analyse bietet, sondern ein eher impressionistisches Bild dieses Phänomens zeichnet. 269 Ihro Churfürstliche Durchleucht zu Brandenburg Friedrich Des Dritten Glaubens-Bekantnuß, o. O. o. J [um 1690]. 263
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„Daß ich mich sollte nennen Papistisch / Lutherisch oder Calvinisch, trage ich billig Beden cken / doch weil man aus blosser Gewohnheit und Opinion der Welt mit dem blossen Nahmen eines Christen nicht fortkommen kann / daß man sich zu einer Kirche und Confession von derselben halte / und davor bekennen muß: Und daß die reine unverfälschte Reformirte Religion am meisten mit meiner Religion überein kämmt / so kann ich mich wohl per mundi errorem nennen lassen Reformiret / ohngeachtet ich nicht sehe / worinnen mein oben bemeldtes Glaubens-Bekändtniß mit der reinen unverfälschten Lehre Lutheri streitn sollte …“.270
Tatsächlich weist dieses gefälschte Bekenntnis durchaus Ähnlichkeiten zu authen tischen Glaubenszeugnissen der Hohenzollern auf, an denen sich der Verfasser offensichtlich orientiert hat. Dies gilt insbesondere für die Confessio Sigismundi, deren Aussagen allerdings im angeblichen Glaubensbekenntnis Friedrichs III. stark überzeichnet werden.271 Dass die Veröffentlichung des Bekenntnisses weder auf Betreiben des Hofes noch in dessen Interesse erfolgte, beweist ein 1696 herausgegebenes Dementi der Geheimen Kammer-Kanzlei, in dem das Glaubensbekenntnis als „Lügenschrift“ bezeichnet und jede Verbindung zum Kurfürsten bestritten wird.272 Die angebliche Bekenntnisschrift wurde im Übrigen nicht nur 1718 unter geändertem Titel neu aufgelegt (und erfuhr bemerkenswerterweise zu diesem Zeitpunkt keinerlei offizielles Dementi mehr, wenngleich sie vermutlich auch diesmal nicht auf Betreiben des Berliner Hofes publiziert worden war);273 sondern auch während der Regierungszeit Friedrichs des Großen erschien der Text – als angebliches Credo des regierenden Königs – in mindestens drei weiteren Auflagen.274 Die Selbstdarstellung Friedrichs III./I. als Befürworter von Toleranz und Irenik war also hinsichtlich ihrer Rezeption zumindest ambivalent. Gerade von orthodox-lutherischer Seite wurden die Aufrufe, die innerevangelischen Differenzen zu überwinden, praktisch als ebenso gefährlich für die eigene Position bewertet wie die von Brandenburg-Preußen betriebene explizite Patronage der Reformierten. Mehr noch: Das Erstere wurde häufig als Vehikel für das Letztere wahrgenommen und dargestellt. In diesem Sinne lässt sich auch die Beobachtung erklären, dass mit dem Bekanntwerden der diversen innerevangelischen Unionsprojekte des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts jedes Mal sehr rasch die publizierte Kritik an der Union 270
Hier zitiert nach Gericke, Glaubenszeugnisse, S. 195 (nach der Ausgabe von 1718); vgl. auch Rall, Glaubensbekenntnis, S. 133. 271 Vgl. Gericke, Glaubenszeugnisse, S. 65–67. 272 Nöhtige Anzeigung wegen des falschen Scripti, So unter dem Titul: Ihrer Churfürstl. Durchlaucht. zu Brandenburg / Herrn Hn. Friderici III. etc. etc. Gewissenhafftes GlaubensBekäntnüs / Hin und wieder divulgiret worden, o. O. o. J. [Berlin 1696]; vgl. auch Gericke, Glaubenszeugnisse, S. 64. Luh, Religionspolitik, S. 160, stellt die Veröffentlichung des Glaubensbekenntnisses fälschlicherweise als von Friedrich III. persönlich veranlasst dar. Diese Einschätzung basiert offenbar auf Rall, Glaubensbekenntnis. 273 Zu dieser Neuauflage vgl. Kap. E. II. 4. 274 Bislang ist von der Literatur nur die Neuauflage von 1718 zur Kenntnis genommen worden; vgl. Rall, Glaubensbekenntnis; Gericke, Glaubenszeugnisse, S. 63–67; Luh, Religionspolitik. Zu den weiteren Neuauflagen aus der Regierungszeit Friedrichs II. vgl. das Exkurs-Kapitel am Ende dieser Arbeit.
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in anti-reformierte Polemik umschlug.275 In den Jahren um 1705 lief zudem die in der Pfalz betriebene pro-reformierte Patronagepolitik mit den Unionsbemühungen in Brandenburg-Preußen parallel, und beides verstärkte das Misstrauen auf Seiten des Luthertums gegen die von Friedrich I. propagierte Toleranzpolitik erheblich. Letztlich scheint auf lutherischer Seite jedenfalls – dies hat der Blick auf das Verhältnis zwischen Brandenburg-Preußen und den mehrheitlich lutherischen Ständen im Corpus Evangelicorum bereits mehrfach gezeigt – Friedrich III./I. nach wie vor primär als reformierter Fürst und Patron wahrgenommen worden zu sein; ein „Image“, das nicht nur, aber eben auch der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik in der Kurpfalz geschuldet war. Gerade weil Friedrich I. sein Eingreifen zugunsten der Pfälzer Reformierten in den größeren Zusammenhang der Situation seiner Glaubensgenossen im Reich und in Europa stellte und die entsprechenden Forderungen damit verband, trug er dazu bei, dass die brandenburg-preußische Schutzpolitik in der Pfalz als dezidiert reformierte Patronage wahrgenommen wurde. Tatsächlich eröffnete die brandenburg-preußische Position in der Kurpfalz Friedrich I. Ressourcen, mit deren Hilfe er gleichsam durch einen „Toleranz-Tauschhandel“ die Situation der reformierten Konfession andernorts zu verbessern suchte. Indem er die Interessen der Reformierten in den Reichsstädten und sogar in Schlesien vertrat, für deren Religionsfreiheit an anderer Stelle (sprich: in der Kurpfalz) ggf. ein Opfer gebracht werden musste, präsentierte er sich selbst als der reformierte Schutzherr schlechthin. Was unter dem Begriff der „mutuellen Toleranz“ von Brandenburg-Preußen propagiert wurde, sollte der Förderung reformierter Interessen im Reich und in Europa im Allgemeinen dienen und damit nicht nur bzw. nicht primär der Relativierung der innerevangelischen Konfessionsgrenzen. Hinsichtlich der Verhältnisse im Reich tangierte eine so verstandene Toleranz geradezu zwangsläufig das Reichskirchenrecht des Westfälischen Friedens und mag insofern als typisch für die deutsche Toleranzdebatte seit dem Augsburger Religionsfrieden gelten, die traditionell den rechtlichen Aspekt stärker als den theologischen betonte.276 Und so demonstriert das hier betrachtete Verhältnis der beiden evangelischen Konfessionen besonders deutlich das starre Gerüst der Normaljahresregelung, das nach Martin Heckel die religiösen Kernanliegen der Kon fessionen ganz und gar „verobjektierte“.277 Die grundsätzliche Befriedung der Konfessionen – das zeigen die erfolglosen Bemühungen um eine wie auch immer geartete Union von Lutheranern und Reformierten nach 1648 genauso wie der Widerstand gegen die Simultaneen – war durch eine unflexible Regelung erkauft, die wenig Raum für Toleranz jenseits der durch die Reichsverfassung vorgesehenen ließ.278 Wenngleich durch die paritätischen Regelungen der Reichsverfassung (die eben in 275
Vgl. Whaley, Religious Toleration, S. 129–135. Zu den im Zusammenhang der Unionspläne nach 1720 publizierten Streitschriften und der damaligen Toleranzdebatte vgl. Kap. E. II. 4. 276 Whaley, Tolerant Society, S. 177: „One of the distinctive features of the German debate about religious toleration was its legal rather than theological character.“ 277 Heckel, Sinn und Wandel, S. 468; s. a. ders., Konfession und Reichsverfassung. 278 Vgl. Asch, Das Problem des religiösen Pluralismus, bes. S. 24–32.
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weiten Teilen nur zwei Großkonfessionen kannte) politisch verbunden, waren Reformierte und Lutheraner hinsichtlich der Besitzstandsregelungen ihrer Kirchen genauso voneinander getrennt wie jeweils vom katholischen Reichsteil. Auch unter den beiden evangelischen Konfessionen provozierten daher alle Versuche, punktuell die klaren Linien des Reichskirchenrechts zu relativieren (beispielsweise in Form der freiwilligen Zulassung eines weiteren Bekenntnisses oder finanzieller Zugeständnisse), die Befürchtung, dass jedes Nachgeben zum Nachteil der eigenen Konfessionsgruppe ausschlagen müsse. Obwohl Reformierte und Lutheraner auf Reichsebene gewissermaßen zur Zusammenarbeit gezwungen waren und es ihnen zu Beginn des 18. Jahrhunderts gelingen sollte, das politische Potential der paritätischen Reichsverfassung in ihrem Sinne auszuschöpfen, so hatte die sich immer deutlicher abzeichnende politische Vereinigung der Konfessionen doch kaum positive Rückwirkungen auf die theologische Annäherung zwischen Reformierten und Lutheranern. Umgekehrt scheiterten die evangelischen Reunionsversuche des 17. und 18. Jahrhunderts vermutlich nicht zuletzt daran, dass sie eben immer auch – vielleicht sogar primär – politisch motiviert waren, mithin das Ziel verfolgten, angesichts der katholischen Bedrohung politische Einigkeit herzustellen bzw. zu untermauern.279 Hinzu kam, dass für die überwiegende Zahl der Unionstheologen die Landesherrschaft eine zentrale Rolle für das Zustandekommen einer Union spielte. In Anschluss an Heckel lässt sich daher vielleicht sogar besonders eindeutig für das Verhältnis der beiden evangelischen Konfessionen konstatieren, dass das nachwestfälische Reichskirchenrecht die Entwicklung einer religiösen Toleranz mehr verhindert als befördert hat. In der Tat führten weder die Argumentation mit der rechtlichen Eindeutigkeit des Westfälischen Friedens noch die Toleranz-Angebote aus Berlin dazu, dass die innerevangelische Diskussion um die Verhältnisse in der Kurpfalz abflaute. Die kurbrandenburgische Gesandtschaft wurde sogar offiziell „nomine Corporis Evangelicorum lutherischen Theils“ ersucht, „daß selbige gnädigst geruhen mögten, durch Dero höchste und nachdrückliche vermittlung es in die wege zu richten, daß die Reformirte in der Unter-Pfalz disponiret werden mögten, von denen revenuen und geistlichen gefällen den ev. Lutherischen geistlichen daselbst dasjenige angedeyen zu laßen, was zu deren unterhalt von nöthen und unentbehrlich“.280 Die brandenburg-preußische Politik versuchte daher, ohne von ihren Grundsätzen abzugehen, Entgegenkommen zu signalisieren und erklärte, eine allgemeine Kollekte für die Lutheraner in der Kurpfalz zu unterstützen, verband allerdings auch dieses Angebot erneut mit der Bedingung, dass die lutherischen Pfarrer endlich aufhören müssten, die Reformierten zu verunglimpfen.281 279
Vgl. Whaley, Tolerant Society, S. 179. Extrakt Protocolli [der Evangelischen Konferenz], Regensburg, 9.9.1708, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43. 281 Reskript an Henniges, Potsdam, 13.10.1708, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43: „Inmittelst ist vor der Hand kein besser Mittel, wan die mutuelle toleranz keinen ingress finden sollte, daß durch eine Gemeine Collecte in den Gesambten Protestierenden Landen die Ev. Lutherischen 280
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Eine weitere Eintrübung des reformiert-lutherischen Verhältnisses brachte die so genannte Altranstädter Konvention, die in Folge des gleichnamigen Friedens 1707 zwischen Kaiser Josef I. und dem schwedischen König Karl XII. geschlossen wurde. Der Kaiser musste darin hinsichtlich der Religionsrechte für die schlesischen Protestanten Zugeständnisse machen. Allerdings wurden explizit in der Erklärung lediglich die schlesischen Lutheraner bedacht, weshalb sich Brandenburg-Preußen in der Folge immer wieder im Corpus Evangelicorum für eine Ausweitung der Konvention auf die Reformierten in Schlesien einsetzte.282 Dass die innerevangelischen Verhältnisse in Schlesien und in der Kurpfalz durchaus im Zusammenhang wahrgenommen wurden, zeigt auch ein Rundschreiben Friedrichs I. an die maßgeblichen evangelischen Reichsstände, inklusive der Könige von Dänemark und Schweden, in welchem er seine eigene Politik bezogen auf die Religionsdeklaration von 1705 ausführlich rechtfertigte und gleichzeitig dazu aufrief, „die Reformierten Religions-Sachen in Schlesien bestens zu secundiren“283 und also die Reformierten in Schlesien keinesfalls für die Enttäuschung der Lutheraner in der Kurpfalz büßen zu lassen. Im Jahr 1710 machten die kurpfälzischen Lutheraner einen erneuten Vorstoß, ihre Ansprüche durchzusetzen und schickten sogar zwei Abgeordnete nach Regensburg, um ihre Interessen an Ort und Stelle vertreten zu lassen. Diese verlangten erneut eine Besoldung der lutherischen Konsistorialräte, Pfarrer und Lehrer aus dem Anteil des Kirchenvermögens, über welchen die reformierte Landeskirche verfügte; konkret forderten sie einen eigenen Anteil von zwei Siebtel und dazu eine Rückzahlung dieser Gelder für die vergangen fünf Jahre, also seit Abschluss der Re ligionsdeklaration. Alternativ sollte die Frage der kirchlichen Besitzstände in der in der Pfalz zu einem Capital vor ihre Pfarrer und Schulbedienten, so keine fundirte besoldung haben, verholffen und ihnen dabey zu verstehen gegeben werde, daß Sie doch inmittelst das schelten und schmähen über die ohnedem leidenden Reformierten einstellen mögen, als welche, wenn es nur in ihrem Vermögen stünde, ihnen gerne geholfen sehen …“. 282 Einen Forschungsüberblick zur Altranstädter Konvention bietet: Wolf, Altranstädter Konvention; s. a. Conrads, Durchführung. Die Verständigung zwischen Schweden und Kursachsen im Zuge des Altranstädter Friedens führte zwischenzeitlich offensichtlich zu einer Stärkung der lutherischen Position innerhalb des Corpus Evangelicorum; Relation von Henniges, Regensburg, 10.6.1707, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 5; vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 87. Als Schweden an Brandenburg-Preußen im Zuge des Friedensschluss die Bitte herantrug, den Vertrag zwischen Schweden und dem König von Polen sowie die Konvention mit dem Kaiser zu garantieren, erklärte sich Brandenburg-Preußen zwar bereit, verband die Garantie allerdings mit einer Klausel, die nochmals die Berücksichtigung der schlesischen Reformierten forderte; Loewe, Staatsverträge Friedrichs I., S. 86–87. Brandenburg-Preußen bemühte sich auch, eine Verbesserung der Stellung der Reformierten in Schlesien in die Wahlkapitulationen Josefs I. und Karls VI. einfließen zu lassen, scheiterte aber in beiden Fällen nicht zuletzt an der fehlenden Unterstützung Kursachsens und Kurhannovers; vgl. Siemsen, Kur-Brandenburgs Anteil, S. 17–18, 49. 283 Friedrich I. an den König von Schweden, den König von Dänemark, den Herzog von Wolfenbüttel, die Markgrafen von Bayreuth und Ansbach, die Landgrafen von Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt, den Herzog von Württemberg, den Herzog von Mecklenburg-Schwerin, die Herzöge von Sachsen-Weimar und Sachsen-Eisenach und den Fürsten von Anhalt-Bernburg, Cölln, 1.2.1709, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 43; Reskript an Henniges, Cölln, 1.2.1709, ebd.
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Pfalz durch eine Reichskommission in Frankfurt am Main geklärt werden.284 Erneut wies Metternich diese Forderungen im Namen seines Königs zurück.285 Auch als das „Evangelisch-Lutherische Corporis“ sich den Forderungen der beiden kurpfälzischen Lutheraner anschloss,286 blieb die brandenburg-preußische Haltung unverändert, so dass die beiden lutherischen Pfarrer Ende 1710 unverrichteter Dinge wieder aus Regensburg abreisten.287 Auch in den folgenden Jahren bemühten sich die Lutheraner aus der Pfalz immer wieder durch Veröffentlichungen oder Denkschriften, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen, so dass das Thema auch weiterhin in Regensburg diskutiert wurde, ohne dass sich hingegen Anzeichen für eine Verständigung – sei sie rechtlicher, sei sie „freundschaftlicher“ Natur – fanden.288 g) Die Friedensschlüsse von Utrecht, Rastatt und Baden Angesichts dieser Situation kann es kaum verwundern, dass sich BrandenburgPreußen mit dem Versuch, im Zuge der Friedensverhandlungen zur Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges die Lage der Reformierten in der Kurpfalz zu verbessern, mit deutlichem Widerstand der lutherischen Reichsstände konfrontiert sah. Seit Ende des Jahres 1711 arbeitete der Reformierte Kirchenrat in Heidelberg, unterstützt durch die brandenburg-preußischen Gesandten in Düsseldorf und Regensburg, daran, dass die Rechte der kurpfälzischen Reformierten auf den zukünftigen Friedenskongressen berücksichtigt würden. Für die Reformierten in der Kurpfalz war die Rechtslage nach wie vor unsicher, war es doch fraglich, inwieweit sich die Nachfolger Johann Wilhelms an die Religionsdeklaration gebunden sähen. Primär verlangten sowohl der Reformierte Kirchenrat wie auch BrandenburgPreußen die Wiederherstellung der Zustände von 1618. Der brandenburg-preußische Reichstagsgesandte Metternich machte dem Kirchenrat allerdings rasch deutlich, dass diese Maximalforderung politisch nicht durchsetzbar wäre; so beinhaltete der zweite, realistischere Vorschlag die Anerkennung und Garantie der Religionsdeklaration von 1705, erweitert um einzelne Bestimmungen. Die brandenburg-preußische Diplomatie suchte nun im Reich und in Europa Unterstützung für dieses 284 Struve, Bericht, S. 1148–1153; s. a. eine weitere Denkschrift der lutherischen Konsistorialräte Schlosser und Debus vom 1.8.1710, abgedruckt ebd., S. 1177–1180; sowie eine Denkschrift der beiden deputierten Pfarrer, abgedruckt ebd., S. 1201–1202; s. a. Hans, Religionsdeklaration, S. 349–350. 285 Struve, Bericht, S. 1180–1188, 1182. Eine weitere brandenburg-preußische Erklärung von 1710 ist abgedruckt ebd., S. 1202–1204; s. a. die umfangreiche Antwort der Reformierten in der Kurpfalz, abgedruckt ebd., S. 1204–1217. 286 Struve, Bericht, S. 1193–1194. 287 Vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 351. 288 Für die zahlreichen Denkschriften und sonstigen Publikationen, die von den lutherischen Pfarrern aus der Kurpfalz bis 1714 veröffentlicht wurden, s. Struve, Bericht, S. 1217–1257.
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B. Brandenburg-preußische Konfessionspolitik
Projekt. Doch lediglich die evangelischen Kantone der Schweiz bemühten sich ihrerseits um Hilfe für die Reformierten in der Pfalz. Die maßgeblichen evange lischen Reichsstände Kursachsen und Kurbraunschweig sowie Schweden wiesen das Ansinnen des in Utrecht verhandelnden Reichstagsgesandten Graf Metternich mit Verweis auf die ungeklärte Situation der Lutheraner zurück bzw. verlangten einen neuen Vergleich, der die Lutheraner in der Kurpfalz berücksichtigen sollte.289 Diesem anhand des prominenten Falles der Kurpfalz erneut deutlich zutage tretenden Dissens zwischen den beiden evangelischen Konfessionen im Reich stand eine sehr rege Tätigkeit des Corpus Evangelicorum gegenüber, das in den Friedensschlüssen die große Chance sah, die vage Zusage des Kaisers, sich für eine Revision der Rijswijker Klausel einzusetzen, endlich eingelöst zu sehen. In diesem Zusammenhang engagierte sich Brandenburg-Preußen innerhalb des Corpus Evangelicorum, daneben aber auch in der herausgehobeneren Rolle als selbstständiger Kriegsteilnehmer.290 Im Utrechter Friedensschluss zwischen Frankreich, England, den Generalstaaten und Brandenburg-Preußen wurde zwar in allgemeinen Termini für die ehemals unter französischer Besatzung stehenden bzw. zukünftig zu restituierenden Gebiete des Reichs die Wiederherstellung der kirchlichen Verhältnisse entsprechend dem Westfälischen Frieden festgelegt; jedoch hinderte dies Frankreich und den Kaiser in den nachfolgenden Verhandlungen von Rastatt bekanntlich nicht daran, in Artikel III des Friedensinstrumentes neben dem Westfälischen Frieden auch die Friedensschlüsse von Nymwegen und Rijswijk ausdrücklich zur Grundlage für die nachfolgenden Verhandlungen in Baden zu machen. Bereits durch diese Erklärung erschienen die Hoffnungen der evangelischen Reichsstände auf eine Abschaffung der Rijswijker Klausel äußerst unwahrscheinlich.291 Der für die Entwicklung des Corpus Evangelicorum nicht zu überschätzende Kampf um die Revision der Rijswijker Klausel stellte den wichtigsten Bestandteil gesamtevangelischer Politik der Jahre 1709–1714 dar. Während die Friedensgespräche im Haag bereits begonnen hatten, wechselten die beiden Corpora mehrere Erklärungen über die Frage, wie mit der Regelung der Religionsverhältnisse in den von der Rijswijker Klausel betroffenen bzw. an das Reich voraussichtlich zu restituierenden Gebieten zu verfahren und wie eine zu den zukünftigen Friedenskongressen abzusendende Reichsdeputation einzurichten wäre. Das Corpus Catholicorum präsentierte dafür mehrfach Vorschläge, welche die evangelischen Reichs-
289 Vgl. Hans, Religionsdeklaration, S. 332–335, 351–352. Zu den Ergebnissen des Friedens von Utrecht für Brandenburg-Preußen vgl. Feckl, Preußen, S. 178–197. 290 s. etwa EStC 23, S. 581–592 („Extract Königl. Preussischen Rescripti an die Chur-Brandenburgische Gesandtschafft bey dem Reichs-Tag zu Ausgspurg / de dato Berlin den 17. Junii 1714, des Königs in Franckreich Resolution wegen Abolierung der Ryßwickischen Religions-Clausul betreffend“). 291 Zu den Verhandlungen auf dem Friedenskongress in Baden vgl. ausführlich Stücheli, Friede, bes. S. 134–140.
II. Das brandenburg-preußische Engagement in der Kurpfalz bis 1715
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stände jedoch sämtlich mit Berufung auf die alleinige Gültigkeit des Westfälischen Friedens zurückwiesen.292 Wie bereits in der Frage der Reichsdeputation zur Behandlung der Religionsgravamina im Reich 1704/1705 lehnte das Corpus Evangelicorum die kuriale Vorgehensweise bei der Auswahl der jeweiligen Deputierten ab und beanspruchte stattdessen, die evangelischen Deputierten selbständig zu benennen, bestand also mithin erneut auf eine Behandlung der Deputationsfrage inter partes und modo amicabili.293 Wie bereits rund fünf Jahre zuvor erklärten die Protestanten, die Instruktion für eine Reichsdeputation müsse den Passus enthalten, dass alles sowohl im bisherigen Reichsgebiet als auch in den an das Reich zurückfallenden Gebieten dem Westfälischen Frieden gemäß einzurichten sei.294 Damit waren die Verhandlungen um die Zusammenstellung einer Reichsdeputation für die Friedenskongresse bereits praktisch gescheitert;295 dennoch wurde zwischen den beiden Corpora noch in zahlreichen Erklärungen über die Behandlung der Religionsfragen im künftigen Friedensschluss gestritten – freilich ohne dass damit eine Einigung erreicht wurde. Die evangelischen Reichsstände riskierten offenbar bewusst das Scheitern der Verhandlungen mit den katholischen Reichsständen, weil sie sich in der Religionsfrage voll und ganz auf die Seemächte verließen.296 Die brandenburg-preußische Politik verlegte sich in der Folge – als realistischeres Projekt – zunehmend auf die Durchsetzung einer Garantie für die prekären konfessionellen Verhältnisse in der Kurpfalz. Der brandenburg-preußische Gesandte in Utrecht, Ernst Eberhard von Mettternich,297 argumentierte, dass man sich in der Religionsfrage auf die Seemächte nicht verlassen sollte, da „ihre fermität so groß nicht / und Sie über den Art. IV. [des Rijswijker Friedens] wohl zu disponiren seyn würden“. Er setzte sich hingegen auf ausdrücklichen Befehl seines Königs dafür ein, „bey allhiesigen Conferenzien die Religions-Gravamina in der untern Pfaltz auf das nachdrücklichste zur Ausmachung zu recommendiren“. Metternich übergab den übrigen evangelischen Gesandten einen Entwurf, „so dem Instrumento Pacis zu inseriren were“ und in dem Friedrich I. eindeutig seine Prioritäten in Bezug auf die Re-
292 s. die zahlreichen Schreiben, Antworten und Gegenantworten der beiden Corpora aus dem Jahr 1709, abgedruckt bei Schauroth, Sammlung 3, S. 246–268. 293 s. die Auszüge der Fürstenratsprotokolle 1709/1710 bei Schauroth, Sammlung 1, S. 433–436; sowie ebd., S. 426–437 (Votum Commune vom 2.6.1710). 294 Schauroth, Sammlung 3, S. 274 (Conclusum vom 25.4.1712); s. a. die Gegenerklärung des Corpus Catholicorum: ebd., S. 274–275. Auch bei den Verhandlungen um die Wahlkapitulation Karls VI. setzten sich die evangelischen Reichsstände geschlossen für eine Abschaffung der Rijswijker Klausel ein; vgl. Granier, Reichstag, S. 244–245; Siemsen, Kurbrandenburgs Anteil, S. 51–54. 295 Für diese von den evangelischen Reichsständen bereits 1709 selbst formulierte Einschätzung s. Schauroth, Sammlung 3, S. 262–264 (Conclusum vom 12.10.1709), bes. S. 262. 296 Vgl. Granier, Reichstag, S. 298. 297 Graf Ernst Eberhard von Metternich (1691–1717) war ein Sohn des langjährigen brandenburg-preußischen Diplomaten und Reichstagsgesandten Ernst von Metternich; vgl. Stücheli, Friede, S. 83.
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B. Brandenburg-preußische Konfessionspolitik
ligionsfrage benannte: Sollte man nicht durchsetzen können, dass der Westfälische Friede oder ein den Bestimmungen von 1648 entsprechender Vergleich für die Unterpfalz im Friedensvertrag festgelegt würde, müsse der Düsseldorfer Vertrag von 1705 durch den Frieden garantiert werden, „oder aber alles müßte in statum arbitrarium verfallen / so daß man an nichts / als des Landes-Herrn Willen gebunden wäre“298 Die lutherischen Gesandten ließen sich die erste Forderung nach der Zugrundelegung des Westfälischen Friedens zwar gefallen; dass die Religionsdeklaration von 1705 für die Kurpfalz als rechtliche Grundlage der kirchlichen Verhältnisse durch den Utrechter Frieden sanktioniert werden sollte, lehnten sie aber ab. An dem vom preußischen König als Schreckensszenario beschworenen rechtlosen Zustand der Protestanten in der Kurpfalz trügen sie keine Schuld, hätte es doch immer den Ausweg gegeben, dass „die Reformirte ihren Lutherischen Mit-Brüdern / von Ihren reichlichen Revenües etwas zukommen / mithin diese Geistliche / neben ihren / leben zu lassen sich resolviren wollten“.299 Als sich in Rastatt durch die in Artikel III des Friedensvertrages erklärte Bindung an den Frieden von Rijswijk eine Bestätigung der Risjswijker Klausel abzeichnete, bemühte sich das Corpus Evangelicorum zunächst, zumindest für den Badischen Frieden eine „Erläuterung“ des fraglichen Artikels zu erreichen, „daß derselbe mit denen Art. IV. & V. des Oßnabrückischen Friedens bestehen [müsse]“,300 dass also der Rijswijker Frieden nur insoweit Berücksichtigung fände, als er die religionsrechtlichen Bestimmungen des Westfälischen Friedens nicht verletze. Obwohl auf dem Rastätter Friedenskongress der Kaiser zwar im Namen des Reiches aber ohne Auftrag durch das Reich verhandelt hatte, die Reichsstände sich in ihren Rechten übergangen fühlten und insbesondere die Protestanten von den Ergebnissen sehr enttäuscht waren, verteidigte Brandenburg-Preußen – nun unter der Regierung des neuen Königs Friedrich Wilhelms I. – das Vorgehen des Kaisers als eine für den unverzüglichen Friedensschluss notwendige Maßnahme.301 So unterstützte Friedrich Wilhelm I. auch den Plan, anstelle einer Deputation von Seiten des Reiches dem Kaiser für den folgenden Friedenskongress in Baden eine Reichsvollmacht auszustellen. Eine reichsständische Deputation komme überhaupt nur in Frage, wenn dadurch Aussicht bestünde, in der Religionsfrage etwas zu erreichen: „Sonsten aber und wenn keine hoffnung übrig ist, in dem punct der Religion etwas 298
EStC 18, S. 551–558 („Fernere Continuation Protocolli bey der Evangelischen Herren Stände zu Utrecht gehaltenen Conferenz, das Religionswesen concernierend“, Utrecht, 28.1.1713). 299 Ebd. 300 Schauroth, Sammlung 3, S. 286–287 (Pro Memoria an die kaiserliche Prinzipalkommission vom 11.4.1714), Zitat S. 287. 301 Die kurbrandenburgische Gesandtschaft auf dem Reichstag sollte „den dort anwesenden Kayserl. Ministris temoigniren, wie daß Ihr von Uns instruiret wehret, die Methode, deren Ihro Kayserl. Mt. sich hierunter gebrauchet, vor dem Reich in alle Wege agreable zu machen“; Reskript an die Reichstagsgesandtschaft, Berlin 27.3.1714, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 5.
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gedeyliches auszurichten, so würde es auch vergebens seyn, solche Deputation halber in viele kosten und disputen mit dem kayserl. hofe sich einzulassen, zumahlen sichs woll nicht der mühe verlohnet, der gleichen weitläufftigkeiten zu machen, weilen doch alles auf bloße formalitäten und ceremonien ankömmt, in der that aber alles so bleiben und gelaßen wird, wie es zu Rastadt einmahl beliebet und abgeredet worden.“302 Was die Rechte der Protestanten anginge, müsse man aber „eine glimpfliche Reservation“ in die Vollmacht integrieren.303 Friedrich Wilhelm I. befürwortete also den baldigen Abschluss des Friedens, setzte sich allerdings gleichzeitig für eine Wahrung der evangelischen Interessen ein. Doch verfolgte der junge König auch in diesem Punkt mit Rücksicht auf einen raschen Friedensschluss, den er keinesfalls gefährdet sehen wollte, gegenüber dem Kaiser eine deutlich moderatere Politik als Kurhannover.304 Die Sorge der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik konzentrierte sich auch unter der neuen Regierung erneut auf die Kurpfalz und die dortigen Reformierten: Man müsse, wenn man schon nicht den Zustand, den der Westfälische Friede für die Konfessionsverhältnisse in der Kurpfalz vorsehe, durchsetzen könnte, „doch zum wenigsten darauf bestehen, daß es bey demjenigen verbleibe, was zwischen unseres in Gott ruhenden herrn Vatters Mt. und Churpfalz anno 1705 wegen des Pfälz. Religionswesens verglichen worden“ – so der Befehl an den brandenburg-preußischen Gesandten in Baden. Die Weisung war mit dem Zusatz versehen, man möge den dortigen evangelischen Gesandten deutlich machen, „daß wir nichts unterlassen, was bey dieser Gelegenheit zum besten der Evangelischen Religion von Uns verlanget werden kann“.305 Doch wurde dieser neuerliche Vorstoß Brandenburg-Preußens im Corpus Evangelicorum seitens der Lutheraner mit dem Verweis abgebogen, „daß man die Catholische nimmer disponiren wird, zu einer solchen Instruction für den Kayser zu concurriren“.306 Eine Einigung jenseits der vielbeschworenen Abschaffung der Rijswijker Klausel war im Corpus Evangelicorum also offensichtlich nicht möglich; zu groß waren nach wie vor die Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten insbesondere hinsichtlich der Verhältnisse in der Kurpfalz. Zumindest in Berlin rechnete man auch längst nicht mehr damit, dass die Protestanten mit der Forderung nach einer Abschaffung der Rijswijker Klau 302 Reskript an die Reichstagsgesandtschaft, Berlin, 7.4.1714, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 5. 303 Reskript an die Reichstagsgesandtschaft, Berlin, 14.4.1714, ebd. 304 Kurhannover verfolgte im Corpus Evangelicorum den Plan, dem Kaiser durch eine Protestation zu bekunden, dass die Protestanten sich niemals an einen Frieden, der mit dem Westfälischen Frieden nicht übereinstimme und die Risjwijker Klausel nicht aufhebe, gebunden sähen. Die meisten evangelischen Reichsstände und vor allem Brandenburg-Preußen trugen aber große Bedenken, eine solche Protestation zu unterschreiben, aus Angst, der Krieg könne dadurch verlängert werden. Vgl. die Relationen von Metternich vom 19.8., 6.8. und 15.8.1714, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 5. 305 Reskript an die Reichstagsgesandtschaft, Berlin, 1.5.1714, GStA PK, I. HA. Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 5. 306 Relation von Ernst und Ernst Eberhard von Metternich, Augsburg, 7.6.1714, ebd.
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B. Brandenburg-preußische Konfessionspolitik
sel Erfolg haben könnten. So setzte die brandenburg-preußische Politik auch keine besonders großen Hoffnungen auf die im Corpus beschlossene gemeinsame Ins truktion der in Baden anwesenden evangelischen Gesandten.307 Tatsächlich konnten die drei vom Corpus Evangelicorum für die Badener Friedensverhandlungen beauftragten Gesandten, Kurt Hilmar von der Malsburg (Hessen-Kassel), Ludwig Wilhelm von Maskowsky (Hessen-Darmstadt) und Ernst Eberhard von Metternich (Brandenburg-Preußen / Magdeburg), im Sommer 1714 nur ernüchtert berichten, dass sie in der Materie nichts hätten erreichen können.308 Nach Beendigung der Friedensverhandlungen blieb den evangelischen Reichsständen schließlich nichts mehr übrig, als ihrem Protest der kaiserlichen Prinzipalkommission gegenüber mündlich Ausdruck zu verleihen.309 So einig sich die im Corpus Evangelicorum zusammengeschlossenen evangelischen Reichsstände waren, die durch den Rijswijker Frieden geschehene Durchbrechung der Normaljahresnorm rückgängig machen zu wollen, so sehr traten angesichts des besonders brisanten Falles der Kurpfalz die unterschiedlichen Rechtsvorstellungen (ausgehend von unterschiedlichen Interessen) zutage. Bezüglich der ersten Beobachtung, der in der Frage der Rijswijker Klausel demonstrierten Einigkeit der Protestanten, offenbart die Zeit der Friedensverhandlungen, allein was die Quantität der gemeinsamen Äußerungen betrifft, eine intensive Tätigkeit des Corpus Evangelicorum. Aber auch in qualitativer Hinsicht zeigen insbesondere die Diskussionen um die Bestellung der Reichsdeputation für die Friedensverhandlungen, dass man sich auf evangelischer Seite immer bewusster wurde, dass der Schlüssel zur Durchsetzung evangelischer Interessen in einer konsequent angewandten Verfahrensparität liegen musste.310 Die zweite Beobachtung, nämlich die anhaltenden Differenzen innerhalb des evangelischen Lagers, spiegelten sich in der Konkurrenz zwischen Kursachsen und Brandenburg-Preußen und schlugen sich in immer wiederkehrenden Versuchen der brandenburg-preußischen Gesandten nieder, das kursächsische Direktorium zu desavouieren und eigene Ansprüche auf diesen Posten zu erheben.311 Dass Kursachsen gemeinsam mit Schweden vornehmlich als Schutzpatron der Lutheraner in der Kurpfalz agierte, verschärfte den kursächsisch-brandenburgischen Gegensatz
307 So berichteten die beiden Metternichs darüber „was man in eventum den zu Baden anwesenden Ministris in Religions Sachen für commission und vollmacht gegeben: welches mehr auf verlangen einiger stände geschehen als daß großer nutzen davon zu hoffen“; Relation von Ernst und Ernst Eberhard von Metternich, Augsburg, 7.6.1714, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 5. 308 s. die gemeinsamen Relationen der evangelischen Gesandten vom 15.7.1714: Schauroth, Sammlung 3, S. 301–303; sowie vom 12.8.1714: ebd., S. 306. 309 s. ebd., S. 307–308 (Votum Commune vom 8.10.1714); ebd., S. 308 (Auszug aus dem Fürstenratsprotokoll vom 9. Oktober 1714). 310 Dies belegen im Übrigen auch die immer wieder auftauchenden Forderungen nach einem protestantischen Kon-Direktorium auf dem Reichstag; vgl. Schröcker, Ein Schönborn, S. 85–87. 311 Vgl. hierzu Vötsch, Kursachsen, S. 78–101, bes. S. 88–92.
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zusätzlich.312 Neben den Konkurrenten Kursachsen trat allerdings auch innerhalb des Corpus Evangelicorum als neue Führungsmacht zunehmend Hannover. Diese Rolle Hannovers zeichnete sich bereits im Zusammenhang der Badischen Friedensverhandlungen ab und gewann durch die Personalunion nochmals an politischem Gewicht.313 So wandten sich die Pfälzer Lutheraner mit ihren Anliegen verstärkt nach Hannover bzw. London, so dass sich dadurch auch in dieser Frage immer mehr Brandenburg-Preußen und Hannover-England gegenüberstanden.314 Im Oktober 1715 fand eine separate Konferenz des lutherischen Teils des Corpus Evangelicorum im Quartier des Hannoveraner Reichstagsgesandten und unter dessen Vorsitz statt.315 Das dort mehrheitlich beschlossene Schreiben an die brandenburg-preußische Gesandtschaft behandelte erneut die Ansprüche der kurpfälzischen Lutheraner und wurde vom Hannoveraner Gesandten übergeben.316 Der nach wie vor schwelende Streit um die Verhältnisse in der Kurpfalz musste alle Bemühungen Brandenburg-Preußens, eine Garantie der reformierten Rechte in der Kurpfalz zu erreichen, scheitern lassen. Die Isolierung der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik in diesem Punkt lässt sich bereits einige Jahre zuvor im Kontext der Gespräche über die Wahlkapitulation Karls VI. beobachten: Im Zuge der Verhandlungen im Jahr 1711 hatte Friedrich I. versucht, sowohl die Besser stellung der Reformierten in Schlesien als auch eine Bestätigung der Pfälzer Religionsdeklaration in die Wahlkapitulation einfließen zu lassen. Auch damals versagten jedoch sowohl Sachsen als auch Hannover ihre Unterstützung.317 Die erfolglosen Bemühungen der evangelischen Reichsstände um eine Revision der Rijswijker Klausel in den Friedensschlüssen von Utrecht, Baden und Rastatt verdeutlichen mithin, dass jenseits der evangelischen „Generalforderung“ nach der unbedingten und ausschließlichen Geltung des Westfälischen Friedens im protestantischen Lager noch weitgehend Uneinigkeit bestand. Brandenburg-Preußen wollte in der Kurpfalz, wenn nicht das Normaljahr 1618, so doch zumindest den katholisch-reformierten Kompromiss des Jahres 1705 durch den Frieden abgesichert sehen – für die kurpfälzischen Lutheraner hätte aber gerade dies das Ende sämtlicher
312
s. etwa Struve, Bericht, S. 1268–1270; Hans, Religionsdeklaration, S. 346–356. Zu den Bemühungen König Georgs I. um eine Revision der Rijswijker Klausel vgl. Schnath, Geschichte Hannovers 3, S. 739–740. 314 Zur Bewertung der konfessionellen Reichspolitik Kurfürst Georg Ludwigs (des späteren englischen Königs Georgs I.) im Kontext des Badischen Friedens vgl. Granier, Reichstag, S. 302–202, bes. S. 449, Anm. 809. 315 Struve, Bericht, S. 1329; vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 103. 316 Struve, Bericht, S. 1336. Das Schreiben ist abgedruckt ebd., S. 1329–1336; s. a. das Protokoll der lutherischen Konferenz ebd., S. 1336–1342. Offenbar antwortete Brandenburg-Preußen auf dieses Schreiben nicht direkt, sondern ließ den Heidelberger Reformierten Kirchenrat stattdessen eine weitere ausführliche Zurückweisung übermitteln; ebd., S. 1342–1357. 317 Vgl. Siemsen, Kurbrandenburgs Anteil, S. 49–50; zur Frage der Rijswijker Klausel in der Verhandlungen über die Wahlkapitulation 1711 vgl. ebd., S. 51–53. 313
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B. Brandenburg-preußische Konfessionspolitik
Bemühungen um Teilhabe am Kirchenbesitz bedeutet. Selbst im Falle der Durchsetzung der gesamtevangelischen Maximalforderungen: also einer Revision der Rijswijker Klausel und einer Einrichtung der kirchlichen Verhältnisse auf Grundlage des Westfälischen Friedens, hätten die Vorstellungen, was genau unter einem „Westfälischen Friedens-gemäßen Zustand“ im Falle der Kurpfalz zu verstehen sei, zwischen Lutheranern und Reformierten stark differiert. Die evangelischen Reichsstände konnten sich auch deswegen nicht auf – wie auch immer geartete – Kompromisse über die Einrichtung des Religionszustandes in den betroffenen Gebieten mit dem Corpus Catholicorum einlassen bzw. dem Kaiser Forderungen jenseits der unbedingten Geltung des Westfälischen Friedens stellen, weil man zu diesem Zeitpunkt über alle Fragen, die über den grundsätzlichen Widerstand gegen die Rijswijker Klausel hinausgingen, innerhalb des Corpus Evangelicorum selbst offensichtlich keine Verständigung erzielen konnte. Die Chance auf einen politischen Kompromiss zwischen den beiden Corpora aber war seit Utrecht endgültig vergeben, und die evangelischen Reichsstände vermochten in Anbetracht der Ergebnisse von Rastatt und Baden nur noch, die Entwicklungen protestierend zu begleiten.
III. Resümee Auf Seiten der lutherischen Reichsstände wurde das Ergebnis der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik in der Kurpfalz in Gestalt der Religions deklaration von 1705 durchweg negativ aufgenommen. In der Folge unterstützten sie daher auch die Forderungen der kurpfälzischen Lutheraner nach einem Anteil am Kirchenvermögen. Diese Ansprüche wurden allerdings von Brandenburg-Preußen, bei allem Werben für konfessionelle Toleranz zwischen den beiden evange lischen Konfessionen, konsequent zurückgewiesen. Zentral für die Argumentation der brandenburg-preußischen Politik war dabei der Verweis auf die Interpretation der Normaljahresverhältnisse in der Kurpfalz, wie sie seinerzeit der vom gesamten Corpus Evangelicorum offiziell beauftragte brandenburgisch-klevische Rat Boetzelaer in den Jahren 1699/1700 festgeschrieben hatte. Tatsächlich sollte sich diese Lesart trotz allem Widerstand, mit dem die Lutheraner dieser Interpretation mit Blick auf die konkreten Verhältnisse in der Kurpfalz begegneten, langfristig durchsetzen – und zwar auch und gerade hinsichtlich der Kurpfalz. Nichtsdestoweniger erwies sich die prononciert reformierte Schutzpolitik, die Friedrich III./I. insbesondere in der Kurpfalz betrieben hatte, als eine Belastung – sowohl für die Position Brandenburg-Preußens innerhalb des Corpus Evangelicorum als auch für die Politik des Corpus Evangelicorum insgesamt. Angesichts dieser innerevangelischen Differenzen bemühte sich Friedrich I. – gewissermaßen seine unionsfreundliche Politik flankierend –, mithilfe des Konzepts der „mutuellen Toleranz“ zu einer politischen Verständigung der über den Fall der Kurpfalz entzweiten lutherischen und reformierten Reichsstände zu gelangen. Die Charakteristik der Konfessionspolitik Friedichs III./I. auf Reichsebene: hier die Konzentration auf die Anliegen der reformierten Konfession, dort die Betonung der gemeinsamen evangelischen
III. Resümee
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Interessen und der Einsatz für ein friedliches Zusammenleben (das auf Reichsebene die Gestalt eines pragmatischen do-ut-des annehmen konnte), weisen mithin gewisse Parallelen zur brandenburg-preußischen Kirchenpolitik im Innern auf, zumal gerade die Diskussionen um eine mögliche Annäherung der evangelischen Konfessionen innerhalb Brandenburg-Preußens ja auch immer über die Grenzen des Territoriums hinweg geführt wurden. Zumindest hinsichtlich der Ablehnung, die jene Bemühungen um die Etablierung einer innerevangelischen Toleranz innerhalb Brandenburg-Preußens wie auch auf Reichsebene hervorriefen, lassen sich Ähnlichkeiten beobachten: Der Widerstand von lutherischer Seite (auf Reichsebene naturgemäß lauter artikuliert als innerhalb Brandenburg-Preußens) richtete sich nicht nur gegen eine offen reformierten-freundliche Politik der Hohenzollern; sie richtete sich fast in demselben Maße gegen das Werben Friedrichs III./I. für innerevangelische Toleranz. Diese Toleranz konnte von ihren Gegnern ohne allzu große Mühe als Deckmantel für eine reformierte Interessenpolitik dargestellt werden. Aber auch als solche waren konfessionspolitische Ziele wie „Toleranz“ oder „Kirchenfrieden“, die etwa durch Polemik-Verbote umgesetzt werden sollten, keinesfalls unumstritten; sie konnten genauso im positiven Sinne wie im diskreditierenden Sinne dargestellt und kommentiert werden – letzteres zeigt sich besonders deutlich an der Veröffentlichung des angeblichen Glaubensbekenntnisses Friedrichs III. Brandenburg-Preußen war also sowohl angesichts der hohenzollernschen Kirchenpolitik im Innern als auch und besonders angesichts der im Reich betriebenen Konfessionspolitik zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit einem politisch-konfessionellen Misstrauen seitens der lutherischen Reichsständen konfrontiert. Die Folgen dieses Misstrauens – das wiederum maßgeblich durch die brandenburg-preußische Haltung in der kurpfälzischen Konfessionsfrage geschürt worden war – kamen auch im Kontext der Friedenskongresse zum Tragen. Dort blockierten die Lutheraner erfolgreich alle Bemühungen Brandenburg-Preußens, die rechtliche Lage der Reformierten in der Kurpfalz absichern zu lassen. Den innerevangelischen Differenzen dieser Jahre stand allerdings auch eine intensive gemeinsame Politik der Protestanten gegenüber. Die Ablehnung der Rijswijker Klausel einte alle Protestanten und führte zu einer deutlichen Intensivierung der gemeinsamen Beratungen und Willensbekundungen. Zudem verweisen die vom Corpus Evangelicorum formulierten Forderungen zur Ausgestaltung von Deputationen darauf, dass die Protestanten den Wert der Verfahrensparität für ihre politische Mitwirkung klar erkannt hatten. Insgesamt verschärfte sich der Ton zwischen Katholiken und Protestanten zu Beginn des 18. Jahrhunderts deutlich, und auch die brandenburg-preußische Regierung trug zu dieser Entwicklung durch eine öffentlichkeitswirksame anti-katholische Konfessionspolitik bei. Eine ähnliche Verschärfung des Klimas lässt sich im Übrigen auch hinsichtlich der konfessionspolitischen Beziehungen in den zwischen Pfalz-Neuburg und Brandenburg geteilten niederrheinisch-westfälischen Herzogtümern konstatieren. Ab 1708 und deutlicher noch ab 1712 scheinen sich auch dort die Verhältnisse zwischen den beiden Landesherren resp. konfessionellen
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B. Brandenburg-preußische Konfessionspolitik
Schutzherren verschlechtert zu haben.318 In Jülich-Kleve wie im ganzen Reich sollte sich diese Tendenz nach Beendigung des Krieges und angesichts der erneuten Bestätigung der Rijswijker Klausel durch die Friedensverträge nochmals deutlich steigern.
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Vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 154–167. Zu Webers Erklärung für diese Entwicklungen (S. 144–145, bes. Anm. 506) sei angemerkt, dass für den offenbar auf beiden Seiten seit 1708 deutlich nachlassenden Willen zur politischen Kompromissfindung der Verlauf des Spanischen Erbfolgekrieges zumindest insoweit von Bedeutung war, als Johann Wilhelm nach langen Verhandlungen schließlich im Juni 1708 mit der Oberpfalz belehnt wurde und er damit eines seiner wichtigsten (reichs-)politischen Ziele erreicht hatte. Mit Rücksicht auf dieses politische Ziel, das ja auch für die konfessionspolitischen Verhandlungen zwischen Bran denburg-Preußen und Pfalz-Neuburg über die kurpfälzischen Religionsverhältnisse von größter Bedeutung gewesen war, hatte Johann Wilhelm bis Mitte 1708 vermutlich auch wenig Interesse an einer deutlichen Verschlechterung der Beziehungen zu Friedrich I. mit Blick auf die Verhältnisse am Niederrhein. Umgekehrt mag die Tatsache, dass nach 1708 diese „Verhandlungsmasse“ zwischen Friedrich I. und Johann Wilhelm nicht mehr bestand, dazu beigetragen haben, dass beide Seiten – noch dazu vor dem Hintergrund einer sich immer deutlicher abzeichnenden allgemeinen konfessionellen Krisenstimmung im Reich – auch am Niederrhein in konfessionspolitischer Hinsicht mehr auf Konfrontationskurs gingen.
C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung und Konfessionskonflikt Von der Forschung wie auch auf den vorangegangenen Seiten dieser Arbeit wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass dem seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert wachsenden konfessionellen Gegeneinander in der Reichspolitik ein grundsätzlicher Antagonismus zugrunde lag: zwischen einer katholisch-kaiser lich-monarchischen Interpretation des Reiches, der im Zuge der Reichspolitik Josephs I. und Karls VI. neues Leben eingehaucht worden war, und der stärker föderativen Interpretation der Reichsverfassung jener mittelmächtigen Reichsstände, die das territoriale, die Landesherrschaft stärkende Programm des Westfälischen Friedens im Sinne der territorialen Staatsbildung ausfüllen konnten – und die in der Mehrheit evangelisch waren.1 Für diese Gruppe von Reichsständen sollte sich im 18. Jahrhundert das konfessionelle Argument aufgrund der spezifischen Ausformung der nachwestfälischen Reichsverfassung als Hebel erweisen, um gegen das katholisch-kaiserliche Verfassungsbild zu opponieren. Denn diese Reichsstände hatten zwar im Sinne der territorialen Staatsbildung vom Westfälischen Frieden profitiert, gleichzeitig führte ihre zunehmende territoriale Macht aber dazu, dass die Spannung zwischen „verfassungspolitische[r] Machtverteilung und reale[r] politische[r] Macht“ im Rahmen des politischen Systems des Reichs weiter anwuchs.2 Zum einen entsprachen die im Rahmen der Reichsverfassung zur Verfügung stehenden (legalen) politischen Gestaltungsmöglichkeiten häufig nicht mehr der Machtstellung jener Territorien. Zum anderen aber stellte die Reichsjustiz und damit auch der Kaiser in seiner Funktion als oberster Richter im Reich gerade für die mächtigeren Territorien des Reiches ein „wesentlich negatives Moment“3 der eigenen, innerstaatlichen Entwicklung dar. Eine Beschneidung des wichtigsten Instruments kaiserlicher Reichspolitik nach 1648, nämlich des (schieds-)richterlichen Amtes und der damit verbundenen zahlreichen Gestaltungs- und Interventionsmöglichkeiten des Kaisers, bot für die mächtigen evangelischen Reichsstände mithin nicht nur die Chance, die kaiserliche Dominanz auf der Ebene der Reichspolitik zurückzudrängen und damit die eigenen Mitsprachemöglichkeiten zu stärken, sondern auch eine Möglichkeit, das Ausgreifen der Reichsjustiz auf die eigenen Territorien einzudämmen.
1
Vgl. Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 453; dies., Corpus Evangelicorum, S. 193–194, aufbauend auf Schindling, Der Westfälische Frieden. 2 Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 488. 3 Smend, Brandenburg-Preußen, S. 196.
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C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung
Als ein, wenn nicht der „paradigmatische[r] Fall frühmoderner Staatsbildung“ seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts galt (und gilt) fraglos Brandenburg-Preußen.4 Das lange Zeit vornehmlich durch die borussische Geschichtsschreibung geprägte Bild des „deutschen Musterstaates“ hat bekanntermaßen dazu geführt, dass im 19. und frühen 20. Jahrhundert von der Geschichtswissenschaft die vielfältigen Verankerungen brandenburg-preußischer Politik im Reichssystem weitgehend ausgeblendet wurden – und dass später wiederum, im Zuge der „Neuentdeckung“ des Alten Reiches, Brandenburg-Preußen gerade nicht in den Fokus der Reichshistoriographie rückte oder aber häufig unter geradezu umgekehrten Vorzeichen behandelt wurde.5 Der oben beschriebene Antagonismus, den die borussische Geschichtsschreibung freilich bereits für das späte 17. und frühe 18. Jahrhundert einseitig zugunsten des Siegeszuges preußischer Staatswerdung ausgelegt hat, lässt es aber gerade angesichts der neuen Forschungen und Interpretationen zum nachwestfälischen Alten Reich grundsätzlich als lohnend erscheinen, dem Verhältnis Brandenburg-Preußens zum Reichsverband mehr Interesse entgegenzubringen. Eine Betrachtung der Beziehungen Brandenburg-Preußens zum Reich, genauer: zum neuralgischen Punkt der höchsten Jurisdiktion des Reiches bzw. des kaiserlichen oberstrichterlichen Amtes, liegt insbesondere mit Blick auf die Ergebnisse der neueren Forschung zur gesamtevangelischen Reichspolitik im 18. Jahrhundert nahe: Erstens mussten die konfessionelle Zusammenarbeit im Corpus Evangelicorum und die damit einhergehende Möglichkeit einer Beschneidung der kaiserlichen oberstrichterlichen Gewalt im Reich gerade für jene Reichsstände attraktiv erscheinen, die nicht mehr von der Schutzfunktion des Kaisers profitierten,6 sondern vielmehr möglichst sämtliche Eingriffsmöglichkeiten des Reiches in die eigenen, quasi-souveränen Territorien ausschließen wollten – und zu dieser Gruppe von Reichsständen gehörte zweifellos Brandenburg-Preußen. Zweitens war die Präsenz des Corpus Evangelicorum im gesamten 18. Jahrhundert stark von politischen Konstellationen abhängig. Diese wiederum wurden bestimmt sowohl durch die innen- und außenpolitische Situation des Reiches insgesamt als auch durch die jeweilige reichspolitische Interessenlage der maßgeblichen evangelischen Reichsstände. Ausgehend von diesen Beobachtungen soll der beschriebenen Verdichtung und Vereinheitlichung der juristisch-politischen Argumentation des Corpus Evange licorum in den frühen Jahren des 18. Jahrhunderts im Folgenden eine Untersuchung der politischen Konstellation auf der Ebene des Territoriums an die Seite gestellt werden. Konkret soll also die Frage nach dem Verhältnis der brandenburg-preußischen Reichspolitik zum oberstrichterlichen Amt des Kaisers betrachtet werden, wie es sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts darstellte – zu der Zeit also, in der die 4
Reinhard, Frühmoderner Staat, S. 352–353. So etwa bei Schmidt, Vernetzte Staatlichkeit, S. 546: Während es der Reichsverfassung erfolgreich gelungen sei, das Reich von der Beherrschung durch eine fremde Macht aber auch durch das Kaisertum zu schützen, „trieb der [sic!] Souveränitätsvirus gepaart mit dem deutschen Dualismus den Reichs-Staat auseinander.“ 6 Vgl. Haug-Moritz, Des „Kaysers rechter Arm“, S. 32. 5
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gesamtevangelische Politik sich zu konstituieren begann und sich einheitliche konfessionelle Argumentationsmuster in der Reichspolitik erkennen lassen. Eine solche Perspektive, wie sie durch die Frage nach den konkreten Interessen Brandenburg-Preußens in der Kurpfalz bereits in den vorhergehenden Kapiteln dieser Arbeit eingenommen wurde (dort mit Blick auf die konfessionelle Ausrichtung der hohenzollernschen Politik), steht gewissermaßen quer zu dem Bild des Corpus, das es selbst durch seine Verlautbarungen geschaffen hat: nämlich dem Bild einer abstrakten, anonymen und homogenen Institution. Auch die zahlreichen und großenteils älteren Forschungen aus dem Umfeld der Verfassungs- und Rechtsgeschichte legen tendenziell mehr Gewicht auf die Stellung und Funktionsweise des Corpus Evangelicorum innerhalb des Verfassungsgefüges des Alten Reiches als auf das Verhältnis der einzelnen Mitglieder zur gesamtevangelischen Politik bzw. auf das Zusammenwirken von einzelnen reichsständischen Interessen und der Entwicklung und Anwendung der Principia evangelicorum. So standen bislang, vor allem in der Rechtsgeschichte, das voll entwickelte Gedankengebäude der evangelischen Verfassungsinterpretation und seine Wirkung im Verfassungssystem des Alten Reiches im Mittelpunkt.7 Die skizzierte Sichtweise hat ihren Grund nicht zuletzt in der Überlieferung der protestantischen Rechtsauffassungen, die durch die zeitgenössische Reichspublizistik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammengetragen und in eine geschlossene Systematik überführt wurden, wodurch auch hier der Eindruck der rechtlich-theoretischen wie institutionellen Einheit transportiert wird. Der Frage, wie sich eben diese vom Corpus vertretenen rechtlichen Prinzipien im Rahmen des politischen Alltagsgeschäftes entwickelten, wurde daher bislang kaum Aufmerksamkeit zuteil, ebenso wenig wie der Rolle einzelner Akteure resp. Reichsstände innerhalb dieses dynamischen Prozesses, der sich mindestens über die ersten zwanzig Jahre des 18. Jahrhunderts erstreckte. Um sich der Frage anzunähern, wie sich eine einheitlich agierende protestantische „Partei“ etablieren und institutionalisieren konnte, ist es notwendig, neben den Entwicklungen auf der Ebene des Reiches auch die politischen Rahmenbedingungen zu beachten, in denen die einzelnen Reichsstände agierten – im Falle der vorliegenden Untersuchung also diejenigen Brandenburg-Preußens. Daher wird im Folgenden zunächst, wie bereits in Kapitel B mit Blick auf die Konflikte in der Kurpfalz geschehen, die Entwicklung der evangelischen Verfassungslehre an ausgewählten Fallbeispielen bis zum Jahr 1715 nachverfolgt. Dabei stehen mehrere Verfahren im Zentrum, in denen das Corpus Evangelicorum die Zuständigkeit der Reichsgerichtsbarkeit bestritt und die als Präzedenzfälle eine besondere Bedeutung für die systematische Ausgestaltung des protestantischen Verfassungsbildes resp. der Principia evangelicorum besaßen. Daneben sollen das Verhältnis Brandenburg-Preußens zum Reichshofrat betrachtet und einige 7
Vgl. etwa Heckel, Parität; Schlaich, Majoritas; Wolff, Corpus Evangelicorum; Belstler, Corpus Evangelicorum.
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jener politisch brisanten Verfahren genauer untersucht werden, in denen die preußischen Könige von anderen Reichsständen beklagt wurden und die vom Reichshofrat nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieg deutlich intensiver behandelt wurden als zuvor.
I. Die Entwicklung des Corpus Evangelicorum und seiner Principiabis 1715 Die Bestätigung der Rijswijker Klausel durch den Badischen Frieden fiel zusammen mit einer Intensivierung der kaiserlichen Reichspolitik, die bereits in der Regierungszeit Josephs I. begonnen und sich mit dem Regierungsantritt Karls VI. nochmals verstärkt hatte.8 Durch die Verleihung der Kurwürde an das Haus Hannover hatte die kaiserliche Reichspolitik – zumindest für einige Jahre – im Norden des Reiches einen starken Partner gefunden, und 1714 eröffneten sich mit dem Erwerb der Spanischen Niederlande neue Möglichkeiten der traditionellen kaiserlichen Klientelpolitik in Nordwestdeutschland – beide Entwicklungen trugen zu einer stärkeren Präsenz des Kaisers im tendenziell eher „kaiserfernen“ norddeutschen Raum bei.9 Für die Reichsstände stand neben der Erfahrung, dass der Kaiser zunehmend stärker in das Reich „hineinregierte“ und seinen Einflussbereich deutlich ausdehnte, die Erkenntnis, dass in entscheidenden Situationen des Spanischen Erbfolgekrieges und vor allem bei den Friedensschlüssen für Karl VI. die Belange des Reiches offensichtlich hinter jenen des Hauses Österreich rangiert hatten.10 Auf den Friedenskongressen von Rastatt und Baden hatten die Reichsstände erlebt, dass Karl VI. sein Amt in dezidiert monarchischer Weise interpretierte, indem er dem Reich nur minimale Mitsprachemöglichkeiten einräumte. Die Erfahrung, wie in Baden ständische Rechte und Forderungen durch den Kaiser übergangen worden waren, war besonders für den evangelischen Teil des Reiches angesichts der konfessionspolitischen Folgen der Friedensschlüsse einschneidend und trug erheblich zur Verschärfung des politischen Tones zwischen katholischem und protestantischem Reichsteil, wie er sich spätestens ab 1712 deutlich abzeichnete, bei. Insbesondere der Reichshofrat wurde unter Karl VI. zu einem wichtigen, wenn nicht zu dem wichtigsten Instrument der kaiserlichen Reichspolitik.11 Ende des Jahres 1714 gab der brandenburg-preußische Reichshofratsagent Gottfried Mörlin aus 8 Dies sei mit Blick auf die erste Phase der Regierungszeit Karls VI. gegenüber Press, Kaiserliche Stellung, S. 76–77, betont, der die Krise der kaiserlichen Reichspolitik bereits mit dem Regierungsantritt Karls VI. einsetzen sieht. 9 Vgl. ebd., bes. S. 74–76; zu Hannover als „Juniorpartner“ der kaiserlichen Reichspolitik im Norden vgl. ders., Kurhannover; für die kaiserliche Reichspolitik im Norden des Reiches am Beispiel des Mecklenburgischen Ständekonflikts vgl. Jahns, „Mecklenburgisches Wesen“. 10 Vgl. auch zum Folgenden Kap. B. II. 2. g). 11 Zur Bedeutung des Reichshofrats für die kaiserliche Reichspolitik vgl. Hughes, Imperial Aulic Council; sowie, mit Überblick zur Forschungslage, Haug-Moritz, Des „Kaysers rechter Arm“.
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Wien anlässlich der Introduktion des Grafen Windischgrätz zum neuen Reichshofratspräsidenten eine allgemeine Einschätzung zum neu berufenen Reichshofratskollegiums ab, die den Bedeutungszuwachs des kaiserlichen Gerichts charakterisiert: Der neue Präsident sei „ein starcker Verfechter der Kayserlichen Hoheit und hatt im Reich keine jura zu verlieren; es bestehet auch nunmehro das gantze Reichshoffraths Collegium aus solchen Männern, welche die Reservata caesarea überaus weit extendiren.“ Auch habe man den Reichshofräten bedeutet, „Ihrer Kayserl. Mt. beständiger vorsatz bleibe dieser, in dem kayserlichen Amte nicht das mindeste zu verabsäumen“ – eine Priorität, so der brandenburg-preußische Geheime Rat, zu der auch „Ihre Kayserl. Mt. von selbst geneigt sind“.12 Durch die Visitation und den dadurch bedingten jahrelangen Stillstand des Reichskammergerichtes hatte der Reichshofrat einen Bedeutungszuwachs erfahren und zu einer stärkeren Präsenz des Kaisers im Reich beigetragen.13 Bereits in den Auseinandersetzungen, die schließlich zur Visitation des Reichskammergerichts (1707–1713) führen sollten, hatte der Kaiser gegenüber den Reichsständen und insbesondere gegenüber dem Mainzer Erzkanzler eine entschiedene Politik vertreten, die vielfach als unzumutbare kaiserliche Dominanz über das ständische Gericht wahrgenommen wurde.14 Der offen ausgetragene ständisch-kaiserliche Gegensatz15 wurde allerdings teilweise durch den konfessionellen Antagonismus überlagert und steigerte sich wiederum nochmals durch die erwähnte Anhäufung der Prozesse am Reichshofrat, der evangelischerseits grundsätzlich der konfessionellen Parteilichkeit verdächtigt wurde.16 Wenn nicht ausschließlich, so doch primär von protestantischer Seite wurden daher auch in Regensburg immer zahlreichere Beschwerden gegen die reichshofrätliche Justiz laut, die sich nicht zuletzt in einer
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Relation von Mörlin, Wien, 17.1.1713, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 21. Vgl. Granier, Reichstag, S. 111–117; hier auch zum so genannten Münsteraner Erbmännerprozess, der in der Literatur vielfach als Beispiel für die starke kaiserliche Stellung im Reich im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts angeführt wird; s. a. etwa Aretin, Reich 2, S 177–178; Smend, Reichskammergericht, S. 224–225. 14 Vgl. detailliert Granier, Reichstag, S. 64–79. Zur wechselhaften brandenburg-preußischen Politik in der Frage der Reichskammergerichtsvisitation vgl. ebd., S. 66–70; Smend, Reichskammergericht, S. 222–224; ders., Brandenburg-Preußen, S. 192–194; Jahns, Brandenburg-Preußen, S. 179–181. Brandenburg-Preußen stellte sich nach einer ersten Phase der Opposition eindeutig auf die Seite des Kaisers und unterstützte in der Folge aber nachdrücklich die Partei der Befürworter einer Visitation – nicht zuletzt um die Appellationen an das Reichskammergericht zu unterbinden bzw. um das eigene Oberappellationsgericht zu fördern. Vgl. hierzu auch weiter unten in diesem Kapitel (C. II.). 15 Dieser Konflikt zwischen ständischer und kaiserlicher Einflussnahme auf das Gericht war allerdings primär ein Gegensatz zwischen dem Mainzer Erzkanzler und dem Kaiser; vgl. Schröcker, Ein Schönborn, S. 103–109. 16 So offenbarten sich beispielsweise an der Frage, wie die Visitationsdeputation eingerichtet werden sollte, auf dem Reichstag erneut die unterschiedlichen Vorstellungen von Katholiken und Protestanten; vgl. Granier, Reichstag, S. 70–72. Zu den im Zusammenhang der Visitation vom Corpus Evangelicorum vorgetragenen grundsätzlichen Monita vgl. ebd., S. 280–281. 13
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steigenden Zahl von Rekursen an den Reichstag manifestierten und damit die kaiserliche Gerichtsbarkeit grundsätzlich in Frage stellten.17 Nach Johann Jakob Moser ist von einem Rekurs an den Reichstag zu sprechen, „wann ein Stand des Reichs oder andere Parthei an einem höchsten Reichs-Gericht einen Process hat, und vermeynet Ursach zu haben, sich über das Verfahren oder den Spruch solches Reichs-Gerichts zu beschweren“.18 Moser macht dabei vier verschiedene „Klassen“ von Rekursen aus, unterschieden nach der jeweiligen Begründung. Die erste und für die Entwicklung der evangelischen Verfassungslehre entscheidende Gruppe von Rekursen beinhaltet solche, bei denen „die klagende Parthei das höchste Reichsgericht gar nicht für ihren Richter in der strittigen Sache erkennen [will]“ (Hervorhebung: R. W.).19 Betrachtet man Mosers eigene Aufzählung von Rekursen dieser Art, so fällt in der Tat für das 18. Jahrhundert folgendes auf: Erstens richteten sich diese Rekurse in der ganz überwiegenden Zahl gegen den Reichshofrat; zweitens war es in der großen Mehrzahl der Fälle das Corpus Evangelicorum, das die Rekurse am Reichstag vertrat und also dem Reichshofrat bzw. dem Reichskammergericht die Zuständigkeit absprach – zum ersten Mal explizit im Jahr 1708.20 Besonders heftige Reaktionen aber rief ausgerechnet ein Rekurs gegen das – gerade eben erst wieder arbeitende – Reichskammergericht hervor, der im Zusammenhang mit der Visitation desselben vom Corpus Evangelicorum geführt wurde: Es handelte sich um einen Prozess zwischen einem lutherischen Pfarrer, Egidius Günther Hellmund, und dem Magistrat der Stadt Wetzlar. Der Wetzlarer Magistrat hatte den Pfarrer abgesetzt, nachdem dieser trotz entsprechender Verweise private Betstunden, sogenannte Konventikel, abgehalten hatte. Hellmund hatte sich gegen die Absetzung mit einer Nullitätsklage an das Reichskammergericht gewandt, das die Klage auch annahm.21 Mit dem Argument der Aequalitas exacta mutuaque
17 Zur Problematik der Rekurse vgl. Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 472–473, die sich wiederum auf Moser, Reichstagsgeschäfte 1, bezieht. Zur Bedeutung des Reichshofrats für die kaiserliche Reichspolitik allgemein vgl. Haug-Moritz., Des „Kaysers rechter Arm“. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Versuche verwiesen, die Beschwerden gegen den Reichshofrat im Rahmen der Verhandlungen zur Wahl Karls VI. zu beheben; vgl. hierzu: Abschrift einer Relation vom Wahltag, Frankfurt am Main, 5.10.1711, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 62; Denkschrift zur Verbesserung der Reichshofratsordnung, Frankfurt am Main, 23.10.1711, ebd. 18 Moser, Historisch- und Rechtliche Betrachtung, S. 15. 19 Ebd., S. 16. 20 Als ersten Rekurs, in dem das Corpus Evangelicorum die Zuständigkeit der kaiserlichen Gerichtsbarkeit in geistlichen Streitigkeiten der Protestanten grundsätzlich anzweifelte, nennt Moser den Prozess der Konventualinnen des Klosters Lemgo gegen den Grafen von Lippe, in dessen Verlauf sich der beklagte Graf 1708 an das Corpus Evangelicorum wandte: Moser, Historisch- und Rechtliche Betrachtung, S. 56–57; s. hierzu auch Schauroth, Sammlung 2, S. 100–105 (Vorstellungsschreiben vom 16.10.1708). 21 Der Fall wird ausführlich geschildert in: EStC 26, S. 2–300; EStC 27, S. 1–134; s. a. Pütter, Historische Entwickelung 2, S. 420–422.
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wiesen die evangelischen Visitatoren (basierend auf einem Conclusum des Corpus Evangelicorum) dagegen am 19. Dezember 1713 – also noch vor dem abschließenden Visitationsrezess – den evangelischen Präsidenten und die evangelischen Asssesoren an, geistliche Streitfälle von Protestanten nicht mehr anzunehmen, auch nicht unter dem „Vorwand“ von Nullitäten.22 An diesem Präzedenzfall23 entspann sich in der Folge die Diskussion zwischen Kaiser bzw. Reichshofrat, Reichskammergerichtspersonal und Corpus Evange licorum, inwieweit in geistlichen Streitigkeiten unter Protestanten (worunter vermutlich Ehesachen den größten Teil ausmachten)24 die höchsten Reichsgerichte zuständig seien.25 Zwar wurde im „Fall Hellmund“ explizit nur das Reichskammergericht genannt, implizit aber richtete sich die Argumentation selbstverständlich auch gegen den Reichshofrat.26 In einem parallelen Fall, der als Rekurs vor den Reichstag gebracht worden war, hatte bereits 1708 das Corpus Evangelicorum gegen die Zuständigkeit des Reichshofrats in geistlichen Streitfällen des evangelischen Kirchenrechts mit Verweis auf Art. V § 48 IPO argumentiert, „allwo disponirt wird, quod Jus dioecesanum & tota Jurisdictio Ecclesiastica intra terminos territorii cujusque se contineat …“.27 Sowohl die Argumentation mit der Suspendierung bzw. Übertragung der Diözesanrechte auf die evangelischen Reichsstände als auch die
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Schauroth, Sammlung 1, S. 285–286 (Conclusum vom 19.12.1713). Die Argumentation mit der in Art. V § 1 IPO festgelegten Aequalitas exacta mutuaque bezog sich auf die Nichtzuständigkeit der Reichsgerichte für geistliche Streitsachen der Katholiken. Die evangelische Argumentation findet sich zusammengefasst bei Pütter, Historische Entwickelung 2, S. 422–437, der ebenfalls die Zuständigkeit der Reichsgerichte auch bei Nullitätsklagen klar verneint. Im weiteren Verlauf des Streites bemühte sich der Landgraf von Hessen-Darmstadt um einen Vergleich zwischen dem Wetzlarer Rat und dem klagenden Pfarrer; s. a. EStC 26, S. 44–46; EStC 27, S. 105–128; vgl. dazu auch Kap. E. II. 5. b). 23 Dieselbe Argumentation findet sich im Folgejahr im Zusammenhang eines Rekurses, den Braunschweig-Wolfenbüttel gegen die Annahme einer Appellation einreichte, die das Wolfenbütteler Konsistorium am Reichshofrat in der Frage einer strittigen Pfarrbesoldung angestrengt hatte. Auch hier wandte sich der Wolfenbütteler Reichstagsgesandte direkt an das Corpus Evangelicorum; Moser, Historisch- und Rechtliche Betrachtung, S. 61–62; Schauroth, Sammlung 1, S. 135–136 (Vorstellungsschreiben vom 1.12.1714). 24 Vgl. zur Diskussion über die Zuständigkeit bei Streitigkeiten über gemischtkonfessionelle Ehen: Freist, Glaube – Liebe – Zwietracht. 25 Die Diskussion über die Zuständigkeit der höchsten Reichsgerichtsbarkeit bezog sich dabei ausschließlich auf Fragen der landesherrlichen Jura circa sacra, also Fragen der äußeren Verfasstheit der Kirchen. Freilich war die Grenze zwischen den landesherrlichen Jura circa sacra und der inneren Kirchengewalt, der Jura in sacra, im gesamten 18. Jahrhundert stark umstritten. 26 Auf den Prozess des Pfarrers Hellmund wurde noch im Religionsstreit ab 1719 vom Corpus Evangelicorum wie auch von der kaiserlichen Seite rekurriert, wenn es um die grundsätzliche Frage nach der Zuständigkeit der höchsten Gerichtsbarkeit in geistlichen Streitigkeiten ging; s. Schauroth, Sammlung 1, S. 286–292 (Vorstellungsschreiben an den Kaiser vom 22.5.1720); sowie HHStA, RK, Religionsakten 37 (darin mehrere RHR-Gutachten bzw. Denkschriften aus dem Jahr 1720); s. a. Kap. E. II. 5. b). 27 Schauroth, Sammlung 2, S. 100–103 (Vorstellungsschreiben an den Grafen von der Lippe vom 16.10.1708).
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Betonung des Aequalitas-Grundsatzes erfuhren in den Folgejahren eine systematische Vertiefung in den vom Corpus Evangelicorum vertretenen Rechtsauffassungen. Die „causa Hellmundiana“ verband sich zudem mit der nicht weniger heiklen Frage nach der rechtlichen Verbindlichkeit des Badischen Friedens, genauer: der darin bestätigten Rijswijker Klausel für die Rechtsprechung des Reichskammergerichts.28 Auch in dieser Angelegenheit wandte sich das Corpus Evangelicorum im Februar 1715 mit einem Schreiben an das evangelische Personal des Reichskammgerichts und ermahnte alle evangelischen Beisitzer sowie den evangelischen Reichskammgerichtspräsidenten einerseits in harschen Worten, der Entscheidung des Corpus vom Dezember 1713 zu folgen, zum anderen aber, bezüglich des Badischen Friedens, „auf solche einseitig verfaßte- wider den Westphälischen Frieden-Schluß lauffende Clausul umso weniger in judicando einige Reflexion zu machen“.29 Dahinter stand die unter den evangelischen Reichsständen geäußerte Sorge, „dass des kayserlichen Hofes und der gantzen catholischen parthey im Reich absehen ist, die bekandte Ryswickische Religions Clausul je länger je mehr zu canonisieren“,30 anstatt, wie die Protestanten es forderten, die Frage der Rechtmäßigkeit der Klausel auf dem Reichstag zu verhandeln – und sie so lange eben nicht als geltendes Recht anzuerkennen. In Wien wurde man von den Entwicklungen am Reichskammergericht durch den katholischen Präsidenten des Gerichts, Franz Adolf von Ingelheim, informiert. Daraufhin erklärte der Kaiser 1714 das evangelische Conclusum vom Dezember 1713 für null und nichtig und ermahnte das Reichskammergericht zu „weiterer Einigkeit und gleicher Justizertheilung“.31 In Wetzlar wie in Wien sah man gleichermaßen die Gefahr, „dass man in E. Kaiserl. Mt. allerhöchsten Nahmen bey hiesiger dero cammer führendes votum decisivum zu restringuiren [versuche]“.32 Diese Gefahr wurde bald auch von Ingelheim klar benannt, dessen Berichten zufolge bereits einige Klagen aufgrund der protestantischen Lehrsätze abgeschlagen worden seien – vermutlich, so Ingelheim, weil die evangelischen Assessoren durch die harschen Anweisungen aus Regensburg völlig „abgeschreckt und intimidiret worden“.33 In der Tat wandten sich drei der evangelischen Gerichtsassessoren, Johann 28
Relation von Metternich, Regensburg, 4.12.1714, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 5: Die evangelischen Reichstagsgesandten hätten bei ihren Höfen um Instruktion gebeten, nachdem die evangelischen Assessoren sich an das Corpus Evangelicorum gewandt und berichtet hätten, „was für unterschidliche Meinungen man alldort bey dem Cammergericht, wegen des verstandes und der application der Ryswickischen Religions Clausul habe, und zu wissen verlanget, an was für norma sich die Ev. Assesores ad interim und bis dieser punct verglichen, in votando zu halten …“. 29 Schauroth, Sammlung 1, S. 764–766 (Schreiben an die evangelischen Assessoren und den evangelischen Präsidenten des Reichskammergerichts vom 14.2.1715). 30 Reskript an Metternich, Lager bei Stettin, 20.5.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 5. 31 Reichshofratsgutachten, 6.7.1714, HHStA, RK, Religionsakten 37. 32 Ebd. 33 Bericht von Ingelheim, Wetzlar, 22.1.1714, ebd.
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von Frantz, Friedrich Schrag und Philipp Helfried von Krebs,34 wiederholt an das Corpus Evangelicorum bzw. an die evangelischen Subdelegierten der Visitationskommission, um sich Instruktionen sowohl im Fall Hellmund als auch bezüglich des Umgangs mit der Rijswijker Klausel zu erbitten.35 Der entscheidende Punkt für die Katholiken und vor allem für den Kaiser aber war, dass seitens des Corpus Evangelicorum und der evangelischen Visitatoren dem „gemachten einseithigen conclusi […] vis authoritativa wolle beygelegt [werden]“,36 dass also die im Corpus vereinigten evangelischen Reichsstände sich anmaßten, sowohl das evangelische Personal des Reichskammergerichts als auch die evange lischen Delegierten der Visitationsdeputation direkt zu instruieren. Systematisch analysierte der Reichshofrat dieses Problem zwar erst einige Jahre später, im Kontext des Religionsstreits ab 1719.37 Tatsächlich wurde aber schon im Zusammenhang der Reichskammergerichtsvisitation die grundsätzliche Frage virulent, ob ein korporativer Zusammenschluss von Reichsständen „cum vi autoritativa“ die Reichsverfassung interpretieren dürfe. In dieser Frage schwingt bereits die Pro blematik mit, inwieweit der Zusammenschluss aller evangelischen Reichsstände im Sinne eines Corpus politicum als legitim zu erachten sei.38 Anders als gegenüber dem Reichshofrat konnte sich das Corpus Evangelicorum im Falle des Reichskammergerichtes gleichwohl neben der spezifisch evangelischen Auslegung des Reichsreligionsrechtes zusätzlich noch auf traditionelle Argumente berufen, indem es seine Einflussnahme als Bestandteil der – unbestreitbaren – ständischen Mit wirkungsrechte zu legitimieren suchte.39
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Johann von Frantz war 1713–1740 evangelischer Assessor des Fränkischen Kreises, hatte zuvor lange in hessen-kasselischen Diensten sowie als Hofrat bzw. Geheimer Rat in markgräflich brandenburg-bayreuthischen Diensten gestanden, von wo aus er 1707–1713 als Subdelegierter für die Visitation des Reichskammergerichts abgeordnet wurde. In dieser Funktion galt Frantz offenbar wegen der engen familiären Verbindung zwischen Brandenburg-Bayreuth und Brandenburg-Preußen (Markgraf Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth heiratete in dritter Ehe eine Stiefschwester König Friedrichs I.) als Verfechter brandenburgisch-preußischer Interessen; vgl. Dotzauer, Reichkreise, S. 612; Jahns, Reichskammergericht 2, S. 639–646; Smend, Reichskammergericht, S. 291–292. Friedrich Schrag war 1699–1718 evangelischer Assessor des Schwäbischen Kreises; vgl. Dotzauer, Reichskreise, S. 612; Jahns, Reichskammergericht 2, S. 998, Anm. 6. Philipp Helfried von Krebs war 1702–1723 Assessor des Niedersächsischen Kreises, präsentiert von Bremen; vgl. Dotzauer, Reichskreise, S. 614; Jahns, Reichskammergericht 2, S. 1358. 35 s. diverse Schreiben in: EStC 27, S. 1–126. 36 Bericht von Ingelheim, Wetzlar, 5.2.1717, HHStA, RK, Religionsakten 37. 37 Vgl. Haug-Moritz, Des „Kaysers rechter Arm“, bes. S. 33–34. 38 Ausführlich zu dieser Problematik: dies., Corpus Evangelicorum, S. 197–201. 39 So betonte die brandenburg-preußische Reichspolitik in diesem Punkt immer wieder, dass es sich beim Reichskammergericht immer noch um ein ständisches Gericht handele und man in Regensburg streng darauf achten solle, „die jura der Reichsstände und in specie der Evange lischen bey dieser sache bestens zu beachten“. Reskript an Metternich, Feldlager vor Stralsund, 23.7.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 5.
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Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts war von den Protestanten die Kompetenz der höchsten Reichsgerichte in geistlichen Streitfällen grundsätzlich nicht in Frage gestellt worden.40 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts und in Folge der Reichskammergerichtsklage des Pfarrers Hellmund entwickelten sowohl die Protestanten als auch der Reichshofrat Begründungen gegen bzw. für die Zuständigkeit der höchsten Reichsgerichte in geistlichen Streitigkeiten zwischen evangelischen Parteien. Und beide Seiten bauten diese Argumente im Laufe der Jahre zu geschlossenen theoretischen Gedankengebäuden aus: Wo sich das Corpus Evangelicorum auf die Aequalitas zwischen den Konfessionen bzw. die völlige Suspendierung der Diözesangerichtsbarkeit durch den Westfälischen Frieden (Art. 5 § 48 IPO) berief, interpretierte der Reichshofrat (übrigens anschließend an die von maßgeblichen evangelischen Juristen vertretene Theorie des Territorialismus)41 die geistlichen Rechte der evangelischen Fürsten als Teil von deren territorialen Rechten, die damit auch als Lehen zu verstehen seien: „… besitzen sie [die ev. Reichsstände] nun ihre territoria cum dependentiis nicht als ein allodium, sondern als ein lehn vom Kayser und dem Reich, so seynd sie auch in omni casu der kayserlichen jurisdiction unterworffen …“.42 Die Rechtsauffassung der Protestanten dagegen berge die größten Gefahren für Kaiser und Reich. Würde man deren Gedanken fortführen, so hieße dies, dass die evangelischen Reichsstände „in ihren jura episcopalia eine vollkommene Souverainität erlangt und sich dem Kaiser selbst al pari gestellet haben“.43 Allerdings war die Lehre, die das Corpus Evangelicorum erstmals 1713 im Zusammenhang des Falles Hellmund gegenüber dem Reichskammergericht – und implizit gegenüber der gesamten höchsten Reichsgerichtsbarkeit – vertrat, auch innerhalb der zeitgenössischen evangelischen Reichsrechtslehre alles andere als unumstritten. Der vom Obersächsischen Reichskreis präsentierte Reichskammergerichtsbeisitzer, Georg Melchior von Ludolf, widersetzte sich offenbar den vom Corpus Evangelicorum vertretenen Theorien vehement und forderte sogar vom Kaiser ein kaiserliches Dehortatorium, das die Abweisung evangelischer geistlicher Streitsachen durch das Reichskammergericht verbieten sollte.44 Ludolf, der 40
Vgl. Hafke, Zuständigkeit, S. 96–97. Vgl. ebd., S. 86–92. 42 Denkschrift, o. D. [1720], HHStA, RK, Religionsakten 37; zur evangelischen Argumentation s. Schauroth, Sammlung 1, S. 286–292 (Vorstellungsschreiben vom 22.5.1720). 43 Denkschrift, o. D. [1720], HHStA, RK, Religionsakten 37. 44 Bericht von Ingelheim, Wetzlar, 27.4.1715, ebd.: Der Assessor Ludolf, auf den man sich in Wien habe immer verlassen können, dass er die kaiserlichen Rechte verteidige, habe angemahnt, dass auf das Ansinnen der Protestanten ein kaiserliches Reskript oder Dehortatorium ergehen müsse, „die sach ließe sich hernach nicht leicht redressieren“; s. a. Bericht von Ingelheim, Wetzlar, 25.2.1715, ebd. Georg Melchior von Ludolf war 1711–1722 Assessor des Obersächsischen Reichskreises, präsentiert von Sachsen-Eisenach, und im Anschluss bis 1740 kurpfälzischer Assessor. Zwar wurde die Reichstagsstimme von Kurpfalz mit dem Regierungsantritt der Pfalz-Neuburger katholisch, bezüglich des Reichskammergerichts blieben die Pfälzer Kurfürsten aber auch nach 1685 verpflichtet, evangelische Assessoren zu präsentieren; vgl. Eisenhart, Ludolf; ausführlich zu Ludolfs Werdegang, seiner Arbeit am Reichskammergericht und seinem juristischen Werk, vgl. Jahns, Reichskammergericht 2, S. 371–387. 41
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im Laufe seiner Karriere noch zahlreiche weitere reichsrechtliche Abhandlungen verfasste, blieb auch zukünftig bei seiner Meinung.45 Quantitativ stärker ins Gewicht als die geistlichen Streitigkeiten unter Protestanten, die vor Reichsgerichten verhandelt wurden, fielen Fälle des paritätischen Reichsrechts, also solche, bei denen sich in geistlichen Sachen katholische und evangelische Parteien gegenüberstanden. Die Häufung solcher Fälle sollte schließlich einige Jahre später während des Religionsstreits der 1720er Jahre zwischen Protestanten und Kaiser die grundsätzliche Auseinandersetzung über die Frage, wie diese zu behandeln seien, aufbrechen lassen. Einen für die Entwicklung der evangelischen Verfassungsinterpretation bedeutsamen Fall, der ebenfalls einen Rekurs gegen den Reichshofrat hervorbrachte, stellt der Streit um die Konfessions- und Herrschaftsverhältnisse in Nassau-Siegen dar.46 Das Fürstentum Nassau-Siegen setzte sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus einem reformiert und einem katholisch regierten Teil zusammen,47 wobei die Stadt Siegen gemeinsam regiert wurde. Zu zwei Dritteln war das Fürstentum reformiert, und auch in dem vom katholischen Fürsten Wilhelm Hyacinth regierten Teil lebte eine nennenswerte reformierte Minderheit. Seit 1707 stand der katho lische Landesteil allerdings aufgrund einer hohen Schuldenlast sowie anhaltender Klagen gegen die Landesherrschaft Wilhelm Hyacinths unter wechselnden Administrationsverwaltungen.48 Zunächst wurde vom Reichshofrat eine Kommission auf das sede vacante regierende Kölner Domkapitel ernannt (unter Übergehung des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises). Im Juni 1711 übertrug der Pfälzer Kurfürst als Reichsvikar eine neue Kommission auf den Kreis, wobei die drei Direktoren, Münster, Kurpfalz (qua Jülich) und Brandenburg-Preußen (qua Kleve), jeweils gleichberechtigt beteiligt waren.49 Bereits vor der Ernennung der Kreiskommission hatte sich Brandenburg-Preußen für die Anliegen der zahlreichen reformierten Untertanen im katholischen Teil Nassau-Siegens sowie für den reformierten Fürsten Friedrich Wilhelm Adolf eingesetzt. Neben der gemeinsamen Konfession bestand durch die frühere Vormundschaft Friedrichs I. für Friedrich Wilhelm Adolf auch eine enge dynastische Verbindung zwischen den Brandenburger
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Ludolf, De jure camerali, S. 216–232. Zum Nassau-Siegenschen Konflikt vgl. Behr, „Zu rettung“; Kalipke, „Weitläufftigkeiten“, S. 411–419. Beim Nassau-Siegenschen Religionskonflikt handelte es sich um eine durchaus typische Verbindung aus strittigen Herrschafts- und Konfessionsrechten. Allgemein zu diesen Zusammenhängen vgl. Brachwitz, Autorität, S. 157–235. 47 Vgl. Huberty, L’Allemagne, S. 308–311. Zu den komplizierten konfessionellen Verhältnisse im Gesamthaus Nassau-Siegen vgl. Clercq, Die katholischen Fürsten. Zum Verlauf des Konfliktes vgl. Troßbach, Fürstenabsetzungen, bes. S. 430–439; Arndt, Herrschaftskontrolle, S. 395–406; sowie zur Rezeption in den zeitgenössischen Medien ebd., S. 406–429. 48 Zu den Entwicklungen bis 1707 vgl. Arndt, Herrschaftskontrolle, S. 397–400. 49 Zwar hatte Johann Wilhelm von der Pfalz 1712 auch Fürst Wilhelm Hyazinth als Landesherrn restituiert, aber der Reichshofrat lehnte die Bestätigung dieser Restitution im Folgejahr ab und schloss Wilhelm Hyazinth erneut von der Regierung aus; vgl. ebd., S. 402–403. 46
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Hohenzollern und den reformierten Fürsten von Nassau-Siegen.50 Zudem existierte aus brandenburg-preußischer Perspektive eine gewisse Verbindung zwischen dem nassau-siegenschen Konfessionskonflikt und der Frage nach dem Oranischen Erbe: Der katholische Fürst Wilhelm Hyacinth erhob ebenfalls Ansprüche auf das Erbe Wilhelms von Oranien sowie auf die Neuenburger Erbfolge.51 Die zahlreichen Bitten um Unterstützung, mit denen sich sowohl die reformierten Gemeinden im Territorium des katholischen Fürsten als auch die reformierten Nassauer Fürsten vorrangig an Brandenburg-Preußen und Hessen-Kassel wandten, zeigen deutlich, dass beide Mächte primär als Schutzherren des reformierten Bekenntnisses bzw. der Herrschaftsrechte der reformierten Nassau-Siegener Linie wahrgenommen wurden.52 Dabei agierte Friedrich I. offenbar bereits während der Administration durch das Kölner Domkapitel in Zusammenspiel mit dem Corpus Evangelicorum,53 das seinerseits wiederum Brandenburg-Preußen, Kurhannover sowie Hessen-Kassel 1710 damit beauftragte, den Beschwerden „ad normam Instrumenti Pacis Westphalicae abzuhelffen“.54 Angesichts dieser Konstellation kann es nicht verwundern, dass innerhalb der Kreisadministration ab 1711 zahlreiche Differenzen zwischen den katholischen Kreisdirektoren und Brandenburg-Preußen entstanden.55 So erreichten die Konfessionsbeschwerden der Reformierten unter der Kreisadministration ihren Höhepunkt, als es 1712 zu einem gewaltsamen Zusammenstoß von Münsteraner und Pfälzer Kreistruppen mit Gardisten des reformierten Fürsten anlässlich einer Fronleichnamsprozession in der Stadt Siegen kam.56 Bemerkenswert ist die Rolle Brandenburg-Preußens, das schon früh in den Nassau-Siegener Konflikt involviert war und seit 1711 sogar auf drei Ebenen agierte: als regionale Vor- und reformierte Schutzmacht, als Kreisdirektor und Mit- 50
Vgl. Behr, „Zu rettung“, S. 174. Friedrich I. setzte sich wohl nicht zuletzt für die Erbfolge Friedrich Wilhelm Adolfs in dem bislang katholisch regierten Landesteil ein. 51 Vgl. Clercq, Die katholischen Fürsten; Arndt, Herrschaftskontrolle, S. 397–398; Bracht häuser, Oranien. 52 Vgl. Troßbach, Fürstenabsetzungen, S. 433–434. 53 Vgl. Behr, „Zu rettung“, S. 169. 54 Schauroth, Sammlung 2, S. 219 (Conclusum o. D. 1710); EstC 21, S. 28–31 („Rezeß der Königlich-Preussischen / Chur-Hannoverisch- und Hessen-Casselischen HHn. Gesandten / wie sowohl denen von des Evangelisch-reformierten Fürstens zu Nassau-Siegen / contra des Catholischen Fürsten daselbst / angebrachten Religions-Beschwehrden abgeholffen / als auch deßhalb von dem Corpore Evangelicorum zu Regenspurg allbereit ergangene Conclusa / zu ihrer Würck lichkeit gebracht werden möchten“, Regensburg, 25.11.1712). 55 Vgl. Behr, „Zu rettung“, S. 174–180. Brandenburg-Preußen hatte seine Stellung innerhalb des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises zu Beginn des 18. Jahrhunderts verstärken können: Neben Kleve, Mark, Ravensberg und Minden war es in den Besitz von Moers, Lingen (1702) und Tecklenburg (1707) gelangt, wobei die letztere Stimme aufgrund der strittigen Besitzrechte zunächst ruhte. Allgemein zum Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis vgl. Casser, Der Niederrheinisch-Westfälische Reichskreis. 56 Dazu ausführlich: Kalipke, „Weitläufftigkeiten“, S. 413–415; hier auch zur internen Diskussion im Corpus Evangelicorum über eine mögliche Reaktion mit Repressalien; s. a. diverse Schreiben in: EStC 21, S. 3–28.
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Administrator sowie als ein bedeutendes Mitglied des Corpus Evangelicorum. So unterstützte die brandenburg-preußische Diplomatie mitunter Beschwerden gegen den katholischen Teil der Kreiskommission, um wiederum selbst im Rahmen des Corpus Evangelicorum darauf zu reagieren.57 Überhaupt erscheint der langlebige Religionskonflikt in Nassau-Siegen besonders geeignet, um die Verquickung von evangelischer Reichspolitik auf Kreis- und Reichstagsebene bzw. deren unterschiedliche Handlungsspielräume zu untersuchen, waren doch sowohl auf Kreisebene als auch im Corpus Evangelicorum mit Hessen-Kassel, Kurhannover sowie Brandenburg-Preußen die bedeutendsten und konfessionspolitisch aktivsten evangelischen Reichsstände an diesem Konflikt beteiligt.58 Für die Entwicklung der Principia evangelicorum bedeutsam ist der Konfessionskonflikt in Nassau-Siegen, da das Corpus Evangelicorum hier erstmals explizit gegen die Zuständigkeit des Reichshofrats bei Religionsbeschwerden von Protestanten argumentierte, indem es bestritt, „daß die Sachen, derjenigen Stände, welche ex capite gravaminum restituiret, in Process vor dem Kayserl. Reichs-Hofrath gezogen werden sollten, maßen solches dem Instrumento Pacis Westphalicae gantz entgegen, nach dessen Disposition die laedirte sofort in ihre Rechte zu restituiren seyen“.59 Das bedeutete, dass alle diejenigen, die von der Normaljahresregelung des Westfälischen Friedens profitierten, direkt und ohne richterliche Untersuchung oder Entscheidung gewissermaßen „re-restituiert“ werden müssten, sobald sie in ihren dem Normaljahr entsprechenden Rechten und Besitzständen verletzt würden. Damit unterschied diese Auffassung nicht mehr zwischen solchen Gravamina, die als durch den Friedensschluss und die nachfolgenden Exekutionen „abgetan“ galten (restituenda), und jenen, die erst nach dem Friedensschluss entstanden waren und die aus Sicht des Kaisers und des Reichshofrats immer zunächst einer richterlichen Untersuchung und Entscheidung be 57
Die Kreispolitik Brandenburg-Preußens ist weitestgehend unerforscht. Für die Kreispolitik Brandenburg-Preußens im Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis vgl. Hanschmidt, Kurbrandenburg, der allerdings den hier interessierenden Zeitabschnitt nicht mehr abdeckt. Die unterschiedlichen Rollen Brandenburg-Preußens zeichnen sich in dem Aufsatz von Behr, „Zu rettung …“, ab, werden dort aber nicht weiter ausgeführt. Bei Kalipke, „Weitläufftigkeiten“, S. 411–419, werden hingegen diese Verschränkungen in Bezug auf die Kreispolitik gar nicht thematisiert. Kalipke beschreibt zwar ausführlich die Aktionen des Corpus Evangelicorum und behandelt die prominente Rolle Brandenburg-Preußens innerhalb des Corpus-Evangelicorum, trägt aber der konfessionell gerade nicht einheitlich agierenden Politik der Kreiskommission keine Rechnung (S. 411) bzw. bewertet sie als „wirkungslos“ (S. 414, Anm. 31). Zur weiteren Entwicklung des Konfliktes vgl. Behr, „Zu rettung“, S. 180–184. 58 Zur Verschränkung zwischen evangelischer Kreispolitik und den Entscheidungen des Corpus Evangelicorum im Fall Nassau-Siegen s. EStC 21, S. 28–31 („Rezeß der Königlich-Preussischen / Chur-Hannoverisch- und Hessen-Casselischen HHn. Gesandten / wie sowohl denen von des Evangelisch-reformierten Fürstens zu Nassau-Siegen / contra des Catholischen Fürsten daselbst / angebrachten Religions-Beschwehrden abgeholffen / als auch deßhalb von dem Corpore Evangelicorum zu Regenspurg allbereit ergangene Conclusa, zu ihrer Würcklichkeit gebracht werden möchten“, Regensburg, 25.11.1712). 59 Moser, Historisch- und Rechtliche Betrachtung, S. 57.
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durften. Der Reichshofrat widersprach denn auch der evangelischen Auffassung vehement: Zum einen sei der Reichstag eben keine rechtsprechende Instanz. Zum anderen aber sei ein Verfahren zurückzuweisen, in welchem die Gesandtschaften „nur auff eines theyls anbringen, ohne die gegenparthey gehört, oder die völlig acta gesehen und legaliter […] erwogen zu haben, in denen reichscollegiis einigen und zwar solchen schluß darüber fassen mögen, wodurch dem Allerhöchsten Richter im Reich gleisamb definitivé etwas in sothanen besondern Rechtssachen vorgeschrieben werden will“.60 Tatsächlich hatte das Corpus Evangelicorum im Fall Nassau-Siegen den Kaiser darum gebeten, dass die evangelischen Fürsten zu Nassau als „Restituti ex Capite Gravaminum & postea turbati, nach Disposition des Westphälischen Friedens-Schlußes, ohne ferneren gerichtlichen Process in ihr Recht wieder gesetzet, und dem Westphälischen Creyß-Ausschreib-Amt, nach Anweisung der Kayserl. Executorialium Pacis, und des Nürnbergischen Executions-Recesses, die völlige Abhelffung sothaner Beschwerden aufgegeben- und überlassen werden möge“.61 Es sollten also all jene Beschwerdeführer, die – nach protestantischer Lesart – durch den Westfälischen Frieden restituiert worden waren und für die das Normaljahr galt, gemäß den Ausführungsedikten und Rezessen, durch die in unmittelbarer Folge des Westfälischen Friedens den kreisausschreibenden Fürsten die Exekution der „liquiden“ Sachen aufgetragen worden waren, ohne weiteres gerichtliches Verfahren durch die Kreise behoben werden (ein Argument, das Jahrzehnte später auch für die einzige, auf Beschluss des Corpus durchgeführte Exekution in Hohenlohe gebraucht wurde).62 Im innerevangelischen Diskurs fungierte der Fall Nassau-Siegen dennoch in den Folgejahren gleichsam als Negativ-Referenz, da das Corpus Evangelicorum 1710 zwar Brandenburg-Preußen, Kurhannover sowie Hessen-Kassel beauftragt hatte, „denen vom Evangelischen Fürsten zu Nassau-Siegen angebrachten Gravaminibus in Ecclesiasticis ad normam Instrumenti Pacis Westphalicae abzuhelffen“63, und 1712 erneut unverhohlen mit Selbsthilfe gedroht hatte, woraufhin aber in beiden Fällen nichts weiter geschah. In diesen „leeren“ Ankündigungen sah man später, im Zusammenhang der weitaus schärferen Auseinandersetzungen des Pfälzer Religionsstreits ab 1719, einen Fehler, den es künftig zu vermeiden galt.64 60
Reichshofratsgutachten vom 7.1.1715, HHStA, RK, Vorträge des Reichsvizekanzlers 6 b, Bl. 584–587. 61 Schauroth, Sammlung 2, S. 230–232 (Vorstellungsschreiben vom 15.11.1712); s. a. ebd., S. 217–218 (Bittschreiben vom 28.12.1709). 62 Vgl. Belstler, Stellung, S. 205, der auch auf den Zusammenhang mit der später vom Corpus Evangelicorum entwickelten Theorie der Lokalkommissionen hinweist. Für die zugrunde liegende Frage, ob für ex capite Gravaminum Restitutierte der vom Friedenswerk festgelegte Stichtag in possesorium oder in petitorium zu gelten habe, bzw. für die grundsätzliche Pro blematik, zwischen den beiden im Westfälischen Frieden vorgesehenen Formen der Restitution (ex capite Amnesiae oder ex capite Gravaminum) zu unterscheiden, vgl. Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 453–454. 63 Vgl. Schauroth, Sammlung 2, S. 219–220 (Conclusum o. d. 1710; Conclusum vom 27.8.1712). 64 Dies bezog sich wahrscheinlich auch auf die im Falle Naussau-Siegens zwar diskutierten aber nicht angewandten Repressalien; vgl. Kalipke, „Weitläufftigkeiten“, S. 414–416.
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In Wien erregte die Rekurspraxis große Sorgen – insbesondere solche Rekurse, die gegen am Reichshofrat anhängige Verfahren angestrengt wurden, erschienen den Reichshofräten und dem Reichsvizekanzler als Anmaßungen der Reichstagsgesandten und mithin als ein großes „ohnwesen“, dem „tunlich mit nachtruck zu steyren sey“.65 Diese Empfehlung wurde offenbar vom Kaiser umgesetzt; seine offizielle Reaktion auf jene, über die zahlreichen Rekurse an den Reichstag vorgebrachten, grundsätzlichen und rechtssystematisch argumentierenden Einschränkungen der Reichsgerichtsbarkeit ist bekannt:66 In einem Kommissionsdekret verurteilte der Kaiser im August 1715 die Rekurspraxis und wandte sich gegen alle Versuche, „denen Kayserl. höchsten Reichs-Gerichten“ Einhalt zu tun, was, wie das Kommissionsdekret zumindest an einer Stelle sogar explizit hervorhob, „bevorab von denen Augspurgischen Glaubens-Bekenntniß-Verwandten, eine weile her vielfältig geschehen“.67 In der Anlage befand sich ein kaiserliches Edikt, das einen Monat zuvor verfasst worden war und in scharfem Ton jegliche Schmäh- und Lästerschriften verbot. Ausdrücklich wandte sich dieses letztere Edikt aber nicht nur gegen religiöse Verunglimpfungen, sondern bezog sich auch „nicht minder auf öffentlichen Universitäten über das Jus Civile & Publicum [verbreitete] sehr schädliche des Heil. Röm Reichs Gesetze und Ordnungen anzäpfende verkehrte neuerliche Lehren, Bücher, Theses und Disputationes […], dadurch viele so ohnzuläßige, als tief schädliche Neuerungen gegen die teutsche Grundfeste, folglich Unordnungen in dem teutschen Reich eingeführt werden“.68 Das Edikt wandte sich also nicht – wie mitunter in der Literatur zu lesen69 – ausschließlich gegen religiöse Schmähschriften, sondern zielte auch in dieselbe Richtung wie das Kommissionsdekret vom August 1715, nämlich gegen die neuen, die traditionelle Interpretation der Reichsverfassung zunehmend empfindlich unterminierenden Prinzipien, die von den Protestanten propagiert wurden. Die evangelischen Reichsstände reagierten auf diese Vorwürfe im Mai 1716 mit einem Vorstellungsschreiben an den Kaiser, das im Wesentlichen zwei Punkte aufgriff: Die Protestanten vertraten zum einen die Auffassung, dass die Reichsgerichte in der Tat in bestimmten, die Religion betreffenden Fällen ihre Zuständigkeit überschritten – und daher müsse der Kaiser, um die von ihm gerügten Beschwerden und Rekurse zu unterbinden, darauf achten, dass die Gerichte ihre Rechtsprechung strikt in den Grenzen der Reichsjurisdiktion ausübten; zum anderen aber, dass sich das Corpus Evangelicorum als Zusammenschluss aller evangelischen Reichsstände zur Interpretation der Reichsgerichte durchaus ungehindert äußern dürfe. Die 65
Reichshofratsgutachten vom 7.1.1715, HHStA, RK, Vorträge 6 b, Bl. 584–587. Vgl. etwa Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 472–474; Aretin, Das Alte Reich 2, S. 266–267. 67 Das Kommissiondekret vom 14.8.1715 ist u. a. abgedruckt bei Pachner von Eggenstorff, Sammlung 3, S. 666–669, Zitat S. 668. 68 Pachner von Eggenstorff, Sammlung 3, S. 670–672 („Kayserl. geschärftes offenes Edict“ vom 18.7.1715), Zitat S. 670–671. 69 Vgl. etwa Aretin, Das Alte Reich 2, S. 267; Hughes, Law and Politics, S. 168. 66
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Gerichte könnten ihre Jurisdiktion legitimerweise niemals „über die gesamte Status in Corpore seu totius Imperii, seu Catholicorum, seu Evangelicorum“ beanspruchen. Vielmehr dürften Streitigkeiten in allen Fällen, in denen die Stände in partes gehen könnten, nur amicabiliter beigelegt werden, „an welcher klaren Befugniß ihnen Augspurgischen Confessions-Verwandten, so viel gelegen ist, daß Sie solches ohnmöglich aus Händen lassen, und Richterlicher Entscheidung unterwerffen […] können“.70 Die Entscheidung über die Frage, wann man es mit Fällen zu tun habe, „wo die Religion […] interessiret ist“, läge allerdings auch nicht bei den Gerichten. Damit aber beanspruchte das Corpus Evangelicorum eben diese Entscheidung implizit für sich selbst.71 Die geschilderten Fälle weisen darauf hin, dass es sich bei der Erstarkung der kaiserlichen Reichspolitik und der allmählichen Institutionalisierung gesamtprotestantischer Rechtsauffassungen um parallele Entwicklungen handelte: Die selbstbewusste kaiserliche Reichspolitik, die bereits in der Regierungszeit Josephs I. sichtbar geworden war, steigerte sich teilweise sogar noch während der ersten Regierungsjahre Karls VI. Gleichzeitig formierte sich eine ebenfalls immer selbstbewusster agierende und argumentierende ständisch-protestantische Opposition in Gestalt des Corpus Evangelicorum.72 Dass dieses Gremium mehr und mehr als entscheidende Instanz evangelischer Reichspolitik verstanden wurde, lässt sich auch daran ablesen, dass es in konfessionell konnotierten Konflikten im Reich zunehmend als zentraler Akteur auftrat. Sowohl in Nassau-Siegen als auch in der Pfalz ersetzte das Corpus Evangelicorum spätestens ab dem zweiten Dezennium des 18. Jahrhunderts in weiten Teilen die älteren konfessionellen Patronagestrukturen. Diese älteren Strukturen waren sowohl im Falle Nassau-Siegens als auch in der Kurpfalz eindeutig reformiert geprägt, wodurch im einen wie im anderen Fall die brandenburgischen Hohenzollern als bedeutendste reformierte Dynastie im Reich über weitreichenden Einfluss verfügten. Dass dieser Prozess der Bündelung konfessioneller Patronage beim Corpus Evangelicorum wiederum mit der Formulierung einheitlicher rechtlich-politischer Prinzipien einherging, mag per se nicht verwundern, war es doch angesichts der Verrechtlichung von (Konfessions-)Konflikten nur durch eine entsprechende Interpretation des Rechts möglich, politisch zu agieren.73 Nichtsdestoweniger wird im Folgenden noch genauer auf die Entstehung und die spezifische Gestaltung jener „evangelischen Prinzipien“ einzugehen sein. Denn auch angesichts einer als zunehmend bedrohlich empfundenen kaiserlich-katholischen Dominanz im Reich ergab sich die „evan 70
Schauroth, Sammlung 1, S. 365–372 (Vorstellungsschreiben vom 23.5.1716), Zitat S. 370. Ebd., Zitat S. 369. 72 Die zunehmende Konfessionalisierung der Reichspolitik und die Institutionalisierung des Corpus Evangelicorum lassen sich auch an den beiden ersten Anwendungen der Itio in partes 1712 und 1717 ablesen; zu den vier Itiones in partes in der Regierungszeit Karls VI. s. Pütter, Historische Entwickelung 2, S. 391–395; zum Überblick vgl. Belstler, Corpus Evangelicorum, S. 127–155. 73 Vgl. Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 449–450. 71
II. Brandenburg-Preußens Verhältnis zum Reichshofrat
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gelische Einheit“ alles andere als „von selbst“ – das war an den Entwicklungen in der Kurpfalz und den dortigen innerevangelischen Spannungen bereits deutlich geworden.
II. Brandenburg-Preußens Verhältnis zum Reichshofrat Forschungen zum Reichskammergericht haben für lange Zeit die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Reichsgerichtsbarkeit dominiert. Bis heute lassen sich beispielsweise quantitative oder sozialgeschichtliche Aussagen für das Reichs kammergericht auf einer sehr viel solideren Basis treffen, als dies für den Reichshofrat der Fall ist.74 Dieser allgemeine Trend der Forschung lässt sich auch bei der Frage nach dem Verhältnis Brandenburg-Preußens zur Reichsgerichtsbarkeit erkennen: Sowohl zum Prozessaufkommen als auch zur Personal- und Fiskalpolitik Brandenburg-Preußens in Bezug auf das Reichskammergericht existieren intensive Forschungen.75 Daneben liegen allerdings mit den älteren Arbeiten von Perels76 und Förstemann77 Untersuchungen vor, die auch das Verhältnis Brandenburg-Preußens zum Reichshofrat berücksichtigen. Wenngleich hier quantitative Aussagen primär aus punktuellen Erhebungen, die von der Berliner Regierung selbst erstellt worden waren, oder aber von allgemeineren Aussagen aus der diplomatischen Korrespondenz abgeleitet wurden, so lässt sich mit Sicherheit sagen, dass in die frühe Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. ungewöhnlich zahlreiche Verfahren fallen, in denen der König in Preußen als Beklagter auftauchte.78 So ist bekannt, dass die erste Hälfte der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. von wachsenden Spannungen mit Wien gekennzeichnet war, die sich nicht zuletzt in der großen Anzahl von Verfahren gegen den König am Reichshofrat niederschlugen bzw. von diesen herrührten. Schon eine oberflächlich-impressionistische Betrachtung der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. und der unbestreitbaren Bedeutung dieses Herrschers für die innere Konsolidierung und Staatsbildung Brandenburg-Preußens mögen es durchaus nahelegen, dass der „größte innere König“79 mit dem Kaiser bzw. dessen oberstrichterlichem Amt in Konflikt kommen musste. Denn zu den zentralen Bestandteilen der staatlichen Integration gehörte auch das Streben nach einem geschlossenen Rechtsraum. Dass derartige Bemühungen wiederum zu Schwierigkeiten mit der kaiserlichen Rechtsprechung führen konnten, überrascht nicht – insbesondere angesichts des beschränkten Appellationsprivilegs, das für alle 74 Vgl. Ranieri, Recht und Gesellschaft; ders., Arbeit; Baumann, Gesellschaft. Als Forschungsüberblick vgl. Haug-Moritz, Des „Kaysers rechter Arm“. 75 Vgl. Smend, Reichskammergericht, passim; und insbesondere ders., Brandenburg-Preußen; Jahns, Brandenburg-Preußen. 76 Perels, Appellationsprivilegien. 77 Förstemann, Geschichte. 78 Vgl. etwa Hertz, Rechtsprechung, S. 352; Perels, Appellationsprivilegien, S. 80–85. 79 Zitiert nach dem Titel des Aufsatzes von Neuhaus, Friedrich Wilhelm I.
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C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung
Reichsterritorien Brandenburg-Preußens außerhalb der Kernlande galt. Besaßen die Kurfürsten von Brandenburg seit dem Ende des 16. Jahrhundert für die brandenburgischen Kurlande ein unbeschränktes Appellationsprivileg, das de facto auch die Neumark einschloss,80 so galten in den hinzugekommenen Territorien diejenigen Verhältnisse zur Reichsgerichtsbarkeit, die bis dato geherrscht hatten, auch nach ihrem Übergang an Brandenburg weiter.81 Eine Ausnahme bildete die Grafschaft Ravensberg: Dort hatte die Ritterschaft 1653 in Form eines Rezesses ihrem Recht zur Appellation – zumindest an das Reichskammergericht – freiwillig entsagt. Zwar war eine solche Einigung zwischen Landesherrn und Ritterschaft reichsrechtlich nicht bindend, tatsächlich führte sie aber offenbar dazu, dass praktisch keine Appellationen aus Ravensberg mehr an das Reichskammergericht gelangten. Bemühungen, mit den Ständen auch in den übrigen hinzugekommenen Landesteilen Einigungen nach dem Vorbild Ravensbergs zu erreichen, scheiterten. Über gar kein Privileg verfügte neben Ravensberg nur Minden; für die übrigen Gebiete besaßen die Hohenzollern Appellationsprivilegien, allerdings in höchst unterschiedlichen Größenordnungen: In Magdeburg und Halberstadt etwa bestand eine Befreiung bis zur Appellationssumme von 600 Gulden in immobilibus et realibus bzw. von 400 Gulden in mobilibus et personalibus, die noch aus dem Jahre 1558 stammte. Dass gerade die Ständevertretung Halberstadts ihrem Rechte auf Appel lation durchaus Gewicht beimaß, zeigte sich bereits 1650, als die Stände des neu an Brandenburg gefallenen, säkularisierten Fürstentums im Homagialrezess sich dieses Recht von ihrem neuen Landesherrn ausdrücklich bestätigen ließen. Und noch bei der Thronbesteigung Friedrichs II. forderten die halberstädtischen Landstände von ihrem König, Appellationen an den Reichshofrat nicht mehr zu unterdrücken.82 Umgekehrt lassen sich für das 17. und frühe 18. Jahrhundert zahlreiche Versuche der Berliner Regierung anführen, Appellationen einzuschränken: durch Verzögerungen, Drohungen, die Gewährung einer Revision bei Verzicht auf die Anrufung der höchsten Instanz oder aber – im besten Fall – durch die Beseitigung der Beschwerdegründe.83 Gleichzeitig versuchte die brandenburg-preußische Diplomatie, vom Kaiser ein unbeschränktes oder doch zumindest einheitliches Appellationsprivileg für sämtliche außerhalb der Kurlande gelegenen Reichsgebiete Brandenburg-Preußens zu erlangen. Bereits der Große Kurfürst hatte sich 1685 vergeblich um ein solches Privilegium illimitatum bemüht. Friedrich III. machte in dieser Hinsicht nur vier Jahre später einen erneuten Vorstoß, der aber schließlich erst 1702 – im Kontext des Spanischen Erbfolgekrieges – von einem gewissen Erfolg gekrönt
80 Vgl. Perels, Appellationsprivilegien, S. 31–32; Weitzel, Kampf um die Appellation, S. 138–139. 81 Vgl. auch zum Folgenden Perels, Appellationsprivilegien, S. 32–53. 82 Vgl. ebd., S. 73. 83 Vgl. etwa Weitzel, Kampf um die Appellation, S. 140–141; Perels, Appellationsprivilegien, S. 35–37.
II. Brandenburg-Preußens Verhältnis zum Reichshofrat
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wurde: Als Friedrich I. erhielt er für Magdeburg, Kleve, Pommern, Halberstadt, Minden, Cammin, Mark und Ravensberg ein einheitliches Privileg, in dem die Appellationssumme auf 2.500 Gulden festgesetzt wurde.84 Die Wirkung war, nach den Zahlen des älteren Werkes von Perels zu urteilen, zumindest im Hinblick auf die Appellationen an das Reichskammergericht deutlich spürbar.85 Ein weiterer Grund für den Rückgang der Appellationen an das Reichskammergericht bestand in der Arbeit des Oberappellationsgerichts in Berlin, dessen Gründung im Zusammenhang der Verhandlungen mit Wien beschlossen worden war.86 Zudem ging die Prozessfrequenz am Reichskammergericht im Zuge der Visitation und des damit einhergehenden Stillstandes in den Jahren von 1707 bis 1713 generell deutlich zurück, was im Falle Brandenburg-Preußens wiederum zur Stärkung des eigenen Oberappellationsgerichts beitrug. Allerdings führte der Stillstand des Reichskammergerichts – wie bereits erwähnt – auf der anderen Seite auch zu einem merklichen Anstieg des Prozessaufkommens am Reichshofrat, und diese Tendenz hielt auch nach Abschluss der Visitation an.87 Schließlich lässt sich die nachlassende Zahl von Prozessen am Reichskammergericht auch damit erklären, dass sich die Berliner Regierung bzw. die Provinzregierungen wesentlich besser Ladungen und sonstigen gerichtlichen Schreiben des Reichskammergerichts entziehen konnten, als dies im Falle des Reichshofrats möglich war.88 Die skizzierten Versuche, sich individuell auf diverse Arten der kaiserlichen Rechtsprechung zu entziehen, wurden begleitet von Bemühungen der brandenburgpreußischen Herrscher, insbesondere im Rahmen der kaiserlichen Wahlkapitulations-Verhandlungen die Befugnisse des Reichshofrats einzuschränken bzw. dessen ausschließlicher Kontrolle durch den Kaiser gewisse Befugnisse der Reichsstände an die Seite zu stellen. So setzte sich Brandenburg-Preußen in den Verhandlungen über die Wahlkapitulationen Josephs I. und Karls VI. nachdrücklich dafür ein, die schon im Westfälischen Frieden vorgesehene Reichshofratsvisitation tatsächlich durch den Reichserzkanzler durchführen zu lassen.89 Eng verbunden mit der Frage der Visitation des kaiserlichen Gerichtes war für die Protestanten die geringe Zahl der evangelischen Reichshofräte. Mit der Forderung, die Reichshofratsordnung und besonders die Paritätsbestimmungen genauer zu beachten, hatte sich schon der Große Kurfürst in den letzten Jahren seiner Regierung mehrfach an Kurmainz gewandt und dort nicht zuletzt auf die Einführung eines reformierten Reichshof-
84 Obwohl nicht ausdrücklich festgesetzt, galt dieses Appellationsprivileg faktisch auch für die 1707 erworbene Grafschaft Tecklenburg. Die Verhandlungen und Vorgänge bis zur tatsächlichen Erteilung sind ausführlich dargestellt bei Perels, Appellationsprivilegien, S. 38–52. 85 Vgl. die Auflistung der Appellationen an das Reichskammergericht ebd., S. 53. 86 Vgl. Weitzel, Kampf um die Appellation, S. 142–147. 87 Vgl. Ortlieb / Polster, Prozessaufkommen, S. 208, passim. 88 Vgl. Smend, Brandenburg-Preußen, S. 199; für den Reichshofrat vgl. exemplarisch: Schumann, Christian Thomasius’ juristische Disputation, S. 288–289; allgemein zu diesem Phänomen: Sellert, Ladung. 89 Vgl. Siemsen Kurbrandenburgs Anteil, S. 47–48.
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C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung
rates gedrungen90 – eine Forderung, mit der sich schließlich Friedrich III. 1693 durchsetzen sollte.91 In diesem Kontext hatte der Große Kurfürst sogar gedroht, dass, sollten die evangelischen Beschwerdepunkte nicht abgestellt werden, die evangelischen und besonders die reformierten Reichsstände sich schließlich gezwungen sehen könnten, „der jurisdiction dieses judicii gänzlich abzusagen“.92 In Mainz hatte man 1687 offenbar mit Bestürzung auf diese Drohung reagiert und den kurmainzischen Repräsentanten in Regensburg beauftragt, mit den übrigen katholischen Reichstagsgesandten die kurbrandenburgische Position zu beraten, könne man doch die Intention des Kurfürsten erkennen, „so gar der Reichs Hoff Raths jurisdiction gentzlich abzusagen“ – und nicht „nur“, so möchte man vervollständigen, der reichskammergerichtlichen.93 Die Bemühungen seines Vaters um die Wahrung bzw. den Ausbau der konfessionellen Parität am Reichshofrat führte Friedrich I. fort und forderte bei den Verhandlungen über die Wahlkapitulation Karls VI. 1711 explizit, dass das Richtergremium paritätisch zusammengesetzt sein müsse, wenn es sich um weltliche Fragen handelte, und dass bei Verfahren, bei denen beide Parteien evangelisch seien, ausschließlich evangelische Reichshofräte entscheiden dürften.94 Wenngleich die erwähnten Vorstöße kaum praktische Erfolge zeitigten, so dokumentieren sie doch, dass schon vor der Etablierung des Corpus Evangelicorum und der Vertretung einer einheitlichen protestantischen Verfassungsinterpretation seit ca. 1715 evangelische Reichsstände den Reichshofrat bzw. den Kaiser mit dem Vorwurf konfrontierten, die Parität nicht zu beachten bzw. konfessionell parteilich zu urteilen. Diese Kritik formulierte besonders deutlich Brandenburg-Preußen: Schon der Große Kurfürst und Friedrich III./I. bemühten sich nachdrücklich, die evangelischen Interessen gegenüber dem Reichshofrat zu vertreten und dadurch eine gewisse Schwächung der Reichweite des Reichshofrates – und damit des kaiserlichen Einflusses – zu erreichen. Bis zur Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. wurde das Paritäts-Argument allerdings nicht explizit auf die Person des Kaisers (und dessen Katholizität) übertragen; vielmehr beschränkte man sich darauf, die Abweichungen der gericht-
90 s. dazu die Überlieferung in: HHStA, MEA, RHR 7; vgl. auch Jahns, Das Reichskammergericht, Darstellung, S. 287, Anm. 198. 91 Friedrich Karl von Danckelmann wurde 1693 zum Reichshofrat ernannt und 1703/4 introduziert; vgl. Gschließer, Reichshofrat, S. 76, 350–351. 92 Friedrich Wilhelm an den Kurfürsten von Mainz, Potsdam, 4./14.9.1687, HHStA, MEA, RHR 7. 93 Reskript an die kurmainzische Gesandtschaft (Extrakt), Mainz, 29.9.1687, ebd. Diese Reaktion aus Mainz verdeutlicht noch einmal das große Interesse der geistlichen Reichsstände an einer funktionierenden Reichsjustiz als schützende Instanzen vor den expandierenden, mehrheitlich evangelischen, Territorialstaaten und der als omnipräsent wahrgenommenen Gefahr von Säkularisierungen. Gegenüber diesen Gefahren trat auch die von Mainz zumindest immer wieder vertretene reichsständische Politik gegenüber dem Reichshofrat offenbar in den Hintergrund. Zur ambivalenten Haltung des Mainzer Erzkanzlers zum Reichshofrat vgl. für die Regierungszeit Lothar Franz von Schönborns: Schröcker, Ein Schönborn, S. 96–99. 94 Vgl. Siemsen, Kurbrandenburgs Anteil, S. 46–48.
II. Brandenburg-Preußens Verhältnis zum Reichshofrat
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lichen Praxis von der Norm, also der Reichshofratsordnung und den Wahlkapitulationen, anzuprangern. Auch auf der Ebene des eigenen Territoriums scheint die Abschottung Brandenburg-Preußens gegenüber der obersten Reichsgerichtsbarkeit unter Friedrich Wilhelm I. eine neue Qualität erreicht zu haben. Offenbar wurde bereits mit Beginn seiner Regierung der „Kampf um die Appellation“95 – der nunmehr primär der förmlichen Appellation und überhaupt jeglicher Wendung an den Reichshofrat galt – intensiver aufgenommen: Schon im Juni 1713 bemühte sich die Berliner Regierung, die Stände derjenigen Landesteile, die unter das beschränkte Appellationsprivileg von 1702 fielen, nach dem Vorbild Ravensbergs zu einem Verzicht auf ihr Appellationsrecht zu bewegen. Trotz unverhohlener Drohungen aus Berlin lehnten sämtliche Stände das Ansinnen der Berliner Regierung ab.96 Infolgedessen bemühte man sich nun seitens der Zentralregierung einerseits, die Indienstnahme der höchsten Reichsgerichte in den Provinzen stärker als bislang zu kontrollieren. Andererseits scheint der Druck auf (potentielle) Appellanten nochmals verstärkt worden zu sein.97 Zudem entwickelte die Berliner Regierung seit 1713 unterschiedliche Pläne, wie der überhandnehmenden Tätigkeit des Reichshofrats beizukommen sei: Zunächst wandte sich Friedrich Wilhelm I. persönlich an Karl VI. und legte ihm mit Verweis auf sein gegenwärtiges Engagement im Nordischen Krieg nahe, die Prozesse gegen ihn am Reichshofrat einige Zeit auszusetzen, was der Kaiser jedoch ohne größere Umschweife zurückwies.98 Gleichwohl wurden sowohl der brandenburg-preußische Gesandte in Wien als auch der Reichhofratsagent von der Berliner Regierung angewiesen, sämtliche Prozesse des Königs, „pflichtmäßig zu examinieren“ und in Gutachten den Stand der jeweiligen Verfahren zu referieren sowie eine Einschätzung abzugeben, welche von den laufenden Verfahren „durch einen gütlichen Vergleich abzuthun“ seien.99 Auch versuchte man in Berlin seit 1716 durch die systematische Bestechung von Reichshofräten, den Gang der eigenen Prozesse zu be 95
Weitzel, Kampf um die Appellation. Vgl. das ausführliche Zitat bei Perels, Appellations privilegien, S. 57–58, aus dem Zirkularerlass vom 27. Juni 1713, der mit Ausnahme von Ravensberg, Moers, und Hinterpommern an alle nachgeordneten Regierungen adressiert war. 96 Zu den Argumentationen der Ständevertretungen in den unterschiedlichen Landesteilen vgl. Perels, Appellationsprivilegien, S. 59–65. Zu den entsprechenden Verhandlungen mit den Ständen in Hinterpommern vgl. ebd., S. 65–66. 97 Vgl. ebd., S. 74–83; Weitzel, Kampf um die Appellation, S. 144–145, 327–332. 98 Karl VI. an Friedrich Wilhelm I., Wien, 28.6.1715, HHStA, Brandenburgica 28, Bl. 111– 112: „Daß ich aber nach E. Lbd. verlangen, meinen Reichshofraht anbefehlen möge, allen und jeden ihrer Rechtshängigen sachen ohne unterschied bis zu Dero geendigten gegenwärtigen feldzug einen anstand zu geben, und in zwischen nichts wiedriges gegen E. Lbd. zu verhengen, oder zu erkennen, solches werden Sie allem dabey zu erwegen seyenden umbständen nach von mir als obrigem Richter nicht begehren…“. 99 Reskript an Burchard, Berlin, 10.9.1718, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 149, Bl. 34; s. a. die Aufstellung des Reichshofratsagenten Graeve über die am Reichshofrat anhängigen Prozesse, in: Relation von Graeve, Wien, 11.1.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 63, Bl. 7–11.
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einflussen.100 Gleichzeitig beschwerte sich die brandenburg-preußische Diplomatie immer häufiger über die Parteilichkeit des Reichshofrats, warf dem Gericht Verfahrensfehler vor101 und bemühte sich, in Regensburg gleichgesinnte Reichsstände zu einem gemeinsamen Vorgehen zu bewegen, um über Rekurse an den Reichstag eine Visitation des Reichshofrates zu erzwingen.102 Dass diese Wege keinen Erfolg zeitigten, verwundert nicht, war man doch in Wien gewohnt, die regelmäßig auftretenden Klagen über Korruption und Parteilichkeit am Reichshofrat als mehr oder minder fadenscheinige Angriffe auf die kaiserliche Prärogative zurückzuweisen.103 Zudem hätte ein erfolgversprechendes Vorgehen über den Regensburger Reichstag sicherlich ein Zusammengehen der wichtigsten Reichsstände über die Konfessionsgrenzen hinweg vorausgesetzt – ein solches Szenario aber war angesichts der reichspolitischen Lage in der unmittelbaren Folge des Badischen Friedens äußerst unwahrscheinlich. Diese Einsicht muss sich auch in Berlin durchgesetzt haben, denn es zeichnet sich in der Berliner Überlieferung bereits ab 1714 die Meinung ab, dass es vorteilhafter wäre, in dieser Frage ausschließlich in Absprache mit den „Evangelischen Herren Mit-Ständen“ zu agieren, indem man sich auf die anlässlich des Wahltages von 1711 vorgebrachten Beschwerden gegen den Reichshofrat beziehen solle.104 Einige dieser Monita betrafen speziell die Protestanten, und gerade diese Missstände, so meinte man in Berlin, hätten sich seither sogar noch verstärkt. Auf dieser Grundlage sollte der brandenburg-preußische Gesandte in Regensburg bei den evangelischen Gesandten anfragen, „was meinung und gedancken
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Vgl. dazu die Überlieferung im GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 141. Zu den unterschiedlichen Formen der Bestechung in Gestalt von Geldzuwendungen, Titel- oder Ämterverleihungen vgl. Perels, Appellationsprivilegien S. 86–91; ausführlich neuerdings auch Schenk, Reichsjustiz, S. 25–32. Allgemein zu Korruption an den höchsten Reichsgerichten: Ehrenpreis, Korruption im Verfahren; Sellert, Richterbestechung. Für das 17. Jahrhundert s. a. Ortlieb, Im Aufrag des Kaisers, S. 297–307. Zu den engen Verbindungen der Schönborn, insbesondere des Reichserzkanzlers Lothar Franz, zu einigen Reichshofräten vgl. Schröcker, Ein Schönborn, S. 101–103. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass sich die brandenburg-preußische Diplomatie primär um diejenigen Reichshofräte bemühte, die dem „Schönborn-Netzwerk“ zugeordnet werden konnten. Dieser Zusammenhang ergibt sich aus Schröcker, Ein Schönborn, ebd., und Schenk, Reichsjustiz, S. 25–32. 101 s. diverse Schriftstücke in: GStA PK, I. HA, Rep. 18. Nr. 31, Fasz. 63. Der Berliner Regierung war es vor allem wichtig, den Kaiser davon zu überzeugen, dass der Reichshofrat Brandenburg-Preußen ständig unrecht tue: „… welches dann per casus et exempla erwiesen und alles so deutlich vorgestellet werden muß, daß es der Kaiser recht begreiffen und dadurch von der partialität des Reichshofrahts wieder Uns völlig convinciret werden möge“; Reskript an den Geheimen Rat, Lager vor Stralsund, 19.12.1715, ebd., Bl. 3–6. 102 s. diverse Schriftstücke in: GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 140; vgl. Perels, Appellationsprivilegien, S. 84–86. 103 Vgl. Ehrenpreis, Korruption im Verfahren, S. 295; Sellert, Die Ordnungen des Reichshofrats 2, S. 266. 104 Zu den evangelischen Beschwerden gegen den Reichshofrat, die auf dem Wahltag von 1711 maßgeblich durch Brandenburg-Preußen vertreten wurden, vgl. Siemsen, Kur-Brandenburgs Anteil, S. 43–54.
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[diese] endlich bei dieser sache seien […] und was eigentlich deshalb weiter zu thun sey“.105 Die gleichsam tastenden Versuche Berlins, sich auf unterschiedlichen Wegen des Reichshofrats zu erwehren, machen deutlich, wie neu sich die politische Situation für die brandenburg-preußische Politik darstellte. Sachlich hatte sich die Lage insofern geändert, als der neue Kaiser einen stärker monarchischen Regierungsstil im Reich pflegte und dass der Reichshofrat tatsächlich aktiver auch gegen Brandenburg-Preußen vorging, als dies in den vorhergehenden Jahren der Fall gewesen war. In Wien reagierte man sehr empfindlich auf die Versuche der Berliner Politik, die Appellationen an den Reichshofrat weitgehend zu unterbinden. Eine der Folgen dieser Konstellation war offenbar auch, dass sich der Stil der politischen Kommunikation zwischen Berlin und Wien deutlich verschärfte, und diese Entwicklung stellte wiederum die brandenburg-preußische Diplomatie vor Herausforderungen. So zeigen die Überlegungen des langjährigen Reichstagsgesandten Ernst von Metternich (der bereits unter Friedrich I. kurzzeitig auch als Gesandter in Wien tätig gewesen war und sich erneut in den frühen Jahren der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. für kurze Zeit am Kaiserhof aufhielt)106 deutlich, wie sehr der neue, seit 1713 spürbar aggressivere Stil zwischen den beiden Höfen sogar von den brandenburg-preußischen Diplomaten selbst als Bruch gegenüber der Regierungszeit Friedrichs I. wahrgenommen wurde: Aus einem umfangreichen Gutachten vom Januar 1716,107 das Metternich auf einen Fragenkatalog aus Berlin hin entworfen hatte, spricht das Bemühen, die Berliner Regierung von einem allzu radikalen Vorgehen abzuhalten und stattdessen von dem Nutzen eines gefälligeren politischen Stils gegenüber dem Reichshofrat zu überzeugen. Auch Metternich stellte allerdings seinem König gegenüber fest, dass Karl VI. grundsätzlich bereit sei „die allerschärffsten Reichsgesetze wieder Sie [zu] gebrauchen“ – die Erfahrung im Falle der Reichsabtei Werden zeige ja bereits, wozu der Kaiser entschlossen sei.108 Sollte man etwa „ipso facto sich denen executionen opponiren wollen, oder […] sich zu einer Ungeduld und unvermeidlichen extremität bewegen lassen, der jetzige Kayser von einem solchen Gemüthe und resolution sey, dass Er das äußerste dabey aufsetzen und, wann Derselbe anders nicht das werck vollführen kann, E. Königl. Mt. das gantze Reich auf den Hals ziehen werde […]. So halten S. Kayserl. Mt. auch davor, daß man Ihnen 105 Reskript an Metternich (nach Regensburg), Berlin, 20.7.1714, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 62; s. a. Reskript an Metternich (nach Wien), Berlin, 25.2.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 63, Bl. 63–64: „Wir begreiffen nun gahr wohl, wie schwer es fallen werde, unsere Mitstände und insonderlich die Catholischen dahin zu bewegen, daß sie wegen des Reichshofrahts bisherigen irregulieren Verfahrens mit Uns zusammen treten und die höchstnötige remedirung mit Nachtruck suchen …“. 106 Zu Ernst von Metternich vgl. Kap. B. II. 1.; s. a. die fälschliche Angabe in: Hausmann, Repertorium, S. 292, das „Karl Hugo von Metternich“ statt Ernst von Metternich als brandenburg-preußischen Repräsentanten in Wien für die Jahre 1715/16 aufführt. 107 Hier und im Folgenden: Gutachten von Metternich, Wien 18.1.1716; GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 63, Bl. 53–58. 108 Zur brandenburg-preußischen Politik gegenüber der Reichsabtei Werden vgl. Kap. C. III.
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durch die Widersetzlichkeit, in Gerichtlichen Sachen, an die Kayserliche Crone greiffen und Sie als den elendsten unter allen Fürsten vor der gantzen welt prostituiren wolle …“.109 Wenngleich also auch Metternich durchaus die Verschärfungen auf Seiten Wiens klar benannte, warnte er jedoch gleichzeitig nachdrücklich davor, auf die reichshofrätliche Rechtsprechung dergestalt zu reagieren, dass man auf diplomatischem Wege den Reichshofrat der Parteilichkeit und Unzuständigkeit beschuldige. Stattdessen solle man lieber in solchen Fällen, in denen man Zweifel hege, ob der Reichshofrat befugt sei, Recht zu sprechen, „von unverdächtigen Universitäten Responsa oder Gutachten einhohlen […] lassen“.110 Die übrigen Prozesse, die man auf solche Weise nicht „abtun“ könne, solle man „langsam fort und ausführe[n]“ und schließlich sich den Urteilen beugen, „wo es anderst nicht seyn kann“.111 Mit der Beantwortung der Frage, „wie der Reichshofraht gegen E. Königl. Mt. zu besseren Gedanken zu bringen“ sei, kam Metternich unweigerlich auf den heiklen Punkt der klammen Finanzströme aus Berlin zu sprechen. Nichts sei der Meinung über den preußischen König in Wien nachteiliger, als der – „wiewohl ungegründete“ – Ruf, dass man bei ihm auf keinerlei „Belohnung“ hoffen könne. Diese Meinung gehe von den Reichshofräten bis zu den „Subalternen“ hinunter. Dadurch aber erhielten Metternich und der Reichshofratsagent wenig Zugang zu Informationen – denn ohne Zuwendungen sei eben in Wien an keinerlei Auskünfte zu gelangen. Um diese „tief eingerissene praejudicia“ zu bekämpfen, hätten aber bislang weder er noch der Reichshofratsagent über die entsprechenden Mittel verfügt. Der Agent leide zudem noch besonders unter dem Spott und Hohn des reichshofrätlichen Personals, denn „E. Königl. Mt. hiesiger Agent hat bishero keine besoldung, und solches ist allen bekannt genug, von dem Größten bis zu dem Kleinsten, wie aber darüber von Reichshofräthen selbst glossiret, auch wohl an offentlichen taffeln und in meiner Gegenwart unterm Schein eines familiaren Scherzes gespöttelt worden, und wie die andere Agenten darüber Ihn sozusagen anpfiffen, oder mit fingern auf Ihn zeigen, und was man daraus für conclusiones macht, das ist auch bekannt und darf ich es aus allerunterth. respect nicht mit mehrer farbe vorstellen.“112 Diese bemerkenswert offenherzige Kritik des erfahrenen Diplomaten scheint in Berlin gleich in zweierlei Hinsicht Wirkung gehabt zu haben: Nur einige Tage später datiert eine im Geheimen Rat geäußerte Einsicht, der zufolge es „letztlich wohl die höchste Not erfordern wird, dass der Agent Graeve mit einem Gehalt versehen werde“.113 Und auch die erwähnten Anweisungen für Geschenke und andere Wohltaten, die verschiedenen Reichshofräten sowie sonstigem Personal zugute kommen sollten, scheinen nicht zuletzt auf Metternichs Gutachten zurückgegangen zu sein. Davon, dass diese Maßnahmen im Sinne eines in Berlin erhofften „Stimmungswan 109 Gutachten von Metternich, Wien, 18.1.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 63, Bl. 53–58, 56. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Ebd., Bl. 57. 113 Gutachten von Plotho, Berlin, 22.1.1716, ebd., Bl. 59.
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dels“ im Kollegium des Reichshofrats zugunsten Brandenburg-Preußens gewirkt haben könnten, ist nicht auszugehen; vielmehr sollte sich das Verhältnis zwischen Berlin und Wien in den folgenden Jahren noch wesentlich verschlechtern. In einem Punkt, den Metternich betont hatte, scheint sich aber in der Tat die finanzielle Besserstellung der brandenburg-preußischen Vertreter in Wien positiv ausgewirkt zu haben: Der „Informationsfluss“ in Gestalt der reichshofrätlichen Resolutionsprotokolle verbesserte sich offensichtlich.114 Neben den geschilderten Versuchen, die Tätigkeit des Reichshofrats in Wien und Regensburg zu bekämpfen, bemühte man sich in Berlin darum, wie bereits erwähnt, seit der Jahreswende 1715/1716 auf der territorialen Ebene durch landesherrliche Kontrolle die in manchen Landesteilen herrschende „Appellationsfreudigkeit“ der Stände systematisch zu erfassen und einzuschränken: Sowohl der brandenburg-preußische Reichshofratsagent in Wien als auch die Regierungen in Magdeburg, Halberstadt, Minden, Kleve und Mark wurden aufgefordert, ausführliche Berichte einzusenden, welche Streitsachen seit 1702 (also seit der Erlangung des einheitlichen, limitierten Appellationsprivilegs) an die Reichsgerichte gelangt seien. Bei den von den Regierungen daraufhin übermittelten Aufstellungen übertrafen Magdeburg und Halberstadt bezüglich der Anzahl von Appellationen alle anderen Landesteile bei weitem.115 Zudem wurden die Regierungen schon 1715 dazu verpflichtet, über jeglichen Kontakt mit den beiden Reichsgerichten direkt nach Berlin zu berichten und allen Schriftverkehr von dort freigeben zu lassen.116 Gleichzeitig aber wurde verstärkt darauf geachtet, dass Antworten an die Reichsgerichte ausschließlich im Namen der jeweiligen Regierungen abgefasst wurden – und zwar mit Verweis auf die der königlichen Ehre zu nahe tretende Form der Schreiben des Reichshofrates: So seien insbesondere die kaiserlichen Verordnungen „auf eine sehr rüde und fast schimpfliche Art eingerichtet“, die sich angesichts der Würde der brandenburg-preußischen Herrscher „sonderlich nach erlangter Königl. Dignität durch Gottes Gnade […] nicht schicket“.117 Diese Einschätzung des leitenden Ministers Heinrich Rüdiger von Ilgen verweist auf eine grundsätzliche Problematik zwischen dem Reichshofrat und Brandenburg-Preußen. Bereits in der Vergangenheit hatte man in Berlin Anstoß am Stylus Curiae des Reichshofrats genommen, was wiederum zu Irritationen in Wien geführt hatte.118 Diese Spannungen verschärften sich allerdings in den ersten Jahren der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. deut 114
Vgl. etwa GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 80–87. Vgl. Perels, Appellationsprivilegien, S. 66–67; Neugebauer, Stände, S. 183–184. 116 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 144. 117 Immediatbericht von Ilgen, 14.2.1722, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 141, zitiert nach Perels, Appellationsprivilegien, S. 69. Diese Argumentation hatte bereits Friedrich I. 1707 gegenüber den klevischen Behörden gebraucht, indem er die (ausschließliche) Nutzung des dortigen Oberappellationsgerichts als „dem Interesse und der Grandeur Unseres Königl. Hauses“ angemessen bezeichnete; Mylius, Corpus, Teil 2, Abt. 4, Nr. 18, Sp. 25–28 („Rescript wodurch an das Ober-Appellations-Gericht communiciret wird …“, 14.5.1707), zitiert nach Perels, Appellationsprivilegien, S. 74. 118 Grundlegend zum Stylus Curiae: Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae. 115
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lich: Während man in Berlin darauf bedacht war, die königliche Würde durch die persönliche Beantwortung „rüder“, im Stylus Curiae abgefasster Schriftstücke des Reichshofrats bzw. des Kaisers nicht beschädigt zu sehen, forderte der kaiserliche Hof genau die Ehrerbietung ein, die man auch von jedem anderen Reichsstand erwartete: nämlich dass der König – als Markgraf und Kurfürst des Reiches – auf kaiserliche Reskripte, Mandate etc. selbst repliziere, und speziell auf solche, die der Kaiser eigenhändig unterzeichnet hatte.119 Es handelte sich bei diesen Differenzen mit dem Reichshofrat mithin nicht „nur“ um „Formalien des Geschäftsverkehrs“,120 sondern vielmehr um die weiter gespannte Frage nach der Bedeutung der königlichen Würde für die politisch-rechtliche Interaktion im Reich. Diese Problematik wiederum bezeichnet ein zentrales Moment der Beziehungen zwischen Wien und Berlin seit Beginn der Verhandlungen um die preußische Königskrone, das allerdings – in anderen Formen als bis 1713 – in der ersten Hälfte der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. besonders virulent wurde. Zahlreiche drastische Äußerungen über sein Streben, die Souveränität zu stärken, bzw. über die kontinuierliche Weigerung des Kaiserhofes, ihm die königlichen Ehren zu bezeugen, sind aus älteren Quellensammlungen und wissenschaftlichen Werken überliefert. Sie haben auch populärwissenschaftliche Darstellungen über Friedrich Wilhelm I. geprägt und (auch aufgrund der heftigen Ausdrucksweise des Königs) dazu beigetragen, das Bild des ungehemmten, cholerischen, allem Höfisch-Zeremoniellen abholden Charakters Friedrich Wilhelms I. zu bestärken.121 Daneben ist allerdings auch häufig von der – ebenfalls durch persönliche Äußerungen des Königs belegten – grundsätzlichen „Reichstreue“ resp. dem „Reichspatriotismus“ Friedrich Wilhelms I. zu lesen, insbesondere in scharfer Abgrenzung zu seinem Sohn und Nachfolger.122 Ähnlich wie die solide Machtpolitik 119
Vgl. Perels, Appellationsprivilegien, S. 81; s.. a. zu diesem Problemkreis Schenk, Reichsjustiz, S. 43–47. 120 So Perels, Appellationsprivilegien, S. 81. 121 s. etwa die vielzitierte (auf Ostpreußen zielende) Bemerkung Friedrich Wilhelms I.: „Ich stabilire die Souverainité wie ein Rocher von Bronce“, abgedruckt in: Acta Borussica, Behördenorganisation 2, S. 352; oder aber die überlieferte Beschwerde Friedrich Wilhelms I., der Reichshofrat behandle ihn als „Fürsten von Zipfel-Zerbst“, wiedergegeben in einem Bericht Friedrich Heinrich von Seckendorffs, abgedruckt bei Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, S. 61. Zu der vielfach überlieferten Abneigung Friedrich Wilhelms I. gegen das Gesandtschaftszeremoniell vgl. auch Kap. E. I., E. II. 6., E. IV. 1. 122 Vgl. etwa Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., S. 635; Baumgart, Friedrich Wilhelm I., S. 157–158. Für Friedrich I., s. etwa Rohrschneider / Sienell, Hohenzollern kontra Habsburg?. Gerade mit Blick auf die brandenburg-preußischen Herrscher vom Großen Kurfürsten bis Friedrich Wilhelm I. werden die Begriffe „Reichstreue“ und „Reichspatriotismus“ in der Literatur häufig synonym verwendet. Allerdings handelt es sich bei „Reichstreue“ um einen Quellenbegriff, bei „Reichspatriotismus“ dagegen um einen historiographischen Begriff. Dennoch wird „Reichstreue“ häufig auch als analytischer Begriff verwendet. Zwar baut der Letztere offenbar auf dem Ersteren auf, das genaue Verhältnis ist gleichwohl in der Literatur nach wie vor kaum klar zu fassen: Wrede, Das Reich und seine Feinde, S. 4, gibt zwar der Kategorie des „Reichspatriotismus“ den Vorzug mit Verweis auf dessen „Orientierung auf Reichsidee und Kaisergedanke“, grenzt den so verstandenen „Reichspatriotismus“ aber nicht klar gegen den ursprünglich
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des Großen Kurfürsten lange Zeit der auf höfischen Glanz und – vermeintlich im Kern irrelevanten – äußeren Zeichen der Macht verpflichteten Politik seines Nachfolgers gegenüber gestellt wurde,123 galt und gilt wiederum Friedrich Wilhelm I. im Vergleich zu seinem Vater als Monarch, der bewusst und demonstrativ mit den höfischen und symbolischen Formen seines Vorgängers sowie seiner Zeitgenossen brach.124 Diese letztere Tendenz ist nach wie vor aktuell, auch wenn sich die Geschichtsforschung im Falle des ersten preußischen Königs von der alten, maßgeblich durch das Urteil Friedrichs des Großen geprägten Sicht auf den nur von „Eitelkeit und Hang zu übertriebenem Zeremoniell“ geleiteten Wunsch Friedrichs III., die Krone zu erwerben, verabschiedet hat.125 Wenngleich sich bei Friedrich Wilhelm I. sowohl für die demonstrative Distanz zu den repräsentativen Vorlieben Friedrichs III./I. als auch für die Verbundenheit zum Reich viele Belege anführen lassen, sollten diese Tendenzen doch nicht überbewertet werden. Eine zu scharfe Gegenüberstellung der beiden Könige läuft tendenziell Gefahr, den Blick auf bestimmte Bereiche des politischen Handelns Friedrich Wilhelms I. zu verdecken, die sich sehr wohl als Fortführung der Politik Friedrichs I. deuten lassen. Die unter Friedrich Wilhelm I. mitunter ostentativ dargestellte Distanz des Berliner Hofes und seiner Repräsentanten zur süddeutsch-katholisch-barocken Hof- und Gesandtschaftskultur wird aber auch – nicht zuletzt in Anlehnung an zeitgenössische Bewertungen – in der Literatur häufig als Unwissenheit und Ungeschicklichkeit der Berliner Politiker bzw. des Königs selbst dargestellt. Dabei lassen sich sowohl mit Blick auf die persönliche Abneigung und das Unverständnis, das der König gegenüber Zeremonialfragen äußerte, als auch hinsichtlich der „zeremoniellen Sparsamkeit“ am eigenen Hofe durchaus Parallelen zwischen Friedrich Wilhelm I. und seinem Sohn und Nachfolger Friedrich dem Großen beobachten.126 Dieser abschätzige Umgang Friedrichs des Großen mit höfischem Zeremoniell und Gesandtschaftswesen wird etwa von Barbara Stollberg-Rilinger so interpretiert, dass sich nur derjenige Monarch leisten konnte, mit Geringschätzung zeitgenössischen Begriff der „Reichstreue“ ab; vgl. auch speziell mit Blick auf den brandenburg-preußischen „Reichspatriotismus“ unter dem Großen Kurfürsten im Kontext der Auseinandersetzungen mit Schweden: ders., Der Kaiser, das Reich und der deutsche Norden, bes. S. 362–373. 123 So etwa bei Hintze, Hohenzollern, S. 255–257. 124 Vgl. etwa Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., S. 70–75; Baumgart, Friedrich Wilhelm I., S. 145–146. 125 Zur Bewertung Friedrichs III./I. durch die borussische Geschichtsschreibung in Anlehnung an die Aussagen Friedrichs des Großen vgl. Baumgart, Königskrönung, S. 65–67; s. a. Göse, Friedrich I., S. 9–10. 126 Dies gilt nicht zuletzt auch für die von der im Anschluss an die borusssische Geschichtsschreibung in der Literatur vertretene Interpretation der ostentativen Geringschätzigkeit gegenüber höfisch-zeremoniellen Formen als „bürgerlicher Habitus“; vgl. z. B. Kugler, Geschichte Friedrichs des Großen, etwa S. 125–126; Stollberg-Rilinger, Offensive Formlosigkeit, S. 213. Wolfgang Neugebauer spricht von „fallweisem Prunk“ am brandenburg-preußischen Hof des 18. Jahrhunderts: Neugebauer, Vom höfischen Absolutismus; für die Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. s. bes. S. 117–119.
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C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung
auf die barocke Hofkultur herabzublicken, der „selbst in seinem souveränen Status zweifelsfrei akzeptiert war“.127 Während die jüngere Forschung also die unter Friedrich II. in Berlin gepflegte „anti-höfische Kultur“ als Ausdruck von monarchischem Selbstbewusstsein und politscher Stärke interpretiert, wird man eine derartige Deutung für die Zeit Friedrich Wilhelms I. nach wie vor schwerlich finden. Gleichwohl lässt sich der Regierungsstil dieser beiden Könige in diesem Aspekt durchaus vergleichen – beide distanzierten sich deutlich vom ersten preußischen König. Unter Friedrich I. hatte Brandenburg-Preußen – verbunden mit dem Erwerb der Königskrone – einen immensen Ausbau höfischer Repräsentation erfahren.128 Zu Recht wurden und werden daher auch die ganz unterschiedlichen Regierungsformen und Selbstinszenierungen Friedrichs I. und Friedrich Wilhelms I. von der Forschung betont.129 Unstrittig ist aber auch, dass die Politik Friedrichs I. nach 1701 dem primären Ziel verpflichtet war, die Anerkennung der neuen königlichen Würde vor allem in der diplomatischen und zeremoniellen Kommunikation an den europäischen Höfen sowie im Reich zu erlangen. Doch gerade dieses Bemühen, das Ringen um die Durchsetzung der Honores regii war – mutatis mutandis – für den Großen Kurfürsten bis Friedrich Wilhelm I. ein wichtiges Element brandenburgpreußischer Reichspolitik.130 Seit 1701 war diese Politik dann eindeutig auf die „Übertrumpfung“ der Hierarchie des Reiches durch die neue Königskrone ausgerichtet – auch wenn sich dadurch zunächst noch kaum unmittelbare Konflikte mit dem Reichszeremoniell ergaben. Friedrich Wilhelm I. verfolgte die Akzeptanz seiner Honores regii ebenfalls, und zwar deutlich aggressiver als sein Vater, wenn auch mit anderen, ja teilweise geradezu entgegengesetzten Mitteln (höfische Prachtentfaltung hier, demonstrative Geringschätzung des Zeremoniells dort). Vor dem Hintergrund dieser – bei allen Unterschieden – sichtbaren Kontinuitätslinien bei den strategischen Zielen der Hohenzollern, muss aber auch die – historiographisch ohnehin problematische – Kategorie der „Reichstreue“ hinterfragt werden. Friedrich Wilhelm I. versuchte häufig – wie im Folgenden zu sehen sein wird –, seine königliche Würde im Verhältnis zum Kaiser geltend zu machen und sich so etwa der kaiserlichen Höchstgerichtsbarkeit zu entziehen. Diese Politik war am Ende nichts anderes als das Bemühen, die Reichslogik zu übertrumpfen – hier eben auf dem Gebiet der Justiz. Dagegen suggeriert die Friedrich Wilhelm I. gerne zugeschriebene „Reichstreue“ zumindest einen Politikstil, der auf Treue zu Reich 127
Stollberg-Rilinger, Offensive Formlosigkeit, Zitat S. 212. Für den Zusammenhang von höfischer Repräsentation und Königswürde vgl. etwa Pečar, Symbolische Politik. Als Darstellung für die Verhandlungen bis zum Erwerb der Königskrone nach wie vor unverzichtbar: Waddington, L’acquisition. 129 Vgl. Baumgart, Friedrich Wilhelm I., S. 140–141. 130 Zu den Bemühungen des Großen Kurfürsten, für die Kurfürsten den Rang souveräner Herrscher durchzusetzen bzw. die kurfürstliche Präeminenz gegen die Fürsten zu verteidigen, vgl. Stollberg-Rilinger, Honores regii, S. 16–21; Gotthard, Der „Große Kurfürst“. Zu den Anstrengungen Friedrichs I., sich von Anfang an aus den zeremoniellen Beschränkungen, die ihm der „Krontraktat“ auferlegt hatte, zu lösen, vgl. Pečar, Symbolische Politik, S. 288–290. 128
II. Brandenburg-Preußens Verhältnis zum Reichshofrat
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und Kaiser, mithin auf eine grundsätzliche Akzeptanz der Reichsinstitutionen basierte bzw. auf eine Unterordnung dynastisch-territorialer Interessen unter diejenigen des Reiches.131 All diese Beobachtungen sprechen dafür, die Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. auch und gerade mit Blick auf die häufig mit diesem König in Verbindung gebrachten Schlagworte „antihöfische Repräsentation“ und „Reichstreue“ stärker in ihren Kontinuitäten zur Regierungszeit seiner Vorgänger und derjenigen seines „großen“ Nachfolgers zu betrachten. Das wird besonders deutlich beim Umgang mit der preußischen Rangerhöhung: So berichtete der Minister Ilgen in einer bekannten Denkschrift von 1704 über die Erlangung der Krone, dass es ein vorrangiges Ziel der brandenburg-preußischen Politik im Rahmen der Verhandlungen mit Wien gewesen sei, den Anschein der Abhängigkeit der neuen Krone von der kaiserlichen Gnade zu vermeiden.132 Und in der Tat hatten sich die Verhandlungen im Jahr 1700 zwischen Berlin und Wien um die sensible Frage gedreht, ob der Kaiser den Hohenzollern zum König „kreiere“ oder aber ihn als solchen lediglich „agnosziere“.133 Auf diese Problematik bezog sich Theodor Schieder, als er die Verhandlungen, die schließlich zur Krönung von 1701 führten, als Teil des „prinzipiellen Kampf[es] zwischen dem territorial-staatlichen Anspruch voller Souveränität und der hierarchischen Ordnung des Reiches“134 interpretierte. Dieser, die Emanzipation eines unabhängigen preußischen Staates implizierenden Deutung Schieders sind im Lichte der Neubewertung des Alten Reiches in jüngerer Zeit verschiedene Differenzierungen an die Seite gestellt worden, die den Blick stärker auf das Selbstverständnis des Kaisertums, wie es sich in den Verhandlungen zwischen Berlin und Wien präsentierte,135 bzw. auf das Verhältnis Brandenburg-Preußens zum Reich lenken.136 Wenngleich in der Phase der Vorbereitung der brandenburg-preußischen Rangerhöhung die europäische Politik im Vordergrund stand – an erster Stelle ist hier die sich abzeichnende Auseinandersetzung um das spanische Erbe zu nennen –, und das Reich gewissermaßen von den Planern und Verhandlungsführern in Berlin und Wien bewusst „herausgehalten“ wurde, spielte die Reichspolitik als „zentrales Ord 131
Wie wenig analytischer Mehrwert von derartigen Kategorien ausgeht, zumal wenn sie auf die Verhältnisse innerhalb des Reichsverbandes angewandt werden, wird deutlich in dem Beitrag von Rohrschneider / Sienell, Hohenzollern kontra Habsburg?. Die Autoren beschreiben darin die „reichsloyale“ bzw. „reichspatriotische“ Haltung des Großen Kurfürsten und Friedrichs III./I. und stellen sie der „tatsächlich verfolgten Politik“ gegenüber, die „bei aller erkennbaren Iden tifikation mit der vorgegeben politischen Gestalt des Reiches […] die eigenen dynastischen Interessen den Belangen von Kaiser und Reich überordnete“ (Zitate S. 69). 132 Die Denkschrift ist abgedruckt bei Lehmann, Preussen 1, Nr. 418, S. 548–559, s. bes. S. 554–555. 133 Vgl. Duchhardt, Königtum, bes. S. 95; Baumgart, Verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Aspekte, bes. S. 15–16; s. a. die Zitate Friedrichs III. über die zukünftige Krone und seine Ablehnung, eine Krone „im Reich“ anzunehmen: Waddington, L’acquisitation, S. 405–409. 134 Schieder, Preußische Königskrönung, S. 187. 135 Vgl. etwa Duchhardt, Königtum; Roll, Königserhebung. 136 Vgl. auch zum Folgenden: Carl, „Und das Teutsche Reich“.
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C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung
nungssystem brandenburg-preußischen Regierungshandelns“ doch eine maßgeb liche Rolle in den Überlegungen beider Seiten.137 So lassen sich denn auch zentrale Fragen der Reichspolitik um 1700 im „Krontraktat“ finden, namentlich die Problematik der neunten Kur für Hannover, die Frage des Zeremoniells und schließlich die Konfessionsproblematik sowie die Stellung des Kaisers als oberster Richter.138 Die neunte Kur für das Haus Hannover hatte im Reich zu wesentlich größeren Diskussionen geführt als die Planungen für eine Rangerhöhung der Brandenburger Kurfürsten. Tatsächlich bedeuteten die neue Kurwürde und die parallele Readmission der Böhmischen Kur, durch die das Haus Habsburg im Kurkolleg vertreten war, für das politische System des Reiches den größeren Eingriff. Denn anders als die Veränderungen im Kurkolleg zog die preußische Königswürde keine unmittelbaren Konsequenzen verfassungsrechtlicher Art nach sich.139 Vielmehr hatten sich die Architekten des „Krontraktates“ darum bemüht, die Auswirkungen auf das Reich möglichst gering zu halten, was sich nicht zuletzt an den zeremoniellen Regelungen zeigt, nach welchen der preußische König im Reich weiterhin als Kurfürst behandelt werden sollte – worauf auch in der Folge besonders die übrigen Kurfürsten Wert legten. Wie sehr auch das konfessionelle Thema im Reich in die Kronverhandlungen h ineinspielte, lässt sich nicht nur an den expliziten Vereinbarungen zum Umgang mit den Konfessionskonflikten und der Bekräftigung des kaiserlichen Richteramtes in diesen Fragen ablesen.140 In Wien war im Kontext der Verhandlungen über die Krone auch die Überlegung formuliert worden, dass man mit der Zustimmung zur preußischen Königswürde möglicherweise Vorteile für die katholische Religion in den brandenburg-preußischen Reichsterritorien erreichen könnte.141 Eine der Forderungen des Wiener Hofes bestand darin, dass zukünftig im Haus des kaiserlichen Residenten in Berlin auch während dessen Abwesenheit die Messe gefeiert werden dürfte. Dies lehnte die brandenburg-preußische Seite allerdings rundweg ab.142 137
Vgl. Carl, „Und das Teutsche Reich“, Zitate S. 48. In jüngerer Zeit hat Roll, Königserhebung, unter Einbeziehung der Wiener Überlieferung die Bedeutung der brandenburg-preußischen Truppenkontingente für die Einigung zwischen Berlin und der Hofburg relativiert und gezeigt, wie seitens Wiens vielmehr die Einsicht im Vordergrund stand, dass man einerseits die Krönung langfristig ohnehin kaum verhindern könne und dass man andererseits angesichts des sich abzeichnenden Krieges um das spanische Erbe und die parallelen Auseinandersetzungen im Norden des Reichs den Übertritt Brandenburg-Preußens in eine gegnerische Koalition unbedingt vermeiden müsse. 139 Vgl. Carl, „Und das Teutsche Reich“, S. 48, 53–54. 140 Der Allianzvertrag vom 16. November 1700 zwischen Kaiser Leopold und Kurfürst Friedrich III. (der so genannte „Krontraktat“) ist vollständig ediert bei Moerner, Staatsverträge, S. 810–823; für die gekürzte Fassung s. ebd., S. 673–679. 141 Tatsächlich floss der Schutz der katholischen Religion insofern in den Krontraktat ein, als Friedrich III./I. sich im vierten Separatartikel u. a. darauf verpflichtete, die katholische Geistlichkeit in Kleve nicht mehr entgegen den Bestimmungen der mit den klevischen Landständen verabredeten Rezesse etc. zu beschweren und insbesondere ihre Privilegien mit Blick auf Steuern und Abgaben zu respektieren; Moerner, Staatsverträge, S. 821–822. 142 Vgl. Roll, Königserhebung, S. 213–214, Anm. 71, sowie S. 209, Anm. 60, mit einem Zitat aus dem Beschluss der Geheimen Konferenz vom 27.7.1700, aus dem hervorgeht, dass die 138
II. Brandenburg-Preußens Verhältnis zum Reichshofrat
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Wie hoch der symbolische Wert dieser Forderung bzw. ihrer erfolgreichen Zurückweisung war, zeigt die Genugtuung, mit der der leitende brandenburg-preußische Minister Ilgen diesen Aspekt der Verhandlungen in der besagten Denkschrift über die Erlangung der königlichen Dignität behandelte.143 Auch die Bewertungen der Zeitgenossen, ihre im Kontext der Planungen zur preußischen Rangerhöhung geäußerten Hoffnungen wie Sorgen liefern zahlreiche Belege für die konfessionelle Deutung dieser Standeserhebung. So ging die in katholischen Kreisen immer wieder geäußerte Angst vor einem protestantischen Kaisertum, nachdem sie bereits von der Diskussion über die Hannoveraner Kurwürde befeuert worden war, nach 1697 gewissermaßen auf die geplante preußische Rangerhöhung über und tauchte auch nach der bereits vollzogenen Krönung, beispielsweise im Kontext der Wahlverhandlungen Karls VI. 1711, immer wieder auf.144 Gleichzeitig hatte auf katholischer Seite zumindest zeitweilig eine gewisse Hoffnung bestanden, mit der Königskrone für Brandenburg-Preußen auch eine Konversion Friedrichs III. zu erreichen.145 Aus evangelischer Perspektive wiederum erschien die preußische Königswürde, etwa für Leibniz, als eine bedeutende Verstärkung bei der Verteidigung der protestantischen Interessen im Reich.146 Wiewohl das Reich also von der preußischen Rangerhöhung direkt kaum betroffen war, lässt es sich dennoch als Rahmen bezeichnen, in dem sich die Verhandlungen um die Krönung abspielten und den es zu schonen galt, in dem Sinne, dass zahlreiche problematische Themen bereits durch den „Krontraktat“ gleichsam „neutralisiert“ werden sollten. Insofern ist zu Recht das Diktum Schieders ein geschränkt und stattdessen auf die erstaunliche Anpassungsleistung des Reiches hingewiesen worden, die darin bestand, dass die ständischen, genossenschaftlichen Strukturen trotz der Rangerhöhungen, die das Reich im späten 17. und früKonferenz für den Fall, dass Brandenburg-Preußen im zukünftigen Krieg auf gegnerischer Seite stünde, großen Schaden für die katholische Religion und die Stellung des Kaisers im Reich befürchtete. 143 Lehmann, Preussen 1, Nr. 418, S. 548–559 (Denkschrift von Ilgen über die Erwerbung der königlichen Dignität, 1704), S. 553: „Es ist auch nicht zu leugnen, dass das kaiserliche Ministerium die Saiten hoch genug gespannt; absonderlich wurde der Punct der Religion sehr hart getrieben. […] Sie [die kaiserlichen Minister] bestunden aber doch lange darauf, dass dannoch den kaiserlichen zu Berlin sich aufhaltenden Ministris wegen Haltung ihres Gottesdienstes mehrere Freiheit als bisher gegeben, ihnen ein eigen Haus zu solchem Ende zu erkaufen gestattet, auch in demselben in Abwesenheit der kaiserlichen Minister Messe halten zu lassen erlaubet werden möchte. Von welchem allen aber nicht das Geringste eingeräumet, noch sonst etwas versprochen und bewilliget worden, so der evangelischen Religion zum Nachtheil und der katholischen zum Gewinn gedeihen könnte.“ 144 Vgl. Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 221–251; Siemsen, Kurbrandenburgs Anteil, S. 33. 145 Vgl. Lehmann, Preussen 1, S. 387–375; Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 243–245. Zur Diskussion über die Aussichten einer Konversion und zur Bedeutung des Scheiterns der römischen Konversionspläne für die politische Haltung der Kurie vgl. die unterschiedlichen Bewertungen in der Literatur etwa bei Friedensburg, Kurie; Ziekursch, Papst Klemens’ XI. Protest; Hiltebrandt, Preußen und die römische Kurie; Samerski, Blitze. 146 Vgl. Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 245.
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C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung
hen 18. Jahrhundert erlebte (und von denen die preußische ja nur eine war), intakt blieben.147 Aber auch wenn der Erwerb der preußischen Königskrone im Reich tatsächlich wenig Beachtung fand und Konflikte mit dem Reichssystem in den unmittelbar auf die Krönung folgenden Jahren weitestgehend erfolgreich vermieden wurden, bleibt die oben zitierte Deutung der Rangerhöhung als Instrument der „Übertrumpfung“ der Reichshierarchien nichtsdestoweniger zutreffend – das zeigt bereits der Konflikt um den reformierten Gottesdienst in der Reichsstadt Köln in den Jahren 1707/8.148 Denn hinter dem brandenburgischen Streben nach der Krone stand zweifellos die seit dem Westfälischen Friedenskongress mehrfach bestätigte Erfahrung, dass den Kurfürsten das „königliche Traktament“ verweigert wurde. Allein die monarchische Würde garantierte eine zeremonielle Gleichbehandlung mit den souveränen Fürsten Europas.149 Nach 1701 musste sich die neue königliche Würde daher vor allem auf den Gebieten des höfischen Gesandtschaftswesens und der europäischen Diplomatie gleichsam als Tatsache bewähren, indem „die Theorie der völkerrechtlichen Souveränität aus den gelehrten Folianten in die politisch-soziale Praxis der Höfe ‚übersetzt‘ wurde“.150 Unter der Regierung Friedrich Wilhelms I. scheint dann die Betonung der königlichen Souveränität immer deutlicher in Konflikt mit der reichsrechtlichen Handhabung und Sprache des kaiserlichen obersten Richter- und Lehensamtes geraten zu sein. Somit lassen sich die zahlreichen Spannungen zwischen Friedrich Wilhelm I. und dem Reichshofrat eben auch als ein Medium verstehen, in dem die Akteure den „fundamentalen politisch-sozialen Strukturwandel […] von der hierarchischen Fürstengesellschaft zum modernen Staatensystem“151 verhandelten. Friedrich Wilhelm I. versuchte gewissermaßen, die auf der Ebene der europäischen Diplomatie erreichte Anerkennung der preußischen Königswürde auf die „alltägliche“ politisch-juristische Kommunikation mit dem Kaiser zu übertragen. Damit aber wurde mittelfristig die Argumentation mit der preußischen Souveränität eben doch auch innerhalb des Reichsverbandes zu einem Element des zitierten Strukturwandels, der sich in der Zurückdrängung kaiserlicher Machtbefugnisse äußerte. Insofern trifft das Schiedersche Diktum vielleicht weniger auf den ersten preußischen König und den Akt der Krönung selbst zu als vielmehr auf den Sohn und Nachfolger Friedrichs I. bzw. dessen Regierungszeit. Obwohl die Loyalität zum Kaiserhaus als Konstante brandenburg-preußischer Politik seit 1686 gelten kann und ganz fraglos die entscheidende Voraussetzung für die Zustimmung des Kaisers zur preußischen Königswürde war, schuf die preußische Krone mittelfristig dennoch Schwierigkeiten zwischen Berlin und Wien, und zwar gerade in Auseinandersetzung mit dem „Kernbereich“ des kaiserlichen Amtes: 147
Vgl. Carl, „Und das Teutsche Reich“, S. 61. Vgl. dazu Kap. V. II. 2. d). 149 Vgl. Stollberg-Rilinger, Des Kaisers Alte Kleider, etwa S. 223. 150 Stollberg-Rilinger, Honores regii, S. 26. 151 Ebd. 148
II. Brandenburg-Preußens Verhältnis zum Reichshofrat
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dem obersten Lehnsherren- und Richteramt. Eine Politik Brandenburg-Preußens, die sich gegen die gerade von den Kaisern Joseph I. und Karl VI. vertretene strikt hierarchische Ausrichtung des Reichsverbandes richtete, konnte aber in Wien nur sehr begrenzt als „reichstreu“ – im Sinne des Erhalts der hergebrachten Reichsverfassung – erscheinen; und tatsächlich häuften sich parallel zu den zahlreichen Missfallensäußerungen Friedrich Wilhelms I. über das unwürdige „Traktament“, dem er seitens Wiens ausgesetzt sei, die Klagen der kaiserlichen Diplomatie und des Reichshofrats über den norddeutschen Kurfürsten-König, der offenbar seine Souveränität auch in seinen Reichslanden ausüben wolle und damit die Forma imperii gefährde.152 Die Zugehörigkeit zum Reichsverband mit dem Kaiser an der Spitze, die freilich auch von Friedrich Wilhelm I. nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern häufig genug im positiven Sinne bemüht wurde, konnte eben mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen gefüllt werden. Zu Recht hat Axel Gotthard bereits für die Zeit des Großen Kurfürsten und die damalige protestantische Reichspolitik BrandenburgPreußens festgestellt, dass man die Formel „Kaiser und Reich“ in Berlin „keineswegs für tautologisch“ hielt: „Reichstreue ging an der Spree nicht im Gehorsam gegenüber dem Reichoberhaupt auf …“.153 In der ersten Hälfte der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. kollidierten vor allem die Bemühungen des jungen Königs, seine „Souverainité“ zu stärken, mit einer starken kaiserlichen Reichspolitik, die in der Frühzeit der Regierung Karls VI. noch weitgehend unbeeinträchtigt von den Bemühungen um eine Anerkennung der Pragmatischen Sanktion im Reich und in Europa war. Dieser Befund lässt sich nicht zuletzt auch an der Aktivität des Reichshofrats ablesen: Zwar weist die Zahl der am kaiserlichen Gericht verhandelten Verfahren allgemein für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Anstieg auf, aber insbesondere im ersten Drittel der Regierungszeit Karls VI. scheint sich die Tätigkeit des Reichshofrats nochmals deutlich verstärkt zu haben.154 Es liegt daher nahe, dass eine ambitionierte kaiserliche Reichspolitik sich positiv auf die Nutzung des Reichshofrats durch potentielle Sup 152 s. etwa Reskript an den Grafen von Schwerin (nach Wien), Berlin, 16.4.1718, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 149, Bl. 2: Offenbar habe sich in Wien der Eindruck verfestigt, „ob würden Wir künfftig aus unseren Reichslanden gar keinen recursum an die Höchste Reichs- Judicia weiter gestatten wollen …“. Der Gesandte aber solle versichern, dass dies keineswegs die Berliner Intention sei, „sondern Wir und Unser Land blieben in dem vinculo, in welchem Wir gegen den Kayser und das Reich stehen und werden Uns auch demselben nimmermehr entziehen“. Allerdings sollte der Gesandte dies nicht ohne den Hinweis überbringen, dass auch die reichshofrätliche Rechtsprechung im Rahmen der Reichsverfassung und „der Unserem Hause verliehenen Kayserl. Privilegien und deren wahren verstande bleiben“ müsse – „und wenn solches nur geschiehet, so werden alle verdriesslichkeiten zwischen Uns und dem Kayserlichen Hof bald cessiren“. Dass bereits die Reichs- und Territorialpolitik Friedrichs III./I. „stark antikaiserliche Züge“ aufwies, betont zu Recht Vötsch, Kursachsen, S. 386–387; s. dazu auch Kap. C. III. 153 Gotthard, Der „Große Kurfürst“, S. 14. 154 Vgl. Ortlieb / Polster, Prozessaufkommen, S. 202, 204; s. a. die durch die Seckendorffsche Korrespondenz überlieferte Bemerkung des Prinzen Eugen, der Reichshofrat habe mit Brandenburg-Preußen beinahe so viel zu tun wie mit dem gesamten Rest des Reiches; Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, S. 27.
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C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung
plikanten und Kläger auswirkte.155 Und in der Tat lassen sich gerade aus der ersten Hälfte der Regierungszeit Karls VI. Beispiele dafür finden, dass Akteure der kaiserlichen Diplomatie zögernde Kläger unter Verweis auf die kaiserliche Gerechtigkeit zur förmlichen Appellation an den Reichshofrat geradezu drängten.156
III. Kaiserliche Reichspolitikund Brandenburg-Preußens agrandissement Als besonders augenfällige Beispiele der kaiserlichen Präsenz im Reich unter Joseph I. bzw. Karl VI. gelten gemeinhin die beiden norddeutschen Ständekonflikte in Mecklenburg und Ostfriesland, in die der Kaiser über den Reichshofrat mehrfach eingriff und Exekutionen anordnete – übrigens in beiden Fällen Brandenburg-Preußen als Kreisdirektor bewusst übergehend.157 Über die Vergabe von Kommissionen hatte der Kaiser also durchaus Möglichkeiten, auch die Reichspolitik der großen norddeutschen Reichsstände zu beeinflussen, boten doch derartige Aufträge – zumindest wenn sie Verfahren gegen mindermächtige Reichsstände betrafen – immense Einflussmöglichkeiten für die Kommissare und waren daher grundsätzlich begehrt. Die ostentative Übergehung eines Kreisdirektors war daher für den Betroffenen sowohl eine öffentliche Demonstration der kaiserlichen Ungnade als auch eine empfindliche Zurücksetzung gegenüber konkurrierenden Reichsständen – im Falle Brandenburg-Preußens also primär gegenüber Hannover, Kursachsen und Braunschweig-Wolfenbüttel.158 Obwohl Brandenburg-Preußen an dem 1717 durch den Reichshofrat erlassenen Konservatorium für Mecklenburg nicht beteiligt war159 und Friedrich III./I. sich bereits im „Krontraktat“ darauf verpflichtet hatte, seine Truppen aus Mecklenburg abzuziehen und sich in der mecklenburgischen Frage allen Anweisungen des Kaisers zu beugen, verfolgte Brandenburg-Preußen seine Interessen nichtsdestoweniger weiter. Dieses reichsrechtlich nicht gedeckte Engagement Brandenburg-Preußens als eine der „interessierten“ Mächte führte in der Folge zu langwierigen Auseinandersetzungen zwischen Berlin und dem Reichshofrat.160 155
Vgl. Ortlieb / Polster, Prozessaufkommen, S. 211. Für Beispiele vgl. Kap D. II. 157 Diese Bewertung lässt sich bereits in der zeitgenössischen Literatur finden; s. Loen, Herrn von Loen, S. 17. Ausführlich zu den Ständekonflikten in Mecklenburg und Ostfriesland und zur Rolle der kaiserlichen Politik bzw. zu der reichshofrätlichen Rechtsprechung: Hughes, Law and Politics. 158 Dass dies in Berlin ähnlich wahrgenommen wurde, zeigt ein Reskript an Metternich, Berlin, 9.6.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 64, Bl. 1: Man habe in Berlin seit einiger Zeit bemerkt, dass praktisch alle Kommissionen, welche „in dem Obersächsischen, Niedersächsischen und Westphälischen Creise ergehen, niemand anders als dem Churfürsten von Braunschweig aufgetragen [werden]; Wir aber, ob wir gleich […] die bekannte Creis Ämbter haben, bey Ertheilung solcher Commissionen […] gäntzlich davon ausgeschlossen werden …“. Durch diese Praxis entstehe dem König und seinen Kreisämtern „kein geringer tort“. 159 Vgl. Jahns, „Mecklenburgisches Wesen“, S. 338–342. 160 Vgl. ausführlich Hughes, Law and Politics, S. 156–205. 156
III. Kaiserliche Reichspolitik
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Für die kaiserliche Reichspolitik wiederum offenbarte gerade das Angewiesensein auf Reichsstände, welche die Exekutionen übernahmen, insbesondere im Norden des Reiches gleichzeitig eine große Schwäche des kaiserlichen obersten Richter- und Lehensamtes.161 Diese Problematik lässt sich besonders eindrücklich daran beobachten, wie Hannover in Mecklenburg agierte. Hannover war eindeutig partikularen politischen Interessen verpflichtet und übertrat die kaiserlichen Aufträge regelmäßig.162 Noch deutlicher zeigt sich die Ambivalenz der kaiserlichen Rechtsprechung, wenn man berücksichtigt dass eine Exekution gegen einen so mächtigen Reichsstand wie Brandenburg-Preußen praktisch unmöglich war. So wurden im Reichshofratsprozess um die Grafschaft Tecklenburg der britische König als Kurfürst von Hannover und der Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel damit beauftragt, gegen Brandenburg-Preußen vorzugehen, doch blieb dieser Auftrag ohne praktische Folgen.163 Und auch im Reichshofratsprozess um die Allodifikation der Lehen164 wurden zwar der König von Polen als Kurfürst von Sachsen, der König von Schweden als Herzog von Pommern und die Kurfürsten von Trier und Pfalz zur Ausführung eines Reichshofratsmandats gegen Friedrich Wilhelm I. bestimmt, die Exekution aber unterblieb – trotz entsprechender Überlegungen des Rivalen Brandenburgs, Kursachsen, – aufgrund der mangelnden Bereitschaft der übrigen Exekutoren.165 Dass Exekutionen gegen einen Reichsstand der Größe und des politischen Gewichts Brandenburg-Preußens letztlich undurchführbar waren, bedeutet jedoch nicht, dass die Reichsgerichtsbarkeit für die Territorial- und Reichspolitik der Hohenzollern irrelevant gewesen wäre. Vielmehr beeinflusste sie die politischen Handlungsmöglichkeiten der Landesherrschaft auf verschiedenen Ebenen: Allein die Möglichkeit der Anrufung eines der beiden höchsten Reichsgerichte wirkte sich strukturell auf das Verhältnis zwischen Landesherrschaft und mediaten Untertanen aus. Sie eröffnete vor allem den korporativ verfassten, privilegierten Untertanen einen Weg, sich gegen solche landesherrliche Maßnahmen zur Wehr zu setzen, die ihre Rechte einzuschränken drohten. Friedrich Wilhelm I. hatte zudem durch die eigenen zahlreichen Auseinander setzungen vor bzw. mit dem Reichshofrat auch reichspolitische Nachteile zu gewärtigen, unter anderem dadurch, dass der Reichshofrat Brandenburg-Preußen bei 161 Die Schwäche der kaiserlichen Politik im Norden des Reiches zeigte sich besonders deutlich angesichts des Braunschweiger Kongresses zur Beendigung des Nordischen Krieges. Hier versuchte der Kaiser vergeblich, unter anderem in der Frage der Verteilung der schwedischen Reichsgebiete Einfluss auszuüben; vgl. dazu etwa Aretin, Das Alte Reich 2, S. 257; Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 212–216. Wie sehr die kaiserliche Politik darauf bedacht war, jeglichen Anschein von Parteilichkeit zu vermeiden, um als Mediator unangreifbar zu bleiben und auf diese Weise einen gewissen Einfluss zu bewahren, zeigt sich u. a. in den Konferenzbeschlüssen; s. etwa Konferenzrelation, 26.2.1715, HHStA, RK, Vorträge 6 b. 162 Vgl. dazu Hughes, Law and Politics, passim; Jahns, „Mecklenburgisches Wesen“, passim. 163 Vgl. Klueting, Grafschaft und Großmacht, S. 126–127. 164 Zur Allodifikation der Lehen und dem daraus resultierenden Reichshofratsverfahren vgl. Kap. D. II. 3. a). 165 Vgl. Schenk, Reichsjustiz, S. 67–69, 72–74.
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C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung
Exekutionsfällen im norddeutschen Raum nicht beteiligte und damit die reichspolitischen Möglichkeiten Berlins im geopolitischen Umfeld schmälerte.166 Über die (Nicht-)Vergabe von Kommissionen stand dem Kaiser so ein Mittel zur Verfügung, „Kaisernähe“ zu belohnen, sichtbar darzustellen und ggf. sogar zu intensivieren, „Kaiserferne“ hingegen wirkungsvoll vor der Reichsöffentlichkeit zu demonstrieren und zu bestrafen. Exekutionsmandate, die angewiesen, aber nicht durchgesetzt wurden,167 betrachteten die Zeitgenossen eben nicht ausschließlich oder auch nur primär als Ausweis kaiserlicher Ohnmacht; vielmehr lag die politische Bedeutung von Reichshofratsmandaten gegen mächtige Territorialherren wie den preußischen König ganz maßgeblich in ihrer Symbolik.168 Sie verwiesen zum einen auf die Reichshierarchie und untermauerten damit die kaiserliche Suprematie bzw. das Vasallentum aller Reichsstände; andererseits wurde der Kaiser bei Appellationen mediater Untertanen als zuständige Obrigkeit in Konkurrenz zum Landesherrn angefragt. Schließlich vermochte der Kaiser über diejenigen Reichsstände, die er als Kommissare benannte, auch dann politischen Druck auszuüben, wenn diese aller Wahrscheinlichkeit nach den Exekutionsauftrag zwar annehmen aber nicht ausführen würden.169 Auch wenn für die brandenburg-preußischen Herrscher spätestens seit Mitte des 17. Jahrhunderts von reichsgerichtlichen Entscheidungen gegen sie kaum noch die reale Gefahr einer Exekution ausging,170 so besaßen sie zweifellos auch noch im frühen 18. Jahrhundert einen immensen politischen „nuisance value“:171 Unterstrichen diese Mandate doch jedes Mal vor der Reichsöffentlichkeit die Vasallenrolle der brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige und konterkarierten mithin die immer nachdrücklicher in Anspruch genommene königliche Souveränität. Ein solches Verständnis der politischen Wirksamkeit unausgeführter Mandate erklärt, weshalb Friedrich Wilhelm I. über Jahre hinweg so intensiv darum kämpfte, sich der kaiserlichen Rechtsprechung überhaupt zu entziehen, besonders aber Appellationen der eigenen Untertanen an die Reichsgerichte zu unterbinden. Neben den Bemühungen der brandenburg-preußischen Politik, einen vom Reich möglichst unabhängigen Rechtsraum zu schaffen, führte die durchaus „klassische“ territoriale Arrondierungspolitik im Reich (verstanden als eine Politik, die den verfassungsrechtlichen Rahmen des Reiches ausnutzte bzw. ausreizte und das Ziel verfolgte, die eigene Stellung im Reich zu verbessern) im späten 17. und frühen 166
Zumindest im Falle des Reichskammergerichts entzog sich Brandenburg-Preußen zwar seit Mitte des 17. Jahrhunderts immer erfolgreicher der Rechtsprechung, vollstreckte aber selbst als kreisausschreibender Stand die übernommenen Exekutionsmandate „mit größter Pünktlichkeit […], weil es sich hier regelmäßig nicht um die eigenen Untertanen handelte und außerdem ein fiskalisches Interesse an den dabei zu erhebenden Vollstreckungsgebühren bestand“; Smend, Brandenburg-Preußen, S. 198. 167 Im Sinne des Titels des Aufsatzes von Schlumbohm, Gesetze. 168 Vgl. ebd., S. 660. 169 Vgl. etwa für den Fall der Allodifikation der Lehen: Schenk, Reichsjustiz, S. 190–196. 170 Vgl. dazu für das Reichskammergericht: Smend, Brandenburg-Preußen, S. 185. 171 Hughes, Imperial Aulic Council, S. 202.
III. Kaiserliche Reichspolitik
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18. Jahrhundert zu zahlreichen Auseinandersetzungen vor dem Reichshofrat. Auf einige der bekanntesten Prozesse, die wegen ihres politischen Gehalts auch in den zeitgenössischen Medien starken Niederschlag fanden, wird im Folgenden einzugehen sein. Der Stellenwert, den die kaiserliche Seite den nachstehend besprochenen Konflikten einräumte, lässt sich bereits daran ablesen, dass zahlreiche eben dieser Fälle im Allianzvertrag vom 16. November 1700, dem so genannten „Krontraktat“, ausdrücklich angesprochen wurden, namentlich Mecklenburg, Mansfeld, Werden, Essen und Quedlinburg. Wie auch mit Blick auf die Beilegung der Religionsgravamina (insbesondere derjenigen in der Kurpfalz)172 verpflichtete sich der zukünftige preußische König auch für jene Auseinandersetzungen darauf, die kaiserliche Schiedsgerichtsbarkeit bzw. die reichshofrätliche Rechtsprechung anzuerkennen und zu befolgen.173 Zu den gängigen Instrumenten der brandenburg-preußischen Arrondierungspolitik seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gehörte die Reaktivierung von teilweise noch aus dem Mittelalter stammenden lehensrechtlichen Bindungen, wie beispielsweise in den Grafschaften Stolberg und Wernigerode, wobei man sich auf alte Lehensbindungen an Halberstadt berief.174 Weiterhin nutze Brandenburg-Preußen ebenfalls seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts konsequent Vogtei- und Schutzrechte über kleinere Reichsstände, um die eigene Herrschaft auszubauen, insbesondere gegenüber den Reichsstiften bzw. -abteien Quedlinburg, Herford, Werden und Essen sowie der Reichsstadt Dortmund.175 Ein wichtiges Mittel, politischen Druck auf diese Reichstände auszuüben, stellte die Übernahme der Stellung von Kreiskontingenten dar. Dieses Verfahren bot Brandenburg-Preußen neben den finanziellen Erträgen auch die Möglichkeit, dauerhafte Einquartierungen vorzunehmen und damit die eigene militärische Präsenz in den jeweiligen Gebieten zu befestigen. Besonders erfolgreich praktizierte Brandenburg-Preußen diese Vorgehensweise während des Spanischen Erbfolgekrieges im Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis.176 Eines der wichtigsten Ziele der „klassischen“ Reichspolitik gegenüber kleinen benachbarten Reichsständen oder solchen, die durch Verwandtschaft, Schutz-, Vogteioder Administrationsrechte mit Brandenburg-Preußen verbundenen waren, stellte während der Regierungen Friedrichs I. und Friedrich Wilhelms I. die Erlangung
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Vgl. Moerner, Staatsverträge, S. 812. Vgl. ebd., S. 819–822 (4. Separatartikel). 174 Vgl. auch zum Folgenden Czech, Brandenburg, hier bes. S. 82–83; sowie zusammenfassend Vötsch, Kursachsen, S. 363–367. 175 Vgl. Czech, Brandenburg, S. 84–85; Reimann, Dortmund, S. 14–20; s. a. die einschlägigen Verträge, aufgeführt bei Moerner, Staatsverträge: für Werden etwa S. 141–142 sowie S. 287–288; für Essen etwa S. 238–239; für Herford etwa S. 143–148. Zu den Reichkammergerichtsprozessen, die im 17. Jahrhundert von den Abteien Herford, Werden und Essen gegen Brandenburg-Preußen angestrengt wurden, vgl. Smend, Brandenburg-Preußen, S. 178. 176 Vgl. Arnold, Geschichte des niederrheinisch-westfälischen Kreises, S. 107–112; Berney, König Friedrich I., S. 197–203; Hanschmidt, Kurbrandenburg als Kreisstand; für das Stift Essen s. etwa Loewe, Staatsverträge Friedrichs I., S. 66. 173
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C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung
von Stimmen in den jeweiligen Reichskreisen bzw. Reichsgrafenkollegien dar.177 Die Akkumulation von Kreistagsstimmen bzw. das Eindringen in Kreise, in denen Brandenburg-Preußen bislang nicht vertreten war, bot einen – in der Reichsverfassung vorgesehenen – Weg für die Verbreiterung des politischen Einflusses Brandenburg-Preußens im Reich und damit eine Möglichkeit, der wachsenden Spannung zwischen verfassungsrechtlicher Machtverteilung und realem politischen Gewicht zu begegnen178 – eben durch die Vergrößerung politischer Mitspracherechte im Rahmen des Reichsverfassungssystems. Ein äußerst konfliktträchtiges Beispiel für die Nutzung von Administrationsrechten für die territoriale Arrondierungspolitik stellt der Umgang mit der Grafschaft Mansfeld dar.179 Über Halberstadt und Magdeburg besaß Bandenburg-Preußen Lehensrechte für die Grafschaft Mansfeld und übte gemeinsam mit Kursachsen seit 1680 (und nach dem Verkauf der kursächsischen Rechte von 1707 bis 1715 gemeinsam mit Hannover) via Magdeburg eine Sequestrationsverwaltung über die hochverschuldete Grafschaft aus. Auch diese „Reichsangelegenheit“ floss in den „Krontraktat“ von 1700 ein: Friedrich III./I. verpflichtete sich gegenüber Leopold I., den Sequester aufzuheben.180 Die Mansfelder Grafen beriefen sich in den Folgejahren auf diese Verpflichtung und klagten mehrfach gegen die andauernde Sequestrationsverwaltung am Reichshofrat. Nachdem 1710 der letzte evangelische Mansfelder Graf verstorben war und sämtliche Erbansprüche an die in Böhmen ansässige katholische Linie Mansfeld-Bornstedt übergegangen waren, betrieb der Reichshofrat mit größerem Nachdruck die Aufhebung des Sequesters.181 Auch in diesem Fall wurde schließlich 1715 die Exekution gegen Brandenburg-Preußen beantragt, und zwar durch den Niederrheinisch-Westfälischen Kreis. Friedrich Wilhelm I. lenkte diesmal allerdings ein und hob im Oktober 1716 den Sequester offiziell auf.182 Mit einer Einigung über die Reichsstadt Nordhausen wurde ein weiterer jahrelanger reichspolitischer Streitfall zu Beginn der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. 177
Während Brandenburg-Preußen im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis bereits vertreten war und sich bemühte, weitere Stimmen hinzuzugewinnen, ging es im Fränkischen Kreis darum, überhaupt die Kreisstandschaft zu erlangen. Im Niederrheinisch-Westfälischen Grafenkollegium wurde Brandenburg-Preußen erst ab 1732 über die Grafschaft Tecklenburg förmliches Mitglied; vgl. hierzu Arndt, Hochadel, bes. S. 192–193. Zur Stimmführung der Kuriatsstimme durch den magdeburgischen Reichstagsgesandten Henniges vgl. ebd., S. 191; und zu den kurzzeitigen Bemühungen Brandenburg-Preußens um eine eigene Klientelbildung unter den evangelischen Grafen ebd., S. 208. 178 Vgl. Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 447–448. Zur brandenburg-preußischen Politik auf der Ebene der Reichskreise in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert allgemein vgl. dies., Ständekonflikt, S. 134–137. 179 Vgl. auch zum Folgenden Schwarze-Neuß, Untersuchungen, sowie insbesondere zu den Verwicklungen mit Kursachsen: Vötsch, Kursachsen, S. 374–384. 180 Moerner, Staatsverträge, S. 820–821. 181 Bereits Ende 1709 hatte der kaiserliche Rat Heinrich Franz von Mansfeld den Reichsfürstentitel angenommen, und Mitte 1710 folgte die kaiserliche Notifikation, die wiederum auf Seiten Brandenburg-Preußens und Kursachsens zu Protesten führte; vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 379–380. 182 Vgl. dazu auch Kap. E. I.
III. Kaiserliche Reichspolitik
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gelöst. Friedrich III. hatte 1697 von Kursachsen die Reichsvogtei- und Schultheißrechte über die freie Reichsstadt Nordhausen erworben. Die Stadt hatte sich allerdings gleichzeitig, um brandenburg-preußischen Bedrückungen zuvorzukommen, selbstständig unter hannoverischen Schutz gestellt, so dass in den folgenden Jahren Berlin wegen Nordhausen sowohl mit Hannover als auch mit dem Kaiser im Konflikt lag.183 Im Mai 1715 beendeten Hannover und Brandenburg-Preußen die Auseinandersetzungen um Nordhausen im so genannten „Nordhäuser Rezess“; ein Jahr darauf erging die kaiserliche Konfirmation des Vertrages.184 Die Beispiele Nordhausen und Mansfeld zeigen mithin, dass nicht alle reichspolitischen Angelegenheiten, die Friedrich III./I. seinem Nachfolger hinterließ, von Friedrich Wilhelm I. auf konfrontativem Kurs weiterbetrieben wurden – für Nordhausen und Mansfeld löste Friedrich Wilhelm I. vielmehr ein, worauf sich sein Vater im „Krontraktat“ mit Leopold I. verpflichtet hatte. Neben den Möglichkeiten, über Schutzrechte und die Stellung von Kreis kontingenten den eigenen Einfluss zu erweitern, stützte sich die brandenburg-preußische Reichspolitik maßgeblich auf die dynastische Politik, die im Falle der beiden freiweltlich evangelischen Damenstifte Herford und Quedlinburg ein erfolgreiches Mittel darstellte, um sich einen größeren Einfluss auf diese Reichsstände zu sichern.185 In beiden Stiften versuchte Brandenburg-Preußen schon unter Friedrich III./I., bestimmte Schutzrechte immer mehr auszuweiten, so dass sich aus den strittigen geistlichen und weltlichen Hoheitsrechten langwierige Rechtsstreitigkeiten entwickelten. Für das Verhältnis zum Kaiser belastend wirkte sich besonders die jahrelange Verhinderung der Introduktion einer neuen Äbtissin in Quedlinburg aus. Im Zuge dessen wandten sich das Kapitel und die gewählte Äbtissin sowohl (erfolglos) an den Reichstag als auch (erfolgreicher) an den Reichshofrat. Unter Friedrich Wilhelm I. intensivierten sich auch im Falle Herfords und Quedlinburgs die bereits seit der Regierungszeit Friedrichs III./I. am Reichshofrat anhängigen Verfahren gegen den preußischen König. Sowohl in Herford als auch in Quedlinburg gelang es Brandenburg-Preußen schließlich unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., mithilfe hohenzollernscher Äbtissinnen ihre Machtbefugnisse über die Stifte nachhaltig zu erweitern, mithin auf dem Weg der Familienpolitik eine legitime Reichspolitik im Sinne der Ausdehnung des brandenburg-preußischen Einflussgebietes zu betreiben. Besonders bedeutsam wurde aber die dynastische Komponente in Bezug auf die hohenzollernsche Verwandtschaft im fränkischen und schwäbischen Raum. Die bekanntesten und spektakulärsten der mit den Arrondierungsbemühungen Brandenburg-Preußens verbundenen Auseinandersetzungen stellen vermutlich die Erb 183 Zur brandenburg-preußischen Politik gegenüber Nordhausen s. a. Heineck, BrandenburgPreußen. 184 Loewe, Staatsverträge Friedrich Wilhelms I., S. 99–108. 185 Zum Folgenden vgl. ausführlich Schröder, Reichsstifte. Zur brandenburg-preußischen Expansionspolitik im mitteldeutschen Raum, insbesondere im Verhältnis zu Kursachsen und den sächsischen Nebenlinien, vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 367–388; speziell zu Quedlinburg vgl. ders., Reichsstift Quedlinburg.
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C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung
abreden mit den fränkischen Hohenzollern dar, die schließlich in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. endgültig an der Rechtsprechung des Reichshofrats als oberstem Lehenshof scheitern sollten. Der erfolglose Versuch Brandenburg-Preußens, in Bayreuth und Ansbach die Erbfolge zu sichern, bietet ein sprechendes Beispiel dafür, dass die reichs- bzw. lehensrechtliche Jurisdiktion des Reichshofrats unter Umständen auch den Versuchen eines so mächtigen Territoriums, das eigene Einflussgebiet auf Kosten kleinerer Reichsstände auszudehnen, direkt und wirksam begegnen konnte: In der Regierungszeit Friedrichs III./I. versuchte Brandenburg-Preußen auf unterschiedlichen Wegen, im Fränkischen Reichskreis Fuß zu fassen. Neben Anwartschaften auf mehrere kleine fränkische Grafschaften186 und der lange aufrecht erhaltenen militärischen Präsenz in der Oberpfalz im Zuge des Spanischen Erbfolgekrieges bemühte sich die Berliner Politik besonders um die Vertiefung der Beziehungen zu den fränkischen Verwandten.187 Es gelang Friedrich III. 1695, einen Familienpakt zu schließen, der sowohl die Ansbacher und Bayreuther Linie als auch die Hechinger und Sigmaringer Hohenzollern einbezog.188 Außerdem sicherte er seinem Haus durch Erbabreden mit den fränkischen Linien Ansbach, Kulmbach und Bayreuth im so genannten Schönberger Sukzessionsvertrag die Nachfolge in Bayreuth.189 Der zentrale Bestandteil dieses Vertrags war der Verzicht des Markgrafen Christian Heinrich aus der für Bayreuth erbberechtigten Kulmbacher Linie auf seine Erbrechte in den fränkisch-hohenzollernschen Fürstentümern. Christian Heinrich hatte auch für seine männlichen Nachfolger den Verzicht erklärt; und die beiden Söhne Christian Heinrichs unterzeichneten mit ihrer Volljährigkeit erneut die Verzichtserklärungen in den Jahren 1706 bzw. 1708. Friedrich I. veranlasste zudem die Unterbringung des Kulmbacher Markgrafen mit dessen Familie in Halberstadt und nahm sich der Erziehung der beiden Prinzen Georg Friedrich Karl und Albrecht Wolfgang an. Mit dem Tod des Markgrafen Georg Wilhelm von Ansbach hätte so 1726 Friedrich Wilhelm I. die Erbfolge in Bayreuth antreten können. Doch bereits die kaiserliche Konfirmation des Schönberger Sukzessionsvertrages scheiterte am Einfluss des Reichserzkanzlers und Bamberger Bischofs Lothar Franz von Schönborn und seines Neffen, des Reichsvizekanzlers Friedrich Karl. Lothar Franz gelang es durch seine einflussreiche Stellung im Fränkischen Kreis, erst einen der nachgeborenen Prinzen der Kulmbacher Linie, den Bruder Christian Heinrichs, Karl August, und schließlich auch noch den jungen Markgrafen Georg Wilhelm 186 Vgl. Endress, Preußens Griff nach Franken, S. 59–60. Die Grafschaft Geyern konnte Brandenburg-Preußen 1710 in vollen Besitz nehmen, allerdings ohne das erwünschte Stimmrecht im Fränkischen Kreis zu erhalten; vgl. ebd., S. 60. 187 Durch die von Friedrich III. gestiftete Ehe zwischen seiner Halbschwester Elisabeth Sophie und dem Markgrafen Christian Ernst von Bayreuth besaß Brandenburg-Preußen bis zum Tode Christian Ernsts großen Einfluss auf die Bayreuther Politik; vgl. Endress, Preußens Griff nach Franken, S. 63–65. 188 Vgl. ebd., S. 59. 189 Der sog. „Schönberger Sukzessionsvertrag“ von 1703 ist abgedruckt bei Loewe, Staatsverträge Friedrichs I., S. 45–48; vgl. Endress, Preußens Griff nach Franken, S. 66–67. Zum Folgenden vgl. ders., Erbabreden, S. 47–72.
III. Kaiserliche Reichspolitik
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von Bayreuth sowie den Erbprinzen Wilhelm Friedrich von Ansbach dazu zu bewegen, gegen den Erbvertrag beim Reichshofrat vorzugehen und sowohl eine oberst lehensherrliche Bestätigung für Brandenburg-Preußen als auch die Aufnahme der Erbfolgeregelung in die Ansbacher und Bayreuther Lehensbriefe zu verhindern. Damit fehlte dem Erbrezess zwar die notwenige kaiserliche Zustimmung, endgültig kassiert wurde er aber erst zu Beginn der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. Angesichts des zu erwartenden Todes von Markgraf Georg Wilhelm von Bayreuth, der söhnelos war, wurden Lothar Franz und Karl Friedrich von Schönborn zu Beginn der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. erneut aktiv und unterstützen die beiden Kulmbacher Prinzen, die Söhne Christian Heinrichs, sowohl in ihrem offiziellen Gesuch an den Kaiser, sie von ihren Eiden gegenüber den Brandenburger Hohenzollern zu lösen, als auch in dem anschließenden ordentlichen Reichshofratsprozess gegen den Sukzessionsvertrag. Karl VI. entsprach dem Gesuch der Prinzen im Februar 1716, woraufhin Friedrich Wilhelm I. schließlich 1722 in einem Vertrag den Kulmbachern die Nachfolge in beiden fränkischen Fürstentümern gegen eine Entschädigung von 550.000 Gulden und bestimmte Sicherheiten zugestehen musste.190 Nicht nur für die Schönborn, sondern auch und gerade für das Habsburger Kaisertum selbst musste ein Eindringen Brandenburg-Preußens in den fränkischen Raum – und insbesondere in den Kreistag – aus mehreren Gründen gefährlich erscheinen. Zum einen gehörte der Fränkische Reichskreis zu jenen „kaisernahen“ Gebieten des Reichs, in denen die Habsburger aufgrund der großen Dichte katholischer Reichsritter und geistlicher Herrschaften starken Rückhalt besaßen; zum anderen konnte das Kaiserhaus kein Interesse an einer Ausdehnung der brandenburg-preußischen Herrschaftsgebiete in unmittelbarer Nähe Böhmens haben.191 Vor allem dank eines der wichtigsten Klienten der kaiserlichen Reichspolitik, der Familie Schönborn, und deren eigener Patronagepolitik im fränkischen Raum gelang es den Kaisern Joseph I. und Karl VI., in dieser für sie haus- und reichspolitisch bedeutsamen Angelegenheit dennoch als interesseloser und über den Parteien stehender oberster Richter und Lehnsherr zu agieren.192 Weil die Schönborn die fränkischen Kläger nicht zuletzt finanziell so stark unterstützten, dass diese tatsächlich den formalen Rechtsweg einschlugen, war Brandenburg-Preußen von vorneherein die Möglichkeit genommen, mit Verweis auf die Eigeninteressen des Kaisers dessen Richtspruch reichsöffentlich zu desavouieren.193 190
Zum weiteren Verlauf vgl. Endress, Erbabreden, S. 66–87; zum konfessionellen Argument in diesem Konflikt bes. ebd., S. 72. 191 Vgl. die Relation der Geheimen Konferenz vom 8. Oktober 1715 wegen der SukzessionsVerträge der Brandenburger Hohenzollern mit der Kulmbacher Linie: HHStA, RK, Vorträge des Reichsvizekanzlers 6 b, Bl. 618–627. 192 Ebd. So riet die Geheime Konferenz dem Kaiser explizit, dass „von seithen E. K. M. hierunter insonderheit dermaßen fürsichtig gehandelt werde, damit man dieselbe keiner parteylichkeit beschuldigen, folglich darab von dem König in Preußen kein begründeter anlaß hergenommen werden könnte, gegen E. K. M. in Dero Kayserl. Obristen Lehen Herr und Höchst Richterlichem ambts […] befugte klage zu führen …“. 193 Vgl. Endress, Erbabreden, S. 58–59, 62–63.
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C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung
Die Bemühungen Brandenburg-Preußens, im fränkisch-schwäbischen Raum Fuß zu fassen, führten noch zu einem weiteren aufsehenerregenden Prozess am Reichshofrat: Es handelte sich dabei um den Versuch, die fränkische Grafschaft Limpurg in brandenburg-preußischen Besitz zu überführen. Auch aus diesem Versuch Brandenburg-Preußens, im Fränkischen Reichskreis vertreten zu sein bzw. im Süden des Reiches das eigene Herrschaftsgebiet auszuweiten, entstand eine weitläufige Auseinandersetzung vor dem Reichshofrat über die äußerst kompliziert gelagerten Expektanzen und Verträge Brandenburg-Preußens einerseits und die Erbansprüche der insgesamt zehn Erbtöchter aus den beiden Linien Limpurg-Gaildorf und Limpurg-Speckfeld andererseits:194 Eine Anwartschaft Brandenburg-Preußens auf die Reichslehen der Grafschaft Limpurg stammte noch von 1693. Im Jahr 1690 war ein Zweig der Limpurger, die Linie Limpurg-Gailsdorf, mit dem Grafen Wilhelm Heinrich im Mannesstamm ausgestorben. Das Erbe wurde zwischen den Töchtern Wilhelm Heinrichs und der Linie Limpurg-Speckfeld aufgeteilt. Im Jahr 1705, kurz vor dem Tod des Grafen Georg Eberhard von Limpurg-Speckfeld, hatte Brandenburg-Preußen mit diesem einen Vertrag geschlossen, in welchem der Graf im Gegenzug für die Versorgung von Frau und Töchtern nach seinem Tod seine Besitzungen an Friedrich I. überschrieb. Als der Graf nur wenige Wochen später starb, besetzten brandenburg-preußische Truppen Teile der Grafschaft. Um die gesamte Grafschaft übernehmen zu können, sollten auch der Bruder des verstorbenen Grafen, Graf Vollrath, und dessen Töchter der Übernahme zustimmen. Doch ein derartiger Vertrag war bis zum Tode Vollraths 1713 nicht zustande gekommen. Brandenburg-preußische Truppen besetzten dennoch 1713 weitere Teile Limpurgs, zogen aber nach einer scharfen Intervention des Kaisers rasch wieder ab. Der Erbstreit wurde in der Folgezeit vor dem Reichshofrat ausgetragen. Die Klärung der Erbfrage in Limpurg wurde durch die unterschiedlichen Expektanzen und Erbansprüche (die teilweise zudem aufgrund der in den Gaildorfer Hausverträgen nicht vorgesehenen weiblichen Erbfolge anfechtbar waren) sowie durch eine unübersichtliche Gemengelage von Allodial-, After- und Reichslehen erschwert. Im Falle Limpurgs waren es erneut maßgeblich die Grafen Schönborn, welche die fränkischen Kreisstände bei deren Kampf gegen die Inbesitznahme der gesamten Grafschaft durch Brandenburg-Preußen 1713 unterstützten. Zusätzlich verkompliziert wurde dieser Prozess durch die erbrechtlichen Ansprüche eines Reichshofrates, des Grafen Johann Wilhelm von Wurmbrand-Stuppach.195 Aus dem erbländischen Adel stammend war Wurmbrand 1697 (übrigens von Kurbrandenburg) für eine evangelische Reichshofratsstelle auf der Herrenbank vorgeschlagen und introduziert worden. Wurmbrand konvertierte aber 1722 zum Katholizismus und wurde noch im selben Jahr zum Vizepräsidenten und 1728 schließlich zum Präsidenten des Reichshof 194
Zur Geschichte der Grafschaft Limpurg vgl. Beutter / Schefold / Wunder, Schenken. Der Vertrag zwischen Friedrich I. und Graf Eberhard von Limpurg-Speckfeld ist abgedruckt bei Loewe, Staatsverträge Friedrichs I., S. 67–69. Zum Folgenden vgl. Beutter / Schefold / Wunder, Schenken, bes. S. 50–53; Endress, Preußens Griff nach Franken, S. 60–62. 195 Zu Johann Wilhelm von Wurmbrand-Stuppach vgl. Zwiedineck-Südenhorst, Wurmbrand; auch zum Folgenden: Gschließer, Reichshofrat, S. 335–337.
III. Kaiserliche Reichspolitik
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rats ernannt. Er war mit Dorothea Luise von Limpurg-Gaildorf verheiratet, und aus dieser Verbindung stammten seine Ansprüche auf Teile der Grafschaft Limpurg. Wurmbrand galt daher in Berlin schon bald als „anti-preußisch“, gleichzeitig aber als äußerst einflussreich. Zudem referierte er offenbar sehr häufig in Prozessen, in denen der preußische König als Beklagter involviert oder zumindest „interessiert“ war. Daher wurde der in Wien weilende Gesandte Ernst von Metternich im Fe bruar 1716 angewiesen, gegen die Referententätigkeit Wurmbrands in Prozessen mit brandenburg-preußischer Beteiligung zu protestieren, da „derselbe in unseren bey dem Reichs-Hof-Rath habenden Rechts sachen nothwendig vor partheyisch gehalten werden müße …“.196 Doch die Wiener Gesandten Metternich und Schwerin machten bald der Regierung gegenüber deutlich, dass eine solche Vorstellung kaum erfolgversprechend sei.197 Erst im Januar 1717 bemühte man sich von Berlin aus erneut, mit dem Grafen wegen Limpurg „zu tractiren“;198 schließlich verlieh der preußische König 1718 Limpurg als Afterlehen an Wurmbrand.199 Auch die Versuche Friedrichs I. und Friedrich Wilhelms I., der Reichsabtei Werden die Selbständigkeit abzusprechen und sie in das eigene Territorium zu inkor porieren, sowie die Auseinandersetzung mit den Grafen von Bentheim-Tecklenburg um die Grafschaft Tecklenburg, in denen sich Brandenburg-Preußen, wie in Limpurg, in die Erbfolge konkurrierender Linien „eingekauft“ hatte, brachten weitere, langwierige Reichshofratsverfahren mit sich:200 Seit Ende des 16. Jahrhunderts stritten die beiden gräflichen Häuser Bentheim-Tecklenburg und Solms-Braunfels um die Grafschaft Tecklenburg und die mit ihr verbundenen Herrschaft Rheda.201 In einem Reichskammergerichtsurteil war 1686 der Besitz zwischen beiden Parteien aufgeteilt worden, die fraglichen Anteile aber waren beiden Familien gemeinsam übertragen worden. Der Streit zog sich dennoch weiter hin, nicht zuletzt aufgrund der Parteinahme seitens der beiden Kreisdirektoren Münster und Brandenburg-Preußen. Friedrich III. hatte 1696 mit dem Grafen Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels einen Vertrag geschlossen, wonach Brandenburg-Preußen sich für die Exekution gegen Bentheim-Tecklenburg einsetzen sollte, damit Solms-Braunfels in den Genuss seiner Rechte an Rheda kam. Diese waren dem Grafen von Solms-Braunfels bislang vorenthalten worden, u. a. weil Münster die Bentheimer Seite unterstützte. Im Gegenzug versprach Wilhelm Moritz, für den Fall, dass er oder seine Nachkommen in den Besitz der Grafschaft Tecklenburg gelangen sollten, diese dem brandenburgischen Kurfürsten als Mannlehen einzuräumen. Zudem verzichtete Wilhelm Moritz auf seine
196 Reskript an Metternich (nach Wien), 18.2.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 23, Bl.4–6, 4. 197 Relation von Metternich, Wien, 15.7.1716, ebd., Bl. 15; Relation von Schwerin, Wien, 15.7.1715, ebd., Bl. 16–20. 198 Reskript an Metternich, Berlin, 23.1.1717, GStA PK, Rep. 18., Nr. 31, Fasz. 23, Bl. 33. 199 Vgl. Schenk, Reichsjustiz, S. 142–143. 200 Zum Folgenden vgl. Klueting, Grafschaft und Großmacht. 201 Zum Grafenhaus Bentheim s. a. Marra, Allianzen.
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C. Föderalistische Lesart der Reichsverfassung
Rechte auf Lingen – ein Teil des oranischen Erbes, das Friedrich III. beanspruchte.202 Trotz weiterer Streitigkeiten vor dem Reichskammergericht einigten sich die beiden gräflichen Häuser 1699 auf einen Vergleich über die Ländermasse und auf ein Vorkaufsrecht beider Seiten auf den Anteil der jeweils anderen Linie an Tecklenburg und Rheda. In den folgenden Monaten und Jahren schloss Friedrich III. weitere Verträge mit beiden gräflichen Familien über deren jeweiligen Verzicht auf Lingen.203 Während Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels 1700 erneut am Reichskammgericht klagte, das ihn auch in allen Rechten bestätigte, nahm Graf Friedrich Mauritz von Limburg und Bentheim-Tecklenburg204 1701 ebenfalls einen Prozess gegen Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels auf, diesmal allerdings am Reichshofrat.205 Zu den verworrenen Erbschaftsfragen kam nun auch noch die Kompetenzstreitigkeit zwischen den beiden Gerichten hinzu.206 Der Reichshofrat hob 1703 ein Urteil des Reichskammergerichts von 1686 auf; dessen ungeachtet erließ das Reichskammergericht im selben Jahr ein weiteres Mandat gegen Tecklenburg-Bentheim.207 Friedrich I. versicherte sich dagegen ebenfalls bei Friedrich Mauritz seiner Rechte an Lingen und besetzte es nach dem Tode Wilhelms III. von Oranien. Während die Verfahren an beiden Reichsgerichten weiterliefen, kaufte Friedrich I. 1707 schließlich vom Grafen Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels dessen Anteile an Tecklenburg und Rheda,208 wobei das ursprünglich zwischen beiden gräflichen Häusern vereinbarte Vorkaufsrecht übergangen wurde. Wegen des Reichskammergerichtsmandats von 1700 hatte Brandenburg-Preußen als Kreisdirektor bzw. in Absprache mit dem Grafen zu Solms-Braunfels Truppen in der Grafschaft stationiert, was die tatsächliche Inbesitznahme bereits vorbereitet hatte. Der Reichshofrat entschied nun 1710, dass Kauf und Inbesitznahme durch Friedrich I. unrechtmäßig waren und Brandenburg-Preußen gegen Erstattung des Kaufpreises das Haus Bentheim-Tecklenburg restituieren sollte. Erst fünf Jahre später erließ Karl VI. entsprechend dem reichshofrätlichen Votum von 1710 ein Kommissionsdekret an Friedrich Wilhelm I., wonach der König die Grafschaft an den Grafen von Bentheim-Tecklenburg zurückgeben müsse.209 Das Dekret bestimmte Georg I. von Großbritannien als Kur 202 Vgl. Moerner, Staatsverträge, S. 625–627. In demselben Vertrag übertrug Wilhelm Moritz Friedrich III. auch seine Rechte an Lingen. 203 Zu den Details vgl. Klueting, Grafschaft und Großmacht, S. 117. 204 Friedrich Mauritz besaß die Grafschaft Limburg und vereinigte nach dem Tod seines Bruders Johann August von Bentheim-Tecklenburg auch dessen Rechte auf Tecklenburg und Rheda auf sich; vgl. Klueting, Grafschaft und Großmacht, S. 118. 205 Alle Verfahren und Prozessschritte in der Causa Tecklenburg sind aufgeführt bei Moser, Justizverfassung 1, S. 950–954. 206 Dabei ging es primär um die Frage, ob es sich um eine unmittelbare Reichsgrafschaft handele – wie die Seite Bentheim-Tecklenburg und der Reichshofrat betonten –, oder aber um Allodialbesitz – wie die Linie Solms-Braunfels und das Reichskammgericht (und später Brandenburg-Preußen) behaupteten. 207 Moser, Justizverfassung 1, S. 952. 208 Loewe, Staatsverträge Friedrichs I., S. 83. 209 Graf Friedrich Mauritz war 1710 gestorben. Für seinen minderjährigen Sohn Moritz Casimir I. führte die Mutter, Gräfin Christiane Marie, die Regentschaft; vgl. Klueting, Grafschaft und Großmacht, S. 123.
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fürsten von Hannover und August Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg als Exe kutoren. Friedrich Wilhelm I. protestierte gegen das Verfahren – sowohl gegen die Zuständigkeit des Reichshofrats als auch gegen die (abermalige) Übergehung der zuständigen Direktoren des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises. Erneut ergingen 1717 Kommissionsdekrete an beide Exekutoren; ebenso erhielt der König in Preußen ein kaiserliches Reskript, das ihn nochmals aufforderte, Tecklenburg zu restituieren. Im Juli 1722 verlangte Karl VI. schließlich von Friedrich Wilhelm I. innerhalb von zwei Monaten die Rückgabe von Tecklenburg. Falls dies in der gesetzten Frist nicht geschehe, würde die Exekution durch Hannover und Wolfenbüttel durchgeführt. Tatsächlich sollten freilich weder Wolfenbüttel noch Hannover gegen Brandenburg-Preußen exekutieren.210 Der Gegenstand der Klage entfiel schließlich 1729, als Graf Moritz Casimir I. von Bentheim-Tecklenburg mit Friedrich Wilhelm I. einen Vertrag schloss, in welchem jener gegen eine Abfindung von 175.000 Reichstaler auf Tecklenburg verzichtete, während die Herrschaft Rheda beim Hause Bentheim verbleiben sollte.211 Auch im Konflikt um die Reichsabtei Werden ging der Reichshofrat im frühen 18. Jahrhundert energisch gegen die brandenburg-preußischen Übergriffe auf das kleine reichsunmittelbare Territorium vor. Wie im Fall der Erbabreden mit Ansbach und Bayreuth sowie bei den Konflikten um Limpurg, Tecklenburg und Lingen hatte auch diese Auseinandersetzung ihren Ursprung nicht in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I., sondern deutlich früher; in diesem Fall reichten die Anfänge sogar weit ins 17. Jahrhundert zurück: Nachdem die ursprünglich von Kleve ausgeübten Vogteirechte über Werden auch durch den Xantener Vertrag 1614 zwischen Pfalz-Neuburg und Brandenburg nicht geklärt worden waren, hatten die brandenburgischen Kurfürsten und die Äbte von Werden seit 1646 mehrere Vergleiche geschlossen, in denen die Kurfürsten den jeweiligen Abt als Reichsstand anerkannten, wofür ihnen im Gegenzug die Vogteirechte sowie Zoll- und Wegerechte zugestanden wurden.212 Im Jahr 1666 kam es schließlich zu einem Hauptvergleich, der zahlreiche justiz-und finanzrechtliche Fragen regelte und außerdem Vereinbarungen über das lutherische und reformierte Religionsexerzitium in Werden enthielt.213 Doch auch dieser durch den Kaiser bestätigte Vergleich konnte nicht verhindern, dass in den Folgejahren immer wieder besonders in der Frage der Landeshoheit zwischen Werden und Brandenburg-Preußen heftige Auseinandersetzungen entstanden.214 Neben den Vogteirechten war es auch im Falle Werdens die Vertretung des
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Vgl. ebd., S. 125–127. Vgl. ausführlich Klueting, Grafschaft und Großmacht, S. 127–129. 212 Moerner, Staatsverträge, S. 141–142, 151. 213 Ebd., S. 287–288. 214 Vgl. Stüwer, Reichsabtei Werden, S. 162–164; Jacobs, Geschichte der Pfarreien, S.51–52. Bereits im Dreißigjährigen Krieg hatte der Reichshofrat mehrfach Mandate gegen Brandenburg ausgesprochen, um die Landeshoheit des Werdener Abtes zu wahren. Zu Werden im Dreißigjährigen Krieg vgl. allgemein Langenbach, Stift. 211
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Kreiskontingentes, die es Brandenburg-Preußen insbesondere während des Spanischen Erbfolgekrieges ermöglichte, militärischen Druck auf die Abtei auszuüben.215 Auf ähnlichen Wegen wie in Herford und Quedlinburg versuchte Brandenburg-Preußen immer wieder, in die Geschicke der Abtei einzugreifen – allerdings mit dem bedeutsamen Unterschied, dass im Falle Werdens eine Einflussnahme über die Familienpolitik den Hohenzollern naturgemäß nicht offen stand. Dass der Weg über eine personelle Beeinflussung der Reichsabtei ausschied, mag dazu beige tragen haben, dass die Auseinandersetzungen mit Werden zu Beginn des 18. Jahrhunderts angesichts der offen-aggressiven brandenburg-preußischen Politik eskalierten, zumal Brandenburg-Preußen gerade auf die konfessionelle Differenz rekurrierte, um die eigenen Maßnahmen gegen Werden zu rechtfertigen.216 Friedrich I. ließ Werden 1712 besetzen und bestritt dem Abt die Landeshoheit. Ein brandenburg-preußischer Kommissar proklamierte den König als Landesherrn über die Abtei, setzte neue Richter ein, zwang diese zur Huldigung und beanspruchte das Jus collectandi für Zahlungen zum Kreiskontingent, für den Kammerzieler etc.217 Im Namen des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises wandten sich daraufhin Münster und Jülich (Pfalz-Neuburg) als Direktoren an Reichstag und Kaiser, um gegen das Vorgehen Brandenburg-Preußens zu protestieren.218 Karl VI. bekräftigte gegenüber dem Mainzer Kurfürsten, der sich gemeinsam mit seinem Neffen, dem Reichsvizekanzler, auch hier mit Nachdruck für den von Brandenburg-Preußen unterdrückten kleineren Reichsstand einsetzte,219 dass er gewillt sei, gegen die Rechtsbrüche des preußischen Königs energisch vorzugehen. Dabei erinnerte Karl VI. auch daran, dass der preußische König gleich in zweifacher Hinsicht einen besonders schweren Rechtsbruch begangen habe: In Berlin scheine „in vergessenheit gestellet zu seyn“, „was nicht nur zwischen unserm Herrn Vattern Leopold und dan auch des letzt verstorbenen Königs in Preußen Lbd. Anno 1700 unter anderem in specie […] wegen dieses jetzt klagenden Gotteshauses obgeredet und abgehandelt, sondern auch was in der letzt erfolgten kriegs-declaration wegen beybehaltung innerlicher ruhe in dem Heiligen Römischen Reich bey dem noch führwehrenden Reichskrieg mit klaren und nachtrücklichen worten […] geschlossen“.220 Entsprechend dieser Haltung entschied der Reichshofrat 1714 in mehreren Conclusa gegen den König in Preußen, bestimmte Münster und Pfalz-Neuburg (für Jülich) als Exekutoren und übertrug den benachbarten Ständen des Kurrheinischen und Niedersächsischen Kreises
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Vgl. Stüwer, Reichsabtei Werden, S. 181–183. Vgl. ebd., S. 164. 217 EStC 23, S. 641–647 („Intercessions-Schreiben des Nieder-Rheinisch-Westphälischen Creyß-Convents / an die Hochlöblich. Reichs-Versammlung zu Augspurg / vor den Herren Abbten zu Wehrden / die von denen Königl. Preussischen Commissariis wider denselben vorgenommene Depossedirung seiner Abbtey / und anderer Attentata betreffend, d. D. 23. Nov. 1713“). 218 Ebd. 219 s. dazu die Überlieferung in: HHStA, MEA, Geistl. u. Kirchensachen 36. 220 Karl VI. an Lothar Franz von Schönborn, Wien, 30.12.1713, HHStA, MEA, Geistl. u. Kirchensachen 36. 216
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gleichzeitig die Auxiliatoria.221 Auch im Konflikt um die Reichsabtei Werden hatte sich mithin das Vorgehen Wiens seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. verschärft;222 und tatsächlich führten die Reichshofratsentscheidungen gegen Friedrich Wilhelm I. in diesem Fall dazu, dass sich Brandenburg-Preußen zumindest zwischenzeitlich aus dem Gebiet des Abtes zurückzog bzw. dessen Reichsstandschaft anerkennen musste.223 Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass für Vertreter der kaiserlichen Politik im Reich die reichshofrätliche Intervention im Falle Werdens fortan als positive Referenz für die Möglichkeiten galt, mithilfe der kaiserlichen Justiz gegen den preußischen König bzw. dessen agrandissement-Politik im Reich zu agieren.224 Auch im Falle Werdens lagen die Ursprünge der Konflikte zwischen BrandenburgPreußen und den Äbten weit vor der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. Die Besetzung Werdens, mit der die langwierigen Streitigkeiten schließlich eskalierten, war sogar noch unter Friedrich I. angeordnet worden. Erst 1714 begann der Reichshofrat allerdings, in einer Reihe von Entscheidungen energischer gegen die gewaltsame Politik Brandenburg-Preußens in Werden vorzugehen.
IV. Resümee In der Forschung ist bereits für die Regierungszeit des Großen Kurfürsten darauf hingewiesen worden, dass Brandenburg-Preußen durch die westlichen Territorien und die Zugewinne im Zuge des Westfälischen Friedens gleichsam verstärkt „ins Reich hineinwuchs“ und durch die Mitgliedschaft im Niedersächsischen und Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis in seiner Politik auf Reichssystem und Reichsrecht Rücksicht nehmen musste, gleichzeitig aber auch auf das Funktionieren des Reichsverbandes angewiesen blieb.225 In der Tat kann man auch und gerade 221 EStC 23, S. 654–656 („Kayserl. Conclusum, contra Ihro Königl. Majestät in Preussen / in des Praelaten von Wehrden Sache. Actum 8. Januarii 1714“); ebd. S. 657–658 („Ferneres Reichs-Hof-Raths-Conclusum in des Herrn Abbten zu Wehrden Streit Sache / contra Ihro Königliche Majestät in Preussen“, Wien, 23. Feb. 1714); ebd., S. 659–660 („Abermahliges ReichsHof-Raths-Conclusum in Eadem Materia“, Wien, 8. Jun. 1714). 222 Das zeigt sich auch daran, dass die entsprechenden Vota ad imperatorem beide aus der Zeit nach 1713 stammen: HHStA, RHR, Vota 64-2; 64-3. 223 Zu den wiederkehrenden Streitigkeiten unter Friedrich II. vgl. Stüwer, Reichsabtei Werden, S. 164–165. 224 So wurde seitens der kaiserlichen Diplomatie im Zusammenhang des Streites um die Allodifikation der Lehen der Fall Werden gegenüber den Magdeburger Adligen als positives Beispiel herangezogen, um sie dazu zu bewegen, eine förmliche Klage gegen ihren Landesherrn beim Reichshofrat einzureichen; vgl. Schenk, Reichsjustiz, S. 35, Anm. 197. Umgekehrt galt das Beispiel Werdens in der internen Kommunikation der brandenburg-preußischen Politik als Beleg für den Durchsetzungswillen des kaiserlichen Machtanspruchs in der ersten Hälfte der Regierungszeit Karls VI.; vgl. weiter oben in diesem Kap. (C. II.). 225 Vgl. Schindling, Kurbrandenburg, S. 36; mit Blick auf die Anwartschaft auf Ostfriesland, S. 45. Zum „Hineinwachsen“ Brandenburg-Preußens in das Reich s. a. Carl, Okkupation, etwa S. 27–28.
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unter Friedrich III./I. Brandenburg-Preußen als „Nutznießer“ der Reichsverfassung begreifen. Doch die geschilderten Auseinandersetzungen vor dem Reichshofrat, mit denen sich vor allem der neue preußische König Friedrich Wilhelm I. seit dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges in steigender Anzahl als Beklagter konfrontiert sah, weisen auch darauf hin, als wie gefährlich und aggressiv diese, auf territoriale Arrondierung sowie Ausdehnung der eigenen Einflusssphäre zielende Reichspolitik Brandenburg-Preußens in Wien wahrgenommen wurde bzw. mit welchen Widerständen die brandenburg-preußische Politik im Reich konfrontiert war. Aus der Perspektive der geistlichen Wahlfürstentümer ist die Wahrnehmung Brandenburg-Preußens als größte „innere Gefahr“ für den Reichsverband insbesondere für den Kurmainzer Erzkanzler gut belegt.226 Die Gründe hierfür lagen primär in der beschriebenen brandenburg-preußischen Reichspolitik selbst, die sich lehensrechtliche Bindungen, Erbabreden, Anwartschaften, Schutzrechte sowie Kreisstandschaften teilweise in Verbindung mit militärischer Präsenz (besonders erfolgreich im Spanischen Erbfolgekrieg) zunutze gemacht hatte. Mit dem sich immer stärker ausdehnenden Macht-und Einflussbereich Brandenburg-Preußens war aus der Sicht der kleinen geistlichen Fürstentümer immer auch die Gefahr von Säkularisierungen verbunden (ähnlich wie in den ehemaligen Stiften Halberstadt, Minden, Magdeburg oder Cammin) und damit die Zurückdrängung der Macht eben jener Untergruppe der kleineren, katholischen Reichsstände, die sie repräsentierten und die untrennbar mit dem Erhalt der katholischen Konfession im Reich verbunden war – wie etwa namentlich in Franken. Die brandenburg-preußische Reichspolitik bediente sich des Reichssystems und Reichsrechts, gleichzeitig geriet sie aber auch damit in Konflikt. Insofern ist die Beobachtung, Brandenburg-Preußen sei durch seine westlichen territorialen Erwerbungen verstärkt ins Reich hineingewachsen, dahingehend zu erweitern, dass die „Verflechtung mit dem ‚reichischen Deutschland‘“227 für die brandenburg-preußische Politik zwar zweifellos einen großen Handlungsspielraum bot, dass auf der anderen Seite aber aus eben dieser Politik zahlreiche Konflikte entsprangen, deren Behandlung nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges vom Kaiser bzw. vom Reichshofrat – im Zusammenhang mit einer verstärkten kaiserlichen Präsenz im Reich – mit Nachdruck aufgenommen wurde. Die Bemühungen der Berliner Regierung, Appellationen an die höchsten Reichsgerichte nach Möglichkeit zu unterbinden oder zumindest stark einzuschränken, wurden in Wien wiederum als empfindliche Beeinträchtigung des kaiserlichen 226 Ausführlich hierzu etwa Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 221–251; ähnliche Befürchtungen waren von Seiten des Mainzer Kurfürsten bereits geäußert worden, als der Große Kurfürst gegen Ende seiner Regierung eine Reform des Kurvereins plante, die als ein zentrales Ziel die gegenseitige Garantie des derzeitigen und zukünftigen Besitzes der Kurfürsten beinhaltete. Der damalige Erzkanzler sah in diesen Plänen lediglich den Versuch, die Reichsgerichtsbarkeit einzuschränken und weitere Säkularisationen zu erleichtern; vgl. Gotthard, Der „Große Kurfürst“, S. 46–47. 227 Schindling, Kurbrandenburg, S. 45.
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oberstrichterlichen Amtes gewertet und trugen ihrerseits dazu bei, dass der Reichshofrat energischer gegen den preußischen König vorging. Im Zuge dieses Wechselspiels verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Wien und Berlin nach 1714 zunehmend. Wird man also insbesondere angesichts der Kreispolitik BrandenburgPreußens in der Tat von einem „Hineinwachsen“ in das Reich sprechen können – im Sinne eines politischen Engagements auf den Kreistagen und der Bemühungen um eine Befestigung der eigenen Stellung innerhalb der aktiven Reichskreise –, so bleibt doch mit Blick auf die Reichsgerichtsbarkeit (und hier aufgrund der geschilderten Konjunkturen primär auf den Reichshofrat) festzuhalten, dass die brandenburg-preußische Politik eindeutig und in zunehmend aggressiver Weise auf die Abwehr kaiserlicher Jurisdiktion und Einflussnahme gerichtet war. Betrachtet man die zahlreichen Prozesse am Reichshofrat, in denen Friedrich Wilhelm I. von anderen Reichsständen beklagt wurde, so fällt auf, dass die hier besprochenen, politisch brisanten Konflikte mit reichsunmittelbaren Parteien in der überwiegenden Zahl der Fälle auf die Regierungszeit Friedrichs III./I. zurück gingen oder ihre Ursprünge sogar in der Regierungszeit des Großen Kurfürsten hatten, zu einem Großteil auch bereits vor 1713 am Reichshofrat anhängig waren, jedoch erst nach der Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges für den preußischen König mit entschlossenen Ermahnungen und Maßnahmen bis hin zu Exekutionsanordnungen einhergingen. In den meisten Fällen waren es also gerade nicht politische Neuentwicklungen, die der junge König Friedrich Wilhelm I. angestoßen hatte, sondern vielmehr das „reichspolitische Erbe“ Friedrichs III./I., das zahlreiche Verfahren am Reichshofrat nach sich zog – oder bereits gezogen hatte –, die nun aber vom Reichshofrat von Neuem aufgenommen wurden. Diese Beobachtung gilt sogar für viele jener Reichsangelegenheiten, die explizit im Krontraktat aufgeführt worden waren und hinsichtlich derer sich Friedrich III./I. verpflichtet hatte, die bisherige, aggressive Politik zu beenden bzw. die kaiserliche Vermittlung und Rechtsprechung zu akzeptieren. Zahlreiche dieser reichspolitischen Probleme waren durch die von Friedrich III./I. 1700 gemachten Zugeständnisse offensichtlich eben nicht nachhaltig reichspolitisch „neutralisiert“ worden. Die reichspolitischen Zusagen des ersten preußischen Königs wurden zu einem Großteil nicht umgesetzt; und sie entfalteten ihr Konfliktpotential in der frühen Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. sogar noch weiter: Das gilt an erster Stelle für die kurpfälzischen Religionsgravamina, aber auch für die sämtlich im vierten Separatartikel aufgeführten Streitigkeiten wegen Mecklenburg, Quedlinburg, Essen und Werden sowie für die Rechte des katholischen Klerus in Kleve.228 Und selbst die ausführliche Regelung der Zeremoniell-und Rangfragen sollte bereits mittelfristig zu Konflikten zwischen dem neuen Königtum und dem Kaiser führen.229 Insofern kann man mit Blick auf 228
Auch in Kleve konnte offenbar keine Rede davon sein, dass sich Friedrich I. bzw. sein Sohn an die im Krontraktat gemachten Zusagen hinsichtlich der Rechte des katholischen Klerus hielten; vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 144–167. 229 Zu diesem Aspekt der Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaisertum unter Friedrich Wilhelm I. vgl. Kap. E., passim.
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die reichspolitischen Aspekte des „Krontraktats“ nur bedingt von einem „umfassende[n] Ausgleich der politischen Interessen der beiden Höfe“ sprechen.230 Friedrich Wilhelm I. setzte vielmehr den reichspolitischen und konfessionspolitischen Kurs seines Vaters ungeachtet der im Krontraktat eingegangenen Verpflichtungen in vielen Punkten fort; und sogar die Argumentation mit der königlichen Würde fand schon bald Eingang in die Kommunikation zwischen Wien und Berlin, und zwar in dem Sinne, dass Friedrich Wilhelm I. auf seine königliche Souveränität rekurrierte, um den Stylus Curiae zurückzuweisen – und damit letztlich mit Blick auf die Stellung der brandenburgischen Kurfürsten die traditionelle Reichshierarchie in Frage zu stellen. Während dieser Grundsatzkonflikt im Streit um den reformierten Gottesdienst in Köln 1707/8 noch gewissermaßen über „Dritte“ ausgetragen worden war, zeichnete sich in dem zu Beginn der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. immer aggressivere Formen annehmenden diplomatisch-juristischen Schlagabtausch eine direkte Konfrontation zwischen Wien und Berlin ab.231 Die steigende Zahl an Reichshofratsverfahren gegen den preußischen König mag wiederum dazu beigetragen haben, dass sich während der ersten Hälfte der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. auch die eigenen Landeskinder (in denjenigen Landesteilen mit begrenzten Appellationsprivilgeien) verstärkt „berufungsfreudig“ zeigten.232 Zu beobachten ist für diese Zeit zumindest, dass die Landstände beispielsweise in Magdeburg und Halberstadt gute Kontakte zur kaiserlichen Diplomatie besaßen bzw. ihre Interessen in Wien vertreten ließen und dass die kaiserliche Diplomatie durchaus bemüht war, Beschwerden des Adels oder katholischer Korporationen am Reichshofrat zu unterstützen und ggf. die Supplikanten zu einer förmlichen Klage am Reichshofrat zu bewegen.233 Die exemplarische Untersuchung solcher Verfahren brandenburg-preußischer Untertanen gegen ihren Landesherrn wird einen Schwerpunkt des folgenden Kapitels bilden. Zunächst lässt sich ein solcher Anstieg von Klagen sowohl reichsunmittelbarer wie -mittelbarer Kläger bzw. die Wiederaufnahme von bereits am Reichshofrat anhängigen Verfahren gegen den preußischen König mit der geänderten reichs- und europapolitischen Lage erklären. Für das Verhältnis zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaiserhaus brachte die Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges auch das Ende des langjährigen Bündnisses und der damit verbundenen gegenseitigen politischen Rücksichtnahme mit sich, nachdem sich die Beziehungen bereits am Ende des Krieges angesichts des Utrechter Friedensschlusses deutlich verschlechtert hatten.234 Hinzu kam, dass sich Brandenburg-Preußen unter Friedrich Wilhelm I. erstmals aktiv am Nordischen Krieg beteiligte und die dabei verfolgte Politik insbesondere in Gestalt der Annäherung an den Zaren und der Eroberung 230
Roll, Königserhebung, S. 218. Vgl. dazu ausführlich Kap. D. und E. 232 Vgl. Neugebauer, Stände, S. 183. 233 Vgl. Schenk, Reichsjustiz, etwa S. 33–35; s. a. Kap. D. II. 234 Vgl. Feckl, Preußen, S. 165–196. 231
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von Stettin in Wien mit wenig Sympathie gesehen wurde. Mit dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges und dem Frieden von Passarowitz 1718 setzte wiederum eine generelle Intensivierung der kaiserlichen Reichspolitik ein, die offenbar nicht zuletzt dazu führte, dass auch gegenüber Brandenburg-Preußen in Reichsangelegenheiten ein schärferer Ton angeschlagen wurde. Dass diese allgemeinen Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen auch auf die Justiznutzung der Landstände in Brandenburg-Preußen Einfluss gehabt haben könnten, also gewissermaßen motivierend auf die Klagebereitschaft der Untertanen wirkten, erscheint nicht unwahrscheinlich, wenngleich es verlässlicherer Zahlen über das Prozessaufkommen unter Friedrich III./I. und Friedrich Wilhelm I. bedürfte, um diese Vermutung zu untermauern. Trafen also auf der einen Seite das Ende des Spanischen Erbfolgekrieges und damit einhergehend das Ende der preußisch-habsburgischen Koalition mit einer ambitionierten kaiserlichen Reichspolitik zusammen, hatte sich auf der anderen Seite das preußische Königtum gewissermaßen „etabliert“. Die Krone war von den relevanten Mächten in Europa und im Reich anerkannt und eignete sich damit auch besser zur Profilierung – nicht zuletzt gegenüber dem Kaiser, dem Friedrich Wilhelm I., anders als sein Vater, durch den Krontraktat und die nachfolgenden Allianzverträge nicht mehr direkt und persönlich verpflichtet war. Besaß unter Friedrich I. die Königskrone immer noch einen starken Bezug zum Kaiser und gründete sie sogar in Brandenburg-Preußens Nähe zum Kaiserhaus, nutzte Friedrich Wilhelm I. zu Beginn seiner Regierungszeit die monarchische Würde offenbar wesentlich eindeutiger zur Distanzierung von Wien. Friedrich Wilhelm I. versuchte deutlich aggressiver als sein Vater, die königliche Würde und Souveränität gegenüber dem Kaiserhaus darzustellen und durchzusetzen, und zwar – zumindest in den ersten Jahren seiner Regierungszeit – vornehmlich im Kontext der Justiz und somit auf einem Terrain, das für die seit 1648 ungelöste „Auseinandersetzung um die Gestalt des Reiches“ (Stollberg-Rilinger) im Hinblick auf Brandenburg-Preußen bisher weniger beachtet worden ist als etwa das Gesandtschaftszeremoniell zwischen den europäischen Fürstenhöfen. Das Letztere hatte für Friedrich I. in den Jahren nach der Krönung ein ganz wesentliches Feld für die Durchsetzung des königlichen Ranges präsentiert. Für die Ausweitung der mit dem Königstitel erreichten Teil-Souveränität stellte neben dem territorialen, militärischen und wirtschaftlichen Wachstum aber zweifellos auch die Emanzipation von der Reichsgerichtsbarkeit eine wichtige Voraussetzung dar. Nach 1713 verschärfte sich die Auseinandersetzung Brandenburg-Preußens mit der Reichsjustiz nicht nur in quantitativer Hinsicht; auch der Stil, in dem die Argumente für eine Zurückweisung der kaiserlichen Justiz kommuniziert wurden, änderte sich mit dem Regierungsbeginn Friedrich Wilhelms I. offenbar relativ abrupt. Diese Veränderungen wurden anscheinend nicht nur von fremden Diplomaten, sondern sogar vom eigenen diplomatischen Personal als regelrechter „Stilbruch“ wahrgenommen – sowohl im direkten Vergleich zur Regierungszeit Friedrichs III./I. als auch ganz allgemein gegenüber den dominierenden politischen Ausdrucksformen
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und der höfisch-diplomatischen Kultur. Dass Friedrich Wilhelm I. selbst zumindest teilweise in Potsdam und Berlin eine demonstrativ „anti-höfische“ Kultur pflegte, wurde bereits von den Zeitgenossen rezipiert und hat das Bild dieses Herrschers nachdrücklich geprägt.235 Doch beschränkten sich diese zumindest punktuellen Repräsentationen der Distanz zur barocken Société des princes (Lucien Bély) nicht auf Berlin, Potsdam oder Wusterhausen, sondern sie setzten sich in der diplomatischen Kommunikation fort – auch und gerade am kaiserlichen Hof. Diese durchaus konsistente Selbstdarstellung des Königs und seiner Regierung konnte im Kontext höfischer Kommunikation jedoch punktuell auch dysfunktionale Folgen haben, eben beispielsweise dadurch, dass es aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen dem Reichshofratsagenten praktisch unmöglich war, adäquat zu repräsentieren, d. h. dem politisch-sozialen Habitus seiner Umwelt entsprechend zu agieren. Der Ruf, einem sparsamen, ja geizigen König zu dienen, und die handfeste finanzielle Not des Reichshofratsagenten waren für die Beschaffung von politischen Informationen offensichtlich wenig förderlich und verursachten so – zumindest vorübergehend – auch der Berliner Regierung Schwierigkeiten. Im Verhältnis zu Kaiser und Reich kann man demnach für die frühen Jahre der Regierung Friedrich Wilhelms I. durchaus beides konstatieren: einerseits eine Weiterführung der Reichs- resp. Arrondierungspolitik Friedrichs III./I. sowie des Strebens nach den Honores regii bzw. die Konsolidierung und Verfestigung der königlichen Würde; andererseits aber einen politisch-diplomatischen Bruch, der sicherlich einen wesentlichen Ursprung in den geänderten außenpolitischen Rahmenbedingungen nach 1713/14 hatte, sich aber insbesondere im Stil der politischen Kommunikation mit Wien niederschlug und so die seit 1712 ohnehin deutlich abgekühlten Beziehungen ernsthaft belastete. Die nicht zuletzt angesichts seiner zahlreichen Prozesse am Reichshofrat verstärkten Bemühungen Friedrich Wilhelms I., Klagen aus den eigenen Territorien zu unterbinden, die reichshofrätliche Zuständigkeit weitgehend zurückzuweisen und das Reichshofratskollegium durch systematische Bestechungen Brandenburg-Preußen gegenüber gewogener zu machen, fielen zeitlich mit der intensivierten Tätigkeit des Corpus Evangelicorum zusammen. Anhand unterschiedlicher Fälle begannen die im Corpus organisierten protestantischen Reichsstände, den höchsten Reichsgerichten die Rechtsprechungskompetenz in von den Protestanten selbst als solche definierten „Religionssachen“ schrittweise abzusprechen. Aus den vom Corpus vertretenen Streitsachen, die meist in Form von Rekursen an den Reichstag gebracht wurden, begann sich bereits vor Ende des Spanischen Erbfolgekrieges ein Gebäude von Lehrsätzen zu bilden, aus denen sich schließlich im Laufe des Religions- und Verfassungskonflikts ab 1719 ein geschlossenes System von verfassungsrechtlichen Prinzipien entwickeln sollte.
235 Vgl. etwa die ausführlichen Berichte des kaiserlichen Sondergesandten Damian Hugo von Schönborn: Roegele, Berliner Missionen; s. dazu auch Kap. E. I.
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Dass diese Parallelen – hier die fortschreitende Entwicklung einer evangelischen Verfassungsinterpretation, dort die intensivierten Abwehrbemühungen Brandenburg-Preußens gegen die kaiserlichen Jurisdiktion – in ihrem Potential von der brandenburg-preußischen Regierung erkannt wurden, beweisen die im Berliner Geheimen Rat angestellten Überlegungen, denen zufolge ein Vorstoß gegen die kaiserliche Justiz über das Forum des Reichstags wenig aussichtsreich und stattdessen eine engere Abstimmung mit den evangelischen Mitständen voranzutreiben sei, um das Thema mit Rückgriff auf die von den Protestanten gegen den Reichshofrat vorgebrachten Gravamina zu behandeln. Im Kontext der innerevangelischen Kommunikation trat dabei eine explizite Argumentation mit der königlichen Souveränität freilich zugunsten einer Betonung der ständisch-konfessionellen Solidarität und der reichsständischen Libertät zurück. Für Brandenburg-Preußen wie auch für England-Hannover besaß die königliche Würde allerdings nichtsdestoweniger eine entscheidende Bedeutung für den Einfluss dieser Mächte auf Meinungsbildung und Interpretationshoheit innerhalb der evangelischen Konferenz – auch wenn dieser Faktor rhetorisch durch die Selbstbeschreibung des Corpus Evangelicorum als ständische Vereinigung und die Repräsentation einer abstrakten, einheitlichen Institution nach außen verdeckt wurde. Im Gegensatz dazu spielte die Profilierung mit der königlichen Souveränität in der direkten Kommunikation Brandenburg-Preußens mit dem Kaiser eine prominentere Rolle. Doch sollte es, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, in den kommenden Jahren, die durch die Zuspitzung der konfessionspolitischen Situation im Reich gekennzeichnet waren, der brandenburg-preußischen Politik durchaus gelingen, beide Argumentationsstrategien gegenüber dem kaiserlichen Hof parallel zu nutzen. Friedrich Wilhelm I. berief sich auch weiterhin gegenüber dem Reichshofrat und dem Reichsvizekanzler auf seine Würde als König, um gegen die „unwürdige“ Behandlung durch die Reichskanzlei und den Reichshofrat zu protestieren. Gleichzeitig bediente er sich gegenüber Wien aber auch der im Corpus Evangelicorum erprobten Argumentation mit der reichsständischen Libertät (die bei den Protestanten von jeher konfessionelle Freiheit bzw. die politische Gleichstellung der Protestanten beinhaltete), um die partikularen Interessen Brandenburg-Preußens durchzusetzen.
D. Brandenburg-Preußenund das Reich im Zeichen der konfessionellen Krise I. Konfessionelle Schmähschriften: Die Fälle Usleber und Thomasius Dass die Reichspolitik zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunehmend von einer konfessionellen Krisenstimmung geprägt war, zeigt sich nicht zuletzt an den in dieser Zeit vermehrt auftretenden Konflikten um konfessionelle Schmähschriften, also Publikationen, die mit dem Argument strafrechtlich verfolgt wurden, dass darin eine Konfession oder gar das Christentum insgesamt in unziemlicher Weise angegriffen und verunglimpft würde. Diese Tendenz lässt sich auch an den Reaktionen ablesen, die das bereits erwähnte Edikt Karls VI. aus dem Jahr 1715,1 das sich gegen religiöse Schmähschriften sowie gegen „verkehrte“, das hergebrachte Reichsrecht in Frage stellende juristische Texte wandte, im protestantischen Lager hervorrief. Zudem wird hieran deutlich, wie die Berliner Reichspolitik im Zuge der sich immer deutlicher abzeichnenden konfessionspolitischen Krise verstärkt den Schulterschluss mit Hannover suchte: Während die brandenburg-preußische Regierung selbst zunächst durchaus positiv auf das kaiserliche Edikt reagierte und hinsichtlich der Publikation desselben über die Reichskreise keine Bedenken trug,2 trafen von unterschiedlichen Seiten Einsprüche gegen eine Deliberation auf den Kreisversammlungen ein: So gab etwa der brandenburg-preußische Gesandte im Niederrheinisch-Westfälischen Kreistag zu bedenken, dass die Exekution dieses kaiserlichen Edikts durch die Reichsfiskale allzu leicht zu einer Beeinträchtigung der landesherrlichen Gewalt führen könnte, beträfen doch Verbot und Verfolgung religiöser Verunglimpfungen die geistlichen und weltlichen Rechte der Reichsstände. Im Falle der brandenburg-preußischen Lande seien aber zudem „heilsambste verordnungen allbereit zur genüge vorhanden und publiziert worden“. Bestünden also einerseits Bedenken in Bezug auf die Rechte der Landesherren, so warne man insbesondere vor der Exekution des Edikts durch die beiden Fiskale des Reichshofrats und des Reichskammergerichts. Man solle darauf dringen, „dass wenigst bey dergleichen commissionen und untersuchungen in Religionssachen und Streitigkeiten im Reich die Comissarii und Fiscales zur helffte catholisch zur anderen helffte aber evangelisch, auch unter concurrentz
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Vgl. dazu Kap. C. I. Reskript an Metternich (nach Wien), Lager vor Stralsund, 12.9.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 29, Fasz 10. 2
I. Konfessionelle Schmähschriften
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einer jeden landes obrigkeit geschehen müssten …“.3 Trotz dieser Bedenken aus den eigenen Reihen gab die Berliner Regierung die Weisung aus, dass Brandenburg-Preußen die Publikation des Edikts auf Kreisebene unterstütze.4 Aber auch im Niedersächsischen Reichskreis mehrten sich offenbar die kritischen Stimmen: Allen voran äußerten die Minister in Hannover und Wolfenbüttel Bedenken, den Katholiken durch die Publikation des Ediktes in Religionsdingen zu viel Macht über die Protestanten zuzugestehen.5 Die Einwände des englischen Königs und Hannoveraner Kurfürsten gegen das Edikt überzeugten schließlich auch die Regierung in Berlin. Zum Jahreswechsel 1715/1716 hatte sich dort die Meinung dahingehend gewandelt, dass man beschloss, sich „auch deshalb von Ihro Königl. Mt. von Großbrittannien sentiment nicht [zu] separieren“, und so erging der Befehl, die Publikation des Edikts in den Reichskreisen so lange wie möglich aufzuhalten, ansonsten aber im Namen des preußischen Königs zu nichts weiterem „zu concurriren“.6 Die so zustande gekommene Ablehnung des Edikts durch die maßgeblichen protestantischen Reichsstände erschien umso begründeter angesichts der im selben Jahr veröffentlichten Dissertation eines Heidelberger Jesuiten, Paul Usleber, der in seiner Schrift die Reformierten – gleichsam als die dezidiertesten Protestanten – scharf angriff und als Ketzer bezeichnete.7 Wie üblich beschwerte sich der Heidelberger Reformierte Kirchenrat bei seinem Patron, dem König in Preußen, der auch ein Gutachten seines reformierten Hofpredigers Achenbach zu der Dissertation anfertigen ließ.8 Achenbach sprach sich dafür aus, den Pfälzer Kurfürsten dazu zu drängen, gegen Usleber vorzugehen. Doch die Reaktion von Uslebers Landesherrn ging offenbar über eine allgemein gehaltene Missfallensäußerung gegenüber den in dem Werk enthaltenen religiösen Schmähungen nicht hinaus. Der brandenburg-preußische Reichstagsgesandte Ernst von Metternich, der ebenfalls via Heidel 3
Relation von Diest, Köln, 27.9.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 29, Fasz. 10. Reskript an Diest, Lager vor Stralsund, 6.10.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 29, Fasz 10. 5 Schreiben an die Geheimen Räte in Hannover, Lager vor Stralsund, 22.12.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 29, Fasz 10. 6 Reskript an die Klever Regierung, Berlin, 18.2.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 29, Fasz. 10; anders die Darstellung bei Eisenhardt, Kaiserliche Aufsicht, S. 40–41, der von der reichsweiten Publikation des Edikts entsprechend der kaiserlichen Anweisung berichtet, sich allerdings lediglich auf einen Beleg aus Kurköln bezieht. Angesichts der von maßgeblichen evangelischen Reichsständen geäußerten Sorge, die kaiserlichen Behörden würden das Edikt für weitere Eingriffe in landesherrliche Zuständigkeiten benutzen, erscheint auch die von Eisenhardt vertretene Einschätzung, das Edikt sei auf die Initiative der evangelischen Reichsstände zurückzuführen, unwahrscheinlich. Wenngleich es natürlich möglich ist, dass die evangelischen Reichsstände in der Vergangenheit auf ein Edikt gegen religiöse Schmähungen gedrungen hatten, so war zumindest die Form, in der das Edikt von 1715 erlassen wurde, sicherlich nicht im Sinne der Protestanten, wandte es sich doch nicht nur gegen religiöse Verunglimpfungen, sondern im selben Maße auch gegen die evangelische Reichspublizistik. 7 Usleber, Vetus et moderna ecclesiae disciplina; vgl. Borgmann, Religionsstreit, S. 28. 8 Gutachten von Achenbach, Berlin, 1.11.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 29, Fasz. 10. 4
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D. Brandenburg-Preußen im Zeichen der konfessionellen Krise
berg von der anti-reformierten Schrift informiert worden war, interpretierte dieses wenig entschiedene Vorgehen Johann Wilhelms von der Pfalz bereits mit direktem Bezug auf das kaiserliche Anti-Schmäh-Edikt: Man könne nur allzu gut sehen, „wie schön sich die Catholische Geistlichkeit daselbst anlasse, dem Kaiserlichen Edict […] nachzukommen“.9 Doch konnte das Corpus Evangelicorum zunächst weder über das Edikt noch über die Uslebersche Streitschrift Beschlüsse herbeiführen, da ein derartiges Vorgehen, wie Metternich nach Berlin meldete, „actus directoriales“ erfordere. Aber eben solche konnten nicht erfolgen, so lange der Direktorialstreit das Corpus lähmte.10 Dennoch diente die Schrift des Jesuiten Usleber in der Folge den evangelischen Reichsständen als weiteres Argument in ihrer Ablehnung des kaiserlichen Anti-Schmäh-Edikts, da weder der Pfälzer Kurfürst noch der Reichsfiskal direkt gegen Usleber vorgingen. Diese Untätigkeit schien die von den Protestanten befürchtete konfessionelle Unausgeglichenheit in der Exekution des Edikts eindrücklich zu belegen. Die Uslebersche Schmähschrift und das in den Augen vieler Protestanten laxe Vorgehen gegen sie gewann weitere Bedeutung aufgrund eines zeitlich und inhaltlich parallel gelagerten Falles: Nur ein Jahr zuvor, im August 1714, hatte der Reichsfiskal am Reichshofrat den Antrag gestellt, den Hallenser Professor Christian Thomasius wegen Verunglimpfung der katholischen Religion in dessen juristischer Disputation „Von der Kebs-Ehe“ zu einer Geldstrafe von 50 Mark lötigen Goldes zu verurteilen.11 Seinem Landesherrn, Friedrich Wilhelm I., erlaubte dieses Verfahren gerade angesichts der Ähnlichkeit zum Fall Usleber, dem kaiserlichen Gericht öffentlichkeitswirksam den Vorwurf der konfessionellen Parteilichkeit zu machen. Zudem reiht sich der Reichshofratsprozess gegen Thomasius auch in die lange Reihe jener Verfahren ein, in denen Friedrich Wilhelm I. die Zuständigkeit des Reichshofrats grundsätzlich zurückwies. Die Disputation „Von der Kebs-Ehe“, in der sich Thomasius ausführlich mit der Historie des Konkubinats beschäftigte,12 beinhaltete unter anderem deutliche Angriffe auf die katholische Kirche bzw. auf die vorreformatorische römische Kirche. Tatsächlich muss die Schrift im Ganzen als Angriff gegen die allumfassenden Zuständigkeitsansprüche der Theologie gelesen werden, wobei sich die Kritik im Kern wesentlich schärfer gegen die den Autor umgebenden Theologen richtete – 9 Relation von Metternich, Regensburg, 12.9.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 29, Fasz. 10. 10 Relation von Metternich, Regensburg, 17.10.1715, ebd. Die offizielle Erwiderung des Corpus Evangelicorum auf das kaiserliche Edikt datiert vom 23.5.1716 und ist abgedruckt bei Schauroth, Sammlung 3, S. 777–778; zum Streit um das Direktorium im Corpus Evangelicorum vgl. Kap. B. II. 2. b), B. II. 2. g). 11 Thomasius, Juristische Disputation; vgl. auch zum Folgenden Schumann, Christian Thomasius’ juristische Disputation, bes. S. 282–294; ausführlich zur Schrift „Von der Kebs-Ehe“ und zur anschließenden innerevangelischen Kontroverse s. Buchholz, Recht, Religion und Ehe, S. 189–229. 12 Zum Begriff der „Kebs-Ehe“ und ihrer Gleichsetzung mit dem Konkubinat: Schumann, Christian Thomasius’ juristische Disputation, S. 271–279.
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primär also gegen die Hallenser Pietisten. Thomasius versuchte in seiner Disputation den Beweis zu führen, dass das Verbot des Konkubinats zwar im Sinne des Gemeinwohles richtig sei, sich dieses Verbot aber weder naturrechtlich noch biblisch herleiten lassen könne, sondern vielmehr aus Normen jenseits der Religion begründet werden müsse. Als Verunglimpfung der katholischen Kirche galt insbesondere Thomasius’ Beantwortung der Frage, weshalb die Kirche erst mehrere Jahrhunderte nachdem sie die Ehe zum Sakrament erklärt hatte, auch das Konkubinat verbot. Thomasius begründete diese zeitliche Differenz mit der „fast der gantzen Päbstlichen Geistlichkeit gemeine[n] Geilheit“.13 Durch das nicht verbotene Konkubinat hätten die Priester lange trotz des Gebotes der Ehelosigkeit in „Kebs-Ehen“ gelebt – angesichts dieser Praxis wäre aber wiederum ein Verbot des Konkubinats für die Laien schwer begründbar gewesen. Es waren vor allem solche Passagen, auf denen der Reichsfiskal seine Anklage gegen Thomasius gründete.14 Noch bevor aber eine Ladung vor den Reichshofrat den Autor in Halle erreichte, war das Verfahren in Berlin bekannt und Thomasius verboten worden, jeglichen Aufforderungen des kaiserlichen Gerichts nachzukommen. Stattdessen wurde er von seinem Landesherrn dazu aufgefordert, eine juristische Deduktion über die Unzuständigkeit des Reichshofrats zu erstellen.15 Thomasius verweigerte auch tatsächlich die Annahme der gerichtlichen Ladung und publizierte noch im selben Jahr eine Deduktion, in der er allgemein gegen die erstinstanzliche Zuständigkeit des Reichshofrates in solchen Straf- und Zivilsachen, in denen Reichsmittelbare des Verstoßes gegen Reichsrecht beklagt wurden, argumentierte.16 Die juristische Argumentation stützte sich primär auf die Zuständigkeit des Landesherrn in erster Instanz. Thomasius behauptete also nicht, dass der Reichshofrat in derartigen Fällen grundsätzlich nicht zuständig sei, weil es sich um eine geistliche Streitigkeit handelte. Eine solche Argumentation, die vor dem Hintergrund der zeitgenössischen evangelischen Rechtslehre theoretisch auch denkbar gewesen wäre, hätte der staatskirchlichenrechtlichen Schule des Territorialismus widersprochen, die Thomasius selbst maßgeblich vertrat. Diese Lehre sprach dem Landesherrn die Jura circa sacra als Teil seiner weltlichen Landesherrschaft zu und erklärte nicht mehr, wie zuvor der Episkopalismus, die geistlichen Rechte evangelischer Landesherren entweder mit der Suspendierung oder der Restituierung der Diözesangerichtsbarkeit. Der Territorialismus argumentierte vielmehr konfessionsneutral und fasste die Befugnisse der Landesherrschaft gegenüber allen vorhandenen Religionen so weit, wie das göttliche Recht dem nicht entgegen stehe.17 So wandte sich Thomasius ganz im Sinne der Stärkung der landesherrlichen Befugnisse, allerdings ohne 13
Thomasius, Juristische Disputation, S. 502. Zum Zensurverfahren auf Reichsebene allgemein sowie zum Verhältnis von landesherrlicher und kaiserlicher Zensur vgl. Eisenhardt, Kaiserliche Aufsicht, S. 50–61, 92–107. 15 Vgl. Schumann, Christian Thomasius’ juristische Disputation, S. 288–289. 16 Thomasius, Kurtze und deutliche Deduction; s. a. zu dieser Frage: Eisenhardt, Kaiserliche Aufsicht; aus rechtshistorischer Sicht vgl. auch Sellert, Zuständigkeitsabgrenzung, S. 86–87. 17 s. dazu Thomasius, Das Recht evangelischer Fürsten, S. 25–62. 14
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Berücksichtigung der vom Corpus Evangelicorum gebrauchten Argumente, gegen die Zuständigkeit des Reichshofrats. Gleichzeitig nutzte Thomasius diese Auftragsarbeit, um sich bzw. seine Dissertation „Von der Kebs-Ehe“ gegen den Vorwurf zu verteidigen, es handle sich dabei überhaupt um eine religiöse Schmähschrift. Schon deswegen, so Thomasius, sei auch dem preußischen König als seinem Landesherrn kein Versäumnis vorzuwerfen. Dabei konnte sich Thomasius darauf berufen, dass der König keineswegs untätig geblieben sei, sondern sogar bereits ein Jahr zuvor ein Verfahren zur Unter suchung der besagten Schrift eingeleitet hatte, dessen Ergebnis allerdings positiv für Thomasius ausgefallen war, ihn also von dem Vorwurf, religiöse Verleumdungen verbreitet zu haben, freigesprochen hatte, so dass Druck und Verbreitung der Dissertation in Brandenburg-Preußen nicht verboten worden waren. Die höchste Reichsgerichtsbarkeit aber, so Thomasius’ zentrale Aussage, sei nur dann für Verfahren gegen Reichsmittelbare zuständig, wenn die territorialen Instanzen untätig blieben – was in seinem Fall aber aufgrund der erfolgten Untersuchung nicht zuträfe.18 Dieses erste, territorialinstanzliche Verfahren war allerdings weder vom Reichshofrat noch von katholischen Geistlichen angestoßen worden, sondern von der lutherisch-theologischen Fakultät der Universität Halle. Denn Thomasius hatte ja mit der „Kebs-Ehe“, mindestens ebenso wie die katholische Kirche, auch die Autorität der evangelischen Theologie angegriffen: Im zweiten Teil der Schrift argumentierte er, dass das Verbot des Konkubinats, anders als protestantische Theologen suggerierten, sich eben nicht aus der Bibel ableiten lasse; es gehöre vielmehr zu den Adiaphora und habe zudem seinen Ursprung im kanonischen Recht – wenngleich es auch dort nicht ausreichend begründet sei. Mit dieser Beweisführung diskreditierte Thomasius kaum verschleiert besonders die pietistisch-lutherischen Theologen in Halle, die, so sein Vorwurf, aus dem Verbot des Konkubinats einen „GlaubensArticel“ machten, ohne dessen Ursprung offen zu legen bzw. sich mit seinen theologisch und naturrechtlich unzureichenden Begründungen auseinanderzusetzen. Es war denn auch die Theologische Fakultät der Universität Halle unter Führung von August Hermann Francke gewesen, die am Berliner Hof den Vorwurf erhoben hatte, Thomasius habe in seiner Abhandlung das Konkubinat verteidigt und die Religion beleidigt. Die Hallenser Theologen waren noch vor dem Reichsfiskal gegen die Disputation vorgegangen und hatten beim König erreicht, dass die Schrift durch die Magdeburgische Regierung geprüft wurde.19 Neben der formellen Untersuchung durch eine von der Magdeburger Regierung beauftragte Kommission20 entstand eine 18
Thomasius, Kurtze und deutliche Deduction, S. 49. Das Verfahren vor der Magdeburgischen Regierung gehört in den Zusammenhang einer Reihe von Auseinandersetzungen zwischen August Hermann Francke und Christian Thomasius. Vgl. dazu nach wie vor Hinrichs, Preußentum und Pietismus, S. 352–387; s. a. Nebe, Thomasius in seinem Verhältnis; darin zur „Kebs-Ehe“ und der nachfolgenden, von Thomasius initiierten Untersuchung gegen Francke: S. 406–409. 20 Es ist charakteristisch für die brandenburg-preußische Konfessionspolitik, dass dieser Kommission mit Georg Friedrich Schnaderbach und Karl Konrad Achenbach ein lutherischer 19
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rege publizistische Debatte um die „Kebs-Ehe“.21 In deren Folge wurde dann eine weitere Untersuchung angesetzt, die nun wiederum Thomasius gegen Francke angestrebt und in Berlin durchgesetzt hatte, die aber nach persönlicher Intervention Friedrich Wilhelms I. fallen gelassen wurde.22 Abseits all dieser Verwicklungen und internen Hallenser Streitigkeiten bleibt für den weiteren Verlauf der „Causa Thomasius“ auf Reichsebene – also der Aus einandersetzung mit dem Reichshofrat – festzuhalten, dass das Verhältnis zwischen Thomasius und dem Berliner Hof sich durch die geschilderte Episode ganz offensichtlich nicht nachhaltig eingetrübt hatte. Vielmehr konnte sich Thomasius in der Auseinandersetzung mit dem Reichsfikal der Unterstützung seines Königs sicher sein. Dass eine Klage des Reichsfiskals bei fehlender Unterstützung durch den eigenen Landesherrn durchaus auch andere Folgen nach sich ziehen konnte, zeigt der zeitlich und sachlich parallel gelagerte Fall des sächsischen Juristen Johann Ehrenfried Zschackwitz:23Auch Zschackwitz wurde 1717 vom Reichsfiskal mit Berufung auf das Kaiserliche Edikt von 1715 gleich wegen drei seiner Schriften angeklagt, weil sie Lästereien gegen die katholische Religion enthielten, vor allem aber, weil dem Kaiser und seinen Rechten darin zu nahe getreten würde und sie sogar, wie der Reichsfiskal befürchtete, „zu erweckung einer aufruhr, und Rebellion im Röm. Reich“ führen könnten.24 Wenngleich Zschackwitz zu diesem Zeitpunkt in Coburg lebte und lehrte, wandte sich der Kaiser auf das Anraten des Reichsfiskals nicht nur an Zschackwitz’ Landesherrn, den Herzog von Sachsen-Coburg, sondern auch an den Kurfürsten von Sachsen und König von Polen, zum einen da dieser die Zensur über die Leipziger Buchmesse ausübte, zum anderen aber, weil er der wichtigste der „bey der Herzoglich Sachsen-Coburg. Succession interessierte[n] fürsten“ war.25 Auf ein Schreiben Karls VI. hin wurden die beanstandeten Schriften auch in Kursachsen konfisziert und 1718 vor den Toren Dresdens verbrannt. Im Zuge und ein reformierter Konsistorialrat vorstanden, obwohl es sich im Falle der Diskussion um die Schrift „Von der Kebs-Ehe“ um eine Auseinandersetzung handelte, an der ausschließlich Lutheraner beteiligt waren. Die Kommission ermahnte die Beschwerde führenden Hallenser Theologen denn auch nicht nur zur Friedfertigkeit gegenüber Thomasius, sondern auch gegenüber den Reformierten; vgl. dazu Schrader, Geschichte, S. 209–210. 21 Die wichtigsten Gegen- bzw. Verteidigungsschriften sind aufgeführt bei Schumann, Christian Thomasius’ juristische Disputation, S. 268, Anm. 4. 22 Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, S. 384–386. Thomasius hatte offenbar in dieser Auseinandersetzung die Unterstützung der Reformierten im Berliner Oberkonsistorium gesucht, die ihrerseits einen reformierten Professor in die rein lutherische theologische Fakultät der Universität Halle einsetzen lassen wollten. Dass Thomasius sich auf die Seite der Reformierten schlug, wurde unter den Pietisten besonders negativ vermerkt. Vgl. hierzu auch Nebe, Thomasius in seinem Verhältnis, S. 407–408. 23 Zur Vita und zum juristischen Schrifttum vgl. Zedler 63, Sp. 672–681; neuerdings ausführlich zu Zschackwitz’ Biographie und seinen Schwierigkeiten mit der Zensur: Arndt, Herrschaftskontrolle, S. 154–158. 24 Schreiben des Reichsfiskals Johann Thomas von Quentel, o. D. [1717], HHStA, RHR, Decisa 1597; s. a. Kobuch, Zensur und Aufklärung, S. 126–132. 25 Schreiben des Reichsfiskals Johann Thomas von Quentel, o. D. [1717], HHStA, RHR, Decisa 1597.
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des Verfahrens vor dem Reichshofrat verließ Zschackwitz die sächsischen Lande und suchte Zuflucht in Brandenburg-Preußen, genauer gesagt an der Universität Halle, wo er in der Folge auch lehrte und schließlich 1731 von Friedrich Wilhelm I. zum außerordentlichen, 1738 zum ordentlichen Professor für Reichsgeschichte und Öffentliches Recht ernannt wurde.26 Vorher jedoch hatte sich Zschackwitz intensiv um eine Vermittlung des Kurfürsten von Sachsen beim Reichshofrat bemüht und richtete schließlich selbst ein Gnadengesuch an den Kaiser, in dem er sich bereit erklärte, die beanstandeten Passagen in seinen Büchern zu widerrufen.27 Tatsächlich erhielt er auch 1719 einen kaiserlichen Gnadenbrief;28 nach wie vor erfolglos jedoch blieben seine Bemühungen um die erneute Druckgenehmigung für seine Werke in Leipzig.29 In Halle dagegen erhielt Zschackwitz nicht nur Aufnahme sowie Lehr- und Publikationserlaubnis, er erfuhr offensichtlich auch weitergehende Unterstützung: Im Reichshofratsverfahren wurde er durch den brandenburgpreußischen Reichshofratsagenten Johann Friedrich Graeve vertreten.30 Im Gegensatz zu der strafrechtlichen Verfolgung, der Zschackwitz in Sachsen ausgesetzt war, erfuhren er und Thomasius durch Friedrich Wilhelm I. große Unterstützung. Thomasius publizierte auch in den Folgejahren immer wieder auf Geheiß der Regierung Gutachten zu zahlreichen reichsrechtlichen Fragen. So hatte er ja auch im Zusammenhang seines eigenen Verfahrens wegen der „Kebs-Ehe“ die Schrift gegen die Zuständigkeit des Reichshofrates auf Geheiß seines Landesherrn verfasst. In dieser Deduktion argumentierte Thomasius, wie oben dargestellt, mit Verweis auf das erstinstanzliche Verfahren systematisch; gleichzeitig griff Thomasius in dieser Schrift aber auch den Reichshofrat und besonders den Reichs fiskal persönlich sehr scharf an und traf damit durchaus den Ton, der sich zwischen Brandenburg-Preußen und dem kaiserlichen Gericht mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. etabliert hatte und primär von der Berliner Seite gepflegt wurde.31 Zudem setzte sich Thomasius ausführlich mit der Frage auseinander, wann überhaupt von einer protestantischen Schmähschrift zu sprechen sei, und stellte seinen eigenen Aussagen über die „päbstliche Clerisey“ die zentralen dogmatischen Texte der Augsburgischen Konfession gegenüber. In diesen werde, so Thomasius, wesentlich deutlicher und abfälliger über die römische Kirche geurteilt – und trotzdem ließen sie sich schließlich auch nicht einfach verbieten.32 Angesichts sol-
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Vgl. Kobuch, Zensur und Aufklärung, S. 126. Gnadengesuch von Johann Ehrenfried Zschackwitz an Karl VI., Halle, 8.3.1719, HHStA, RHR, Decisa 1597. 28 Kaiserliche Resolution, Wien, 23.8.1719, ebd. 29 Vgl. Kobuch, Zensur und Aufklärung, S. 128–130. 30 Dies geht hervor aus: Graeve an Karl VI., o. D. [1719], HHStA, RHR, Decisa 1597. 31 So beurteilte Thomasius die vom Reichfiskal beantragte Geldstrafe als „unverschämtheit“ und forderte, dass untüchtige Reichshofräte, die das gute Einvernehmen zwischen Haupt und Gliedern des Reiches mutwillig störten, „aus diesem Collegio abgeschafft werden müssen“; Thomasius, Kurtze und deutliche Deduction, S. 70, 74. 32 Ebd., S. 53–55. 27
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cher Diskrepanzen seien besonders die Protestanten im Reich dazu aufgefordert, „auf ihrer hut zu seyn“. Katholische Geistliche hätten bereits in der Vergangenheit Protestanten beschimpfen und beleidigen können, es hätten aber „sowohl der Reichs-Fiscal als der R. H. Rath darzu stille geschwiegen“.33 Deutlicher konnte Thomasius den Vorwurf der religiösen Parteilichkeit dem Reichsfiskal bzw. den Reichshofräten gar nicht machen. Das Verfahren des Reichsfiskals gegen Thomasius war also bereits im Gange, als das kaiserliche Edikt im Juli 1715 erging – möglicherweise hatten die geschilderten Ereignisse sogar Einfluss auf den Erlass des Edikts.34 Im weiteren Verlauf des Verfahrens übernahm der brandenburg-preußische Reichshofratsagent Graeve die Vertretung des Angeklagten und argumentierte – ähnlich wie Thomasius selbst in seiner Deduktion – mit der bereits abgeschlossenen Untersuchung der Schrift durch eine landesherrliche Kommission. Katholische Geistliche, die in dieser Sache klagen wollten, so Graeve, sollte der Reichshoftat an den preußischen König als Landesherrn des Autors verweisen. Nach 1717 scheint die Sache auch tatsächlich vom Reichshofrat nicht weiterverfolgt worden zu sein.35 Bis dahin aber reihte sich das Verfahren gegen Thomasius in die Reihe jener Streitfälle, in denen der König in Preußen dem Reichshofrat die Zuständigkeit absprach, wo also, nach brandenburg-preußischer Auffassung, entweder das Privilegium de non apppellando oder andere Rechte des Königs verletzt wurden; gleichzeitig war es eines derjenigen Verfahren, bei denen der Vorwurf der konfessionellen Parteilichkeit gegen das kaiserliche Gericht besonders deutlich formuliert wurde. Im Zuge der immer zahlreicheren Reichshofratsverfahren gegen Brandenburg- Preußen und der damit einhergehenden Zuspitzung des angespannten Verhältnisses zwischen dem kaiserlichen Gericht und der Regierung in Berlin entwarf der Reichshofratsagent Graeve im Januar 1716 eine Klassifizierung derjenigen am Reichshofrat anhängigen Verfahren, in denen sich seiner Einschätzung nach der Einspruch gegen die Zuständigkeit lohnen würde. Unter solche Fälle, in welchen es „nöthig seyn [würde], Kayserl. Mt. sothanen Eingriff in die Landesherrlichen Jura vorstellen zu lassen“, wird auch die Klage gegen Thomasius subsumiert.36 Graeve argumentierte in seinem Gutachten neben dem grundsätzlichen Verweis auf die erstinstanzliche Zuständigkeit territorialer Gerichtsbarkeit, dass die Reichshofratsordnung zwar die konfessionelle Neutralität des kaiserlichen Gerichts vorschreibe, eine solche aber mitnichten tatsächlich bestehe, wiewohl sich der Kaiser in seiner Wahlkapitulation darauf verpflichtet habe, weder dem Reichshofrat noch dem Bücherkommissar in Frankfurt zu erlauben, die Konfessionen unterschied-
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Ebd., S. 75. Vgl. Schumann, Christian Thomasius’ juristische Disputation, S. 292; anders die Einschätzung von Eisenhardt, Kaiserliche Aufsicht, S. 40–41. 35 Vgl. Schumann, Christian Thomasius’ juristische Disputation, S. 293–294. 36 Relation von Graeve, Wien, 11.1.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 63, Bl. 7–12, 8. 34
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lich zu behandeln, was Prozesse bzw. Bücherverbote anging.37 Dieses Prinzip aber sei ganz offensichtlich verletzt worden, wenn man das harsche Vorgehen gegen Thomasius – trotz der bereits erfolgten landesherrlichen Untersuchung – dem Fall Usleber gegenüber stelle. Man habe alle Ursache, die konfessionelle Unparteilichkeit des kaiserlichen Gerichts anzuzweifeln, wenn man sähe, wie „einem gewissen Pfälzer Jesuiten, welcher kürzlich wieder das IP art. 5 et Cap. Carol. Art. 2 öffentlich ex cathedra defendiret, daß die Reformirten im Reiche nicht zu dulden wären, so nachgesehen würde, da doch dies verbrechen, des geheimbten Raths Thomasii so genannter Schmähschriften bey weitem überwieget“.38 Dieser Meinung schloss sich in der Folge sogar der zu diesem Zeitpunkt erneut in Wien tätige, altgediente brandenburg-preußische Gesandte Ernst von Metternich an, der bislang in Reichshofratsfragen eher ausgleichend argumentiert hatte: Selbst er sähe nun zahlreiche Punkte, in denen sich der Reichshofrat mit seiner Jurisdiktion im ganzen Reich angreifbar mache, vor allem aber mit Blick auf die konfessionelle Parteilichkeit des Gerichts: nämlich „daß der Capitul Caroli VI. art. 2 zuwieder denen Catholischen vor denen Protestirenden favorisiret wird, wovon […] die Thomasische und Usleberische Sache Zeugnüß geben“.39 Eine solche konfessionelle Parteilichkeit des kaiserlichen Gerichtes (und damit implizit des Kaisers selbst), die angesichts der Fälle von Usleber und Thomasius äußerst plausibel erschien, lieferte den führenden Mächten im Corpus Evangelicorum gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Erfahrungen mit der kaiserlichen Politik auf dem Badischen Friedenskongress gute Argumente, ihre evangelischen Mitstände gegen das Reichsoberhaupt zu mobilisieren. Gerade der traditionellen kaiserlichen Klientel unter den Protestanten, also primär den kleineren, mindermächtigen Reichsständen (die grundsätzlich natürlich einer von den großen evangelischen Reichsständen angeführten Oppositionspolitik eher kritisch gegenüber standen) musste eine zu eindeutig pro-katholische kaiserliche Reichspolitik und Rechtsprechung gefährlich erscheinen; denn diese Gruppe war, was ihren reichsrechtlichen Status und damit ihre Existenz überhaupt betraf, besonders stark von der Reichsgerichtsbarkeit abhängig.40
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Ebd. Zu den einschlägigen Bestimmungen des Westfälischen Friedens und der Wahlkapitulationen der Kaiser seit 1653 vgl. Eisenhardt, Kaiserliche Aufsicht, S. 34–39. Die Bemühungen, die Rechte und Pflichten der kaiserlichen Zensur klar zu benennen sowie die kaiserlichen Organe auf konfessionelle Unparteilichkeit festzulegen, waren maßgeblich von Brandenburg(-Preußen) ausgegangen; vgl. Siemsen, Kurbrandenburgs Anteil, S. 15–16. 38 Relation von Graeve, Wien, 11.1.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 63, Bl. 7–12, 10. 39 Relation von Metternich, Wien, 7.3.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 63, Bl. 84–86. 40 Vgl. zu diesem Aspekt auch Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt, S. 257.
II. Zwischen Berlin, Rom und Wien
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II. Zwischen Berlin, Rom und Wien: Die katholischen Minderheiten in Magdeburg, Minden und Halberstadt Auch einige weitere Reichshofratsverfahren gegen den jungen preußischen König ließen sich seitens der brandenburg-preußischen Politik leicht zur Diskreditierung der kaiserlichen Rechtsprechung als „Protestanten-feindlich“ anführen. Die infolge des Regierungswechsels ab 1713 in den brandenburg-preußischen Territorien eingeführten Neuerungen, die im Zusammenhang mit der Finanz- und Heerespolitik Friedrich Wilhelms I. unter anderem auf den Abbau ständisch-korporativer Privilegien zielten,41 hatten weitere Beschwerden von katholischen Ständen und Institutionen gegen ihren Landesherrn evoziert, derer sich auch der Reichshofrat annahm und die so das Verhältnis zwischen Wien und Berlin weiter belasteten. Während der Friedensverhandlungen von Rastatt und Baden hatte Friedrich Wilhelm I. – trotz allen Dringens auf die Wahrung evangelischer Interessen – insofern wenig gegen den Kaiser opponiert, als der junge König unbedingt an einer raschen Beendigung des Krieges interessiert war.42 In Hinblick auf die Proteste des Corpus Evangelicorum gegen den Badischen Frieden jedenfalls vertrat man in Berlin aus Sorge um eine Gefährdung des dringend gewünschten Friedensschlusses eine wesentlich gemäßigtere Haltung als Kurhannover. Gleichzeitig aber drohte Friedrich Wilhelm I. gegenüber seinen eigenen katholischen Untertanen mit Maßnahmen, die er explizit als Reaktion auf die Ergebnisse von Rastatt deklarierte: Im April und Mai 1714 ließ der König den in Magdeburg, Halberstadt und Minden ansässigen katholischen Domkapiteln, Prälaten, Kollegien, Stiften und Klöstern ankündigen, dass er sich angesichts der durch den Rastätter Vertrag nochmals bestätigten Durchbrechung des Westfälischen Friedens „ratione deren in Ihren Landen befindlichen catholischen Glaubens genossen an sothanen Westfälischen Frieden ebenfalls nicht mehr binden werde[n]“. Dem Beispiel seines Vaters folgend, befahl Friedrich Wilhelm I. seinen katholischen Untertanen, „baldige Vorstellungen so wohl bey Ihro Kayserlichen Mt. als auch anderswo [zu tun], und es mit dahin befürdern zu helffen, damit diese ratione Religionis im Reich intendirte Neuerung hinterbleiben undt alles auff den Westfälischen Frieden gelassen werden mögte“.43 Tatsächlich wandten sich die Angesprochenen unter anderem auch an den Pfälzer Kurfürsten Johann Wilhelm – diese Verbindung bestand ja ebenfalls noch aus der Regierungszeit Friedrichs I. –, um auf die Gefahr hinzuweisen, die für sie angesichts dieser kaum verhüllten Drohungen ihres Landesherrn bevorstand. Gleich 41 Zusammenfassend zu diesen politischen Prioritäten Friedrich Wilhelms I.: Neugebauer, Staatliche Einheit und politischer Regionalismus, S. 71–76. 42 Vgl. dazu Kap. B. II. 2. g). 43 Bericht sämtlicher katholischer Domkapitel, Prälaten, Kollegiatstifte und Klöster in Magdeburg, Halberstadt und Minden, o. D. = Beilage zu: Johann Wilhelm von der Pfalz an Karl VI., Düsseldorf, 17.6.1714, HHStA, RK, Religionsakten Nr. 37.
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D. Brandenburg-Preußen im Zeichen der konfessionellen Krise
zeitig brachten sie aktuelle sowie weiter zurückliegende Beschwerden gegen die Landesherrschaft vor.44 Johann Wilhelm setzte sich auch wirklich für die Magde burger, Mindener und Halberstädter Katholiken ein. Er tat dies aber freilich nicht in dem von Friedrich Wilhelm I. intendierten Sinne, sondern vielmehr, indem er dem Reichsvizekanzler und dem Kaiser von den Entwicklungen in Brandenburg-Preußen berichtete, eine umfangreiche Gravaminaliste der Katholiken in Kleve und Berg anschloss45 und dem Kaiser die Entscheidung anheim gab, wie dieser von Amts wegen gegen derartige Rechtsbrüche des preußischen Königs vorgehen werde, die „anderen im Reich zum bösen exempel dienen, mithin vielen unordnungen thür und thor öffnen dörfften“.46 Auch die Nuntien in Köln und Wien sowie der Apostolische Vikar des Nordens und Bischof von Spiga, Agostino Steffani,47 wandten sich mit ihrer Sorge über das Schicksal der Katholiken in brandenburg-preußischen Landen 44
Ebd. Seit etwa 1708, besonders deutlich aber ab 1712 hatte sich offenbar das Verhältnis zwischen Pfalz-Neuburg und Brandenburg-Preußen in Hinblick auf die schwebenden Konfessionskonflikte in den jülich-klevischen Gebieten immer weiter verschlechtert; vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 156–167. 46 Bericht sämtlicher katholischer Domkapitel, Prälaten, Kollegiatstifte und Klöster in Magde burg, Halberstadt und Minden, o. D. = Beilage zu: Johann Wilhelm von der Pfalz an Karl VI., Düsseldorf, 17.6.1714, HHStA, RK, Religionsakten Nr. 37. 47 Der Komponist und Diplomat Agostino Steffani wurde 1654 in Castelfranco Veneto geboren und begann zunächst eine musikalische Karriere am Münchner Hof. Im Jahr 1680 wurde Steffani zum Priester geweiht; seit 1682 übernahm er diplomatische Missionen für Kurfürst Maximilian Emanuel. 1688 wechselte Steffani in die Dienste Herzog Ernst Augusts I. von Braunschweig-Lüneburg, wo er nicht zuletzt in der Frage der Kur mehrfach mit diplomatischen Missionen betraut wurde. In diesem Zusammenhang erstellte Steffani 1695 u. a. ein umfangreiches Gutachten über die neunte Kur, in dem er die katholischen Befürchtungen gegenüber einer Erweiterung des Kurkollegs zurückwies (vgl. Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 236–237). Auch war er an den Verhandlungen zur Konversion Elisabeth Christines von Wolfenbüttel, der späteren Gattin Karls VI., beteiligt (vgl. Brünig, Herzog Anton Ulrich, S. 337–338). Aus braunschweigischen Diensten schied Steffani 1703 aus und siedelte nach Düsseldorf über. Vom pfälzischen Kurfürsten Johann Wilhelm wurde er mit hohen politischen Aufgaben betraut: Er wurde Präsident des Geistlichen Rates, Präsident der Regierung und Kurator der Heidelberger Universität. Johann Wilhelm setzte sich bei der Kurie für eine Berufung Steffanis zum pfälzischen Hofbischof ein. Als diese Pläne scheiterten, bemühte sich Steffani mit der Unterstützung seines Landesherrn um die Berufung zum Apostolischen Vikar im Zusammenhang der Pläne zur Teilung des ursprünglichen Vikariats. Vermutlich hatte Steffani selbst für die Abtrennung der braunschweigischen, pfalz-neuburgischen und brandenburgischen Gebiete geworben, um sich dann für den neu zu schaffenden Posten ins Gespräch zu bringen. (Dies wird nahegelegt von Wittichen, Zur Geschichte.) Tatsächlich wurde Steffani 1707 zum Titularbischof von Spiga ernannt. Im März 1709 erfolgte dann die Teilung des Apostolischen Vikariats des Nordens. Steffani siedelte im selben Jahr nach Hannover über, wo er während seiner Tätigkeit als Apostolischer Vikar residierte. Als Vikar unterstand er der Propaganda-Kongregation und dem Kölner Nuntius. Steffani verließ 1722 im Dissens mit der Kurie das Vikariat und zog sich nach Carrara zurück. Das Vikariat wurde vom Hildesheimer Kanonikus Ludolf Wihelm Majus interimistisch verwaltet. Steffani kehrte schließlich 1725, nachdem er sich mit der Kurie über die finanzielle Ausstattung des Vikariats geeinigt hatte, nach Hannover zurück und wurde von der Kurie 1726 ein zweites Mal zum Apostolischen Vikar ernannt. Nur anderthalb Jahre nach seiner zweiten Ernennung verließ Steffani Hannover endgültig und siedelte zunächst an den Hof des 45
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an den Reichsvizekanzler. Steffani sprach die Hoffnung aus, „wan in dieser Sach allerhöchst gedachte Kayserl. Mt. denselben Eiffer, wie in der Werdischen Angelegenheit spühren lassen, dass die halberstätt. und magdeburg. ebenso so guth ausschlagen werde“.48 Steffani hatte sich schon in der Regierungszeit Friedrichs I. immer wieder für die Belange des katholischen Klerus in Magdeburg, Minden und Halberstadt beim Wiener Nuntius und dem Reichsvizekanzler eingesetzt. Zum Beispiel hatte er über Einschränkungen der Rechte des Klerus, etwa bei der Abhaltung von Wahlen oder durch landesherrliche Besteuerung, berichtet.49 Derartige, durch das kuriale Personal oder durch Johann Wilhelm von der Pfalz vermittelte, Klagen des katholischen Klerus häuften sich seit dem Jahr 1714/15 in Wien und gewannen angesichts der vom König angedrohten Vergeltungsmaßnahmen für die durch Rastatt bestätigte Rijswijker Klausel an Brisanz.50 Unter jenen Katholiken, die in den im Zuges des Westfälischen Friedens an Brandenburg gefallenen Gebieten lebten, war es vor allem der Halberstädter Klerus, der diverse Gravamina nach Wien meldete – ebenfalls zum Großteil vermittelt über Steffani bzw. die kuriale Diplomatie;51 gleichzeitig reichten die Halberstädter aber auch direkt beim Reichshofrat Suppliken oder förmliche Klagen ein. So brachten im April 1715 „Sämbtliche katholische Clöster zu Halberstadt“ beim Kaiser „diverse Gravamina“ vor: Am 1. April 1715 erreichte eine Supplik der gesammelten Halberstädter Klöster den Reichshofrat, in der die Geistlichen über Neuerungen, die unter der Regierung Friedrich Wilhelms I. eingeführt worden waren, klagten. Die Klöster sollten nun sowohl mit Einquartierungen als auch mit unterschiedlichen „extraordinären“ Abgaben wie Werbegeldern oder der Malz- und Fass-Akzise belegt werden, wogegen sie sich mit Verweis auf ihre im Westfälischen Frieden, dem Homagialrezess sowie anderen, vom verstorbenen König garantierten Freiheiten verwahrten.52 Der Reichshofrat erstellte bereits vier Tage darauf ein ausMainzer Kurfürsten über, dann nach Frankfurt, wo er im Februar 1728 verstarb. Zur Biographie Steffanis vgl. ausführlich: Woker, Aus den Papieren; ders., Steffani; Feldkamp, Nachlass. Für die neueste Forschung über Steffani s. a. Kaufhold, Tagungsbericht. 48 Steffani an Schönborn, o. O., 19.3.1715, HHStA, RK Religionsakten 37; s. a. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 184, S. 248. 49 s. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 140, S. 152–154 (Steffani an die Propaganda, Düsseldorf, 18.8.1709); Nr. 143, S. 157–167 (Relation Steffanis über die Halberstädter und Magdeburger Klöster, Hannover, 5.12.1710). 50 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 184, S. 248 (Steffani an Paolucci [Kardinalstaatssekretär 1700– 1721], Neuhaus, 23.5.1714). Steffani übersandte in diesem Schreiben eine Kopie eines königlichen Erlasses vom 21.4.1714, mit dem den Halberstädter Kapiteln und Klöstern unter der Androhung von Repressalien aufgetragen worden war, sich beim Kaiser und anderen katholischen Höfen für die Abschaffung der Rijswijker Klausel einzusetzen. 51 Der Abt von Huysburg an Steffani, Huysburg, 10.3.1715 = Beilage zu: Steffani an Schönborn, 19.3.1715, HHStA, RK, Religionsakten 37; s. a. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 182, S. 243–246 (Gravamina der Halberstädter Klöster, o. D. [Ende 1713]). 52 Der Abt von Huysburg an Steffani, Huysburg, 10.3.1715 = Beilage zu: Steffani an Schönborn, 19.3.1715, HHStA RK, Religionsakten 37; zu den unter Friedrich Wilhelm I. neu eingeführten Abgaben der Klöster und Stifte vgl. auch Peters, Der preußische Fiskus, S. 218–219.
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führliches Gutachten und sprach sich dafür aus, dass der Kaiser den preußischen König in einem Reskript ermahnen solle, die beschriebenen Neuerungen wieder zurückzunehmen. Zwar würde, so der Reichshofrat, die Rechtslage ein Mandatum sine Clausula rechtfertigen, doch müsse man auf den ausdrücklichen Wunsch der Klöster, „nur generaliter“ gegen die königlichen Verordnungen vorzugehen, wohl Rücksicht nehmen. Die Freiheiten der Klöster, insbesondere die Ausnahme von Einquartierungen, seien 1638 in der Kapitulation des letzten Bischofs, des Erzherzogs Leopold Wilhelm, festgeschrieben worden, und diese wiederum sei im Westfä lischen Frieden ausdrücklich aufgenommen sowie durch den Homagialrezess unter dem Großen Kurfürsten und eine Garantieerklärung Friedrichs I. bestätigt worden. Der neue König aber benehme sich „nit anderst als hätte solches auf einmahl seine verbindliche kraft verlohren …“.53 Karl VI. schrieb entsprechend dem Gutachten seiner Reichshofräte im Juni 1715 zunächst noch in Form einer freundlichen Ermahnung an Friedrich Wilhelm I. und forderte ihn auf, die Supplikanten innerhalb von vier Wochen in ihren Rechten zu restituieren, nicht ohne auch seinerseits zu betonen, dass der Westfälische Frieden nicht „nur einseitig gült- und verbündtlich“ sei.54 Gleichzeitig forderte der Kaiser seinen Reichsvizekanzler auf, den Halber städter Klöstern, „falls der König sich in der güte nicht fügen wollte, auff ihr ferneres geziemendes anruffen unsere Kayserl. hülffe und schutzes so viel Uns möglich ist, zu versichern“. Allerdings sollten die Klöster auch dazu angehalten werden, dass sie, damit der Kaiser rechtlich unangreifbar als oberster Richter zu ihrem Schutz aktiv werden könne, tunlichst „öffent- und ordentlich […] klagen sollen …“.55 Friedrich Wilhelm I. reagierte auf dieses kaiserliche Ermahnungsschreiben nicht persönlich; wohl aber schaltete sich der brandenburg-preußische Reichshofratsagent Graeve ein und rechtfertigte sämtliche Erlasse, auf die sich die Beschwerden der Klöster gründeten, mit dem Argument, es handele sich dabei um das landesherrliche Besteuerungsrecht. Der Kaiser habe sich in seiner Wahlkapitulation selbst darauf verpflichtet, „die beschwerdten der unterthanen wegen steuern und dergleichen beytrags unter einigem praetext oder schein an die höchste Reichsgerichtsbarkeit nicht ziehen [zu] lassen …“.56 Hinzu komme, so Graeve, dass sich alle Abgaben nur jeweils auf einen Teil der klösterlichen Güter bezögen, der „contributable“ sei. Also würden auch nicht jene Privilegien verletzt, die durch den Normaljahresstatus und den Homagialrezess garantiert seien. Grundsätzlich besitze der König durch den Westfälischen Frieden „das Jus collectandi auch ins besondere wegen der geistlichen Güter im Fürstenthumb Halberstatt“. In Steuersachen aber sei es „eine ausgemachte sache und fest gestelltes principium, daß jener, welcher das onus ordinarium [leiste], […] von dem beytrag zu denen extra ordinairen lasten alß werbungen, einquartierungen und dergleichen sich nicht frey machen könnte“.
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Reichshofratsgutachten vom 5.4.1715, HHStA, RHR, Vota 21-5. Karl VI. an Friedrich Wilhelm I., Wien, 24.6.1715, HHStA, RK, Religionsakten 37. 55 Karl VI. an Schönborn, Wien, 25.6.1715, HHStA, RK, Religionsakten 37. 56 Reichshofratsgutachten vom 3.8.1716, HHStA, RHR Vota 21-5. 54
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Man bitte daher, die Beschwerdeführer mit ihren „unstadthafften querelen“ am Reichshofrat abzuweisen.57 Der Reichshofrat hatte offensichtlich Schwierigkeiten, die Argumentation des Agenten Graeve ganz und gar zurückzuweisen: Grundsätzlich sei der von ihm vorgetragene Grundsatz, wer „ordinaire Contributionen“ leiste, könne auch zu außerordentlichen Abgaben herangezogen werden, zwar richtig; im Falle der Halber städter Klostergüter könne aber dieser Grundsatz doch nicht angewendet werden, weil diese „ihrer Eigenschaft nach und von anfang der Collectation und Contribution nicht unerwörffig gewesen“.58 Jedoch hatten die Klöster, wie sich in der Folge herausstellte, in der Vergangenheit offenbar tatsächlich immer wieder Abgaben auf ihre Güter gezahlt – damals aber hatten sie eben nicht geklagt und damit gewissermaßen die Chance vertan, bereits die Zahlung „regulärer“ Abgaben zu bestreiten.59 So sprach sich der Reichshofrat nun lediglich dafür aus, dass „wan auch darüber [die Klöstergüter] ein jus collectandi eingestanden werden sollte, solches dannoch weiter nicht zu extendiren ist“, und konzentrierte sich auf die Einquartierungen, die unter den vorherigen Regierungen tatsächlich nie vorgekommen waren.60 Offensichtlich vermieden die Halberstädter Klöster eine förmliche Klage und konnten sich auch nicht dazu entschließen, einen eigenen Reichshofratsagenten nach Wien zu entsenden.61 Gleichwohl äußerten die Geistlichen auch weiterhin Beschwerden, die deutlich machen, wie wiederum die Berliner Regierung auf ihre Suppliken reagierte: In einem Schreiben vom 5. Oktober 1716 berichteten die Klöster, dass ihre sämtlichen Äcker nun durch Kommissare – welche die Klöster freilich selbst zu bezahlen hatten – ausgemessen werden sollten, damit die Regierung auf dieser Grundlage Steuern und ggf. sogar Strafgelder für bislang nicht gezahlte Abgaben festlegen könnte.62 Gegen diese neuerlichen Übergriffe des Landesherrn empfahl der Reichshofrat, ein weiteres „nachtrückliches rescriptum dehortatorium“ zu 57
Ebd. Auch zum Folgenden: Ebd. 59 Bereits im Zuge der von Friedrich I. 1708 eingerichteten Halberstädter Visitationskommission hatte die Regierung argumentiert, dass die Klöster grundsätzlich steuerpflichtig seien; vgl. Peters, Der preußische Fiskus, S. 207. 60 Reichshofratsgutachten vom 8.10.1716, HHStA, RHR Vota 21-5. Auch Steffani bezeichnete die Einquartierungen – im Gegensatz zu den immer weiter steigenden Abgaben, die die Klöster zu leisten hätten – als eine „cosa arcinovissima“; Hiltebrandt, Preussen, Nr. 183, S. 246– 247 (Steffani an Fede [pfälzischer Resident in Rom], Neuhaus, 19.1.1714), Zitat S. 247. 61 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 198, S. 265 (Spinola [Nuntius in Wien 1713–1721] an Paolucci, Wien, 1.2.1716). Sowohl Steffani als auch der Wiener Nuntius und der kaiserliche Hofkanzler Sinzendorf hatten den Klöstern dazu geraten, dauerhaft einen Agenten nach Wien zu senden; vgl. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 208, S. 278 (Paolucci an Spinola, Rom, 17.7.1717), Anm. 1. Die Klageschriften des Klosters Hamersleben wurden vom Subprior des Klosters, Johann Adam Unrath, verfasst; vgl. etwa Gegenbericht des Klosters Hamersleben, 9.8.1719, HHStA, RHR, Den. rec. 110/2. 62 Reichshofratsgutachten vom 8.10.1716, HHStA, RHR, Vota 21-5; s. a. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 208, S. 278 (Paolucci an Spinola, Rom, 17.7.1717); zur entsprechenden Ankündigung der Regierung vom Oktober 1714 vgl. auch Peters, Der preußische Fiskus, S. 218–219. 58
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erlassen sowie den brandenburg-preußischen Residenten in Wien bzw. die kaiserlichen Residenten in Berlin und am Nieder- und Obersächsischen Kreistag von diesen Entwicklungen zu informieren.63 Der weitere Verlauf des Verfahrens ist aus den Wiener Aktenbeständen nicht zu ersehen; die Berliner Überlieferung legt allerdings nahe, dass das Verfahren zumindest bis 1719 weiterlief und den „diversis gravaminibus“ der Halberstäder Klöster im Laufe der Jahre immer weitere hinzugefügt wurden, so unter anderem die 1717 im Zuge der Planungen für Klostervisitationen den Halberstädter Klöstern auferlegte Pflicht, den Stand ihrer Rechte und Besitzungen für das Normaljahr 1624 zu erweisen.64 Wenngleich Friedrich Wilhelm I. es bei der Androhung von Repressionen wegen der erneuten Bestätigung der Rijswijker Klausel beließ, standen alle seither einkommenden Klagen der Katholiken über die Verletzung ihrer Rechte implizit im reichspolitischen Zusammenhang der evangelischen Proteste gegen die Ergebnisse von Rastatt und Baden. Dies wird besonders deutlich anhand einer Aufstellung von gesammelten Gravamina der Halberstädter Klöster, die Steffani 1718 nach Rom sandte:65 Obwohl diese Liste keinen direkten Bezug auf Repressions-Androhungen enthält, werden die Beschwerden doch in diesen Zusammenhang gestellt: So hätten „gesambte Clöster […] bishero in causis pacis religiosae viele Repressalia und dergleichen Proceduren […] über sich ergehen lassen müssen […]“, weshalb sie bäten, „dergleichen wider sie ferner nicht zu verhängen …“.66 Da die Klöster gegen alle neuen Erlasse des Königs protestierten, indem sie sich auf ihre Privilegien beriefen, welche wiederum maßgeblich auf der Normaljahresbestimmung des Westfälischen Friedens basierten, konnte jeglicher Eingriff in die Rechte des katholischen Klerus in Halberstadt, Minden und Magdeburg gleichsam als Umsetzung der diffusen Androhung Friedrich Wilhelms I. gelten, sich angesichts des Rastätter und Badischen Friedens nun seinerseits gegenüber seinen katholischen Untertanen nicht mehr an den Westfälischen Frieden gebunden zu fühlen – zumindest aber konnte jede Neuerung von den Klageführern und ihren Fürsprechern
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Reichshofratsgutachten vom 8.10.1716, HHStA, RHR, Vota 21-5. s. die Überlieferung in: GStA PK, Rep. 13, Nr. 25 a, Fasz. 1; etwa Relation von Burchard, Wien, 4.11.1719, ebd., Bl. 45; s. a. Lehmann, Preussen 1, Nr. 764, S. 787–789 (Instruktion für die Visitatoren der magdeburgischen Klöster, Berlin, 27.9.1717). Ursprünglich war eine neue Klosterkommission schon 1714 angekündigt worden, und bereits zu diesem Zeitpunkt war geplant gewesen, u. a. die Prüfung des Normaljahresstatus einzubeziehen; vgl. Peters, Der preußische Fiskus, S. 218–219. 65 Anders die Bewertung von Peters, Der preußische Fiskus, S. 223, der die (Fiskal-)Politik gegenüber den katholischen Klöstern und Stiften in Halberstadt nicht im Zusammenhang mit den reichspolitischen Entwicklungen interpretiert und auch die Quellensammlung von Hiltebrandt unberücksichtigt lässt. 66 Vgl. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 182, S. 243–246 (Gravamina der Halberstädter Klöster, o. D. [Ende 1713]). 64
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implizit in diesen Kontext gestellt werden.67 Tatsächlich bezogen sich die Gravamina, die nun in rascher Folge nach Wien gelangten und mit denen sich – auf Betreiben des Reichsvizekanzlers68 – ab 1715 der Reichshofrat befasste, nicht auf Maßnahmen, die vom König nominell als wie auch immer geartete Reaktionen auf Rastatt und Baden bzw. als Repressionen eingeführt worden waren, sondern auf „reguläre“ Erlasse der Regierung, die somit auch in Berlin als Ausübung landesherrlicher Befugnisse über die eigenen Untertanen betrachtet und entsprechend gegenüber dem Kaiser und dem Reichshofrat legitimiert wurden. Dabei zeigen sowohl die am Reichshofrat eingebrachte Supplik der gesamten Halberstädter Klöster von 1715 als auch die durch Steffani verbreiteten Beschwerden des katholischen Klerus deutlich die „Handschrift“ der politischen Zielsetzungen des jungen Königs: Jene Klagen, die sich explizit auf die frühe Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. beziehen, beinhalten praktisch ausschließlich Beschwerden über Einquartierungen in den Klöstern oder über erhöhte Abgaben.69 Zu einem großen Teil gingen die mit den Bittschriften an Steffani, die Nuntien oder den Reichsvizekanzler eingesandten Kopien der königlichen Erlasse, auf die sich die Gravamina bezogen, allerdings auf die Zeit vor dem Rastätter Frieden zurück und stammten damit noch aus der Regierungszeit Friedrichs I. So schickte der Abt des Klosters Huysburg, Jodocus Maeß, im April 1713, also unmittelbar nach Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I., an Steffani ein Verzeichnis der Klagen der Halberstädter Klöster, welches die katholischen Stände dem neuen König anlässlich des Homagialaktes präsentiert hatten. Die Liste beinhaltete zahlreiche Beschwerden über die Missachtung des Westfälischen Friedens, insbesondere durch Repressionen und den Zwang zur landesherrlichen Bestätigung von geistlichen Wahlen. Es handelte sich also – schon aufgrund des Entstehungszeitpunkts der Gravamina sammlung – sämtlich um Klagen, die sich eindeutig auf die Regierungszeit Friedrichs I. bezogen.70 Über die erhöhte Akzise und andere Abgaben, von denen die katholischen Klöster nach Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. berichteten, hatte Steffani ebenfalls schon einige Jahre vor dem Regierungsantritt Friedrich
67
Diesen Zusammenhang hat auch Aretin, Das Alte Reich 2, S. 273, hergestellt und die Politik Friedrich Wilhelms I. gegenüber den Halberstädter Klöster als direkte Umsetzung der ausgesprochenen Drohungen interpretiert. 68 Karl VI. an Schönborn, Wien, 25.6.1715, HHStA, RK, Religionsakten 37. 69 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 182, S. 243–246 (Gravamina der Halberstädter Klöster, o. D. [Ende 1713]); Nr. 183, S. 246–247 (Steffani an Fede, Neuhaus, 19.1.1714); Nr. 189, S. 256–257 (Archinto [Nuntius in Köln 1713–1721] an Paolucci, Köln, 16.12.1714); Nr. 190, S. 257 (Steffani an Paolucci, 22.12.1714); Nr. 192, S. 258–259 (Steffani an Spinola, Neuhaus, 20.5.1715); Nr. 208, S. 278 (Paolucci an Spinola, Rom, 17.7.1717). 70 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 173, S. 232–233 (Abt Jodocus von Huysburg an Steffani, Huysburg, 17.4.1713). Der Abt berichtete Steffani über den gerade an die Regierung gelangten Friedrich Wilhelm I.: „Quod attinet modernum statum regiminis regis nostri, nihil hucusque nisi transcribere possum …“; s. a. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 182, S. 243–246 (Gravamina der Halberstädter Klöster, Ende 1713).
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Wilhelms I. referiert.71 Auch bei den diversen Bemühungen der Regierung, die fiskalische Kontrolle über die katholischen Klöster und Stifte zu erhöhen, handelte es sich mithin um Instrumente, die schon in der Regierungszeit Friedrichs III./I. eingeführt worden waren.72 Bereits damals hatte Steffani die Sorge geäußert, der vergleichsweise große Reichtum der katholischen Korporationen in Halberstadt und Magdeburg schüre wohl den „Appetit“ des Berliner Finanzministeriums.73 Und sogar die von Friedrich Wilhelm I. angesichts der Friedensschlüsse verwendete Argumentation, wenn der Westfälische Frieden von den Katholiken gebrochen werde, müsse man sich auch evangelischerseits nicht mehr daran halten, taucht bereits in den Relationen Steffanis von 1710 auf: Die Rijswijker Klausel, so schrieb Steffani damals, werde vom preußischen König (Friedrich I.) als Vorwand genutzt, um die katholischen Klöster im Widerspruch zu den für sie im Westfälischen Frieden garantierten Privilegien zu „schröpfen“.74 Und in der Tat hatte es ja unter der Regierung Friedrichs I. zahlreiche, teilweise auch umgesetzte Drohungen mit Repressionen gegen die katholischen Einrichtungen in Minden, Halberstadt und Magdeburg gegeben, die mit den Religionsbeschwerden von Protestanten in der Pfalz, in Kempten, Schlesien und Ungarn sowie mit dem langwierigen Streit um die Einführung des reformierten Gottesdienstes in der Reichsstadt Köln begründet worden waren. Weder das Ziel, die katholischen Untertanen stärker unter die Kontrolle des Fiskus zu bringen, noch die Strategie, diese stärkere Kontrolle und Besteuerung in den Kontext der Reichspolitik zu stellen, waren demnach Neuentwicklungen, die erst unter Friedrich Wilhelm I. einsetzten.75 Auch dass das Kurienpersonal über die Beschwerden der katholischen Untertanen in Brandenburg-Preußen bzw. die Missstände in den dortigen Klöstern informiert war, lässt sich bereits für die Re 71
Hiltebrandt, Preussen, S. 245, Anm. 2. So gingen beispielsweise die Zahlungen in die General-Armen-Kasse auf einen Erlass der Regierung vom Februar 1712 zurück. 72 Unter Friedrich I. war 1708 eine Kommission zur Visitation der Halberstädter Klöster und Stifte berufen worden, die als Vorbereitung zu einer effektiveren Besteuerung dienen sollte; vgl. Peters, Der preußische Fiskus, S. 204–217. 73 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 143, S. 157–167 (Relation Steffanis über die Halberstädter und Magdeburger Klöster, Hannover, 5.12.1710); Steffani spricht vom „fastuoso lusso, con cui vivono li regolari, perchè questo acuisce l’appetito delle camere delle finanze e risveglia l’invidia de’ consiglieri …“; ebd., S. 157. 74 Ebd., S. 158: „… poichè si dice, se li cattolici pretendono in vigor della clausola far una breccia al trattato di Westfalia a profitto della loro religione, non sono li protestanti più obbligati al tenore di esso …“. 75 Vgl. dazu die Studie von Peters, Der preußische Fiskus, der am Beispiel Halberstadts die Neuartigkeit der fiskalischen Maßnahmen unter der Regierung Friedrich Wilhelms I. durch den Vergleich mit der Regierungszeit Friedrichs III./I. überzeugend relativiert. Nicht zuzustimmen ist allerdings dem Fazit von Peters, demzufolge die brandenburg-preußische Politik gegenüber den katholischen Klöstern und Stiften in Halberstadt mit „Drangsalierungen […] kaum etwas zu tun“ gehabt hätte (ebd., S. 223). Ein solcher Eindruck kann nur entstehen, wenn man die reichspolitischen Zusammenhänge, in welche die brandenburg-preußische Politik gegenüber der katholischen Minderheit von den preußischen Königen immer wieder bewusst gestellt wurde, außer Acht lässt.
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gierungszeit Friedrichs III./I. belegen. Neu war unter Friedrich Wilhelm I. dann allerdings die Intensität, mit denen die vielfach durch die römische Diplomatie in Wien bekannt gemachten Beschwerden des katholischen Klerus in Wien rezipiert wurden, genauer: wie sich sowohl der Reichsvizekanzler als auch der Reichshofrat dieser Klagen annahmen. 1. Fiskalpolitische Streitsachen vor dem Reichshofrat a) Das Kloster Hamersleben contra den König in Preußen I Ebenfalls weit in die Zeit vor dem Regierungsbeginn Friedrich Wilhelms I. reichten Beschwerden zurück, die zu einem weiteren aus Halberstadt angestrengten Reichshofratsverfahren führten: 1715 klagte das reiche, in der Nähe Halberstadts gelegene Augustiner-Chorherrenstift Hamersleben76 gegen ein Verfahren, das ursprünglich vom Halberstädter Advocatus Fisci angestoßen worden war und nach mehreren Instanzen schließlich am Berliner Oberappellationsgericht entschieden werden sollte. Anders als im Falle der oben geschilderten „Sammelsupplik“ sämtlicher Halberstädter Klöster hatte das Kloster Hamersleben von Anfang an explizit die Klage als förmliche Appellation beim Reichshofrat eingereicht und gebeten, einen Appellationsprozess gegen eine Entscheidung der Juristischen Fakultät Jena bzw. gegen die vom Kläger – also dem Advocatus Fisci – seinerseits dagegen am Berliner Oberappellationsgericht eingereichte Appellation zu erkennen.77 Der Gegenstand der Klage ging zurück auf das Jahr 1685, als der Halberstädter Fiskal vom Kloster Hamersleben verlangt hatte, Beweise für den rechtmäßigen Besitz an dem unweit des Klosters gelegenen Schloss Wegersleben und den dazugehörigen Gütern vorzubringen.78 Die Aufforderung war mit der Drohung verbunden gewesen, dass, sollte das Kloster dieser Anweisung nicht nachkommen, das Schloss dem Fiskus überschrieben werden würde. Ein Versuch des Klosters, wegen Nichtigkeit gegen die Forderung zu protestieren, scheiterte. Daraufhin standen sich 1688 beide Parteien vor der Halberstädter Regierung gegenüber. Der Advocatus Fisci beanstandete die Rechtmäßigkeit des vom Kloster eingereichten Kaufvertrages über Schloss Wegersleben aus dem Jahre 1494 und wandte sich offenbar direkt an die Berliner Regierung, von wo auch rasch die Weisung kam, dass die Akten nach Berlin übersandt werden sollten. Schließlich wurden beide Parteien im Jahr 76
Zur Geschichte dieses Kloster vgl. die ältere Darstellung von Kunze, Geschichte, sowie Peters, Augustinerchorherrenstift. 77 Zum Folgenden: HHStA, RHR, Den. rec. 110–5; für die Berliner Gegenüberlieferung s. GStA PK, I. HA, Rep. 33, Nr. 103, Fasz. 2 („Acta von 1716 bis 1721 in causa fisci contra das Closter St. Pancratii wegen vindicatur des Schlosses Wegersleben“). 78 Der im Folgenden geschilderte Hergang des Verfahrens bis zur Appellation an den Reichshofrat lässt sich rekonstruieren anhand: Schreiben des Subpriors Unrath an Karl VI., o. D. [Juli / August 1715] = Anlage E zu: Schreiben des Subpriors Unrath an Karl VI., o. D. [präsentiert am 27. September 1715], HHStA, RK, RHR, Den. rec. 110–5.
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1711 von der Halberstädter Regierung erneut einbestellt, damit die Berliner Entscheidung publiziert werden könnte. Gegen diesen Verfahrensschritt protestierte das Kloster – abermals vergeblich – und musste schließlich zur Verkündigung des Berliner Richterspruches vom 24. Februar 1712 vor der Halberstädter Regierung erscheinen. Die Entscheidung aus Berlin lautete, dass die zum Schloss Wegersleben gehörigen Güter mit sämtlichen daraus fließenden Einkünften rückwirkend seit dem Jahr 1650 dem Fiskus zu restituieren seien. Das Kloster lehnte diesen Urteilsspruch erneut mit dem Argument der Nullität ab und bemühte sich um die Sistierung der Exekution bis zu einem endgültigen Urteilsspruch, den man von einer auswärtigen Instanz einholen möge. Tatsächlich erreichten die Mönche die Übersendung der Akten an die Juristische Fakultät der Universität Jena, wo am 27. Juni 1715 in der Sache ein weiteres Gutachten verfasst wurde, in dem aber lediglich die Berliner Entscheidung suspendiert und die Streitsache an die Halberstädter Regierung als rechtmäßige Instanz zurückverwiesen wurde. Gegen die Jenenser Entscheidung aber appellierten nun gleich beide Parteien: Der Fiskal wandte sich von neuem nach Berlin, diesmal allerdings an das Oberappellationsgericht; das Kloster aber appellierte an den Reichshofrat. Die Klageschrift, welche die Hamersleber Mönche nun beim Reichshofrat einreichten, enthielt drei Hauptpunkte:79 Zum einen beschwerte sich das Kloster insofern gegen den Jenenser Spruch, als dieser die erste Berliner Entscheidung von 1712 nicht gänzlich annulliert hatte. Indem dieses frühere Urteil nicht aufgehoben, sondern nur für eine gewisse Zeit suspendiert worden war, sei dem Fiskal erneut die Möglichkeit eingeräumt worden, Argumente und Belege für seine Position einzubringen, „da es doch zu recht heißet, und bekannt ist, daß wan ein zutringender kläger den grund seiner klage nicht gehörig probiret, als dann der beklagte plenarie zu absolviren sey …“.80 Das Kloster sah sich überdies dadurch ungerecht behandelt, dass die Jenenser Fakultät den seit über zweihundert Jahren bestehenden und bislang nie beanstandeten Besitz des Schlosses Wegersleben nicht ausreichend berücksichtigt habe. Da das Kloster das Gewohnheitsrecht fraglos auf seiner Seite habe, hätte es von der Klage des Fiskals ein für allemal los gesprochen werden müssen. Das dritte Gravamen bezog sich schließlich auf die Unkosten, die der jahrzehntelange Lauf der verschiedenen Verfahren dem Kloster aufgebürdet hatte. Somit kombinierte die Klageschrift des Klosters unterschiedliche Modi der rechtlichen Argumentation: Verfahrensrechtlich beanstandete das Kloster sämtliche Prozessschritte bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Sache an die juristische Fakultät Jena verwiesen worden war. Dem Jenaer Urteil widersprach die Klageschrift dagegen hinsichtlich des materiellen Rechts. Gegen die neuerliche Überführung des Prozesses nach Berlin führten die Mönche wiederum verfahrensrechtliche Argumente an und baten den Reichshofrat, den Protest gegen die Appellation des Fiskals an das Berliner 79
Schreiben des Subpriors Unrath an Karl VI., o. D. [Juli / August 1715] = Anlage E zu: Schreiben des Subpriors Unrath an Karl VI., o. D. [präsentiert am 27. September 1715], HHStA, RK, RHR, Den. rec. 110–5. 80 Auch zum Folgenden: Ebd.
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Oberappellationsgericht in ihren eigenen Appellationsprozess zu integrieren – und klagten damit schließlich direkt gegen den preußischen König. Dabei griffen sie im Kern auf jene Argumentation zurück, die sie bereits in erster Instanz gegen die Übertragung der Entscheidung von Halberstadt nach Berlin angewandt hatten, „was maßen man nicht verstatten könnte, daß zu Berlin eine sententia gleichsahm in propria causa abgefasset würde …“. Die Hamersleber Mönche sahen im Berliner Oberappellationsgericht offenbar keine neutrale Instanz, sondern vielmehr einen verlängerten Arm ihres Landesherrn, dessen Interessen wiederum mit jenen des Fiskals gleichzusetzen seien. So argumentierten die Mönche, dass schon zu dem Zeitpunkt, als sich die Halberstädter Regierung das erste Mal mit der Klage des Fiskals befasst hatte, die königlichen Reskripte an die Halberstädter Regierung nur allzu deutlich zu erkennen gegeben hätten, dass man in Berlin das Anliegen des Fiskals unterstützte. Sollte man nun aber dem Fiskal erlauben, die Sache erneut nach Berlin zu bringen, stünde die Entscheidung praktisch schon im Vorhinein fest, könne man doch „gar leicht das facit machen, was man vor eine erkenndnus dort gewärtig sein könne, nemblich nichts anders, als eine pure confirmation der den 24. Februar 1712 allbereit zu Berlin abgefasseten Urtheil“. Diese Vermutung erscheine umso plausibler, als das königliche Reskript, mit dem man in Berlin der Überweisung des Prozesses nach Jena zugestimmt hatte, bereits festgesetzt habe, dass es dem Fiskal freistehe, gegen das Jenaer Votum am Oberappellationsgericht zu appellieren. So aber hätte der Fiskus „gewonnenes Spiel“, „weilen die königlichen Ministri zu Berlin, ob sie gleich auf die Justiz geschworen, jedennoch vor eine sehr bedenklich und gefährliche sache halten würden, wider ihres landesherren Interesse und die zu Berlin schon einmahl in dieser sache abgefassete sentenz ein urtheil zu sprechen, und dadurch große königliche Ungnade ihnen zu wege zu bringen …“. Zudem sei bekannt, dass vom königlich-preußischen Oberappellationsgericht grundsätzlich keinerlei Appellationen an die Reichsgerichte zugelassen würden, „folglich auf diese weise haec pars […] zugegeben hätte, daß Ihro Königlich M. in Preußen in Ihrer Selbst eigenen Sache quia causa fisci causa regia dicitur ein richter wehren …“.81 Mit dem Verweis auf die praktische Unmöglichkeit, vom Oberappellationsgericht aus noch auf die höchste Instanz, also das Reichskammergericht oder den Reichshofrat, ausweichen zu können, argumentierte das Kloster zuletzt verfassungsrechtlich bzw. politisch: Die Mönche machten deutlich, auf welche Art der preußische König durch die Annahme der Appellation des Fiskals die Halberstädter ihres Appellationsprivilegiums zu berauben und damit das Fürstentum verfassungsrechtlich praktisch den brandenburgischen Kernlanden gleichzusetzen suchte. Damit stellte das Kloster Hamersleben aber letztlich seinen Fall in den größeren Kontext der Frage nach dem verfassungsrechtlichen Status des ehemaligen Fürstbistums seit seiner Säkularisierung in Folge des Westfälischen Friedens. Die verfassungsmäßige Stellung Halberstadts innerhalb des Heiligen Römischen Reiches hatte sich in der Perspektive des Klosters durch die Säkularisierung und die Übertragung der 81
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Regierung auf die brandenburgischen Kurfürsten nicht geändert – und diese Sicht entsprach genau der kaiserlichen Interpretation der Reichsverfassung, der wiederum der preußische König so häufig entgegentrat. Explizit wurde der Kaiser von den Mönchen in der Klageschrift „als judicem immediate superiorem des fürstenthumbs Halberstadt“ bezeichnet. Implizit erklärte man damit aber den Einzelfall zum Präzendenzfall, der weit über die Frage nach den Eigentumsrechten am Schloss Wegersleben hinauswies: Verhandelt wurde auch die verfassungsrechtliche Stellung der Kläger, aber nicht nur diese, sondern gleichzeitig diejenige des Kaisers selbst und damit die Verfassung des Reiches überhaupt – ein Gesichtspunkt der allerdings von Seiten des Reichshofrats in einem weiteren Verfahren desselben Klägers noch wesentlich nachdrücklicher aufgenommen werden sollte als in diesem Fall.82 Die in der Hamersleber Klageschrift formulierte Auffassung lässt sich als eine Vorstellung von monarchischer Herrschaft charakterisieren, die jenem Typus von composite monarchies83 entspricht, wie sie John H. Elliott in Anlehnung an den frühneuzeitlichen Juristen Solórzano Pereira als „Union aeque principaliter“ beschreibt.84 Der Begriff aeque principaliter impliziert, dass im Verband einer zusammengesetzten Monarchie neu erworbene Territorien ihren verfassungsrechtlichen Status, ihre Privilegien, Gesetze sowie ihre kirchliche Struktur beibehalten, verbunden mit einer starken Partizipation der Stände an der Regierung der jeweiligen Provinz. Im Gegensatz dazu kennzeichnet die accesssory union die verfassungsrechtliche und institutionelle Verschmelzung der neu hinzugekommenen Provinz mit den Kernlanden der Monarchie. In allen composite monarchies der Frühen Neuzeit lässt sich aber die Spannung zwischen den Inkorporations- und Homo genisierungsbemühungen der Zentralregierung – die es natürlich auch in zusammengesetzten Monarchien des Typs aeque principaliter gab – und dem Festhalten an den traditionellen Strukturen der hinzugekommenen Provinz als generelles Problem der Integration beobachten. Diese Integrationsproblematik kann auch immer als ein Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen, teilweise konkurrierenden, teilweise aber auch sich überschneidenden politisch relevanten Identitäten beschrieben werden.85 Im Falle der Appellation des Klosters Hamersleben an den 82
Vgl. dazu Kap. D. II. Zum Begriff vgl. Koenigsberger, Zusammengesetzte Staaten. 84 Vgl. auch zum Folgenden: Elliott, A Europe of Composite Monarchies, hier S. 52–53. Speziell für Brandenburg-Preußen vgl. Rohrschneider, Zusammengesetzte Staatlichkeit. Rohrschneider fasst in diesem Aufsatz den allgemeinen Forschungstand, besonders für die deutsche Forschung, zusammen und gibt einige allgemeine Hinweise auf Möglichkeiten der Übertragung aktueller Fragestellungen auf die Staatswerdung und Integration des brandenburgisch-preußischen Länderkonglomerats. Dabei findet jedoch gerade die Justiz als Faktor der Integration keine Erwähnung. Einen besseren Überblick und ein differenzierteres Urteil bietet Neugebauer, Staatliche Einheit. Eine zentrale These Neugebauers besteht in der Relativierung des dynastischen Faktors im brandenburg-preußischen Fall; vgl. ebd., bes. S. 85–87. Eine Überblicks darstellung der Geschichte Brandenburg-Preußens in der Frühen Neuzeit aus der Perspektive der composite monarchy bietet Friedrich, Brandenburg-Prussia. 85 Vgl. dazu Emich, Territoriale Integration, S. 15–17. 83
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Reichshofrat konnten die Kläger die Berufung auf die Landstandschaft des Klosters unmittelbar mit dem Reich und seiner Verfassung verbinden und damit gleichsam die Rechte eines privilegierten Halberstädter Landstandes und die Identifikation mit Kaiser und Reich – als Garanten eben dieser landständischen Privilegien – als komplementär darstellen. Dabei spielte der konfessionelle Aspekt zumindest implizit eine wichtige Rolle: Zum einen wurde die Sichtweise auf das Fürstentum Halberstadt als Teil des brandenburg-preußischen Herrschaftsgebiets aeque principaliter maßgeblich durch den Westfälischen Frieden und das starre reichskirchenrechtliche Gerüst gestützt, das sämtliche Rechte und Privilegien insbesondere mit Blick auf die konfessionellen Verhältnisse in den in der Folge von 1648 an Brandenburg gefallenen Gebieten festschrieb.86 Umgekehrt erlaubte eine Berufung auf die Verletzung der eigentlich starren Normaljahresregel durch katholische Herrscher den Hohenzollern-Königen, ihrerseits vorgenommene Übertretungen dieses rechtlichen Rahmens gegenüber ihren eigenen katholischen Untertanen als „Reaktion“ zu legitimieren.87 Zum anderen existierten konfessionsspezifisch unterschiedliche Vorstellungen vom Reich und seiner Verfassung – und diese Ausdifferenzierung hatte Konjunktur! Schließlich aber rekurrierten die Hohenzollern selbst immer wieder auf ihre Identität als eine der bedeutendsten und mächtigsten protestantischen Dynastien im Reich, was mitunter mit einem deutlichen Anti-Katholizismus einhergehen konnte. Alle diese Punkte erleichterten es den Hamersleber Klägern, in ihrer besonderen Situation als katholischer Landstand in Brandenburg-Preußen an die traditionell-katholischhierarchische Reichsverfassungsvorstellung mit dem Kaiser als höchstem Richter und Schutzherrn zu appellieren. Insofern lassen sich mit Blick auf Inanspruchnahme, Rechtsprechung und nicht zuletzt Wahrnehmung des Reichshofrats gewisse Analogien zur Regierungszeit Kaiser Rudolphs II. (reg. 1576–1612) feststellen: In den Jahren 1576–1612 hatten sich vermehrt katholische Parteien, vor allem Klöster, gegen protestantische weltliche Herren an den Reichshofrat gewandt, der gegenüber dem Reichskammergericht für diese Klägergruppe zunehmend attraktiver erschien. Diese starke Inanspruchnahme des kaiserlichen Gerichts durch katholische Parteien trug – weniger als die materielle Rechtsprechung – damals maßgeblich dazu bei, dass dem Reichshofrat ein katholisches „Image“ zugeschrieben wurde, wie es sich auch für den hier untersuchten Zeitraum beobachten lässt. Eine weitere Parallele 86 Eine ähnliche Argumentation beschreibt auch Neugebauer für die Magdeburger Stände, als diese sich 1713 gegen die Vereinheitlichung der mittleren Provinzbehörden mit Verweis auf den Westfälischen Frieden zur Wehr setzten; vgl. Neugebauer, Staatliche Einheit, S. 85; zu Beschwerden der Magdeburger Stände über die Versuche Berlins, den Rechtsweg an die höchsten Reichsgerichte abzuschneiden, vgl. ebd., S. 78–80. 87 In den rheinischen Territorien verfolgten die Hohenzollern dagegen lange Zeit tendenziell eher eine Politik des „Kirchenfriedens“, da durch die Verbindung zwischen brandenburgischem und pfalz-neuburgischem Anteil am jülich-klevischen Erbe jede Seite immer die Möglichkeit hatte, die Diskriminierung ihrer Glaubensgenossen im fremden Territorium mit Repressionen gegen die jeweils andere Konfession im eigenen Herrschaftsbereich zu beantworten. Vgl. dazu Opgenoorth, Die rheinischen Gebiete, bes. S. 41–43.
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könnte man auch in der Rolle des Kaisers sehen: Die persönliche, nach außen getragene Frömmigkeit Karls VI. mag ebenfalls, wie bei Rudolph II., eine Rolle dafür gespielt haben, dass die traditionelle Schutzfunktion des Kaisers für den Katho lizismus verstärkt von katholischen Supplikanten und Klägern angefragt wurde.88 Diesen Beobachtungen entspricht auch die Feststellung, dass das „Über- Gegen und Miteinander politisch mobilisierbarer Identitäten“ unmittelbar zusammenhing „mit der Schwäche des noch im Werden begriffenen Staates“:89 Ein Halberstädter Landstand besaß selbst im frühen 18. Jahrhundert noch die Möglichkeit, auf die Reichsjustiz zurückzugreifen. Allein die für die Kläger bestehende Möglichkeit, sich an den Reichshofrat zu wenden, bezeichnet aber zweifellos eine der strukturellen Schwächen der frühmodernen brandenburg-preußischen Staatlichkeit. Institutionell bot das Reich für ein Halberstädter Kloster damit immer noch eine „handfeste“ Alternative zur landesherrlichen Gerichtsbarkeit. Die tatsächliche Nutzung dieser Alternative aber war erkennbar von politischen Konjunkturen abhängig: Die „potentiellen Beziehungen“90 zum Kaiser bzw. Reichshofrat wurden erst durch die konkrete Interaktion aktuell. Versuche der brandenburgischen Landesherren, diese Identifikation mit dem kaiserlichen Schutzherrn resp. die Nutzung der Reichsjustiz, zu unterbinden, konnten durchaus ambivalente Reaktionen hervorrufen: Während in den Berichten Steffanis über die diversen Gravamina der gesamten Halberstädter Klöster immer wieder deutlich wird, wie groß die Bedenken der Mönche und Nonnen waren, sich auf einen förmlichen Prozess vor dem Reichshofrat einzulassen,91 konnten die Einschüchterungsversuche der Landesregierung aber offenbar auch bei den Beschwerdeführern das Gegenteil als Reaktion provozieren: die „ordentliche“ Anrufung der Reichs justiz, die das Hamersleber Kloster gleich mehrfach gewillt war zu nutzen. b) Das Kloster Hamersleben contra den König in Preußen II Das Kloster Hamersleben führte eine weitere Klage vor dem Reichshofrat, die, was Zeitraum, Klagegegenstand, Beklagten und Instanzenzug betrifft, große Ähnlichkeiten zum Prozess um das Schloss Wegersleben aufweist: Seit 1715 war ein Verfahren gegen Friedrich Wilhelm I. am Reichshofrat anhängig, das abermals einen Versuch des Halberstädter Advocatus Fisci, die Rechtmäßigkeit von Teilen des klösterlichen Grundbesitzes zu bestreiten, zum Gegenstand hatte.92 Auch in 88
Vgl. Ehrenpreis, Kaiserliche Gerichtsbarkeit, S. 125–185; zusammenfassend ebd., S. 245. Emich, Territoriale Integration, S. 15. Dass die Stände aber auch ihrerseits „Elemente und Träger der Integration“ sein konnten, betont Neugebauer, Staatliche Einheit, S. 52. 90 Reinhard, „Staat machen“, S. 108. 91 Zum Konzept der Justiznutzung allgemein: Dinges, Frühneuzeitliche Justiz; ders. Justiznutzung. 92 Der im Folgenden geschilderte Hergang des Verfahrens lässt sich rekonstruieren anhand der Akten in: HHStA, RHR, Vota 22-32. 89
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diesem Fall ging die Geschichte des Verfahrens einige Jahre zurück, nämlich auf das Jahr 1703, als der Advocatus Fisci vor der Halberstädter Regierung eine so genannte „los-kündigungs klag“ angestrengt und verlangt hatte, dass das Kloster zwei Hofstätten und neun Hufen Land, die es 1495 erworben hatte, gegen die Erstattung des damaligen Kaufpreises an den König in Preußen übergeben und die Einkünfte mit Beginn des Rechtsstreites ausbezahlen solle, weil der damalige Landes- und Lehensherr, also der Bischof von Halberstadt, sich seinerzeit das Jus reluendi93 vorbehalten hätte.94 Dieses „Wiedereinlösungsrecht“, also das Recht, die Güter an sich zu ziehen, aber sei mit der Säkularisation des Fürstbistums 1648 an die Brandenburger übergegangen. Auch wenn das Kloster natürlich in Abrede stellte, dass auf den fraglichen Besitz das Jus reluendi angewandt werden könne, gab die Halberstädter Regierung 1709 der Klage des Fiskals insofern statt, als das Kloster tatsächlich zur Herausgabe der Güter verurteilt wurde, jedoch nicht zur Erstattung der Einkünfte. Gegen dieses Urteil legten beide Parteien Beschwerde ein: Der Fiskal wandte sich an das Berliner Oberappellationsgericht, das Kloster aber erhob eine Nullitätsklage bei der Halberstädter Regierung mit der Begründung, in derartigen Fällen müsse eine auswärtige Instanz Recht sprechen. Vom Oberappellationsgericht wurde im März 1713 entschieden, dass der Fiskal seine Appellation so lange aussetzen müsse, bis die Nullitätsklage des Klosters von der halberstädtischen Regierung entschieden worden sei. Die Regierung urteilte im Sinne des Klosters und versandte die Akten an die Juristische Fakultät der hessen-kasselischen Universität Rinteln, die wiederum im November 1714 das Kloster von der Klage des Fiskals freisprach. Gegen dieses Urteil wandte sich der Fiskal ein zweites Mal an das Berliner Oberappellationsgericht, woraufhin das Kloster wegen dieses „nacher Berlin incompetenter geschehenen recurs“ 1715 beim Reichshofrat klagte.95 Soweit der Gang der Instanzen. Aber auch mit Blick auf die Argumente des Klosters fallen Ähnlichkeiten zum Prozess um das Schloss Wegersleben auf: Wie damals wandten die Mönche auch nun gegen die Appellation des Fiskals vor dem Berliner Oberappellationsgericht ein, der König könne in „causa propria nach denen rechten kein richter seyn“; zudem gehörten Appellationen aufgrund der im Homagialrezess festgehaltenen ständischen Rechte „allenfalls ad summa Imperii tribunalia“.96 Dem Reichshofratsgutachten folgend, das sich der Hamersleber Argumentation generell anschloss, ergingen noch 1715 in der Sache zwei kaiserliche Schreiben: eines an Friedrich Wilhelm I., in dem er aufgefordert wurde, den Advocatus Fisci vom Berliner Oberappellationsgericht ab- und stattdessen an den Reichshofrat zu verweisen; ein weiteres an das Kloster Hamersleben, dem unter Androhung einer Strafe von 20 Mark lötigen Goldes verboten wurde, sich auf den „von dem halberstättischen Advocato fisci zu Unrecht und nachtheil Dero Kaiserlichen allerhöchsten Richterlichen Ambt und […] auch dem Instrumento Pacis zuwider“ begonnenen Prozess 93
Vgl. Oberländer, Lexicon Juridicum, S. 425. Auch zum Folgenden: HHStA, RHR, Vota 22-32. 95 Reichshofratsgutachten vom 20.8.1715, ebd. 96 Ebd. 94
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in Berlin einzulassen. Außerdem wurden die kaiserlichen Gesandten in Berlin und im Niedersächsischen Kreis von diesem Verbot informiert.97 Die Mönche kamen nun in die wenig angenehme Lage, von beiden Seiten – direktem wie oberstem Lehensherrn – unter Druck gesetzt zu werden: Denn der preußische König ließ den Prozess an seinem eigenen Oberappellationsgericht erwartungsgemäß weiterverhandeln. Dort wurde 1718 zunächst ein „Vorurteil“ gefällt, im Januar 1719 aber eine „condemnatoria definitiva“ gegen das Kloster ausgesprochen und den Mönchen auferlegt, innerhalb von vier Wochen das fragliche Land gegen Erstattung des ursprünglichen Kaufpreises dem Landesherrn abzutreten. Natürlich protestierte das Kloster dagegen – sowohl bei der Halberstädter Regierung als auch erneut beim Reichshofrat. Friedrich Wilhelm I. hatte aber wiederum zwischenzeitlich neue Fakten geschaffen, indem er einem aus der Umgebung Halberstadts stammenden Hauptmann von Ottleben98 kurzerhand die fraglichen Güter geschenkt und dem Kloster bei tausend Reichstalern Strafe verboten hatte, das Land weiterhin zu bestellen.99 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man in Berlin das gesamte Verfahren vor dem Reichshofrat ignoriert. Erst jetzt, im März 1719 und damit über vier Jahre nachdem das Verfahren am Reichshofrat anhängig geworden war, überreichte der preußische Reichshofratsagent Graeve eine Repräsentationsschrift, in der er die Unzuständigkeit des Reichshofrates – und also die Zuständigkeit des Oberappellationsgerichts in Berlin – zu erweisen suchte, indem er auf die Wiederkaufsumme der Güter von 750 Reichstalern verwies, die unter der seit 1702 für das Fürstentum Halberstadt festgesetzte Appellationssumme von 2500 Goldgulden läge. Ein weiteres Argument für die Rechtmäßigkeit des Berliner Verfahrens sah Graeve in der Tatsache begründet, dass sich das Kloster erst im Falle der zweiten Appellation des Fiskals von 1715 an den Reichshofrat gewandt hatte. Als der Fiskal aber gegen das erste Halberstädter Urteil von 1709 in Berlin appelliert hatte, waren die Mönche lediglich bei der Regierung in Halberstadt mit einer Nullitätsklage eingekommen – damit aber hätten sie sich auf das erste Verfahren vor dem Oberappellationsgericht Berlin eingelassen und somit dessen Zuständigkeit implizit anerkannt.100 Der Reichshofrat schloss sich jedoch in seinem Gutachten der Einschätzung des Klosters an, veranschlagte den aktuellen Wert des strittigen Landes bei mindestens 9000 Reichstalern und bestritt, dass mit der ersten vom Fiskal in Berlin angestrengten Appellation die Zuständigkeit des Oberappellationsgericht auch vom Kloster akzeptiert worden sei. Im Sommer 1719 wurde entsprechend dem reichshofrätlichen Gutachten eine kaiserliche Resolution gefasst, die alles, was das Berliner Oberappellationsgericht entschieden und angewiesen hatte, für null und nichtig erklärte. Zugunsten der klösterlichen Güter sollte ein Konservatorium auf die Könige 97
Reichshofratsgutachten vom 5.6.1719, HHStA, RHR, Vota 22-32. Die Familie von Ottleben oder Odeleben war im Halberstädtischen sowie in der Grafschaft Wernigerode begütert; bis 1664 ist die Landstandschaft für die Grafschaft Wernigerode belegt; vgl. Kneschke, Adels-Lexicon 1, S. 20. 99 Reichshofratsgutachten vom 5.6.1719, HHStA, RHR, Vota 22-32. 100 Ebd. 98
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von England und Polen als Kurfürsten von Hannover und Sachsen erkannt werden. Ferner erhielt der Hauptmann von Ottleben ein kaiserliches Edikt, das ihm unter Androhung einer Geldstrafe verbot, die fraglichen Äcker in Besitz zu nehmen. Auch von diesen neuen Entwicklungen wurden die kaiserlichen Gesandten am Niedersächsischen Kreistag und in Berlin informiert.101 Die neuerlichen kaiserlichen Ermahnungen beantwortete der Reichshofratsagent Graeve im Oktober und November 1719 lediglich mit den bereits im März vorgebrachten Einwänden, wogegen wiederum das Kloster 1721 eine ausführliche Refutationsschrift einbrachte.102 Nachdem aus Berlin aber keine weitere Reaktion erfolgte, votierte der Reichshofrat im Juni 1722 schließlich, es solle ein weiteres kaiserliches Reskript an den König ergehen mit der Warnung, dass der Kaiser das auf die Kurfürsten von Sachsen und Hannover erkannte Konservatorium tatsächlich exekutieren lassen würde.103 Der Ausgang des Verfahrens ist nicht überliefert; ein letztes Gutachten aus dem entsprechenden Bestand der Wiener Akten ist undatiert und fasst lediglich nochmals die vorherigen Argumente beider Seiten zusammen.104 Bemerkenswert an diesem Verfahren des Klosters Hamersleben gegen den Advocatus Fisci bzw. den preußischen König ist, dass im Vergleich zum Prozess wegen des Schlosses Wegersleben der Reichshofrat hier viel deutlicher sein eigenes Interesse, nämlich die Verteidigung der kaiserlichen Jurisdiktion, benannte. In diesem Fall bestand das Kernanliegen Wiens darin, dass sich das Kloster keinesfalls auf das Verfahren am Berliner Oberappellationsgericht einlassen sollte. Die Gutachten des Reichshofrats sowie die in der Sache erlassenen kaiserlichen Reskripte behandeln denn auch wesentlich weniger die materialen Rechtsfragen – also die Rechtmäßigkeit des klösterlichen Besitzes bzw. der königlichen Wiederkaufsansprüche –, sondern konzentrieren sich auf die verfahrensrechtlichen Aspekte. Für Wien ging es bei diesem Prozess offenbar exemplarisch darum, die Durchlässigkeit von Teilen des brandenburg-preußischen Herrschaftsgebietes für die kaiserliche Jurisdiktion – und damit für einen bedeutenden Teil kaiserlicher Einflussnahme überhaupt – zu erhalten und eine hermetische Abriegelung gegen derartige Eingriffe, wie sie in den brandenburgischen Kernlanden de facto bestand, zu verhindern. Dieses Bemühen aber war dem brandenburg-preußischen Streben um politische Integration jener Gebiete diametral entgegengesetzt.105 Das Interesse der Berliner Zentralregierung, das dortige Oberappellationsgericht gleichsam zum Gipfelpunkt jedes Instanzenzuges im gesamten brandenburg-preußischen Herrschaftsgebiet zu machen, ist ein deutlicher Beleg dafür, dass man die territoriale Justiz für ein wesentliches 101
Ebd. Reichshofratsgutachten vom 2.3.1722, HHStA, RHR, Vota 22-32. 103 Ebd. 104 Reichshofratsgutachten o. D., HHStA, RHR, Vota 22-32. 105 So auch die Bewertung von Press, Reichshofrat, S. 357: „Die starke Befassung mit inneren Verfassungsproblemen der Territorien […] eröffnete dem Kaiser immer wieder eine Mitsprache im Inneren der Territorien – so erwies sich der Reichshofrat als eine Bremse des landesfürstlichen Absolutismus, aber auch als ein Einfallstor des kaiserlichen Einflusses.“ 102
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Element der Integration hielt und daher deren Ausbau vorantrieb. Die Reichsjustiz dagegen – theoretisch für das gesamte Reich, faktisch nur für einige Teile und Gruppen verfügbar – vermochte diesen staatlichen Integrationsprozess zu durchkreuzen und zu hemmen.106 Freilich waren die höchsten Reichsgerichte gleichzeitig auch Vorreiter in Bezug auf die Normgebung, das Verfahren und die Ausbildung des juristischen Personals. Auch war die Aufsichtsfunktion der Reichsgerichte für die Etablierung eines funktionierenden Justizsystems auf der Ebene der Territorien sicherlich nicht ausschließlich oder auch nur in erster Linie nachteilig.107 So lässt sich auch in diesem Zusammenhang und für das 18. Jahrhundert das Bild der „Janusköpfigkeit der [Reichs-]Justiz hinsichtlich des Staatsbildungsprozess“ bemühen.108 Das Ziel der Integration der durch den Westfälischen Frieden neu hinzugewonnen Territorien bzw. der Homogenisierung des brandenburg-preußischen Länder konglomerats verfolgten die hohenzollernschen Landesherren zum einen, indem sie sich um die Schaffung eines einheitlichen Justizraumes bemühten – wie in anderen Territorialfürstentümern auch. Daneben stand die Organisation eines zentralen finanzpolitischen und bürokratischen Zugriffs im Zentrum ihrer Politik.109 Die meisten der sowohl unter Friedrich I. als auch unter Friedrich Wilhelm I. eingeführten Maßnahmen, gegen die sich die untersuchten Suppliken und Klageschriften wandten, weisen diese „klassischen“ Aspekte territorialer Integrationspolitik auf.110 Das gilt selbst für die von Friedrich I. in den Auseinandersetzungen um die Rechte der Reformierten in der Kurpfalz, Kempten und Köln angewandten Repressionen, die zumindest auch als traditionelle Instrumente landesherrlicher Politik gegen ständische Vorrechte verstanden werden müssen. Aus der Perspektive der brandenburg-preußischen Landesherrschaft kam im Falle katholischer Korporationen aber 106
So beispielsweise die Bewertung von Smend, Brandenburg-Preußen, S. 196, der das Reichskammergericht in seiner Funktion als Forum für Landesherrn und Untertanen als „ein – wesentlich negatives – Moment der innerstaatlichen Entwicklung“ beschreibt. 107 Umgekehrt müssen die Appellationsprivilegien nicht primär oder gar ausschließlich als Aushöhlung der kaiserlichen Jurisdiktion verstanden werden. Entgegen einer einseitigen Interpretation von Appellationsprivilegien als „Durchbrechungen der […] Gerichtshoheit des Kaisers“ betont Sydow, Verhältnis, die Komplementarität von Reichs- und Territorialjustiz. 108 Wieland, Verstaatlichung, S. 198. 109 Zum Überblick vgl. Neugebauer, Stände. Besser erforscht als das Verhältnis Magdeburgs, Halberstadts und Mindens zur Landesherrschaft sind die regionalen Strukturen von Kleve und Mark. Vgl. dazu Kaiser, Nähe; Carl, Das 18. Jahrhundert. 110 Mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. intensivierten sich die Zentralisierungstendenzen in den Provinzen besonders durch die Einführung der Akzise (1713), der Kriegsund Domänenkammern und des Kantonssystems (1733/35). Zu diesen Entwicklungen am Beispiel der westlichen Provinzen vgl. Stievermann, Absolutistischer Zentralismus. Opgenoorth, Die rheinischen Gebiete, S. 37, spricht für die Zeit ab 1713 von einer „administrativen Phase des preußischen Absolutismus“, die er von der vorhergehenden „politischen Phase“ unterscheidet. Die Kontinuitätslinien der Zentralisierungsbemühungen unter Friedrich III./I. und Friedrich Wilhelm I. insbesondere in der Steuerpolitik hebt dagegen Peters, Der preußische Fiskus, hervor.
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als ein wichtiges Element die öffentlichkeitswirksame „Verwertbarkeit“ derartiger Maßnahmen hinzu – gleichsam als Reaktion einer der wichtigsten evangelischen Mächte im Reich auf die als unrechtmäßig begriffene Behandlung evangelischer Untertanen durch katholische Landesherren, mit anderen Worten: als Mittel zur Schärfung des eigenen (konfessions-)politischen Profils. Wurde von den Betroffenen dann noch vor dem Reichshofrat geklagt, so konnte man die kaiserliche Unterstützung der eigenen – katholischen – Untertanen als Beweis für die konfessionelle Parteilichkeit der Wiener Reichsbehörden diskreditieren. 2. Der brandenburg-preußische Summepiskopat und die Kirchenpolitik gegenüber den katholischen Untertanen Alle geschilderten Maßnahmen, auf die sich die Klagen und Beschwerden des katholischen Klerus in Magdeburg, Minden und besonders in Halberstadt be zogen, standen also einerseits im größeren Zusammenhang der allgemeinen Integrationsbemühungen der Hohenzollern, mithin also einer tendenziell anti-ständischen Politik;111 andererseits standen sie sachlich auch im spezifischen Kontext der brandenburg-preußischen Kirchenpolitik gegenüber der katholischen Kirche – als Korporation sui generis – in den seit dem Westfälischen Frieden hinzugekommenen Territorien. Daher müssen sie auch vor diesem letzteren Hintergrund interpretiert werden.112 Bereits unter der Regierung des Großen Kurfürsten hatte Berlin sich verschiedentlich bemüht, die strukturelle Autonomie des Katholizismus in den im Zuge des Westfälischen Friedens neu hinzugewonnenen Territorien zu beschneiden und damit die katholische Kirche als solche – nicht nur in Gestalt ständisch privilegierter Institutionen – in staatliche Strukturen zu integrieren. Zum Beispiel versuchte man, die (finanz-)politische Kontrolle über die Klöster dadurch zu verstärken, dass man sie zwang, ihren Rechts- und Besitzstatus für das Normaljahr 1624 nachzuweisen, sich regelmäßigen landesherrlichen Visitationen zu unterwerfen oder die geistlichen Wahlen unter Anwesenheit königlicher Kommissare abzuhalten.113 Diese 111 Dieser Zusammenhang wird auch an der Konfessionspolitik in Kleve deutlich, wo der mit Abstand wichtigste Konfliktpunkt im Verhältnis zwischen Landesherrschaft und katholischen Ständen im 18. Jahrhundert die Frage der Besteuerung betraf; vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 146–173. 112 Anders die Interpretation von Kühne, Preussen, S. 215, der die von Friedrich I. im Kontext der Verhandlungen mit Johann Wilhelm von der Pfalz verhängten Repressionen als rein „politische Maßnahmen“ beurteilt, die, „wo es sich um das Kirchenregiment handelt, ausser acht bleiben können, obwohl die Klöster stets versuchten, jene Maßnahmen auf das kirchliche Gebiet hinüberzuziehen, um unter Berufung auf den Homagialrezess und den Westfälischen Frieden dagegen zu protestieren“. 113 So wollte etwa der Große Kurfürst die Halberstädter Klöster zur Rechnungslegung verpflichten (s. Lehmann, Preussen 1, Nr. 195, S. 300–301), und sie dazu zwingen, ihren Besitzstand für das Jahr 1624 nachzuweisen (s. ebd., etwa Nr. 207, S. 206; Nr. 208, S. 306; Nr. 211–213,
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Maßnahmen standen in engem Zusammenhang zu den immer wieder formulierten Ansprüchen der Kurfürsten-Könige auf die Landeshoheit im Geistlichen. Und auch auf diesem Gebiet der katholischen Kirchenpolitik im engeren Sinne führte Friedrich Wilhelm I., wie im Folgenden zu zeigen sein wird, die Politik seines Vaters und Großvaters konsequent fort: Auch Friedrich Wilhelm I. verstand sich, wie bereits der Große Kurfürst, explizit als oberster Bischof in allen seinen Landen.114 Diejenigen Auseinandersetzungen zwischen Landesherrn und katholischen Landständen in Halberstadt, die stärker in das Gebiet der Kirchenpolitik ragen und im Folgenden untersucht werden sollen, hatten ihren Ursprung im Selbstverständnis der Brandenburger Kurfürsten-Könige als oberste Bischöfe in ihren Landen. Seit der Regierungsübernahme in Magdeburg, Minden und Halberstadt wurde dieses Verhältnis immer wieder implizit und explizit thematisiert und entwickelte auch mit Blick auf den Kaiser bzw. dessen oberstrichterlichen Ansprüchen Konfliktpotential. Zunächst und in erster Linie war die Frage des Verhältnisses zwischen evangelischem Landesherrn und katholischen Untertanen jedoch eine Auseinandersetzung, die sich zwischen Berlin und Rom abspielte. Die Vorstellung vom Landesherrn als Summus episcopus der Untertanen aller drei Konfessionen wurzelt tatsächlich in den Bestimmungen des Westfälischen Friedens, durch welche die brandenburgischen Kurfürsten die Territorien der ehemaligen (Erz-)Bistümer Minden, Halberstadt und Magdeburg „cum omnibus juribus secularibus et ecclesiasticis“ erwarben.115 Dadurch betrachteten sich die Brandenburger Kurfürsten nicht nur als Nachfolger der Fürstbischöfe hinsichtlich ihrer Hochstifte, sondern auch als geistliche Herren im Diözesansprengel und schrieben sich explizit bischöfliche Rechte über evangelische und katholische Untertanen zu.116 Der Begriff des Summepiskopats entstand erst infolge dieser Entwicklung und implizierte zunächst die Abwehr bischöflicher und päpstlicher Einflussnahme auf diese Gebiete. Nur gegenüber den katholischen Untertanen musste der Landesherr
S. 307–308; Nr. 224, S. 312–313; Nr. 227, S. 313–314; Nr. 507, S. 612). Für die Visitationspläne unter dem Großen Kurfürsten s. ebd., Nr. 179, S. 287–288, Nr. 183, S 291–292. 114 Ebd., Nr. 754, S. 783 (Erlass an die magdeburgische Regierung, Berlin, 4.5.1714): Die Regierung plante, Kommissare abzuordnen, die die Visitationen durchführen sollten, „auch Unsere dabei versirende hohe Jura und Gerechtsame pflichtmässig beobachten könnten“; s. a. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 181, S. 242–243 (Vosse [Voss] an Sinzendorf, Berlin, 9.12.1713): Der zu diesem Zeitpunkt noch stellvertretende kaiserliche Resident Voss berichtete an den kaiserlichen Hofkanzler Sinzendorf vom Umgang der Berliner Regierung mit den Ansprüchen des Apostolischen Vikars des Nordens (des Bischofs von Spiga), dem der König niemals ein „ius diocesanum und visitationis“ zugestehen würde, „als welcher selbst obrister Bischof in seinem Lande zu sein prätendiret …“. Zur Planung der Visitationen: Hiltebrandt, Preussen, Nr. 186, S. 251 (Archinto an Paolucci, Köln 26.8.1714). 115 Zeumer, Quellensammlung, IPO Art. XI § 1, S. 420. Vgl. auch zum Folgenden: Heckel, Entstehung. 116 Vgl. Lehmann, Preussen 1, S. 92–97, mit entsprechenden Zitaten aus den Mindener und Halberstädter Homagialrezessen.
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ja überhaupt gegen den Papst bzw. dessen Ansprüche als Summus episcopus seinerseits die oberst-bischöfliche Gewalt beanspruchen. Der Begriff wurde ausgehend von den 1648 an Brandenburg gefallenen ehemaligen geistlichen Territorien zunächst auf das Verhältnis zwischen Landesherrn und katholischen Landeskindern in anderen Gebieten des brandenburg-preußischen Herrschaftsbereiches übertragen117 und bürgerte sich dann auch als Bezeichnung für die Stellung des Landesherrn gegenüber seinen protestantischen Untertanen ein.118 Eine Ausnahme bildete das ebenfalls mehrheitlich katholisch geprägte Oberquartier Geldern, das BrandenburgPreußen im Frieden von Utrecht zugesprochen worden war. Hier hatte sich der preußische König explizit darauf verpflichten müssen, die katholische Konfession in dem bisherigen Stand zu erhalten und vor allem die Diözesangewalt des Bischofs von Roermonde anzuerkennen. Aus dieser Konstellation entwickelten sich nichtsdestoweniger besonders in der frühen Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. zahlreiche Konflikte zwischen der so genannten Geldernschen „Interims-Kommission“ und dem Bischof bzw. dem Kaiser, die sich beide immer wieder für die Rechte der Katholiken in Geldern einsetzten.119 Das im späteren 17. Jahrhundert entstandene theoretische System des Territorialismus, als dessen maßgebliche Vertreter Christian Thomasius und Justus Henning Boehmer gelten, hatte freilich keine Verwendung für die gedankliche Konstruktion eines obersten Bischofsamtes. Was die Frage der Zuständigkeit einer evangelischen Landesherrschaft für katholische Untertanen betraf, kam der Territorialismus dennoch zu einem ähnlichen Ergebnis, da er grundsätzlich nicht mehr zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft unterschied, die der weltlichen Herrschaft zugesprochenen Jura circa sacra des Herrschers aber sehr weit fasste und der Landesherrschaft so eine relativ umfassende Autorität über alle Religionsgemeinschaften in ihrem Territorium zusprach.120 In der politischen Praxis scheint aber häufiger auf das Gedankengebäude des Episkopalismus zurückgegriffen worden zu sein – sowohl zur Begründung landesherrlicher Befugnisse über katholische Unter-
117
Vgl. etwa Lehmann, Preussen 1, Nr. 261, S. 331 (Erlass an die preussische Regierung, Potsdam, 1./11.12.1687). Für die Zurückweisung der Jurisdiktionsansprüche der Kölner Erzbischöfe bezog man sich zunächst auf die Tradition der klevischen Herzöge; vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 232–242. 118 Dagegen findet sich in der Literatur immer noch häufig die Bezeichnung „Summepiskopat“ für das im Zuge der Reformation entstandene landesherrliche Kirchenregiment evangelischer Landesherren über ihre Untertanen, sprich: den landesherrlichen Episkopat; vgl. in diesem Sinne etwa: Dartmann / Flüchter / Österle, Eliten, hier S. 96; Schmidt, Geschichte, S. 74; Obermann, Stadtreformation, S. 88; Berndorff, Prediger, S. 104. Das Verständnis und der Begriff des Summus episcopus entstanden in Brandenburg-Preußen allerdings nicht bereits mit der Erbschaft von Kleve, Mark und Ravensberg. Wenngleich die brandenburgischen Kurfürsten die geistliche Jurisdiktion katholischer Bischöfe in ihren Landen verboten, beanspruchten sie für sich selbst zunächst noch kein förmliches Jus episcopale. Das änderte sich erst im Zuge des Erwerbs Magdeburgs, Mindens und Halberstadts; vgl. Heckel, Entstehung, S. 330–382. 119 Vgl. dazu Kap. E. I. 120 Hafke, Zuständigkeit, S. 80–82.
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tanen als auch besonders für die Zurückweisung der Zuständigkeit des Reichshofrats und des Reichskammergericht in Fällen, die das Kirchenregiment evangelischer Herrscher betrafen. Dass der summepiskopale Anspruch in den fraglichen Gebieten sich auch in der tatsächlichen Kirchenpolitik der Hohenzollern gegenüber den Katholiken niederschlug, zeigt sich besonders eindrücklich an den seit 1648 immer wiederkehrenden Versuchen, das Amt eines dem Landesherrn verpflichteten „Ersatzbischofs“ einzurichten bzw. eine geeignete Person für dieses Amt zu finden.121 Die Problematik der geistlichen Jurisdiktion stellte sich in Minden weniger deutlich als in Magdeburg und Halberstadt, da in Minden traditionell das Domkapitel zu großen Teilen die bischöflichen Aufgaben übernahm.122 In Halberstadt war dagegen bereits bei den Verhandlungen mit den Ständen um den Homagialrezess von 1650 beschlossen worden, die Ausübung der geistlichen Rechte über die Katholiken einem dem Kurfürsten verpflichteten Glaubensgenossen zu übergeben.123 Zum ersten derartigen „Ersatzbischof“ für das säkularisierte Fürstbistum Halberstadt wurde der Domherr Johann Friedrich v. Deutsch ernannt, der allerdings schon 1642 vom letzten Halberstädter Bischof zum Vicarius generalis in spiritualibus ernannt worden war. Nach dem Westfälischen Frieden wurde er nun von seinem neuen Landesherrn in dieser Stellung bestätigt, suchte aber seinerseits um eine neuerliche Ernennung beim Erzbischof von Mainz nach, zu dessen Kirchenprovinz Halberstadt gehörte. Sowohl kirchenrechtlich als auch inhaltlich scheinen die Aufgaben dieses ersten so genannten Vicarius in spiritualibus recht unbestimmt gewesen zu sein, sind doch von ihm praktisch keinerlei Amtshandlungen überliefert. Über die Rechtmäßigkeit seines Amtes herrschte aber innerhalb der römisch-katholischen Kirche Uneinigkeit zwischen Rom, dem Erzbistum Mainz und dem Kölner Nuntius.124 Während die kleve-märkischen Gebiete zur Erzdiözese Köln gehörten, unterstanden die Katholiken in den im Zuge des Westfälischen Friedens an Brandenburg-Preußen gefallenen Gebieten kirchenrechtlich dem Apostolischen Vikariat des Nordens (bzw. ab 1709 dem Apostolischen Vikariat für Ober- und Niedersachsen). Das „Apostolische Vikariat des Nordens“ oder „Vikariat der Nordischen Missionen“ bestand seit 1667 und sollte als Ersatz für die im Zuge der Reformation verloren gegangenen Bischofsitze den verbliebenen Katholiken in der evangelischen Diaspora Leitung und Schutz bieten sowie die Missionstätigkeiten leiten und koordinieren. Nach und nach wurden dem Vikariat der größte Teil Norddeutschlands sowie die skandinavischen Königreiche eingegliedert. Im Jahr 1709 wurde für die Länder des brandenburgischen Kurfürsten sowie jene der Herzöge von Braunschweig 121
Vgl. auch zum Folgenden Kühne, Preussen. Vgl. ebd., S. 197. Zu den gemischtkonfessionellen Domkapiteln in Minden und Halberstadt vgl. Oer, Dom- und Stiftskapitel. 123 Lehmann, Preussen 1, Nr. 177, S. 285–286 (Protokoll der Verhandlungen zwischen dem kurfürstlichen Kanzler Fromhold und dem Deputierten des Kapitels und der Stände von Halberstadt, Kanzler Jordan, über die Aufrichtung eines Homagial-Rezesses, Gröningen, 21.3.1650). 124 Vgl. Kühne, Preussen, S. 201–206. 122
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ein selbstständiges Vikariat geschaffen, das erst 1780 mit dem Apostolischen Vikariat des Nordens vereinigt wurde.125 Seit Einrichtung des Vikariats versuchte die Kurie über den Apostolischen Vikar bzw. den Kölner Nuntius mehrfach, in Halberstadt Visitationen und andere Amtshandlungen durchführen zu lassen, was jedoch sowohl durch das von Berlin ausgesprochene Einreiseverbot gegenüber dem Apostolischen Vikar des Nordens als auch durch die ablehnende Haltung der ansässigen Orden immer wieder verhindert wurde.126 Denn eine besondere Problematik stellten von Beginn an die zahlreichen Klöster in Halberstadt dar, die sich primär ihren Ordensoberen verpflichtet fühlten und sich der Kontrolle einer – wie auch immer gestalteten – quasi-bischöflichen Gewalt zu entziehen suchten.127 Gleichzeitig entsprachen die Zustände in den Klöstern offenbar keineswegs dem tridentinischen Reformkatholizismus, so dass Visitationen aus Sicht der Kölner Nuntiatur bzw. des Apostolischen Vikariats des Nordens dringend geboten schienen.128 Das Visitationsrecht beanspruchte aber explizit bereits der Große Kurfürst für sich,129 als er 1677 als Nachfolger des Domherrn von Deutsch den Abt des Halberstädter Klosters Ammensleben, Placidus Meinders, berief und diesem auftrug, „die kurfürstlichen hohen Jura in Ecclesiasticis et Spiritualibus bei denen, welche der römischen katholischen Religion zugetan, zu respiciren und zu beobachten“ und „an Unserer Statt alles dasjeniges, was Uns als Episcopo et Ordniario in Geistlichen und Kloster-Sachen zu handeln, zu ordnen […] zukommt, zu tun und zu verrichten …“.130 Doch blieb auch die neue Bestellung eines so genannten Vicarius in Spiritalibus offenbar ohne Wirkung, so dass nach dem Tode Meinders zunächst kein neuer Kandidat für dieses Amt gesucht wurde. Erst 1709 bot Friedrich I. dem Beichtvater des sächsischen Kurfürsten und polnischen Königs, dem Jesuitenpater Carlo Vota, der für die Kron 125 Zur Geschichte der Apostolischen Vikariate des Nordens vgl. nach wie vor: Metzler, Die Apostolischen Vikariate. 126 Vgl. Kühne, Preussen, S. 203–205. 127 Zur Praxis der Visitationen von exemten Klöstern in Kleve-Mark im 18. Jahrhundert vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 313–319. Auch in Kleve-Mark war die Landesherrschaft offenbar primär darum bemüht, dem Erzbistum keinerlei Kontrolle einzuräumen; den exemten Orden gestattete man wesentlich mehr Freiraum. Die niedrigen Zahlen der bei der Klever Regierung beantragten Visitationen könnten darauf hindeuten, dass die exemten Klöster möglicherweise auch in Kleve diesen Freiraum dazu nutzten, sich Visitationen überhaupt weitgehend zu entziehen; vgl. ebd., bes. S. 314–315. 128 s. etwa Lehmann, Preussen 1, Nr. 189, S. 294–296 (Beilage: Bericht des Domherrn Deutsch an den Nuntius apostolicus [= den Kölner Nuntius], o. D.); Hiltebrandt, Preussen, Nr. 41, S. 52–53 (Pallavicini [Nuntius in Köln 1672–1680] an Altieri [Kardinalstaatssekretär 1670– 1676], 13.10.1675); Nr. 45, S. 56–58 (Pallavicini an Cybo [Kardinalstaatssekretär 1676–1689], Köln, 9.7.1679). 129 In Kleve-Mark wurde dagegen offenbar der erste Versuch, eine rein landesherrliche Visitation durchzuführen, erst unter Friedrich I. gemacht; vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 310 (in diesem Kontext spricht Weber allerdings fälschlicherweise von Friedrich Wilhelm I.; vgl. ebd.). 130 Lehmann, Preussen 1, Nr. 198, S. 302–303 („Bestallung vor den v. Meinders“, Vicarius in Spiritualisbus über die Katholiken im Fürstentum Halberstadt, Hamm, 14./24.3.1677), Zitat S. 302; s. a. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 43, S. 54–55 (Antwort des Kurfürsten von Brandenburg an die Visitatoren des Cisterzienser-Ordens, Lehnin, 13.4.1678).
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verhandlungen eine wichtige Rolle gespielt hatte, an, als Vikar die Zuständigkeit für die Katholiken in Brandenburg-Preußen zu übernehmen. Die Verhandlungen zerschlugen sich jedoch bald, weil Vota von Anfang an die Einwilligung des Papstes zur Bedingung erhob.131 Im selben Jahr wandte sich wiederum der eben erst zum Apostolischen Vikar von Ober- und Niedersachsen berufene und fortan in Hannover residierende Bischof von Spiga, Agostino Steffani,132 an die Berliner Regierung, um von dieser Zutritt in die brandenburg-preußischen Länder zu erhalten sowie die Erlaubnis, dort sein Amt auszuüben – nicht ohne sich selbst bei dieser Gelegenheit explizit als Vicarius in Spiritualibus für die brandenburg-preußischen Länder ins Gespräch zu bringen.133 Zunächst trafen diese Versuche Steffanis in Berlin auf Ablehnung. Erst die Bemühungen des Pfälzer Kurfürsten Johann Wilhelm bzw. des kurpfälzischen Residenten in Kleve ebneten Steffani den Weg nach Berlin.134 Dank der Vermittlung seines ehemaligen Landesherrn bereiste Steffani im September und Oktober 1711 schließlich die brandenburg-preußischen Länder mit offizieller Erlaubnis Friedrichs I.; die Verhandlungen wegen einer möglichen Bestallung Steffanis als brandenburg-preußischer Vicarius in Spiritualibus zogen sich allerdings weiter hin.135 Dabei genoss Steffani durchgängig die nachdrückliche Unterstützung Johann Wilhelms, dem er wiederum in gleicher Ausführlichkeit wie der Kurie von dem Verlauf seiner Reise, seinen Erfolgen und Sorgen berichtete.136 Bereits im Vorfeld seiner Reise hatte sich Steffani intensiv mit dem Pfälzer Kurfürsten über den geeigneten Zeitpunkt einer persönlichen Vorstellung in Berlin beraten sowie über die Möglichkeiten, den König und die Königin „für die katholische Kirche zu gewinnen“137, sprich: sie von einer Konversion zu überzeugen. Diese Überlegungen geben wohl weniger Auskunft darüber, wie Steffani und Johann Wilhelm die Haltung der brandenburgischen Hohenzollern gegenüber der katholischen Religion persönlich einschätzten, als vielmehr, welche Haltung von Rom für den Verkehr mit einem häretischen Fürsten wie dem preußischen König erwartet wurde. Jegliche Pläne, mit einem evangelischen Landesherrn zu interagieren, ja in Verhandlun 131
Vgl. Kühne, Preussen, S. 215–217. Nach der Teilung des Nordischen Vikariats wurde das neu geschaffene Vikariat, das die Länder des Kurfürsten von der Pfalz, des Brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Königs sowie der Herzöge von Braunschweig umfasste, offiziell als „Apostolischer Vikariat des Nordens und von Ober- und Niedersachsen“ bezeichnet. In der Regel wurde Steffani lediglich als (Apostolischer) Vikar des Nordens bezeichnet und nannte sich auch selbst so; vgl. Metzler, Geschichte, S. 85. 133 Lehmann, Preussen 1, Nr. 489, S. 601–602 (Der Bischof von Spiga an Ilgen, Berlin, 14.10.1711). 134 Vgl. Woker, Steffani, S. 67–71; Wittichen, Geschichte, S. 359–362. 135 Auch zum Folgenden vgl. Kühne, Preussen, S. 217–225; Woker, Steffani, S. 82–94. 136 Vgl. Woker, Steffani, S. 71–94 u. passim. 137 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 145, S. 168–169 (Johann Wilhelm von der Pfalz an Steffani, Düsseldorf, 29.1.1711). So sollte Steffani nach Rom berichten, „quanto al primo havere ella […] le notitie dell’ottima disposizione di quel principe per abbracciare la nostra santa fede catto lica …“; ebd., Nr. 148, S. 172–174 (Fede an Steffani, Rom, 14.3.1711), Zitat S. 173. 132
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gen zu treten – und noch dazu über die Ausübung geistlicher Rechte! –, musste die Möglichkeit der Konversion des Herrschers bzw. einer Reunion der Konfessionen (was im katholischen Sprachgebrauch eine Rückführung des ganzen Landes zum Katholizismus implizierte) als Motiv beinhalten – unabhängig davon, als wie aussichtsreich derartige Pläne gelten konnten.138 Wenngleich in den Berichten des für Steffani verhandelnden kurpfälzischen Gesandten Beumer sowie in Steffanis eigenen Briefen die Beurteilung der Minister des Königs und ihrer jeweiligen Stellung zum Katholizismus viel Platz einnehmen, so war es doch offenbar zunächst die Person des Königs selbst, die für den Erfolg oder Misserfolg von Steffanis Bemühungen als entscheidend galt. Ausführlich berichtete Steffani von seiner persönlichen Begegnung mit dem König, zu dessen freundlichem Empfang die Unterredungen mit den Ministern Ilgen und Printzen in deutlichem Gegensatz geschildert werden. Letzterer habe Steffani zu verstehen gegeben, dass man zwar geneigt sei, seine Handlungen „quae sunt ordinis“ „zu übersehen“, keinesfalls aber werde man dulden, dass er sich in Angelegenheiten, „quae sunt disciplinae“ einmische.139 Die restriktive Auffassung der Regierung war bereits unmittelbar nach Steffanis Ankunft in Berlin deutlich geworden, als zahlreiche Katholiken ihn um die Firmung gebeten hatten – ein Sakrament, das nur von einem Bischof gespendet werden kann. Obwohl die Spendung der Firmung seinem bischöflichen Rang und seiner Stellung als Apostolischem Vikar entsprochen hätte, bestanden bei Steffani offenbar starke Bedenken, diesen Akt durchzuführen. Seine zögernde Haltung begründete er gegenüber der Kurie damit, dass er bereits im Vorhinein gewusst habe, dass der König eine solche Handlung als Präjudiz auffassen würde.140 Tatsächlich trat Steffani daraufhin über die Frage der Firmungen mit dem Berliner Hof in schriftliche wie mündliche Verhandlungen, die seine Einschätzung jedoch nur bestätigten. Die Geheimen Räte verweigerten ihm die Handlung mit dem Verweis darauf, dass es sich bei der Firmung um einen episkopalen Akt handele. Das sei ein Präjudiz gegenüber dem König, der Bischof und Papst in seinem Land sei.141 Der Westfälische Friede habe endgültig die Diözesangerichtsbarkeit der Bischöfe aufgehoben, und diese könne fortan nur durch den Souverän ausgeübt werden.142 138
Ausführlich zu diesem Thema: Gamberoni, Verkehr. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 156, S. 182–194 (Relation Steffanis über seine Berliner Reise, Hannover, 27.11.1711): „Printz […] disse finalmente, che il […] re, […] era risoluto di dissimu lare, che io facessi nel suo paese le cose, quae sunt ordinis, ma che non poteva soffrire, che chi si sia si mescoli di quelle, quae sunt disciplinae …“ (Zitat S. 188). 140 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 156, S. 182–194, (Relation Steffanis über seine Berliner Reise, Hannover, 27.11.1711). 141 Ebd., S. 185: „La risposta fu, ch’essendo l’atto, di cui si parlava, un atto episcopale, non poteva esser riguardato che come pregiudiziale al re, ch’è vescovo e papa nel suo paese …“. 142 „… poichè la giurisditione diocesana, essendo dal trattato di Wesfalia sospesa in quelle parti, non poteva esser’ essercitata che dal sovrano dal paese …“; Hiltebrandt, Preussen, Nr. 156, S. 182–194, (Relation Steffanis über seine Berliner Reise, Hannover, 27.11.1711), Zitat S. 186. In Halberstadt scheint Steffani dann allerdings doch das Sakrament der Firmung gespendet zu haben, ohne darin von der Regierung behindert worden zu sein; vgl. Woker, Steffani, S. 81; Kühne, Preussen, S. 222. 139
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Angesichts dieser Aussagen kann es nicht verwundern, dass man sich in Berlin die Bestellung eines potentiellen Vicarius in Spiritualibus nur so vorstellen konnte, dass dieser seine Bevollmächtigung ausschließlich durch den König erhielte, dem Papst aber keinerlei Mitsprache eingeräumt würde. Diese Schwierigkeit war Steffani offensichtlich spätestens nach dem Ende seiner Reise bewusst; dennoch warb er seinerseits nachdrücklich auch bei der Kurie für die Einrichtung eines Vikariats für die brandenburg-preußischen Länder – und für sich selbst als geeigneten Kandidaten. Dabei verwies Steffani nicht nur auf die unhaltbaren Zustände, in denen sich die katholische Konfession in Brandenburg-Preußen insgesamt befände (und besonders die Halberstädter Klöster), sondern auch auf die Bedeutung der katholischen Minderheit für die Konfessionspolitik Brandenburg-Preußens im Reich: Obwohl die Berliner Regierung überall Verstöße gegen die Rechte evangelischer Untertanen durch katholische Obrigkeiten anprangere, plane sie doch selbst nichts anderes und wolle sich am Besitz der katholischen Klöster bereichern. Damit sie sich mit derartigen Maßnahmen dennoch nicht angreifbar mache, benötige die Regierung aber eben einen katholischen Vikar, gewissermaßen als Deckmantel, damit das Vorgehen gegen die Katholiken nicht als einseitige evangelische „Gewalttat“ dargestellt werden könne. Das doppelte Ziel der römisch-katholischen Kirche müsse daher darin bestehen, so Steffani, zum einen die Klöster vor dem Zugriff der weltlichen Obrigkeit zu schützen und andererseits, sie der geistlichen Kontrolle durch die kirchliche Jurisdiktion zu unterwerfen. Das einzige „Heilmittel“ („un solo unico rimedio“) für dieses Dilemma bestehe darin, dass er, Steffani, selbst als Vikar in Brandenburg-Preußen tätig werde. Dazu aber müsse er sich zunächst das Vertrauen des Königs erwerben, und dafür sei es wiederum notwendig, sich zumindest äußerlich auf dessen Vorstellungen eines Vikariats einzulassen und also eine Unabhängigkeit von Rom zu fingieren. Nur auf diese Weise könne auf Dauer überhaupt ein kirchlicher Zugriff auf die Katholiken in Brandenburg-Preußen sichergestellt werden; und nur so könne ein geschickter Vikar, der gleichermaßen das Vertrauen des Königs und der Kurie besitze, dafür Sorge tragen, dass der Katholizismus in Brandenburg-Preußen erhalten bleibe und in seinen Rechten geschützt werde.143 Wenngleich die Verhandlungen mit Steffani um dessen Bestellung als Vicarius in Spiritualibus so weit gingen, dass dieser Anfang 1712 den Entwurf eines Ernennungsbreve nach Berlin senden konnte,144 verzögerte sich die Entscheidung seitens der Kurie, obwohl sich Johann Wilhelm nach wie vor für die Sache engagierte und auch der Kölner Nuntius keine grundsätzlichen Einwände gegen Steffanis Anliegen vorbrachte.145 Noch nicht befriedigend geklärt schien der Propaganda-Kongregation aber im Mai 1712 insbesondere die Frage, welche Vollmachten Steffani vom König erhalten werde und in welchem Verhältnis diese zur päpstlichen Autorität stehen
143
Hiltebrandt, Preussen, Nr. 157, S. 194–201 (Denkschrift Steffanis über die katholische Kirche in Brandenburg, Magdeburg und Halberstadt, Hannover, 27.11.1711). 144 Vgl. Woker, Steffani, S. 85. 145 Vgl. ebd., S. 85–86.
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würden.146 Ausschlaggebend dafür, dass die Entscheidung über Steffanis Vikariat schließlich negativ ausfiel und der Bischof von Spiga strengstens von Rom abgemahnt wurde, scheinen allerdings die umfassenden Forderungen gewesen zu sein, die Steffani für die Ausstattung des Apostolischen Vikariats des Nordens erhoben hatte. Diese waren zum einen finanzieller Natur, zum anderen aber hatte Steffani sich von Rom unterschiedliche Fakultäten erbeten, unter anderem diejenige, gemischtkonfessionelle Ehen zu dispensieren, sowie die Jurisdiktion über sämtliche Orden.147 Hinzu kam, dass Steffani in dieser Zeit sein bisher gutes Ansehen in der Kurie rapide verlor, weil er in Hannover offenbar immense Schulden angehäuft hatte, die wiederum seine finanziellen Forderungen zur Ausstattung des Aposto lischen Vikariats in einem fragwürdigen Licht erscheinen ließen.148 So hatten sich die Pläne eines durch Steffani besetzten Vikariats spätestens Mitte 1712 zerschlagen, und bald schon zirkulierten neue Gerüchte, der preußische König wolle nun lieber einen seiner eigenen katholischen Untertanen mit dem Amt betrauen.149 Doch kam es während der Regierungszeit Friedrichs I. zu keinem neuerlichen Versuch dieser Art; erst unter Friedrich Wilhelm I. wurde über ein mögliches Vikariat gleich mehrfach verhandelt, es wurde jedoch auch dann niemals tatsächlich eingerichtet bzw. besetzt. Ob von Berlin oder Rom aus überhaupt jemals ernsthafte Absichten bestanden hatten, Steffani als Vicarius in Spiritualibus für Brandenburg-Preußen unter den gegebenen Umständen zu akzeptieren, ist angesichts der Quellenlage schwer zu beurteilen. Hinsichtlich der brandenburg-preußischen Seite scheint allerdings einiges dafür zu sprechen, dass man von Anfang an die Verhandlungen mit Steffani, seine Anwesenheit in Brandenburg-Preußen sowie seine äußerst vorsichtig formulierten Ansprüche, der zuständige Bischof für die katholischen Untertanen zu sein, in erster Linie dazu nutzte, die eigene Rechtsauffassung gegenüber Rom deutlich zu manifestieren. Nicht zufällig erschien wohl ausgerechnet während Steffanis An wesenheit in Berlin eine Denkschrift des Justizrates Ludwig Otto v. Plotho,150 die sich mit der Frage nach der geistlichen Gerichtsbarkeit protestantischer Reichs-
146
Hiltebrandt, Preussen, Nr. 160, S. 203–205 (Die Propaganda an Steffani, Rom, 15.2.1712); Nr. 163, S. 210–211 (Die Propaganda an Steffani, Rom, 2.5.1712). 147 Ebd., Nr. 166, S. 216–222 (Fabroni [Sekretär der Propaganda] an Bussi, Rom 19.8.1712); vgl. dazu ausführlich Metzler, Die Apostolischen Vikariate, S. 94–96. 148 Vgl. Feldkamp, Nachlass, S. 241–243 (Feldkamp erwähnt Steffanis Bemühungen um das Amt des Vicarius in spiritualibus für Brandenburg-Preußen allerdings nicht); s. a. Kühne, Preussen, S. 228. 149 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 167, S. 222–223 (Jodocus, Abt von Huysburg an Steffani, 2.9.1712). 150 Ludwig Otto von Plotho war bereits unter Friedrich III./I. in brandenburg-preußischen Diensten für die Landes- und Reichsjustiz tätig und war unter Friedrich Wilhelm I. maßgeblich für die angestrebte Reform des Justizwesens verantwortlich. Plotho stammte aus dem Magde burgischen und wurde 1698 Magdeburgischer Regierungsrat, 1699 Gesandter in Mainz und Trier und war 1703 bis 1708 als Subdelegierter bei der Reichskammergerichtsvisitation tätig. Nachdem er 1705 zum Geheimen Justizrat bzw. 1711 zum Geheimen Rat ernannt worden war, wurde er 1714 als Wirklicher Geheimer Rat zum Präsidenten des Oberappellationsgerichts Berlin
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stände über ihre katholischen Untertanen befasste. Über den spezifischen Fall Brandenburg-Preußens hinaus sprach sich Plotho darin explizit dafür aus, dass evangelische Landesherren für die katholischen Untertanen füglich eigene Vikariate einrichten sollten: „So wäre […] das Beste, wann ein jeder evangelischer Herr in seinen Landen jemanden […] zum Vicario in Spiritualibus bestellete […] und also behinderte, dass der Papst, auch andere Bischöfe und Prälaten die Jurisdiction nicht an sich ziehen könnten“.151 Im Sommer 1712 machte Friedrich I. zudem in einer Reihe von Erlassen gegenüber der katholischen Geistlichkeit sowohl in Halberstadt, Minden und Magdeburg als auch in Kleve-Mark seinen Anspruch auf die umfassende Landesherrschaft im Geistlichen deutlich: So sollte auf Anweisung der Berliner Regierung im Juli 1712 sämtlichen katholischen Klöstern ein Fragenkatalog vorgelegt werden. Darin sollten die Klöster angeben, wen sie als rechtmäßige Instanz für unterschiedliche Fragen des Kirchenrechtes wie Ordinationen, die Konfirmation geistlicher Wahlen oder die Überwachung der Kirchendisziplin ansahen.152 Eine ähnliche Stoßrichtung wurde offenbar mit zwei weiteren Erlassen verfolgt: Im Mai 1712 ordnete Friedrich I. an, dass ab sofort geistliche Wahlen in Kleve-Mark nur noch in Anwesenheit landesherrlicher Kommissare abgehalten werden dürften; nur einige Monate später wurden die Johannes- und Marienfeiertage in Kleve-Mark aufgehoben. Auf beide Veränderungen reagierten das Kölner Erzbistum und die Kurie erwartungsgemäß empört.153 Zwar wurde die Verordnung bereits einige Monate später praktisch wieder revidiert; mit dieser Revision reagierte Friedrich I. jedoch primär auf Interventionen des Pfälzer Kurfürsten und des Kaiserhofes. So zeigte sich Friedrich I. in der konkreten Frage der Feiertage gegenüber dem Kurfürsten von der Pfalz und dem Kaiser entgegenkommend; er nutzte aber nichtsdestoweniger die Gelegenheit dazu, das von ihm beanspruchten Jus episcopale nochmals zu unterstreichen, indem er betonte, dass derartige Entscheidungen in der „souverainen Macht“ des Landesherrn stünden154 – eine Aussage, mit der sich Rom freilich nicht zufrieden geben konnte.155
sowie des Geheimen Justizrats ernannt. Seit 1728 Lehensdirektor, erhielt er 1729 zudem die Verantwortung für die Reichs- und Justizsachen im Departement der Auswärtigen Affairen; vgl. Acta Borussica, Behördenorganisation 1, S. 91, Anm. 6. 151 Lehmann, Preussen 1, Nr. 488, S. 600 (Denkschrift des Geheimen Justizrats Ludwig Otto von Plotho, 11.10.1711). 152 Ebd., Nr. 490, S. 602–603 (Erlass an die magdeburgische, klevische, halberstädter, mindische Regierung und an den Landdrosten Busch im Ravensburgischen, Charlottenburg, 2.7.1712). 153 Vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 322–323, 290–294. 154 Vgl. ebd., S. 293. Zu den Folgen der Verordnungen und ihrer praktischen Aufhebung vgl. ebd., S. 323–325. 155 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 171, S. 290–291 (Paolucci an Piazza [Nuntius in Wien 1708– 1714], Rom, 4.2.171): Der Kardinalstaatssekretär klagte, dass der König trotz der Rücknahme des Feiertags-Edikts an der „iniusta pretensione della giurisdizione vescovale“ festhalte (Zitat S. 171). Zumindest von Steffani selbst wurde das Feiertags-Mandat von 1712 als direkte Antwort auf die Vikariatspläne bzw. die Nichtannahme der Berliner Bedingungen durch die Kurie interpretiert: s. Hiltebrandt, Preussen, Nr. 170, S. 229–230 (Steffani an Fede, Hannover, 9.12.1712).
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Dass die Verhandlungen mit Steffani von Brandenburg-Preußen wenn nicht primär, so doch zumindest auch zu Zwecken der Machtdemonstration gegenüber der römischen Kirche genutzt wurden, legt schließlich auch der zu diesem Zeitpunkt nach wie vor aktuelle Kölner Streitfall nahe. Dieser Konflikt wurde von der Berliner Regierung immer wieder als Beleg für die grundsätzlich feindliche Haltung Roms angeführt. Die Beilegung des Streits aber – und damit letztlich die Anerkennung der preußischen Königskrone durch den Papst – wurde zur Voraussetzung einer Einigung in der Vikariatsfrage erklärt.156 Wie bedeutsam die Frage nach der Anerkennung der Krone durch Rom auch zehn Jahre nach der Krönung noch war, hatte sich auch im Vorjahr beim Wahltag in Frankfurt gezeigt, als die Berliner Regierung unverhohlene Drohungen gegen den dort anwesenden Nuntius ausgesprochen hatte: Sollte der Nuntius es wagen, den Wahltag dafür zu nutzen, erneut gegen die preußische Krone zu protestieren, so sollten nicht nur die „Papisten“ in den brandenburg-preußischen Landen die Reaktion zu spüren bekommen, sondern auch Land und Untertanen des Papstes selbst, die für die nach wie vor in Italien stationierten Truppen Friedrichs I. leicht erreichbar seien.157 Alle diese Fragen: die Kölner Angelegenheit, die Anerkennung der Königskrone und die Suche nach einer Möglichkeit, die katholische Minderheit unter landesherrliche Kontrolle zu stellen bzw. die Auseinandersetzungen mit Rom über die Frage der geistlichen Jurisdiktion des Königs über seine katholischen Untertanen, wurden auch in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. thematisiert. Bereits im zweiten Jahr seiner Regierung nahm Friedrich Wilhelm I. die Frage der Visitation der Klöster wieder auf158 und verband damit die Verpflichtung der Klöster, ihren „Normaljahrsstatus“ zu erweisen.159 Der Geheime Rat verwies in diesem Kontext explizit auf die Erfahrungen aus der Regierungszeit Friedrichs I. (sowie des Großen Kurfürsten)160 und riet dem König, einen Vicarius in Spiritualibus zu bestellen, „damit nicht allein der Recursus in Spiritualibus ausser E. K. M. Landen verhindert werde, sondern auch die Visitationes der Klöster desto füglicher fortgesetzt werden könnten, maassen sonst, wann Evangelische darzu genommen werden sollten, die Klöster aufs neue zu queruliren Gelegenheit nehmen dürften …“.161 Tatsächlich zog sich die Problematik durch die gesamte Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. Zweimal meinte man, eine geeignete Person gefunden zu haben: 1725 fiel die Wahl der Regierung auf den Abt des nahe bei Halberstadt gelegenen Klosters Huisburg, Matthias Hempelmann; auch hier scheiterte das Vorhaben allerdings an
156
s. etwa Hiltebrandt, Preussen, Nr. 159, S. 201–202 (Printzen an Steffani, Berlin 1.2.1712). Lehmann, Nr. 485, S. 599 (Erlass an die Gesandtschaft beim Wahltag, Charlottenburg, 22.9.1711). 158 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 186, S. 251 (Archinto an Paolucci, Köln, 26.8.1714). 159 s. die zahlreichen Belege bei Lehmann, Preussen 1: Nr. 754, S. 783; Nr. 755, S. 783; Nr. 756, S. 784. 160 Ebd., Nr. 685, S. 729–730 (Immediatbericht des geistlichen Departements, Berlin, 4.2.1732). 161 Ebd., Nr. 756, S. 784 (Bericht des Geheimen Etats-Rats v. Potho und der Geheimen Räte v. Katsch und Fuchs, Berlin 22.1.1714). 157
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der Frage, inwieweit Hempelmann unter der Autorität Roms bzw. Berlins stünde.162 Einige Jahre später ersuchte man den Abt des Klosters Neuzelle, Martin Graff, das Vikariat für die brandenburg-preußischen Lande zu übernehmen. Das Kloster lag zwar im Herrschaftsbereich des Kurfürsten von Sachsen, verfügte aber über einige Besitzungen in der Neumark und war daher auch Lehensträger der Hohenzollern. Doch auch in diesem Fall gingen die Kurie und die Berliner Regierung offenbar von völlig unterschiedlichen Voraussetzungen aus, was wiederum den designierten Vicarius in Spiritualibus in eine so schwierige Situation brachte, dass die Sache schließlich nicht weiterverfolgt wurde.163 Ohne hier detaillierter auf diese Pläne unter der Regierung Friedrich Wilhelms I. einzugehen, lässt sich bereits an diesem kurzen Überblick veranschaulichen, dass auch in Hinblick auf die Kirchenpolitik gegenüber der katholischen Minderheit die Regierung Friedrich Wilhelms I. ganz fraglos in der Kontinuität Friedrichs I. stand. Besonders deutlich lässt sich diese Fortführung der Traditionen auf dem Gebiet der „Kirchenpolitik im engeren Sinne“ gegenüber den katholischen Klöstern in Halberstadt an einer weiteren Klage des Klosters Hamersleben verdeutlichen. Diese Klage wurde abermals am Reichshofrat verhandelt und hatte mit der landesherrlichen Überwachung geistlicher Wahlen eine Problematik zum Gegenstand, die sich bereits für die Regierungszeit des Großen Kurfürsten belegen lässt.164 In diesem wie in einem weiteren Prozess (die beide als „geistliche Streitsachen“ am Reichshofrat verhandelt wurden) stützte sich die brandenburg-preußische Argumentation nach wie vor auf die Episkopaltheorie, berief sich also auf die Suspension bzw. Übertragung der Diözesanrechte auf die evangelischen Landesherren und benutzte damit die typische Argumentation des Corpus Evangelicorum gegen die Zuständigkeit der höchsten Reichsgerichtsbarkeit in geistlichen Streitigkeiten unter Protestanten, wie sie bereits im Falle des Pfarrers Hellmund aus Wetzlar angewandt worden war. Allerdings handelte es sich im Gegensatz zum letztgenannten Fall eben nicht um evangelische Untertanen, die sich klagend an die Höchstgerichtsbarkeit wandten, sondern um katholische Korporationen, womit sich die auch hier verhandelte Grundsatzfrage nach der Potestats ecclesiastica externa evangelischer Landesherrn bzw. nach deren rechtmäßiger Überprüfung durch die Reichsgerichte in einer besonders brisanten Variante stellte.
162 s. die umfangreiche Sammlung von Quellen über das Vikariat Hempelmanns bei Lehmann, Preussen 1, Nr. 638–683, S. 696–728; sowie bei Hiltebrandt, Preussen, Nr. 235, S. 316– 317; Nr. 237–238, S. 319–321; Nr. 240–242, S. 322–328; Nr. 244, S. 329–331; Nr. 246–256, S. 331–350. 163 Vgl. Kühne, Preussen, S. 244–247. Für das geplante Vikariat des Abtes von Neuzelle s. a. Lehmann, Preussen 1, Nr. 684–711, S. 729–752. 164 s. etwa ebd., Nr. 226, S. 313 (Erlass an die magdeburgische Regierung, Potsdam, 21./ 31.1.1688); vgl. Kühne, Preussen, S. 209–210.
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3. Geistliche Streitsachen vor dem Reichshofrat a) Das Kloster Hamersleben contra den König in Preußen III In dieser dritten Klage des Klosters Hamersleben, die ab 1718 am Reichshofrat verhandelt wurde, beklagten sich die Konventualen beim Kaiser über eine landesherrliche Verordnung, laut der die Wahl eines neuen Abtes nur unter Beisein königlicher Kommissare und nur gegen Bezahlung einer bestimmten Summe Geldes erfolgen dürfe.165 Der landesherrliche Erlass, auf dem dieses Verfahren beruhte, datierte vom Oktober 1691 und war auch bereits seit Jahren zumindest immer wieder exekutiert worden.166 Friedrich Wilhelm I. führte diese Praxis offenbar fort, wie die Berichte der Klöster an den Kölner Nuntius belegen.167 Auch in dieser Angelegenheit erhielt der Wiener Nuntius von der Propaganda-Kongregation den Auftrag, sich beim Kaiser unter Berufung auf die den Klöstern im Westfälischen Frieden zuge sicherten Privilegien für die Halberstädter Katholiken zu verwenden.168 Das Kloster Hamersleben war dennoch das einzige, das den Schritt wagte und in Wien am Reichshofrat gegen seinen Landesherrn supplizierte, nachdem im Dezember 1717 der alte Hamersleber Abt gestorben war und daher eine Neuwahl anstand.169 Der Reichshofrat resolvierte auf die Supplik, dass ein kaiserliches Ermahnungsschreiben an den König abgehen solle, was auch umgehend geschah, dass aber mit einem weiteren Bescheid abgewartet werden solle, bis das Kloster „die angezogene Privilegia in extenso et forma probante beybringen wird …“.170 Nachdem das Kloster die entsprechenden Nachweise vorgebracht hatte, rechtfertigte Friedrich Wilhelm I. den Erlass gegenüber dem Kaiser. Er verwies dabei nicht zuletzt auf die Akzeptanz, welche das Wahlverfahren bei allen übrigen Klöstern in Halberstadt, Minden und Magdeburg gefunden habe. Primär aber versuchte der König, auch in diesem Fall die Unzuständigkeit des Reichshofrats zu erweisen, und berief sich dabei auf Art. 5 § 48 des IPO, der besage, „daß das suspendirte jus Di oecesanum in denen Schrancken eines jedes Landes Obrigkeit verbleiben solle“.171 165
Auch zum Folgenden: Kloster Hamersleben contra den König in Preußen als Fürsten von Halberstadt, HHStA, RHR, Den. rec. 110/2; Lehmann, Preussen 1, Nr. 500–504, S. 609–611; Nr. 767–776, S. 790–793; Hiltebrandt, Preussen, Nr. 195, S. 261–262, Nr. 197, S. 264–265; vgl. Kunze, Geschichte, S. 62–63. 166 Lehmann, Preussen 1, Nr. 500, S. 609–610 (Erlass an die halberstädter, mindische und magdeburgische Regierung, Potsdam, 13./23.10.1691); s. a. Nr. 501–504, S. 610–611; Nr. 522, S. 621–623. 167 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 195, S. 261–262 (Archinto an Paolucci, Köln, 27. Oktober 1715). 168 s. den Verweis auf ein Schreiben Paoluccis an Spinola vom 30. November 1715 ebd., Nr. 197, S. 264, Anm. 3. 169 Vgl. dazu auch Peters, Der preußische Fiskal, S. 224–225. 170 Reichshofratsgutachten vom 10.1.1718, HHStA, RHR, Den. rec. 110/2; Lehmann, Preussen 1, Nr. 768, S. 791 (Der Kaiser an den König von Preussen, Wien, 10.1.1718); s. a. GStA PK, I. HA, Rep. 33, Nr. 103, Fasz. 3 („Acta wegen der Wahl eines Abts beim Closter St. Pancratii zu Hamersleben 1718–1723“). 171 Friedrich Wilhelm I. an Karl VI., Berlin, 19.3.1718, HHStA, RHR Den. rec. 110/2.
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Damit nutzte der König eine vom Corpus Evangelicorum bereits mehrfach erprobte Argumentation.172 Zuvor war die Halberstädtische Regierung angewiesen worden, die Mönche „dahin zu disponiren, daß sie von solchen Klagten abstehen“ – was diese aber rundweg ablehnten.173 Zwischenzeitlich hatten die Hamersleber Mönche Anfang März 1718 zwar tatsächlich einen neuen Abt gewählt, ohne dass königliche Kommissare dabei anwesend gewesen wären. Nachdem dieser neue Abt allerdings bereits wenige Wochen nach seiner Wahl verstorben war, befanden sich Ende März 1718 beide Seiten erneut in der Ausgangssituation.174 Im Mai 1718 befahl der Reichshofrat schließlich beiden Seiten, keine weiteren Schritte in der Sache zu unternehmen und die kaiserliche Entscheidung abzuwarten.175 Auf diesem Stand blieb das Verfahren, bis sich die Hamersleber Mönche 1722 entschlossen, ihre nun über Jahre verschleppte Prälatenwahl doch unter den Bedingungen des Landesherrn abzuhalten.176 Geistliche Wahlen hatten, wie bereits erwähnt, seit der Regierungszeit des Großen Kurfürsten immer wieder zu Spannungen zwischen der Landesherrschaft und den Klöstern geführt. Auch diese Klage des Klosters Hamersleben hatte also, wie die vorherigen Prozesse wegen des Schlosses Wegersleben bzw. der neun Hufen Land, keinen Streitpunkt zum Gegenstand, der erstmals mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. aufgetreten wäre. Sowohl die Abhaltung der Wahlen unter Beteiligung landesherrlicher Kommissare als auch die Praxis, für die Wahlen bestimmte Abgaben einzuziehen, waren keine unter Friedrich Wilhelm I. eingeführten Neuerungen.177 Die einzige Neuerung scheint darin bestanden zu haben, dass die Abgabe mit Regierungsbeginn Friedrich Wilhelms I. erhöht und in diesem Kontext ein erneuertes Dekret erlassen worden war.178 Allerdings lässt sich an der Problematik der geistlichen Wahlen auch die spezifische Situation der katholischen Klöster in Halberstadt und Magdeburg verdeutlichen, wenn man die Klage vor dem Hintergrund der Berichte Steffanis liest. Steffani hatte in seinen Berichten mehrfach seiner Unzufriedenheit darüber Ausdruck verliehen, dass die Klöster ihre prekäre Situation unter einer evangelischen Landesherrschaft immer wieder dazu nutzten, sich der kirchlichen Kontrolle zu entziehen. So klagte Steffani etwa, die Kleriker und Mönche betrachteten den Apostolischen Vikar des Nordens als Prälaten, den sie in mancher Hinsicht nutzen könnten, der 172
Vgl. Kap. C. I. Reskript an die Halberstädter Regierung, Berlin, 29.1.1718, GStA PK, I. HA, Rep. 33, Nr. 103, Fasz. 3, Bl. 28–32. 174 Vgl. Peters, Der preußische Fiskus, S. 226–227. 175 Reichshofratsgutachten vom 6.5.1718, HHStA, RHR, Den. rec. 110/2. 176 Lehmann, Preussen 1, Nr. 782, S. 796 (Bericht der halberstädter Regierung, Halberstadt, 6.7.1722). Zuvor hatte das Kloster mehrfach und nachdrücklich beim Reichshofrat um eine Entscheidung gebeten; s. a. die verschiedenen Schreiben des Subpriors des Klosters, Johann Adam Unrath, aus den Jahren 1719–1721 in: HHStA, RHR, Den. rec. 110/2. 177 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 195, S. 261 (Archinto an Paolucci, Köln, 27.10.1715). 178 Ebd.; Nr. 197, S. 264–265 (Paolucci an Archinto, Rom, 30.11.1715). 173
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selbst aber keine Autorität über sie besitze. Sie seien es gewohnt, keiner übergeordneten geistlichen Gewalt unterstellt zu sein: „Wenn der Souverän sie bedrückt, dann schreien sie und wenden sich an den Kurfürsten von der Pfalz oder den Fürstbischof von Münster um Protektion; wenn sie aber eine nicht kanonische Wahl abhalten, dann laufen sie nach Berlin oder Halberstadt zur Konfirmation derselben.“179 Tatsächlich hatte erst im Jahr 1714 die Kurie die Wahl des neuen Abtes von Huysburg, Placidus Conzen, aufgrund der Anwesenheit königlicher Kommissare beanstandet. Der Abt weigerte sich, beim Papst um eine Bestätigung seiner Wahl einzukommen mit dem Hinweis, diese Praxis sei über Jahre hinweg von Rom nicht beanstandet worden. Daraufhin wurde Conzen von Steffani mit kirchenrechtlichen Sanktionen konfrontiert.180 Die Klöster nutzten offenbar gerade bei geistlichen Wahlen die Konkurrenz zwischen der landesherrlichen Gewalt und der kirchlichen Hie rarchie gemäß ihren eigenen Interessen. Sie konnten also durchaus auch mitunter davon profitieren, dass sie sich in Bezug auf die kirchliche Hierarchie gewissermaßen in einem Vakuum befanden, was umso mehr der Fall war, als sie sich gegenüber dem Apostolischen Vikar des Nordens immer auch darauf berufen konnten, dass sie ausschließlich ihren Ordensoberen unterstellt seien. Nichtsdestoweniger vertrauten die Klöster in der Tat auf die Patronage durch den Bischof von Spiga und die kurialen Kommunikationswege, wenn es um Auseinandersetzungen mit ihrer Landesherrschaft ging. Diese Wege hatten die Klöster auch bereits unter Friedrich I. genutzt; nach 1713 aber schienen die Aussichten, in Wien für ihre Anliegen offene Ohren zu finden, aufgrund der politischen Konjunkturen merklich gestiegen. Was bereits an früherer Stelle für die brandenburg-preußische Integrations- respektive Kirchenpolitik gegenüber den Katholiken in Halberstadt, Minden und Magdeburg im Allgemeinen festgestellt wurde, zeigen die drei untersuchten Klagen des Klosters Hamersleben nochmals en detail: Sämtliche Klagen gingen in ihren Ursprüngen weit in die Regierungszeit Friedrichs I. / III. zurück. Für die Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. dagegen lässt sich mithin eine Fortführung der Politik seines Vaters konstatieren, kaum aber ein, mit 1713 einsetzender, politischer Umbruch im Umgang mit der katholischen Minderheit.181 Was sich dagegen in der Tat relativ bald nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms änderte, war offenbar die Klagebereitschaft der Katholiken; das zeigt vor allem die Reihe von Klagen des Klosters Hamersleben. Denn gerade dieses reiche Kloster war bereits unter der Regierung Friedrichs I. wiederholt mit Repressionsdrohungen und einem tat 179 „Se il sovrano del paese gli preme, gridano e ricorrono alle protezioni del serenissimo elettor palatino e di mons.r vescovo di Münster. Ma se in un monastero si fa una elezione non canonica e perciò disputata […], ricorre a Berlino o pure a Halberstatt e trova manutenenza …“; Hiltebrandt, Preussen, Nr. 143, S. 157–167 (Relation Steffanis über die Halberstädter und Magdeburger Klöster, Hannover, 5.12.1710), Zitat S. 161. 180 Ebd., Nr. 195, S. 261–262 (Archinto an Paolucci, Köln, 27.10.1715); Nr. 197, S. 264–265 (Paolucci an Archinto, Rom, 30.11.1715), Anm. 1; unpräzise und teilweise fehlerhaft dargestellt bei Kühne, Preussen, S. 228–229. 181 s. etwa für die Klosterwahlen unter Friedrich III./I.: Lehmann, Preussen 1, Nr. 522, S. 621– 623 (Klosterwahlen, o. D. [1689–1709]); für die Fiskalpolitik vgl. Peters, Der preußische Fiskus.
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sächlich durchgeführten Sequester konfrontiert gewesen182 – und mit einer Berliner Rechtsprechung, die den Mönchen kaum neutral erscheinen konnte. Der richtige Zeitpunkt für förmliche Appellationsprozesse vor dem Reichshofrat schien aber erst nach 1713 gekommen. Diese Tendenz stand wiederum zweifellos mit der sich immer weiter zuspitzenden Konfrontation zwischen Reichshofrat und preußischem König in Zusammenhang.183 Wie sehr sich der Ton zwischen dem kaiserlichen Gericht und der Berliner Regierung mit Beginn der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. verschärft hatte, wurde schon im vorhergehenden Kapitel deutlich. Bereits das Beispiel der Klage des Reichsfikals gegen Thomasius demonstriert die äußerst schroffe Wortwahl, die sich in Berlin offenbar in Reichshofratsangelegenheiten eingebürgert hatte und die Thomasius in seiner Schrift gegen den Reichfiskal mit Sicherheit nicht angeschlagen hätte, wenn er sich damit nicht im Einklang mit dem derzeitig herrschenden politischen Ton gegenüber Wien gewusst hätte. Im Falle der Klosterwahlen hatte Friedrich Wilhelm I. gleichsam stillschweigend eine schon vor längerer Zeit eingeführte Praxis fortgeführt und griff im Umgang mit den klagenden Klöstern auch teilweise ganz explizit auf die Regierungspraxis seines Vaters bzw. auf von diesem eingeführte Maßnahmen zurück: Steffani berichtete im Januar 1714, der Berliner Hof habe den Streit um den Kölner Residenten und dessen Versuch, in Köln den reformierten Gottesdienst einzuführen, von neuem aufgerollt, indem die Regierung nun von den Klöstern die Rechnungslegung für den im Jahr 1708 durchgeführten Sequester verlangte, der seinerzeit als Druckmittel im Konflikt mit der Stadt Köln verhängt worden war. Auch hinsichtlich der territorialen Arrondierungspolitik gegenüber der Reichsabtei Werden setzte Friedrich Wilhelm I., wie bereits im vorherigen Kapitel geschildert, die Politik seines Vaters konsequent fort, und das registrierte nicht zuletzt auch die Kurie: So wurde der Wiener Nuntius 1713 nachdrücklich aus Rom ermahnt, den Kaiser auf die nach wie vor von brandenburg-preußischen Truppen in Werden begangenen „Barbareien“ hinzuweisen und die Exekution gegen Friedrich Wilhelm I. durch Münster und Pfalz einzufordern.184 Der Reichsvizekanzler aber rechtfertigte die bisherige Zurückhaltung Wiens in dieser Angelegenheit mit dem Verweis auf die politische und militärische Macht Brandenburg-Preußens.185 Dass sich die Rahmenbedingungen für die kaiserliche Machtausübung im Reich aber schließlich durch die Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges von Grund 182
Vgl. Kap. B. II. 2. c). Anders die Bewertung bei Peters, Der preußische Fiskus, S. 229–230, demzufolge die Umsetzung der fiskal- und kirchenpolitischen Maßnahmen gegenüber den katholischen Klöstern und Stiften in Halberstadt „einem ‚Prinzip des Aushandelns‘ […] vor dem Reichshofrat“ gefolgt sei. 184 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 180, S. 239–241 (Paolucci an Spinola, Rom, 14.10.1713): Der Kardinalstaatssekretär sprach hier von „sacrileghe e barbare violenze, che i ministri e milizie brandenburghesi hanno ulteriormente commesse dopo l’invasione del territorio della badia di Werden …“ (Zitat S. 239–240). 185 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 180, S. 241, Anm. 1. 183
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auf geändert hatten, betonte der Kardinalstaatssekretär bereits Anfang 1714 mit ungewöhnlich deutlichen Worten: Nachdem der Kaiser Frieden mit Frankreich geschlossen habe, sei er nun nicht mehr auf die Hilfe der protestantischen Fürsten angewiesen und müsse daher keinerlei Rücksichten mehr auf diese nehmen. Die veränderte außenpolitische Situation böte dem Kaiser nunmehr die Freiheit, sich mit seiner Macht und seinem Amt für die Interessen der Religion einzusetzen – und eben dies erwarte man in Rom auch.186 Tatsächlich entschied der Kaiser schon Ende 1713 auf der Grundlage vorheriger Reichshofratsconclusa gegen den König in Preußen als Grafen von der Mark und wies ihn an, den Abt des Klosters Werden vollständig zu restituieren. Dem Abt sollten die erbetenen Protectoria und Conservatoria in Aussicht gestellt, den benachbarten Fürsten aber und vor allem dem kaiserlichen Legationssekretär in Berlin, Voss, von der kaiserlichen Entscheidung Nachricht gegeben werden. Im Folgejahr wurde schließlich eine Kommission auf die ausschreibenden Fürsten des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises, Münster und Pfalz, ernannt – zunächst mit der Auflage, dem Beklagten noch eine zweimonatliche Frist zur Restitution zu gewähren –, im Juni 1714 aber schließlich die Exekution befohlen und die benachbarten Stände des Kurrheinischen und Niedersächsischen Kreises mit Auxiliatoria beauftragt.187 Die römische Diplomatie verfolgte diese Entwicklungen aufmerksam und verband sehr geschickt die Erinnerungen an die kaiserliche Pflicht zum Schutze der katholischen Religion mit dem Verweis auf die (reichs-)politische Bedeutung des kaiserlichen Amtes: Die Ignoranz, die der Berliner Hof gegenüber den Reichshofratsentscheidungen und kaiserlichen Dekreten wegen Werden an den Tag lege, schade nicht nur der katholischen Kirche, sondern auch und besonders der kaiserlichen Autorität, denn, – so die Argumentation des Kardinalstaatssekretärs – wenn Dekrete ausgesprochen würden, so müssten sie auch durchgeführt werden, alles andere stelle dem Ansehen des Kaisers im Reich ein schlechtes Zeugnis aus.188 Immer wieder wurde seitens der päpstlichen Diplomatie explizit darauf hingewiesen, wie sehr sich die Interessen der katholischen Kirche und diejenigen der kaiserlichen Reichspolitik deckten. Diese Zuschreibung entsprach freilich den politischen Vorstellungen der Kurie, aber offenbar stimmte sie eben auch zumindest teilweise mit dem Selbstverständnis Karls VI. als Haupt des Reiches und Schutzherr der katholischen Religion im Reich überein. Beiden Aspekten konnte das Kaisertum aber erst nach dem Ende 186 Ebd. wird ein weiteres Schreiben Paoluccis an Spinola vom 24. März 1714 zitiert, in dem der Kardinalstaatssekretär auf die „circostanza del tempo“ verweist. „… giacché la pace, che sentesi stabilita colla Francia, esimendo la M.tà. S. dal bisogno degli aiuti e dell’assistenza de’ principi protestanti, l’essenta dalla soggezione di quei risguardi, a’ quali haverebbe potuto v enir obligata a favor loro dalla continuazione della guerra, e la pone in libertà e forza non pur di sostener i diritti della nostra santa religione, ma di promuoverne utilmente in tutte le occorrenze i vantaggi.“. 187 Lünig, Teutsches Reichsarchiv, S. 715–717; s. a. Kap. C. III. 188 Hiltebrandt, Preussen, Nr. 191, S. 258 (Paolucci an Spinola, Rom, 16.2.1715): „… la contumacia della predetta corte“ sei nicht nur „pregiudiziale agl’interessi della religione cattolica, ma ingiuriosa alla maestà dell’imperatore …“.
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des Spanischen Erbfolgekrieges stärkeres politisches Gewicht verleihen. Welchen Einfluss dabei die Kurie, etwa über den Wiener Nuntius, tatsächlich ausübte, ist im Rahmen dieser Untersuchung kaum einzuschätzen. Fraglos besaß das Netzwerk der römischen Diplomatie aber für die katholischen Institutionen in den brandenburg-preußischen Landen eine gewisse Bedeutung und war dabei behilflich, den Reichsvizekanzler, den Reichshofrat und schließlich den Kaiser selbst auf die Interessen der katholischen Untertanen des preußischen Königs hinzuweisen. An den Beispielen der katholischen Klöster in Halberstadt sowie der Reichsabtei Werden wird zudem deutlich, dass die römische Diplomatie über ihre im Norden des Reiches stationierten Vertreter wie den Kölner Nuntius oder den Bischof von Spiga sehr genau über „Reichssachen“ informiert war, die Entwicklungen scharf beobachtete und analysierte. Gerade die maßgeblich über Steffani laufenden Kontakte der Halberstädter Klöster nach Rom und die Aufnahme mehrerer Verfahren katho lischer Kläger gegen ihren Landesherrn am Reichshofrat führten aber auch dazu, dass in Berlin stärker als noch unter Friedrich III./I. die enge Verbindung von Katholizismus und Kaisertum politisch thematisiert wurde – ähnlich wie sie die Kurie beschwor, aber gleichsam unter umgekehrten Vorzeichen, nämlich als Gefährdung der eigenen Interessen und Freiheiten und als weiterer Beweis für die Parteilichkeit der kaiserlichen Rechtsprechung.189 b) Das Domkapitel von Halberstadt contra den König in Preußen Einige Jahre später erging eine weitere Klage von Halberstädter Geistlichen an den Reichshofrat, die sich in vielen Punkten von der Hamersleber Klage wegen der Klosterwahlen unterschied. Zum einen handelte es sich diesmal um das Halber städter Domkapitel und als solches um eine gemischtkonfessionelle Klägergruppe, die sogar zum größeren Teil aus lutherischen Domherren bestand.190 Zum anderen ging die Klageschrift in Wien zu Beginn des Jahres 1724 ein und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem das Verhältnis zwischen Wien und Berlin sich gegenüber der Zeit, aus der die bislang besprochenen Klagen stammten, nochmals merklich verschlechtert hatte. Wie die Klage wegen der Prälatenwahl ragte aber auch diese Appellation in den Bereich der Landesherrschaft im Geistlichen hinein, sowohl was ihren Inhalt betrifft als auch in Hinblick auf die Argumente, mit der die Berliner Regierung die Zuständigkeit des Reichshofrates bestritt.
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s. etwa Lehmann, Preussen 1, Nr. 776, S. 793 (Erlass an die halberstädter Regierung, Berlin, 23.7.1718): „… wir fürchten, es werde das Kloster Hammersleben bei dem Reichs-Hof-Rath in allem Gehör finden, wie man denn zu Wien die katholische Geistlichkeit mit ihren Petitis nicht leicht abzuweisen pfleget.“ 190 Seit 1591 waren Dom und Bistum Halberstadt evangelisch, das Domkapitel aber blieb bis zum Reichsdeputationshauptschluss mit 16 lutherischen und vier katholischen Domherren gemischtkonfessionell; vgl. Grübel, Halberstadt, S. 720–721.
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Im Januar 1724 beschwerte sich das Halberstädter Domkapitel beim Reichshofrat über ein landesherrliches Dekret vom 5. Oktober 1723, in welchem der König allen Domkapitularen in Halberstadt, Minden und Magdeburg unter der Strafandrohung von 1000 Talern, die in die Rekrutenkasse einzuzahlen wären, eine halbjährige Residenzpflicht verordnet hatte. Ausgenommen von dieser Anwesenheitspflicht sei nur, wer über eine eigenhändig vom König unterschriebene Dispens verfüge bzw. sich um eine solche erfolgreich bemühe. Gegen diese Verordnung protestierte allerdings ausschließlich das Domkapitel von Halberstadt, indem es fristgerecht und förmlich an den Reichshofrat eine Appellation richtete.191 In ihrer Klageschrift legten die Domkapitulare wie üblich ihre überkommen Rechte dar:192 Laut ihren überlieferten Statuten seien alle Kapitulare verpflichtet, lediglich 17 Wochen in Halberstadt zu residieren, und diese Regelung bestehe seit den Zeiten der ersten Halber städter Bischöfe. Ihre sämtlichen Rechte und Pflichten seien auch in der Wahlkapitulation des letzten Halberstädter Bischofs, des Erzherzogs Leopold Wilhelm, 1638 bestätigt worden, und diese sei wiederum hinsichtlich des Status der Religion in toto in den 11. Artikel des Osnabrücker Friedensinstruments eingeflossen.193 Alle diese in der Kapitulation und dem Westfälischen Frieden verbrieften Rechte seien nochmals durch den Homagialrezess von 1658 anerkannt und verbrieft worden; und schließlich habe der Große Kurfürst dem Domkapitel erneut seine Rechte und Privilegien – auch und gerade in puncto Residenz – in einer „besondere[n] transaction“ versichert. Insofern setze sich der jetzige König also mit seinem Erlass über alle diese Rechtsnormen hinweg. Zudem aber fiele weder die Dispensierung von der Residenzpflicht noch die Entscheidung über eine Verwendung möglicher, von Domkapitularen eingezogener Strafgelder in den Bereich der landesherrlichen Jura episcopalia, sondern in ihre eigene Zuständigkeit – weil solche Entscheidungen zu Zeiten des Fürstbistums nicht den Bischöfen, sondern dem Kapitel zugestanden hätten. Ganz besonders, so hob bereits die Klageschrift des Kapitels hervor, würden jedoch die katholischen Domherren von der landesherrlichen Regelung benachteiligt, weil sie „von allen anderen Praebenden abgehalten“ und damit gegenüber anderen katholischen Domherren im Reich massiv benachteiligt würden.194 Ungeachtet all dieser Gründe wurde das königliche Dekret noch im selben Jahr exekutiert und die Domkapitulare zur Zahlung der angedrohten Geldstrafe gezwungen. Das Kapitel erbat daraufhin beim Reichshofrat ein kaiserliches Mandat, und 191 Zum folgenden: HHStA, RHR, Vota 21-4. Das Mindener Domkapitel hatte bereits 1721 über diverse Verstöße gegen seine im Westfälischen Frieden verbrieften Rechte an Steffani berichtet, wie beispielsweise über die Verpflichtung auf die Akzise und die Aufhebung einiger Kanonikate. Doch auch die dringenden Ermahnungen Steffanis konnten die Mindener Dom kapitulare offenbar nicht dazu bewegen, förmlich an den Reichshofrat zu appellieren; Hiltebrandt, Preussen, Nr. 229, S. 310–312 (Aus der Propaganda-Sitzung vom 4.8.1721). 192 Auch zum Folgenden: Reichshofratsgutachten vom 19.12.1724, HHStA, RHR, Vota 21-4. 193 Obwohl Erzherzog Leopold Wilhelm bereits 1628 Bischof von Halberstadt geworden war, wurde die Wahlkapitulation erst 1638 verfasst, als ihm durch die kaiserlichen Truppen die Rückkehr in das Stift ermöglicht worden war; vgl. Ecklerin, Halberstädter Klöster, S. 395. 194 Reichshofratsgutachten vom 19.12.1724, HHStA, RHR, Vota 21-4.
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tatsächlich erging am 21. März 1724 ein kaiserliches Reskript an den König in Preußen, in dem dieser auf die von den Domherren angeführten Rechtstitel hingewiesen und zur Einsendung eines Gegenberichts aufgefordert wurde.195 Im Sommer desselben Jahres wurde dann auch vom königlichen Agenten ein ausführlicher Gegenbericht eingereicht. Darin rechtfertigte Friedrich Wilhelm I. sein Dekret zunächst weniger mit juristischen Argumenten als vielmehr mit solchen der „Staatsraison“ – gewissermaßen „von Herrscher zu Herrscher“ sprechend. Einerseits begründete der König die Residenzpflicht kameralistisch, indem er darauf verwies, dass die Domherren daran gehindert werden müssten, ihre Einkünfte „mit sein undt seiner unterthanen mercklichen schaden“ außer Landes zu bringen. Zudem habe er sich vor allem deshalb gezwungen gesehen, regulierend auf die Anwesenheit der Domherren einzuwirken, weil diese nicht einmal jene 17 Wochen im Land verbrächten, die sie selbst als Mindestmaß anerkannten, „und sich sonderbahr im Halberstädtischen so dan nur einfänden, wan die Einkünffte gezogen werden sollten“.196 Nach diesen „Präliminarien“ erklärte Friedrich Wilhelm I. aber unumwunden, der Kaiser solle es ihm „nicht ungütig deüten, wan Er in dergleichen geistlichen […] sachen von dem Kayserl. Reichs-Hof-Rath sich nicht einlaßen könne, inmaßen nicht einmahl in denen Catholischen Reichslanden ged. Reichs-Hof-Rath sich derselben anmaßen dörffte …“. Der König stützte sich also auf das Aequalitas-Argument, das spätestens seit dem Streit um die Appellation des Wetzlarer Pfarrers Hellmund zu den gängigen Argumenten der Protestanten gehörte, um die kaiserliche Gerichtsbarkeit bei allem, was in den Bereich der geistlichen Landeshoheit evangelischer Reichsstände fiel, zurückzuweisen. Zudem bezog sich Friedrich Wilhelm I. erneut auf Art. 5 § 48 des IPO, nach dem „das Jus Dioecesanum nebst der jurisdictio Eccl. in den protestantischen landen gar nicht denen Reichs judiciis zugeäignet, sondern dieselbe in totum suspendiret [sei]“. Was die Protestanten im Westfälischen Frieden „mit Vergießung so viel heißen bluths“ erlangt hätten, das wolle der Kaiser ihnen doch sicherlich nicht entziehen. Mit Rücksicht auf alle anderen evangelischen Reichsstände müsse der König daher auch so deutlich die Jurisdiktion des Kaisers in diesem Punkt zurückweisen „undt vor die conservation des juris territorii in circa sacra die nöthige sorge tragen“. Nachdem die grundsätzliche Unzuständigkeit des Reichshofrats damit erwiesen sei, wollte der König aber gegenüber dem Kaiser „zu schuldigen Ehren“ nun auch die konkreten Beschwerdepunkte der Domkapitulare entkräften. Das von ihm erlassene Edikt, so Friedrich Wilhelm I., gründe auf nichts anderem als der Bibel und dem Tridentinum. Beide bestimmten, „daß der jeniger, welcher vom altar lebet, demselben auch dienen […] müße“. Zudem sei er mit seinem Edikt weit hinter dem zurückgeblieben, was das Tridentinum mit ganzen neun Monaten Residenzpflicht katholischen Kapitularen vorschreibe. Was nun aber die Privilegien und Rechte beträfe, auf welche die Domkapitulare sich in ihrer Klageschrift bezogen, 195
Ebd. Auch im Folgenden: ebd.
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so kenne er einzig ein von seinem Großvater, dem Großen Kurfürsten, 1667 bestätigtes Statut, das explizit die Residenzpflicht der Domkapitulare beträfe. Doch die neuerliche Bestätigung dieser – nachwestfälischen – Garantie sei bei Antritt seiner eigenen Regierung weder vom Kapitel gesucht noch von ihm selbst erteilt worden. Grundsätzlich dürften aber auch dergleichen Erklärungen eines Landesherrn nicht als „pacta inter principes et subditos obligatoria“ angesehen, sondern müssten „allemahl salvo jure superioritatis verstanden werden“. Andernfalls wäre es dem Landesherrn ja gar nicht möglich, solche Regelungen „nach erfordern des gemeinen besten“ zu ändern – und das könne nicht im Sinne einer guten Regierung sein. Schließlich wandte sich Friedrich Wilhelm I. vehement gegen die vom Domkapitel vertretene Verfassungsinterpretation, wonach eine Dispens von der – wie auch immer gearteten – Residenzpflicht nicht vom Bischof, sondern vom Kapitel selbst vergeben würde und Strafgelder nicht für die Rekrutenkasse – also zu eindeutig „weltlichen“ Zwecken – verwendet werden dürften: Jegliches „Condominat“, das dem Kapitel in Zeiten des Fürstbistums zugestanden habe, sei durch den Westfälischen Frieden bzw. die Säkularisierung aufgehoben worden, und der König sei nicht geneigt, die Domkapitulare an seiner Landeshoheit partizipieren zu lassen. So müsse dem Kapitel auch „gleich viel gelten, wohin die einkommende straf gelder verwendet würden“.197 Ganz unverhohlen griff Friedrich Wilhelm I. in seinem Gegenbericht die katholischen Domherren an, obwohl diese die klare Minderheit im Domkapitel repräsentierten. Offenbar wurde die Praxis der Pfründenhäufung und der damit verbundenen langen Abwesenheiten von Halberstadt auch tatsächlich besonders von den katholischen Domherren geübt.198 Die wenigen katholischen Domherren erlaubten es jedenfalls Friedrich Wilhelm I. (unabhängig von dem Verhalten der evangelischen Mehrheit) in seinem Bericht den Halberstädter Katholizismus als unmoralisch – in dem Sinne, dass er sich an seine eigenen Normen nicht gebunden fühle – zu diskreditieren und sein eigenes Dekret als eine Maßregel darzustellen, mittels derer er primär auf das sittenlose Verhalten der katholischen Domherren reagiere. Dass es neben der Durchsetzung der Residenzpflicht und der damit einhergehenden Einnahmen des Fiskus in diesem Fall aber auch um eine Auseinandersetzung um konkurrierende Verfassungsvorstellungen zwischen König und Landständen (beider Konfessionen!) ging, wird daran deutlich, wie vehement der König jegliche „Condominats“-Vorstellungen des Domkapitels abwehrte. Tatsächlich konnte das Domkapitel in Halberstadt auf eine lange Tradition der Mitregierung des Fürstbistums zurückblicken. Die beiden Bistümer Magdeburg und Halberstadt waren zwischen 1479 und 1566 in Personalunion regiert worden, wodurch das Halberstädter Kapitel immer weitgehender die Regierungsgeschäfte für Halberstadt übernommen hatte. 197
Ebd. Dies legt die namentliche Aufführung derjenigen Domherren nahe, denen die Halberstädter Regierung laut königlicher Verordnung vom 3. August 1724 keinerlei Einkünfte auszahlen sollten, weil sie nicht nachweisen konnten, dass sie im vorherigen Jahr sechs Monate in Halberstadt verbracht hätten; ebd. 198
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D. Brandenburg-Preußen im Zeichen der konfessionellen Krise
Durch den Homagialrezess von 1650 wurde das Kapitel allerdings – wie auch die übrigen Landstände – in seinen bisherigen Privilegien und vor allem in ihrem politischen Einfluss stark beschnitten.199 Insofern sind die von Friedrich Wilhelm I. befohlene Verschärfung der Residenzpflicht und die damit einhergehenden scharfen Sanktionen primär als anti-ständischer Vorstoß zu verstehen, der sich – schon angesichts der Zahlenverhältnisse – sachlich viel mehr gegen Protestanten als gegen Katholiken richtete. Friedrich Wilhelm I. präsentierte diese anti-ständische Maßnahme dem Reichshofrat gegenüber aber gleichwohl in einer anti-katholischen Rhetorik – der König betrieb hier mithin eindeutig eine ständefeindliche Politik im anti-katholischen Gewand. Der Reichshofrat begründete in seinem Gutachten zunächst ausführlich seine eigene Zuständigkeit in dieser Streitsache:200 Indem die evangelischen Reichsstände behaupteten, die höchste Kirchengewalt als Teil ihrer Landeshoheit zu besitzen, gleichzeitig aber die Oberhoheit des Kaisers anerkannt hätten, müssten sie auch akzeptieren, dass dem Kaiser, „als allerhöchstem Richter und Oberhaupt des Reichs suprema cura circa sacra gebühre“. Auch das Argument, die bischöfliche resp. päpstliche Jurisdiktion sei für die evangelischen Reichsstände suspendiert worden, könne nicht als Beweis für die Unabhängigkeit von den Reichsgerichten gelten; eine solche Unabhängigkeit sämtlicher evangelischer Reichsstände hätte im Westfälischen Frieden expressis verbis festgesetzt werden müssen. Schließlich betrachte der König selbst sein Jus circa sacra in seiner Landesherrschaft begründet bzw. als dieser zugehörig; weil aber alle Reichsstände ihre Landesherrschaft ausschließlich kraft kaiserlicher Investitur besäßen, seien sie auch grundsätzlich – wenn nicht bestimme Privilegien sie explizit davon ausnähmen – der höchsten Gerichtsbarkeit im Reich unterstellt. Mit Blick auf die in Frage kommenden Vereinbarungen und Rechte, auf die sich die Kläger berufen konnten, konzentrierte sich der Reichshofrat, wie schon der königliche Gegenbericht, auf das vom Großen Kurfürsten aufgerichtete Statut von 1667. Allerdings bewertete der Reichshofrat dieses ganz anders als der König: Mit seinem Regierungsantritt habe Friedrich Wilhelm I. wie auch schon sein Vater dieses Statut „per generalem confirmationem, wie nicht weniger tacite“ bestätigt, weshalb sich die Domkapitulare also auf einen legitimen Rechtstitel bezögen, den – zusammen mit dem über fünfzig Jahre hinweg nicht in Frage gestellten Gebrauch des Residenz-Rechtes – der Landesherr ihnen nicht „via facti“ entziehen dürfe, ohne die Betroffenen vorher überhaupt gehört zu haben. Selbst wenn man, wie der preußische König, derartige Statuten nicht als „pacta inter principem et subditos obligatoria“ ansehe, so sei doch bekannt, dass ein Sukzessor gehalten sei, die Verträge, Versprechen und Privilegien, die sein Vorgänger gemacht bzw. vergeben habe, zu bewahren und sie nicht einfach mit dem Verweis auf ihren Missbrauch oder den gemeinen Nutzen ändern dürfe. Die Landeshoheit aber könne mit solchen Vereinba 199
Vgl. Grübel, Halberstadt, S. 718–719. Auch zum Folgenden: Reichshofratsgutachten vom 19.12.1724, HHStA, RHR, Vota 21-4.
200
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rungen zwischen Untertanen und Landesherrn „gar wohl beysammen stehen“, ja, sie müsse es sogar, „wan sie nicht ganz ein despotismus generiren solle“. Solchen zu verhüten sei das Kaisertum seit jeher verpflichtet, und noch in der letzten Wahlkapitulation habe der jetzige Kaiser versprochen, die mittelbaren Reichsstände „bey ihrem Standt und wesen zu erhalten wie auch in Dero allerhöchstem Schutz zu halten“. Geradezu idealtypisch werden hier die unterschiedlichen Vorstellungen von Landesherrschaft deutlich: Während Friedrich Wilhelm I. in seinem Gegenbericht nachdrücklich auf die Handlungsfähigkeit des Herrschers abhob, die durch Bindungen wie der von seinem Großvater den Domkapitularen gegebene Zusage zum Nachteil des Bonum commune leiden würde, betonte der Reichshofrat die Bedeutung gerade derartiger Verpflichtungen für eine gerechte Landesherrschaft. Friedrich Wilhelm I. erklärte ganz explizit, dass er durch Verträge seiner Vorfahren nicht gebunden sei. Er verteidigte damit die Auffassung, dass es möglich sein müsse, Neuerungen, die dem „gemeinen Besten“ dienten, auf Kosten älterer Vereinbarungen durchzusetzen, wenn man nicht dem Landesherrn ganz und gar die Hände binden wolle. Im Übrigen berücksichtigte auch der Reichshofrat in seinem Gutachten201 die katholischen Domherren nochmals gesondert: Nachdem das Votum bereits ausgiebig vorgestellt habe, dass der König zu seinem Dekret gegen das Domkapitel nicht befugt gewesen sei, so gelte dies umso mehr hinsichtlich der katholischen Domherren, die durch den Westfälischen Frieden und den Normaljahresstatus besonders geschützt seien, denn dieser beinhalte eben auch ohne explizite Erwähnung die gängige Handhabung der Residenzpflicht. Zudem habe der Westfälische Frieden das Jus Dioecesanum für die Katholiken in Halberstadt nicht suspendiert, weshalb sich der König in ihrem Fall darauf auch nicht berufen könne. Die Katholiken wiederum könnten sich in diesem den „cultum divinum betreffenden casu auf die heylige Schrifft oder das Concilium Tridentinum von niemand anderem, als allein ihrem Dioecesan oder dem Päbstl. Stuhl weisen lassen.“ Wenngleich der Reichshofrat sich naturgemäß also auf die moralische, ausschließlich auf die (wenigen!) katholischen Domherren gemünzte Argumentation des königlichen Gegenberichtes nicht einließ, wies doch auch er nachdrücklich auf die besondere Rechtslage der Katholiken hin. Der Schutz des Art. 11 des Westfälischen Friedens, der eben alles „in hoc statu“ festschreibe, sei so umfassend, dass der – grundsätzlich unrechtmäßige – Eingriff in die hergebrachte Residenzpflicht des Domkapitels speziell für die katholischen Domherren ein besonders großes Unrecht bedeute. Dass in Wien dieser Prozess dennoch in erster Linie als ein Verteidigungsfall für die ständischen Rechte im Ganzen (in denen ja die Rechte der katholischen Korporationen mit Landstandschaft inbegriffen waren) und weniger für die katholische Religion als solche wahrgenommen wurde, zeigen die abschließenden Ausführungen des Reichshofrats: Besonderes Gewicht legte das Gutachten zum 201
Auch zum Folgenden: ebd.
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D. Brandenburg-Preußen im Zeichen der konfessionellen Krise
Schluss nämlich auf die Gefahr, die von dieser landesherrlichen Maßnahme für die übrigen, durch den Westfälischen Frieden an Brandenburg-Preußen gefallenen Landesteile ausgehen könnte – zumal das fragliche Dekret ja ohnehin neben dem Halberstädter auch das Mindener und Magdeburger Domkapitel betraf. Es stehe daher zu befürchten, so der Reichshofrat, „daß wan einmahl in einem statuto ein umbruch gestattet wirdt, baldt daraus andere folgen […] von denen Capitulis auff die landstände undt unterthanen […] und denen selben die ihnen zu guthe in ged. friedensschluss vorbehaltene jura und privilegia nach und nach benommen, mithin der status darin sie bishero gewesen, gantz und gar umgekehret werden dörffte, gleichwie denn hiervon schon würcklich einige exempla E. K. M. vom gehorsambsten Reichs-Hof-Rath durch verschiedene Gutachten allerunterthänigst vorgestellet worden seynd“. Man wisse schließlich, wovon man spreche: Der König habe schon allzu viele Beispiele für die feindliche Haltung gegenüber denjenigen seiner Untertanen gegeben, die durch Privilegien und Rechte vom Zugriff seiner Landeshoheit zumindest teilweise geschützt waren. Es folgten – wie im argumentativen Duktus eines Reichshofratsgutachtens üblich – die Maßnahmen, die laut Meinung des Gerichts vom Kaiser ergriffen werden sollten. Zunächst sollte das Domkapitel sich seinerseits zur königlichen Replik äußern; dem preußischen König aber solle reskribiert werden, dass er die Exekution des fraglichen Dekretes bis zu einer endgültigen kaiserlichen Entscheidung aussetzen möge. Bemerkenswert ist jedoch der Nachsatz, der an diese Empfehlungen anschließt: In ungewöhnlicher Deutlichkeit äußerte der Reichshofrat seinen Pessimismus mit Blick auf die Erfolgsaussichten eines kaiserlichen Vorgehens in dieser Sache: Wenn schon in dem weitaus prominenteren Prozess um die Allodifikation der Lehen das Gutachten des Reichshofrats nicht gegen den König umgesetzt würde, dann sei bereits vorauszusehen, dass auch im vorliegenden Fall, „diese Kayserliche Verordnung […] keinen effect haben dörffte“.202 Tatsächlich bestanden zwischen der Klage des Halberstädter Domkapitels und dem vor dem Reichshofrat zu dieser Zeit ebenfalls verhandelten Lehenskonflikt Parallelen, die sich nicht im zeitlichen Zusammenhang erschöpfen:203 Im Jahr 1717 hatte Friedrich Wilhelm I. die Umwandlung der Lehen des landsässigen Adels in Eigentum (Allod) eingeleitet. Damit verbunden war die Ablösung der traditionellen Pflicht zur Stellung des Lehnsaufgebotes durch eine jährlich zu entrichtende Steuer, den sogenannten Lehnskanon, also die Umwandlung des Ritterdienstes in eine Geldabgabe. Dieses Verfahren war an und für sich nicht ungewöhnlich; neu und umstritten waren die Pläne Friedrich Wilhelms I. deswegen, weil der König beabsichtigte, diese Ablösung dauerhaft festzuschreiben und damit eine perpetuierte Steuer für die Adligen einzuführen und gleichzeitig den Lehnsnexus zu lösen. Damit sollten die umfassenden Rechte der adligen Familien am Gesamtbesitz sowie 202
Ebd. Zum Folgenden vgl. ausführlich Müller, Umwandlung; Schenk, Reichsjustiz; s. a. die ältere Studie von Loewe, Allodifikation. 203
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der lehnsherrliche Schutz in ordinäre Besitzverhältnisse umgewandelt werden. Die betroffenen Adligen setzten den Plänen zur Allodifikation der Lehen vehementen Widerstand entgegen. Neben der Verteidigung der adligen Steuerfreiheit waren es vor allem die von dem landesherrlichen Entwurf nicht berücksichtigten Rechte der Gesamthänder und Mitbelehnten, die den Unmut der Adligen schürten. Lehensgüter, so die Argumentation der Adelsopposition, könnten nicht einfach an die aktuell „Possedierenden“ als Besitz übertragen werden, da die gesamte Familie Rechtstitel geltend machen könne. Insbesondere die Gefahr der weitergehenden Zersplitterung adligen Besitzes wurde betont. Obwohl Friedrich Wilhelm I. in der Folge den Adligen einige Zugeständnisse machte, strengte schließlich die Adelsopposition aus Magdeburg und Halberstadt ein Verfahren am Reichshofrat gegen ihren Landesherrn an. Im Konflikt um die Allodifikation der Lehen war der Reichshofrat zwar bereits seit 1718 involviert, eine förmliche Appellation der opponierenden Adligen lag jedoch erst 1722 vor.204 Wenngleich die von Friedrich Wilhelm I. 1717 initiierte Reform auch und gerade im altmärkischen Adel scharfe Opposition hervorgerufen hatte, so appellierte doch 1722 ausschließlich die Magdeburger und Halberstädter Ritterschaft an den Reichshofrat. In Wien hatte die Allodifikation der Lehen bereits vor Eingang der offiziellen Klage Aufmerksamkeit erregt, handelte es sich dabei doch um einen massiven Eingriff in die Lehensstruktur Brandenburg-Preußens – und damit des Reiches –, die den Kaiser als obersten Lehnsherrn einschreiten ließ. Auch hier hatten im Übrigen die kaiserlichen Diplomaten entschieden darauf gedrängt, dass sich die Adligen in Form einer ordentlichen Klage an den Reichshofrat wenden sollten. Nachdem der ordentliche Appellationsprozess der Ritterschaft seit 1722 anhängig war, hatte der Reichshofrat in einem Votum ad Imperatorem im Juni 1724 – und damit nur ein halbes Jahr vor der Entscheidung über die Klage des Halberstädter Domkapitels – dem Kaiser in der Lehenssache empfohlen, ein Paritionsmandat an den König zu erlassen und die Könige von Polen und Schweden (als Kurfürst von Sachsen und Herzog von Pommern) sowie die Kurfürsten von Trier und Pfalz mit der Exekution des Mandats zu betrauen. Das war der status quo des Verfahrens um die Allodifikation der Lehen noch im Dezember 1724, als der Reichshofrat sein Gutachten wegen des Domkapitel-Streits verfasste. Und tatsächlich sollte der Kaiser im Prozess wegen der Allodifikation der Lehen nur wenig später, im Februar 1725, sein Placet geben und den genannten Fürsten die Exekution übertragen.205 Zweifellos erregte die Klage der Magdeburger und Halberstädter Ritterschaft wegen der Allodifikation der Lehen größeres Aufsehen als der Prozess des Halber städter Domkapitels. Doch handelte es sich in beiden Fällen im Kern um die Durchsetzung der Landesherrschaft auf Kosten ständischer Privilegien. Diese Rechte aber waren eben in Magdeburg, Minden und Halberstadt zum einen stärker ausgeprägt 204
Vgl. auch zum Folgenden ausführlich Schenk, Reichsjustiz, S. 144–188. Vgl. ebd., S. 190–205.
205
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D. Brandenburg-Preußen im Zeichen der konfessionellen Krise
als in der Kurmark und zum anderen explizit durch den Westfälischen Frieden geschützt. Vor allem aber waren die Stände aus diesen Regionen die einzigen, die ihre Privilegien in der Gestalt ordentlicher Prozesse einklagten. Gerade vor dem Hintergrund des Konflikts um die Allodifikation der Lehen musste der Reichshofrat das Dekret zur Residenzpflicht der Domherren als eine Weiterführung der „Einschrenckung [der brandenburgischen Reichslande] unter die independendte preußische Beherrschung“206, mithin als neuerlichen Beweis für das Streben Friedrich Wilhelms I. nach Ausweitung seiner (preußischen) Souveränität auf seine Reichslande. Gleichzeitig verdeutlichen beide Fälle aber auch nur allzu sehr, wie schwierig eine tatsächliche Exekution gegen einen Reichsstand der Größe und Macht Brandenburg-Preußens war. Schließlich wurde im Prozess um die Allodifikation der Lehen, obwohl Kursachsen wohl zwischenzeitlich mit der tatsächlichen Durchführung geliebäugelt hatte, das kaiserliche Mandat auch hier nicht exekutiert.207 Gerade die Publizität dieses Falles ließ nun offenbar Ende 1724 die Reichshofräte bei der Klage des Domkapitels die Erfolgsaussichten gering einschätzen, wenn der Kaiser sogar in dem viel brisanteren Verfahren um die Allodifikation die Exekution nicht anginge: Wenn man hier keine Härte zeigte und das reichshofrätliche Votum nicht zur Geltung bringen, sondern den Fall gewissermaßen versanden ließe, dann müsse man sich in der Appellation des Domkapitels schon gar nicht mehr bemühen.
III. Resümee Friedrich Wilhelm I. knüpfte sowohl in der „konfessionellen Reichspolitik“ – beispielsweise gegenüber der Reichsabtei Werden – als auch in seiner territorialen Politik gegenüber den katholischen Minderheiten in Minden, Halberstadt und Magdeburg an die Politik seines Vaters und Vorgängers an. Dabei waren weder die Androhung reichspolitischer „Vergeltungsmaßnahmen“ noch die tatsächlich ausgeführten landesherrlichen Edikte bemerkenswert radikaler als diejenigen, die Friedrich I. verfügt hatte. Allerdings veränderte sich der Fokus der Berliner Politik, indem sich die mit Beginn der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. eingeführten Maßnahmen auf weitere Zugriffe des Fiskus auf die katholischen Besitzungen sowie auf die Verpflichtung, Einquartierungen zu akzeptieren, konzentrierten und damit ganz im Zeichen der politischen Schwerpunktsetzungen des jungen Königs standen.208 So machen bereits die hier untersuchten Beschwerden und Klagen landsässiger Untertanen deutlich, dass sowohl die nach 1713 ausgesprochenen Drohungen als auch deren Exekution gegen die katholischen Korporationen in Magdeburg, Halberstadt und Minden keine Phänomene waren, die erstmals mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. zu beobachten wären. Vielmehr gingen die zahl 206
Reichshofratsgutachten vom 19.12.1724, HHStA, RHR, Vota 21-4. Vgl. Schenk, Reichsjustiz, S. 190–196. 208 So gingen die Klagen über Einquartierungen eindeutig auf einen königlichen Erlass vom 16. Juni 1713 zurück; vgl. Lehmann, Preussen 1, Nr. 182, S. 245, Anm. 1. 207
III. Resümee
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reichen Beschwerden der Betroffenen zu einem großen Teil auf Regierungsakte aus der Zeit Friedrichs III./I. zurück. Doch die Reaktionen aus Wien auf alle diese Drohungen, Dekrete und Erlasse fielen seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. erheblich nachdrücklicher aus als noch einige Jahre zuvor. Zudem intensivierte sich die Bereitschaft der katholischen Untertanen, gegen ihren Landesherrn vor dem Reichshofrat zu klagen. Die erhöhte Aufmerksamkeit, mit der man in Wien nicht nur die Reichspolitik, sondern auch die territoriale Konfessionspolitik Berlins beobachtete, und vor allem der offensichtlich vorhandene politische Wille, auf diese zu reagieren, lassen sich aber nicht nur mit den im Zuge der Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges geänderten politischen Rahmen bedingungen und Bündnissen erklären. In die Auseinandersetzungen zwischen Friedrich Wilhelm I. und dem katholischen Klerus in Halberstadt spielte die angespannte diplomatische Stimmung zwischen Wien und Berlin hinein, deren Ursachen wiederum ganz wesentlich in der intensivierten Ausübung der kaiserlichen Gerichtsbarkeit begründet lagen. Hinzu kam die allgemein seit Beginn des 18. Jahrhunderts anwachsende konfessionspolitische Krisenstimmung im Reich, in deren Zusammenhang sich das Corpus Evangelicorum als ein zentraler – und die kaiserliche Macht bedrohender – Akteur etabliert hatte, sowie ganz konkret die von Friedrich Wilhelm I. gleichsam in „Eigenregie“ angedrohten Reaktionen auf die konfessionspolitischen Bestimmungen des Badischen Friedens. Anders als noch unter Friedrich III./I. wurden nun potentiell sämtliche landesherrliche Maßnahmen gegen katholische Einrichtungen gewissermaßen als Teil der – bislang nur angedrohten – protestantischen Reaktion auf den Frieden von Baden gelesen, nachdem der neue König seine katholischen Untertanen selbst als „Vergeltungsobjekte“ ins Spiel gebracht hatte. Entsprechend nachdrücklich fielen die Reaktionen aus Wien bereits in den hier untersuchten Fällen aus, obwohl zu diesem Zeitpunkt der preußische König noch nicht im Kontext des Corpus Evangelicorum agierte, mithin auch noch nicht das später gern genutzte Argument verwendete, die brandenburg-preußischen Maßnahmen gegenüber den eigenen katholischen Untertanen seien lediglich Teil der korporativen Politik sämtlicher evangelischer Reichsstände. Das gesteigerte Misstrauen auf allen Seiten erleichterte es wiederum den katholischen Supplikanten und ihren Fürsprechern aus den Reihen der kurialen Diplomatie bereits vor 1719/20, ihre Beschwerden in den Kontext einer befürchteten anti-katholischen Offensive zu stellen, selbst wenn es sich zu weiten Teilen um ältere Gravamina handelte, die in die Zeit vor 1713 zurückreichten.209 209
Dies sei gegenüber Peters, Der preußische Fiskus, S. 231, betont, der mit Blick auf die unter Friedrich III./I. und Friedrich Wilhelm I. verfolgte Politik gegenüber den Halberstädter Klöstern und Stiften die Bedeutung des konfessionellen Moments äußerst gering veranschlagt und ein harmonisierendes Fazit zieht, das die Rolle der katholischen Minderheit für die grundsätzlichen Auseinandersetzungen zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaisertum unterschlägt: „… letztlich waren König und königliche Amtsträger bemüht, die Konflikte [mit den katholischen Klöstern] nicht gewaltsam zu lösen. Wenn nötig waren sie bereit, sich auf eine juristische bzw. politische Auseinandersetzung einzulassen. Und das war ein mühseliger und jahrelanger Prozess.“
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D. Brandenburg-Preußen im Zeichen der konfessionellen Krise
Es ist in diesem Kontext bemerkenswert, dass sich auch das Verhältnis zwischen Brandenburg-Preußen und Pfalz-Neuburg hinsichtlich der Konfessionskonflikte in den jülich-klevischen Landesteilen ab 1708, besonders deutlich aber ab 1712 verschlechtert hatte, dass sich also auch in diesen konfessionsrechtlich vom Rest des Reiches unterschiedenen Gebieten der konfessionelle Gegensatz in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts merklich verstärkte.210 Diese Entwicklungen setzten demnach auch in Kleve-Mark nicht erst mit der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. ein, der vielmehr auch hier die Politik seines Vaters fortführte. Allerdings radikalisierte sich unter Friedrich Wilhelm I. die brandenburg-preußische Konfessionspolitik gegenüber den Katholiken auch in Kleve insofern, als nun auf beiden Seiten (also sowohl von Brandenburg-Preußen als auch von Pfalz-Neuburg) anscheinend vermehrt auf die im so genannten „Bielefelder Rezess“ von 1672 vorgesehenen Zwangsmaßnahmen (Repressionen) zurückgegriffen wurde und sich zudem der Schwerpunkt der brandenburg-preußischen Kirchenpolitik gegenüber den Katholiken auch in Kleve-Mark immer mehr darauf konzentrierte, der Landesherrschaft den finanziellen Zugriff auf geistliche Korporationen zu ermöglichen.211 Auch die Verschärfung der konfessionellen Gegensätze in Jülich-Kleve scheint mithin von der allgemeinen „Konfessionalisierung der Reichspolitik“ seit Beginn des 18. Jahrhunderts beeinflusst gewesen zu sein; oder, anders ausgedrückt: mit der Zuspitzung des katholisch-protestantischen Gegensatzes auf Reichsebene ging offenbar eine rigidere Politik Brandenburg-Preußens gegenüber den eigenen katholischen Untertanen nicht nur in Halberstadt, Minden und Magdeburg, sondern auch in den niederrheinischen Territorien einher. Im Gegensatz zu den im Zuge des Westfälischen Friedens an Brandenburg gekommenen Gebieten wurden allerdings in Kleve-Mark aufgrund der bestehenden Religionsreversalien die Religionsstreitigkeiten zwischen Katholiken und Reformierten zumindest bis zu Beginn der reichsweiten Konfessionskrise 1719 gemeinhin ohne Beteiligung der höchsten Reichsgerichtsbarkeit bzw. ohne Einschaltung des Kaisers ausgehandelt und spielten sich gewissermaßen jenseits der allgemeinen Debatte über die korrekte Auslegung des Westfälischen Friedens und die damit verbundene Frage nach der Rolle der Reichsgerichte in Konfessionskonflikten ab.212 In Magdeburg, Minden und Halberstadt hatte Friedrich Wilhelm I. dagegen selbst seine territoriale Kirchenpolitik gegenüber den durch die Normaljahresbestimmung des Westfälischen Friedens geschützten Katholiken bereits 1714 explizit in einen reichspolitischen Kontext gestellt. Diese Politik stieß in Wien auf Widerstand in Form weiterer Reichshofratsverfahren und kaiserlicher Mahnschreiben, zugleich erlaubte sie dem König aber, seine landesherrlichen Maßnahmen gegen die katho-
210
Vgl. auch zum Folgenden Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 154–173. Weber, Konfessionelle Konflikte, belegt diese Aussage allerdings nur anhand von zwei Fällen: S. 172, Anm. 638; S. 640, S. 179–196. 212 Zu den Entwicklungen in Jülich-Kleve ab 1719 im Kontext des Religionsstreites vgl. Kap. E. II. 3. 211
III. Resümee
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lische Kirche als Reaktion auf vorausgegangene Rechtsverletzungen seitens der Katholiken im Reich insgesamt darzustellen. Indem er ankündigte, seine eigenen katholischen Untertanen – wiederum nach dem Vorbild Friedrichs I. –, als Faustpfand im Rahmen der gesamtprotestantischen Bemühungen um eine Revision des Badischen Friedens zu verwenden, konnte Friedrich Wilhelm I. sich zudem innerhalb des Lagers der evangelischen Reichsstände profilieren. Die von Friedrich Wilhelm I. verfolgte Politik muss mithin im Zusammenhang mit dem sich zwischen 1715 und 1718 immer weiter zuspitzenden konfessionellen Gegensatz im Reich verstanden werden; sie wurde von diesen Entwicklungen beeinflusst, verstärkte diese aber auch gleichzeitig. Damit zeichnet sich bereits hier eine Tendenz ab, die sich während des Religions- und Verfassungsstreits der Jahre ab 1719 noch wesentlich steigern sollte.213 Parallel zu diesen Entwicklungen und als direkte Folge der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Berlin und Wien zunehmend. Sowohl das durch den Reichsfiskal am Reichshofrat angestoßene Verfahren gegen Thomasius als auch sämtliche Fälle, in denen katholische Untertanen am Reichshofrat gegen den König klagten, erlaubten es der Berliner Politik, dem kaiserlichen Gericht implizit oder explizit den Vorwurf konfessioneller Parteilichkeit zu machen. Einmal am Beispiel dieser Verfahren so grundsätzlich in Frage gestellt, ließ sich der Reichshofrat aber allgemein als parteiisch diskreditieren und – zumindest implizit – der Verdacht der Parteilichkeit für sämtliche Verfahren anführen, auch für solche, bei denen die Parteien derselben Konfession angehörten bzw. die keinen genuin konfessionspolitischen Gehalt besaßen. Dabei ging der von Friedrich Wilhelm I. häufig geäußerte Verdacht, einige Reichshofräte sowie insbesondere der Reichsvizekanzler Schönborn hegten gegen ihn persönlich Vorurteile, mit dem Vorwurf konfessioneller Parteilichkeit Hand in Hand: Maßgeblich im prononcierten Protestantismus Friedrich Wilhelms I. bzw. Branden burg-Preußens läge der „Hass“ begründet, der ihm in Wien – und besonders durch den Reichsvizekanzler Schönborn als Vertreter von Kaiser und römischer Kirche – entgegenschlage.214 Dieses negative „Image“ Schönborns gründete nicht zuletzt in der Vorstellung, die Loyalitäten des Reichsvizekanzlers als eines katholischen Geistlichen gälten mindestens im gleichen Maße dem Papst wie dem Kaiser, und die starke Abneigung Schönborns gegen das protestantische Brandenburg-Preußen führe dazu, dass Friedrich Wilhelm I. auch beim Kaiser in ein schlechtes Licht gerückt würde.215 Aus Wiener Perspektive dagegen wurden die seit Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. verstärkt verfolgte Zurückdrängung der kaiserlichen Rechtspre 213
Vgl. dazu Kap. E. So etwa die Einschätzung in einem Reskript an Metternich, Berlin, 4.11.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 290, Bl. 19–20. 215 Explizit formuliert wird diese Meinung etwa in einem Reskript an Canngiesser [Resident in Wien seit 1720], Berlin, 13.2.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 288, Bl. 30; ausführlicher zu dieser Thematik s. Kap. E. 214
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D. Brandenburg-Preußen im Zeichen der konfessionellen Krise
chung aus den brandenburg-preußischen Territorien und der betonte Protestantismus bzw. Antikatholizismus als besonders besorgniserregend eingeschätzt. Denn spätestens seit 1713/14 verband sich der individuelle Kampf BrandenburgPreußens gegen den Reichshofrat mit jenem des Corpus Evangelicorum, das die Jurisdiktion der höchsten Gerichtsbarkeit in „Religionsangelegenheiten“ während dieser und der folgenden Jahre immer systematischer in Frage stellte; besonders deutlich wird dies an der Klage des Halberstädter Domkapitels, die aus einer Zeit stammte, als die vom Corpus Evangelicorum vertretene Verfassungsinterpretation gewissermaßen „ausgereift“ war. Zudem war es an erster Stelle das mächtige Brandenburg-Preußen, das in den Augen des katholischen Reichsadels, der in den geistlichen Territorien herrschte, die größte Gefahr für die traditionelle, die kleineren Territorien schützende Forma imperii darstellte; und in dieser Hinsicht hatten sich insbesondere die Schönborn bereits über Friedrich III./I. voller Sorge geäußert. Schon die von Friedrich III./I. unternommenen Versuche, im Fränkischen Reichskreis Fuß zu fassen, waren von den Schönborn als immense Gefahr für den Kreis, aber auch für das ganze Reich in seiner hergebrachten Form bewertet worden – immer aufs Engste verbunden mit der Sorge vor der Unterdrückung der geistlichen Fürstentümer und der katholischen Religion.216 Jegliche Eingriffe in das Reichsherkommen – und gar eine systematische Einschränkung bzw. Infragestellung des kaiserlichen Richteramtes – wurden aber zudem tendenziell als Symptome für den Willen der evangelischen Potentiores, den Reichsverband zu ihren eigenen Gunsten umzugestalten, gelesen bzw. dargestellt.217 Zwar ist die skizzierte Sicht der katholisch-geistlichen Reichsstände auf das Reich bzw. dessen Bedrohung durch die großen evangelischen Territorien nicht ohne weiteres mit derjenigen des Kaiserhauses gleichzusetzen, wenngleich sicherlich eine hohe Interessenkonvergenz zwischen dieser für den Kaiser nach wie vor wichtigen Klientel und seinen eigenen reichspolitischen Interessen bestand. Doch die Besetzung zweier reichspolitischer Schlüsselpositionen – die des Mainzer Erzkanzlers und des Reichsvizekanzlers – mit Mitgliedern der Familie Schönborn prägte die kaiserliche Reichspolitik zumindest in der ersten Hälfte der Regierungszeit Karls VI. maßgeblich. Gerade an der Vereitelung aller Pläne der Hohenzollern, Standschaft im Fränkischen Reichskreis zu erlangen, lässt sich der Einfluss der Schönbornschen Interessen auf die kaiserliche Reichspolitik ablesen. Aber auch abgesehen von der ständigen Sorge vor einem weiteren Ausgreifen BrandenburgPreußens im Reich – mit allen damit verbundenen potentiellen Konsequenzen für die katholische Religion –, die auch der Kaiser nicht wünschen konnte, berührte Friedrich Wilhelm I. mit der immer offener artikulierten Ablehnung kaiserlicher Rechtsprechung einen neuralgischen Punkt des kaiserlichen Amtes, und zwar in einer wesentlich aggressiveren und vielfach konfessionalisierteren Form und Spra 216
Vgl. Kap. C. III. Vgl. Schröcker, Ein Schönborn, S. 13; dies hat Gotthard, Der Große Kurfürst, S. 46–47, bereits für das späte 17. Jahrhundert gezeigt. 217
III. Resümee
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che, als dies während der Regierung Friedrichs I. der Fall gewesen war. Auch jenseits aller auf beiden Seiten zu konzedierenden konfessionellen Polemik konnte eine nur einigermaßen ambitionierte kaiserliche Reichspolitik einer derartig offen formulierten Zurückweisung der kaiserlichen Autorität nicht tatenlos zusehen. Stand eine solche „Reichsjustiz-feindliche“ Politik aber noch dazu zu weiten Teilen unter konfessionellen Vorzeichen und verband sich dadurch potentiell mit den immer stärker werdenden Strömungen innerhalb der evangelischen Reichsrechtslehre, den Reichstag in allen „Religionssachen“ anstelle des Kaisers als rechtmäßige Instanz zu etablieren, so mussten Kaiser und Reichshofrat entschieden dagegen vorgehen. Sowohl die Zurückweisung der kaiserlichen Rechtsprechung als auch die Auseinandersetzungen mit Rom über die strittigen geistlichen Rechte der Kurfürsten-Könige lassen sich mithin unter die Stichworte „Staatswerdung und Integration“ subsumieren. Vergleichbare Abwehrbewegungen der sich entwickelnden Staaten gegen übergeordnete Mächte – seien sie geistlicher, seien sie weltlicher Natur – lassen sich freilich in ganz Europa beobachten. Im Falle Brandenburg-Preußens konnten sich diese aber unter bestimmten politischen Bedingungen besonders gut anti-katholisch gerieren, und zwar mit doppelter Stoßrichtung: gegen Wien wie auch gegen Rom.218 Keine andere evangelische Dynastie im Reich herrschte eben über eine so große Anzahl katholischer Untertanen und vor allem über so zahlreiche katholische Korporationen mit Landstandschaft und entsprechenden Privilegien. Die im reichsweiten Vergleich sehr hohe Zahl katholischer Untertanen bot den brandenburg-preußischen Herrschern die Möglichkeit, sich als besonders „evangelisch“ im anti-katholischen Sinne zu präsentieren und gleichzeitig einen wichtigen Bereich ihrer Herrschaft, nämlich die Landeshoheit im Geistlichen, immer wieder diskursiv-symbolisch zu befestigen. In den durch den Westfälischen Frieden an Brandenburg gefallenen Gebieten kam im Unterschied zu Kleve-Mark hinzu, dass die dortige katholische Minderheit unter dem Schutz des Westfälischen Friedens stand und die Hohenzollern hier an keine weiteren spezifischen Verträge gebunden waren. Diese Konstellation war für die Auseinandersetzung mit Wien von entscheidender Bedeutung. Denn auf der einen Seite erlaubte sie dem Kaiser ein stärkeres Eingreifen zugunsten der katholischen Untertanen; auf der anderen Seite konnten die Hohenzollern die Abwehr der reichsgerichtlichen Jurisdiktion in diesen Territorien mit ihrer Konfessionspolitik im Inneren und ihrer „konfessionellen Reichspolitik“ zugunsten des durch den Westfälischen Frieden geschützten Protestantismus im Reich verbinden. Außerdem waren die Katholiken in Magdeburg, Minden und Haberstadt ganz offensichtlich von der römischen Amtskirche und Hierarchie wesentlich mehr abgeschnitten als dies für die zahlreichen Katholiken am Niederrhein galt. Während in Kleve zumindest in der Praxis ein Kompromiss zwischen den landes-
218 So lassen sich etwa für die Ablehnung der vom Kölner Erzbischof beanspruchten Rechte im Geistlichen in Kleve zahlreiche Belege anführen; vgl. ausführlich Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 221–369.
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D. Brandenburg-Preußen im Zeichen der konfessionellen Krise
herrlichen und den diözesanen Ansprüchen gefunden worden war, indem die meisten Amtshandlungen vom Xantener Archidiakon oder von Kölner Weihbischöfen durchgeführt wurden,219 befanden sich die Katholiken in Magdeburg, Minden und Halberstadt hinsichtlich der Kontrolle durch die kirchlichen Obrigkeiten in einer Art Vakuum, das es den Hohenzollern erleichterte, ihr Jus episcopale gerade hier gegenüber Rom besonders demonstrativ zu beanspruchen. Bereits der Große Kurfürst hatte unmissverständlich seine Ansprüche, Summus episcopus in seinen Landen zu sein, gegenüber dem Papsttum formuliert; und Friedrich I. hatte im Zuge der Verhandlungen mit Rom über ein brandenburg-preußisches Vikariat die Gelegenheit genutzt, ausführlich seine Auffassung über die ihm zustehende geistliche Jurisdiktion darzustellen. Seit 1701 aber wurde in allen Auseinandersetzungen mit Rom neben dem summepiskopalen Anspruch der Hohenzollern zudem die Legitimität der preußischen Königskrone „mitverhandelt“. Die Weigerung der Kurie, die königliche Würde anzuerkennen, ermöglichte es Berlin in der Auseinandersetzung mit dem Papsttum, die mit der Königswürde verbundenen Souveränitätsansprüche öffentlichkeitswirksam in Szene zu setzen – ein sprechendes Beispiel dafür bieten die langwierigen Auseinandersetzungen um den Kölner Residenten und dessen völkerrechtlichen Anspruch auf die öffentliche Feier des reformierten Gottesdienstes. In diesem Zusammenhang präsentierte sich das junge Königtum gleichzeitig anti-römisch und im wörtlichen Sinne ganz wesentlich evangelisch, ja dezidiert reformiert.220 Dass sich die seitens Berlins symbolträchtig in Szene gesetzten Ansprüche mindestens im selben Maße wie an Rom auch an den Reichsverband richteten, wurde am energischen Eingreifen des Kaisers bzw. des Reichshofrats im Zusammenhang des Kölner Residentenstreites deutlich. Denn was die Auseinandersetzungen um den reformierten Gottesdienst in Köln gezeigt hatten, dass nämlich Friedrich I. und seine Nachfolger die königliche Würde auch im Reich, also im Verkehr mit den übrigen Reichsständen wie mit dem Reichsoberhaupt, „nutzen“ würden, war eine der großen Sorgen der Wiener Reichspolitiker bereits im Vorfeld der Krönung gewesen. Im Kölner Streitfall allerdings wurde diese Spannung zwischen dem auch innerhalb des Reichsverbandes deutlich gemachten Anspruch auf königliche Souveränität und dem Kaiseramt bzw. den Rechten der übrigen Reichsstände nur indirekt verhandelt; die direkte Konfrontation fand vielmehr zwischen Berlin und Rom bzw. zwischen Wien und den vermittelnden Mächten statt. Dennoch wurden die sensiblen Punkte in Bezug auf das Verhalten Friedrichs I. vom Reichshofrat deutlich benannt: Sowohl der Anspruch auf „königliches Traktament“ als auch die Ankündigung, die katholischen Klöster im eigenen Machbereich für den Disput mit der Reichsstadt Köln (der faktisch ein Disput mit Rom war) büßen zu lassen, erregten damals große Besorgnis in Wien. Dagegen waren die zahlreichen Gelegenheiten, bei denen Friedrich Wilhelm I. praktisch seit Beginn seiner Regierungszeit die kaiserliche Gerichtsbarkeit zu be 219
Vgl. ebd., S. 274–285, 309. Auch zum Folgenden: Vgl. Kap. B. II. 2. d).
220
III. Resümee
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hindern suchte bzw. offensiv und unter anderem mit Verweis auf seine königliche Würde zurückwies, direkte Auseinandersetzungen mit dem Kaiser bzw. mit dessen Gericht. Das Verfahren gegen Thomasius und die „katholische Klagewelle“ seit 1715 aber boten Friedrich Wilhelm I. neben dem Verweis auf seine landesherrlichen Befugnisse die – im aktuellen politischen Klima durchaus plausible – Argumentationsmöglichkeit, der Reichshofrat lege das kaiserliche „Anti-Schmäh-Edikt“ ausschließlich gegen die Protestanten aus bzw. sei schon deswegen als „katholische Partei“ zu betrachten, weil der Kaiser von den katholischen Klöstern als ihr besonderer Schutzherr angesprochen wurde. Sowohl in den Auseinandersetzungen mit Rom als auch mit Wien kam den katholischen Klöstern im brandenburg-preußischen Machtbereich eine Schlüsselstellung zu, denn diese stellten für das Papsttum wie für das Kaisertum wichtige Bollwerke des Katholizismus bzw. der ständischen Rechte im hohenzollernschen Machtbereich dar. Freilich waren die katholischen Klöster weder quantitativ noch hinsichtlich ihres politischen Einflusses eine ausschlaggebende Größe unter den Ständen in Halberstadt, Magdeburg und Minden. Aber sie repräsentierten eben zweierlei: neben der katholischen Minderheit immer auch die nach wie vor politisch relevante Existenz der Landstände innerhalb der Territorialfürstentümer. Auch diesen Zusammenhang verdeutlicht besonders gut der Prozess um die Residenzpflicht des Halberstädter Domkapitels, bei dem die Kläger mehrheitlich ja nicht katholisch waren, wo aber den wenigen katholischen Domherren von allen Beteiligten besonderes Gewicht beigemessen wurde. Grundsätzlich waren es solche Auseinandersetzungen zwischen mediatem Adel und Landesherrn, die es dem Kaiser als Garanten ständischer Rechte bis weit ins 18. Jahrhundert ermöglichten, Einfluss auf die Territorialfürstentümer auszuüben – und das galt selbst für ein Territorium der Größe Brandenburg-Preußens, wie auch die Auseinandersetzung um die Allodifikation der Lehen eindrücklich belegt. Im Falle der Halberstädter Klöster stand neben den ständischen Rechten aber auch die Konfessionsfrage, kam also zur ständischen die besondere religiöse Schutzpflicht des Kaisers hinzu. Die Rolle des Kaisers als Defensor ecclesiae aber wurde durch das konfrontativ-konfessionelle Profil, das Brandenburg-Preußen unter Friedrich Wilhelm I. im Zuge der allgemeinen Rekonfessionalisierung der Reichspolitik noch deutlicher als unter Friedrich III./I. zeigte, gewissermaßen aktiviert – und umgekehrt die Identifikation der Klöster mit der „katholisch-traditionellen“ Reichsvorstellung. Die Fragen, die zwischen Rom und Berlin sowie zwischen Wien und Berlin in allen hier betrachteten Auseinandersetzungen verhandelt wurden, waren im Kern verfassungsrechtliche Fragen. Da Konfessionsrechte im Reich aber einen verfassungsrechtlichen Rang besaßen, konnten umgekehrt Fragen des Verfassungsrechtes – also solche der Landeshoheit im Geistlichen, der Königswürde oder der Justizverfassung – immer auch dann in konfessionellen Termini ausgetragen werden, wenn sich mit den Parteien gleichzeitig unterschiedliche Konfessionsgruppen
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D. Brandenburg-Preußen im Zeichen der konfessionellen Krise
gegenüberstanden. Für diese Form der Konfrontation aber besaß die Tatsache, dass die Hohenzollern über eine von den Bestimmungen des Westfälischen Friedens geschützte katholische Minderheit herrschten, großes Gewicht und konnte von den unterschiedlichen Seiten immer wieder als politischer Hebel aktiviert werden.
E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien. Brandenburg-preußische Reichspolitik vom Beginn des Religionsstreits bis zur Allianz mit dem Kaiser (1715–1728) I. Brandenburg-Preußen und das Kaisertum. Zwei Denkschriften aus dem frühen 18. Jahrhundert In den Jahren 1716 und 1721 entstanden in Wien und Berlin zwei Denkschriften über das Verhältnis beider Höfe zueinander, die in vielerlei Hinsicht als komplementär gelten können.1 Der Berliner „Aufsatz des Etats-Ministri von Ilgen, von den gefährlichen Absichten des Hauses Österreich gegen das Haus Brandenburg“ stammt höchstwahrscheinlich von 1716;2 sein Gegenstück, der „Brevis Conspectus rerum gestarum in Aula Berolinensi ab anno 1712 usque ad praesentem 1721“3 wurde von dem langjährigen kaiserlichen Residenten in Berlin, Chrisoph Andreas Voss,4 verfasst und richtete sich an den Reichsvizekanzler Schönborn. Zwar liegen die beiden Texte hinsichtlich ihrer Entstehungszeit einige Jahre auseinander und betrachten demnach das Verhältnis des Königs in Preußen zum Kaiser bzw. Kaisertum in unterschiedlichen Situationen. Doch handelt es sich zum einen in beiden Fällen um Analysen, die ausschließlich zum internen Gebrauch bestimmt waren; zum anderen aber behandeln beide Gutachten mehr oder weniger explizit die Frage, aus welchen Gründen die Beziehungen zwischen dem preußischen König und dem Kaiser sich bereits bis 1716, noch drastischer allerdings bis 1721, verschlechtert hatten. Beide Texte unterscheiden sich mit Blick auf Form, Stil und Argumentationsgang deutlich voneinander. In dem vor Ausbruch des Religionsstreits angefertigten „Aufsatz“ Ilgens wird gleich zu Beginn der Religion eine entscheidende Bedeutung für das Verhältnis des „Hauses Brandenburg“ zum „Hause Österreich“ zuge 1 Vgl. dazu auch Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 216, Anm. 15, der die Texte aber nicht ausführlich bespricht. 2 Die Denkschrift von Ilgen mit dem Titel „Aufsatz des Etats-Ministri von Ilgen von den gefährlichen Absichten des Hauses Österreich gegen das Haus Brandenburg 1716“ befindet sich im GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 264; sie ist abgedruckt bei: Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 4, S. 309–317. Im Folgenden wird nach der Druckversion bei Droysen zitiert, die im Vergleich zur handschriftlichen Überlieferung lediglich vorsichtige Anpassungen der Rechtschreibung enthält. 3 Der Text befindet sich im HHStA, Brandenburgica 29, Fasz. 1; im Folgenden zitert als: Brevis Conspectus. 4 Christoph Andreas Voss (auch Vossius) war kaiserlicher Resident in Berlin von August 1713 bis Dezember 1721; vgl. Hausmann, Repertorium, S. 76.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
schrieben. Der Neid der römischen Kaiser auf die immer weiter wachsende Macht der Hohenzollern habe sich immer auch auf diesem Gebiet geäußert: Nachdem die Brandenburger die Reformation in ihren Landen eingeführt und ihre Macht durch die Säkularisierungen nochmals vergrößert hatten, „fiel auf einmal alle Confidentz der damaligen Kaiser gegen das Haus Brandenburg übern Haufen, und dieselbe hat sich auch bis diese Stunde nicht wieder gefunden, dörffte sich auch schwerlich wieder finden, so lange das Licht des Evangeliums in den brandenburgischen Landen scheinet und die Könige in Preußen einer der mächtigsten Protectores derselben Religion bleiben …“.5 Es habe sich also seit dem 16. Jahrhundert eine grundsätzliche – sowohl in als auch mit der Religion begründete – Missgunst der Kaiser gegen die brandenburgischen Kurfürsten gehalten, und diese sei auch bei anderen „Gelegenheiten“ deutlich hervorgebrochen: Die Jülich-Clevische Erbfolge habe den nächsten Anlass geboten, „da die österreichischen Kaiser dem Interesse des Hauses Brandenburg sich weiter contrair bezeiget“.6 Als klaren Beweis für die bösen Absichten des Kaiserhauses in dieser Angelegenheit verweist Ilgen bemerkenswerterweise auf ein Gutachten von 1609, das von dem damaligen Reichsvizekanzler Lewin von Ulm verfasst und – laut Ilgen – vom Großen Kurfürsten „vor eine considerable[n] Summe Geldes […] in Wien erkauft“ worden sei. Diesem angeblichen Gutachten zufolge (das später unter dem Namen „Stralendorfsches Gutachten“ bekannt werden sollte) hätte man zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Wien die brandenburgischen Rechtstitel auf die jülich-klevische Erbschaft zwar ausdrücklich anerkannt, aus Eifersucht und religiösen Erwägungen aber beschlossen, die Protestanten gegeneinander auszuspielen, um so zu verhindern, dass Brandenburg Jülich-Kleve erhalte.7 Die nächste Erfahrung dieser Art habe man unter dem Großen Kurfürsten machen müssen, als der Kaiser, entgegen seinen Versprechungen, Brandenburg nicht zu Pommern verholfen habe. Besonders intrigant habe sich der kaiserliche Hof aber in der Frage der schlesischen Fürstentümer verhalten: Diese Erbansprüche habe der Kaiserhof dem Großen Kurfürsten mit der Aussicht auf den Kreis Schwiebus und Expektanzen in Ostfriesland sowie unter größter Schmeichelei ausgeredet und ihn gleichzeitig davon überzeugt, eine Allianz mit dem Kaiser – zum Besten des Reiches – einem französischen Bündnis vorzuziehen. Noch während aber am kaiserlich-brandenburgischen Vertrag gearbeitet wurde, habe man von Wien aus den damaligen Kurprinzen und späteren König Friedrich umgarnt und dazu überredet, sich darauf zu verpflichten, sobald er die Regierung angetreten habe, den Schwiebuser Kreis wieder zurückzugeben.8 Doch erst unter Joseph I. und Karl VI. habe der Kaiserhof „wieder das hiesige Königl. Haus sich gantz demasquieret, und die vorgegebene Kayserliche Autoritaet 5
Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 4, S. 311. Ebd. 7 Ebd. Zu diesem Text vgl. ausführlich das Exkurs-Kap. am Ende dieses Buches. 8 Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 4, S. 311–314. 6
I. Brandenburg-Preußen und das Kaisertum
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und das Kayserl. Ambt so weit poussiret, als man es immer bringen können …“.9 Im Vergleich dazu habe sich der „Hass“ der Habsburger gegen das Kurhaus unter Kaiser Leopold „noch ziemlich verstellet“ – primär mit Rücksicht auf die Kriege Österreichs gegen die Türken und Franzosen, in denen der Große Kurfürst und Friedrich III./I. den Kaiser maßgeblich unterstützt hätten.10 Damals habe man es auch noch so einrichten können, „daß man zu Wien zu vielen Dingen durch die finger sahe“.11 Seither habe sich aber auch die Macht des Kurhauses nochmals merklich gesteigert, so dass nun offenbar die Furcht vor Brandenburg-Preußen in Wien vorherrsche. Man wisse in Berlin wohl, dass am kaiserlichen Hof schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt worden sei, „daß wenn das Chur Hauß Brandenburg nicht in allem so fort dem Willen des Kaysers sich submittiren wolle, das Reich ersucht werden sollte, dem Hause Brandenburg alle seine […] jura succedendi aufzuheben und gäntzlich zu cassiren“.12 Ein Beispiel jüngsten Datums, wie die Kaiser mit gut begründeten Erbrechten Brandenburgs im Reich umsprängen, böten die Erbansprüche des Hauses Brandenburg in Franken: Mit dem Misstrauen, das der Wiener Hof den beiden Markgrafen von Bayreuth und Ansbach, dem ganzen Fränkischen Reichskreis, besonders aber den beiden Kulmbacher Prinzen eingeflößt habe, sei dem Haus Brandenburg größter Schaden entstanden.13 Schließlich gebe aber die (aktuelle) Limpurgische Sukzessionsfrage „eine Probe von des Kayserl. Hoffes vor das hiesige Hauß führende intention“.14 Im Kontext des Kaisertums Leopolds I. wird von Ilgen auch die preußische Königskrone diskutiert. Tatsächlich habe dieser Kaiser, so Ilgen, Friedrich I. in der Frage der „königlichen Dignität“ sehr bevorzugt behandelt. Doch habe der Kaiserhof sich bei der Krönungsfrage nur deswegen so entgegenkommend gezeigt, weil man in Wien der (fälschlichen) Meinung gewesen sei, dass sich Friedrich I. in der europäischen Fürstengesellschaft mit seinem Titel ohnehin niemals werde durchsetzen können, sondern sich vielmehr „in das äußerste embarass setzen [würde]“.15 Wie schon in einer ausführlichen Denkschrift über die Erlangung der Königskrone von 170416 betont Ilgen auch in diesem Aufsatz, dass der Kaiser zwar gerne das preußische Königtum aus eigener Machtvollkommenheit „geschaffen“ hätte, indem er das alte Recht der Kaiser, Könige „zu machen“, wieder aufleben lassen wollte. Doch habe der Kaiser davon abgesehen, als er realisierte, dass Friedrich III. auch ohne den Kaiser seinen Königstitel erlangen würde. Obwohl Leopold I. nach Ilgens Auffassung also gleichsam gar keine andere Wahl gehabt habe, als Friedrich III. die Krone zuzugestehen, so hätten die kaiserlichen Minister später dennoch bei 9
Ebd., S. 315. Ebd., S. 314. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 315–316 14 Ebd., S. 316. 15 Ebd., S. 314. 16 Lehmann, Preussen 1, Nr. 418, S. 548–561 (Denkschrift von Ilgen über die Erwerbung der königlichen Dignität, 1704), bes. S. 554. 10
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
vielen Gelegenheiten bereut, dem Haus Brandenburg zu dieser Würde verholfen zu haben.17 Denn, so Ilgen, durch die Krone sei Friedrich I. von Kaiser und Reich „ganz independent“ geworden – zumindest „was seine Persohn und die königliche Familie belanget“.18 Denn mit der preußischen Krone sei eben eine königliche Dynastie geschaffen worden, die – wie auch immer sich die Beziehungen zwischen dem Kaisertum und dem Haus Brandenburg in Zukunft gestalten sollten – bestehen bleiben würde. Das von Voss verfasste Gutachten ist, im Gegensatz zur Ilgenschen Denkschrift und entgegen seines suggestiven Titels nicht „brevis“, sondern mit über hundert Seiten sehr ausführlich.19 Voss listet in diesem Text sämtliche diplomatischen Themen auf, die seit 1712 in Berlin durch ihn selbst oder den zeitweilig amtierenden kaiserlichen Gesandten, den Grafen Damian Hugo Virmond,20 verhandelt worden waren. Dabei geht die ganze Abhandlung von der Frage aus, wie es dazu kommen konnte, dass zwischen dem Kaiser und Friedrich Wilhelm I., obwohl dieser doch in einer „kaiserfreundlichen“ Atmosphäre erzogen und durch seinen Vater entsprechend geprägt worden sei, praktisch seit 1713 ein schlechtes Klima herrsche, „dergestalt dass die vorhin schon zwischen den Kayserl. und Preuss. Höffen obgeschwebten irrungen anstatt abzunehmen, fast täglich angewachsen sindt …“.21 Ausführlich würdigt Voss zunächst das Engagement Friedrichs I. im Spanischen Erbfolgekrieg, für das sich der Kaiser allerdings auch sehr erkenntlich gezeigt habe – unter anderem, indem er den Brandenburger Hohenzollern das Oberquartier Geldern verschafft hätte –, während Friedrich I. nicht mehr getan habe, als das, wofür er sich bekanntermaßen im so genannten Krontraktat verpflichtet habe.22 Es folgen nach Jahren zusammengefasste Ereignisse, die den diplomatischen Verkehr zwischen Berlin und Wien bestimmten. Deutlich wird im Zusammenhang des Nordischen Krieges die Missstimmung des Kaiserhofes über die Berliner Haltung beschrieben. Mehrfach habe Friedrich Wilhelm I. den Kaiser gegen sich aufgebracht: durch die Unterstützung des Herzogs von Mecklenburg, die Annäherung an den Zaren, die wechselhafte aber insgesamt ablehnende Stellung BrandenburgPreußens zur kaiserlichen Vermittlung im Norden resp. zum Braunschweiger Kongress, durch die Einnahme Stettins und vor allem, einige Jahre danach, durch die dort noch vor der kaiserlichen Investitur durchgeführte Huldigung.23 Ein ebenfalls 17
Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 4, S. 314–315. Ebd., S. 315. 19 Der „Brevis Conspectus“ ist zweifach paginiert, d. h. die Blätter sind zum einen nach der durchlaufenden Zählung der Akte paginiert (Blattnumerierung), zum anderen unabhängig vom Rest der Akte (Seitennumerierung). Im Folgenden wird auf die Seitennumerierung rekurriert; der Text umfasst insgesamt 165 Einzelseiten. 20 Damian Hugo Graf von Virmond war als kaiserlicher Gesandter zwischen Oktober 1715 und Januar 1717 in Berlin tätig und begleitete den König in dieser Eigenschaft im Zusammenhang des Nordischen Krieges auch ins Heerlager bei Stralsund; vgl. Bittner, Repertorium, S. 129. 21 Brevis Conspectus, S. 1. 22 Ebd., S. 2–9. 23 Ebd., S. 11–16. 18
I. Brandenburg-Preußen und das Kaisertum
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immer wiederkehrendes Moment der Irritation auf Seiten Wiens stellten laut Voss die gewaltsamen Werbungen in praktisch allen an die brandenburgischen Länder angrenzenden Territorien dar. Neben zahlreichen kleineren Verstimmungen, wie beispielsweise aufgrund der von Berlin nicht gezahlten Türkensteuer, werden in der Voss’schen Zusammenstellung von „Reichssachen“ immer wieder die Besetzung Werdens, der Sequester auf Mansfeld, die preußischen Schikanen gegenüber Quedlinburg sowie die vom Reichshofrat streng verurteilte Besetzung Limpurgs in Franken thematisiert – und damit sämtlich Auseinandersetzungen, in denen der Kaiser als oberster Richter und Lehnsherr gegenüber dem König agierte und die Rechte kleinerer Reichsstände gegen das mächtige Brandenburg-Preußen – zum Teil erfolgreich – verteidigte.24 Aber auch die Klagen der eigenen Landstände des Königs sprach Voss offenbar bei den Audienzen, die er bei den königichen Ministern oder dem König selbst hatte, an. Besonders wichtig scheinen dabei die Gravamina des Klerus in Halberstadt und namentlich des Klosters Hamersleben sowie der Prozess wegen der Allodifikation der Lehen gewesen zu sein.25 Bemerkenswerterweise wird die so genannte „Affaire Klement“, der die Literatur des 19. Jahrhunderts relativ große Bedeutung beigemessen hat,26 von Voss kaum erwähnt;27 lediglich vom Verlauf des Prozesses gegen den Hochstapler wird kurz berichtet.28 Als ein gewichtiger Grund für die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Kaiser und preußischem König wird diese Episode jedenfalls nicht gewertet; ebenso wenig wird der so genannten Defensivallianz, die im Januar 1719 zwischen Polen-Sachsen, England-Hannover und dem Kaiser geschlossen wurde, als eines Moments der Belastung für die Beziehungen zu Berlin gedacht. Vielmehr lässt sich der Tenor der gesamten Schrift wie folgt zusammenfassen: Der Kaiser sei dem König in Preußen in allen erdenklichen Punkten entgegengekommen und habe ihn in allen europäischen Angelegenheiten, „mehr favorisiret als gehindert“29 – der Dank für eine solch freundliche Haltung des Kaisers sei jedoch ausgeblieben. Der Grund für die Missstimmung in Berlin, mit der sich Voss offenbar auch zunehmend persönlich konfrontiert sah, könne also nur in der Behandlung der „Reichssachen“ liegen. Doch liege auch dort die Schuld freilich beim König. Es bestehe auch, so Voss, an den europäischen Höfen die „einhellige Meynung“, „daß Kayserl. Mt. in den Reichs-Sachen von dem Preuß. Hoffe allerdings tort geschehen sey“.30 Dass man die Lage der Dinge in Berlin freilich gerade umgekehrt sehe, räumt Voss gleichwohl umgehend ein. Friedrich Wilhelm I. habe sich in den zwei (!) Audienzen, 24
Ebd., S. 18–28; vgl. dazu Kap. C. III. Brevis Conspectus, S. 25–33. 26 Vgl. etwa Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 2, S. 229–247. 27 Brevis Conspectus, S. 60–61. 28 Zur Person und Biographie des ungarischen Hochstaplers Johann Michael Klement vgl. ausführlich Braubach, Geschichte und Abenteuer. Gestalten um den Prinzen Eugen, S. 218–274, darin zur „Affaire Klement“ in Berlin und zu ihren Folgen: S. 259–274. 29 Brevis Conspectus, S. 100. 30 Ebd., S. 88. 25
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
die ihm der König während seiner jahrelangen Anwesenheit am Berliner Hof gewährte, entsprechend offenherzig geäußert: Der König habe ihm gegenüber die Befürchtung formuliert, „daß Er vorm Jahr Limpurg und jetzt das Abt Werdensche abtretten müßen, also würde es alle Jahre gehen bis […] [er, der König] Preußen würde dem teutschen Orden wieder geben werde[.] müßen“.31 Der König habe Voss erklärt, er könne sich diese Haltung des Kaisers, der offenbar keine mächtigen Reichsstände dulden wolle, sondern „nur aus selbigen Edelleuthe zu machen [suche]“, bloß mit einer persönlichen Aversion Karls VI. gegen ihn selbst erklären.32 In seinem Bericht für Schönborn hält Voss mit dem Argument dagegen, dass die aktuell strittigen Reichsangelegenheiten ja überwiegend aus der Regierungszeit Friedrichs I. stammten und die Verhandlungen sich eben bis in die Gegenwart zögen. Im Übrigen aber sei in sämtlichen Reichssachen schon deswegen dem Kaiser kein Vorwurf zu machen, „weilen diejenige facta, worauff die Kayserl. Conclusa und Mandata erfolgen, von den Partheyen ordentlich eingeklagt werden müßen, und wird danach verfahren, wie es der a saeculis hergebrachte stylus curiae erheischet“.33 Anders als der Berliner Hof häufig suggerierte, würde dabei auch auf diplomatische Berichte „nicht einmahl reflectiret“ – das Justizwesen sei mithin einer eigenen Logik verpflichtet und bringe zudem seinen spezifischen Stil mit sich:34 „Die leges lassen sich auch in consiliis et deliberationibus nicht schärffer machen als sie geschrieben stehen, und wie ein Richter mit keinen complimenten umbgehet […], so kann auch in applicatione legum und expressione mandati nicht wohl gebethen oder allezeit der glimpf beybehalten werden …“.35 Hingegen sei der König ganz offensichtlich der Überzeugung, „daß S. Kayserl. Mt. mit ihme wohl durch die finger sehen mögen“; womit schließlich „nichts anders […] bedeutet werden wolle, als daß Kayserl. Mt. mit einem mächtigen Churfürsten von Brandenburg anders als mit anderen Reichs-Ständen wohl verfahren könnten“.36 Wie der König laut Bericht den Kaiser verdächtigte, eine persönliche Abneigung gegen ihn zu hegen, so sah sich auch Voss selbst der persönlichen Feindseligkeit einiger königlicher Minister ausgesetzt. Ganz besonders Ilgen (der im „Brevis Conspectus“ gewissermaßen die parallele Rolle zu jener spielt, die dem Reichsvizekanzler in den Beurteilungen durch den Berliner Hof zukommt) sei von Vorneherein gegen den Residenten eingenommen gewesen und habe diese Abneigung nur so lange notdürftig übertüncht, bis der Resident offenbar die königliche Gnade eingebüßt hatte. Diese Veränderung im Verhalten Ilgens habe sich zu dem Zeitpunkt 31
Ebd., S. 97. Ebd. 33 Ebd., S. 100–101. 34 Ebd., S. 101. Auch der Reichsvizekanzler betonte gegenüber der brandenburg-preußischen Diplomatie wiederholt, man dürfe „die Prozesse und […] dasjenige so darin vorgehet, mit den Staats-Affairen nicht vermengen“, die Reichshofratsprozesse seien also politisch nicht verhandelbar; Reskript an Burchard, Berlin, 13.12.1718, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 149, Bl. 50–51, Bl. 50. 35 Brevis Conspectus, S. 101. 36 Ebd., S. 96. 32
I. Brandenburg-Preußen und das Kaisertum
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ereignet, als „der König und seine Ministri […] angefangen, mit mehrer Freyheit gegen den Kayserlichen Reichs-Hoff-Rath zu sprechen …“.37 Tatsächlich hatte Schönborn dem Residenten Voss offenbar zu eben diesem Zeitpunkt die alleinige Behandlung der Reichshofratsprozesse in Berlin aufgetragen.38 Damit hatte der Resident freilich die Vertretung eines Bereichs der (diplomatischen) Beziehungen zwischen Berlin und Wien übernomen, die seiner individuellen Stellung am Berliner Hof mit Sicherheit nicht zuträglich war – und dafür hätte es vermutlich nicht einmal einer persönlichen Abneigung des wichtigsten Ministers gegen den Residenten bedurft. Erfolge konnte denn auch ausschließlich der zwischenzeitlich im Lager bei Stralsund und danach in Berlin als kaiserlicher Gesandter empfangene Graf Virmond vermelden: Ihm habe der König, nachdem einmal alle zeremoniellen Schwierigkeiten überwunden waren, eine öffentliche Audienz gewährt und sowohl im Falle der Geldernschen Religionsbeschwerden als auch für den Mansfelder Sequester versprochen, den kaiserlichen Forderungen Folge zu leisten.39 Die Gründe für die dramatische Verschlechterung der Beziehungen zwischen dem Berliner und dem Wiener Hof sah Voss also in den von Berlin als unangemessen empfundenen und dargestellten Handlungen des Kaisers als oberster Richter und Lehensherr.40 Der gesamte Text kann mithin als Reaktion, und zwar als Zurückweisung der geschilderten Ansprüche Friedrich Wilhelms I. auf eine „Sonderbehandlung“ in Reichsangelegenheiten verstanden werden. Bemerkenswert ist allerdings, dass trotzdem gerade jenes Argument von Voss praktisch ignoriert wird, das von Berliner Seite bevorzugt (und auch und gerade in der Ilgenschen Denkschrift) im Zusammenhang mit den diversen Differenzen mit Wien verwendet wurde: die Königskrone und die damit verbundene Dignität. Nicht, dass die kaiserliche Politik grundsätzlich die Problematik der königlichen Würde ignoriert hätte; aber der „Brevis Conspectus“ zumindest ist – entsprechend seinem Adressaten – ganz eindeutig der „Reichslogik“ verpflichtet, oder schließt doch zumindest im Rahmen seiner Argumentation alle anderen, konkurrierenden Kategorien aus. Gleichwohl konnte eine Zusammenfassung aller diplomatischen Ereignisse der Jahre 1712 bis 1721 schlechterdings nicht ignorieren, dass Brandenburg-Preußen mittlerweile eine Macht darstellte, mit der nicht nur in der Logik der Reichsverbandes, sondern auch auf der Ebene der europäischen Politik zu rechnen war; und das wurde besonders in den Verwicklungen des Nordischen Kriegs sichtbar, deren Schilderung einen großen Teil des Voss’schen Berichtes einnimmt. Doch wird diese Spannung zwischen den beiden Rollen Brandenburg-Preußens als Akteur der europäischen Politik auf der einen und als Angehöriger des Reichsverbandes auf der anderen Seite im „Brevis Conspectus“ eben gerade nicht thematisiert. Vielmehr bleibt Voss sprachlich dem Modus einer Lehensherr-Vasall-Beziehung treu. So wird zwar anerkannt, dass es 37
Ebd., S. 33, 40–42, Zitat S. 40. Ebd., S. 41. 39 Ebd., S. 38–40. 40 Ebd., S. 80. 38
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
sich im Falle Brandenburg-Preußens um einen mächtigen Kurfürsten handelt, der offenbar aufgrund seiner schieren Macht meine, anders als die übrigen Stände behandelt werden zu müssen.41 Die Königskrone ist aber dennoch für das in der vorliegenden Denkschrift verhandelte Verhältnis völlig unerheblich. Nichtsdestoweniger wird eben dieser Königstitel gleichsam nebenbei noch auf seinen Platz verwiesen, indem Voss einige Äußerungen der englischen, dänischen und französischen Diplomaten aufzählt, die zeigen sollen, wie wenig die „echten“ europäischen Monarchen den König in Preußen als einen der Ihren betrachteten. So sei ein an den französischen Regenten gerichtetes und mit „à mon cousin, le Duc d’Orléans“ adressiertes Schreiben vom französischen Gesandten mit der Bemerkung zurückgegeben worden, dass der Herzog „nicht gewohnet sey, von einem kleinen König oder Prinzen auf die arth tractiret zu werden“.42 Explizit wird die Königswürde von Voss überhaupt nur in Form derartiger Anekdoten angesprochen; als ein mögliches Argument für das Verhältnis zum Kaiser wird sie aber nicht einmal explizit zurückgewiesen, sie taucht schlichtweg nicht auf. Gewissermaßen werden im „Brevis Concspectus“ also die Ansprüche Friedrich Wilhelms I., der Kaiser möge bei den brandenburg-preußischen Reichsangelegenheiten doch mehr „durch die Finger sehen“, so transponiert, dass sie in die einer strikten Reichshierarchie verpflichteten Argumentation passen. An einem Punkt spricht Voss aber mit der militärischen Stärke Brandenburg-Preußens doch eine zur Logik der Reichshierarchie quer liegende Kategorie an: Man könne freilich auch, so wirft Voss am Ende seiner ausführlichen Gegenüberstellung von „Beneficia Caesarea“ und „Facta Prussiaca“ ein,43 die große „Königliche Armatur und deren Landes genoßen“ berücksichtigen – für eine Beurteilung der Beziehungen nach solchen Parametern könne er, Voss, aber gewiss kein Urteil abgeben.44 Die hier einmal aufscheinende alternative Betrachtung des Verhältnisses wird mit diesem Einschub sofort wieder verlassen. Denn – so könnte man hinzufügen –, wenn man einmal begänne, das Verhältnis des Reichsoberhaupts zu einem Reichsstand nach den Kategorien von Macht und Militär zu gestalten, so wäre die ganze Arbeit von Voss ohnehin nur noch Makulatur. So wenig die Königskrone als Argument der Berliner Seite im „Brevis Conspectus“ wahrgenommen wird, so wenig reflektiert Voss auch über die Konfession der Brandenburger Hohenzollern als ein das Verhältnis zum Kaiserhaus bestimmendes Strukturmerkmal. Der zum Zeitpunkt der Entstehung des Gutachtens noch aktuelle (und im Übrigen auch für den unmittelbaren Anlass des diplomatischen Bruches zwischen Berlin und Wien im Jahr 1721 bedeutsame) Religionsstreit wird nicht 41
Ebd., S. 96. Ebd., S. 99. 43 Ebd., S. 90–94. 44 Ebd., S. 94: „Wann aber sothane balance kayserl. gutthaten und preuß. Factorum nicht zureichen sollten, sondern man die königl. Preuß. Armatur und deren landes genoßen in betrachtung ziehen wollte, so muß billig hierüber als eine mir gar hochgehende sache mein judicium suspendiren …“. 42
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besonders ausführlich behandelt. Voss beschreibt diese Auseinandersetzung vielmehr als einen „von der sogenannten Orthodoxie“ geschürten Konflikt, in dem Kleinigkeiten aufgebauscht würden, um einen künstlichen Gegensatz im Reich aufzubauen. Der konfessionellen Missstimmung hätten sich vor allem jene Berliner Minister bedient, die „gegen den Kayserl. Hof längst animirt [waren] […] und sich dieser verwünschten gelegenheit mit innerlicher zufriedenheit bedient haben werden, umb von den bisher empfangenen stößen einige zurück geben zu können und sich in einer großen figure d’Importance unter bedeckung des sich formidable einbildenden Corporis Evangelici in der welt sehen […] zu laßen …“.45 Ganz offensichtlich habe man auf Berliner Seite mit der ganzen Religionsangelegenheit primär den Zweck verfolgt, das Haus Schönborn beim Kaiser und im Reich zu diskreditieren, wodurch nur allzu deutlich werde, dass hinter alldem „viel[e] ambitionen und verschieden[e] privat absichten“ nur schlecht verborgen wären. Ohne auf die langwierigen Verwicklungen auf dem Reichstag oder auch die direkten diplomatischen Beziehungen zum Berliner Hof im Kontext des Religions- und Verfassungskonflikts weiter einzugehen, stellt Voss abschließend die kaiserliche „liebe, langmuth [und] weisheit“ dem „wiederwillen“ einiger weniger protestantischer Minister gegenüber.46 Formell und stilistisch unterscheidet sich der Ilgensche „Aufsatz“ deutlich vom „Brevis Conspectus“; dennoch existieren durchaus inhaltliche Entsprechungen bei den Bewertungen der diplomatischen Beziehungen. So benennt auch Ilgen die aktuellen, besonders einschneidenden Ereignisse, die aus Berliner Sicht zu der Verschlechterung der Beziehungen mit Wien maßgeblich beigetragen hatten: Immer wieder habe das Kaisertum versucht, dem Haus Brandenburg Sukzessionsrechte, die es auf verschiedene Reichslande beim Aussterben der Regenten hätte realisieren können, durch den Reichstag oder den Reichshofrat absprechen zu lassen. Ganz besonders geschadet habe Wien den Brandenburger Hohenzollern, indem man die Markgrafen von Bayreuth und Ansbach von dem Kurhaus „aufs äußerste zu alieniren gesucht und ihnen allerhand misstrauen gegen den hochseligen König und die jetzo glücklich allerhier regierende königliche Mt. zu inspiriren getrachtet“.47 Hierzu habe man sich am Kaiserhof der benachbarten Fürsten und Stände des Fränkischen Kreises bedient; auch Mainz, Würzburg und Bamberg hätten in dieser Angelegenheit gegen den preußischen König agiert, „samt der ganzen Schönbornschen Familie, welche wie bekandt in selbigen landen das ruder führet …“.48 Freimütig äußert Ilgen seine Abneigung gegen die Familie Schönborn – geradezu parallel zu den von Voss im „Brevis Conspectus“ formulierten Vorwürfen gegen Ilgen. Aber nicht nur in diesem Punkt entsprechen sich die in den beiden Texten niedergelegten Wahrnehmungen durchaus. Die von Voss geäußerte Sorge, Brandenburg-Preußen suche sich, wo immer möglich, den kaiserlichen Befehlen zu entziehen, wird auch 45
Ebd., S. 70–73, Zitate S. 73, 72. Ebd., S. 73. 47 Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 4, S. 315. 48 Ebd., S. 315–316. 46
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
von Ilgen thematisiert: In Wien agiere man via kaiserlicher Machtmittel immer härter gegen Berlin „unter dem Prätext, man sehe wohl, was der König in Preußen mit seiner großen Armatur und sammelnden Schätzen intendire, aller obligation gegen den Kayser und das Reich sich gäntzlich entziehen, seine zu dem Reich gehörende lande nicht mehr vor Reichslehen erkennen, sondern dieselbe gantz von dem Reich abreissen und dieselbe eben wie Preußen mit völliger souveräntät regieren wolle, ohne auff den Kayser und dessen im Reich ergehende Verordnungen weiter die geringste Reflexion zu nehmen“.49 Es fällt auf, dass Ilgen diesen, dem Kaiserhof zugeschriebenen Vorwürfen mit keinem Wort widerspricht – ob sie zutreffen oder nicht, ist für die Argumentation des Textes auch tatsächlich unerheblich. Die zentralen Unterschiede zur Voss’schen Darstellung bezeichnen zwei andere Punkte: Zum einen sind es eben die Krone und die für die preußischen Lande bestehende volle Souveränität, die laut Ilgen im Zentrum des Verhältnisses Wien – Berlin stehen. Zum anderen aber erscheint die vom Kaiserhof immer wieder geäußerte Sorge, der preußische König fühle sich an Kaiser und Reich nicht mehr gebunden, in Ilgens Interpretation lediglich als Prätext, um die tatsächliche Eifersucht gegen das Haus Hohenzollern zu bemänteln. Alle vorgebliche Rücksicht auf den Reichszusammenhalt biete dem Kaiser nur den willkommenen Vorwand, um politisch gegen den preußischen König vorzugehen. Das Ilgensche Gutachten folgt mithin einer dem „Brevis Conspectus“ völlig entgegengesetzten Logik, indem es im Grunde von zwei rivalisierenden fürstlichen Dynastien spricht: dem Haus Österreich und dem Haus Brandenburg, die sich bei Ilgen in Konkurrenz – und damit in Gleichberechtigung! – gegenüberstehen. In dieser Perspektive stellten die „Armatur“ und die Größe Brandenburg-Preußens in der Tat für Österreich ein Problem dar, aber nicht, weil dadurch Gefahren für Kaiser und Reich entstünden, sondern weil der preußische König im Vergleich zu Österreich zu mächtig werden könnte. Konsequenterweise erscheint in Ilgens Gutachten das Kaisertum auch lediglich als ein Vehikel, mit dessen Hilfe das Haus Österreich seine dynastischen Interessen gegenüber Brandenburg-Preußen – rhetorisch wie faktisch – vertritt. Beide Texte sind zudem, wie bereits erwähnt, mit einem gewissen zeitlichen Abstand angefertigt worden; mit dem unterschiedlichen Entstehungsdatum hängt aber auch die unterschiedliche Funktion bzw. Darstellung der jeweiligen Texte zusammen: Im Falle des „Brevis Conspectus“ handelt es sich um eine Art Rechenschaftsbericht des langjährigen Residenten, der Berlin schließlich im Zuge des zeitweiligen Abbruchs der diplomatischen Beziehungen verließ; entsprechend defensiv ist der Stil dieses Gutachtens. Im Gegensatz dazu kann man den Ilgenschen „Aufsatz“ als einen programmatischen Text verstehen, der vermutlich aus Anlass der gescheiterten brandenburgischen Sukzessionspläne in Franken entstanden war.50 Die Sicht auf das Verhältnis zwischen Wien und Berlin resp. den Brandenburger Hohenzollern 49
Ebd., S. 315. Vgl. auch die Einschätzung von Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 4, S. 309–310.
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und den österreichischen Habsburgern, die diesem Text zugrunde liegt, war freilich nur eine mögliche Perspektive neben anderen – wie auch in der Wiener Politik durchaus nicht durchweg das Königtum und die Konfession Brandenburg-Preußens als Faktoren für das Verhältnis zum Kaiserhaus ignoriert wurden. Handelt es sich also in beiden Fällen um bewusst einseitig gehaltene Analysen (die in der Zusammenschau durch ihre Einseitigkeit schließlich völlig unvereinbar erscheinen), so werden doch gerade dadurch zahlreiche Probleme des gegenseitigen Verhältnisses nochmals wie unter einem Brennglas verdeutlicht: In Ilgens Analyse sind es Königtum und Konfession, die das Verhältnis Berlins zum österreichischen Erzhaus maßgeblich bestimmen. In der Sicht des Voss’schen „Conspectus“ werden die Beziehungen Wiens zum preußischen König dagegen primär durch das – unparteiische – Kaisertum bestimmt, das naturgemäß über konfessionelle Unterschiede erhaben ist (die deswegen auch kaum thematisiert werden). Daneben, und praktisch unberührt von den „Reichsbeziehungen“, stehen die auch von Voss gewissermaßen malgré lui anerkannten „europäischen“ Beziehungen des Königs in Preußen. Während Voss also eine klare Trennung vornimmt und sich seiner Position entsprechend eindeutig auf die „Reichsbeziehungen“ konzentriert, differenziert Ilgen nicht grundsätzlich zwischen Reichsverband und europäischer Fürstengesellschaft. Das Verhältnis zwischen dem „Haus Brandenburg“ und dem „Haus Österreich“ wird schlichtweg von dynastischer Konkurrenz bestimmt.51 Die normativen Bezugsgrößen stellen bei Ilgen auf der preußischen Seite Königtum und Konfession dar, auf der Wiener Seite dagegen Kaisertum und Reichsverband; allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass Ilgen die letzteren als den eigentlichen Absichten des Erzhauses nur vorgeschobene Argumente „enthüllt“. Dass auch die von Ilgen in seinen Betrachtungen über das Verhältnis zum Kaiserhaus eingenommene Perspektive nur eine mögliche Berliner Lesart der Beziehungen Brandenburg-Preußens zu Wien darstellt, wird an der weiteren Untersuchung des ab 1719 die Reichspolitik beherrschenden Religionsstreites unmittelbar deutlich werden. Die gesamte Politik und Selbstlegitimation des Corpus Evangelicorum gehorchten schließlich der Logik eines ständischen Zusammenschlusses, zu der auch die Aufhebung der kurialen Zugehörigkeiten sowie eine – freilich nur fiktive – Gleichheit der einzelnen Stimmen gehörten.52 Im Zusammenhang der gesamtevangelischen Politik argumentierte Berlin selbstverständlich auch gegenüber dem 51 Eine Sichtweise, die von der borussischen Historiographie weitestgehend übernommen und fortgeschrieben wurde; vgl. etwa die einführenden Bemerkungen zur Denkschrift Ilgens bei Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 4, S. 309–310. Dass diese Perspektive noch weit bis ins 20. Jahrhundert hineinwirkte, zeigt etwa der vielsagende Titel des Werkes von Berney, Friedrich I. und das Haus Habsburg (Hervorhebung, R. W.). 52 Vgl. dazu ausführlich Kalipke, Verfahren, bes. S. 496. In diesem Zusammenhang sei auch nochmals darauf hingewiesen, dass auf dem Reichstag die nicht-königlichen kurfürstlichen Gesandten streng darauf achteten, keine Neuerungen aufkommen zu lassen – hier galt zeremoniell tatsächlich die Reichshierarchie; vgl. speziell mit Blick auf Brandenburg-Preußen: Carl, „Und das Teutsche Reich“, S. 60.
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Kaiser föderalistisch-korporativ, freilich nicht ohne sowohl innerhalb des Corpus als auch nach außen immer wieder zu betonen, dass es sich beim preußischen König um „eine[n] der mächtigsten protectoren selber religion“ handelte.53 Mit den Fragen, wie sich die evangelisch-reichsständisch-libertären Argumentationsmuster gegenüber anderen verhielten, wie sich die Stellung Brandenburg-Preußens innerhalb des Corpus Evangelicorum darstellte und in welcher Weise sich der Religionskonflikt auf das Verhältnis zwischen Berlin und Wien auswirkte, ist ein erster thematischer Schwerpunkt des folgenden Kapitels angesprochen. Bereits das oben angeführte Zitat zeigt, dass es sich bei der Selbstbeschreibung der brandenburg-preußischen Position innerhalb des Protestantismus um den Anspruch handelte, alle Protestanten im Reich zu protegieren. Ilgen unterscheidet nämlich in seinen Ausführungen zur Bedeutung der Konfession des Kurhauses gerade nicht zwischen lutherischer und reformierter Religion. Die Konversion Kurfürst Joachims II. und die daraufhin eingeführte Reformation in Brandenburg wird ausdrücklich gewürdigt, und zwar nicht zuletzt mit Blick darauf, dass die Einführung des lutherischen Glaubens dem Kaiserhaus den „ersten Prätext“ geliefert habe, das Haus Brandenburg „wieder schwach und klein zu machen“.54 Die Konversion Johann Sigismunds im Jahr 1613 und die seither bestehende Zugehörigkeit der Brandenburger Hohenzollern zum reformierten Glauben werden dagegen von Ilgen einfach übergangen; der „zweiten Reformation“ wird mit keinem einzigen Wort gedacht. Damit aber stellte sich auch erst gar nicht die Frage, für welche der evangelischen Konfessionen die brandenburgischen Herrscher zu welchem Zeitpunkt eine Schutzherrschaft beanspruchten bzw. ausübten. Eben diese – von Ilgen bewusst nicht gestellte – Frage benennt den zweiten zentralen Bestandteil des folgenden Kapitels. Nimmt man die Denkschrift Ilgens von 1716 als politisches Programm ernst, so lässt sich die in den folgenden Jahren immer weiter fortschreitende Verschlech terung der Beziehungen zwischen Berlin und Wien – und auch ihr konfessionspolitischer Anteil – nicht ausschließlich individualpsychologisch als eine Reihe von „Ungeschicklichkeiten“ eines der Wiener Diplomatie nicht gewachsenen Königs und dessen diplomatischer Vertreter erklären, wie dies vielfach in der Literatur bis heute zu lesen ist.55 In der Historiographie wurde und wird dem zweiten preußischen König häufig attestiert, im Gegensatz zu seinen fraglosen Erfolgen im Inneren auf dem Gebiet der Außenpolitik unsicher und emotional agiert zu haben. Der König habe in Belangen der Außenpolitik äußerst skrupulös gehandelt, und die Regeln der europäischen Diplomatie seien ihm wenig vertraut gewesen.56 Gleichzeitig wird von der Literatur aber auch betont, wie sehr sich gerade Friedrich Wilhelm I. auf dem Gebiet der äußeren Angelegenheiten an die Expertise seiner für diese Bereiche 53
Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 4, S. 311. Ebd., S. 310–311. 55 Vgl. Kap. A. IV. 56 Vgl. etwa Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit, S. 316–317. 54
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zuständigen Minister gehalten habe57 – was im Übrigen auch die für diese Arbeit benutzten Quellenbestände eindeutig beweisen.58 Die zweifellos zentrale Figur der Außenpolitik in der frühen Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. war allerdings mit Rüdiger von Ilgen ein Minister, der schon unter Friedrich I. die außenpolitischen Geschäfte geführt hatte und insbesondere an der Realisierung der preußischen Königswürde maßgeblich beteiligt gewesen war.59 Bereits die Bedeutung seiner Person für die Außen- und Reichspolitik Brandenburg-Preußens sowie die Kontinuitäten, die sich in den vorherigen Kapiteln für zahlreiche Bereiche der Reichs- und Konfessionspolitik Brandenburg-Preußens unter den beiden ersten Königen abgezeichnet haben, lassen es daher problematisch erscheinen, die Reichspolitik und die Diplomatie Brandenburg-Preußens mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. primär dadurch charakterisiert zu sehen, dass die brandenburg-preußischen Gesandten grundsätzlich ungeschickte Diplomaten gewesen seien, die es eben nicht vermocht hätten, ihre Ziele bzw. jene ihres (ebenfalls ungeschickten) Königs zu erreichen, „ohne der Empfindlichkeit des Kaisers zu nahe zu treten“.60 Allerdings existieren in der Tat zahlreiche Überlieferungen, die zeigen, mit welcher ablehnenden Haltung Friedrich Wilhelm I. zeremoniellen Angelegenheiten gegenüberstand und wie stark die repräsentativen Elemente des Berliner Hoflebens mit seinem Regierungsantritt eingeschränkt wurden.61 Auch Voss beschreibt im „Brevis Conspectus“ im Zusammenhang mit der kurzen Gesandtschaft des Grafen Virmond am Berliner Hof, wie schwierig es bekanntermaßen sei, den König von einer – für einen kaiserlichen Gesandten obligatorischen – öffentlichen Audienz mit dem entsprechenden Zeremoniell zu überzeugen.62 Doch lassen die von Voss geschilderten Schwierigkeiten, am Berliner Hof Audienzen zu erhalten, die andernorts als Selbstverständlichkeiten gälten, nicht notwendig auf Unwissenheit des brandenburg-preußischen Personals hinsichtlich der üblicherweise für die diplomatische Kommunikation geltenden Normen schließen. So beschreibt Voss die Haltung des Königs gegenüber dem Zeremoniell auch als „repugnance“,63 als Widerstand 57
Vgl. ebd., S. 317. So tragen praktisch sämtliche für diese Untersuchung benutzten Reskripte und Immediat berichte aus Berlin die Signatur Ilgens. 59 Zur Person vgl. Kap. B. II. 1.; zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen Ilgen und dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm in der Schlussphase des Spanischen Erbfolgekrieges vgl. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., S. 625–668. 60 Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 265. Die negative Bewertung der brandenburg-preußischen Diplomatie insbesondere im Verhältnis zum Kaiser, die in der Literatur vielfach zu lesen ist, geht bis heute zu großen Teilen auf die zahlreich überlieferten Urteile des Reichsvizekanzlers Schönborn über den „Polterkönig“ und seine ebenso unbeherrschten wie unfähigen Diplomaten zurück; vgl. dazu auführlich weiter unten, Kap. E. II. 3. 61 Vgl. etwa Hinrichs, Regierungsantritt, bes. S. 99–112; Neugebauer, Vom höfischen Abso lutismus, S. 117–120; s. a. zu den Berichten des kaiserlichen Gesandten Damian Hugo von Schönborn und den Schilderungen darüber, wie schwer man bei Friedrich Wilhelm I. Audienzen erhielt: Roegele, Berliner Missionen, bes. S. 434–436. 62 Brevis Conspectus, S. 38–40. 63 Ebd., S. 38. 58
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also, und charakterisiert mithin einen Habitus, der eher mit – immer wieder auch ostentativer – Distanz gegenüber diplomatischen Normen als mit Nicht-Wissen umschrieben werden kann. Diese Haltung des Monarchen etablierte sich offenbar auch über die Person des Königs hinaus als generelle Hofkultur in Berlin – verbunden mit den finanziellen Einschränkungen, die seit 1713 für die Hofhaltung galten. Diese sprichwörtliche Sparsamkeit – zermoniell und finanziell – konnte sich aber unter konkreten politischen Konstellationen in der Kommunikation mit auswärtigen Diplomaten auch als funktional im Sinne der von Berlin verfolgten Politik erweisen: Ein besonders gutes Beispiel dafür bieten die Berichte des Wiener Sonder gesandten Damian Hugo von Schönborn,64 der am Ende des Spanischen Erbfolgekrieges in Berlin für eine weitere militärische Unterstützung im Krieg gegen Frankreich warb und den König zur Zahlung des Reichsbeitrages auffordern sollte. Zum Zeitpunkt seiner beiden Missionen im Mai und im Juli 1713 hatte Brandenburg-Preußen bereits in Utrecht Frieden mit Frankreich geschlossen, und Friedrich Wilhelm I. drang nachdrücklich auf eine Konsolidierung der Finanzen. Zunächst konnte Schönborn nach zwei, unter größten Schwierigkeiten erhaltenen, persönlichen Audienzen von mündlichen Zusagen des Königs nach Wien berichten; bei seiner letzten Mission im Juli 1713 aber war in Berlin die Bereitschaft zu einer Weiterführung des Krieges noch weiter gesunken. In dieser Situation wurde Schönborn nicht eine einzige persönliche Audienz gewährt, und er musste schließlich durch Ilgen eine schriftliche Resolution des Königs entgegennehmen, die sowohl in Bezug auf die Zahlung des Reichsbeitrags als auch hinsichtlich der von Wien geforderten Verstärkung der Reichstruppen sowie der Stellung der im Krontraktat versprochenen Soldaten eine klare Absage des Königs enthielt.65 Dass eine solche Distanz gegenüber der Diplomatie und ihrem Comment im Zusammenspiel mit den Bemühungen der Regierung um eine Konsolidierung der Finanzen auch für das eigene diplomatische Personal spürbar werden konnte, verdeutlichte der bereits an anderer Stelle erwähnte Bericht des Wiener Gesandten Metternich über die Schwierigkeiten des brandenburg-preußischen Reichshofratsagenten. Dessen fehlende finanzielle Mittel schadeten nicht nur seinem Ansehen, sondern waren auch der Informationsbeschaffung hinderlich.66 Insofern lässt sich die mit dem Regierungsbeginn Friedrich Wilhelms I. einhergehende – und offenbar auch für die eigenen Diplomaten als Umbruch wahrgenom 64
Damian Hugo von Schönborn (1676–1743), ein Neffe des Mainzer Kurfürsten Lothar Franz von Schönborn und Bruder des Reichsvizekanzlers und späteren Bischofs von Bamberg Friedrich Karl von Schönborn, war schon früh als Diplomat für Kaiser Joseph I. vornehmlich im Norden des Reiches tätig; 1714 wurde er Präsident des Braunschweiger Kongresses. Im Jahr 1715 wurde er, maßgeblich auf das Betreiben Karls VI. hin, in das Kardinalskollegium aufgenommen; 1719 wurde er zum Fürstbischof von Speyer ernannt, ab 1740 war Schönborn zudem Bischof von Konstanz; vgl. Stamer, Damian Hugo Philipp Graf v. Schönborn. 65 Vgl. Roegele, Berliner Missionen, bes. S. 456–465. 66 Vgl. Kap. C. II.
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mene – Veränderung des diplomatischen Stils mitunter durchaus als dysfunktional interpretieren, wie dies auch der langjährige Gesandte Metternich gegenüber der Berliner Regierung andeutete. Aber das Beispiel des Reichshofratsagenten, dessen fehlende Ressourcen prima vista ausschließlich als störend im Sinne der Verfolgung politischer Ziele gelten mögen, ist daneben auch im größeren Kontext der allgemeinen Repräsentation Brandenburg-Preußens gegenüber der höfischen Öffentlichkeit Wiens zu verstehen. Und diese Repräsentation stellte seit 1713 – neben den haushalts-ökonomischen Zielen der Regierung – eine zunehmende Distanz gegenüber dem Wiener Hof im Allgemeinen und den Reichshofratsverfahren im Besonderen dar. Schließlich zeigte sich diese, mit „Distanz“ vermutlich sogar ungenügend umschriebene Haltung gegenüber dem Wiener Hof und dem Reichshofrat in der ersten Hälfte der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. an zahlreichen Aspekten geradezu überdeutlich. Mithin mag die – im Übrigen in Berlin rasch behobene – karge Ausstattung des Agenten nicht nur einseitig als „Fehler“ in einer Reihe von „Ungeschicklichkeiten“ der Berliner Politik betrachtet werden, sondern – zumindest auch – als ein Teil jener durchaus konsequenten Ablehnung, mit der Friedrich Wilhelm I. der (vornehmlich katholischen) süddeutsch-barocken Hof- und Repräsentationskultur begegnete und von der er sich immer wieder durch demonstratives „Anders-Sein“ abgrenzte.67 Es versteht sich von selbst, dass eine derartige Distanz zur barocken Hofkultur nicht automatisch mit „diplomatischen Regelbrüchen“ oder gar mit einer konfrontativen Haltung gegen den Kaiser einherging – und der Blick auf die spätere Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. bietet genügend Belege für diese Feststellung. Bestimmte Bereiche der diplomatischen Regeln ostentativ nicht zu beachten, konnte aber in gewissen Situationen für die Darstellung schlechter Beziehungen durchaus nutzbar gemacht werden, mithin Schwerpunktsetzungen der eigenen Regierung und politisches Programm widerspiegeln. Blickt man noch einmal auf die eingangs besprochene Denkschrift von Ilgen sowie auf die zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen Friedrich Wilhelm I. und dem Reichshofrat zurück, so kann davon ausgegangen werden, dass es zu dieser Zeit sicherlich nicht zum Kern des politischen Programms der brandenburg-preußischen Regierung gehörte, den Kaiser in dessen hierarchisch-traditionellem Reichsverständnis zu bestärken. Vielmehr lassen sich Hinweise dafür ausmachen, dass man es in Berlin im Sinne der eigenen politischen Ziele durchaus in Kauf nahm, den Kaiser auf dem Gebiet der Justiz, in Religionsund Lehensfragen kurz: bei sämtlichen Gelegenheiten, bei denen die Hierarchie des Reiches (durch Anwesende oder im schriftlichen Verkehr) dargestellt wurde, zu brüskieren. Ohne weiter auf die Frage nach der Persönlichkeit und Psychologie Friedrich Wilhelms I. einzugehen – ein Bereich, für den die hier untersuchten diplomatischen und bürokratischen Quellen im Übrigen auch kaum Material liefern –, spricht gerade vor dem Hintergrund des programmatischen Aufsatzes von Ilgen vieles da 67
Vgl. Neugebauer, Vom höfischen Absolutismus.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
für, die Reichs- und Konfessionspolitik des zweiten preußischen Königs als eine Politik zu interpretieren, die bestimmten Prinzipien verpflichtet war und nicht von vorneherein als willkürlich und erratisch verstanden werden sollte. Diese Prinzipien waren zwar mit Sicherheit nicht alle eindeutig miteinander harmonisierbar und naturgemäß Konjunkturen unterworfen; dennoch stellen sie gemeinsam unterschiedliche Aspekte eines Selbstentwurfes der hohenzollernschen Dynastie und des jungen preußischen Königtums dar. Daher soll im Folgenden versucht werden, die in der ersten Hälfte der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. immer weiter fortschreitende Verschlechterung der Beziehungen zum Kaiser – und die Bedeutung, die dabei dem konfessionellen Argument zukam – weniger einseitig als Folge von Ungeschicklichkeiten, Überreaktionen oder „außenpolitischer Depressivität“68 zu interpretieren. Vielmehr soll wie schon in den vorausgegangenen Kapiteln versucht werden, dieser Perspektive eine Lesart an die Seite zu stellen, welche die brandenburg-preußische Reichs- und Konfessionspolitik zur Zeit der Religions- und Verfassungskrise um 1720 stärker im Kontext früherer Jahre betrachtet und nach Kontinuitätslinien sucht. An den in dieser Arbeit bereits besprochenen Reichshofratsverfahren wurde deutlich, dass die Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms I. gegenüber den katholischen Minderheiten im eigenen Land nach 1713 in vielen Punkten eine Fortführung der Politik Friedrichs III./I. (oder sogar des Großen Kurfürsten) darstellte. Die Tatsache, dass die meisten der am Reichshofrat anhängigen Verfahren noch aus der Regierungszeit Friedrichs III./I. stammten, nutzte schließlich sogar der kaiserliche Resident Voss als Argument gegenüber Friedrich Wilhelm I., um die Unparteilichkeit und die Unabhängigkeit des reichshofrätlichen Verfahrens zu demonstrieren. Die Reaktionen aus Wien wie überhaupt der politische Stil auf beiden Seiten veschärften sich jedoch spätestens seit 1715 spürbar. Diese Beobachtungen legen die Vermutung nahe, dass die Akteure offenbar bestimmte, grundsätzlich bekannte politische Handlungen nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges in neue Kontexte stellten – und dass diese veränderten Wahrnehmungen und Interpretationen wiederum auch zu einer Verschärfung der politischen Praktiken und des Sprachgebrauchs selbst führten. Insofern lassen sich mit Blick auf die politischen Konjunkturen im Verhältnis zwischen preußischem König und Kaiser einerseits sowie Corpus Evangelicorum und Kaisertum andererseits gewisse Parallelen ausmachen: Auch im Falle der gesamtprotestantischen Politik reagierte der Kaiser nach 1715 wesentlich schärfer auf sämtliche Äußerungen und politische Handlungen des Corpus Evangelicorum als noch einige Jahre zuvor, und zwar, weil der Kontext, in dem die evangelische Politik stattfand, sich geändert hatte und diese nun erstmals die kaiserlichen Machtbefugnisse im Reich direkt bedrohte.69 Wie schon in den vorherigen Kapiteln sollen daher auch im Folgenden die Entwicklung des Corpus Evangelicorum und die
68
Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit, S. 316. Vgl. Haug-Moritz, Corpus Evangelicorum, S. 200–201.
69
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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brandenburg-preußische Reichs- und Konfessionspolitik auch und gerade für die Zeit der Religions-und Verfassungskrise der Jahre 1719–1725 im Zusammenhang betrachtet werden.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik im Kontext der konfessionspolitischen Krise (ca. 1715–1724) 1. Innerevangelische Positionierungen I: Brandenburg-Preußen und die Pfälzer Reformierten bis zum Beginn des Religionsstreits (ca. 1715–1719) Im Herbst 1719 entbrannte der Konflikt um die Konfessionsverhältnisse in der Kurpfalz erneut. Am Reichstag hatten sich bereits in den Jahren zuvor die kon fessionellen Differenzen zwischen Protestanten und Katholiken immer weiter gesteigert, u. a. im Zusammenhang des so genannten Erzamtstreits.70 Hinzu kamen seit ca. 1718 eine immer größere Zahl an bekannt gewordenen Gravamina evangelischer Untertanen, die in Regensburg zirkulierten.71 Wie sehr sich der Gegensatz zwischen den Konfessionsparteien verschärft hatte, wurde besonders an der seit Anfang 1719 im Kontext der Verhandlungen um die Hannoveraner Kurwürde diskutierten Frage über die Gültigkeit von Mehrheitsentscheidungen bei gemeinsamen Voten der Evangelischen, den sogenannten Vota communia, deutlich. Das Corpus Evangelicorum kämpfte gegen die von katholischer Seite vertretene Behauptung, dass ein gemeinsames Votum der Protestanten nur bei absoluter Einstimmigkeit unter allen evangelischen Ständen legitim, eine vorherige interne Abstimmung – und ggf. ein interner Mehrheitsentscheid – aber nicht statthaft sei. Mit der Durchsetzung einer solchen Lesart der paritätischen Rechte der Protestanten wäre in der Tat die „Veto-Macht“ des Corpus Evangelicorum praktisch verloren gegangen.72 Deutlich zeichnete sich bereits im Herbst 1719 auch jener Grundsatzkonflikt ab, der dem nur einige Wochen später ausbrechenden Religionsstreit zugrundelag: Schon zu diesem Zeitpunkt wurde unter den evangelischen Reichstagsgesandten die Meinung geäußert, dass das Ziel der evangelischen Reichspolitik darin bestehen müsse, „daß 70 Vgl. Biederbick, Reichstag, S. 8–17; ausführlich: Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 221–240 71 So berichtete der brandenburg-preußische Resident in Frankfurt am Main, Philipp Reinhold Hecht, schon seit Januar 1719 immer häufiger über die Unterdrückung von lutherischen wie reformierten Untertanen in den Mainzer und Pfälzer Territorien, so etwa über die Beschwerden der Lutheraner in Partenheim; s. etwa Relation von Hecht, Frankfurt, 10.1.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 29, Fasz. 5, Bl. 2. 72 „Da es denen Catholischen nie an Gelegenheit fehlen würde, einen oder andern unter denen Evangelischen […] auf ihre seite zu ziehen, und dadurch die übrige Evangelische zu hindern, daß Sie nicht in partes gehen könnten, mithin Sie um alle ihre kostbahrsten jura in omnibus causis per majora zu bringen …“; Beilage zur Relation von Metternich, Regensburg, 30.10.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 12, Bl. 287–294, 290. Grundsätzlich zur Bedeutung des Mehrheitsentscheids vgl. Heckel, Parität; Schlaich, Majoritas.
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in allen wichtigen Reichs-Sachen die Evangelischen Stände in allen Collegiis so viel zu sagen hätten, als die Gegen-Parthey […] und daß alsdann [die Entscheidungen] […] nicht per majora, sondern per amicabilem compositionem ohne kayserliche decision abgethan würden …“.73 Der Pfälzer Religionsstreit, der sich zu einer regelrechten Verfassungskrise auswachsen sollte, entzündete sich an der 80. Frage des Heidelberger Katechismus, in der die katholische Messe als „vermaledeyte Abgötterey“ bezeichnet wurde. Der katholische Kurfürst von der Pfalz, Karl Philipp, nahm an dieser Formulierung umso mehr Anstoß, als sich auf dem Titelblatt der Bekenntnisschrift das kurfürstliche Wappen und eine kurfürstliche Druckerlaubnis befanden, die jedenfalls für den Neudruck des Katechismus im Jahr 1719 nicht eingeholt worden war. Daher ließ der Kurfürst alle Exemplare, die die beanstandete Frage enthielten, einziehen.74 Im selben Jahr erklärte Karl Philipp, der seine Residenz von Düsseldorf wieder nach Heidelberg verlegt hatte, die dortige simultan genutzte Heiliggeistkirche künftig als seine Hofkirche zu beanspruchen und also den Reformierten die weitere Benutzung zu verweigern. Für die Überlassung der Heiliggeistkirche bot die Regierung dem Heidelberger Reformierten Kirchenrat als Entschädigung einen Kirchenneubau an. Der Kirchenrat wies dieses Angebot aber entschieden zurück, woraufhin der Kurfürst den Heidelberger Reformierten am 4. September 1719 ihr Nutzungsrecht an der seit 1706 (im Zuge der Religionsdeklaration von 1705) simultan genutzten Heiliggeistkirche entzog und die Mauer, die Chor und Schiff getrennt hatte, niederreißen ließ.75 Der Reformierte Kirchenrat in Heidelberg rief umgehend Brandenburg-Preußen als Garantiemacht der kurpfälzischen Religionsdeklaration von 1705 sowie das Corpus Evangelicorum um Hilfe an. In Regensburg fand die Klage der pfälzischen Reformierten große Beachtung, wollte man doch in den Maßnahmen des Kurfürsten den Auftakt zu einer groß angelegten gegenreformatorischen Aktion sehen, die auf die „gäntzliche Extirpation der Evangelischen“ ziele und „den Grund ihrer aller Sicherheit“ gefährde, zumal sich zeitgleich auch in anderen katholisch regierten Gebieten, insbesondere im Territorium des Mainzer Kurfürsten, Beschwerden evangelischer Untertanen häuften.76 In einem Conclusum vom 10. Oktober 1719 beauftragten sämtliche evangelische Gesandte den König von England, den König in Preußen sowie den Landgrafen von Hessen-Kassel damit, Gesandte in die Pfalz (und nach Mainz) zu senden, um dort auf die Einhaltung des Westfälischen Friedens zu dringen sowie ihren Vorstellungen „samt und sonders den erforderlichen Nachdruck zu geben“.77 Diese Beauftragung der drei mächtigsten evangelischen Reichsfürsten durch das Corpus geschah ganz nach dem Vorbild der Intervention in 73 Beilage zu: Relation von Metternich, Regensburg, 30.10.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 12, Bl. 295–296, 296. 74 Struve, Bericht, S. 1369–1370. 75 Ebd., S. 1374–1381. 76 Schauroth, Sammlung 2, S. 538 (Conclusum vom 10.10.1719). 77 Ebd.
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Nassau-Siegen.78 So wurde auch in der diplomatischen Korrespondenz immer wieder auf diesen Präzedenzfall verwiesen, allerdings durchweg im Sinne einer negativen Referenz und einhergehend mit der Mahnung, man müsse dieses Mal die Beauftragung ernst nehmen und tatsächlich mit stärkeren Mitteln gegen die Katholiken vorgehen, sonst gebe man sich vor dem katholischen Reich der Lächerlichkeit preis.79 So beauftragte das Corpus Evangelicorum 1720 im Fall des Konfessionskonflikts in Speyer den Herzog von Württemberg und den Landgrafen von Hessen- Kassel sogar in Fom eines offiziellen „Protectoriums“ und „Conservatoriums“, die dortige evangelische Bürgerschaft bei der Verteidigung ihrer Religionsrechte gegen den Speyrer Bischof Damian Hugo von Schönborn zu unterstützen – was Karl VI. allerdings umgehend untersagte.80 Worin die Beauftragung durch das Corpus Evangelicorum im Falle der Kurpfalz genau bestand, welche Mittel angewandt werden sollten und schließlich, auf welche Rechtslage man sich mit Blick auf die spezifischen kurpfälzischen Konfessionsverhältnisse bezog – darüber herrschte allerdings unter den beauftragten Fürsten genauso große Unklarheit wie innerhalb des Corpus Evangelicorum überhaupt. Hatte sich das Corpus Evangelicorum in seinem ersten ausführlichen Pro Memoria an den Kaiser ganz allgemein auf den Westfälischen Frieden berufen, so verhandelten die nach Heidelberg gereisten Gesandten Englands, Brandenburg-Preußens und Hessen-Kassels zunächst zumindest implizit im Sinne einer Wiederherstellung der Verhältnisse von 1705, indem sie sich auf die Rückgabe der halben Heiliggeistkirche und des Katechismus konzentrierten.81 Zwischen London, Hannover und Berlin war man bereits vor dem im Oktober gefassten Beschluss des Corpus Evangelicorum übereingekommen, in der Frage der Pfalz zusammenzuarbeiten und Gesandte nach Heidelberg zu entsenden. Der brandenburg-preußische Resident in Frankfurt, Philipp Reinhold Hecht, traf Mitte Oktober in Heidelberg ein, wohin bereits der englische Minister James Haldane aus Kassel abgeordnet worden war.82 Beide Gesandten begannen sofort, Verhandlungen mit der kurpfälzischen Regierung zu führen und beim Kurfürsten vorzusprechen.83 Zwar wurden Hecht und Haldane aus Berlin bzw. London angewiesen, sich miteinander abzusprechen; welche Forderungen genau an den Pfälzer Kurfürsten zu stellen seien, war allerdings zu diesem Zeitpunkt zwischen London, Hannover und 78
Zu Nassau-Siegen vgl. Kap. C. I. So etwa in der Relation von Burchard, Wien, 25.10.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 1–3. 80 EStC 36, S. 571–573 („Copia Inhibitorii an den Hertzog zu Würtemberg / des ihme von denen A. C. Verwandten Gesandtschafften zu Regenspurg für die Stadt Speyer aufgetragenen Protectorii & Conservatorii sich zu enthalten. Wien den 9. Martii 1720“); ebd., S. 573–576 („Copia Kayserl. Inhibitorii an den Landgrafen zu Hessen Cassel / das auf ihme von denen A. C. Verwandten Gesandtschafften zu Regenspurg extendirte Protectorium und Conservatorium für die Stadt Speyer nicht zu übernehmen. Wien den 9. Martii 1720“). 81 Struve, Bericht, S. 1391–1392, 1411–1413. 82 Vgl. Thompson, Britain, S. 70–72. 83 Struve, Bericht, S. 1391–1414; vgl. Borgmann, Religionsstreit, S. 49. 79
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Berlin noch nicht verbindlich entschieden worden.84 Während der englische Gesandte in Heidelberg zunächst eher gemäßigt und kompromissbereit agierte und zwischenzeitlich sogar – im Sinne einer raschen Beilegung des Konfliktes – einen um die 80. Frage bereinigten Katechismus gut hieß,85 arbeitete der Hannoveraner Reichstagsgesandte Wrisberg offenbar an geradezu entgegengesetzten Zielen.86 In Regensburg war Wrisberg, dies belegen sowohl die Literatur als auch die Berichte Metternichs, die zentrale Figur für eine Radikalisierung der evangelischen Forderungen hinsichtlich der konfessionellen Verhältnisse in der Kurpfalz – in Übereinstimmung mit den damaligen Schwerpunkten der Hannoveraner Reichspolitik.87 In Hannover lagen die Prioritäten eindeutig auf einer Verschärfung der Frontstellung gegen den Kaiser; zudem war die Vertretung der Interessen der Lutheraner in der Kurpfalz spätestens seit 1714 von Kursachsen auf Hannover übergegangen.88 Betrachtet man die öffentliche Debatte zwischen Lutheranern und Reformierten in der Kurpfalz, die auch nach den Friedensschlüssen von 1713/14 anhielt, so muss der durch die kurpfälzischen Verhältnisse 1719 entfachte Religionsstreit fast im selben Maße als Austragung eines nach wie vor ungelösten innerevangelischen Konflikts gelten wie als Zusammenstoß zwischen evangelischem und katholischem Reichsteil. Die innerevangelischen Facetten des Konflikts um die Pfalz fanden freilich gleichsam hinter den Kulissen des evangelisch-katholischen Gegensatzes statt bzw. traten just zu dem Zeitpunkt in den Hintergrund, als das Corpus Evangelicorum sich auf die Auseinandersetzung mit den Katholiken bzw. mit dem Kaiser konzentrierte. Die Frontstellungen und Debatten zwischen Lutheranern und Reformierten – und deren im Ganzen erfolgreiche Neutralisierung – sind aber nichtsdestoweniger für die Entwicklung der politischen Handlungsfähigkeit des Corpus Evangelicorum ebenso aufschlussreich wie für die Stellung Brandenburg-Preußens als mächtigster reformierter Reichsstand. Denn Brandenburg-Preußen befand sich ja noch dazu hinsichtlich der kurpfälzischen Konfessionsverhältnisse in einer äußerst exponierten Stellung. Die vorhergehenden Ausführungen haben gezeigt, wie gerade die anhand der Konfessionsverhältnisse in der Kurpfalz auftretenden innerevangelischen Differenzen noch einige Jahr zuvor, im Rahmen der Friedensverhandlungen von Rastatt und Baden, eine gemeinsame Politik der protestantischen Reichsstände gehemmt hatten und wie deutlich damals der lutherische Widerstand gegen das reformierte Brandenburg-Preußen formuliert worden war. Insofern erscheint die Position Brandenburg-Preußens als Garant der Deklaration von 1705 zu Beginn des Religions-
84
Relation von Hecht, Heidelberg, 25.10.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 10–13; Reskript an Hecht (nach Heidelberg), Berlin, 4.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 24. 85 Relation von Hecht, Heidelberg, 11.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 113–114, 114: Hecht bat daraufhin, die Berliner Regierung möge in London darauf dringen, „daß obgedachter Englischer Minister ordre empfinge, auff der restitution des ohngeänderten catechismi zu bestehen […], damit wir unter einander nicht selbst differenter meinung werden …“. 86 Vgl. Thompson, Britain, S. 72. 87 Vgl. etwa Aretin, Reich 2, S. 272–295, bes. S. 272; zu Wrisberg s. a. Zedler 59, Sp. 673–674. 88 Vgl. Kap. B. II. 2. g).
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streites 1719 weniger als „günstig“89, sondern vor dem Hintergrund der eindeutig pro-reformierten Haltung Brandenburg-Preußens während der Regierungszeit Friedrichs III./I. – zumindest in den Augen der lutherischen Mehrheit innerhalb des Corpus Evangelicorum – vielmehr als belastet.90 Denn für die Lutheraner bot sich 1719/20, nachdem durch die rigide Kirchenpolitik Karl Philipps die Konfessionsverhältnisse in der Kurpfalz erneut zur Diskussion standen, die einmalige Chance, den ungeliebten Religionsvergleich von 1705 zu revidieren. Aufgrund der Konfessionspolitik seines Vaters konnte Friedrich Wilhelm I. den lutherischen Reichsständen aber gerade nicht als „Hauptanwalt der protestantischen Interessen in der Pfalz“ (Hervorhebung R. W.)91 gelten, sondern sah sich als traditioneller Anwalt reformierter Interessen mit dem über Jahre angewachsenen Misstrauen der Lutheraner konfrontiert. In den ersten Jahren seiner Regierungszeit hatte Friedrich Wilhelm I. die Patronagepolitik seines Vaters für die Pfälzer Reformierten fortgeführt, indem sich Brandenburg-Preußen auch weiterhin für eine Absicherung der Pfälzer Religionsdeklaration auf den Friedenskongressen zur Beendigung des Spanischen Erbfolgekrieges verwendet hatte.92 Auch nach 1713 bestand zwischen dem Reformierten Kirchenrat in Heidelberg und der Berliner Regierung regelmäßiger Kontakt, der zu einem großen Teil über den brandenburg-preußischen Residenten in Frankfurt vermittelt wurde. Zudem überwachte die Berliner Regierung die Einhaltung der Religionsdeklaration von 1705 und wandte sich bei aufkommenden Beschwerden an den Pfälzer Kurfürsten.93 Eine wichtige Konstante stellten dabei die Gutachten des reformierten Berliner Hofpredigers Achenbach dar, der offenbar auch nach dem Regierungswechsel von 1713 in Berlin bei Konfessionsangelegenheiten im Reich eine gewichtige Stimme besaß.94 So richteten sich die Anweisungen der Regierung praktisch in allen Fällen nach den Gutachten Achenbachs. Beispielsweise veranlasste Achenbach im Dezember 1716 – auf ein entsprechendes Gesuch des Kirchenrates hin –, dass Friedrich Wilhelm I. anlässlich des Todes Johann Wilhelms von der Pfalz an dessen Nachfolger Karl Philipp schrieb und diesen um eine Anerkennung und Bestätigung der Deklaration von 1705 ersuchte.95 Aber auch in dem nach Abschluss des Badischen Friedens nach wie vor aktuellen innerevangelischen Konflikt in der Pfalz (die Lutheraner kämpften auch weiterhin für die Anerkennung ihres Anspruchs auf eine legitime Teilhabe am Kirchenvermögen der Reformierten) führte die Berliner Regierung nach 1713 zunächst die Kon 89
So die Bewertung bei Borgmann, Religionsstreit, S. 64. So auch die Bewertung im Kontext der Ansprüche Brandenburg-Preußens auf das Direktorium des Corpus Evangelicorum bei Vötsch, Kursachsen, S. 127. 91 Borgmann, Religionsstreit, S. 64. 92 Vgl. Kap. B. II. 2. g). 93 s. die Briefwechsel in: GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 25. 94 Zu Achenbach vgl. Kap. B. II. 1. 95 Gutachten von Achenbach, Berlin, 19.12.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 25, Fasz. 2, Bl. 126–130. 90
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fessionspolitik der vergangenen Jahre insofern fort, als man entschieden jeglichen Interpretationen des Westfälischen Friedens entgegentrat, die nicht auf der absoluten Gültigkeit des Normaljahres 1618 für die Reformierten fußten, sich mithin jenseits der 1698/99 vom damaligen brandenburg-preußischen Gesandten Boetzelaer vertretenen Auslegung der rechtmäßigen Konfessionsverhältnisse in der Pfalz bewegten.96 In ihren Bemühungen, dauerhaft einen Teil der geistlichen Gefälle zu erhalten, wandten sich die Pfälzer Lutheraner sowohl an ihren Landesherrn als auch an das Corpus Evangelicorum in Regensburg, wo die bekannten lutherischen Konsistorialräte Schlosser und Debus die lutherischen Reichstagsgesandten von ihren Anliegen zu überzeugen suchten, so dass die Diskussion um die pfälzischen Religionsverhältnisse in Regensburg erneut begann.97 Der brandenburg-preußische Reichstagsgesandte Metternich befürchtete, dass die lutherischen Gesandten dem Wunsch der Pfälzer Lutheraner endlich entsprechen und sich an den Kurfürsten von der Pfalz wenden würden, um von diesem die beanspruchten zwei Siebentel der reformierten Kirchengüter für ihre Glaubensgenossen zu verlangen – so dass eine Einigung zwischen Lutheranern und katholischem Landesherrn schließlich auf Kosten der Reformierten zustande gekommen wäre.98 Während sich Hannover spätestens seit der Personalunion von 1714 nachdrücklich für die Lutheraner in der Kurpfalz einsetzte, auch einen entsprechenden Vorschlag zur Neudefinition der konfessionsrechtlichen Verhältnisse zwischen Lutheranern und Reformierten in der Pfalz ausarbeitete,99 vertrat der Heidelberger Reformierte Kirchenrat naturgemäß weiterhin die Auffassung, dass den Reformierten nach exakter Auslegung des Westfälischen Friedens praktisch das gesamte Kirchenvermögen zustünde und ihnen angesichts der Einschnitte, die sie im Zuge des Religionsvergleichs von 1705 zugunsten der Katholiken hätten akzeptieren müssen, nicht noch weitere freiwillige Abgaben zuzumuten seien.100 Der Kirchenrat wurde in dieser Meinung durch die brandenburg-preußische Politik und insbesondere den Hofprediger Achenbach unterstützt. Theoretisch handelte es sich dabei um einen Streit um die korrekte Auslegung des Westfälischen Friedens; praktisch aber ging es den Reformierten in der Kurpfalz darum, den status quo – also die in der Religionsdeklaration von 1705 festgeschriebenen Besitzstände – gegen mögliche Ansprüche der Lutheraner zu verteidigen. Doch fußte freilich auch dieser durch Friedrich I. vermittelte Vergleich auf dem Westfälischen Frieden. Die Reformierten hatten ihre Ansprüche, die sich aus dem Westfälischen Frieden ergaben, 1705 ausdrücklich reserviert und offiziell lediglich interimsweise auf Teile davon verzichtet, bis zu einer zukünftigen Klärung des 96
Vgl. dazu Kap. B. II. 2. a). Struve, Bericht, S. 1298–1300. 98 Relation von Metternich, Regensburg, 11.4.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 1. 99 s. dazu diverse Schreiben in: GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 2. 100 „Copia Schreibens an den Churbrandenburgischen Gesandten zu Regensburg, Grafen von Metternich, von dem Reformierten Kirchen-Rath in Chur-Pfalz“, Heidelberg, 30.3.1715 = Beilage zur Relation von Metternich, Regensburg, 11.4.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 1. 97
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strittigen Verhältnisses von Normaljahr, Rijswijker Klausel und landesherrlichem Jus reformandi.101 Insofern mussten auch die Lutheraner als theoretische Grundlage ihre Ansprüche auf Basis des Westfälischen Friedens formulieren, um in der Praxis den Vergleich von 1705 zu ihren Gunsten verändert zu sehen. Dass eine solche Veränderung, sollte der katholische Kurfürst sich darauf einlassen, allerdings nur auf Kosten jenes Teiles des Kirchenvermögens gehen konnte, das 1705 den Reformierten zugesprochen worden war (und nicht die im Besitz der Katholiken befindlichen Gefälle betreffen würde), darüber waren sich Reformierte wie Lutheraner im Klaren. Im Herbst 1715 erreichte die innerevangelische Auseinandersetzung in Regensburg einen neuen Höhepunkt, als der kurhannoversche Gesandte Wrisberg im Namen aller lutherischen Reichsstände ein Vorstellungsschreiben an Metternich übergab.102 Dieses fungierte als erneuter Appell an die kurbrandenburgische Gesandtschaft bzw. den preußischen König, sich nicht weiter einer Einigung entgegenzustellen und den Heidelberger Kirchenrat nicht länger in seiner ablehnenden Haltung gegenüber einer Teilhabe der Lutheraner am Kirchenvermögen zu unterstützen. Allerdings beinhaltete das lutherische Vorstellungsschreiben weniger politische Begründungen als vielmehr eine ausführliche Deduktion der rechtlichen Ansprüche der Pfälzer Lutheraner. Wie brisant die Argumentation dieses – immerhin im Namen aller lutherischen Reichsstände übergebenen – Schreibens war, zeigt bereits die von Metternich übermittelte Aussage des Hannoveraner Gesandten, der bei Überreichung der Schrift mit „gar viele[n] undendliche[n] contestationes“ betont habe, „wie daß die Intention keines weges dahin ginge, daß man den Refomirten im geringsten praecudiciren, vielweniger Ihr Jus Reformandi disputiren wollte …“.103 Tatsächlich diente der umfangreichen Vorstellungsschrift die These als Ausgangspunkt, dass die Restitution ex capite amnestiae, auf die sich die Reformierten in der Kurpfalz beriefen, gar nicht auf das Verhältnis zwischen Lutheranern und Reformierten anwendbar sei.104 Denn der innerevangelische Streit habe, obwohl vor dem Dreißigjährigen Krieg entstanden, keinen Bezug zum böhmischen Aufstand und sei folglich auch kein „objectum transactionis“ im Kontext des Dreißigjährigen Krieges gewesen. Deswegen aber vermöge die Restitution ex capite amnestiae in Bezug auf die beiden evangelischen Konfessionen „weder dem einen als dem anderen theil etwas zu geben oder zu nehmen“; vielmehr beziehe sich diese lediglich auf das Verhältnis zwischen Protestanten und Katholiken.105 101
Vgl. Kap. B. II. 2. c). Lit. E zur Relation von Metternich, Regensburg, 10.10.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 1; das Vorstellungsschreiben ist abgedruckt bei Schauroth, Sammlung 2, S. 404–411; im Folgenden wird die gedruckte Version zitiert. 103 Relation von Metternich, Regensburg, 10.10.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 1; Metternich fügte allerdings hinzu: „… so muß ich doch höherem Urtheil unterwerffen, wie diese unglückliche Versicherung mit der schrifftlichen vorstellung übereinkomme …“. 104 Zum Folgenden: Schauroth, Sammlung 2, S. 404–411 („Geziemende Vorstellung an die vortreffliche Chur-Brandenburgische Gesandtschafft“, 9.10.1715). 105 Ebd., S. 406–407. 102
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Zwar distanzierten sich die lutherischen Reichsstände in dem Vorstellungsschreiben von der in der Vergangenheit immer wieder durch die Pfälzer Lutheraner vertretenen These, nach der alle nach 1555 in der Kurpfalz zugunsten der Reformierten durchgeführten Umverteilungen des Kirchenvermögens schon deswegen reichsrechtlich nicht gedeckt gewesen seien, weil die reformierte Konfession im Augsburger Religionsfrieden nicht anerkannt worden war – mithin das Jus reformandi der Kurfürsten sich eben nicht auf die reformierte Konfession erstreckt habe.106 Gleichwohl gingen auch die lutherischen Reichsstände in ihrer Deduktion weit hinter den Westfälischen Frieden zurück, indem sie auf die wechselvolle Konfessionsgeschichte der Kurpfalz, seitdem durch Friedrich III. (1559–1576) das reformierte Bekenntnis eingeführt worden war, verwiesen. Doch weder an der Konfessionspolitik des Calvinisten Friedrichs III. noch an derjenigen seines Sohnes und direkten Nachfolgers, des lutherischen Ludwigs VI. (1576–1583), setzte die Argumentation des Vorstellungsschreibens an, sondern an den Veränderungen, die Pfalzgraf Johann Kasimir (1583–1592) veranlasst hatte, der als jüngerer Bruder Ludwigs VI. nach dessen Tod Administrator der Kurpfalz geworden war, sich aber im Gegensatz zu seinem Bruder zur reformierten Konfession bekannt hatte.107 Als Grundlage für die Bestimmung des Besitzstandes zwischen Reformierten und Lutheranern müsse, so das Vorstellungsschreiben, das Jahr 1583 angesetzt werden. In diesem Jahr habe Pfalzgraf Johann Kasimir den Reformierten nicht nur dasjenige restituiert, was sie unter Friedrich III. besessen hatten, sondern zusätzlich noch das Vermögen der durch ihn vertriebenen Lutheraner zugesprochen. Doch genau diese „Transaktio nen“ des kurpfälzischen Kirchenvermögens im Jahr 1583 seien unrechtmäßig gewesen: Erstens habe Johann Kasimir diese Veränderung nicht qua Landesherr, sondern lediglich als – noch dazu umstrittener – Administrator und Vormund seines minderjährigen Neffen, des späteren Friedrich IV., veranlasst, und dies zudem ohne Abstimmung mit den anderen Vormündern, namentlich Brandenburg, Württemberg und Hessen. Zweitens habe sich Johann Kasimir mit seiner Kirchenpolitik eindeutig über das Testament seines Bruders hinweg gesetzt. Drittens könne man füglich bezweifeln, ob der Administrator rechtmäßig gehandelt habe, als er den Lutheranern als „denjenigen, so unwidersprechlich zu der Augsburgischen Confession, folglich untern Religions-Frieden gehöret“ (Hervorhebung R. W.), auch noch denjenigen Teil ihres Kirchenvermögens entzog, den sie unter seinem Vater, Friedrich III., besessen hatten.108 Mit diesem letzten Argument wurde dann von den lutherischen Reichsständen doch noch die Unterscheidung zwischen der durch den Augsburger Religionsfrieden legitimierten lutherischen und der bis 1648 außerhalb des Reichsrechts stehenden reformierten Konfession aufgenommen, jedoch gewissermaßen in einer abgeschwächten Form. Denn indem man sich bei der Deduktion der rechtmäßigen
106
Ebd., S. 407–408. Auch zum Folgenden: Ebd., S. 408–409. 108 Ebd., S. 409. 107
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Vermögensverhältnisse auf die Veränderungen unter dem Administrator Johann Kasimir bezog (und eben nicht auf die Konfessionspolitik eines reformierten Kurfürsten), hatte man es geschickt vermieden, das Jus reformandi calvinistischer Landesherren vor 1648 grundsätzlich in Frage zu stellen. Eine solche Interpretation, wie sie von den Pfälzer Lutheranern selbst in ihren gedruckten Streitschriften immer wieder vertreten worden war, hätten Reichsstände einem anderen Reichsstand (und noch dazu dem brandenburgischen Kurfürsten und preußischen König) gegenüber schlechterdings nicht vorbringen können, ohne sich völlig zu diskreditieren.109 So betonte das Vorstellungsschreiben auch zum Schluss noch einmal, dass die gesamte reformierte Kirche im Reich kein Präjudiz zu fürchten habe, sei die Situation in der Pfalz doch „ihrer besonderen beschaffenheit nach von übrigen Evangelischen Reformirten […] gantz unterschieden und durchaus zu keiner consequenz zu ziehen, sondern diese Controvers das factum speciale de anno 1583, des Pfalzgraffen Johanni Casimiri qua Administratoris betrifft …“.110 Das Vorstellungsschreiben war zuvor in einer lutherischen Separatkonferenz unter dem Vorsitz Kurhannovers beraten worden.111 Dabei hatten nur wenige der Gesandten das von Wrisberg vorgestellte Projekt explizit unterstützt; die meisten Gesandten hatten allerdings erklärt, sich mangels genauerer Instruktionen ihrer Höfe an die Majora halten zu wollen, so dass es am Ende mehrheitlich angenommen wurde.112 Einige Diplomaten hatten jedoch den in dem Vorstellungsschreiben vertretenen Prinzipien deutlich widersprochen. Sowohl die beiden hohenzollernschen Markgrafen von Bayreuth und Ansbach als auch Wolfenbüttel und Württemberg lehnten die Zustimmung zu der Vorstellung ab und äußerten Bedenken über die darin vertretenen Prinzipien: Diese könnten künftig zum großen Nachteil der evangelischen Sache im Reich insgesamt ausschlagen, stünden sie doch im klaren Gegensatz zu allem, was das Corpus Evangelicorum in dieser Sache bisher offiziell vertreten habe.113 Dass der Beschluss ungeachtet dieser Einwände per Mehrheit gefällt wor-
109 Gegen diese in den Schreiben der Pfälzer Lutheraner vertretene Auffassung hatte Metternich bereits zuvor protestiert: „So mercket man doch darin diese denen Reformirten höchst schädliche Principia, dass nehmlich die Reformirte Churfürsten in der Pfalz nicht in Pace Religiosa mit begriffen und also kein Jus reformandi gehabt …“; Relation von Metternich, Regensburg, 26.9.1715, GStA PK, I. HA, Rep 40, Nr. 44, Fasz. 1. 110 Schauroth, Sammlung 2, S. 404–411 („Geziemende Vorstellung an die vortreffliche ChurBrandenburgische Gesandtschafft“, 9.10.1715), S. 410. 111 Zum Folgenden: „Actum Regensburg, den 5. Octobris 1715 im Churbraunschweig. Quartir in Cirulo“ = Beilage zur Relation von Metternich, Regensburg, 10.10.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 1; abgedruckt bei Schauroth, Sammlung 2, S. 411–416 (Evangelisches Konferenzprotokoll vom 5.10.1715); im Folgenden wird die gedruckte Version zitiert. 112 Relation von Metternich, Regensburg, 10.10.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 1. 113 Schauroth, Sammlung 2, S. 411–416 (Evangelisches Konferenzprotokoll vom 5.10.1715), S. 412–415. In einem späteren Reskript berichtete Metternich, dass auch Kursachsen an der „Vorstellung keinen Teil nehme“, weil darin „dem Evangelischen Wesen gefährliche Principien“ vertreten würden; Reskript von Metternich, Regensburg, 28.11.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 1.
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den war, erregte bei Metternich besondere Sorge, bestünde für die Zukunft doch die Gefahr, „daß die Evangel. Lutherischen auf solche Arth ein separates Corpus constitutiren wollen, worin Sie per majora concludiren können“.114 Auf den erneuten Vorstoß der Lutheraner hin ließ die Berliner Regierung durch Ludwig Otto von Plotho115 sowie Samuel von Cocceji116 umfangreiche Gutachten erstellen, in denen die in dem lutherischen Vorstellungsschreiben vertretenen Rechtsauffassungen zurückgewiesen wurden.117 Diese Gutachten sollten Metternich in Regensburg als Argumentationshilfe dienen, um weitere Ansprüche der Lutheraner abzuwenden, vor allem aber, um den lutherischen Reichsständen – und allen voran dem Hannoveraner Gesandten Wrisberg – deutlich zu machen, wie gefährlich es sei, wenn die Protestanten selbst den Westfälischen Frieden unterminierten und sich damit ihres wichtigsten Schutzschildes gegen die Katholiken begäben. Ein Jahr nachdem das lutherische Vorstellungsschreiben übergeben worden war, ließ Metternich schließlich in Regensburg im Namen seines Königs ein Pro Memoria unter den lutherischen Gesandten verteilen, das die Haltung des Berliner Hofes in dieser langwierigen Streitsache zusammenfasste:118 Zum einen wurde noch einmal auf die gemeinsamen Beschlüsse von 1700 verwiesen, in denen schon damals jegliche Ansprüche der Pfälzer Lutheraner jenseits des Standes von 1624 durch das gesamte Corpus Evangelicorum zurückgewiesen worden waren.119 Zum anderen 114 Relation von Metternich, Regensburg, 10.10.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 1. Diese von Metternich formulierte Sorge kann auch als Beleg dafür gelten, dass die Protestanten zwar gegenüber dem katholischen Reichsteil ihr Recht auf interne Mehrheits entscheidungen vehement verteidigten, gleichzeitig aber die tatsächliche Beschlussfassung im Corpus Evangelicorum gerade nicht auf der reinen Auszählung der Stimmen basierte, sondern dass vielmehr Konsens bzw. eine „qualitative Mehrheit“ (welche die zu Brandenburg-Preußen gehörigen Stimmen quasi per definitionem beinhalten musste) gesucht wurde; vgl. dazu B elstler, Stellung, S. 61–67; anders dagegen Kalipke, Verfahren, S. 494–495, dessen Schlussfolgerungen nicht für jene Phasen zuzutreffen scheinen, in denen das Corpus Evangelicorum aktiv die Reichspolitik mitbestimmte. Zur Bedeutung der Konsensfindung im Corpus Evangelicorum s. a. die Charakterisierung von Moser, Religionsverfassung, S. 377: „Es kommet alles auf ein gutes Einverständniß und Harmonie an. Dies ist die Seele des Corporis Evangelici; äusseret sich daran ein Mangel, so ist es ein Corpus morbidum, vel plane mortuum.“ 115 Zu Ludwig Otto von Plotho vgl. Kap. D. II. 116 Samuel von Cocceji war Professor Juris und wurde 1704 zum Halberstädter adeligen Rat ernannt, 1711 zum Halberstädtischen Regierungsdirektor; 1712 war er als Subdeligierter bei der Reichskammergerichtsvisitation tätig; 1714 wurde Cocceji von Friedrich Wilhelm I. zum Geheimen Justiz- und Oberappellationsgerichtsrat in Berlin ernannt; vgl. Acta Borussica, Behördenorganisation 2, S. 727, Anm. 4; Döhring, Cocceji. 117 Gutachten von Plotho, Berlin, 12.10.1715, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 1; Gutachten von Cocceji, Berlin, 29.11.1715, ebd. 118 Auch zum Folgenden: Pro Memoria = Beilage zur Relation von Metternich, Regensburg, 5.11.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 2. Zuvor hatten die Reformierten aus der Kurpfalz selbst das lutherische Vorstellungsschreiben in einer ausführlichen Schrift zurückgewiesen; Struve, Bericht, S. 1342–1357. Diese Schrift wiederum war mit Zustimmung Berlins gedruckt worden; Reskript an Metternich, 7.7.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 2. 119 Vgl. Kap. B. II. 2. a).
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distanzierte sich der preußische König aber auch deutlich von jeglicher Patronage gegenüber seinen eigenen, reformierten Glaubensgenossen: Anders als den lutherischen Reichsständen gehe es ihm nicht um die Besserstellung seiner „sogenante[n] Glaubens-Genoßen“, mache er selbst doch in seinen eigenen Landen bekanntermaßen keinerlei Unterschied zwischen den beiden evangelischen Konfessionen. Er nehme sich der Sache vielmehr deswegen an, weil die von den Lutheranern vertretenen Ansprüche „wider den kundbahren Friedens-Schluß“ gerichtet seien und damit die wichtigste Grundlage der evangelischen Rechte im Reich überhaupt antasteten. Während er den lutherischen Reichsständen also implizit den Vorwurf machte, zugunsten ihrer eigenen Klientel der gemeinsamen „protestantischen Sache“ irreparablen Schaden zuzufügen, betonte Friedrich Wilhelm I. seine eigene Unabhängigkeit, indem er versicherte, die Pfälzer Lutheraner nur zu gerne besser gestellt zu sehen, sofern dies geschehen könne, ohne den Westfälischen Frieden und die Ansprüche jener, „die daraus ein unstreitig erlangtes Recht haben“, zu verletzen.120 Zwar wurde 1717 noch einmal die Idee ventiliert, eine Deputation aus den Mitteln des Corpus Evangelicorum in die Pfalz zu entsenden, doch gelang es der brandenburg-preußischen Politik, derartige Vorschläge ins Leere laufen zu lassen, zumal sich die Hannoveraner Haltung in der Zwischenzeit offensichtlich verändert hatte.121 Bereits Ende 1716 konnte Metternich berichten, dass der Hannoveraner Gesandte Wrisberg bei den Ansprüchen der Pfälzer Lutheraner langsam beginne einzulenken und jedenfalls davon absehe, weitere schriftliche Vorstellungen zu veranlassen.122 Das „konfessionspolitische Erbe“ Friedrichs I. wurde also hinsichtlich der Pfalz unter der Regierung Friedrich Wilhelms I. zunächst bewahrt und die Rechte der Reformierten gegenüber lutherischen Ansprüchen verteidigt. Auch die Kommunikationswege der traditionellen reformierten Patronage funktionierten nach wie vor: Der Reformierte Kirchenrat stand in ständigem Kontakt sowohl zum brandenburg-preußischen Residenten in Frankfurt als auch zum Hofprediger Achenbach in Berlin.123 Gleichzeitig war man in Berlin spätestens ab 1715 sehr darum bemüht, in der Pfälzer Frage gerade nicht als Patron reformierter Interessen zu erscheinen, sondern den übrigen evangelischen Reichsständen vor Augen zu führen, wie gefährlich es für alle evangelischen Interessen im Reich und die Glaubwürdigkeit des Corpus Evangelicorum wäre, wenn die Protestanten selbst die Bestimmungen des Westfälischen Friedens zu unterminieren begännen. In diesem
120 Pro Memoria = Beilage zur Relation von Metternich, Regensburg, 5.11.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 2. 121 Metternich wurde angewiesen, sich besonders mit den Gesandten von Bayreuth, Ansbach, Wolfenbüttel und Württemberg abzustimmen, weil diese Reichsstände schon das Vorstellungsschreiben vom Oktober 1715 ausdrücklich nicht unterstützt hatten; Reskript an Metternich, Berlin, 18.9.1718, GStA PK, I. HA, Rep. 44, Fasz. 3. 122 Relation von Metternich, Regensburg, 24.12.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 2; Reskript an Metternich, Berlin, 12.12.1716, ebd. 123 s. die zahlreichen Gutachten des Hofpredigers Achenbach in: GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 44, Fasz. 1–3.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
letzteren Anliegen stimmten allerdings die politischen Interessen BrandenburgPreußens mit den besitzrechtlichen des Reformierten Kirchenrates in Heidelberg eindeutig überein. Insofern könnte man die Berliner Politik – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – durchaus als Fortführung einer reformierten Schutzpolitik verstehen, zumal mit dem Residenten in Frankfurt, dem reformierten Hofprediger Achenbach und dem langjährigen Reichstagsgesandten Metternich auch personell eine Kontinuität der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik in der Pfalz bestand. Ob es Brandenburg-Preußen unter Friedrich Wilhelm I. tatsächlich, wie behauptet, primär um die Bewahrung der „reinen“ Auslegung des Westfälischen Friedens, mithin die Bewahrung eines zentralen Bestandteiles der Principia evangelicorum zu tun war, oder doch zumindest im gleichen Maße um die konkreten Besitzstände der reformierten Klientel in der Kurpfalz ging, musste sich aber genau zu dem Zeitpunkt offenbaren, als der von Friedrich I. vermittelte, die Reformierten zumindest auf eine sichere rechtliche Basis stellende Vergleich von 1705 mit Beginn des Religionsstreites zwischen Katholiken und Reformierten in der Pfalz um die Jahreswende 1719/20 zur Disposition stand. Als der brandenburg-preußische Resident Hecht mit Beginn der erneut auf brechenden Konflikte zwischen den Pfälzer Reformierten und ihrem katholischen Landesherrn im Herbst 1719 aus Frankfurt nach Heidelberg beordert wurde, enthielten seine Weisungen aus Berlin bemerkenswerterweise keinerlei eindeutige Instruktionen, auf die Einhaltung der Religionsdeklaration und die Wiederherstellung der Verhältnisse von 1705 zu dringen. Im Gegenteil erklärte man sich in Berlin angesichts der im Corpus Evangelicorum vorherrschenden Absicht, den Vergleich von 1705 für gebrochen zu erklären und die Restitution der Besitzstände und Rechte der Protestanten auf Grundlage des Westfälischen Friedens zu fordern, schon Anfang November 1719 explizit dazu bereit, der Mehrheit zu folgen und den von Friedrich I. vermittelten Konfessionsstatus zu verwerfen.124 Bereits diese Beobachtung verdeutlicht mithin, dass die konfessionspolitische Positionierung Brandenburg-Preußens in den frühen Jahren der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. nicht so eindeutig als „pro-reformiert“ zu charakterisieren ist, wie diejenige, die Friedrich III./I. vertreten hatte. Es ist zudem auffallend, wie offen und direkt die maßgeblichen brandenburg-preußischen Diplomaten in Heidelberg, Wien und Regensburg im Zusammenhang mit dem Pfälzer Konflikt in den Relationen an die Berliner 124 Reskript an Metternich, Berlin, 11.11.1719, GStA PK, I. HA. Rep. 40, Nr. 27, Bl. 63–64, 63: Es sei gut, „daß man sich alldort [im Corpus] vereinige, ob man wegen gedachter restitution mit dem interims-vergleich de anno 1705 sich begnügen, oder aber auf dem statu IP bestehen wolle, damit man sich bey der handlung zu Heydelberg darnach richten könne …“. An anderer Stelle betonte die Regierung gegenüber dem Residenten Hecht, dass man wegen der Aufhebung des Vergleichs „gantz kein bedenken [trage] […], und soll Uns nichts lieber seyn, als wann die Religions-Sachen in der Pfalz auf den fuss des Westphälischen Friedens wieder gebracht werden können …“; Reskript an Hecht, Berlin, 28.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 190–191, 191. Metternich hatte schon früh berichtet, „daß man hier bey dem Corpori Evangelico […] dafür hält, daß man alles ad terminos Instrum. Pacis bringen müsste …“; Relation von Metternich, Regensburg, 30.10.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 30–32, 31.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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Regierung ihre Meinung äußerten und wie sehr die politischen Präferenzen der Repräsentanten Brandenburg-Preußens einerseits und jene der Berliner Regierung andererseits offenbar differierten. So forderte der in Heidelberg anwesende Frankfurter Resident Hecht – ohne entsprechend instruiert zu sein! – in den Verhandlungen mit der Heidelberger Regierung ausdrücklich die Einhaltung der Religionsdeklaration, und zwar selbst dann noch, als er unmissverständlich aus den Berliner Reskripten entnehmen konnte, dass man sich an seinem Hof bereits – mit Rücksicht auf die Meinungsbildung innerhalb des Corpus – gegen ein solches Vorgehen entschieden hatte.125 Auch der in Wien tätige Resident Burchard machte in seinen Relationen gegenüber der Berliner Regierung seit Beginn der Konfessionskrise in der Pfalz immer wieder deutlich, dass man die in Regensburg geplante Aufhebung der Religionsdeklaration von 1705 keinesfalls unterstützen dürfe.126 Er verwies mehrfach darauf, wie gering die Erfolgsaussichten einer Restitution der kurpfälzischen Konfessionsverhältnisse entsprechend den Bestimmungen des Westfälischen Friedens seien: „… wann man sich nicht getrauet, die wenige gravamina, so seit anno 1705 vorgegangen […] zu redressiren, was ist wohl vor hofnung, daß man den Churfürsten von der Pfalz werde forcieren wollen, die in possession durch einen solemnen Tractat viele Jahre lang habende 2/7 an Kirchen und Revenuen aus seinen händen wieder heraus zu raisonieren?“127 Die Folge einer Aufhebung der Deklaration seitens des Corpus könne nur darin bestehen, dass der Kurfürst sich noch mehr von dem reformierten Kirchenvermögen aneignen, das Simultaneum wieder einführen würde und sich die Situation der Reformierten somit nur verschlechtern könne. Indem man sich auf Maximalforderungen verlege, so Burchard, gefährde man alle Aussichten auf Erfolg einer Intervention zugunsten der Reformierten in der Pfalz; und eben dieses Ziel, so meinte Burchard, verfolgten die lutherischen Reichsstände, die „die Reformirte im Stich laßen“ und stattdessen für ihre eigenen Glaubensgenossen in der Pfalz eine günstigere Regelung – auf Kosten der Reformierten – mit dem Kurfürsten aushandeln wollten.128 Während sich in Regensburg bereits mit Beginn der Pfälzer Religionskrise abzeichnete, dass die evangelischen Gesandten mehrheitlich die Pfälzer Religions deklaration für nichtig erklären wollten, sprach sich neben Burchard auch der Regensburger Gesandte Metternich für seine Person gegen ein solches Vorgehen aus.129 Tatsächlich veranlassten die Einwände des Wiener Residenten Burchard die Berli 125 Struve, Bericht, S. 1391–1392, 1401–1406, bes. S. 1405; Reskript an Hecht, Berlin, 11.11. 1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 65. 126 s. etwa Relation von Burchard, Wien, 11.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 100–101, 101: „… warum ich […] davor halte, daß von dem salva comitiali decisione anno 1705 zwischen Ew. Königl. Mayt. und Churpfalz errichteten Religions-Recess nicht abzu weichen, wann man nicht in einen unendlichen Labyrinth verfallen wolle …“. 127 Relation von Burchard, Wien, 29.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 248–251, 248. 128 Ebd., Bl. 249. 129 Metternich berief sich dabei auf dieselben Argumente wie Burchard: Relation von Metternich, Regensburg, 21.12.1719, GStA PK, I. HA., Rep. 40, Nr. 27, Bl. 435–436.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
ner Regierung augenscheinlich, den Reichstagsgesandten Metternich anzuweisen, die von Burchard vorgebrachten Argumente für eine vorläufige Beibehaltung der Deklaration (die ohnehin zum einen schon immer nur als Interimslösung galt und zum anderen den Westfälischen Frieden explizit zur Grundlage nahm) zumindest einmal in der evangelischen Konferenz vorzutragen – obwohl Metternich in den vergangenen Monaten dort immer wieder weisungsgemäß betont hatte, dass man in Berlin in dieser Hinsicht keinerlei Präferenz habe, wenn die evangelischen Stände nur geschlossen aufträten. Doch gerade an dieser ganz offenkundigen Priorität der Berliner Regierung: eine möglichst geschlossene Front der evangelischen Reichsstände zu errichten, hatte Burchard nun in Berlin gewisse Zweifel gesät, indem er den Lutheranern vorwarf, sie wollten sogar hinter das sehr allgemein gehaltene Conclusum vom 10. Oktober 1719 zurücktreten – und also letztlich überhaupt nicht tätig werden, sondern vielmehr durch eine äußerst unrealistische Forderung die gerade erst begonnene Aktivität des Corpus bereits wieder versanden lassen. Diese Möglichkeit, die in der Tat die Ziele Brandenburg-Preußens konterkariert hätte, scheint die Berliner Regierung in Folge von Burchards Bericht durchaus ernsthaft in Betracht gezogen zu haben; denn Metternich wurde im Dezember 1719 befohlen, den übrigen evangelischen Gesandten die von Buchard formulierten Bedenken vorzutragen.130 Aus diesen, von Metternich in den Weihnachtstagen 1719 den übrigen evangelischen Gesandten vorgestellten Überlegungen erwuchs in der evangelischen Konferenz großer Unmut, der sich in einer harten Konfrontation zwischen Wrisberg und Metternich entlud.131 Laut seinem Bericht nach Berlin hatte Metternich dabei versucht deutlich zu machen, dass es seinem Hof nicht darum ginge, primär die Reformierten zu schützen und den Lutheranern nichts vom Kirchenvermögen zu gönnen. Die Frage sei nicht die, ob das Corpus den Vergleich anerkennen könne oder wolle, sondern vielmehr, wie das Corpus – gesetzt den Fall, der Kurfürst restituiere Katechismus und Heiliggeistkirche – Karl Philipp „zu etwas mehrerem zu obligiren [könne], nehmlich zu herstellung des status Instr. Pac. Westphal.?“ – noch dazu vor dem Hintergrund, dass über ein gemeinsames Vorgehen der Protestanten nach wie vor keine Entscheidung getroffen worden sei.132 Metternich überreichte den übrigen evangelischen Gesandten auch noch schriftlich seine „Rationes, warum das bewußte Conclusum wegen des Interims-Vergleichs de anno 1705 nicht zu machen“.133 Darin erläuterte er abermals, dass man mit einer Kassierung des 130 Reskript an Metternich, Berlin, 9.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 260–262. Entsprechend wurde auch Hecht in Heidelberg instruiert, die Ankündigung, man betrachte die Deklaration von 1705 für aufgehoben, zunächst zurückzuhalten; Reskript an Hecht, Berlin, 8.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 267. 131 Relation von Metternich, Regensburg, 25.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Bl. 4–8. 132 Relation von Metternich, Regensburg, 28.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Bl. 28–30. 133 Lit. A zur Relation von Metternich, Regensburg, 25.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Bl. 15.
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Vergleichs dem Kurfürsten nur einen weiteren Vorwand liefern würde, sein Jus reformandi noch weiter auszudehnen und sich an dem aktuellen Vermögen der Reformierten zu bereichern. Sämtliche Forderungen nach einer Beachtung der Bestimmungen des Westfälischen Friedens in der Kurpfalz, wie man sie ja seitens des Corpus Evangelicorum in den Schreiben an den Kaiser und den Kurfürsten bereits vertreten habe, seien davon schließlich unbenommen. Es gehe einzig darum, eine zusätzliche, die Pfälzer Reformierten vor weiteren Enteignungen schützende Norm nicht ohne Not zu annullieren. Der Hannoveraner Gesandte Wrisberg übergab Metternich daraufhin nur einige Tage später seinerseits eine schriftliche Vorstellung:134 Die evangelischen Gesandtschaften könnten sich weder an den Interimsrezess von 1705 binden „noch die Gelegenheit, so ihnen Churpfälzischer seits selbst zu herstellung des Westphälischen Friedens an Hand gegeben, vorbey gehen lassen …“. Metternich solle seinem König vorstellen, „wie schmerzlich dem gesamten Corpori dergleichen argwohn, welcher an statt der jetzo noch mehr als nöthigen Einigkeit und vertrauens […] Mißvergnügen wecken könne …“.135 Wie man in Berlin auf diese Differenzen reagierte, zeigt eindeutig, wo die Prioritäten der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik im Reich zu diesem Zeitpunkt lagen: Als der Bericht aus Regensburg über die Auseinandersetzungen innerhalb des Corpus Berlin erreichte, wurde Metternich umgehend angewiesen, sich in jedem Fall mit Wrisberg abzustimmen, keinesfalls aber länger an der Religionsdeklaration von 1705 festzuhalten und „alle dispute contestationes und Trennungen über das Religionswesen in der Pfalz und sonst unter den Evangelischen Reichsständen […] mit der äußersten Sorgfalt zu evitiren, und dazu keine Uhrsache zu geben“.136 Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt im Corpus Evangelicorum die Kassierung des zwischen Friedrich I. und Kurpfalz aufgerichteten Religionsvergleichs von 1705 bereits per Mehrheitsbeschluss entschieden worden – und seitens Brandenburg-Preußens wurden keine weiteren Bedenken mehr formuliert.137 Die zu Beginn des Religionsstreites in der Kurpfalz in der Tat wenig kohärente Haltung der Berliner Regierung und ihrer Diplomaten in Regensburg, Wien und Heidelberg ist von der älteren Literatur auch als ein „Bild von der Ratlosigkeit und dem Wankelmut der damaligen preußischen Staatsführung“138 bezeichnet worden. Bei näherer Betrachtung lässt sich allerdings erkennen, dass trotz der offensicht 134 Lit. C zur Relation von Metternich, Regensburg, 28.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40 Nr. 28, Bl. 31–34; abgedruckt bei Schauroth, Sammlung 2, S. 427–429 („Corporis Evangelici Vorstellung an die Chur-Brandenburgische Gesandtschafft“, o. D.); im Folgenden wird nach der gedruckten Version zitiert. 135 Ebd., S. 429. 136 Reskript an Metternich, Berlin, 6.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Bl. 44–45; s. a. die offizielle Antwort Brandenburg-Preußens an das Corpus Evangelicorum, abgedruckt bei Schauroth, Sammlung 2, S. 429–430 („Antwort der Chur-Brandenburgischen Gesandtschafft“, o. D.). 137 Schauroth, Sammlung 2, S. 430 (Conclusum vom 22.12.1719). 138 Borgmann, Religionsstreit, S. 56.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
lichen Vielfalt der politischen Meinungen, die im konkreten Fall der Kurpfalz geäußert wurden, ein Ziel von der Berliner Regierung durchgängig verfolgt wurde, nämlich die Herstellung eines handlungsfähigen und -willigen Corpus Evangelicorum. Den Vorrang gab man in Berlin ganz fraglos einem möglichst geschlossenen Vorgehen der Protestanten. Hinter diesem Ziel stand von Anfang an die besondere Protektion der Reformierten in der Pfalz resp. die Bewahrung des „konfessionspolitischen Erbes“ Friedrichs I. zurück. Schon die ersten Instruktionen für den nach Heidelberg beorderten Frankfurter Residenten Hecht waren in Hinblick auf die Rechtsnormen, die man als Grundlage der Restitutionsforderungen angeben sollte, äußerst offen formuliert gewesen; und wiederholt war Hecht angewiesen worden, sich mit dem englischen Gesandten Haldane abzusprechen bzw. die Entscheidung aus Regensburg abzuwarten. Zwar hatten Burchards Bedenken gegenüber den Motiven der Lutheraner bzw. den von ihnen verfolgten konfessionspolitischen Zielen in Berlin offensichtlich zwischenzeitlich zu gewissen Sorgen geführt, weshalb Metternich angewiesen worden war, im Corpus Evangelicorum diese Schwierigkeiten zu thematisieren. Als aber diese Diskussion von neuem die innerevangelischen Differenzen hochkochen ließ und deutlich wurde, wie fragil die politische Einheit des Corpus Evangelicorum war bzw. wie schnell der Streit zwischen Lutheranern und Reformierten die politische Aktionsfähgkeit des Corpus zu lähmen drohte, ruderte die Berliner Regierung sofort zurück, um ihr primäres Ziel nicht durch die Vertretung „reformierter“ Positionen zu riskieren. Anders als in dem seit 1705 geführten Streit um eine mögliche Beteiligung der Lutheraner am Kirchenbesitz ging es, nachdem die Aufhebung der Religionsdeklaration von 1705 nun einmal beschlossen war, tatsächlich um die (zumindest rhetorisch eingeforderte) Wiederherstellung der Verhältnisse entsprechend den Normaljahresbestimmungen – wie gering die Wahrscheinlichkeit einer Durchsetzbarkeit derartiger Forderungen auch immer erscheinen mochte. Der Reformierte Kirchenrat sah sich daher seit der Intervention des Corpus Evangelicorum in einer durchaus ambivalenten Situation: Die Hilfe aus Regensburg und die Unterstützung der verschiedenen Gesandten in Heidelberg war zwar durchaus willkommen; dass die Religionsdeklaration jedoch bereits wenige Monate nach dem ersten gemeinsamen Conclusum über die Pfalz per Beschluss durch das Corpus annulliert worden war, rief beim Kirchenrat große Bedenken hervor. Diese Bedenken trugen sowohl der Kirchenrat selbst als auch die wichtigsten beteiligten brandenburg-preußischen Diplomaten immer wieder der Berliner Regierung vor. Dennoch entschied man sich in Berlin gegen die Wahrung der Interessen der reformierten Klientel, als deutlich wurde, dass die lutherischen Reichsstände – und insbesondere Hannover – sich nur unter der Bedingung einer Annullierung des Religionsvergleichs zu einer aktiven, gemeinsamen Politik im Corpus Evangelicorum bereit erklären würden. Nachdem die Religionsdeklaration einmal für gebrochen und ungültig erklärt worden war, berief sich das Corpus Evangelicorum in der Folge ausschließlich auf den Westfälischen Frieden bzw. die Einrichtung der Konfessionsverhältnisse in der Kurpfalz entsprechend der Normaljahresverhältnisse und forderte die Restitution auf Grundlage
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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des „nudum factum possessionis“.139 Dieses „factum“ aber – noch zwei Jahre zuvor Gegenstand der erbittertsten Debatten zwischen Lutheranern und Reformierten im Corpus – wurde nun einmütig entsprechend der auf Boetzelaer zurückgehenden Interpretation vertreten! Zumindest im Rahmen des Corpus Evangelicorum wurden keinerlei reichsrechtlich begründete Forderungen der Lutheraner auf legitime Teilhabe am kurpfälzischen Kirchenvermögen gestellt, jenseits dessen, was sie im Normaljahr 1624 besessen hatten.140 Diese Veränderung ging maßgeblich darauf zurück, dass England-Hannover und Brandenburg-Preußen offensichtlich das Interesse an einem geeinten Corpus Evangelicorum als Instrument anti-kaiserlicher Oppositionspolitik verband. Ohne eine einheitliche Interpretation des Westfälischen Friedens und der darin aufgestellten Normaljahresbestimmungen als rechtlichem Dreh- und Angelpunkt der Konfessionsverhältnisse im Reich aber konnten die evangelischen Reichsstände als Corpus politicum nicht agieren. Für die spezifische Situaion in der Kurpfalz, die zweifellos den mit Abstand prominentesten evangelischen Beschwerdefall darstellte, bedeutete dies, dass man künftig mit Blick auf die Versorgung der Lutheraner nicht mehr mit rechtlichen Ansprüchen argumentierte. Vielmehr beschränkten sich die lutherischen Reichsstände im Corpus Evangelicorum ab jetzt darauf, die Pfälzer Reformierten von einer „freiwilligen Abgabe“ an ihre lutherischen Glaubensbrüder zu überzeugen.141 Während sich also England-Hannover schon Ende 1716 – vermutlich im Lichte der sich immer deutlicher abzeichnenden Konflikte mit dem katholischen Reichsteil – von der Vertretung der pfälzischen Lutheraner auf Grundlage einer konkurrierenden Interpretation des Westfälischen Friedens distanziert hatte, gab Brandenburg-Preußen 1719/20 den von Friedrich I. vermittelten Religionsvergleich zugunsten einer konfessionspolitischen Zusammenarbeit mit England-Hannover und einem möglichst geeinten Corpus Evangelicorum auf.
139 s. etwa Schauroth, Sammlung 2, S. 588–597 („Anderweite Vorstellung des Corporis Evangelicorum an die Kayserl. höchstansehnliche Principal-Commission“, o. D. [Dez. 1720]). 140 Außerhalb des Corpus Evangelicorum wurde diese Diskussion freilich in diversen Streitschriften weitergeführt. So erschien noch 1722 in Amsterdam eine Schrift, die sämtliche rechtlichen (und moralischen) Ansprüche der Lutheraner in der Unterpfalz zurückwies: Bericht-Schreiben, Gründlich anweisende, Daß die Evangelisch-Lutherische In der Untern-Pfalz / kein Recht noch Anspruch haben, auf die Kirchen Güter Welche die Evangelisch-Reformirte Darinnen besitzen Und daß es für die Reformirte nicht thunlich ist, etwas von diesen Güthern an die Evangelisch-Lutherische abzustehen, Amsterdam 1722. 141 So wurden die Pfälzer Lutheraner in ihrem Bemühen, erneut die Legitimität ihrer umfassenden Ansprüche auf das kurpfälzische Kirchenvermögen zu erweisen, von Wrisberg abgewiesen. Metternich berichtete, Wrisberg habe ihm versichert: „Er wüßte schon, was Ihnen [den Lutheranern] von Rechts wegen gebührete …“; doch verfolge Wrisberg nach wie vor den Gedanken, „daß, wann Reformati das Ihrige erst wieder hätten, sie denen EvangelischLutherischen so dann etwas aus gutem Willen müßten zukommen lassen …“; Relation von Metternich, Regensburg, 14.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 45. Nur einige Tage später berichtete Metternich, dass sich die Pfälzer Lutheraner nun zunehmend an den sachsen-gothaischen Gesandten wandten, „weilen Sie bey dem Chur-Braunschweigischen allen Ihren wenig großen Credit verlohren …“; Relation von Metternich, Regensburg, 18.3.1720, ebd.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Diese Verständigung zwischen den beiden wichtigsten evangelischen Mächten des Reiches war die entscheidende Voraussetzung für das Agieren des Corpus Evangelicorum als Corpus politicum während der folgenden Jahre. Mit Blick auf diese Entwicklungen der Jahre 1715–1719 lässt sich die brandenburg-preußische Position keinesfalls als eindeutig „reformiert“ bezeichnen – zumindest, was die Weisungen aus Berlin betrifft. Vielmehr wies die Berliner Regierung in den Reskripten an die verschiedenen Diplomaten immer wieder darauf hin, dass man an einer Aufhebung des Interimsrezesses von 1705 keinen Anstoß nehmen würde. Abgesehen von den durch den Wiener Residenten Burchard vorgetragenen Bedenken, die Metternich im Corpus zu diskutieren befohlen wurden (und die in Berlin Zweifel am Willen der Lutheraner zur Beteiligung an einem politisch aktiven Corpus hatten aufkommen lassen), blieb man in Berlin durchgängig bei dieser Position. Auch den mit der Religionsdeklaration aufs Engste verflochtenen innerevangelischen Differenzen zwischen den Lutheranern und den Reformierten in der Pfalz stand man in Berlin unter Friedrich Wilhelm I. erkennbar neutral gegenüber.142 Die alten Verteilungskämpfe unter den beiden evangelischen Konfessionen mussten natürlich bereits mit der Verletzung der Religionsdeklaration durch den Pfälzer Kurfürsten wieder aufflammen – doch lässt sich aus den Berliner Weisungen keinerlei einseitige Verpflichtung gegenüber den Pfälzer Reformierten herauslesen. Diese Haltung kontrastiert auffällig mit den wesentlich entschiedener pro-reformierten Ansichten der brandenburg-preußischen Diplomaten vor Ort: Metternich in Regensburg, Hecht in Heidelberg und Burchard in Wien vertraten zu Beginn des Religionsstreits sämtlich – mehr oder weniger ausgesprochen – den Standpunkt, man solle die Restitution der Reformierten in der Pfalz auf Grundlage der Religionsdeklaration (und nicht des Normaljahres) fordern. Neben dem Argument, dass die politische Durchsetzbarkeit von Ansprüchen auf alleiniger Grundlage des Westfälischen Friedens äußerst unwahrscheinlich sei, war bei den Diplomaten offenbar zum einen die Sorge vorherrschend, dass durch „überzogene“ Forderungen seitens des Corpus Evangelicorum die Reformierten in der Kurpfalz letztlich nur verlieren könnten; zum anderen aber, dass die Lutheraner auf Kosten der Reformierten versuchen würden, mit dem Kurfürsten (oder dem Corpus Evangelicorum) zu einer für sie günstigeren Vereinbarung zu gelangen. Schließlich sprachen die brandenburg-preußischen Diplomaten den Verdacht aus, bei den lutherischen Reichsständen bestehe ohnehin nicht der politische Wille zu einem gemeinsamen evangelischen Vorgehen – ein Vorwurf, der freilich immer wieder auch umgekehrt Brandenburg-Preußen von den lutherischen Reichsständen gemacht wurde und der in erster Linie das nach wie vor bestehende grundsätzliche Misstrauen zwischen
142 In Berlin erwog man den innerevangelischen Gegensatz in der Pfalz lediglich unter dem Gesichtspunkt, dass dieser Streit die Einheit der Protestanten bzw. des Corpus Evangelicorum gefährden könnte. Daher wurde u. a. Hecht angewiesen, Gutachten darüber einzuholen, „wie den Klagen, so die Lutheraner gegen die Reformirte in der Pfalz führen, am besten zu begegnen [sei] …“; Reskript an Hecht, Berlin, 5.11.1719, GStA PK, I. HA. Rep. 40, Nr. 27, Bl. 146.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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den beiden evangelischen Konfessionen belegt.143 Während die drei Gesandten in Regensburg, Heidelberg und Wien den reformiert-lutherischen Gegensatz in der Kurpfalz häufig thematisierten und die konkreten Interessen der Reformierten verteidigten, wurden diese innerevangelischen Schwierigkeiten in den Berliner Instruktionen praktisch nie diskutiert. Die beteiligten Diplomaten repräsentierten mithin wesentlich stärker als die Berliner Regierung konfessionspolitische Traditionen, die auf die Regierungszeit Friedrichs III./I. verweisen. Und tatsächlich waren zum einen alle drei Gesandten reformierter Konfession; zum anderen aber hatten sie sämtlich bereits unter Friedrich III./I. in brandenburg-preußischen Diensten gestanden und waren zudem auf die eine oder andere Weise gut vertraut mit den kurpfälzischen Konfessionsverhältnissen: Philipp Reinhold Hecht war 1677 in Pfalz-Zweibrücken geboren worden, sein Vater hatte im Dienst des pfalz-simmernschen Hofes in Kreuznach gestanden. Er studierte Rechtswissenschaft in Herborn und Halle, wo zu dieser Zeit auch der spätere Berliner Hofprediger Achenbach lebte, mit dem er weitläufig verwandt war.144 Seit 1705 stand Hecht als Verwalter des durch das Erbe der Pfalzgräfin Maria aus dem Haus Oranien an Brandenburg-Preußen gelangten, ehemals pfalz-simmernschen Hofes in Kreuznach in brandenburg-preußischen Diensten, in die er im Übrigen über die Vermittlung des Grafen Wartenberg (ebenfalls ein geborener Pfälzer und in pfalz-simmernschen Diensten stehend) gelangt war.145 Fünf Jahre später erfolgte seine Ernennung zum preußischen Hofrat und Residenten in Frankfurt am Main. Er fungierte seither als wichtigster Ansprechpartner für den Heidelberger Reformierten Kirchenrat in allen Angelegenheiten, die mit der Durchführung und Aufrechterhaltung der Religionsdeklaration in Zusammenhang standen, sowie in allen sonstigen Belangen, in denen die Pfälzer Reformierten den Schutz des preußischen Königs erbaten. Zudem stand Hecht auch in verwandtschaftlichen Beziehungen zu der pfälzischen Familie Mieg. Ein Neffe Hechts heiratete Anfang 1720 eine Tochter des reformierten Kirchenrates und Theologieprofessors Ludwig Christian Mieg.146 Auch Ernst von Metternich war bereits unter Friedrich III./I. als brandenburg-preußischer Reichstagsgesandter tätig gewesen und hatte sich in Regensburg intensiv für die Reformierten in der Kurpfalz eingesetzt. In seiner Position als Reichstagsgesandter hatte er auch die zahlreichen publizistischen und politischen Angriffe der Lutheraner auf Brandenburg-Preußen im Zuge der Etablierung der Religionsdeklaration von 1705 erlebt sowie die Verhandlungen mit den lutherischen Gesandten über die so genannte „mutuelle Toleranz“ geführt. Schließlich hatte er miterlebt, wie alle Verhandlungen unter den evangelischen Reichsständen 143 Diese Meinung wird deutlich vertreten etwa in der Relation von Hecht, Heidelberg, 2.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Bl. 118–122, in der Hecht eine ganze Liste von Gründen aufführt, die für eine Beibehaltung der Religionsdeklaration von 1705 sprächen; ähnlich auch die Relation von Burchard, Wien, 3.1.1720, ebd., Bl. 123. 144 Vgl. auch zum Folgenden: Hecht, Gebürtige Pfälzer, S. 207–221. 145 Vgl. Stribrny, Kreuznacher Besitzungen. 146 Zu Mieg vgl. Holtzmann, Mieg.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
über eine mögliche Garantie der kurpfälzischen Konfessionsverhältnisse in den Friedensverträgen von Utrecht, Rastatt und Baden gescheitert waren.147 Daneben hatte Metternich aber auch im Zusammenhang der Verhandlungen über den Erwerb Neuchâtels Erfahrungen mit den Unionsverhandlungen in der Schweiz gesammelt und galt persönlich (wie sein Bruder Wolf von Metternich auch) als „unionsfreundlich“.148 Daniel Burchard stand seit 1696 in brandenburg-preußischen Diensten, zunächst als Legationssekretär der Reichstagsgesandtschaft in Regensburg. Von dort war er 1699, im Zuge der ersten Intervention Friedrichs III./I. zugunsten der Pfälzer Reformierten, an den hessen-kasselischen Hof gereist, um sich beim dortigen Landgrafen für die Unterstützung der reformierten Kirche in der Pfalz zu verwenden.149 Seit 1704 war Burchard als Resident unter anderem im Niedersächsischen Kreis und in Hamburg tätig.150 Neben seiner Beteiligung an den Bemühungen Friedrichs III./I. um die Interessen der Reformierten in der Kurpfalz Ende des 17. Jahrhunderts war Burchard durch die Heirat mit einer der Töchter des Hofpredigers Achenbach auch persönlich eng mit der reformierten Führungsschicht in Berlin und Heidelberg verbunden.151 Alle genannten brandenburg-preußischen Diplomaten, die 1719/20 maßgeblich mit den konfessionellen Auseinandersetzungen in der Kurpfalz befasst waren, hatten demnach in der einen oder anderen Weise auch an den Verhandlungen um die Religionsdeklaration von 1705 mitgewirkt; Hecht und Burchard besaßen zudem auch noch enge persönliche Kontakte zu den Pfälzer Reformierten. Dass besonders Burchrad so lebhaft für die Beibehaltung der Religionsdeklaration resp. die Interessen der Reformierten eintrat, kann angesichts seiner engen verwandtschaftlichen Verbindung zum Hofprediger Achenbach wenig verwundern. Achenbach selbst scheint an den konfessionpolitischen Entscheidungen der Regierung seit 1718 keinen Anteil mehr genommen zu haben. Anders als noch in den ersten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms I. sind für die Zeit seit dem neuerlichen Aufflammen der religiösen Gegensätze in der Kurpfalz keine Gutachten Achenbachs mehr in den Berliner Akten überliefert. Dieser Befund lässt sich damit erklären, dass Achenbach im März 1720 starb – und vermutlich war er bereits einige Monate zuvor, als der Konflikt in der Pfalz im Herbst 1719 weitere Kreise zog, nicht mehr gutachtend für den Geheimen Rat tätig. Allerdings wurde die in Achenbachs Gutachten zum Tragen kommende konfessionell-politische „Stimme“, die immerhin in der Vergangenheit große Bedeutung für die brandenburg-preußische Konfessionspolitik im Reich besessen hatte, nicht ersetzt. Es finden sich in den Akten keinerlei Gutachten anderer reformierter Theologen oder Hofprediger, die seit 1719/20 auf diese Weise 147
Vgl. Kap. B. II. 2. g). Vgl. Kap. E. II. 4. 149 Vgl. Kap. B. II. 2. a). 150 Vgl. Bittner, Repertorium, S. 33. 151 Vgl. Kap. B. II. 2. c). 148
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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den politischen Kurs Berlins beeinflusst hätten. Im selben Monat wie sein Schwiegervater starb auch der Wiener Resident Daniel Burchard, dessen Meinung in Berlin offenbar ebenfalls Gewicht beigemessen worden war.152 So verstummten mit dem Tod Achenbachs und Burchards 1720 zwei politisch einflussreiche Stimmen, die dezidiert die reformierte Klientel Brandenburg-Preußens und insbesondere die Interessen der Pfälzer Reformierten vertreten hatten. Bis der endgültige Befehl aus Berlin eintraf, in jedem Fall mit der Mehrheit im Corpus Evangelicorum und also für eine Kassierung der Religionsdeklaration zu stimmen, waren sowohl Hecht als auch Metternich in ihren Äußerungen in Heidelberg bzw. innerhalb des Corpus Evangelicorum deutlich über die Instruktionen aus Berlin hinausgegangen, indem sie beide mitunter dezidiert pro-reformiert und antilutherisch argumentiert hatten. Auch nachdem die Religionsdeklaration von 1705 offiziell vom Corpus Evangelicorum für ungültig erklärt worden war, bemühten sich beide Diplomaten bei den nun in der evangelischen Konferenz angestellten Überlegungen, wie man in Zukunft die Versorgung der Pfälzer Lutheraner würde sicherstellen können, um eine Schonung des reformierten Kirchenvermögens.153 Auch in dieser Diskussion war die Haltung der Berliner Regierung wesentlich weniger Reformierten-freundlich als diejenige der beiden Gesandten in Regensburg und Heidelberg. Erklärte man doch in Berlin unumwunden und in klarem Gegensatz zum Reformierten Kirchenrat, die Pfälzer Reformierten würden sich „gerne“ zu einer Abgabe an die Lutheraner bereit erklären.154 Was das Verhältnis zum Landesherrn und die Ansprüche an die Besitzungen der Katholiken betraf, vertrat die brandenburg-preußische Politik dagegen eine kompromisslose Position. Gemeinsam mit dem Corpus Evangelicorum setzte die Berliner Regierung den Reformierten Kirchenrat enorm unter Druck, sich keinesfalls – am Corpus Evangelicorum vorbei – mit ihrem Landesherrn auf einen wie auch immer gearteten Vergleich einzulassen und auf diese Weise die in den evan 152
Reskript an Graeve, Berlin, 3.2.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28., Fasz. 2, Bl. 24. Der Reichshofratsagent Graeve übernahm nach Burchards Tod interimsweise auch die Aufgaben des Residenten. 153 Metternich äußerte deutlich sein Bedauern, „daß man wohl kein ander expediens finden wird, die Evangelisch-Lutherischen zu befriedigen, als ihnen etwas zu ihrer subsistenz zu geben […] und schreyen sie [die Lutheraner] über die Reformirten ja so sehr, als wir allhier über die Catholischen.“; Relation von Metternich, Regensburg, 13.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 111. Hecht sprach sich gegen eine Abgabe der Reformierten zugunsten der Lutheraner aus, weil erstere „nicht mehr so viel haben, daß sie ihre eigenen Pfarrer, Kirchen und schulbediente […] nöthürfftig besolden können …“; Relation von Hecht, Heidelberg, 14.2.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 365–347, 365. 154 So wurde Metternich angewiesen, Wrisberg zu versichern, man unterstütze den Plan einer freundschaftlichen Einigung zwischen den beiden evangelischen Konfessionsgruppen in der Pfalz; Reskript an Metternich, Berlin, 26.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 45. Ebenso wurde Hecht befohlen, nach Lösungen zu suchen, damit „beyderseits Ev. Glaubensgenossen in der Pfalz sich auf eine raisonable weise mit einander setzen …“; Reskript an Hecht, Berlin, 20.6.1720, ebd.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
gelischen Conclusa aufgestellten Forderungen zu unterminieren.155 Dabei zeigte sich nur zu deutlich, dass die konkreten Interessen der Reformierten und diejenigen derer, die diese Interessen nach außen zu vertreten beanspruchten, immer weiter auseinander lagen, je länger der Konfikt andauerte. Denn der Kirchenrat bemühte sich schon bald nachdem sich das Corpus offiziell eingeschaltet hatte und ungeachtet der Annullierung des Religionsvergleiches, die maßgeblichen evangelischen Reichsstände und besonders Brandenburg-Preußen davon zu überzeugen, den 1705 festgeschriebenen Status doch wieder zur Grundlage zu nehmen.156 Schließlich hatte der Pfälzer Kurfürst unmissverständlich erklärt, an die Annulierung des Religionsvergleichs durch das Corpus Evangelicorum nicht gebunden zu sein, gleichzeitig aber seine Bereitschaft signalisiert, die Reformierten tatsächlich gemäß den Verhältnissen von 1705 zu restitutieren.157 Die Sorge der Reformierten in der Kurpfalz war nun einerseits groß, einen immerhin bis dato recht gut funktionierenden rechtlichen Kompromiss aufzugeben; zum anderen befürchteten sie weitere Nachteile, nachdem sie in der Gunst ihres Landesherren bereits spürbar gefallen waren und der Kurfürst angesichts der Weigerung der Reformierten, ihm die ganze Heiliggeistkirche einzuräumen, mit der Verlegung des Hofes von Heidelberg nach Mannheim drohte.158 Mit Blick auf diese Gefahren erklärte der Kirchenrat sogar deutlich sein Interesse, das Angebot Karl Philipps, als Gegenleistung für das Schiff der Heiliggeistkirche den Reformierten eine neue Kirche erbauen zu lassen, anzunehmen – was freilich umgehend und scharf aus Regensburg und Berlin zurückgewiesen wurde.159 Trotz aller Versuche Hechts, seine Weisungsgeber in Berlin für die spe 155 s. etwa Relation von Metternich, Regensburg, 8.2.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 2, Bl. 207; Relation von Wallenrodt, London, 5.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 1, Bl. 131–133. 156 Der Reformierte Kirchenrat bemühte sich, die evangelischen Gesandten davon zu überzeugen, dass man es zunächst bei der Religionsdeklaration belassen solle, bis man die „friedensschluß-mäßige Restitution“ erreiche. Nicht zuletzt machte der Kirchenrat auch deutlich, dass ein neuer, unter Vermittlung des Corpus Evangelicorum zu schließender Vergleich nur die Lutheraner zu Forderungen, die dem Westfälischen Frieden widersprächen, ermuntern würde. Denn die Pfälzer Lutheraner hätten „ihre freude über die bisherige infractionen […] gar öffentlich an den tag geleget, […] meinend es könne Ihnen alsdann nicht fehlen, daß sie nicht einen theil der Reformirten geistlichen güthern erschnappeten.“; Reformierter Kirchenrat an die evangelischen Reichstagsgesandten, Heidelberg, 5.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 1, Bl. 319–322, 320. 157 Relation von Hecht, Heidelberg, 20.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 1, Bl. 19–21. 158 Schon Anfang 1720 erklärten die kurpfälzischen Minister in Verhandlungen mit dem Reformierten Kirchenrat die Bereitschaft des Kurfürsten, sich auf eine Befolgung der Religionsdeklaration von 1705 festzulegen, drohten aber bereits zu diesem Zeitpunkt gleichzeitig mit der Verlegung der kurfürstlichen Residenz, sollte sich der Kirchenrat nicht kompromissbereit zeigen und weiter – wie das Corpus Evangelicorum – auf wesentlich umfangreicheren Forderungen beharren; Relation von Hecht, Heidelberg, 31.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 2, Bl. 174–177. 159 Bezeichnend ist die Begründung aus Berlin, weshalb Hecht eine Einigung zwischen Kirchenrat und Landesherrn unbedingt verhindern müsse: Eine Verständigung zwischen den reformierten Untertanen und dem katholischen Landesherren sei gefährlich, weil sie „zwischen
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zifischen Interessen der Reformierten in der Kurpfalz zu sensibilisieren, vertrat Brandenburg-Preußen durchgängig die durch die Beschlüsse des Corpus Evangelicorum festgelegte Linie.160 Dass man sich in Berlin der reformierten Klientel offenbar kaum mehr verpflichtet fühlte, wurde besonders deutlich, als der pfälzische Kirchenrat Mieg für sich um eine Versorgung in Brandenburg-Preußen bat, falls sich die Verhältnisse in Heidelberg weiter verschlechtern sollten. Obwohl Mieg sich explizit auf eine entsprechende Versicherung Friedrichs I. aus dem Jahr 1705 berufen konnte, wurde ihm aus Berlin eine klare Absage erteilt.161 Wenngleich das Corpus Evangelicorum nominell für ihre Interessen kämpfte, sahen sich die Reformierten in Heidelberg also zunehmend gerade von evangelischer Seite unter Druck: Einerseits wurde dem Reformierten Kirchenrat besonders durch den hannoverschen Gesandten deutlich signalisiert, dass man im Gegenzug für den Einsatz, den das Corpus Evangelicorum in der Pfälzer Frage an den Tag legte, erwarte, dass die Reformierten den Lutheranern einen gewissen Teil des Kirchen vermögens „freiwillig“ einräumten.162 Andererseits aber wurde den Reformierten vom Corpus Evangelicorum strengstens untersagt, sich mit ihrem Landesherrn auf einen leidlichen Kompromiss zu einigen, obwohl ein solches „Agreement“ zweifellos in ihrem Interesse gelegen hätte. Im Mai 1720 fasste das Corpus Evangelicorum sogar ein offizielles Conclusum, nach dem (gewissermaßen präventiv) jegliche bilaterale, ohne Hinzuziehung des Corpus Evangelicorum zustande gekommene Einigung zwischen Kirchenrat und Landesherrn als ungültig betrachtet werden sollte.163 Sowohl in Bezug auf die Frage der Versorgung der Pfälzer Lutheraner als auch mit Blick auf die eigenen Rechtsansprüche gegenüber ihrem Landesherrn wandte beyderseits Ev. Religionsverwandten nur differentz und missvergüngen erwecken könnte …“; Reskript an Hecht, Berlin, 17.2.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 2, Bl. 212. Die „offizielle“ Begründung in Regensburg lautete dagegen, dass es „unmöglich ist, daß das Evangelische Religionswesen in der Pfalz außer gefahr gesetzet werden könne, es sey dann, daß denen gravaminibus nach vorschrift des I. P. die abhelffliche Maße gegeben und alles auf solchen fuß retabliret werde …“; Reskript an Metternich, 20.2.1720, ebd., Bl. 247–248, 247. 160 Immer wieder wies Hecht die Berliner Regierung darauf hin, dass der Pfälzer Kurfürst den Reformierten niemals etwas über den Stand von 1705 hinaus zugestehen würde, man sich also im Sinne der Reformierten tunlichst auf diese Norm beschränken solle; Relation von Hecht, Heidelberg, 8.2.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 2, Bl. 218–219. 161 Relation von Hecht, Heidelberg, 20.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 2, Bl. 9–10. Hecht wurde daraufhin angewiesen, den reformierten Kirchenräten zu versichern, „die evangelischen Puissancen, welche sich dieser Sache so ernstlich annehmen, würden auch dabey vor Sie und Ihre securität mit sorgen …“; Reskript an Hecht, Berlin, 13.2.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 2, Bl. 191. 162 Metternich berichtete, Wrisberg habe ihn beauftragt, dem Reformierten Kirchenrat zu verstehen zu geben: „Das Evangelische Corpus müßte nicht wenig empfinden, daß die Reformierten in der Pfalz für die importante dienste, so Sie von Ihm empfingen, und allenfalls noch zu empfangen hätten, sich so hart erweisen, und Ihm zu Gefallen gar nichts thun wollten.“; Relation von Metternich, Regensburg, 28.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 1, Bl. 38–40, 39. Metternich selbst stellte sich allerdings deutlich hinter den Kirchenrat; ebd. 163 Schauroth, Sammlung 2, S. 432 (Conclusum vom 6.5.1720).
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
sich der Kirchenrat nach wie vor an den brandenburg-preußischen Residenten Hecht und griff also auf seine traditionellen reformierten Klientelbeziehungen zurück. Doch in Berlin war man spätestens seit 1719 nicht mehr willens, sich zugunsten reformierter Interessen mit dem Corpus Evangelicorum zu überwerfen. Brandenburg-Preußen unterstützte den Reformierten Kirchenrat weder gegenüber den lutherischen Forderungen nach finanzieller Unterstützung aus den Mitteln des reformierten Kirchenvermögens noch in seinem Wunsch, einen verträglichen Kompromiss mit dem katholischen Landesherrn zu schließen. Hecht und Metternich sollten den reformierten Kirchenräten vielmehr unmissverständlich zu verstehen geben, dass, „würden sie etwas [ohne Beteiligung des Corpus Evangelicorum, R. W.] auffrichten, sollte selbiges null und nichtig seyn, wenn es auch gleich zu dero avantage were …“.164 Die Zeiten einer Patronage zugunsten der reformierten Glaubensgenossen in der Kurpfalz, wie sie noch Friedrich III./I. geübt hatte, schienen offensichtlich angesichts der von Berlin dringend gewünschten Einigkeit der evangelischen Reichsstände vorüber zu sein. Dass das vorrangige reichspolitische Ziel Berlins schon zu Beginn des Religionsstreits darin bestand, einen „näheren Zusammenschluss“ oder ein „Concert“ unter den Protestanten herzustellen, zeigen die ständigen Aufforderungen aus Berlin, die übrigen Reichsstände sollten doch ihren Gesandten klarere Instruktionen geben, welche die allgemeine Beauftragung Hannovers, Brandenburg-Preußens und Hessen-Kassels durch das Conclusum vom Oktober 1719 klarer definierten und vor allem die Mittel spezifizierten, die zur Wiederherstellung des „friedensschlussmäßigen“ Standes in der Kurpfalz angewandt werden sollten.165 Demgegenüber traten nicht nur die reformierten Interessen in den Hintergrund; auch der Anspruch auf eine bzw. die eindeutige Führungsrolle innerhalb des Corpus Evangelicorum stand zweifellos zu diesem Zeitpunkt nicht im Zentrum der Berliner Politik – beides hätte angesichts des nach wie vor aktuellen reformierten „Images“ Brandenburg-Preußens wohl auch die Einheit des Corpus eher behindert als gefördert. 2. Brandenburg-Preußen und die Formierung des Corpus Evangelicorum 1719/20 Der Pfälzer Religionsstreit markiert den Höhepunkt der ersten der drei Phasen während des 18. Jahrhunderts, in denen das Corpus Evangelicorum als politischer Akteur im Reich auftrat.166 Gleichzeitig stellen die Jahre 1719 bis 1721 aber auch immer noch eine Phase der Formierung dar, in deren Verlauf sich sowohl die Machtverhältnisse innerhalb des Corpus als auch entscheidende Rechtsgrundsätze der 164
Relation von Wallenrodt, London, 13./24.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 31–33, 32. 165 s. diverse Schreiben in: GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27; z. B. Relation an Metternich, Berlin, 11.11.1719, ebd., Bl. 68. 166 Vgl. Haug-Moritz, Corpus Evangelicorum, S. 197.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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evangelischen Verfassungsinterpretation und Selbstlegitimierung entwickelten und verfestigten. Bereits der interne Streit um das kursächsische Direktorium stellte für gemeinsame Entschlüsse zu Beginn des Pfälzer Religionsstreites eine große Hürde dar.167 Als Folge der Konversion Augusts des Starken 1697 war drei Jahre darauf das kursächsische Direktorium zwischenzeitlich nominell auf den Herzog von Sachsen-Weißenfels übertragen worden – faktisch hatte allerdings nach wie vor der sächsische Kurfürst das Direktorenamt inne.168 Das kursächsische Direktorium sah sich mit dem Anwachsen der konfessionellen Krisenstimmung im Reich und der damit verbundenen erhöhten politischen Aktivität des Corpus Evangelicorum spätestens seit 1715 einem erheblichen Druck ausgesetzt – sowohl seitens Brandenburg-Preußens und England-Hannovers als auch von Wien. Als 1717 die bereits fünf Jahre zuvor erfolgte Konversion des sächsischen Kurprinzen und die Pläne zu seiner Vermählung mit einer Erzherzogin bekannt wurden, entbrannte die Diskussion über die Beibehaltung eines „katholischen“ Direktoriums erneut und verband sich mit den Bemühungen der evangelischen Reichsstände und insbesondere Brandenburg-Preußens, eine Festschreibung und eine auswärtige Garantie des Konfessionsstandes in Kursachsen zu erreichen.169 Kurhannover und Brandenburg-Preußen versuchten in den Folgejahren gemeinsam, Kursachsen das Direktorium streitig zu machen; gleichzeitig konkurrierten sie aber auch gegeneinander um das Direktorium, wobei seitens Berlins parallel auch Ansprüche auf das rein kursächsische Direktorium des Obersächsischen Reichskreises formuliert wurden – gleichfalls mit Verweis auf die kursächsische Konversion.170 Der Streit um das Direktorium im Corpus Evangelicorum war im Herbst 1719 nach wie vor ungelöst, und das kursächsische Direktorium war praktisch suspendiert. Weder Kurhannover noch 167
Dies wird in zahlreichen der Relationen von Metternich deutlich: s. etwa Relation von Metternich, Regensburg, 6.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 75–79. Zum Folgenden vgl. die ältere Darstellung von Frantz, Directorium; sowie die neuere Arbeit von Vötsch, Kur sachsen, S. 45–147. 168 Vgl. Kap. B. II. 2. a). 169 Eng verbunden mit der Frage einer möglichen Garantie des evangelischen Bekenntnisstandes in Kursachsen war auch die Besetzung des säkularisierten Stifts Naumburg, dessen Administrator Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz 1717 zum Katholizismus konvertiert war und das infolge der Vakanz unter kursächsischer Interimsverwaltung stand, so dass eine endgültige Übernahme der Administration durch die katholische Kurlinie und die Integration des teilweise als reichsunmittelbar angesehenen Stifts in die kursächsische Territorialherrschaft absehbar schien; vgl. ausführlich Vötsch, Kursachsen, S. 262–298. Immer wieder wurde von den evangelischen Reichsständen und besonders seitens Brandenburg-Preußens die Sorge geäußert, dass es in Kursachsen zu einer ähnlichen Entwicklung kommen könnte wie in der Kurpfalz; s. etwa Relation von Burchard, Wien, 4.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 72–74. Zu Beginn des Jahres 1718 war in diesem Zusammenhang der reformierte Hofprediger Achenbach beauftragt worden, in einem Gutachten die Möglichkeiten einer Übertragung der Pfälzer Religionsrezesse auf die kursächsischen Verhältnisse zu erörtern; vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 117. 170 Vgl. ebd., S. 132–134. Bei der erfolgreichen Verteidigung des Direktoriums gegen den Hauptkonkurrenten Sachsens, Brandenburg-Preußen, spielte nicht zuletzt eine Rolle, dass sich Kursachsen bei der lutherischen Mehrheit der evangelischen Reichsstände auf die Ablehnung eines reformierten Direktors stützen konnte; vgl. ebd., S. 122–123.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Brandenburg-Preußen wollten angesichts ihrer eigenen Aspirationen auf das Direktorium „Direktorialakte“ des kursächsischen Gesandten dulden.171 Da andererseits aber gerade die beiden mächtigsten evangelischen Reichsstände das größte Interesse an einer gemeinsamen politischen Aktivität der Protestanten hatten – und dementsprechend von einem aus verfahrenstechnischen Gründen gelähmten Corpus keinen Nutzen ziehen konnten –, akzeptierten sie schließlich in den ersten Monaten des Religionsstreites immer häufiger, dass der kursächsische Gesandte als Direktor agierte, um auf diese Weise Beschlussfassungen überhaupt zu ermöglichen.172 Zu Beginn des Jahres 1720 wurde in Regensburg ein geheimer Vertrag zwischen Brandenburg-Preußen und Kurhannover geschlossen, in dem sich die beiden Mächte auf einen alternierenden Vorsitz einigten; die Vereinbarung wurde allerdings zu keiner Zeit umgesetzt.173 Wenngleich umgekehrt niemals ein förmlicher Beschluss zur Weiterführung des kursächsischen Direktoriums gefasst wurde, konnte Kursachsen seine Stellung doch langfristig behaupten – vermutlich zum einen schlicht aufgrund der „normativen Kraft des Faktischen“, zum anderen aber, weil das kursächsische Direktorium von der Mehrheit der kleineren Reichsstände favorisiert, mithin auf längere Sicht auch von Kurhannover und Brandenburg-Preußen als einheitsstiftend akzeptiert wurde. Ohne auf die Verwicklungen des Streites um das Direktorium im Einzelnen einzugehen, bleibt festzuhalten, dass Kursachsen von seiner gemäßigten Haltung in der Religionskrise insofern profitierte, als sich die kleineren Reichsstände von einer solchen Politik besser vertreten sahen als von den Zélés Brandenburg-Preußen und England-Hannover.174 Angesichts der zahlreichen Schwierigkeiten innerhalb des Corpus Evangeli corum: des schwelenden Streites um das Direktorium, der großen Unsicherhei 171 So wurde Metternich noch Ende 1719 angewiesen, „dem Chursächsischen Gesandten nicht [zu] permittiren, den geringsten actum, welcher den Schein eines Directorii hat, weiter zu exerciren …“; Reskript an Metternich, Berlin, 11.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 63–64. 172 Metternich verwies im November und Dezember 1719 immer wieder auf die Unfähigkeit des Corpus, gemeinsame Beschlüsse zu fassen, „dann man lasset den Chursächsischen Gesandten hierbey die feder nicht ansetzen und dieser lässt solches keinen anderen verrichten; und so lange die Sache wegen des Directorii nicht in Richtigkeit gebracht worden, wird dieser zustand allhier auch so bleiben.“; Relation von Metternich, Regensburg, 6.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 75–79, 75. Gleichzeitig aber drängte die Berliner Regierung immer nachdrücklicher auf ein „engeres Concert“ unter den Protestanten; s. etwa Reskript an Metternich, Berlin, 4.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 28. Anfang Dezember 1719 berichtete Metternich bereits wieder von der allmählichen Übernahme direktorialer Aufgaben durch den kursächsischen Gesandten, wobei sich allerdings Kurhannover und Brandenburg-Preußen ihre eigenen Rechte ausdrücklich reservierten; Relation von Metternich, Regensburg, 7.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 320–327; zur Reaktion der Berliner Regierung s. etwa Reskript an Metternich, Berlin, 16.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 353. Die evangelische Konferenz fand im Dezember 1719 aufgrund der ungelösten Direktoriumsfrage auch noch auf dem Rathaus statt; Ende März 1720 trafen sich die evangelischen Gesandten erstmals wieder im kursächsischen Quartier; vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 146. 173 Loewe, Staatsverträge Friedrich Wilhelms I., S. 223–225; Frantz, Directorium, S. 143. 174 Dies belegt ausführlich Vötsch, Kursachsen, bes. S. 152–153.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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ten hinsichtlich eines gemeinsamen politischen Vorgehens der Protestanten, des nach wie vor präsenten, grundsätzlichen Misstrauens zwischen Lutheranern und Reformierten und schließlich der deutlichen Abneigung der kleineren evange lischen Reichsstände, sich auf eine schärfere Auseinandersetzung mit dem Kaiser einzulassen, ist es bemerkenswert, dass es den beiden Führungsmächten, England-Hannover und Brandenburg-Preußen, dennoch gelang, die evangelischen Gesandten soweit zu mobilisieren, dass im Oktober 1719 und in den folgenden Monaten zahlreiche Beschlüsse gefasst und umgesetzt wurden. Für diese Entwicklung des Corpus Evangelicorum zum Corpus politicum175 war die enge Zusammenarbeit zwischen Brandenburg-Preußen und England-Hannover eine zentrale Voraussetzung. Hannover hatte durch die Personalunion mit England merklich an Prestige innerhalb des Corpus Evangelicorum gewonnen. Bereits im so genannten Erzamtsstreit, der zwischen Juni 1717 und April 1719 praktisch den gesamten Geschäftsverkehr des Reichstages zum Erliegen gebracht hatte, war es dem Hannoveraner Gesandten Wrisberg gelungen, das Corpus Evangelicorum zu aktivieren und die Erzamtsfrage zu „konfessionalisieren“.176 Sämtliche evangelische Gesandte lehnten 1719 das Erzstallmeisteramt für Hannover ab und drohten damit, in partes zu gehen.177 Eine Kooperation auf der Ebene des Corpus zwischen Brandenburg-Preußen und England-Hannover hatte sich spätestens seit 1717, im Zuge des Bekanntwerdens der zweiten Konversion des sächsischen Kurhauses, angedeutet; nach dem Ende des Nordischen Krieges kamen neue Gemeinsamkeiten in der Reichspolitik hinzu: Hannover hatte von Schweden Bremen und Verden, Brandenburg-Preußen Pommern bis zur Peene samt Stettin gewonnen. Georg I. und Friedrich Wilhelm I. verband daher das Interesse, für die Neuerwerbungen die kaiserliche Investitur zu erlangen. Das ansonsten stark durch Konkurrenz im norddeutschen Raum charakterisierte Verhältnis zwischen Hannover und Berlin gestaltete sich um 1719 durch Überein stimmungen in der Reichs- und Konfessionspolitik bemerkenswert eng.178 Neben dem erwähnten Vertrag über die Leitung des Corpus Evangelicorum schlossen Hannover und Brandenburg-Preußen im März 1720, im Kontext des Friedensschlusses mit Schweden, noch einen weiteren Vertrag „zum Schutz des evangelischen Religionswesens im Reiche“.179 Aber auch in anderen Reichsangelegenheiten traten 175
Haug-Moritz, Corpus Evangelicorum, S. 197–202. Hannover hatte infolge der Ächtung des bayerischen Kurfürsten den Rang des vormals pfälzischen Erzschatzmeisteramtes angenommen. Nach der Restitution der beiden geächteten Kurfürsten und ihrer Ämter beanspruchten sowohl Hannover als auch Pfalz das Erzschatz meisteramt. 177 Zum Erzamtsstreit vgl. ausführlich Biederbick, Reichstag, S. 7–17; Belstler, Stellung, S.143–145. 178 Für einen Überblick zum Verhältnis zwischen England-Hannover und Brandenburg-Preußen im 18. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung der gemeinsamen konfessionellen Ziele vgl. Wieland, England-Hannover. So unterstützte Brandenburg-Preußen bereits 1711 den Einmarsch Kurhannovers im Bistum Hildesheim auf dem Reichstag unter Verwendung konfessionspolitischer Argumente; zum hannoverschen Einmarsch in Hildesheim 1711 vgl. Belstler, Stellung, S. 139, Anm. 88. 179 Loewe, Staatsverträge Friedrich Wilhelms I., S. 247–250. 176
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
die langjährigen Differenzen zwischen Hannover und Berlin zumindest zwischenzeitlich in den Hintergrund. So verzichtete Friedrich Wilhelm I. auf die von ihm bis dato betriebene Unterstützung des Herzogs von Mecklenburg, und überließ, nachdem Georg I. die kaiserliche Kommission gegen den Herzog übernommen hatte, Hannover in dieser Angelegenheit zumindest zwischenzeitlich das Feld.180 Im September 1720 wurden sämtliche brandenburg-preußischen Gesandten in den europäischen Hauptstädten über das zwischen dem englischen und dem preußischen König etablierte „gute Vertrauen“ informiert, und Metternich wurde angewiesen, am Reichstag „alles, was zu Höchstged. Königes convenientz und interesse alldort vorkommen kann, bestens zu secundiren …“.181 Schon zu Beginn des Pfälzer Religionsstreites zeichnete sich zudem deutlich ab, dass gerade eine konfessionspolitische Zusammenarbeit auf Reichsebene zwischen Berlin und London / Hannover auf beiden Seiten erwünscht war. Offenbar maß man in Berlin der engen Abstimmung mit dem Konkurrenten im Norden (die wiederum in Wien nur als anti-kaiserlich und gefährlich wahrgenommen werden konnte) große Bedeutung für die eigene Reichspolitik zu. Dennoch ist bereits an dieser Stelle zu betonen, dass die jeweiligen Bedingungen der (Reichs-)Politik Hannovers und Brandenburg-Preußens und die damit verbundenen Ziele keineswegs identisch waren. Mit Recht ist gerade von der jüngeren Forschung hervorgehoben worden, wie stark die hannoversche und die britische Politik unter Georg I. – auch und gerade personell – verflochten waren und wie groß die Übereinstimmung zwischen kurfürstlicher und britischer Politik im Reich vor allem in Hinblick auf die Verteidigung des protestant interest war.182 Obwohl in London und Hannover gleichermaßen dem Schutz der evangelischen Rechte im Reich große Bedeutung zugemessen wurde, zeigten sich im Zuge der Verhandlungen um die Religionskrise seit 1719 doch immer wieder Differenzen zwischen den Prioritäten des Geheimen Rates in Hannover, der Deutschen Kanzlei in London und dem Hannoveraner Reichstagsgesandten auf der einen Seite und den englischen Diplomaten und Ministern in London und Wien auf der anderen Seite. So beklagte etwa der brandenburg-preußische Gesandte in London häufig in seinen Relationen, wie schwierig es sei, in den unterschiedlichen Auskünften der deutschen und englischen Minister eine einheitliche politische Linie zu erkennen.183 Die teilweise differierenden Prioritäten der Hannoveraner und der englischen Politiker lagen nicht zuletzt darin begründet, dass für die britische Politik die euro 180
Vgl. Hughes, Law, S. 175; Jahns, Mecklenburgisches Wesen, S. 340–342. Reskript an Metternich, Berlin, 7.9.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 14, Bl. 39. 182 Vgl. Thompson, Britain, bes. S. 5–9, 20–24. 183 s. etwa Relation von Wallenrodt, London, 8./19.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 2, Bl. 2–8, 3: „Es kommet mir so vor, alß wann die sentiments des Engelländischen und Teutschen Ministerii in den Religions Sachen nicht einstimmig, und daß der ersteren Meinung nicht eben dahin gehet, die Sachen nach Regensburg zu verweisen …“. 181
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päischen Dimensionen eines Engagements auf dem Kontinent naturgemäß stärker ins Gewicht fielen, als dies für die Hannoveraner Reichspolitik galt. Die englische Außenpolitik orientierte sich in den Jahrzehnten nach dem Spanischen Erbfolgekrieg primär an der Bewahrung des durch Utrecht, Rastatt und Baden geschaffenen Friedenssystems und verfolgte eine Politik des Gleichgewichts in Europa184 – das durchaus auch eine konfessionelle Balance beinhaltete: Während der Phase der britisch-französischen Kooperation stellte Frankreich gewissermaßen den katholische Gegenpart zu England dar.185 Zu den Grundlinien der britischen Außenpolitik gehörte aber mindestens bis 1723 – trotz der zum Teil massiven Verstimmungen zwischen London und Wien – auch das grundsätzliche Festhalten an der Verbindung mit Österreich. Gleichzeitig stimmten bei der Wahrung protestantischer Interessen auf dem Kontinent resp. im Reich die außenpolitischen Interessen Englands und Hannovers zumindest zwischenzeitlich durchaus überein – was nicht zuletzt daran lag, dass die Bedeutung der protestant succession durch das Engagement für den kontinentalen Protestantismus öffentlichkeitswirksam unterstrichen wurde, die Konfessionspolitik im Reich mithin auch für die Legitimierung der Hannoveraner Dynastie auf dem englischen Thron eine nicht zu unterschätzende innenpolitische Funktion besaß.186 Unter Georg I. stellten daher die Lage der Protestanten im Reich und ihre diversen Gravamina im Kontext des Religionsstreits Themen dar, die von englischen Diplomaten, etwa in Wien oder in Heidelberg, verhandelt wurden. Die Hannoveraner Konfessionspolitik im Reich konzentrierte sich dagegen stärker auf den Reichstag resp. das Corpus Evangelicorum und die Opposition gegen den Kaiser – und verfolgte damit zweifellos ähnliche Ziele wie die brandenburg-preußische Reichspolitik. Doch muss mit Blick auf die beiden norddeutschen Vormächte auch festgehalten werden, dass sich Hannover und England im Gegensatz zu Brandenburg-Preußen seit Anfang 1719 in einer Defensivallianz mit dem Kaiser und Sachsen-Polen befanden; England war zudem seit 1718 in der so genannten Quadrupelallianz mit Österreich verbunden.187 Brandenburg-Preußen stand dagegen nicht nur mit dem Kaiser in keiner Allianz; das Verhältnis zum Kaiser hatte sich zudem seit Beginn des Regierungsantritts Friedrich Wilhelms I. auf praktisch allen Gebieten immer weiter verschlechtert. Auch zwischen Kurhannover und dem Kaiser bestanden zu Beginn des Religionskonfliktes diverse Streitpunkte: Im Ständekonflikt in Mecklenburg (und der in diesem Kontext von Hannover übernommenen kaiserlichen Kommission), in der Erzamtsfrage, bei der Einnahme von Bremen und Verden sowie bei der Ablehnung des vom Kaiser einberufenen Braunschweiger Kongresses hatte Georg I. eindeutig ent 184
Vgl. auch zum Folgenden: Duchhardt, Balance of Power, S. 109, 257–267. Zuletzt wurde dies betont von Thompson, Britain, bes. S. 25–42. 186 Vgl. ebd., bes. S. 60. 187 Diese Allianz umfasste 1718 Frankreich, Großbritannien und Österreich; im Januar 1720 trat auch Spanien bei. Die Bezeichnung „Quadrupelallianz“ geht auf die Annahme der Vertragschließenden zurück, auch die Niederlande würden dem Vertragswerk beitreten. Vgl. Duchhardt, Balance of Power, S. 265–267; sowie die ältere Arbeit von Weber, Quadrupel-Allianz. 185
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
gegen den kaiserlichen Interessen agiert. In allen diesen Konflikten hatte Georg I. als Kurfürst den kaiserlichen Ansprüchen auf Einflussnahme und Vermittlung vorgegriffen oder sie – auch mithilfe des Corpus Evangelicorum – abgelehnt. Viele kritische Punkte im Verhältnis zwischen Georg I. und Karl VI. betrafen mithin das Gebiet der hannoverischen Reichspolitik, vor allem das Ausgreifen des hannoverischen Einflusses in Norddeutschland – und speziell die Einflussnahme Georgs I. als englischer König zugunsten seiner kurfürstlichen Interessen.188 Die zwischen Berlin und Wien aufgrund der brandenburg-preußischen Reichsund agrandissement-Politik bestehenden Spannungen waren jenen, die zwischen Wien und Kurhannover existierten, strukturell durchaus ähnlich. Die konkrete Frage der kaiserlichen Suprematie und des kaiserlichen Richteramtes im engeren Sinne scheint aber im Verhältnis zwischen Hannover und Wien keinen so wichtigen Platz eingenommen zu haben, wie sich dies für Brandenburg-Preußen darstellt. Die Ablehnung, mit der Friedrich Wilhelm I. jegliche kaiserliche Rechtsprechung und sonstige Einflussnahme in Bezug auf seine Person und die brandenburg-preußischen Reichsterritorien beantwortete, wurde in Wien als außerordentlich wahrgenommen – und zwar gerade angesichts der zahlreichen Verfahren, in denen sich der preußische König vor dem Reichshofrat verantworten musste. Zudem hat Friedrich Wilhelm I. in den zahlreichen Konflikten mit Wien sowohl juristisch als auch diplomatisch die Konfrontation mit dem Kaiser wenn nicht gesucht, so doch zumindest nicht gescheut, mithin einen deutlich aggressiveren Stil der politischen Kommunikation gepflegt als Friedrich I. – ein Aspekt, der auch für die Beurteilung der brandenburg-preußischen Politik in den Folgejahren des Religionskonflikts wichtig bleiben sollte und beim Vergleich zwischen der Berliner Positionierung und derjenigen England-Hannovers einen wichtigen Unterschied markiert. In diesem Kontext wiederum besaß die Tatsache, dass der preußische König in seinen zum Reich gehörenden Territorien über eine nennenswerte Zahl von Katholiken (die zu einem großen Teil unter dem Schutz der normaljahresrechtlichen Bestimmungen des Westfälischen Friedens standen) herrschte, eine große juristische und symbolische Bedeutung – und zwar auch schon vor Beginn der Intervention des Corpus Evangelicorum in der Kurpfalz. Es lassen sich also in mancher Hinsicht durchaus Parallelen im Verhältnis der beiden norddeutschen Kurfürsten-Könige zum Kaiser bezeichnen: Beide Monarchen nutzten ihre auswärtigen Kronen, um ihre Stellung als Kurfürsten innerhalb des Reiches zu stärken und gerieten damit immer wieder in Gegensatz zum Kaiser. Im Falle Brandenburg-Preußens jedoch präsentierte sich diese Politik als eine viel ausdrücklichere und damit grundsätzlichere Infragestellung der kaiserlichen Sup 188
So auch die Einschätzung der Berliner Regierung in einem Reskript an Canngiesser, Berlin, 6.7.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 286, Bl. 129–132, 130: „… daß [dem Kaiser] die große autorität, die der König von Engelandt sich in allen Reichssachen zu nehmen anfänget, ja auch endlich nun die neue macht, so sich der König in Engelandt durch die acquisition von Bremen und Vehrden erworben, und die facilität so die Engeländer dadurch erlanget, künfftig in alle Reichshändel sich zu meritiren, gar nicht gefalle …“.
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rematie: Friedrich Wilhelm verlangte beispielsweise explizit, dass seine königliche Würde auch im Stylus curiae Berücksichtigung finden müsse und verdeutlichte immer wieder zumindest implizit seinen Anspruch auf volle Souveränität in sämtlichen Territorien des brandenburg-preußischen Länderkonglomerats. Während die brandenburg-preußische Politik unter Friedrich Wilhelm I. die preußische Monarchie und die übrigen Territorien im Reich als Einheit darstellte und damit die Souveränität rhetorisch auf das gesamte Herrschaftsgebiet übertrug, setzte zwar auch Georg I. die englische Krone für seine kurfürstliche Reichspolitik ein, die königliche und die kurfürstliche Würde blieben aber – auch rhetorisch-symbolisch – deutlich getrennt, und die Hannoveraner und die Londoner Politik distanzierten sich im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts sogar immer weiter voneinander.189 Anders als die Hannoveraner Kurfürsten als Könige von England (und die sächsischen Kurfürsten als polnische Könige) waren die brandenburgischen Kurfürsten als preußische Könige niemals „Herrscher in der Doppelpflicht“.190 Entsprechend unterschieden sich auch die Voraussetzungen, unter denen das konfessionspolitische Engagement der beiden norddeutschen Vormächte zu Beginn des Religionsstreits stand: Zwar hatten sowohl England-Hannover als auch Brandenburg-Preußen im Sinne der Ausdehnung des eigenen Einflussgebiets ein vitales Interesse an einer Schwächung der kaiserlichen Stellung im Reich. Für Berlin stand der Kampf gegen das oberstrichterliche Amt des Kaisers allerdings wesentlich stärker im Zeichen der Abwehr kaiserlicher Rechtsprechung in Bezug auf die eigenen Territorien; und anders als Georg I. konnte Friedrich Wilhelm I. diese politische Linie im Kontext einer rekonfessionalisierten Reichspolitik unmittelbar mit einer rigiden Haltung gegen die eigenen katholischen Untertanen verbinden, wobei er sich allerdings eng an den Maßnahmen der Regierungen seiner Vorgänger orientierte und in weiten Teilen die katholische Kirchenpolitik seines Großvaters und Vaters fortführte. Auch die katholische Rezeption der evangelischen Bedrohung durch die beiden norddeutschen Vormächte weist deutliche Unterschiede auf: Obwohl England-Hannover um 1720 als Führungsmacht im Corpus Evangelicorum wesentlich stärker hervotrat, war es fraglos Brandenburg-Preußen, das sowohl in Wien als auch seitens der mindermächtigen geistlichen Territorien als primäre Bedrohung galt, als „der Reichsfeind, die Schreckgestalt, das Sinnbild des kämpferischen, auf den Untergang der katholischen geistlichen Staaten gerichteten Protestantismus schlechthin“.191 Wenngleich die auch noch im 18. Jahrhundert von katholischer Seite verwendete Figur des protestantischen Kaisertums wohl mehr als Topos zu verstehen ist, dem keine nachweisbaren Projekte auf evangelischer Seite entsprachen, so wurde auch diese, mit dem Umsturz der hergebrachten Reichsverfassung einhergehende Vorstellung in erster Linie mit dem preußischen König in Verbindung gebracht.192 Der 189
Vgl. Wellenreuther, Interessenharmonie, S. 27–30; Richter-Uhlig, Hof und Politik, S. 64–78. Duchhardt, Herrscher. 191 So die auf Mainzer Akten gestützte Analyse bei Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 275, Anm. 12. 192 Vgl. ebd., S. 279. 190
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Kurfürst von Hannover wurde dagegen in Wien wohl nicht zuletzt aufgrund der Personalunion weniger als „innere Gefahr“ für das Reich bzw. das Kaisertum wahrgenommen. Die europäischen Verbindungen und gemeinsamen politischen Anliegen ließen ein Interesse Londons an einem grundsätzlichen Verlust der habsburgischen Machtstellung im Reich äußerst unwahrscheinlich erscheinen.193 Nicht zu unterschätzen aber war schließlich auch für die katholische Wahrnehmung Brandenburg-Preußens als gefährlichster, expansivster und aggressivster anti-katholischer Exponent der evangelischen Potentiores die Tatsache, dass die Hohenzollern nicht nur von allen evangelischen Reichsständen über die meisten katholischen Untertanen herrschten, sondern dass sie ihre Kirchenpolitik immer wieder demonstrativ in den Dienst ihrer Selbststilisierung als evangelische Vormacht stellten. Dieses Bild Brandenburg-Preußens als besonders kämpferische evangelische Macht ist selbst noch in der jüngeren Literatur rezipiert worden. So ist Friedrich Wilhelm I. attestiert worden, im Rahmen der Religions- und Verfassungskrise der 1720er Jahre „zweifelsohne in erster Linie aus anti-katholischem Eifer“ gehandelt zu haben. Demgegenüber habe Georg I. (etwa mit den Investituren von Bremen und Verden) „sehr reale politische Interessen“ verfolgt und versucht, die bedrohlich angewachsene kaiserliche Macht einzudämmen.194 Die gängigere, in Darstellungen zum 18. Jahrhundert vorherrschende Analyse betont allerdings stärker die Bedrohungslage, in der sich die Protestanten insgesamt befanden.195 Diese Perspektive geht vermutlich primär auf die zeitgenössiche Reichspublizistik zurück, die wiederum mindestens bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eindeutig evangelisch dominiert war. Das dort präsentierte Bild sollte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass gerade mit Blick auf Brandenburg-Preußen die – wenngleich weniger publizistisch fassbare – subjektive Bedrohung der kleineren katholischen Reichsstände durchaus mit derjenigen der Protestanten vergleichbar ist,196 mithin weniger von einem gegenreformatorisch geprägten, einseitigen Bedrohungszustand gesprochen werden sollte als vielmehr von einem wachsenden gegenseitigen Misstrauen, das sich aus der Schieflage zwischen der immer größer werdenden Macht der norddeutschen Potentiores auf der einen und der gleichzeiti gen Marginalisierung der Protestanten durch das verfassungsrechtliche Übergewicht der Katholiken sowie ein erstarktes Kaisertum auf der anderen Seite speiste. In der Forschung kann es praktisch als unbestritten gelten, dass die gesamtevangelische Politik seit Beginn der Religions- und Verfassungskrise ab 1719 stärker
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Vgl. Press, Kurhannover; für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts s. a. Schlenke, England und das friderizianische Preussen, bes. S. 187–193. 194 Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 130. 195 Vgl. Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt, S. 139–141; Aretin, Das Reich, S. 409. 196 Vgl. etwa Schröcker, Ein Schönborn, S. 10–24; Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 273–284.
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von England-Hannover bestimmt wurde als von Brandenburg-Preußen.197 In diesem Zusammenhang ist von der älteren Literatur auch der fehlende Führungswille Brandenburg-Preußens beklagt worden.198 Und tatsächlich liefern die Reskripte nach Regensburg, London und Wien zahlreiche Belege dafür, wie sehr man in Berlin auf eine enge Abstimmung mit England-Hannover im Religionskonflikt bedacht war. Aber nicht nur von Historikern wurde diese relativ zurückhaltende Politik Berlins gerügt; schon die brandenburg-preußischen Diplomaten in Wien und Regensburg übten Kritik an der wenig dominanten Haltung Brandenburg-Preußens innerhalb des Corpus Evangelicorum: Metternich und Burchard verliehen mehrfach der Meinung Ausdruck, der preußische König dürfe nicht zu sehr hinter dem englischen König zurückstehen und solle seine Führungsansprüche innerhalb des Corpus klarer formulieren. So kritisierte Burchard in deutlichen Worten den zwischen England-Hannover und Brandenburg-Preußen aufgestellten Vergleich über die abwechselnde Führung des Direktoriums als der Würde des preußischen Königs abträglich und betonte, es sei immer noch besser, sich auf das kursächsische Direktorium einzulassen „als auf eine alternation, worin Eure Königl. Mayst. unmöglich willigen können …“.199 Auch Metternich mahnte in den ersten Monaten des Religionsstreites immer wieder klare Signale zur Führung an und berichtete, dass die evangelischen Stände „Ihr größtes Vertrauen zum König von Groß-Britannien“ hätten – und eben nicht zum preußischen König.200 Wenn Metternich gehofft hatte, durch diesen Bericht in Berlin den Konkurrenzwillen um die Führung des Corpus Evangelicorum zu schüren, wurde er enttäuscht: Die Antwort, die Metternich auf seine Schilderung der politischen Stimmung im Corpus erhielt, verdeutlicht, wie gering in Berlin die Ambitionen waren, eine eindeutige Führungsrolle zu überneh men: Man „approbire“ voll und ganz, „daß die Evangelischen Stände […] Ihre meiste confidentz auf den König in Engelandt setzen …“.201 Auch in diesem Punkt differierten die Meinungen zwischen der Regierung und denjenigen Diplomaten, die bereits unter Friedrich III./I. in brandenburg-preußischen Diensten gestanden hatten – und also einige Jahre zuvor die Erfahrung gemacht hatten, dass Brandenburg-Preußen als eindeutige Führungsmacht im Corpus agieren und gleichzeitig
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Abgesehen von Veröffentlichungen, die eindeutig im Kontext des Kulturkampfes entstanden sind, wie etwa die von Max Lehmann herausgegebene und kommentierte Quellensammlung über Preußen und die katholische Kirche, ist selbst in der älteren deutschen Literatur (etwa bei Borgmann, Religionsstreit; oder bei Biederbick, Reichstag), die Dominanz England-Hannovers innerhalb des Corpus Evangelicorum nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr unterstrichen worden. In dieser Hinsicht kann (trotz der nach wie vor dünnen Forschungslage) sicherlich nicht die Rede davon sein, dass die deutsche Forschungsliteratur bis heute eine „Prussian Myth“ fortschreibe, wie Thompson, Britain, bes. S. 77–79, behauptet. 198 Vgl. v. a. Borgmann, Religionsstreit, S. 56–60, 64–65. 199 Relation von Burchard, Wien, 13.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 393–394, 394. 200 Relation von Metternich, Regensburg, 7.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 328–330, 328. 201 Reskript an Metternich, Berlin, 16.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 346.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
eine dezidiert reformierte Konfessionspolitik im Reich betreiben konnte. Die Motive für die „Ermahnungen“ beider Diplomaten an die Berliner Regierung scheinen dabei allerdings unterschiedlich gewesen zu sein: Burchard maß dem Corpus Evangelicorum ganz offensichtlich wenig politisches Gewicht bei und interpretierte die Religionsstreitigkeiten stärker als eine Fortsetzung der unmittelbaren Konfrontation zwischen Berlin und Wien. Aus Metternichs Relationen spricht dagegen ein mit seiner Stellung verbundenes stärkeres Interesse an einer Stärkung der Rolle des Corpus Evangelicorum für die Reichspolitik; er drängte auf entschiedenere Instruktionen aus Berlin – wohl nicht zuletzt aufgrund der institutionellen wie persönlichen Konkurrenz zu dem Hannoveraner Gesandten Wrisberg. Ein wesentlicher Grund für die auffällige Zurückhaltung Berlins in der Frage um die Führung des Corpus Evangelicorum bzw. das Bemühen um eine enge Abstimmung mit den englisch-hannoverschen Vorstellungen lag sicherlich, wie oben bereits ausgeführt, in der schwierigen Situation, in der sich Brandenburg-Preußen als traditionell reformierte Schutzmacht angesichts der nach wie vor ungelösten innerevangelischen Differenzen befand. Ein offen formulierter Führungswille hätte unter der lutherischen Mehrheit das Misstrauen gegen die Berliner Politik vermutlich nur noch verstärkt und somit die ohnehin fragile Einheit der evangelischen Stände gefährdet. Diese Einheit wiederum war aber – das zeigen die Reskripte an Metternich im Kontext des Religionsstreites überdeutlich – oberstes Ziel der Berliner Reichstagspolitik. Gleichzeitig war man sich in Berlin offenbar von Beginn der Pfälzer Religionswirren an bewusst, dass Brandenburg-Preußen der engen Abstimmung mit Georg I. bedürfe – sowohl für ein politisches Agieren im Zusammenhang des Corpus Evangelicorum als auch insbesondere in der Opposition gegen den Kaiser. Für Brandenburg-Preußen bot die politische Aktivität des Corpus Evangelicorum die Möglichkeit, die auch bisher verfolgte anti-kaiserlichen Politik mit anderen Mitteln weiterzuführen. Die im Kontext der diversen Differenzen mit Wien betriebene Politik aber hatte sich auch schon vor Beginn des Religionsstreites (und also vor der Intervention des Corpus Evangelicorum) häufig in ein anti-katholisches Gewand gekleidet. In Berlin hatte man offenbar schon bald nach dem Bekanntwerden der neuen Religionsbeschwerden in der Kurpfalz entschieden – ganz nach dem Vorbild Friedrichs I. –, zu Repressionen gegen die Katholiken in Minden, Halberstadt und Magdeburg zu greifen.202 Am 24. November 1719 erreichte die Regierung in Minden der Befehl, den Dom so lange geschlossen zu halten, bis die Heiliggeistkirche in Heidelberg den Reformierten restituiert würde.203 Dem nahe Halberstadt gelegenen Kloster Hamersleben hatte Friedrich Wilhelm I. aber bereits am 31. Oktober 202
Laut Aretin, Reich 2, S. 277, hatte Friedrich Wilhelm I. bereits am 23. September 1719 seinen katholischen Untertanen mit Repressionen gedroht. Allerdings führt Aretin für diese Aussage keine Belege an. 203 Lehmann, Preussen 1, Nr. 607, S. 679–680 (Erlass an den Präsidenten Hamrath, Berlin, 28.11.1719), bes. S. 679, Anm. 2.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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1719 ankündigen lassen, dass es geschlossen und unter Sequester gestellt werden sollte; und zwar wie schon unter Friedrich I. verbunden mit der Aufforderung an die Mönche, sich ihrerseits für eine Restitution zugunsten der Reformierten beim Kurfürsten von der Pfalz einzusetzen.204 Auch Georg I. ließ am 10. November 1719 die katholische Kirche in Celle schließen.205 Am 2. Dezember 1719 erging schließlich aus Berlin der Befehl, das Kloster Hamersleben schließen und dessen Revenüen einziehen zu lassen.206 Damit aber ließ Friedrich Wilhelm I. gerade jenes Kloster mit besonders harten Repressionen belegen, das bereits mehrfach in Streitigkeiten mit seinem Landesherrn bei Kaiser und Reichshofrat Schutz gesucht hatte und dadurch in Wien alles andere als unbekannt war. Das renitente Kloster wurde also bestraft; dem Kaiser aber wurde deutlich vor Augen geführt, dass kein Reichshofratsurteil und kein kaiserliches Mandat den preußischen König davon abhielten, nach Gutdünken mit seinen Klöstern zu verfahren.207 Der Plan, Repressionen zu ergreifen, war in Berlin nicht nur sehr rasch nach dem Bekanntwerden der Pfälzischen Religionsbeschwerden und der ersten Erklärung des Corpus Evangelicorum gefasst worden, er wurde auch im Wissen darum umgesetzt, dass die übrigen evangelischen Reichsstände praktisch einhellig gewaltsame Maßnahmen ablehnten und einzig Kurhannover ein derartiges Vorgehen explizit guthieß.208 Und wiewohl es – abgesehen von dem sehr allgemein gehaltenen Conclusum des Corpus vom 10. Oktober 1719 – zu diesem Zeitpunkt noch keinen weitergehenden Beschluss über die zur Verteidigung der evangelischen Rechte einzusetzenden Mittel gab (ganz zu schweigen von einer „Beauftragung“ Friedrich Wilhelms I., Repressionen zu verhängen), berief sich der Reichshofratsagent 204 Lehmann, Preussen 1, Nr. 605, S. 678–679 (Erlass an den Präsidenten Hamrath, Berlin, 31.10.1719). 205 Vgl. Borgmann, Religionsstreit, S. 53. 206 Lehmann, Preussen 1, Nr. 608, S. 680 (Erlass an den Präsidenten Hamrath, Berlin, 2.12.1719). 207 Die konkreten Maßnahmen der Halberstädter Regierung gegen das Kloster Hamersleben sind detailliert beschrieben bei Peters, Kloster Hamersleben; s. a. die archivalische Überlieferung in: GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 25 a, Fasz. 2–4. 208 So berichtete Metternich Ende Oktober 1719 zum Beispiel, dass die Mehrheitsmeinung im Corpus Evangelicorum dahin gehe, Repressionen abzulehnen, die „gefährlich und in denen Reichs-Gesetzen unbekanndt sind …“; Relation von Mettternich, Regensburg, 30.10.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 30–32, 30; s. a. Relation von Metternich, Regensburg, 27.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 202–203, 202: „Und weil nun in derselben [der Erklärung des kaiserlichen Prinzipalkommissars in Regensburg, R. W.] unter anderem enthalten, daß man sich in dieser Sache Evangelischer Seits nicht übereylen noch weniger mit Repressalien verfahren mögte; So haben Eure Königl. Mayt. Anlaß, die Execution der im Halberstädtischen und Mindischen gethanen Verordnungen zu suspendiren, wann Sie sonst […] ohne vorhergehende speciale Authorisirung von dem Evangelischen Corpore, wozu man sich nicht Hoffnung machen kann, dieselbe nicht thunlich halten.“ Trotz dieser eindeutigen Stimmung im Corpus Evangelicorum bekräftigte ein Reskript aus Berlin, man hielte es dort für „gut und nötig […] in denen wieder Unserer Römisch-Catholische Unterthanen angefangenen Repressalien, weiter fort zu gehen …“; Reskript an Metternich, Wallenrodt, Burchard und Hecht, Berlin, 2.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Bl. 221.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Graeve in Wien laut Bericht vom 6. Dezember darauf, dass die Ankündigung der Repressionen im Beschluss des Corpus Evanglicorum, ihre Exekution aber im Artikel XVII des IPO ihr „gutes Fundament“ hätten.209 Aus Berlin wurde am 12. Dezember 1719 auch der Wiener Resident Burchard angewiesen, diese Argumentationslinie weiterzuverfolgen und den kaiserlichen Ministern zu erklären, „daß Wir, nach genommenen Concert mit dem gantzen Corpori Evangelico, und absonderlich mit dem Könige in Engelandt, und dem Landtgraffen von Heßen, Ehre und Gewißens halber, diese demarche hätten thun […] müßen …“.210 Allerdings wurde erst zehn Tage nachdem dieser Befehl an Burchard ergangen war, in Regensburg überhaupt wieder eine evangelische Konferenz abgehalten. Das dort verfasste Vorstellungsschreiben an den Kaiser verteidigte dann auch wirklich die Repressalien als „allergelindeste[n] Modus eines innocenten auf seine neue Acquisitiones jurium oder eversiones pactorum abzielenden blossen juris retorsionis …“.211 Die Berliner Regierung hatte immer wieder eine Rückendeckung durch die übrigen evangelischen Reichsstände angemahnt; indem sie die Legitimierung der Repressionen nach ihrer Verhängung zunächst selbst formulierte, sich dabei aber auf das Corpus Evangelicorum bezog, nahm sie diese offizielle „Beauftragung“ vorweg und erzwang dadurch gewissermaßen die nachträgliche Rechtfertigung aus Regensburg. Durch die schiere Macht des Faktischen, nämlich die von den beiden wichtigsten evangelischen Mächten, England-Hannover und Brandenburg-Preußen, durchgeführten Repressionen, musste das Corpus Evangelicorum sozusagen normativ nachziehen und die Repressionen als „Retorsionen“ legitimieren – ungeachtet der überwiegend ablehnenden Haltung, mit der die evangelischen Reichsstände dem Gebrauch derartiger Gewaltmaßnahmen gegenüberstanden. Noch Mitte November hatte Metternich die Wahrscheinlichkeit, dass das Corpus in einem gemeinsamen Beschluss die Repressionen legitimieren würde, als äußerst gering eingeschätzt.212 Das Pro Memoria vom 22. Dezember 1719 unterstütze gleichwohl nicht nur die von Hannover bzw. Brandenburg-Preußen verhängten Maßnahmen gegen deren katholische Untertanen; es schrieb damit gleichzeitig die Rechtmäßigkeit von Repressionen in der evangelischen Reichsverfassungslehre fest und etablierte sie so – wenn man so will: für immer – als einen Grundsatz der so genannten Principia evangelicorum.213
209 Relation von Burchard, Wien, 16.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 376–380, 379. 210 Reskript an Burchard, Berlin, 12.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 310–311, 310. 211 Schauroth, Sammlung 2, S. 588–597 (Vorstellungsschreiben an den Kaiser vom 22.12.1719), Zitat S. 592–593. 212 Denn die Gesandten, so Metternich, benötigten für ein derartiges Conclusum einen be sonderen Befehl ihrer Prinzipalen, „welcher meines Erachtens wohl nimmer erfolgen wird …“; Relation von Metternich, Regensburg, 13.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 107– 110, 107. 213 Vgl. Belstler, Stellung, S. 228–230.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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Tatsächlich hatte sich die Berliner Regierung seit dem ersten evangelischen Conclusum bezüglich der Kurpfalz vom Herbst 1719 darum bemüht, dass im Corpus ein Beschluss gefasst würde, der die von Hessen-Kassel, England-Hannover und Brandenburg-Preußen zu gebrauchenden Mittel spezifizieren, oder besser noch sämtliche in diesem Zusammenhang von den drei beauftragten Mächten ausgeführten Maßnahmen „garantieren“ solle.214 Wenngleich Metternich immer wieder nachdrücklich darauf hinwies, dass derartige Garantien im Corpus nicht zu erlangen wären und man vielmehr vom preußischen König erwartete, dass er „voranginge“, warb Friedrich Wilhelm I. dessen ungeachtet weiterhin für ein „evangelisches Concert“.215 Er beschwor seine evangelischen Mitstände in einem Zirkularschreiben vom 23. Dezember 1719, man solle sich für den Fall von „collisiones“ unterein ander die Unterstützung garantieren, und forderte die evangelischen Fürsten dazu auf, seinem Beispiel zu folgen und ebenfalls Repressionen zu verhängen.216 Nur eine Woche später datiert ein paralleles Rundschreiben des Landgrafen von Hessen-Kassel, der in ähnlichen Worten die evangelischen Reichsstände aufrief, ebenfalls zu Repressionen zu greifen.217 Tatsächlich hatte sich neben Hannover und Brandenburg-Preußen nur noch Hessen-Kassel dazu bereit erklärt, Repressionen gegen die Katholiken in der Niedergrafschaft Katzenellenbogen zu verhängen.218 Derartige Aufforderungen wurden wohl von den evangelischen Reichsständen auch deswegen als politisch gefährlich eingestuft, weil sie den Eindruck vermittelten, vor allem Brandenburg-Preußen wolle sie gleichsam als Schutzschild im Konflikt mit dem Kaiser gebrauchen – diesen Punkt kritisierte Georg I. in seinem Antwortschreiben auf das Rundschreiben Friedrich Wilhelms I.219 Gleichzeitig aber zwang eine solche schriftliche Aufforderung die übrigen evangelischen Reichsstände auch zur Positionierung; ein persönliches Schreiben des preußischen Königs 214
So etwa im Reskript an Metternich, Berlin, 4.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 28: „Wir bleiben auch noch dabey, daß das gantze Corporis Evangelicorum solches [die gewaltsamen Maßnahmen, R. W.] determinieren, und sich deutlich auch durch absonderliche Ratificationes der dortigen in der Sache zu machenden Conclusorum verbinden müße, alles dasjenige was hierunter geschehen wird, zu garantiren …“. 215 s. etwa Reskript an Bonet (brandenburg-preußischer Resident in London, 1697–1720), 11.11.1719, GStA PK, I. HA., Rep. 40, Nr. 27, Bl. 67. 216 Das Zirkularschreiben Friedrich Wilhelms I. vom 23.12.1719 ist abgedruckt in: EStC 36, S. 499–503. 217 Das Zirkularschreiben des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel vom 30.12.1719 ist ab gedruckt in: EStC 36, S. 504–509. 218 Vgl. Biederbick, Reichstag, S. 40; zu dem den Repressionen gegen die Katholiken zugrunde liegenden Konflikt zwischen Hessen-Kassel und Hessen-Rheinfels um die Festung Rheinfels und die dazugehörige Niedergrafschaft Katzenellenbogen vgl. ebd., S. 34. 219 Georg I. an Friedrich Wilhelm I., St. James, 5./16.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Bl. 267–269. Dass Georg I. an dem Rundschreiben Friedrich Wilhelms I. so deutliche Kritik übte, muss allerdings vor dem Hintergrund des Führungsanspruchs Georgs I. innerhalb des Corpus Evangelicorum interpretiert werden. So hatte Georg I. ausdrücklich dafür geworben, vor einer weiteren Einbeziehung der übrigen Stände nähere Absprachen unter den drei vom Corpus beauftragten Mächten, England-Hannover, Brandenburg-Preußen und Hessen-Kassel, zu nehmen.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
konnte schlechterdings nicht so leicht ignoriert werden wie Anfragen des brandenburg-preußischen Gesandten in Regensburg.220 Die Reaktionen auf das Rundschreiben beinhalteten denn auch durchgängig vollmundige Erklärungen, den evangelischen Glauben verteidigen zu wollen, sowie Danksagungen an den preußischen König für dessen Initiative.221 Zwar schlossen alle evangelischen Fürsten die Verhängung von Repressionen in ihren eigenen Territorien aus – meistens mit Verweis darauf, dass es in ihren Territorien keine Katholiken gäbe. Die Maßnahmen Friedrich Wilhelms I. zu kritisieren oder gar abzulehnen, wagte jedoch keiner, vielmehr wurden die Repressionen praktisch einhellig gutgeheißen. Derartige persönliche Erklärungen, für die Sache der Protestanten einzustehen und Brandenburg-Preußen und England-Hannover grundsätzlich zu unterstützen, banden freilich die evangelischen Fürsten schließlich in einem gewissen Maße und machten einen offen formulierten Widerstand gegen die von Brandenburg-Preußen und England-Hannover verfolgte Politik für die nächste Zeit unwahrscheinlich. Friedrich Wilhelm I. hatte zwar in seinem Rundschreiben seine evangelischen Mitstände ebenfalls zu Repressionen aufgefordert, gleichzeitig aber hatte er bekannt, die von ihm verhängten Repressionen hätten „bisher nicht den geringsten effect […] gehabt“.222 Diese Aussage ist in der Forschung gleichsam als „öffentliche Selbstkritik“ des Königs verstanden worden und hat zu dem Urteil beigetragen, Friedrich Wilhelm I. habe die Entscheidungen für Zwangsmaßnahmen „halb mit Widerwillen [und] ohne Glauben an deren Wirkung“ gefällt,223 Brandenburg-Preußen sei mithin „in die Repressalien mehr planlos als zielbewußt hineingestolpert …“.224 In der Tat äußerte sich die Berliner Regierung in der Kommuni 220
Metternich berichtete, der Hannoveraner Gesandte Wrisberg habe sich angesichts des brandenburg-preußischen Rundschreibens „über die maßen vergnügt bezeiget, weilen hierdurch Ihre [der evangelischen Gesandten] Herren Principalen gleichsahm obligiret werden, sie mit positiver instruction in dieser Sache zu versehen.“; Relation von Metternich, Regensburg, 4.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 1, Bl. 156. 221 So erstattete Herzog August Wilhelm von Braunschweig-Wolfenbüttel Friedrich Wilhelm I. „freundschaftliche[n] danck“ und versprach, „wie Wir Uns eine der sorgfältigsten Angelgenheiten seyn lassen, auf Mittel und Wege zu gedenken, wie derer Catholischen harten Unternehmungen durch zu reichende Mittel zu begegnen, […] auch nicht ermangeln [werden], Unserem Gesandten bey dem Reichsconvent wiederholten Befehl zu senden, daß er […] zu beforderung eines von Seiten des Corporis Evangelicorum zu nehmenden einmüthigen Concerts alles möglichstes bey tragen solle.“; Wilhelm August von Braunschweig-Wolfenbüttel an Friedrich Wilhelm I., Wolfenbüttel, 29.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 1, Bl. 90; s. a. Ludwig Rudolph von Blankenburg an Friedrich Wilhelm I., Blankenburg, 2.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 1, Bl. 91–92, 92: „Indessen können wir zwar nicht anders als sehr approbieren, daß Ew. Königl. Mayt. mit Schließung einiger Clöster […] den anfang machen lassen, geben jedoch ferner zu höchst erleuchteter Überlegung anheim, […] ob nicht besser, daß mit ferneren Repressalien noch eine zeitlang inne gehalten würde, bis man sähe, ob die verheißene Remedur erfolge?“ 222 EStC 36, S. 499–503 („Copia Königl. Preussischen Circular-Schreibens / an alle Evan gelische Stände des Religions-Wesens halber erlassen“, Berlin, 23.12.1719), Zitat S. 501. 223 Borgmann, Religionsstreit, S. 65. 224 Ebd., S. 81.
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kation nach außen mehrfach skeptisch über die Wirksamkeit der von ihr selbst erlassenen Repressalien. So ist auch in einem Schreiben Friedrich Wilhelms I. an den Landgrafen von Hessen-Darmstadt zu lesen, dass man in Berlin angesichts der Zurückhaltung der übrigen evangelischen Fürsten „billig bedenken trage[.] zu dehnen Repressalien wieder die in Unseren Landen sich befindenden Catholische, zu schreiten …“.225 Unter dem selben Datum äußerte sich die Regierung in der internen Korrespondenz mit dem Wiener Gesandten Burchard dagegen ganz selbstverständlich über die geplante Verhängung von Repressionen, formulierte aber auch offen, „dass es mit diesen Repressalien im Reich eintzig und allein auf Uns ankommen werde“, während von den übrigen evangelischen Reichsständen, realistisch betrachtet, kaum etwas zu erwarten sei.226 Und auch über die Konsequenzen, die sich aus einem solchen „Alleingang“ im Verhältnis zum Kaiser ergeben würden (denn die Schließung der Kirche in Celle nahm sich gegen die von Friedrich Wilhelm I. verhängten Repressionen relativ zurückhaltend aus, insbesondere weil sie, anders als die katholischen Einrichtungen in Minden, Magdeburg und Halberstadt, nicht unter die Normaljahresbestimmung des Westfälischen Friedens fiel),227 scheint man sich in Berlin schon früh bewusst gewesen zu sein. So wurde der Gesandte in Wien bereits Anfang November 1719 darauf vorbereitet, was er in seiner Position werde vertreten müssen: Im Corpus Evangelicorum werde man voraussichtlich „alles auf die Repressalien ankommen laßen wollen, die Wir in Unseren Landen […] verhängen sollen; […] es wirdt aber dadurch das ganze Odium von dieser Sache auf Uns allein fallen …“228 – und dieses Odium werde unmittelbar den brandenburg-preußischen Repräsentanten in Wien treffen. Zwar bemühte sich Brandenburg-Preußen nach wie vor um eine möglichst breite Rückendeckung; die Wahrscheinlichkeit, dass in weiteren Territorien Repressionen gegen katholische Untertanen verhängt würden, wurde aber von der Berliner Regierung als nicht eben hoch eingeschätzt. Die immer wiederkehrenden Aufforderungen an die Protestanten inner- und außerhalb des Reichs,229 dem Beispiel des preußischen Königs zu folgen, ist insofern wohl kaum adäquat als eklatante Fehleinschätzung der politischen Rahmenbedingungen 225
Friedrich Wilhelm I. an Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt, Berlin, 14.11.1719, GStA PK, I. HA. Rep. 40, Nr. 27, Bl. 86–87, 87. Entsprechend lauteten auch die Anweisungen an Metternich, im Corpus zu diskutieren, was „ferner zu thun und vozunehmen seyn werde …“; Reskript an Metternich, Berlin, 12.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 312. 226 Reskript an Metternich, Berlin, 14.11.1719, GStA PK, I. HA. Rep. 40, Nr. 27, Bl. 84–85, 85. 227 Diesen Unterschied hebt Aretin, Reich 2, S. 279, zu Recht hervor. Tatsächlich wies der Reichshofrat in seinen Gutachten mehrfach auf den Umstand hin, dass nicht nur der katho lische Konfessionsstand in Halberstadt und Minden durch den Westfälischen Frieden geschützt sei, sondern dass diese Gebiete als Ganzes überhaupt erst durch den Westfälischen Frieden an Brandenburg gefallen seien. Dadurch aber ergäbe sich eine besondere Verpflichtung des Landesherrn, die Bestimmungen des Friedenswerkes in diesen Territorien aufrechtzuerhalten; s. etwa Reichshofratsgutachten vom 20.12.1719, HHStA, RHR, Den. Rec. 110/3. 228 Reskript an Burchard, Berlin, 4.11.1719, GStA PK, I. HA. Rep. 40, Nr. 27, Bl. 22–23, 22. 229 Brandenburg-Preußen warb auch bei den Niederlanden intensiv für die Ausübung von Repressionen; s. etwa Reskript an Meinertshagen, Berlin, 9.12.1719, GStA PK, I. HA. Rep. 40, Nr. 27, Bl. 263.
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zu interpretieren, sondern vielmehr im Sinne einer rhetorischen Selbstinszenierung und -legitimierung bzw. einer Strategie, um die explizite Zustimmung anderer evangelischer Mächte einzufordern sowie unter den übrigen Fürsten für ein weitergehendes gemeinsames Vorgehen zu werben.230 Zudem müssen die Repressionen auch vor dem Hintergrund der bereits jahrelang praktizierten Politik gegenüber der katholischen Minderheit in Minden, Magdeburg und Halberstadt betrachtet werden sowie im Kontext der zahlreichen Suppliken und Prozesse, die der Halberstädter Klerus (und besonders das Kloster Hamersleben) bereits in der Vergangenheit gegen den preußischen König in Wien angestrengt hatte. Außerdem war, wie schon unter dem Großen Kurfürsten und Friedrich III./I., ab 1714 in Berlin der Plan erneut aufgegriffen worden, die Halberstädter Klöster in ihren Besitzungen und Rechten auf den Stand von 1624 zu „reduciren“ und für diesen Zweck den Klöstern zu befehlen, Belege für ihren Bestand im Normaljahr vorzubringen.231 Diese Untersuchungen wurden offensichtlich schon ab Anfang 1719 konsequenter durchgeführt und seit Beginn des brandenburg-preußischen Engagements im Religionsstreit nochmals intensiviert. Neben dem Kloster Hamersleben wurden im Zuge der Repressionen sogar noch drei weitere Halberstädter Klöster gesperrt – nominell aufgrund der unzureichenden Legitimierung des „Normaljahreszustandes“.232 Zum einen hatte man in Berlin also diese spezifische Form der Kirchen- und Fiskalpolitik, mit Hilfe des Normaljahreszustands bestimmte Restriktionen gegenüber der katholischen Minderheit in Halberstadt zu legitmieren, bereits weit vor 1719 (und damit deutlich vor der Intervention des Corpus Evangelicorum im Pfälzer Religionsstreit) praktiziert.233 Zum anderen ist es bemerkenswert, wie stark sich die unter Friedrich Wilhelm I. verhängten Maßnahmen an jenen orientierten, die unter Friedrich I. 1705 im Zuge der Verhandlungen um die Pfälzer Religionsdeklaration sowie in der Auseinandersetzung mit der Reichsstadt Köln ergriffen worden waren: Auch seinerzeit waren der Drohung, Repressalien zu verhängen, Untersuchungen 230
Die Berliner Regierung versuchte den Londoner Hof davon zu überzeugen, dass vom Kaiser nichts „zur consolation“ der bedrängten Protestanten zu erwarten sei und man daher beizeiten über weitere Maßnahmen nachdenken solle; Reskript an Wallenrodt, Berlin, 16.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28., Fasz. 1, Bl. 181. 231 Zu diesem Vorhaben s. die Akten von 1714 bis 1720 in: GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 25 a, Fasz. 1 („Reduzierung der Halberstädter Clöster ad statum anni 1624 betreffend“); GStA PK, I. HA, Rep. 25, Fasz. 1 („Die Untersuchung der katholischen Clöster in allen königlichen Landen 1704–1720“). Für die analogen Maßnahmen unter Friedrich III./I. bzw. dem Großen Kurfürsten vgl. Kap. B. II. 2. c) und Kap. D. II.; s. a. Peters, Der preußische Fiskus, S. 218–220, der allerdings lediglich auf die Maßnahmen ab 1714 verweist. 232 Lehmann, Preussen 1, Nr. 606, S. 679 (Erlass an die Halberstädter Regierung, 20.11.1719). 233 s. etwa die Weisung an die Halberstädter Regierung, Berlin, 2.3.1717, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 25 a, Fasz. 1, Bl. 3: Den Klöstern sollte eine viermonatige Frist eingeräumt werden, um zu beweisen, dass sie am Normaljahresstichtag existiert und über welche Rechte sie zu diesem Zeitpunkt verfügt hatten. Die Regierung in Halberstadt wurde in diesem Zusammenhang angewiesen zu verhindern, „daß sich die Römisch Catholische Clerisey in dortigem Fürstenthumb nicht deshalb an den Reichshof-Rath wenden und verdrießliche Mandata ausbringen möge.“
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über den Normaljahresstatus der Halberstädter Kloster vorausgegangen bzw. hatten diese begleitet;234 und schließlich hatte es sich auch damals mitnichten um eine singuläre Maßnahme gehandelt, sondern um eine immer wieder zu beobachtende politische Praxis, die nicht ausschließlich, sondern auch im Kontext der „konfessionellen Reichspolitik“ ergriffen wurde.235 Festzuhalten bleibt, dass es Brandenburg-Preußen 1719/20 erstmals gelungen war, die eigenen anti-katholischen Maßnahmen durch das Corpus Evangelicorum bzw. die Zustimmung der evangelischen Fürsten zu legitimieren – und das, obwohl nach wie vor fast alle Mitglieder des Corpus nicht zu Repressionen geneigt waren und keine derartigen Provokationen gegenüber Wien wünschten. Diese ablehnende Haltung der meisten evangelischen Reichsstände wurde nochmals deutlich, als Metternich im Januar 1720 in der evangelischen Konferenz die Bereitschaft seines Königs, noch weitere Repressionen zu verhängen, bekannt gab.236 Metternich berichtete daraufhin nach Berlin, dass dieser Vorschlag vehement abgelehnt worden sei und praktisch alle evangelischen Stände die Meinung teilten, „daß vor der Hand zu keinen mehreren Repressalien zu schreiten, sondern die Kayserliche Resolution und Remedierung noch abzuwarten wäre …“.237 3. Der Konflikt mit dem Kaiser I (1719–1720) Noch bevor das Kloster Hamersleben überhaupt mit Sequester belegt und somit die härteste und symbolträchtigste Repressalie in die Tat umgesetzt worden war, bemühte sich der brandenburg-preußische Reichstagsgesandte Metternich bei den übrigen evangelischen Gesandten darum, dass diese die königlichen Verfügungen „in specie authorisiren mögten“.238 Die Gesandten aber, so berichtete Metternich, entzogen sich dieser Anfrage, indem sie darauf verwiesen, „daß entweder gedachte verfügungen dem Instrumentum Pacis zu wieder, oder dem selben conform wären. Ersteren Falls könnten sie dieselbe nicht authorisieren; anderen falls aber wäre dieselbe durch das Conclusum vom 10. Octobris genugsahm authorisiert …“.239 Im Verlauf dieser Diskussionen habe Metterich schließlich den übrigen Gesandten in aller Deutlichkeit erklärt, worum es dem preußischen König bei diesem Anliegen eigentlich gehe: „…. wie nehmlich Ew. Königl. Mayt. von dem gesambten Corpore versprochen werden müsste, dieselbe bey der im Mindischen und Halberstädtischen zu thuenden Demarchen zu mainteniren, wieder die mandata 234
s. etwa Lehmann, Preussen 1, Nr. 427, S. 565–566 (Bericht der halberstädtischen Regierung, Berlin, 5.5.1705). 235 s. etwa ebd., Nr. 507, S. 612 (Erlass an die mindische Regierung, Goltze, 8./18.9.1694). 236 Reskript an Metternich, Berlin, 16.12.1719, GStA PK, I. HA. Rep. 40, Nr. 27, Bl. 348–349. 237 Relation von Metternich, Regensburg, 22.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28., Fasz. 1, Bl. 298. 238 Relation von Metternich, Regensburg, 13.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 107–110, 107. 239 Ebd.
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so deshalb von Wien und Wetzlar kommen mögten Deroselben beizutreten und Ihro dieserwegen keine Anglegenheit oder verdruß, es mögen dieselben bestehen worin sie wollen, zufügen zu lassen …“.240 Die Absicht, die hinter dem Werben Berlins um ein „engeres Concert“, einen „evangelischen Zusammenschluss“ oder wechselseitige Garantien stand, zielte also primär darauf, dass sich die evangelischen Reichsstände verpflichteten, bei allen von Brandenburg-Preußen geplanten Maßnahmen gegen die eigenen katholischen Untertanen nicht nur die Exekution eines potentiellen reichshofrätlichen oder reichskammergerichtlichen Mandats gegen Friedrich Wilhelm I. keinesfalls anzunehmen, sondern eventuellen Richtersprüchen gegen den König sogar öffentlich zu widersprechen. Die Möglichkeit, auf diese Weise die Reihen aller evangelischen Reichsstände in der Abwehr jeglicher gegen den preußischen König gerichteten Mandate zu schließen, musste für Friedrich Wilhelm I. angesichts seines Verhältnisses zu Kaiser und Reichshofrat äußerst attraktiv erscheinen – zumal eine solche Positionierung mitnichten von vorneherein im Interesse der evangelischen Reichsstände gelegen hätte. Die Chance für die Errichtung einer derartigen Verteidigung gegen die Reichsjustiz bot sich überhaupt nur aufgrund der aktuellen konfessionspolitischen Lage im Reich. Auch in Wien sah sich der dortige brandenburg-preußische Resident Burchard gezwungen, die Repressionen zu verteidigen, noch bevor diese tatsächlich verhängt worden waren. Dabei scheint die diplomatische Reaktion aus Wien zunächst relativ gemäßigt ausgefallen zu sein.241 Zur gleichen Zeit befasste sich aber auch bereits die kaiserliche Justiz mit den – bisher nur angedrohten – Repressalien, nachdem das Kloster Hamersleben beim Reichshofrat am 20. November 1719 eine Klageschrift gegen die Ankündigungen der Regierung, das Kloster zu schließen und mit Sequester zu belegen, eingebracht und darin um ein kaiserliches Mandat und ein Konservatorium gebeten hatte.242 Der Reichshofrat reagierte umgehend „ob summum in Mora periculum“ und legte schon drei Tage später ein Gutachten vor, in dem er die tatsächliche Umsetzung der angedrohten Maßnahmen für wahrscheinlich erklärte, zumal „gedachtes Closter wegen der wider den könig in Preussen […] nothdringlich erhobenen beym ReichsHof-Rath annoch rechtshängig verfangene processen nicht wenig und […] sonder 240
Ebd., Bl. 108. Laut Burchards Bericht habe sich der den Reichsvizekanzler vertretende Graf Sinzendorf zwar dahingehend geäußert, dass er das Vorgehen des Pfälzer Kurfürsten „höchstens improbirte“, gleichzeitg habe er aber auch betont, „daß allenfalls die repressalien ein sehr hartes verfahren im reich seyen, so I. Kayserl. Mayt. als Obristen Richter höchstempfindlich vorkömmen würden.“; Relation von Burchard, Wien, 18.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 140–143, 141. Ein Grund für die zunächst relativ zurückhaltende diplomatische Wiener Antwort auf die Ankündigungen des preußischen Königs mag auch die damalige Abwesenheit des Reichsvizekanzlers Graf Friedrich Karl von Schönborn und dessen Vertretung durch den Reichshofrats-Vizepräsidenten Graf Karl Ludwig von Sinzendorf gewesen sein. 242 Klageschrift des Klosters Hamersleben, o. D. [dem Reichshofrat vorgelegt unterm 20.11. 1719], HHStA, RHR, Den. rec. 110/3; s. a. Reichshofratsgutachten vom 23.11.1719, ebd. 241
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bar verhasset zu seyn scheinen will …“.243 Der Reichshofrat sprach sich daher dafür aus, sofort ein Dehortatorium an den König abzufassen und ihn zu ermahnen, die angedrohten Repressionen nicht auszuführen und sich nicht über den Religionsfrieden hinwegzusetzen. Der Resident Burchard wurde einbestellt und über die kaiserliche Entscheidung informiert. Burchard schrieb entsprechend nach Berlin und berichtete über das zu erwartende Dehortatorium.244 Daraufhin beschloss die Regierung in Berlin, das Kloster Hamersleben umgehend schließen zu lassen, damit noch vor Eintreffen des kaiserlichen Reskripts die Exekution der Repressionen bereits vollzogen wäre, man also dem Kaiser zuvorzukäme und einen fait accomplit schaffe.245 Auf diese Weise setzte sich der König zumindest nicht direkt über ein kaiserliches Mandat hinweg;246 zudem konnte er, nachdem die Repressionen einmal als vom gesamten Corpus beschlossen deklariert worden waren, auch für ihre Aufhebung eine entsprechende Entscheidung in Regensburg zur Voraussetzung erklären, sich selbst aber als „unzuständig“ darstellen, das Corpus Evangelicorum aber als ein rhetorisches Schutzschild gegen sämtliche Ermahnungen und Befehle aus Wien benutzen.247 Gleichzeitig wurde der brandenburg-preußische Reichshofratsagent Graeve angewiesen, in der Audienz beim Reichsvizekanzler zu erklären, der preußische König habe lediglich „aus besonderem respect vor Ihro Kayserl. Mayt. die fernere gegen die Catholische […] Unterthanen, in dero Reichslanden bereits würklich in der Expedition gewesene Verordnungen suspendirt, undt lebten der 243
Ebd. Relation von Burchard, Wien, 2.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 273–274. 245 So konnte Graeve im Nachhinein in Wien erklären, „daß die Verfügung mit dem Closter Hamersleben bereits gemacht gewesen, bevor das Kayserliche Schreiben vom 5. December eingelauffen, und deshab nunmehro Ew. Königl. Mayt. außer stande weren, ohne Einwilligung des Königs in Engelandt und gesambten Corporis Evangelicorum einige Änderung zu veranlassen …“; Relation von Graeve, Wien, 7.2.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 2, Bl. 194– 197, 194. Das kaiserliche Dehortatorium war bereit Anfang Dezember ergangen: Karl VI. an Friedrich Wilhelm I., Wien, 5.12.1719, HHStA, RHR, Den. rec. 110/3; s. a. die Überlieferung in HHStA, RHR, Vota 22-33; das kaiserliche Schreiben ist abgedruckt u. a. in: EStC 36, S. 477–480; auszugsweise auch bei Lehmann, Preussen 1, Nr. 610, S. 680 (Kaiser Karl VI. an den König von Preußen, Wien, 5.12.1719). 246 Diesen Aspekt betonte besonders Burchard und riet nachdrücklich zu einer raschen Umsetzung der Repressionen; Relation von Burchard, Wien, 22.11.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 193–194; s. a. EStC 36, S. 480–483 („Copia Rescripti von Sr. Königl. Majestät in Preussen / an Dero Cammer-Gerichts-Rat Burchard …“, Berlin, 19.12.1719). 247 So wurde in den Folgemonaten seitens der brandenburg-preußischen Diplomatie immer wieder auf den Beschluss des Corpus Evangelicorum verwiesen; s. etwa Relation von Graeve, Wien, 17.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 1, Bl. 236–238. Exemplarisch für diese Argumentation: Schreiben Friedrich Wilhelms I. an den Bischof von Münster, Berlin, 5.2.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 2, Bl. 16–17, 16: „… was aber obermeldte mit den Catholischen zu Minden verhängte retorsion betrifft, da ist solches nicht meine particulier-Sache, sondern ein werck das alle Evangelische im Reich touchiert, und wozu nach […] unter allen Evangelischen Reichsständen darüber vorher genommenen concert geschritten worden …“. Dem Reichshofratsagenten wurde dagegen bedeutet, sich nicht mehr mit kaiserlichen Ministern auf Diskussionen über die Repressionen einzulassen, „… sondern habt Ihr wann deshalb mit Euch gesprochen wird, vorzustellen, es wehre eine Sache die das ganze Corpus Evangeliorum anginge“; Reskript an Graeve, Berlin, 20.2.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 2. Bl. 250. 244
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gewißen zuversicht, Ihro Kayserl. Mayt. würden den Churfürsten von der Pfalz zu haltung der verträge […] ernstlich anhalten …“.248 Mit anderen Worten: Der preußische König habe wesentlich umfangreichere Maßnahmen geplant, diese aber aus Rücksicht auf den Kaiser zunächst zurückgestellt, erwarte nun aber im Gegenzug auch von Wien ein gewisses Entgegenkommen. Während derartige Äußerungen eher eine Kommunikation unter Souveränen suggerierten, stilisierte sich Friedrich Wilhelm I. zur selben Zeit aber auch als ausführender Arm des Corpus Evangelicorum, der selbst praktisch keine Autorität über die von der Gesamtheit aller evangelischen Reichsstände beschlossenen Maßnahmen habe. Selbstverständnis und -legitmierung des Corpus Evangelicorum als ständischer Bund erlaubten es Friedrich Wilhelm I., in der Kommunikation mit Wien die Verantwortung für die durch ihn angewiesenen und in seinen Landen ausgeführten Repressionen zurückzuweisen. Vor dem Hintergrund der diversen Bemühungen Friedrich Wilhelms I., sich der richterlichen Oberhoheit des Kaisers für seine Person und seine Territorien zu entziehen, sowie mit Blick auf die Tatsache, dass gerade das Kloster Hamersleben mehrfach zuvor den Schutz des Kaisers angerufen hatte, reihten sich die Repressionen allerdings in den Augen vieler Zeitgenossen geradezu nahtlos in die Geschichte der angespannten Beziehungen zwischen Wien und Berlin und zielten, wenngleich sie nominell gegen den Pfälzer Kurfürsten gerichtet waren, tatsächlich deutlich und für alle sichtbar auf den Kaiser. Eben darin aber bestand der Hauptunterschied zu jenen Repressionen, die Friedrich I. gut zehn Jahre zuvor im Konflikt um die Rechte der Pfälzer Reformierten hatte verhängen lassen.249 Nachdem Burchard bzw. Graeve angewiesen worden waren, die Repressionen in Wien als Ausführung der Beschlüsse des Corpus Evangelicorum zu rechtfertigen, wurde am 20. Dezember 1719 eine weitere Klageschrift des Klosters Hamersleben im Reichshofrat beraten, die sich diesmal mit der inzwischen in die Tat umgesetz 248 Relation von Burchard, Wien, 16.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 376–380, 376. Der Reichshofratsagent Graeve hatte die Aufgaben des Residenten Burchard bereits vor dessen Tod übernommen, nachdem letzterer schwer erkrankt war; s. ebd. Dass der Reichshofratsagent dieses neue Aufgabenfeld, besonders angesichts der politischen Konjunkturen, nicht mit Freude übernahm, zeigt die Relation von Graeve, Wien, 10.2.1720, GStA PK, I. HA., Nr. 28, Fasz. 2, Bl. 227–230: Graeve beschwerte sich insbesondere darüber, die Repressionen in Wien vertreten zu müssen, da diese seinem Ansehen beim Reichshofrat empfindlich schadeten: „… es ist ohne dem diese Materie hier die allerunangenehmste und behält ihre Bitterkeit …“ (ebd., Bl. 230). Graeves Angebot, seine Tätigkeit als Agent „gegen andere annehmliche Conditiones“ aufzugeben, nahm die Berliner Regierung aber offenbar nicht an (ebd). Noch zu Lebzeiten Burchards waren zwischenzeitlich Zweifel an Graeves konfessionellen Überzeugungen aufgekommen, 1720 allerdings stellte die Regierung gegenüber dem neuen Residenten Canngiesser klar, dass man dem Reichshofratsagenten voll und ganz vertraue: „… wir würden auch keinem Agenten von der catholischen Religion Unsere dortigen Reichs-Hof-Raths Sachen anvertrauen.“; Reskript an Canngiesser, Berlin, 20.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Bl. 72. 249 So distanzierte sich auch der Pfälzer Kurfürst Karl Philipp 1720 deutlich von den durch Brandenburg-Preußen und Hannover verhängten Repressionen und ließ in Regensburg erklären, dass diese Fragen ausschließlich mit dem Kaiser geklärt werden müssten; Relation von Hecht, Heidelberg, 23.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 1–2.
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ten Sperrung des Klosters und der Vertreibung der Mönche befasste. Das Reichshofratsgutachten wurde umgehend vom Kaiser approbiert.250 Der Reichshofrat riet dem Kaiser, besonders angesichts der Tatsache, „daß man hierunter eine causam communem der protestirenden […] würcklich vor augen [habe]“, mit Behutsamkeit zu reagieren. Denn zum einen bestünde aufgrund dieser Konstallation die Gefahr einer größeren religiösen Auseinandersetzung im Reich, die es unbedingt zu vermeiden gelte. Zum anderen vermutete der Reichshofrat, dass es an der „parition [seitens des preußischen Königs] nicht allein gebrechen, sondern in ermangelung dieser auch es zur würcklichen execution schwerlich zu bringen seyn dörffte …“. In diesem Fall aber, so gab der Reichshofrat zu bedenken, würde eine zwar angeordnete aber nicht vollzogene Exekution dazu beitragen, „den König in Preußen nur glauben [zu] machen, daß man damit fürzuschreiten sich gleichsamb nicht getrauen thäte…“. Entstünde ein solcher Eindruck, noch dazu in einem derartig konfessionspolitisch aufgeladenen und publiken Fall, so müsse man als Folge nichts Geringeres befürchten, „als daß gedachter König bey einer jeden kleinen gelegenheit, die zwischen anderen particularen außer seiner Chur- und fürstlichen Landen sich äusseren mögte, eine dergleichen verbotene gewalt und zwang ferner ergreiffen“, sämtliche Reichssatzungen ignorieren und sich schließlich so aufführen würde, „als wann er entweder der Obriste Richter selbsten oder in der gleichen fällen an kein gesetz mit verbunden wäre“. Aus allen diesen Gründen sei es ratsam, keinen ordentlichen Prozess zu erkennen, sondern besser „extra judicialiter et modo quasi amicabiliori“ vorzugehen, insbesondere mit Blick auf die gegenwärtigen politischen Konjunkturen und die angespannte konfessionelle Lage im Reich. Daher sprach sich der Reichshofrat für ein weiteres nachdrückliches Schreiben an Friedrich Wilhelm I. aus, mahnte aber auch gleichzeitig einen Verweis an den Pfälzer Kurfürsten Karl Philipp an, „weilen übrigens dieses ganz unheyl von der Churpfälzischen begebenheit seinen ursprung und anleitung nehmen thuet“.251 Entsprechend dem Gutachten wurde Friedrich Wilhelm I. in einem Schreiben unterm Datum des 22. Dezember 1719 aufgefordert, das Kloster Hamersleben und sämtliche Geistliche ohne Verzug zu restituieren; der Kaiser versicherte dem König darin aber auch, „in dem Churpfälzischen so wohl als in allen anderen gravaminibus die justiz zu ertheilen und allen Religionsverwandten gleichen schutz zu leisten“.252
250 Auch zum Folgenden: Reichshofratsgutachten vom 20.12.1719, HHStA, RHR, Den. rec. 110/3. 251 Ebd. 252 Karl VI. an Friedrich Wilhelm I., Wien, 22.12.1719, ebd.; abgedruckt in: EStC 36, S. 536– 542. Unterm selben Datum erging auch ein ähnliches Schreiben an Georg I. als Kurfürsten von Hannover, in dem Karl VI. die Öffnung der gesperrten Kirche in Celle forderte und die Repressionen scharf verurteilte, da sie sich primär gegen das Reichsoberhaupt richteten „und ein Uns gleichsam vorschreibendes plattes Ziel und Maaß auf sich tragen …“; ebd., S. 526–535 („Copia Kayserl. Dehortatorii an den König in Engelland /als Chur-Fürsten zu Braunschweig / wegen der von demselben in den Chur-Pfälzischen Religions-Strittigkeiten gebrauchten Repressalien gegen die Catholischen zu Celle“, Wien, 24.2.1720), Zitat S. 531.
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Friedrich Wilhelm I. beantwortete dieses neuerliche Schreiben des Kaisers allerdings nicht, sondern beließ es dabei, weiterhin überall erklären zu lassen, dass für die Repressionen primär das Corpus Evangelicorum verantwortlich sei.253 Zur selben Zeit gelangten immer neue Nachrichten über die Repressionen nach Wien: Neben dem kaiserlichen Residenten in Berlin, Voss, berichtete auch der kaiserliche Gesandte im Niedersächsischen Kreis, Graf von Metsch, über den aktuellen Umgang der brandenburg-preußischen Kommissare mit den Halberstädter Klöstern und sandte diverse Memoriale der Mönche in Halberstadt sowie des Mindener Domkapitels nach Wien.254 Der Graf hatte bereits mehrfach sowohl für die katholischen Geistlichen in Halberstadt als auch für die Adelsopposition in Magdeburg im Zusammenhang der Allodifikation der Lehen als Kontaktperson eine wichtige Rolle gespielt und den Anliegen der Landstände in Wien Gehör verschafft.255 Graf Metsch berichtete nun, wie man in Berlin mit dem Kloster Hamersleben „den Anfang gemacht, und dadurch denen anderen Clöstern und übrigen Unterthanen zeigen wolle[.], daß man die jenige, so sich zu Ew. Kayserl. Mayt. wenden, und allda ihre beschwerden anbringen, allezeit über kurz oder lang dafür zu züchtigen wisse, wodurch nichts anders intendiret wirdt, als jederman so zu intimidiren, daß sich niemand mehr unterstehen soll, Ew. Kayserl. Mayt. oberrichterliches Ambt wider den König oder seine Gerichte zu employieren …“.256 Metsch ging mit keinem Wort auf die offizielle Präsentation der Repressionen als Ausführungen einer gesamtevangelischen Politik ein; vielmehr stellte er die unter dem Titel der „Retorsionen“ eingeführten Bedrückungen katholischer Klöster in Halberstadt ohne weiteres in eine Reihe mit den bisherigen Maßnahmen, die von der Berliner Regierung zur Verhütung einer Anrufung der Reichsgerichte verhängt worden waren und über die Metsch bereits in der Vergangenheit berichtet hatte. Als Friedrich Wilhelm I. schließlich unterm 9. Januar 1720 dem Kaiser persönlich auf dessen Reskript wegen des Klosters Hamersleben vom 5. Dezember 1719 (und nicht auf das Schreiben vom 22. Dezember) antwortete, argumentierte er aber bemerkenswert anders als in den vorangegangenen Prozessen des Klosters. Hier vertrat der König nun zum ersten Mal konsequent die evangelische Verfassungsinterpretation, wie sie sich in den vorausgegangenen zehn bis zwanzig Jahren schrittweise entwickelt hatte: Der preußische König erklärte in seinem vielzitierten Antwortscheiben, dessen Entwurf im Übrigen vom Reichstagsgesandten Metternich stammte, rundheraus, es dürften erhebliche Zweifel daran bestehen, „daß das Jus Advocatiae Ecclesiae Romanae [… ] dahin genommen werden sollte, das E. K. M. allzeit die Partei des römischen Cleri nehmen und ihm das Wort reden wollten, als in welchem Sinne das Jus Advocatiae mit dem oberrichtlichen Amt 253 s. etwa Relation von Graeve, Wien, 17.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 1, Bl. 236–238. 254 Relation von Burchard, Wien, 20.12.1719, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 27, Bl. 420–422. 255 Vgl. Kap. D. II. 3. b). 256 Relation von Metsch (Extrakt), Braunschweig, 19.12.1719, HHStA, RHR, Den. rec. 110/3.
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nicht bestehen könnte“.257 Erwartungsgemäß erregte diese direkte Beschuldigung des Kaisers, er könne als Katholik und Verteidiger des katholischen Glaubens nicht unparteiisch in interkonfessionellen Streitfällen urteilen, in Wien den größten Unmut; noch dazu, weil das Antwortschreiben Friedrich Wilhelms I., bevor es mehrere Wochen nach seinem Entstehungsdatum schließlich in Wien übergeben wurde, bereits in gedruckter Form durch die Zeitungen bekannt geworden war.258 Nachdem die Geheime Konferenz Ende Januar über die Beantwortung des Schreibens beraten hatte, befasste sich auch erneut der Reichshofrat mit der Frage der Repressionen – die ja bereits durch die Klagen des Hamersleber Klosters als extrajudiziales Verfahren anhängig war. Der Reichshofrat, so das Gutachten vom 23. Februar, habe das Schreiben des preußischen Königs „nicht anders als mit großer verwunderung und gleichsamb entsetzlich vernommen“, weil die „irrespecteuse vorwürfe“ nicht nur gegen des Kaisers Person, sondern auch gegen seine Vorfahren und das kaiserliche Amt als solches gerichtet seien.259 Man könne eine derartige Beleidigung keinesfalls hinnehmen, weil ansonsten der König, „welcher nicht anderst, als ein stand des Reichs zu consideriren“, sich noch mehr ereifern werde. Die Prinzipien, die der preußische König vertrete, liefen auf einen Umsturz des Reiches hinaus, „woraus dann allenthalben so viel erscheinet, daß des Königs und vielleicht mit Ihme einige der protestierenden Ständen absehen gerichtet sey, auff die Erwei therung eines neuen Systematis Pacis Religiosae mithin auff die Verkehung deren alten teutschen Reichsgesätzen gleich zu begründen, […], solche in nichts anders als in erweitherung allerhand geist- und weltlicher exemtionen und freyheiten, der zu möglichste linderung und Einschrenkung der Kaiserl. Macht bestehen würden.“ In allen möglichen Publikationen würden derzeit strafbare Rechtslehren verbreitet, die sämtlich darauf zielten, die Gemüter gegen das kaiserliche Interesse zu „präokku pieren“, und in dieser Hinsicht täten sich ganz besonders die unter der Herrschaft des preußischen Königs stehenden Universitäten hervor. Die offizielle Rekation auf die jüngste Berliner Provokation erfolgte denn auch umgehend: Die beiden kaiserlichen Schreiben an Friedrich Wilhelm I., die auf des 257 EStC 36, S. 483–495 („Copia Königl. Preußischen Antwort-Schreibens auf das an Ihn den 5. Decembris 1719 ergangene Kayserl. Rescriptum …“, Berlin, 9.1.1720), Zitat S. 494. 258 Ob das vorherige Bekanntwerden des Schreibens mit dem Tod des Residenten Burchard zu erklären ist, oder ob es sich um eine gezielte Indiskretion handelte, die – von wem auch immer begangen – darauf berechnet war, die provozierende Wirkung des Inhalts nochmals zu steigern, ist aus den eingesehenen Akten nicht zu beantworten. Borgmann, Religionsstreit, S. 77–78, gibt die Meinung der hannoverischen Relationen wieder, indem er die Verzögerung als unbeabsichtigt erklärt. Der Reichshofrat war dagegen der Meinung, dass die vorherige Bekanntgabe durch den Druck „mit geflißenem vorsatz, umb mit sothaner kühnheit gleichsamb einigen ruhmb zu gewinnen, geschehen sein muß …“; Reichshofratsgutachten vom 22.1.1720, HHStA, RHR, Den. rec. 110/3. In den für diese Arbeit eingesehenen Akten des GStA PK sind in der Tat keinerlei Äußerungen zu finden, die intern Kritik daran übten, dass das königliche Schreiben, noch bevor es übergeben worden war, bereits im Druck erhältlich war. 259 Auch zum Folgenden: Reichshofratsgutachten vom 22.1.1720, HHStA, RHR, Den. rec. 110/3.
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sen besagtes Schreiben vom 9. Januar antworteten, datieren vom 23. und 24. Februar 1720. Während sich das erstere nochmals mit der Argumentation des Königs auseinandersetzte und die Unrechtmäßigkeit des evangelischen Vorgehens im Allgemeinen und des brandenburg-preußischen im Besonderen darlegte,260 beschränkte sich das zweite Schreiben nicht auf die vom Reichshofratsgutachten behandelte Problematik des Falles Hamersleben.261 Vielmehr traf Friedrich Wilhelm I. hier der über Jahre in Wien angesammelte Unwille gegen die brandenburg-preußische Reichspolitik: Karl VI. warf Friedrich Wilhelm I. vor, dass er sich an für das ganze Reich geltende Gesetze nicht halte, die Reichsgerichtsbarkeit missachte, weder Türkensteuern noch Kammerzieler zahle und durch den nur mit gewaltsamen Werbungen und überhöhten Abgaben der Untertanen ermöglichten Ausbau seines Heeres eine Bedrohung für jene kleinen Reichsstände darstellte, die sich ohnehin vor dem überall spürbaren Willen Brandenburg-Preußens, sich auf Kosten kleinerer Nachbarn zu vergrößern, ständig bedrückt fühlten. Explizit erinnerte der Kaiser Friedrich Wilhelm I. an die Verpflichtungen, die sein Vater im „Krontraktat“ eingegangen war, in dem er zugesagt hatte, im Kontext einer Behandlung der Religionsbeschwerden durch den Kaiser zu keinen Repressionen zu greifen. „Solten aber Ew. Lbd. zu denen Reichs Grund-Gesetzen und zu gemeldtem preussischen Cron-Tractat sich etwann nicht mehr gebunden zu seyn / und im Reich Statum in statu für sich fort zu formiren / ihren Mit-Ständen vorzuschreiben […] überall in dem Reich gleichsam Krieg oder Frieden zu stifften […] und alles nach Dero Willkühr eigenmächtig unternehmen […] zu dürffen: Endlich auch einem Römischen Kayser selbsten […] widerstehen […] zu können / glauben; So werden dem natürlichen und vorgeschriebenen Teutschen Recht nach / Wir Uns samt dem übrigen Reich […] danach zu achten wissen …“.262 Von allen Ständen des Reiches aber habe wohl gerade der preußische König am wenigsten „Ursach und Befügnis“, zu derartigen gewaltsamen Mitteln zu greifen, „nachdeme Sie an denen höchsten Reichs-Gerichten /gegen andere Glaubens-Genossen und deren Behörde bekandlich in so vielfältigen Reichs-kündigen Rechts-Stritten befangen …“.263 Auch die Souveränitätsfrage sprach der Kaiser an und betonte, dass der König in allen Reichssachen dem Reichsrecht wie jeder andere Stand unterstehe, „wovon Ew. Lbd. die Königl. Preussische Würde / vermög dero Cron-Tractats, auf keine Weiß eximiret / sondern dieselbe bekanndtlich zu aller Reichs- Churfürstl. und Ständischer Schuldigkeit und Gebühr / nach wie vor allerdings gantz deutlich anweiset / infolglich solche Ehren-Würde dießfalls nicht anzusehen / und darmit keineswegs zu bemengen ist …“.264 260
EStC 36, S. 543–551 („Copia, Kayserl. Antwort Schreibens / an den König in Preussen / als Fürsten zu Halberstatt / das Closter Hammersleben betreffend“, Wien, 23.2.1720). 261 Ebd., S. 552–570 („Copia Kayserl. Schreibens an den König in Preussen / als Fürsten zu Halberstatt und Minden / Dehortatoriae, Inhibitoriae & Cassatoriae / wegen der von demselben in den Chur-Pfälzischen Religions-Streitigkeiten gebrauchten Repressalien“, Wien, 26.2.1720 [tatsächlich datiert das Schreiben vom 24.2.1720]). 262 Ebd., S. 566. 263 Ebd., S. 564. 264 Ebd., S. 568.
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Mit dem zweiten Schreiben hatte der Kaiser die rein rechtliche Argumentation ganz offensichtlich verlassen. Waren die bislang in der Frage der Repressionen ergangenen Reskripte des Kaisers sämtlich auf Grundlage der entsprechenden Reichshofratsgutachten formuliert und formell als Teil eines reichshofrätlichen Verfahrens (wenn auch keines ordentlichen Prozesses) des Klosters Hamersleben gegen seinen Landesherrn behandelt worden, so argumentierte der Kaiser nun offen „politisch“ in dem Sinne, dass er dem König vorhielt, er verfolge mit seiner Reichspolitik im Allgemeinen und den Repressionen im Besonderen das Ziel, sich dem juristischen und hierarchischen System des Reiches auf jede mögliche Weise zu entziehen, die eigene Macht hingegen immer weiter zu vergrößern, mithin den Umsturz der hergebrachten Reichsverfassung billigend in Kauf zu nehmen. Die von Berlin verfolgte Religionspolitik und insbesondere die Repressionen wurden hier also nicht getrennt von den übrigen reichspolitischen Zielen Berlins interpretiert, sondern als ein Bestandteil derselben „reichszerstörerischen“ Strategie, die mit den „Retorsionen“ und der juristischen Konstruktion einer reinen Exekution gesamtprotestantischer Politik gewissermaßen ihren Gipfelpunkt erreicht hatte.265 Der ungefähre Inhalt der kaiserlichen Reskripte war dem Berliner Hof bereits bekannt, bevor sie der Regierung übergeben wurden. Der kaiserliche Resident in Berlin, Voss, war schon Ende Januar angewiesen worden, die wichtigsten Punkte der kaiserlichen Schreiben mitzuteilen, so unter anderem den Vorwurf, Friedrich Wilhelm I. habe mit den Repressionen den „Krontraktat“ von 1700 verletzt.266 Daraufhin wurde der brandenburg-preußische Reichshofratsagent Graeve angewiesen, dem Reichsvizekanzler zu erklären, dass Kaiser Leopold schließlich in jenem Vertrag seinerseits versprochen hätte, „die Pfälzische Religionsgravamina, dem Instr. Pacis und den Reichsconstitutionen gemäß zu erörtern und beizulegen sich angelegen seyn lassen wollte!“ Dies aber sei alles, was der König und seine evangelischen Mitstände vom Kaiser auch jetzt verlangten – und wenn Karl VI. dieses Versprechen seines Vorgängers einlösen sollte, so würde Friedrich Wilhelm I. auch hinter der Zusage seines eigenen Vaters nicht zurückstehen.267 Die von Wien immer wieder bemühten Vergleiche mit der Regierungszeit Friedrichs I. und dem seinerzeit herrschenden „guten Einvernehmen“ zwischen den beiden Höfen (als Gegensatz zum aktuell herrschenden König und dessen Politik) benutzte die Berliner Regierung nun ihrerseits, um die Kontinuität der brandenburg-preußischen Reichspolitik zugunsten des Protestantismus darzustellen. Im Zuge des geschilderten Schlagabtauschs spitzte sich die diplomatische Krise zwischen Wien und Berlin immer weiter zu: In Wien wurde die Weigerung des Kö-
265 Eine Unterscheidung zwischen „Religionshändeln“ und ernstzunehmenderen politischen Themen, wie Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 249, sie in diesem Kontext macht, erscheint daher nicht adäquat. Zur Übernahme der oben skizzierten Rezeption der brandenburg-preußischen Reichspolitik in der Literatur vgl. Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 133 266 Reskript an Voss, Wien, 24.1.1720, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a, Fasz. 2, Bl. 189. 267 Reskript an Graeve, Berlin, 17.2.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 2, Bl. 216–217.
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nigs, den kaiserlichen Residenten in Berlin zu empfangen,268 angesichts der scharf formulierten kaiserlichen Reskripte immer mehr als bewusster Affront gegen die Autorität des Kaisers wahrgenommen. Auf die dringende Anfrage Ilgens, was er dem Residenten Voss mündlich auf das kaiserliche Schreiben vom 24. Februar erwidern solle, antwortete der König eigenhändig: „Ich mache es so, wie Wallenstein. Wan er Ordre krigette vom Keiser, so küssete er sie und stahck die versigelte Ordre vorn Fenster. Dieses habe ich auch gethan. Soll den Fohs sagen“.269 Diese Randverfügung hat, da sie in der Quellensammlung von Lehmann abgedruckt ist, einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht, entspricht sie doch auch dem vielfach überlieferten und nachgezeichneten Bild des jähen und brüsken Verhaltens dieses Monarchen. Weniger bekannt dürfte die Tatsache sein, dass das in seiner Randverfügung von Friedrich Wilhelm I. selbst gezeichnete Bild eines der zahlreichen kaiserlichen Ermahnungen überdrüssigen Königs, der derartige Schreiben nicht einmal mehr öffnet, auch in einer stilisierten Antwort an den Kaiser auftaucht, die 1720 gedruckt wurde: Vermutlich in Berlin in Auftrag gegeben oder durch Metternich in Regensburg verfertigt, behandelte „Eines Hamburgischen Patricii Schreiben an Seinen guten Freund uber die Kayserliche harte Briefe An den König in Preussen Wegen Der Religions-Sachen im Reich“270 ausführlich und mitunter in ironischem Stil das Schreiben Karls VI. an Friedrich Wilhelm I. vom 24. Februar 1720 sowie die ausgebliebene Antwort des Königs. Friedrich Wilhelm I. habe, so der fiktive Autor, seit Beginn seiner Regierungszeit praktisch „nichts als harte / und Ihm sehr empfindliche Briefe“ von Wien erhalten, weshalb er wohl das letzte Schreiben „gar nicht erbrochen / sondern es an einen gar honorablen Ort niedergeleget / auch es noch biß diese Stunde nicht eröffnet / und noch weniger Sich um dessen Beantwortung bekümmert hätte[.]“. Im Übrigen könne man wohl in Wien die anhaltenden Repressionen als eine ausreichende Antwort betrachten. Das größte Verbrechen, dessen der König vom Kaiser beschuldigt werde, sei schließlich, dass er das Unrecht, das den Evangelischen im Reich widerfahre, öffentlich beklage – und dabei eben auch die Untätigkeit des Kaisers offen benenne. Die Repressionen seien schon deswegen nötig gewesen, um den kaiserlichen Hof, „welcher gleichsam bey diesem Unwesen gar in den Schlaff gerathen“, wach zu rütteln. Ausführlich werden im Folgenden die Repressionen als legitimes Mittel des Reichsrechts verteidigt, und zwar auch mit Verweis auf die jahrzehntealte Praxis in Jülich und Kleve. Praktisch sämtliche Vorwürfe, die das kaiserliche Schreiben aufführt, werden von dem fiktiven Briefeschreiber abgehandelt und widerlegt, während der Reichshofrat der anti-preu 268 Im Kontext der pfälzischen Religionsgravamina drohte der Berliner Hof sogar damit, das katholische Exerzitium des kaiserlichen Residenten einzuschränken; s. diverse Schreiben in: HHStA, RK, Berlin – Berichte 11 a. 269 Lehmann, Preussen 1, Nr. 623, S. 685 (Immediatbericht von Ilgen, Berlin, 1.4.1720). 270 Eines Hamburgischen Patricii Schreiben an Seinen guten Freund Uber die Kayserliche harte Briefe An den König in Preussen Wegen Der Religions-Sachen im Reich, o. O. [Hamburg] 1720.
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ßischen Parteinahme beschuldigt wird: Der König habe das Recht, Repressionen zu erlassen oder eine große Armee zu bilden. Und nicht er müsse dem Kaiserhaus Dankbarkeit erweisen und um die Gunst des Kaisers bangen (wie dies der Kaiser suggeriert habe), sondern vielmehr seien umgekehrt Zweifel angebracht, „ob es rathsam / und des Kaysers eigenem wahren Interesse gemäß […] dergleichen Mißtrauen einem so mächtigen Herrn / wie der König in Preussen ist / zu inspiriren / und Sein Gemüth dadurch gar von dem Käyserlichen Hofe abzuwenden“ (Hervorhebungen im Original). Vieles spricht dafür, dass dieser Text, wenn nicht von Berlin aus in Auftrag gegeben, so doch mit Zustimmung der Regierung gedruckt worden war. Der preußische König wurde hier als selbstbewusster Herrscher stilisiert, der sich nicht an kaiserliche Reskripte hielt bzw. aufgrund seiner Macht nicht halten musste und, in seiner Ehre verletzt, sich nicht in die Rolle eines Vasallen pressen ließ. Die sprachlichen Bilder, die für diese Darstellung verwendet wurden, schlugen zum Teil einen bewusst respektlosen Ton an, mit denen die ostentative Distanz des Königs zu höfischen Gepflogenheiten unterstrichen wurde. Die Tatsache, dass diese Respektlosigkeit auch noch öffentlich gemacht wurde (wie ja auch der Briefwechsel zwischen Karl VI. und Friedrich Wilhelm I.), ließ unmissverständlich darauf schließen, dass hier zumindest von Berlin aus der offene Konflikt mit dem Kaiserhof vorsätzlich riskiert wurde. Denn das Wesen der diplomatischen Kommunikation bestand ja nicht zuletzt darin, dass nur sehr wenige Akteure an ihr beteiligt waren und dass entstehende Differenzen grundsätzlich immer als Missverständnisse heruntergespielt werden konnten – sofern die politischen Beziehungen gut waren und keine Seite Interesse an ein einem Eklat hatte.271 Dass die Stimmung zwischen den beiden Höfen in diesen Monaten sich immer weiter verschlechterte, bekam auch der nach dem Tod Burchards nach Wien entsandte, neue brandenburg-preußische Resident Conrad Canngiesser272 zu spüren, der nun seinerseits lange auf eine Audienz beim Kaiser warten musste.273 Bereits die Wahl der Person des neuen Residenten scheint auf beiden Seiten als eine Geste verstanden worden zu sein, die nicht auf die Absicht, die Beziehungen zu verbessern, schließen lassen konnte, handelte es sich doch bei dem ehemaligen kur brandenburgischen Agenten am Reichskammergericht nicht eben um „einen Mann von Ansehen“.274 Tatsächlich sollte die Zeit, die Canngiesser in Wien als Resident verbrachte, nicht von langer Dauer sein. Sie endete nach nur wenigen Monaten mit 271
Vgl. Stollberg-Rilinger, Offensive Formlosigkeit?, S. 207. Zu Canngiesser vgl. Acta Borrussica, Behördenorganisation 1, S. 771, Anm. 5. 273 Relation von Canngiesser, Wien, 13.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 286, Bl. 58–61, 59: So berichtete Canngiesser, der Reichsvizekanzler haben ihm, als er sich darüber beschwerte, bislang noch nicht zum Kaiser vorgelassen worden zu sein, zu verstehen gegeben, „daß wofern man mit mir hier so umgehen wollte, als gedachter Voss zu Berlin tractirt würde, den Ew. Königl. Mayt. personellement hassten und nicht vor sich ließen, ich übel daran seyn und den kayser wenig sehen würde …“. 274 Relation von Voss, Berlin, 5.2.1720, HHStA, RK, Berlin – Berichte 11 b. 272
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dem zwischenzeitlichen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und dem Kaiserhof im Jahr 1721. Canngiesser repräsentierte mithin von Anfang an „schlechte Beziehungen“. Dieser Umstand hat in der Literatur zu einer negativen Beurteilung seiner diplomatischen Fähigkeiten – und derjenigen der Berliner Minis ter insgesamt – geführt.275 Die brandenburg-preußische Diplomatie dieser Jahre als fehlgeleitet oder gescheitert zu beurteilen, setzt allerdings voraus, dass die in Berlin verfolgte Politik primär dem Ziel der Annäherung und der Wiederherstellung guter Beziehungen zum Kaiser verpflichtet war. Es lassen sich auch durchaus verschiedene, in der diplomatischen Korrespondenz wiedergegebene Äußerungen anführen, welche die „Reichsdevotion“ des preußischen Königs und seinen Respekt vor dem kaiserlichen Amt betonen. Der kaiserliche Resident Voss berichtete beispielsweise im Frühjahr 1720, „daß der von Ilgen die Parition der […] Mandatorium mithin die Restitution der Hamerslebischen Geistlichen und anderen nochmal zu gesichert, auch endlich gesagtet hat, daß er […] auch dahin sehen wollte, daß das Corpus Evangelicorum zu gedultigeren und mäßigeren Gedancken gebracht werde, ingleichen, daß der […] abzuschickende Minister Canngiesser in dieser Sache eine solche, eben auf der Churpfälzischen Restitution nicht mehr so sehr bedingte Erklährung thun sollte, daß Ew. Kayserl. Mayt. darob des Königs, seines Herrn, für Dieselbe hegende Reichsdevotion vollkommen zu verspühren haben würden …“.276 Und der Reichshofratsagent Graeve wurde von Berlin aus angewiesen, dem Reichsvizekanzler zu erklären, „daß Uns nimmer in den Sinn gekommen, durch die […] Retorsionen der Kayserl. höchsten autorität im reich im geringsten zu nahe zu treten …“.277 Doch solche Äußerungen standen eben in einem klaren Gegensatz zu der von Berlin verfolgten politischen Linie – und das gab man in Wien den dort anwesenden brandenburg-preußischen Repräsentanten auch deutlich zu verstehen: So berichtete der neue Resident Canngiesser, der Graf Starhemberg habe ihm die geringe Glaubwürdigkeit dieser kaisertreuen Rhetorik verdeutlicht und erklärt, „daß die Worte dießfalls mit der that nicht mehr übereinkämen …“.278 Und auch der frisch berufene Resident selbst äußerste sich angesichts des wenig freundlichen Klimas, mit dem er sich an seiner neuen Wirkungsstätte konfrontiert sah, irritiert. So bekannte Canngiesser in einer seiner ersten Relationen geradezu unbedarft, er fürchte, dass derzeit am Kaiserhof eine so „hefftige Verbitterung“ gegen den preußischen König bestehe, „daß solches vielleicht noch eine Zeitlang in Ew. Königl. Mayt. bey demselben habenden verschiedenen Angelegenheiten 275
So urteilt Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 265, die in Berlin für die Reichspolitik zuständigen Minister seien „keine so geschickten Diplomaten [gewesen], die ihre Ziele erreicht hätten, ohne der Empfindlichkeit des Kaisers zu nahe zu treten.“; sowie über Canngiesser, ebd., S. 266: „Kanngießer aber kam zu einer ungünstigen Zeit nach Wien und verstand es nicht, den Vorteil seines Herrn in gewandtem Verkehr zu suchen …“. 276 Relation von Voss, Berlin, 2.3.1720, HHStA, RHR, Den. rec. 110/3. 277 Reskript an Graeve, Berlin, 5.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 1, Bl. 32–33, 32. 278 Relation von Canngiesser, Wien, 27.3.1720, ebd., Bl. 232–236, 233.
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nicht ohne Nachtheil zu empfinden seyn döffte …“.279 Canngiesser riet daher nach eigenem Gutdünken an, „sich nicht gar zu sehr bey dem Kayserlichen Hof in die Augen [zu] stellen“, mithin sich weniger aggressiv zu präsentieren und die kaiserlichen Schreiben verbindlich zu beantworten.280 Das entsprechende Reskript aus Berlin wies den Residenten allerdings deutlich zurecht und gab ihm zu verstehen, dass „es des raisonnements und Einraths, so Ihr Eurem PS vom 23. mit einfliessen lassen gar nicht bedurft [hätte].“ Auf die kaiserlichen Schreiben werde der König genau dasjenige antworten, „das Wir vor Gott in unserem Gewissen und der ganzen raisonnablen welt auch gegen den Kayser selbst zu verandworten uns getrauen, wann Derselbe Uns höre und auf Unsere fundamenta gerecht reflexion nehmen will“.281 Der Spielraum des individuellen Diplomaten – in diesem Falle also Canngiessers –, die Beziehungen substantiell anders zu gestalten, wurde aber nicht nur seitens seines eigenen Hofes deutlich begrenzt, sondern auch durch die Erwartungshaltung der Gegenseite. So äußerte der Reichsvizekanzler in einem Reskript an den kaiserlichen Residenten Voss in Berlin: „Es seye der zur hiesigen preußischen Residenten stelle ausgesehene so geschickt, auch für sich so wohl intentioniert, wie er wolle, so wird solches doch, in so lang man ahn dortigem Hoff von denen bisherig geführten principiis nicht abstehet, nichts fruchten können …“.282 Insofern wurde sowohl in Berlin als auch in Wien von dem neuen brandenburg-preußischen Residenten geradezu erwartet, „schlechte Konjunkturen“ zu repräsentieren, zu verwalten und aufrechtzuerhalten. Betrachtet man die geschilderte diplomatische Situation um 1720 zudem vor dem Hintergrund der anfangs besprochenen Denkschrift von Ilgen aus dem Jahr 1716, so erscheinen die diversen Differenzen, die auf fast allen denkbaren Gebieten der Reichspolitik zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaiser bestanden und deren 279
Relation von Canngiesser, Wien, 23.3.1720, ebd., Bl. 203–208, 204. Ebd., Bl. 208. 281 Reskript an Canngiesser, Berlin, 2.4.1720, ebd., Bl. 225–226, 225. Dass der neue Resident offenbar zunächst davon ausging, das Ziel seiner Tätigkeit bestünde in der möglichst raschen Verbesserung der Beziehungen zum Kaiser, sollte nicht als Beleg dafür angesehen werden, dass es sich dabei tatsächlich um das reichspolitische Programm der Berliner Regierung gehandelt hat. Die Äußerungen Canngiessers können vielmehr als Hinweis darauf gelten, dass er, zumal als niederrangiger Diplomat, nicht vollständig in die Prinzipien der brandenburg-preußischen Politik dieser Jahre eingeweiht war. Dass es sich bei der Praxis der selektiven Information des diplomatischen Personals aber nicht um eine Besonderheit der brandenburg-preußischen Politik unter Friedrich Wilhelm I. – gar im Sinne fehlender Professionalität –, sondern um ein Strukturmerkmal frühneuzeitlicher Diplomatie überhaupt handelt, legt zum Beispiel nahe: Reinhard, Papst Paul V., S. 236–237; zum 18. Jahrhundert vgl. auch Duchhardt, Balance of Power, S. 29–30. 282 Reskript an Voss, Wien, 12.3.1720, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a, Bl. 127: Schönborn beklagte dabei vor allem „die continuierende unangemessene wiedersetzlichkeiten“ des Königs, und dass die „wiederspenstige[n] preußische[n] bezeugungen, da sich dieselbe von tag zu tag gleichsam willkührig mehren, und sich an kein ziel noch maas mehr binden lassen wollen, allerdings unerträglich zu werden beginnen …“. 280
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Höhepunkt die konfessionspolitischen Auseinandersetzungen seit 1719 darstellten, als politische Konsequenzen einer etablierten Perspektive Berlins auf das Verhältnis zum Kaiserhaus. Aufgrund der bestehenden Allianzen standen spätestens seit 1715 der diplomatischen und juristischen Artikulierung dieser Haltung auf beiden Seiten zudem keine nennenswerten außenpolitischen Rücksichtnahmen entgegen. Der in der Ilgenschen Denkschrift und in zahlreichen anderen tagespolitischen Äußerungen anklingenden Sicht Berlins auf das gegenseitige Verhältnis entsprach aber gewiss nicht eine „Devotion für Kaiser und Reich“, wie man eine solche in Wien definiert hätte. Das im Ilgenschen Aufsatz von 1716 so deutlich artikulierte Selbstverständnis Brandenburg-Preußens als eine dem Kaiserhaus gleichberechtigt gegenüberstehende Dynastie souveräner Herrscher lässt sich auch an anderen Stellen finden. Besonders deutlich kommt es in einer Weisung vom Dezember 1720 an Canngiesser zum Ausdruck: Mit Blick auf eine potentielle Aussöhnung zwischen den beiden Höfen heißt es dort: „Sollte es zu einem völligen guten Vernehmen zwischen dem Kayser und Uns zu bringen seyn, So werden Wir an Unserer Seite, gerne alles, was mit raison deshalb von Uns gefordert werden kann, dazu beytragen, denn Wir gantz woll begreiffen, daß des Kaysers freundschafft Uns nützlicher sey, als das gute Verständnüs mit allen übrigen Puissancen von Europa. Es kömt aber nur darauf an, daß der Kayserliche Hoff die avantagen, so Uns Gott gegeben, und die von Unseren Vorfahren auf Uns vererbet worden, Uns gönne und Uns nichts davon zu entziehen trachten möge. Wenn dieses zum fundament geleget wirdt, so wirdt das gute vernehmen zwischen Uns und dem Kayser gar baldt gestiffet seyn.“283 Auch hier wird der Kaiser als eine Macht in Europa neben anderen dargestellt, deren Freundschaft allerdings für das Haus Brandenburg einen besonderen strategischen Wert besitzt, besonders „nützlich“ und daher grundsätzlich erstrebenswert ist – jedoch nicht um jeden Preis. Mit dem zweiten Teil des Zitats wird dieses Verhältnis noch einmal aus der umgekehrten Perspektive beleuchtet: Nur wenn auch der Kaiser Brandenburg-Preußen ein eigenständiges Machtstreben zugestehe, die preußischen Könige mithin wie andere europäische „Puissancen“ behandle, werde man ein gedeihliches Verhältnis etablieren können. a) Der Fall Bylandt Für die brandenburg-preußische Konfessionspolitik im Reich standen die Besitzungen am Niederrhein und die dortige katholische Untertanenschaft nicht im Mittelpunkt, weil dort, anders als in Magdeburg, Minden und Halberstadt, durch die zwischen Pfalz-Neuburg und Kurbrandenburg im 17. Jahrhundert geschlossenen Religionsreversalien andere konfessionsrechtliche Bestimmungen galten als im
283
Reskript an Canngiesser, Berlin, 17.12.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 286, Bl. 62–63,
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übrigen Reich.284 Der konfessionsrechtliche status quo in den geteilten Ländern des jülich-klevischen Erbes war durch verschiedene Verträge geregelt; unter diesen war der so genannte Bielefelder Rezess von 1672 der wichtigste.285 Beide vertragschließenden Mächte hatten sich darin auf den Schutz der Konfessionsrechte in sämtlichen Territorien des Herzogtums Jülich-Kleve-Berg geeinigt, so dass die beiden Fürsten praktisch die Schutzherrschaft über ihre eigenen Konfessionsverwandten im jeweiligen Nachbarterritorium übernahmen (wobei Brandenburg als Schutzmacht für beide evangelische Konfessionen galt). Für sämtliche konfessionellen Gravamina der Katholiken in den brandenburgischen Gebieten war Pfalz-Neuburg, für diejenigen der Protestanten unter pfalz-neuburgischer Herrschaft aber Brandenburg als Beschwerdeinstanz zuständig – bzw. in der Praxis die jeweiligen Residenten in Kleve und Düsseldorf. In der Folge etablierte sich ein bestimmter Modus für die bilaterale Behandlung der Beschwerden, der auch größere Religionskonferenzen mit Vertretern beider Regierungen vorsah. Als Sanktionsmechanismus beinhaltete aber bereits der Vertrag von 1672 das Retorsionsrecht.286 Unter bestimmten Bedingungen sollte es den Vertragspartnern erlaubt sein, Repressionen gegen die eigenen Untertanen der jeweils fremden Konfession durchzuführen, um Verletzungen der Rechte der eigenen Konfessionsangehörigen im Nachbarterritorium zu ahnden.287 Die niederrheinischen Religionsvergleiche hatten zur Folge, dass für die Klärung von Religionsbeschwerden der juristische Weg vor die territorialen Instanzen kaum ins Gewicht fiel, vor allem aber, dass die Reichsjustiz für diese Gebiete mit ihren vom Reichsrecht weitgehend unabhängigen Konfessionsbestimmungen seit dem späten 17. Jahrhundert praktisch keine Rolle spielte.288 Aufgrund dieser Gegebenheiten erregte es besondere Aufmerksamkeit, als im April 1720 der Freiherr Arnold Christoph von Bylandt zu Rheydt eine Klage beim Reichshofrat einreichte, die sich sowohl gegen die reformierte Gemeinde von Rheydt als auch gegen die beiden Regierungen in Düsseldorf und Kleve richtete. Nach einem jahrzehntelangen Erbstreit, in dem sich zudem lehnsrechtliche und konfessionelle Konfliktlinien mit den Konjunkturen des jülich-klevischen Erbfolgekrieges bzw. dem Dreißigjährigen Krieg teilweise überkreuzt hatten, war die reformierte Herrschaft Rheydt nach mehreren, von den konkurrierenden Linien vor den Reichsgerichten geführten Prozessen schließlich im Jahr 1701 in den Besitz eines Angehörigen der katholischen Nebenlinie Bylandt-Schwarzenberg, den nämlichen Freiherrn Arnold Christoph, gelangt.289 Aus dieser Konstellation ergab sich nach 284
Zu den Differenzen über die Regelung der Nomaljahresbestimmungen in den jülich-klevischen Gebieten im Anschluss an den Westfälischen Frieden vgl. Fuchs, Ein ‚Medium zum Frieden‘, S.317–332. 285 Moerner, Staatsverträge, S. 345–359 286 Vgl. zusammenfassend Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 88–94. 287 Moerner, Staatsverträge, S. 358 (Art. XI). 288 Vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 94–96. 289 Ausführlich zu dem mit dem Tod Otto Heinrich von Bylandts einsetztenden Erbstreit vgl. Löhr, Rheydt, S. 146–154.
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dem Tod des langjährigen Pfarrers der Gemeinde ein lokaler Konflikt zwischen den reformierten Untertanen und ihrem katholischen Patronats- und Jurisdiktionsherrn.290 Als der bisherige Pfarrer 1718 verstarb, konnten sich Gemeinde und Paronatsherr nicht auf einen Nachfolger verständigen: Bylandt berief eigenmächtig einen neuen Pfarrer, die Gemeindeleitung aber pochte auf ihr Wahlrecht, bestimmte einen eigenen Kandidaten und wandte sich mit einem Rekurs an die Düsseldorfer Regierung. Diese aber bestätigte den Patronatsherrn in allen seinen Rechten und entsandte sogar Grenadiere nach Rheydt, ließ die „Rädelsführer“ befragen und verhängte eine Geldstrafe gegen die Gemeinde.291 Ende des Jahres 1719 aber mischte sich die klevische Regierung, die daraufhin von der Gemeinde um Unterstützung angerufen worden war, in die Rheydter Streitsache ein und erklärte in einem Schreiben an die Düsseldorfer Regierung, dass deren Entscheidung und die Exekution den zwischen den Häusern Pfalz-Neuburg und Brandenburg geschlossenen Religionsrezessen widerspräche, weshalb für den Fall, dass man mit der Exekution gegen die Gemeinde Rheydt fortführe, katholische Kapitel und Klöster im Herzogtum Kleve haftbar gemacht würden. Begründet wurde diese Drohung mit Artikel XI des Bielefelder Rezesses. Tatsächlich wurden daraufhin katholische Kirchen in Kleve und Goch sowie das Gocher Kloster geschlossen und aus den Einnahmen des Emmericher Jesuitengymnasiums 600 Reichstaler eingezogen.292 Nach einigen Schriftwechseln zwischen Düsseldorf und Kleve lenkte die Düsseldorfer Regierung schließlich insoweit ein, dass sie, entgegen ihrem ursprünglichen Urteil, im Juli 1720 den Freiherrn von Bylandt anwies, der Gemeinde die Wahl ihres Pfarrers zu gestatten, bis die Rechtsfrage auf einer zukünftigen Religionskonferenz geklärt würde.293 Zwischenzeitlich hatte der Freiherr von Bylandt allerdings bereits in Wien beim Reichshofrat Klage eingereicht. Bylandt forderte, dass an die Jülicher Regierung, an die Klevische Regierung sowie an die Rheydter Untertanen Strafmandate ergehen sollten, die Jülicher Regierung aber zudem aufgefordert werden solle, ihr ursprüngliches Urteil zu exekutieren.294 Der Reichshofrat sprach sich daraufhin am 1. Juli 1720 dafür aus, zunächst vom Pfälzer Kurfürsten einen Bericht einzufordern, woraufhin Bylandt in Wien noch einmal um nachdrücklichere Schritte ansuchte.295 Derweil standen die Regierungen in Düsseldorf und Kleve weiter im Austausch. Die klevische Regierung verlangte, dass, sollte sich der Freiherr von Bylandt wei 290
Zum Folgenden grundsätzlich: HHStA, Staatenabteilungen, Brandenburgica 30, Bl. 169–202; vgl. auch Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 176–196. 291 HHStA, Staatenabteilungen, Brandenburgica 30, Bl. 170; vgl. auch zum Folgenden: Löhr, Rheydt, S. 154–163. 292 HHStA, Staatenabteilungen, Brandenburgica 30, Bl. 172; vgl. auch Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 176. 293 HHStA, Staatenabteilungen, Brandenburgica 30, Bl. 173; vgl. auch Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 177–178. 294 HHStA, Staatenabteilungen, Brandenburgica 30, Bl. 174. 295 Ebd., Bl. 176–177.
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terhin weigern, den mittlerweile von der Gemeinde gewählten Pfarrer zu bestätigen, die Düsseldorfer Regierung ihrerseits die Kollation erteilen und zudem Bylandt von der Fortführung des Reichshofratsverfahrens abhalten müsse. In Düsseldorf lehnte man dieses Ansinnen mit Verweis auf den in Wien laufenden Rechtsstreit und die ausstehende kaiserliche Entscheidung zwar ab, gestand aber immerhin zu, dass der von der Gemeinde gewählte Kandidat provisorisch in sein Amt eingesetzt wurde.296 Dieses Entgegenkommen führte dazu, dass die klevische Regierung im Oktober 1720 zumindest die Repressionen in Kleve und Goch aufhob. Gegenüber dem Reichshofrat rechtfertigte die Düsseldorfer Regierung ihre Haltung freilich mit den Repressionen der Gegenseite: Natürlich werde man sich auf Neuburger Seite der kaiserlichen Entscheidung unterwerfen, aber aus Rücksicht auf die Not der katholischen Untertanen unter brandenburg-preußischer Herrschaft habe man interimsweise Zugeständnisse machen müssen.297 Ein weiteres Reichshofratsgutachten vom 13. November 1720 setzte sich erstmals intensiver mit der Frage auseinander, wie die brandenburg-preußische Haltung in dieser Streitsache zu beurteilen sei (aus Kleve oder Berlin war der geforderte Bericht erwartungsgemäß nicht eingetroffen). Die Reichshofräte waren nicht nur der Meinung, dass das Vorgehen der Klever Regierung „mit dem bekandten Hammerslebischen Vorgehen und noch darüber zu vergleichen sey“, sie beklagten auch zum wiederholten Male, „daß alle judicial verordnungen [gegen den preußischen König] nicht allein umbsonst und vergebens seyen“, sondern dass man in Berlin offenbar gewillt sei, mit dieser Politik forzufahren, „als wan man selbiger seits von allen verbindlichkeiten der gesetzen frey und nach willkühr entweder seinen benachbarten den zwang anzulegen oder auch den catholischen in seinen Reichs provinzien das exercitium ihrer Religion ad libitum zu nehmen oder zu lassen allen fug und macht hätte“.298 Trotz dieser alarmierenden Analyse sprachen sich die Reichshofräte zu diesem Zeitpunkt lediglich dafür aus, den König in Preußen per Reskript aufzufordern, die Emmericher Jesuiten zu restituieren und die Jülicher Regierung in der Frage des Rheydter Patronatsrechts nicht weiter unter Druck zu setzen. Während das Reskript an Friedrich Wilhelm I. also äußerst milde formuliert war, reagierte der Reichshofrat mit Blick auf die eigentliche Streitsache wesentlich schärfer: Die kurfürstliche Entscheidung, das Düsseldorfer Urteil von 1718 gegen die Gemeinde auszusetzen und die Pfarrerwahl zu gestatten, wurde vom Reichshofrat kassiert und der Kurfürst angewiesen, die Rechte des Freiherrn von Bylandt fürderhin zu respektieren. Am deutlichsten bekamen aber die „pflichtvergessenen unterthanen zu Rheid“ die kaiserliche Entscheidung zu spüren: Ihnen wurde per Dekret und unter Androhung von „leib und leben straffe“ nicht nur jeder weitere Rekurs an die klevische Regierung verboten, sondern auch befohlen, das Düsseldorfer Urteil von 1718 zu akzeptieren und sich keinesfalls erneut „eine eigenmäch 296
Ebd., Bl. 179–180; vgl. auch Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 181–182. HHStA, Staatenabteilungen, Brandenburgica 30, Bl. 180–181. 298 Ebd., Bl. 183. 297
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
tige vocation und praesentation zu daselbigem pastorat“ anzumaßen.299 Allein, der Erfolg dieser Anweisungen an die Rheydter Untertanen war ebenso gering wie der des Reskripts an Friedrich Wilhelm I. Tatsächlich eskalierte in der Folge der Streit auf der lokalen Ebene, indem laut einem von der Jülicher Regierung erstellten Bericht die Rheydter Gemeinde an ihrem gewählten Pfarrer festhielt, während man das kaiserliche Dekret in Stücke zerrissen im Garten des von Bylandt berufenen Geistlichen auffand. Als daraufhin die Düsseldorfer Regierung die Gemeindeleitung und die mutmaßlichen Rädelsführer befragen ließ, warum sie dem kaiserlichen Dekret keinen Gehorsam entgegengebracht hätten, argumentierten die Befragten in bemerkenswerter Überinstimmung mit der vom Corpus Evangelicorum (und dem preußischen König) vertretenen Verfassungsinterpretation: Bei der Frage der Predigerwahl handele es sich eben um eine geistliche Sache, „worinnen sie Kayserl. Mt. als ihren herren nicht erkennen könnten, und dessen mandatis darinnen zu pariren sich nicht schuldig erachteten …“.300 Ähnlich argumentierte auch BrandenburgPreußen gegenüber Kurpfalz, wobei hier naturgemäß die Nichtzuständigkeit des Reichshofrats primär mit den zwischen den Häusern Pfalz-Neuburg und Brandenburg geschlossenen Religionsrezessen im Fokus stand.301 Umgekehrt richtete sich die kurpfälzische Haltung im Verlauf des Konflikts immer eindeutiger an Wien aus: Kurfürst Karl Philipp wandte sich nun seinerseits angesichts des nach wie vor offenen Streits nach Wien und bat um weitere Weisungen und Unterstützung beim Schutz der katholischen Religion.302 In einem weiteren Gutachten vom 20. Juli 1721 begründete der Reichshofrat noch einmal ausführlich seine Meinung mit Blick auf den ursprünglichen Streit:303 Es sei im Rheydter Fall unzweifelhaft, dass die Vorfahren des Freiherrn von Bylandt das Patronatsrecht über die Pfarrstelle in Rheydt ausgeübt hätten; die Tatsache, dass sich der aktuelle Patronatsherr aber zu einer anderen Konfession bekenne als die Gemeinde (und seine eigenen Vorgänger), sei für die Ausübung seiner Rechte völlig unerheblich; denn auch und gerade die jülich-klevischen Religionsrezesse statuierten die unbedingte Respektierung von Patronatsrechten. Wenngleich der Reichshofrat also explizit die Religionsrezesse als Grundlage seiner Argumentation anerkannte, verteidigte er zugleich ausführlich seine eigene Zuständigkeit, die er nicht im Widerspruch zu den Regelungen der bilateralen Verträge sah. Die letzteren aber sah das Gericht allerdings durch die brandenburg-preußische Auslegung des
299
Ebd., Bl. 182–183. Das Gutachten wurde am 4. Dezember 1720 von Kaiser Karl VI. approbiert. 300 Ebd., Bl. 183–184, Zitate Bl. 184; zu den Gegenmaßnahmen des Freiherrn von Bylandt vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 182, Anm. 670. 301 HHStA, Staatenabteilungen, Brandenburgica 30, Bl. 185; die klevische Regierung drohte in diesem Zusammenhang unverhohlen damit, dass man sich ansonsten seitens Brandenburg-Preußens auch nicht mehr an die Bestimmungen der Religionsrezesse gebunden sehen werde. 302 Ebd., Bl. 187–188. 303 Zum Folgenden: Ebd., Bl. 189–190.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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dort verankerten Retorsionsrechts übetreten.304 Mit Blick auf Brandenburg-Preußen zog das Gutachten die folgenden Schlussfolgerungen: „… daß solchem preuss. Übelstand ohnmöglich mit weiterem langmuth nachgesehen […] werden könne, daß der könig sich pro censore et revisore anderer ständen judicatorum gerire, solche eingemächtig übern hauffen werffe, frembde unterthanen an sich ziehe, […] den Reichs-Hof-Rath begangner Injustiz und contraventiam der Reichsgesetze unaufhorlich beschuldige, die manutenenz solcher gesetze […] nicht einhalte [….], was Kayserl. Mt. improbirete, er approbire, was Sie gut heißete, er anfechte, wan Sie ja, Er Nein sage …“.305 Daher sollte nun an den preußischen König ein förmliches Dehortatorium mit der Androhung einer Geldstrafe ergehen.306 Daraufhin wurde Ende 1721 endlich ein Bericht von der klevischen Regierung eingesandt,307 der sich aber erwartungsgemäß darauf konzentrierte, die Nichtzuständigkeit des Reichshofrats zu erweisen:308 Weder verstießen die von Brandenburg-Preußen verhängten Repressionen gegen die Religionsrezesse, noch liege ein Fall von Justizverweigerung seitens der Düsseldorfer Regierung vor. Vor allem aber vertrat die klevische Regierung die evangelische Verfassungsinterpretation, wonach Religionssachen (und Patronatsfragen seien unter solche zu zählen) ohnehin nicht vor den höchsten Reichsgerichten verhandelbar, sondern amicabiliter zu entscheiden seien; in diesem speziellen Fall aber sei dieser Modus zudem explizit zwischen den beiden betroffenen Landesherren bereits durch die Religionsrezesse geregelt.309 Aber auch mit Blick auf die ursprüngliche Streitsache widersprach die klevische Regierung dem Reichshofrat: Grundsätzlich sei es in der reformierten Konfession üblich, dass die Gemeinde den Pfarrer wähle. Und natürlich sei dieses Recht in der Praxis gerade dann von Bedeutung, wenn ein Konfessionsunterschied zwischen Patronatsherrn und Gemeinde bestehe. Selbst wenn, wie der klagende Freiherr von Bylandt vorgebe, in der Vergangenheit die Bestimmung eines neuen Pfarrers letztlich durch den Patronatsherrn vorgenommen worden sei, so sei dies nur deswegen für die Gemeinde akzeptabel gewesen, weil sie „alles auff ihre obrigkeit als primum membrum ecclesiae ankommen lassen, welche dan dahin gesorget, daß jedes mahl ein tüchtiges subjectum vociret …“. Diese Praxis aber dürfe aufgrund 304 Der Reichshofrat argumentierte, dass Patronatsstreitigkeiten immer schon dem Gerichtszwang der höchsten Reichsgerichte unterworfen gewesen seien und der Kaiser grundsätzlich in derartigen Streitsachen Recht sprechen dürfe, auch wenn die Parteien unterschiedlichen Konfessionen zugehörten: „… es treffe gleich das objectum die Religion oder andere sub contractum fallende materien …“. Schließlich aber komme aufgrund der Haltung der Düsseldorfer Regierung sogar Rechtsverweigerung in Betracht. Ebd., Bl. 190–192, 191. 305 Ebd., Bl. 193–194. 306 Ebd., Bl. 194–195. Das Gutachten wurde am 6. Oktober 1721 von Kaiser Karl VI. ap probiert. 307 Der Reichshofrat vermerkte ausdrücklich, dass, obwohl es sich um persönliche Schreiben des Kaisers an Friedrich Wilhelm I. handelte, nur die klevische Regierung geantwortet hatte; HHStA, Staatenabteilungen, Brandenburgica 30, Bl. 195. 308 Zum Folgenden: Ebd., Bl. 195–200. 309 Die Argumentation der klevischen Regierung bezog sich explizit auf das Vorstellungsschreiben des Corpus Evangelicorum vom 12. April 1720; ebd., Bl. 195–196.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
der geänderten Umstände der jetzigen Gemeinde keinesfalls „zum präjudiz gereichen, sondern die obrigkeit sey schuldig, das zur ungebühr eingeschlichene de plano abzustellen …“.310 So standen um 1721/22 in der Rheydter Streitsache nicht nur die Standpunkte des Reichshofrats und Brandenburg-Preußens unversöhnlich nebeneinander,311 sondern auch die Situation zwischen den beiden Landesherren von Jülich-Berg und Kleve-Mark war festgefahren und keine bilaterale Einigung in Sicht.312 Selbst die Versuche Friedrich Wilhelms I., das Corpus Evangelicorum dazu zu bewegen, sich der Rheydter Streitsache anzunehmen, waren nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Das Corpus Evangelicorum wiederholte zwar auch in diesem Fall seine gängige Auffassung von der Nichtzuständigkeit der Reichsgerichte in Religionssachen;313 eine spezifischere Unterstützung Brandenburg-Preußens oder gar der in Kleve verordneten Repressionen war zu diesem Zeitpunkt allerdings aufgrund der allgemeinen Stimmungslage im Corpus Evangelicorum kaum realistisch.314 Eine neue Qualität erreichte der Konflikt schließlich Mitte 1725, als Karl VI. durch kaiserlichen Erlass Artikel XI des Bielefelder Rezesses von 1672 aufhob, nachdem der Reichshofrat diese Bestimmungen als unvereinbar mit den Reichsgesetzen und der oberstrichterlichen Gewalt des Kaisers beurteilt hatte.315 Obwohl die vorherigen Gutachten des Reichshofrats die Religionsverträge und auch die Bestimmungen zum Retorsionsrecht explizit in ihre Argumentation aufgenommen hatten, die Unrechtmäßigkeit der verhängten Repressionen mithin auch und gerade auf Grundlage des Bielefelder Rezesses als unverhältnismäßig zu erweisen gesucht hatten, kam die Entscheidung zur Kassierung des fraglichen Artikels nicht plötzlich. Im Gegenteil – der Reichshofrat hatte sich die Entscheidung alles andere als leicht gemacht: Seit Oktober 1723 war das Gericht sogar auseinandergetreten; fortan berieten katholische und protestantische Reichshofräte separat über die Frage, ob der Bielefelder Rezess im Ganzen aufzuheben sei oder lediglich der fragliche Artikel zum Retorsionsrecht.316 Die katholischen Reichshofräte stellten die Frage, ob auf 310
Ebd. Bl. 199–200. Der Reichshofrat verwarf im Februar 1722 die brandenburg-preußische Argumentation in einem weiteren Gutachten; vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 188. 312 Vgl. ebd., S. 187–188. 313 Schauroth, Sammlung 1, S. 162–168 (Vorstellungsschreiben vom 14.11.1722). 314 Vgl. dazu weiter unten in diesem Kap. (E. III.). 315 Vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 190–191; Hafke, Anwendung, S. 500. 316 Vgl. ebd., S. 500–502, Anm. 15–22. Dass katholische und evangelische Reichshofräte auseinandertraten, geschah äußerst selten. In den in dieser Arbeit ansonsten untersuchten Streitfällen kam es in keinem einzigen Fall zu getrennten Beratungen. Allerdings ging es im vorliegenden Fall zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr darum, ob der Reichshofrat zuständig sei (darüber herrschte im Reichshofrat Einstimmigkeit), sondern um die Frage, ob der Reichshofrat einen bilateralen Vertrag zwischen zwei Reichsständen kassieren sollte, der über Jahrzehnte hinweg nicht beanstandet worden war. Bereits 1721 war vom Reichshofrat die Frage aufgeworfen worden, ob den Reichsständen grundsätzlich Repressionen zu verbieten seien, so „daß folglich jene Pacta Privata, welche dießem Unweßen unter einander statt geben und darzu Cives Imperii sich eigenmächtig verbinden und in casu unius ex illis conventionibus Contraventionis 311
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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diese Weise dem preußischen König „alß der zu mahlen potentior ist, consequenter frey bleiben solle, durch verbottene repressalien […] ohne besorgung einer kayserlichen einsicht und zuruckhaltung, sub figura amicabilis compositionis pro unico remedio extinguendarum controversiarum elatae et cuius effectus ab unico Suo arbitrio et nimis semper dependebit, Land und Leuth des benachbarten schwächeren Stands in die äußerste Verwirrung und desolation zu setzen, haupt sächlich über selbe gleich seine eigene Unterthanen zu herrschen, den rechten Lands herrn aber an die feßel seines zutringlichen Willens unaufflößlich anzuschmieden …“.317 Zwar war mit der Kassierung des fraglichen Artikels auch die Ernennung einer Untersuchungskommission auf Hessen-Kassel und Münster verbunden, doch sollten noch einmal drei Jahre und zahlreiche Ermahnungen des Reichshofrats ins Land gehen, bis sich der Landgraf von Hessen-Kassel 1728 dazu bereit erklärte, diesen Auftrag anzunehmen.318 Obwohl Friedrich Wilhelm I. 1725 und 1726 erneut das Corpus Evangelicorum einschaltete319 und mit weiteren Repressionen drohte, löste sich der Konflikt 1728 doch schließlich insofern, als der preußische König der Entscheidung des Reichshofrats keinen Widerstand mehr entgegensetzte.320 Nachdem 1730 nicht nur der Landgraf von Hessen-Kassel, sondern auch der Freiherr von Bylandt verstorben waren, gelang es, zwischen der Rheydter Gemeinde und der verwitweten Freifrau von Bylandt eine Einigung über die künftige Gestaltung der Pfarrerwahl zu erzielen.321 Dass der Streit um die Rheydter Predigerwahl so weite Kreise zog, war nicht primär der Tatsache zuzuschreiben, dass hier von Brandenburg-Preußen erneut Repressalien eingesetzt worden waren, die ja im Bielefelder Rezess, wenngleich unter strengen Bedingungen, grundsätzlich als Mittel zur Wahrung der Konfessionsrechte in den jülich-klevischen Gebieten vorgesehen waren. Bedeutsamer war zum einen sicherlich der reichsweite Religionskonflikt, der sich eben zu dem Zeitpunkt, als der Freiherr von Bylandt seine Klage beim Reichshofrat einreichte, auf dem Höhepunkt befand. Diese reichs- und konfessionspolitischen Konjunkturen werden dazu beigetragen haben, dass der Freiherr von Bylandt sich überhaupt dafür entschied, den für die jülich-klevischen Gebiete ungewöhnlichen und von den dortigen ad nullitatem actus sich obligiren, als contra leges, Salutem publicam, Jurisdictionem Summi Imperantis anlauffende Dinge, von keinem Würcken, Krafft und effect seyn können …“; zitiert nach Hafke, Anwendung, S. 501, Anm. 29. 317 Reichshofratsgutachten (katholische Räte) vom 7.10.1723, zitiert nach Hafke, Anwendung, S. 501, Anm. 18. 318 Vgl. ebd., S. 502, Anm. 22; Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 194–195. Zuvor hatte sich Friedrich Wilhelm I. freilich an den Landgrafen gewandt, um diesen von der Übernahme des Kommissionsauftrags abzuhalten; vgl. ebd., S. 194, Anm. 729. Weder Hafke, Zur Anwendung, noch Weber, Konfessionelle Konflikte, berücksichtigen in diesem Kontext allerdings die außenpolitischen Entwicklungen der Jahre 1726–1728; s. dazu weiter unten sowie ausführlich Kap. E. IV. 319 Schauroth Sammlung 1, S. 169–174 (Vorstellungsschreiben vom 12.1.1725); S. 175–177 (Pro Memoria an die kurpfälzische Gesandtschaft vom 3.8.1726). 320 Vgl. Weber, Konfesionelle Konflikte, S. 194–195. 321 Vgl. ebd., S. 195–196.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Religionsreversalien quasi „nicht vorgesehenen“ Weg einer Klage beim Reichshofrat einzuschlagen. Und auch die Haltung der Düsseldorfer Regierung resp. des Pfälzer Kurfürsten Karl Philipp war maßgeblich von dem aktuellen Religions- und Verfassungsstreit beeinflusst, in dessen Mittelpunkt ja schließlich die pfälzischen Kurlande bzw. die dortigen Reformierten standen.322 Auch in diesem Konflikt hatte Friedrich Wilhelm I. Repressionen – nominell gegen Karl Philipp von der Pfalz – veranlasst und sich dadurch in den schärfsten Gegensatz zum Kaiser gebracht. Insofern kann es kaum verwundern, dass man sich auf pfalz-neuburgischer Seite auch im Rheydter Streitfall hinter die kaiserliche Entscheidung stellte, noch dazu, weil der Kaiser – zumindest was den Konflikt um die Predigerwahl selbst anging – die eigenen Interessen unterstützte.323 Die gegensätzlichen Auffassungen über die Reichsreligionsverfassung, wie sie sich gerade in den Jahren 1719/20 so deutlich entlang der konfessionellen Demarkationen entwickelt hatten, erlaubten es Kurpfalz keinesfalls, der kaiserlichen Auffassung zu widersprechen und die bilateralen Religionsrezesse mit Brandenburg-Preußen dahingehend zu verteidigen, dass man als katholischer Reichsstand die Zuständigkeit des Reichshofrats in Frage gestellt hätte.324 Und auch die Konsequenz, mit der der Reichshofrat den Rheydter Streitfall verfolgte, ist nur vor dem Hintergrund des Religionskonflikts und der angespannten Beziehungen zwischen Wien und Brandenburg-Preußen zu verstehen. Dass die reichspolitischen Rahmenbedingungen den Verlauf dieses spezifischen Konflikts beeinflussten, trifft freilich auch für die in diesem Zusammenhang von Brandenburg-Preußen verfolgte Politik zu. Hier kommen allerdings noch weitere Gesichtspunkte hinzu, die sich eher auf die brandenburg-preußische Konfessionspolitik im eigenen Territorium bzw. auf die Tradition dieser Konfessionspolitik beziehen. So waren die Repressionen, die tatsächlich ungewöhnlich hart waren, bereits verhängt worden, bevor wie auch immer geartete bilaterale Gespräche zwischen den beiden Regierungen stattgefunden hatten (ein Punkt, den im Übrigen auch die Reichshofratsgutachten als Verstoß gegen den Bielefelder Rezess werteten). Es spricht also vieles dafür, dass die klevische Regierung offenbar von vorneherein entschlossen war, diesen Beschwerdefall besonders hart zu sanktionieren. Hinzu kommt, dass die Repressionen bereits angeordnet worden waren, bevor der Freiherr von Bylandt überhaupt am Reichshofrat Klage eingereicht hatte. Mit die 322
So auch die Einschätzung von Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 180–181. Dafür, dass die Düsseldorfer Regierung primär aufgrund der von der klevischen Regierung ausgesprochenen Repressionen ihr ursprüngliches Urteil teilweise revidierte, ihren politischen (und konfessionellen) Interessen aber im Grunde vielmehr eine Unterstützung der Position Bylandts entsprochen hätte, spricht auch, dass Arnold Christoph von Bylandt seit Antritt seiner Herrschaft in Rheydt um gute Beziehungen zur Düsseldorfer Regierung bemüht gewesen war. Seit 1701 war er jülich-bergischer Kämmerer; 1716 erhielt er zudem eine Geheimratsstelle in Düsseldorf; vgl. Löhr, Rheydt, S. 151–152. 324 Dass der Pfälzer Kurfürst in der Regel ähnlich empfindlich wie der preußische König reagierte, wenn die jülich-bergischen Landstände Appellationen gegen ihren Landesherrn bei den Reichsgerichten einreichten, zeigt Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 180, Anm. 663, am Beispiel des Steuerwesens. 323
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sen Maßnahmen reagierte Brandenburg-Preußen also nicht auf die Einschaltung der Reichsjustiz – wie sehr dieser Schritt in Berlin auch auf Ablehnung stieß –; mithin kann zu diesem Zeitpunkt also der reichspolitische Zusammenhang für die von Brandenburg-Preußen verfolgte Politik hier (noch) nicht entscheidend gewesen sein. Die Bedeutung, die man in Berlin bzw. Kleve dem Rheydter Fall von Anfang an beimaß, bzw. der Rückhalt, den die Rheydter Untertanen in Kleve und Berlin erfuhren, gründete vermutlich primär in der Geschichte der spezifischen (konfessionellen) Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen und der Familie Bylandt: Die Freiherren und Grafen von Bylandt waren eines der ältesten jülich-klevischen Adelsgeschlechter. Die Bylandt bekleideten traditionell die Ämter der klevischen Erbmarschälle und der Erbjägermeister der gefürsteten Abtei Herford.325 Der bekannteste Vertreter der Familie ist sicherlich Otto Heinrich (Ottheinrich) von Bylandt Freiherr zu Rheydt,326 der zu jener ersten Gruppe von Räten gehörte, die 1604 nach der Gründung des Geheimen Rates durch Kurfürst Joachim Friedrich (1598–1608) das Gremium besetzten und die entweder selbst reformiert waren oder aber zumindest tendenziell eine Calvinismus-freundliche Politik vertraten.327 Otto Heinrich von Bylandt zu Rheydt war seinerzeit einer der prononciertesten Befürworter eines engeren Anschlusses an die Niederlande sowie an die, damals von Kurpfalz und Hessen angeführte, protestantische Aktionspartei im Reich und verfocht einen harten Kurs gegen Habsburg und die Mehrheit der katholischen Reichsstände. Wenngleich Otto Hintze in seinem berühmten Aufsatz über „Kalvinismus und Staatsräson in Brandenburg-Preußen zu Beginn des 17. Jahrhunderts“ den Einfluss Bylandts vermutlich etwas zu hoch ansetzt,328 so war er doch zweifellos einer der wichtigsten Berater Kurfürst Joachim Friedrichs, vor allem aber des Kurprinzen Johann Sigismund.329 Über äußerst gute Kontakte im Netzwerk des europäischen Calvinismus verfügend, prägte er einige Jahre lang, gemeinsam mit anderen calvinistischen oder pro-calvinistischen Räten wie u. a. Christoph von Waldenfels (der, wie auch Bylandt, ebenfalls zuvor in brandenburg-ansbachischen Diensten gestanden hatte), den außen- und reichspolitischen Kurs Brandenburg-Preußens in den Jahren vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges und galt als einer der wichtigsten Exponenten einer calvinistisch-pan-protestantischen, dezidiert anti-habsburgischen Politik und als nachdrücklicher Anwalt der brandenburgischen Interessen mit Blick auf das jülich-klevische Erbe.330 Schon bevor er 1598 in die Dienste des brandenburg 325
Vgl. Kneschke, Adels-Lexicon 2, S. 187–189. Vgl. zur Biographie: Becker, Otto Heinrich von Bylandt zu Rheidt. 327 Zur Gründung des geheimen Rats vgl. Klinkenborg, Entstehung; insbesondere mit Blick auf die Bedeutung Bylandts mit deutlich anderen Akzenten: Hintze, Kalvinismus, S. 290–301; Becker, Otto Heinrich von Bylandt zu Rheidt, S. 135–145. 328 Vgl. Riches, Protestant Cosmopolitanism, S. 61–62; Hintze, Kalvinismus, S. 283–310. 329 s. a. zur Rolle Otto Heinrich von Bylandts: Koser, Geschichte der brandenburgischen Politik 1, S. 337–342. 330 Vgl. ausführlich Becker, Otto Heinrich von Bylandt zu Rheidt, S. 145–195; s. a. Nischan, Prince, S. 77–78; hier auch zu den diplomatischen Missionen Bylandts im Dienste der branden 326
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
ansbachischen Markgrafen Georg Friedrich trat, hatte er im Kontext der sich Ende des 16. Jahrhunderts abzeichnenden jülich-klevischen Erbfrage – mit Unterstützung der Niederlande und der protestantischen Prätendenten – der eigenen (katholischen, unter Aufsicht kaiserlicher Kommissare arbeitenden) Landesregierung Widerstand entgegensetzt und sich dadurch in Gegensatz zu Kaiser Rudolf II. gebracht.331 Otto Heinrich von Bylandt zu Rheydt war also nicht nur einer der prominentesten Vertreter der anti-habsburgischen, protestantisch-reformierten Außenpolitik Brandenburg-Preußens zu Beginn des 17. Jahrhunderts; in dem von Anfang an hochkonfessionalisierten jülich-klevischen Erbfolgestreit stand sein Name geradezu für die protestantische Seite. Wenngleich der jahrzehntelange Streit über die Erbschaft der Herrschaft Rheydt bereits mit dem Tod Otto Heinrich von Bylandts im Jahr 1608 begann, so sollte Rheydt doch erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts tastächlich in katholische Hände übergehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Konstellation konfessionspolitischen Konfliktstoff beinhaltete, war schon deswegen hoch, weil Arnold Christoph von Bylandt bei der Inbesitznahme von Rheydt von der Düsseldofer Regierung bzw. dem katholischen pfalz-neuburgischen Landesherrn unterstützt worden war, während sich die reformierten Bylandts (die im Erbstreit schließlich unterlegen waren) eindeutig an Kleve orientiert hatten.332 Grundsätzlich waren im Zuge der Gegenreformation seit 1614 im Herzogtum Jülich vergleichsweise wenige Gemeinden und adlige Familien reformiert geblieben, so dass der Übergang der Herrschaft Rheydt in katholische Hände eine spürbare Veränderung des reformierten Konfessionsstandes in Jülich darstellte.333 Als der katholische Freiherr von Bylandt dann vor dem Reichshofrat klagte und der Pfälzer Kurfürst diese Appellation auch noch gut hieß, wurde der Streit um die Rheydter Pfarrerwahl auch in den reichsweiten Religions- und Verfassungskonflikt hineingezogen.334 Deswegen bemühte man sich in Berlin auch darum, das Corpus Evangelicorum einzubeziehen, das sich allerdings burgischen Erbansprüche auf das jülich-klevische Erbe. Trotz mancher Relativierung gegenüber der teleologischen Sicht Hintzes auf Bylandt steht sein Name nach wie vor stellvertretend für die kurze Phase der aktivistischen, offensiv-protestantischen Außen-und Reichspolitik Brandenburg-Preußens während der Regierungszeit Joachim Friedrichs; vgl. etwa Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit, S. 137. 331 Vgl. Becker, Otto Heinrich von Bylandt zu Rheidt, S. 95–108. 332 Vgl. Löhr, Rheydt, S. 152. 333 Zur konfessionellen Entwicklung der beiden seit 1614 unter konfessionell verschiedenen Landesherrschaften stehenden Landesteile (Kleve-Mark-Ravensberg und Jülich-Berg) vgl. Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg, S. 102–103. 334 Laut der Forschungen von Weber, Konfessionelle Konflikte, bes. S. 171–173, war es allerdings bereits seit 1712 zu einem deutlichen Anstieg von Religionsbeschwerden in Kleve-Mark gekommen, der mit einer aggressiveren Religionspolitik auf klevischer Seite einherging. Leider nennt Weber (S. 172, Anm. 640) neben dem Konflikt in Rheydt nur einen weiteren Belg für die angeblich seit 1712 stark gestiegene Bereitschaft der Klever Regierung, Repressionen zu verhängen. Generell legt der Befund, dass sich die Konflikte intensivierten, allerdings den Schluss nahe, dass auch die konfessionellen Verhältnisse in den niederrheinischen Gebieten von der reichsweiten konfessionellen Krisenstimmung in diesen Jahren nicht unbeeinflusst blieben.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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konsequent darauf beschränkte, zum einen die Rechte der reformierten Gemeinde in Rheydt zu verteidigen, zum anderen aber Predigerwahlen für Religionssachen und ergo als nicht vor die Reichsgerichte gehörig zu erklären.335 In den Jahren ab 1725, als der akute Religionsstreit bereits abgeklungen und das Corpus Evanglicorum schon lange nicht mehr politisch aktionsfähig war, wird für die Haltung der beteiligten Fürsten und des Kaisers im Rheydter Streitfall dann wohl in erster Linie die Sukzessionsfrage in Jülich und Berg von Bedeutung gewesen sein.336 Sowohl Karl Philipp von der Pfalz als auch Friedrich Wilhelm I. waren unbedingt daran interessiert, Garantien für ihre jeweiligen Erbansprüche (im Falle Karl Philipps für die Linie Pfalz-Sulzbach) zu erlangen.337 Diese Garantie suchte Brandenburg-Preußen 1725 zunächst in der von England und Frankreich geführten Herrenhauser Allianz, nur ein Jahr später allerdings im Vertrag von Wusterhausen durch eine Annäherung an den Kaiser zu erhalten.338 Bekanntlich hatte Karl VI. zu diesem Zeitpunkt aber auch Karl Philipp entsprechende Zusagen gegeben. Bis zur zweiten Hälfte der 1720er Jahre hatte Karl Philipp sich außen- bzw. reichspolitisch stark am Kaiserhaus orientiert; Friedrich Wilhelm I. schwenkte dagegen erst 1726 zumindest vorläufig ins kaiserliche Lager über, endgültig aber mit dem Berliner Vertrag von 1728. Gleichzeitig gestaltete sich das Verhältnis zwischen dem Kaiser und Kurpfalz mit der Annäherung der Wittelsbacher Hausunion an Frankreich seit 1728 immer spannungsreicher, ohne dass allerdings das Bündnis zwischen Karl VI. und Karl Philipp aufgehoben worden wäre. Nicht zufällig wird Brandenburg-Preußen just zu dem Zeitpunkt dem kaiserlichen Verfahren in der Rheydter Streitfrage keinen nachdrücklichen Widerstand mehr entgegen gesetzt haben, als man in Berlin im Begriff stand, in ein enges Bündnis mit Wien zu treten, das noch dazu als maßgeblichen Bestandteil die kaiserliche Zusage für die brandenburg-preußische Sukzession im Herzogum Berg beinhaltete.339 Aber auch schon vor jener Phase, in der die Sukzessionsfrage zum bestimmenden Moment für die Allianzpolitik sowohl Pfalz-Neuburgs als auch Brandenburg 335 Vgl. sämtliche offiziellen Verlautbarungen des Corpus Evangelicorum in der Rheydter Streitsache bei Schauroth, Sammlung 1, S. 162–177. 336 Dieser Hintergrund wird weder von Weber, Konfessionelle Konflikte, noch von Hafke, Anwendung, in ihrer Analyse des Rheydter Konflikts berücksichtigt. 337 Wenngleich Pfalz-Sulzbach und Brandenburg-Preußen als aussichtsreichste Kandidaten galten, existierten auch noch andere Anwärter, u. a. der Kaiser selbst sowie Kursachsen. So hielt das Vorstellungsschreiben des Corpus Evangelicorum in der Rheydter Streitsache vom 10. Januar 1725 hinsichtlich der kursächsischen Ansprüche ausdrücklich fest, dass „wegen Dero an das Herzgothum Jülich und andere zur Jülichischen Succession gehörige Lande habende bekannten Ansprüche, nichts zum Präjudiz […] eingeräumet, sondern bey diesem wiederholten allerunterthänigsten Intercessional-Schreiben nur in so weit, als darinn enthaltene, denen Churund Fürstlich-Sächsischen Gerechtsamen nicht nachtheilig ist, accediret [werde] …“; Schauroth, Sammlung 1, S. 174. 338 Zum Folgenden vgl. ausführlich Kap. E. IV. 3. bis E. IV. 6. 339 Dass Friedrich Wilhelm I. sich just Ende 1728 dem kaiserlichen Verfahren beugte, wird daher wohl kaum adäquat damit zu erklären sein, dass „der Berliner Hof langsam aber sicher mit seinem Latein am Ende [war]“, wie Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 194, feststellt.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Preußens geworden war, wird die Erbfolge in Jülich und Berg für die Interpretation der Konfessionskonflikte in den jülich-klevischen Landen im Allgemeinen und im Reydther Streitfall im Besonderen eine gewisse Rolle gespielt haben. Grundsätzlich diente die in den Verträgen zwischen Pfalz-Neuburg und Brandenburg festgeschriebene Schutzherrschaft über die glaubensverwandten Untertanen im gesamten Länderkomplex auch der symbolischen Aufrechterhaltung des beiderseitigen Anspruchs auf das jülich-klevische Gesamterbe. So berichtete der kaiserliche Resident in Berlin, Voss, 1721, dass der Minister Ilgen ihm hinsichtlich der im Rheydter Konfessionskonflikt angewandten Repressionen erklärt habe, „daß die Clevische, Bergische, Markische und Ravensbergische Unterthanen, wegen der zwischen beiden Possessoribus verglichenen Union, beyder gemeynsamer Unterthanen wären, auch noch weiter, gleich wie Chur Pfaltz die Protection über die im Clevischen befindlichen Cathol. Capitula und Clöster, also auch Brandenburg die Protection über die im Jülich und Bergischen seyenden Evangelischen Gemeinden zuständen …“.340 Eine solche Interpretation stand freilich dem Selbstverständnis des Kaisers als oberstem Richter und Lehensherrn im Reich diametral entgegen – zumindest sobald das Reichsoberhaupt in einen Streitfall über die Einschaltung des Reichshofrats involviert war. Aber auch auf kurpfälzischer Seite berief man sich zu diesem Zeitpunkt zumindest gegenüber dem Kaiser nicht mehr auf die Vorstellung einer konfessionsrechtlichen „Protection“. Im Gegensatz zu Brandenburg-Preußen war Pfalz-Neuburg nicht nur von Anfang an bereit, sich dem kaiserlichen Verfahren zu unterwerfen, sondern protestierte nicht einmal gegen die schließlich erfolgte Kassierung des im Bielefelder Rezess festgelegten Retorsionsrechtes, das doch einen zentralen Bestandteil der gegenseitigen konfessionellen Schutzherrschaft darstellte. Auch diese Haltung lässt sich nicht allein mit den verhärteten Fronten im Verfassungskonflikt erklären. Hinzu kam sicherlich einerseits, dass sich seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts die Kräfteverhältnisse am Niederrhein zweifellos zugunsten Brandenburg-Preußens verschoben hatten, was sich nicht zuletzt daran zeigte, dass die brandenburgische Herrschaft immer selbstbewusster und aggressiver die bestehenden Konflikte in ihrem Sinne zu lösen versuchte.341 Mit Blick auf den Kaiser konnte Kurpfalz zudem von einem aggressiv anti-katholischen „Image“ Brandenburg-Preußens im Grunde nur profitieren: In der Wiener Wahrnehmung musste eine Konfessionspolitik, wie sie Friedrich Wilhelm I. im Falle Rheydts betrieb, eine brandenburg-preußische Sukzession im großenteils katholischen Jülich und Berg nicht eben wünschenswert erscheinen lassen; und dass der Kaiser wie-
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Relation von Voss, Berlin, 4.1.1721; zitiert nach: Hafke, Anwendung, S. 499, Anm. 11. Vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, passim, bes. S. 168–174; s. a. die oben zitierte Einschätzung der katholischen Reichshofräte, der zufolge Brandenburg-Preußen zweifellos die stärkere Macht am Niederrhein darstellte; Reichshofratsgutachten (katholische Räte) vom 7.10.1723, zitiert bei: Hafke, Anwendung, S. 501, Anm. 18.
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derum für die zukünftige Entscheidung der Erbfrage wenn auch nicht die einzige, so doch eine zentrale Instanz darstellte, war bereits 1718, als der Streit vor Ort begann, fraglos. In der Tat beweisen die zitierten Reichshofratsgutachten in der Rheydter Streit sache, dass Brandenburg-Preußen hier in den Augen des Reichshofrats ein neuer liches Beispiel für seine gleichermaßen anti-katholische wie anti-kaiserliche Reichsund Konfessionspolitik abgab. An den in den Gutachten geäußerten Einschätzungen lässt sich deutlich ablesen, für wie gefährlich man in Wien die Möglichkeit hielt, dass sich die brandenburg-preußische Konfessionspolitik in den jülich-klevischen Gebieten, unterstützt durch die aktuelle Verfassungskrise und die von den protestantischen Reichsständen vertretene Rechtsauffassung, noch weiter radikalisieren würde. Die Konsequenz, schließlich den „Retorsionsartikel“ des Bielefelder Rezesses als solchen für unrechtmäßig zu erklären, war eindeutig eine Folge der konfessionell ausdifferenzierten Verfassungsinterpretation und der Erfahrung, welche Gefahren aus einer politischen Realisierung solcher Ideen für die kaiserliche Stellung im Reich erwachsen konnten. Mit Blick auf die Verhältnisse in den jülich- klevischen Gebieten ging es dem Reichshofrat darum, ein Exempel zu statuieren, obwohl sich die dortigen rechtlichen Grundlagen von den ansonsten im Reich geltenden konfessionsrechtlichen Regelungen deutlich unterschieden. Auch wenn der Reichshofrat in seinen Gutachten direkte Parallelen zwischen den im Falle Rheydts gebrauchten Repressionen und den gegenüber dem Kloster Hamersleben verordneten Maßnahmen zog, unterschieden sich doch beide Fälle sowohl hinsichtlich der rechtlichen Grundlagen als auch der politischen Stoßrichtung. Denn ursprünglich richteten sich im Fall der Reydter Predigerwahl die von Brandenburg-Preußen verhängten Repressionen nicht nur nominell (wie bei Hamersleben) gegen den Pfälzer Kurfürsten. Dagegen waren die Repressionen im Falle Hamerslebens schon aufgrund der offiziellen Beauftragung durch das Corpus Evange licorum für alle sichtbar als direkte Herausforderung an den Kaiser zu verstehen. Vermutlich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Sukzessionsfrage in Jülich-Berg war es dem Kaiser nichtsdestoweniger darum zu tun, jeglichen Ausnahmen von der Zuständigkeit der höchsten Reichsjustiz in Konfessionsfragen – und noch dazu wenn sie von Brandenburg-Preußen nutzbar gemacht werden konnten – eine klare Absage zu erteilen. Damit sollte Friedrich Wilhelm I. auch die Möglichkeit genommen werden, durch diese Form der Austragung konfessioneller Konflikte am Niederrhein sein „Dominat“ über die jülich-bergischen evangelischen Untertanen auszuweiten. Im Konflikt um die Predigerwahl in Rheydt spiegelten sich so zum einen die allgemeinen reichs- und konfessionspolitischen Differenzen zwischen Berlin und Wien; diese grundsätzlicheren Streitfragen verbanden sich jedoch in zunehmendem Maße mit der immer drängender werdenden Frage um das Erbe von Jülich-Berg, die schließlich auch im Zentrum der Annäherung Brandenburg-Preußens an den Kaiserhof ab 1726 stand.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
4. Innerevangelische Positionierungen II: Konfessionelle Patronage und die Bemühungen um eine evangelische Union (ca. 1719–1724) Mit dem Beginn der wiederaufflammenden Auseinandersetzungen um die kurpfälzischen Konfessionsverhältnisse ab 1719 war im Corpus Evangelicorum – und das hieß primär zwischen Hannover und Berlin – die offizielle und einheitliche Interpretation der Normaljahresregelungen des Westfälischen Friedens endgültig als eine der Grundfesten gesamtevangelischer Reichspolitik festgeschrieben worden. Diese normative Festlegung hatte für die konkrete Schutzpolitik des Corpus Evangelicorum zwei Konsequenzen: Erstens galt für die Pfälzer Lutheraner nun grundsätzlich und ausschließlich das Normaljahr 1624. Damit stellte sich für das Corpus Evangelicorum die Aufgabe, die lutherischen Gemeinden jenseits ihrer rechtlichen Ansprüche zusätzlich zu versorgen, barg der innerevangelische Unfrieden in der Kurpfalz doch nach wie vor eine zu große Sprengkraft auch hinsichtlich der Zusammenarbeit von Lutheranern und Reformierten auf Reichsebene. Zweitens basierten mit der Aufhebung der Religionsdeklaration von 1705 nunmehr alle Forderungen zugunsten der Pfälzer Reformierten auf dem Normaljahr 1618. Dadurch aber musste man sich in Regensburg mit der immer offensichtlicher werdenden Spannung zwischen dem, was auf Grundlage der Principia evangelicorum gefordert wurde, und dem, was davon realistischerweise politisch erreichbar war, auseinandersetzen. Die Diskussion dieser Problemkreise schlug sich allerdings kaum in den offiziellen Verlautbarungen des Corpus Evangelicorum nieder. Hier blieb man vielmehr bei der Wiederholung der immer gleichen Principia. Betrachtet man dagegen die diplomatische Korrespondenz, so wird deutlich, dass sich die evangelischen Höfe wie auch die Reichstagsgesandten selbst durchaus die Frage stellten, wie das Corpus in der Praxis auf die Tatsache reagieren sollte, dass die Forderungen der evangelischen Reichsstände allenfalls zu einem Bruchteil erfüllt wurden. Nicht nur der in Frankfurt bzw. Heidelberg tätige brandenburg-preußische Resident Hecht, der nach wie vor die spezifischen Interessen des Heidelberger Kirchenrates in Berlin vorbrachte, formulierte immer wieder die Einsicht, dass eine tatsächliche Restitution der reformierten Kirchengüter auf Grundlage des Normaljahres in der Kurpfalz höchst unwahrscheinlich sei. Auch unter den evangelischen Gesandten in Regensburg setzte sich die Meinung durch, dass man wohl oder übel in der Praxis mit einem Kompromiss werde leben müssen – ohne sich freilich der rechtlichen Ansprüche zu begeben.342 Schon im Frühjahr 1720 wurde daher diskutiert, wie das Corpus Evangelicorum auf eine nur teilweise Restitution der Reformierten reagieren sollte. Diese Frage wurde angesichts der vom Pfälzer Kurfürsten schon 342
Reskript an Whitworth, St. James, 19.2./1.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29. Fasz. 1, Bl. 134–135, 134: „Daß die Protestierende in der Pfalz […] es schwerlich auf den Fuß völlig wiederum bringen werden, wie es nach Disposition und nach dem wahren Verstande des Westphälischen Friedens seyn sollte, das ist freylich wohl zu besorgen …“.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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bald angekündigten Einsetzung einer Kommission, die sich mit den evangelischen Gravamina befassen sollte, drängend. Denn diese Kommission sollte explizit auf der Grundlage des Vergleichs von 1705 arbeiten343 – und eben diesen hatte das Corpus Evangelicorum ja erst wenige Monate zuvor für aufgehoben erklärt. Besonders deutlich zeigte sich das normative Dilemma der Protestanten allerdings, als eines der beiden wichtigsten Gravamina der Reformierten, nämlich die gesamte Inanspruchnahme der Heidelberger Heilig-Geist-Kirche durch die Katholiken, bereits im April 1720 tatsächlich rückgängig gemacht und den Reformierten erneut das Schiff eingeräumt wurde, die vorherige simultane Nutzung somit wieder hergestellt war.344 Denn laut den vom Corpus vertretenen Forderungen beanspruchten die Reformierten schließlich die gesamte Kirche für sich;345 hinzu kam in dieser speziellen Frage auch noch die prinzipielle und theoretisch ausführlich begründete Ablehnung des evangelisch-katholischen Simultaneums per se.346 Wie also sollte sich das Corpus Evangelicorum zu dieser teilweisen Erfüllung seiner Forderungen stellen, die eindeutig auf eine Restitution jener Verhältnisse hinauslief, die auf dem vom Corpus annullierten Vergleich basierten? Wenngleich man sich auf protestantischer Seite zunächst offenbar angesichts der erneuerten Simultannutzung der Heidelberger Kirche etwas „embarassiert“ sah,347 wurde in Regensburg sowie in Berlin und London / Hannover schon bald offen die Einsicht formuliert, dass man wohl einen wie auch immer gearteten Kompromiss jenseits der „friedensschluß-mäßigen“ Verhältnisse werde annehmen müssen. Den Vorzug gab man dabei dem Abschluss eines neuen Vergleichs, der zwar zwischen Untertanen und Landesherrn gemacht werden könne, in jedem Fall aber unter den Auspizien und der Garantie des Corpus Evangelicorum verhandelt bzw. abgeschlossen werden müsse. In einem neuen Vergleich, so die Hoffnung in Regensburg, würde man eine Verbesserung für die Evangelischen in der Pfalz insgesamt und infolge dessen auch eine Versorgung der Lutheraner, mithin eine Befriedung des innerevangelischen Konflikts erreichen.348 Diese Vorstellungen waren allerdings nicht unumstritten und fanden insbesondere beim Heidelberger Kirchenrat wenig Anklang. Der nach wie vor in Heidelberg anwesende Resident Hecht unterbreitete 343
Reskript an Wallenrodt, Berlin, 12.3.1720, ebd., Bl. 82–83. Die Wiederauflage des Heidelberger Katechismus – ohne kurfürstliches Wappen und ohne Wiederabdruck der beanstandeten Glosse – wurde einen Monat später gestattet; vgl. Struve, Bericht, S. 1446–1449; zusammenfassend Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 134. 345 Hecht wurde angewiesen, deutlich zu machen, dass man die Wiedereinräumung des Schiffes der Heiliggeistkirche akzeptiere, „wann nur dabey bedingen wird, daß daraus kein perpetuierliches werk gemachet werden solle …“. Die evangelischen Minister seien gut beraten, „wenn Sie daran kein theil nehmen, sondern dieses als eine Sache, die mit dem Kirchenrath und mit I. C. D. tractiret worden, hingehen lassen.“; Reskript an Hecht, Berlin, 19.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 1, Bl. 123. 346 Vgl. Schäfer, Simultaneum, bes. S. 16–23. 347 Relation von Wallenrodt, London, 15./26.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 1, Bl. 244–245, 245. 348 Reskript an Whitworth, London, 19. 2./1.3.1720, ebd., Bl. 134–135. 344
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
der Berliner Regierung sogar den Vorschlag, dass Brandenburg-Preußen nun, da der Vergleich von 1705 eben faktisch doch zur Grundlage der Restitutionen genommen würde, „mit größtem fug“ beanspruchen könnte, in der von der kurpfälzischen Regierung eingesetzten Kommission mitzuarbeiten und auf diese Weise die Interessen der Reformierten zu wahren.349 Während die Pfälzer Lutheraner schon im Frühjahr 1720 einen eigenen Interessenvertreter nach Regensburg geschickt hatten,350 schrieb der Reformierte Kirchenrat an das Corpus, dass, wenn es ohnehin auf einen weiteren „Interimsvergleich“ hinausliefe (und also nicht das Normaljahr 1718 als Grundlage der Restitutionen durchgesetzt werden könnte), man doch füglich beim Alten, sprich dem Status von 1705, bleiben solle.351 Derartige Vorstöße fanden freilich weder in Regensburg noch in Berlin Gehör;352 dort war man vielmehr darum bemüht, die alten Differenzen endlich zu beseitigen, zumal das gegenseitige Misstrauen zwischen lutherischer und reformierter „Fraktion“ innerhalb des Corpus bereits wieder spürbarer wurde. Die faktische Restitution der Reformierten in der Kurpfalz auf Grundlage der Religionsdeklaration von 1705, wie sie sich bereits im Frühjahr 1720 abzeichnete, hatte nämlich nicht zuletzt zur Folge, dass die innerevangelischen Gegensätze, die seit etwa 1717 in den Hintergrund getreten bzw. seit 1719 zeitweilig von den evangelisch-katholischen Auseinandersetzungen gewissermaßen überdeckt worden waren, auch auf Reichsebene von neuem erstarkten. So wandte sich Anfang 1721 der Herzog von Sachsen-Gotha an den König von Dänemark, um diesen zu bitten, sich für die Pfälzer Lutheraner zu verwenden.353 Auch der dänische König beklagte in seiner Antwort „der besagten Reformirten Theologen unbrüderliches, ja unchrist liches Verfahren gegen die Lutheraner“. Die lutherischen Fürsten hätten sich bisher der Reformierten angenommen, „in der Hoffnung, als würden auch die Reformirten Puissancen reciproquement die Evangelisch-Lutherischen mit vertreten helffen, im gegentheil aber nicht deren unterdrückung von mehr besagten Reformirten Theo-
349 Relation von Hecht, Heidelberg, 13.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 1, Bl. 140–142, 141. 350 Relation von Metternich, Regensburg, 28.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 45; Relation von Hecht, Heidelberg, 26.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 14–18. 351 Der Heidelberger Kirchenrat an die evangelischen Reichstagsgesandten, Heidelberg, 5.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 1, Bl. 315–322. Gleichzeitig sprach sich der Kirchenrat allerdings für eine erneuerte Garantie des Vergleichs von 1705 aus, und zwar nach Möglichkeit durch reformierte Reichsstände und die Niederlande, handele es sich doch um eine Angelegenheit, „welche zwar alle Protestierenden, doch am nächsten die Reformirten touchiret …“; ebd., Bl. 319. 352 Eine gemäßigte Unterstützung fand der Heidelberger Kirchenrat mit seinen Anliegen überhaupt nur bei Hessen-Kassel, das wesentlich offener reformierte Positionen formulierte als Brandenburg-Preußen; Landgraf Karl von Hessen-Kassel an den Reformierten Kirchenrat, o. O., o. D. [1720], GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 19. 353 Friedrich II. von Sachsen-Gotha an Friedrich IV. von Dänemark, Friedenstein, 10.1.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 45.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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logen verstatten.“354 Der dänische König versprach daher, sich beim preußischen König und dessen Ministern über das Verhalten gegenüber den Lutheranern zu beschweren. Offenbar hatten sich die Pfälzer Lutheraner selbst mit ihren Klagen schon im Laufe des Jahres 1720 aus Enttäuschung über die hannoverisch-englische Politik statt an den Hannoveraner Gesandten Wrisberg wieder wie früher verstärkt an die sächsischen Höfe bzw. deren Gesandten in Regensburg gewandt.355 Diese Entwicklungen bedeuteten eine große Belastung für die gerade erst erreichte politische Einigkeit im Corpus Evangelicorum, zeichneten sich doch bereits wieder deutlich die alten Gruppierungen ab: Die Lutheraner scharten sich um die sächsischen Höfe, denen wiederum Brandenburg-Preußen als wichtigster Repräsentant reformierter Interessen galt. Sowohl die Berliner Regierung als auch Metternich erklärten sich nun angesichts dieser Differenzen in der internen Korrespondenz eindeutig für eine Verständigung zwischen Reformierten und Lutheranern in der Pfalz, denn – darin war man sich einig – „wenn die Evangelisch-Lutherischen nicht etwas zu Unterhaltung Ihrer Geistlichen bekommen, die Einigkeit in Corpore Evangelicorum nicht bestehen könne“.356 In diesem Punkt stimmten auch Brandenburg-Preußen und England-Hannover grundsätzlich überein und begannen im Sommer 1721, einen Vergleich zwischen Lutheranern und Reformierten in der Kurpfalz zu entwerfen.357 Mit eben diesem Auftrag, einen Vertrag zwischen Lutheranern und Reformierten vor Ort durchzusetzen, wurde der Gesandte des Corpus Evangelicorum in Heidelberg betraut. Der Hannoveraner Legationsrat Reck hielt sich seit Dezember 1720 als offizieller Vertreter des Corpus Evangelicorum in der Pfalz auf.358 Bevor er nach Heidelberg beordert worden war, hatte er bereits erfolgreich am Zustandekommen eines innerevangelischen Vergleichs im benachbarten Fürstentum Pfalz-Zweibrücken mitgewirkt.359 Die dortigen konfessionellen Verhältnisse wiesen deutliche Parallelen zu jenen in der Kurpfalz auf: Auch in Pfalz-Zweibrücken waren alle drei reichsrechtlich anerkannten Konfessionen vertreten, und auch die Rechtsverhältnisse zwischen den dortigen Lutheranern und Reformierten gestalteten sich ähnlich wie jene in der Kurpfalz. Schließlich herrschte auch in Zweibrücken ein katholischer Landesherr, der allerdings – im Gegensatz zu Karl Philipp von der Pfalz – offensichtlich zu einer Zusammenarbeit mit dem Corpus Evangelicorum bereit war: Mit Pfalzgraf Gustav Samuel einigte sich das Corpus Evangelicorum im Gegenzug für die Wiedereinrichtung des reformierten Oberkonsistoriums (das 354 Friedrich IV. von Dänemark an Friedrich II. von Sachsen-Gotha, Kopenhagen, 8.2.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 45. 355 Relation von Metternich, Regensburg, 18.3.1720, ebd. 356 Relation von Metternich, Regensburg, 26.5.1721, ebd.; s. a. Reskript an Hecht, Berlin, 20.7.1720, ebd. 357 „Unvorgreiffliche Gedancken über die punctation wegen des Religions-Wesens in der Untern Pfalz“ = Beilage zur Relation von Metternich, Regensburg, 26.5.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 45. 358 Zur Sendung Recks vgl. Kap. E. II. 6. 359 Schauroth, Sammlung 2, S. 456–457 (Instruktion für den Rat von Reck, o. D. [1722]). Zum Folgenden vgl. Adam, Pfalz-Zweibrücken.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
von der vorherigen, schwedischen Landesherrschaft abgesetzt worden war) zum einen darauf, einigen kathoischen Geistlichen eine Versorgung aus dem Kirchenvermögen zuzugestehen. Zum anderen schloss der Pfalzgraf im Juni 1720 mit den beiden evangelischen Konfessionsgruppen seines Territoriums einen Vergleich, der das Verhältnis zwischen Lutheranern und Reformierten festschrieb und vom Corpus Evangelicorum garantiert wurde. Diese Lösung wurde allerdings von den betroffenen Konfessionsgruppen vor Ort offenbar wenig begrüßt; und auch jenseits der Pfalz wurde der Zweibrücker Vertrag für viele Lutheraner im Reich als Beispiel dafür gesehen, dass „Einigungen“ zwischen den beiden protestantischen Konfessionen nur zum Nachteil der Lutheraner gereichten.360 Dennoch bemühte man sich im Corpus Evangelicorum, nach dem Vorbild des Vertrages in Pfalz-Zweibrücken auch den innerevangelischen Streit in der Kurpfalz beizulegen. Die Verhandlungen um eine „freiwillige“ Unterstützung der lutherischen Gemeinden aus dem reformierten Kirchenvermögen mündeten in einem förmlichen Conclusum, in dem sich die evangelische Konferenz auf eine Art Drei-Stufen-Plan einigte, wie die finanzielle Teilhabe der Lutheraner – je nach Ausmaß der Restitution – auszusehen hätte: Sollten die Reformierten auf dem Stand des Badischen Friedens restituiert werden, so würden die Lutheraner ein Siebentel aus den gesamten geistlichen Gütern der Reformierten erhalten; sollte dagegen der Stand des Normaljahres 1618 wiederhergestellt werden, würden die Lutheraner zwei Siebentel erhalten; im Falle einer – interimsweisen – Restitution auf Grundlage des Jahres 1705, sollten die Reformierten ihren Glaubensbrüdern zunächst ein halbes Siebentel zugestehen.361 In der Folge versuchte man denn auch verstärkt, zunächst die beiden evangelischen Konfessionsgruppen, dann aber auch den Pfälzer Kurfürsten Karl Philipp für einen so gestalteten Vergleich zu gewinnen362 – jedoch ohne Erfolg.363 360
Der Vertrag sowie die Garantie des Corpus Evangelicorum sind abgedruckt bei Schauroth, Sammlung 3, S. 852–858. Die ehemalige pfalz-zweibrückische Landesherrschaft Schweden, unter deren Regierung die Zahl der Lutheraner stark angewachsen war, protestierte förmlich gegen den Vergleich: EStC 39, S. 83–87 (Pro Memoria so von der königlich Schwedischen Gesandtschaft zu Regenspurg / statt einer Gegen-Vorstellung und Protestation wider die verwilligende Garantie des zwischen den Evangelisch-Reformirten und Evangelisch-Lutherischen in Zweybrücken ec. übergeben worden“, Regensburg, 21.8.1720). Explizite Kritik an dem Vertrag übte auch der Hamburger Theologe Edzardi: [Ders.], Schwedische Kirchengeschichte. Gegen diese polemische Darstellung der pfalz-zweibrückischen Konfessionsverhältnisse im Allgemeinen und des vom Corpus Evangelicorum vermittelten innerevangelischen Vergleichs im Besonderen ging das Corpus Evangelicorum schon bald nach Erscheinen des Werkes vor; s. Schauroth, Sammlung 2, S. 489–491 (Conclusum vom 14.6.1721: „Wegen des von dem Magistrat zu Hamburg eines Edzardischen Scriptum halber begehrenden Berichts“). 361 Ebd., S. 453–454 (Conclusum vom 20.9.1721). 362 Ebd., S. 455–456 (Conclusum vom 14.10.1721). 363 Kurfürst Karl Philipp von der Pfalz ging auf diese Vorschläge des Corpus Evangelicorum schon deshalb nicht ein, weil er die Anwesenheit Recks als eine unzumutbare Provokation empfand und seinen Untertanen hatte untersagen lassen, mit Reck zu kommunizieren; vgl. Kap. E. II. 6. Ob der Reformierte Kirchenrat aufgrund dieses Verbotes die Kommunikation mit Reck tatsächlich einstellte oder angesichts der Regensburger Pläne aus wohlverstandenem Eigeninteresse die vom Corpus eingeforderten Berichte über die Fortschritte der Restitutionen
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Nachdem der Vergleich im Corpus beschlossen worden war, wandte sich der Reformierte Kirchenrat zunächst an seinen alten Patron, den preußischen König, und beschwor noch einmal die enge Verbindung zwischen den Pfälzer Reformierten und dem Haus Brandenburg. Die Kirchenräte wiesen die Regensburger Pläne mit den bekannten Argumenten (rechtliche Eindeutigkeit des Westfälischen Friedens und die eigene Bedürftigkeit) zurück und sprachen sich schließlich dafür aus, die Lutheraner zunächst durch eine Kollekte, die in allen evangelischen Territorien gesammelt werden sollte, zufriedenzustellen, „woraus Sie ohne Einbruch des Westphälischen Friedens Ihren unterhalt haben könnten“.364 Dieser Vorschlag war keineswegs neu, sondern vielmehr schon im Zuge der Religionsdeklaration um 1705 und erneut um 1715 aufgetaucht. In Berlin hatte man auch gegen eine solche Lösung nichts einzuwenden – solange die übrigen Mitglieder des Corpus und allen voran England-Hannover dies guthießen, wollte man sowohl einem Vergleich als auch einer Kollekte zustimmen. Nur beitragen, das hatte man in Berlin schon im Zuge der Vorüberlegungen zu einem Vergleich deutlich gemacht, könne man zu einer derartigen Sammlung nichts; Kollekten dürften in Brandenburg-Preußen ausschließlich für das eigene Armenwesen gesammelt werden.365 Unterstützte man die Reformierten in der Pfalz auch nicht mehr offen, so widersprach man in Berlin zumindest nicht ihren Wünschen, sofern diese nicht der evangelischen Einigkeit schadeten. Die Position Hannovers war wesentlich expliziter: Die Hannoveraner Geheimen Räte beschwerten sich Ende 1721 über die fehlende Kooperationsbereitschaft des Heidelberger Kirchenrates und äußerten die Erwartung, Brandenburg-Preußen werde die Reformierten in der Pfalz ermahnen, sich dem in Regensburg beschlossenen Vergleich zu unterwerfen. Dagegen entstanden um dieselbe Zeit in den Niederlanden mehrere Schriften, die entschieden die Seite der Pfälzer Reformierten unterstützten und die auch nach Berlin gesandt wurden – offenbar in der Annahme, Brandenburg-Preußen werde sich die darin vertretenen Argumente zur Verteidigung der Pfälzer Reformierten zu eigen machen.366
zurückhielt, kann aufgrund des Quellenmaterials nicht beantwortet werden; s. dazu Schauroth, Sammlung 2, S. 457–458 (Conclusum vom 9.12.1722). Vor dem Hintergrund der an anderen Stellen überlieferten Haltung des Kirchenrats erscheint es allerdings nicht unwahrscheinlich, dass sich der Kirchenrat der Zusammenarbeit mit Reck bewusst entzog. 364 Reformierter Kirchenrat an Friedrich Wilhelm I., Heidelberg, 7.11.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 45. 365 Reskript an Metternich, Berlin, 16.12.1721, ebd.; Reskript an Metternich, Berlin, 8.5.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 30 a, Fasz. 4. 366 s. etwa: Bericht-Schreiben, Gründlich anweisende, Daß die Evangelisch-Lutherische In der Untern-Pfalz kein Recht noch Anspruch haben, auf die Kirchen Güter Welche die Evangelisch-Reformirte Darinnen besitzen Und daß es für die Reformirte nicht thunlich ist, etwas von diesen Güthern an die Evangelisch-Lutherische abzustehen, Amsterdam 1722. Eine weitere anti-lutherische Schrift mit dem Titel „Super Jure Evangelico Lutheranorum in inferiori pala tinatu ad bona Ecclesiastica“ wurde von Hecht nach Berlin gesandt; Relation von Hecht, Frankfurt, 13.12.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 45.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Die Verhandlungen um eine Klärung der innerevangelischen Differenzen in der Pfalz zeigen deutlich, dass Brandenburg-Preußen auch unter Friedrich Wilhelm I. nach wie vor als wichtigster Repräsentant der Reformierten im Reich und gewissermaßen als „zuständig“ für den Reformierten Kirchenrat in Heidelberg wahrgenommen wurde – und zwar sowohl von lutherischer als auch von reformierter Seite. Die brandenburg-preußische Politik jedoch versuchte offenbar, sich diesen klaren Zuschreibungen zu entziehen und zwar vor allem dadurch, dass sie sich neutral bzw. passiv gegenüber die an sie herangetragenen Erwartungen verhielt. So erklärte man sich in Berlin einerseits bereit, alle Bemühungen um einen innerevangelischen Vergleich zu unterstützen; gleichzeitig aber gab man die von der Hannoveraner Regierung geäußerten Vorwürfe schlichtweg an den Heidelberger Kirchenrat weiter, lediglich versehen mit dem Zusatz, bloß keine Trennung unter den evangelischen Reichsständen zu riskieren.367 Weder der Reformierte Kirchenrat noch die lutherischen Reichsstände, ja nicht einmal Hannover, konnten Brandenburg-Preußen dazu veranlassen, sich eindeutig für eine Seite bzw. ein Vorgehen auszusprechen. Stattdessen versuchte man in Berlin dem Eindruck entgegenzutreten, man könne nach wie vor als Patron der Pfälzer Reformierten gelten und sei deshalb die richtige Adresse für Appelle an den Heidelberger Kirchenrat. a) Bemühungen um eine innerevangelische Union Eng verbunden mit den Entwicklungen in der Kurpfalz waren die seit 1720 in Regensburg vorangetriebenen Bemühungen um eine innerevangelische theologische Union. Beide Pläne, Reformierte und Lutheraner sowohl auf territorialer Ebene in der Pfalz als auch auf der Ebene des Reiches auszusöhnen und anzunähern, scheiterten. Während allerdings die Berliner Regierung dem Projekt eines Vergleiches zwischen den Kurpfälzer Lutheranern und Reformierten durchaus nicht ablehend gegenüberstand – und zwar im Gegensatz zum eigenen Gesandten in Heidelberg und im Unterschied zu der noch unter Friedrich III./I. verfolgten Politik einer eindeutigen Vertretung reformierter Interessen –, war man in Berlin in Bezug auf eine theologische Union der beiden evangelischen Konfessionen wesentlich zurückhaltender als noch zu Zeiten Friedrichs III./I. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, scheinen doch beide Initiativen dem selben Ziel gegolten zu haben, nämlich einer Annäherung der beiden evangelischen Konfessionen – einmal auf regionaler Ebene, das andere Mal auf Ebene des Reiches. Die zunächst abwartend-distanzierte und später sogar ablehnende Haltung der Berliner Regierung gegenüber den gemeinsam von einigen evangelischen Reichstagsgesandten und Theologen propagierten Plänen zu einem „näheren Zusammenschluss“ in den Jahren von 1720–1722 ist daher gleich in dreifacher Hinsicht erklärungswürdig: Zum einen besaß die brandenburg-preußische Politik traditionell 367
Reskript an Hecht, Berlin, 20.12.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 45.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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eine gewisse Affinität zur innerevangelischen Irenik bzw. einer möglichen Kirchenunion zwischen Lutheranern und Reformierten. Friedrich III./I. hatte neben der Förderung von Religionsgesprächen innerhalb Brandenburg-Preußens auch den philosophisch-theologischen Austausch über dieses Thema zwischen Hannover und Berlin explizit befürwortet.368 Für die brandenburg-preußische Reichspolitik unter Friedrich Wilhelm I. wiederum hatte spätestens seit Beginn des Religionsstreits in der Pfalz und der engen politischen Zusammenarbeit mit England-Hannover im Rahmen des Corpus Evangelicorum die Einigkeit der evangelischen Reichsstände oberste Priorität – und dieser Einigkeit sollte schließlich auch die theologisch-kirchliche Annäherung beider Konfessionen dienen. Zudem hatte Friedrich Wilhelm I. schon zu Beginn seiner Regierungszeit erneut ein Edikt gegen Kanzelpolemiken und religiöse Schmähschriften erlassen369 sowie persönlich gegenüber dem altgedienten reformierten Hofprediger und Unionsvorkämpfer Jablonski sein Interesse an einer Vereinigung der evangelischen Konfessionen zu verstehen gegeben.370 Schließlich hat Friedrich Wilhelm I. bekanntlich mehrfach im Kontext seiner persönlichen Glaubensauffassung Sympathien für eine evangelische Union geäußert und, vor allem gegen Ende seiner Regierungszeit, zahlreiche Verordnungen erlassen, die auf eine Angleichung der lutherischen an die reformierten Zeremonien zielten.371 Vor diesem Hintergrund wird daher im Folgenden zu fragen sein, weshalb die brandenburg-preußische Reichspolitik ausgerechnet der seit 1721 in Regensburg intensiv diskutierten Unionsfrage keinerlei Unterstützung entgegenbrachte. Im Jahr 1717 war Jablonski erneut mit Leibniz in Kontakt getreten und hatte für Friedrich Wilhelm I. ein Gutachten über eine mögliche Vereinigung der beiden evangelischen Konfessionen verfasst, in dem er sich klar für eine politische Umsetzung der Union aussprach.372 Schon 1716 hatte Jablonski beim König für das Unionsthema geworben und sich konkret dafür eingesetzt, dass BrandenburgPreußen für die Reformierten, Braunschweig aber für die Lutheraner vorangehen sollte, um die einige Jahre zuvor abgebrochenen Bemühungen wieder aufzunehmen.373 Dabei verwies Jabolonski immer wieder auf die Bemühungen des Großen Kurfürsten und Friedrichs III./I. zugunsten der innerevangelischen Verständigung – gleichsam als eine große Tradition, in die sich Friedrich Wilhelm I. mit der Unterstützung der aktuellen Pläne stellen würde.374 Auch den Vorschlag, die angli 368
Vgl. Kap. B. II. 2. f). Vgl. Mylius, Corpus, Teil 1, Abt. 1, Nr. 87, Sp. 511–512 („Verordnung, denen wegen zuerhaltender Einigkeit zwischen beyden Evangelischen Religions-Verwandten vorhin publicirten Edicts genau nachzukommen“, 31.7.1714). 370 Vgl. Schäufele, Pfaff, S. 88. 371 s. dazu weiter unten in diesem Kapitel. 372 Vgl. auch zum Folgenden Delius, Unionsversuche, S. 68–88. 373 Jablonski an Friedrich Wilhelm I., Berlin, 27.7.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 19 d, Fasz. 21, Bl. 3–4. 374 s. etwa Jablonski an Friedrich Wilhelm I., Berlin, 10.11.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 19 d, Fasz. 21, Bl. 17–20. Zumindest intern scheinen in diesem Kontext auch wieder die Er 369
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
kanische Kirche in Theologengespräche zwischen Reformierten und Lutheranern einzubeziehen, äußerte Jablonski von Neuem.375 Trotz der abwartenden Haltung des Hofes gelang es Jablonski, von Friedrich Wilhelm I. die Genehmigung zu einer Reise nach Hannover zu erhalten, um dort dem gerade für einige Wochen anwesenden König Georg I. persönlich die Pläne für eine Union vorzustellen. Nachdem das geplante Treffen allerdings nicht stattgefunden hatte und zudem im November 1716 Leibniz gestorben war, trat die Unionsfrage auf der politischen Agenda der beiden norddeutschen Höfe in den Hintergrund. Jablonski verfolgte die Idee jedoch in den folgenden Jahren weiter und trat in einen regen brieflichen Kontakt zum neuen Erzbischof von Canterbury, William Wake, der ebenfalls ein lebhafter Befürworter der Union war und großen Anteil an den irenischen Debatten im Reich nahm.376 Anders als sein reformierter Hofprediger sah Friedrich Wilhelm I. alle Unionspläne auf Reichsebene offenbar von Anfang an skeptisch.377 Diese Haltung zeigte sich bereits anlässlich des Reformationsjubiläums von 1717: Der König hatte sich nicht nur im Corpus Evangelicorum gegen den Vorschlag Hessen-Darmstadts, ein einheitliches Datum zur Feier des Jubiläums für sämtliche Mitglieder des Corpus festzusetzen, ausgesprochen;378 die von Friedrich Wilhelm I. angeordneten Feierlichkeiten im eigenen Land – die in Ausmaß und Aufwand im Vergleich zu Kur sachsen äußerst bescheiden ausfielen – beschränkten sich zudem auf die Lutheraner; weder der Hof noch die beiden reformierten theologischen Fakultäten in Duisburg und Frankfurt / Oder nahmen daran teil.379 Weder auf Reichebene noch im eigenen
fahrungen diskutiert worden zu sein, die man unter Friedrich I. mit dem Versuch gemacht hatte, auf dem Reichstag für eine „mutuelle Toleranz“ zu werben. So findet sich bei den Akten u. a. die Abschrift eines Aufsatzes mit dem Titel „Hr. A. v. C. Bedencken über die von dem König in Preußen, auf dem Reichstage zu Regenspurg proponirte mutuelle toleranz der Evangelisch. und Reformirten Religions Exercitii, 1717“; ebd., Bl. 28–37. Diese – offensichtlich lutherische – Schrift setzte sich äußerst kritisch mit der älteren „Toleranz-Initiative“ auseinander. 375 Jablonski an Friedrich Wilhelm I., Berlin, 27.7.1716, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 19 d, Fasz. 21, Bl. 3–4. 376 Vgl. Schäufele, Pfaff, S. 171–180. 377 Vgl. Stolze, Friedrich Wilhelm I., S. 188; Delius, Unionsversuche, S. 68. 378 Relation von Metternich, Regensburg, 28.1.1717, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 29, Fasz. 7; Reskript an Metternich, Berlin, 6.2.1717, ebd. 379 Mylius, Corpus, Teil 1, Abt. 2, Nr. 111, Sp. 213–218 („Verordnung wegen des zweyten Jubilaei Reformationis Lutheri sambt Formular der Abkündigung und Danck-Gebeths“, 15.4.1717). In einigen Landesteilen sollen sich allerdings die Reformierten an den Feierlichkeiten beteiligt haben; vgl. Schönstädt, Reformationsjubiläum, S. 79–86. Die Feierlichkeiten zur Begehung des 100jährigen Jubiläums der Konversion Johann Sigismunds, das in das erste Regierungsjahr Friedrich Wilhelms I. fiel, waren ausschließlich für die reformierten Kirchen angeordnet worden; Mylius, Corpus, Teil 1, Abt. 2, Nr. 93, Sp. 185–188 („Circular-Verordnung, wegen des Evangelisch-Reformirten Kirchen-Jubilaei“, 30.11.1713). Die bisherigen Untersuchungen zu den Reformationsjubiläen in Brandenburg-Preußen legen den Schwerpunkt auf das 19. Jahrhundert; vgl. v. a. die ältere Studie von Wendland, Reformationsjubelfeiern; darin zum Jubiläum von 1717: S. 68–69; sowie als Überblick: Besier, Reformationsfeiern.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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Territorium befürwortete Friedrich Wilhelm I. also eine gemeinsame Jubiläumsfeier von Reformierten und Lutheranern.380 Die Initiative zu einer innerevangelischen Union auf Reichsebene kam denn auch 1718 nicht aus Berlin, sondern vielmehr aus Regensburg. Einer der maßgeblichen Akteure dort war der brandenburg-preußische Reichstagsgesandte Ernst von Metternich, der gemeinsam mit seinem Bruder, dem Vertreter Brandenburg-Bayreuths, Wolf von Metternich, sowie dem Hannoveraner Rudolph Johann von Wrisberg und dem württembergischen Reichstagsgesandten Johann Heinrich von SchützPflummern381 politisch das Unionsprojekt vorantrieb. Den Gesandten Hannovers und Brandenburg-Preußens war allerdings vermutlich der erneute Vorstoß von Jablonski und Leibniz bekannt. In Regensburg hatte Ernst von Metternich 1718 aus eigenem Antrieb zwei ältere Unions-Traktate der Schweizer Theologen Turrettini und Werenfels nachdrucken und verteilen lassen.382 Beide Autoren waren Metternich durch seine frühere Diplomatentätigkeit in Neuchâtel bekannt; außerdem waren sie bereits in der Unionsdiskussion einige Jahre zuvor während der Regierungszeit Friedrichs III./I. auch im Reich rezipiert worden und hatten sich zu den dortigen Bemühungen um eine innerevangelische Verständigung geäußert.383 Metternich versuchte durch diese Nachdrucke offenbar einerseits, die Unionsdebatte des vorherigen Jahrzehnts erneut zu entfachen, andererseits aber, indem er die älteren Schweizer Abhandlungen auswählte, an seinem eigenen Hof die Förderung von Irenik und Union unter Friedrich III./I. und die enge Verbindung zwischen Berlin und den Schweizer Unionstheologen in Erinnerung zu rufen. Als 1719 in Regensburg zudem eine in Tübingen neu gedruckte, anonyme Unionsschrift unter dem Titel „Die nöthige Glaubens-Einigkeit der Protestantischen Kirchen“ zirkulierte,384 begannen sich mehrere evangelische Reichstagsgesandte der Unionsfrage anzunehmen. Auf Veranlassung der Gesandten wurde die „Nöthige Glaubens- Einigkeit“ nachgedruckt und an ihre Höfe eingesandt, wo die Schrift teilweise ebenfalls auf Zustimmung stieß. In der Folge entwickelte sich ein enger Kontakt zwischen den wichtigsten Unionstheologen, namentlich zwischen den Vertretern
380 Diese Haltung änderte sich offenbar in der späteren Regierungszeit Friedrich Wilhelms I.: Für das Jubiläum der Augsburgischen Konfession 1730 wurden Feiern in lutherischen sowie reformierten Kirchen und Universitäten angeordnet; Mylius, Corpus, Teil 1, Abt. 2, Nr. 128, Sp. 249–250 („Mandat wegen des Jubilaei der Augspurgischen Confession“, 30.5.1730); zur Feier des Übergangs der Mark Brandenburg zur Reformation im Jahr 1739 vgl. Besier, Reformationsfeiern, S. 135–137. 381 Vgl. Kneschke, Adels-Lexicon 8, S. 359–361; Schäufele, Pfaff, S. 45. 382 Es handelte sich zum einen um eine Übersetzung von Jean Alphonse Turrettinis Rektoratsrede von 1707 (Turrettini, De componendis Protestantium dissidiis), die Turretini seinerzeit Friedrich I. gewidmet hatte (vgl. dazu Kap. B. II. 2. f)); zum anderen um eine Schrift von Werenfels aus dem Jahr 1709 mit dem Titel: Allgemeine Gedancken über die Vereinigung der Evangelischen, so durch die nahmen Lutherisch und Reformirt gemeiniglich unterschieden werden. 383 Vgl. dazu Kap. B. II. 2. f). 384 [Klemm], Glaubens-Einigkeit.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
des württembergischen Pietismus Christoph Matthäus Pfaff385 und Johann Christian Klemm386 auf der einen, und den in der Unionsfrage interessierten Reichstagsgesandten auf der anderen Seite.387 Der Berliner Hof jedoch gab Metternich weder auf die eingesandten Nachdrucke von Werenfels und Turrettini noch auf die „Nöthige Glaubens-Einigkeit“ hin die erbetene Instruktion in der Unionsfrage. Erst als im Sommer 1721 eine Unionsschrift des Bayreuther Gesandten Wolf von Metternich erschien und unter den evangelischen Gesandten sowie an den respektiven Höfen etternich endlich eine grundsätzgroßes Interesse fand, erhielt auch Ernst von M etternich angewiesen, seine lich positive Instruktion aus Berlin. Allerdings wurde M Bemühungen um eine Annäherung der beiden evangelischen Konfessionen auf die folgenden Punkte zu konzentrieren: die gemeinsame Konfessionsbezeichnung als „Evangelische“,388 eine liturgische Annäherung und schließlich ein generelles Verbot konfessioneller Polemik zwischen Lutheranern und Reformierten.389 Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, dass sich die Unterstützung aus Berlin im Grunde auf die Herstellung eines „Kirchenfriedens“ und eine vorsichtige Anpassung auf dem Weg der liturgischen Praxis beschränken, aber keinesfalls auf eine theologische Union im eigentlichen Sinne erstrecken würde. Explizitere politische Unterstützung von ihren Landesherren erhielten – zumindest zu Beginn der Unionsbestrebungen – lediglich Wolf von Metternich sowie der württembergische Gesandte Schütz bzw. der Tübinger Theologe Pfaff.390 Wolf von Metternich veröffentlichte im Spätsommer 1721 auf Geheiß seines Landesherrn ein Fünfzehn-Punkte-Programm, das einen gemäßigten Plan für eine „Vereinigung“ der beiden Konfessionen beinhaltete. Neben reichsrechtlichen und theologischen Überlegungen zielte das Programm, bezogen auf das Kirchenwesen, auf die Verpflichtung zur Toleranz und die Möglichkeit zur Interkommunion. Daneben beinhalteten die „Fünfzehn Punkte“ eine Beendigung der Kanzelpolemik und die Einführung von innerevangelischen paritätischen Regelungen für die Besetzung öffentlicher Ämter und für die Niederlassungsfreiheit.391 Die „Fünfzehn
385
Für knappe biographische Angaben vgl. Wagenmann, Pfaff; sowie ausführlich zu seiner Unionstheologie: Schäufele, Pfaff. 386 Zu Johann Christian Klemm vgl. die biographischen Angaben zu seinem Vater: Schott, Klemm; sowie Schäufele, Pfaff, passim. 387 Neben dem württembergischen Reichstagsgesandten korrespondierte der Tübinger Theologe und zwischenzeitliche Universitätsrektor Pfaff seit 1722 auch mit Wrisberg regelmäßig. Der Briefwechsel zwischen Jablonski und Pfaff, der wichtige Auskünfte über die politisch-theologischen Fraktionen am Berliner Hof und insbesondere innerhalb des Konsistoriums mit Blick auf die Union geben könnte, ist leider verloren; vgl. Schäufele, Pfaff, S. 172. 388 Zu einer verwandten Entwicklung, nämlich der integrativen Nutzung des Begriffs „Protestanten“ in Anschluss an Georg Calixt vgl. ausführlich Witt, Protestanten (zusammenfassend S. 268–277). 389 Vgl. Schäufele, Pfaff, S. 204. 390 Vgl. ebd., S. 140. Das württembergische Konsistorium unterstützte die Einigungsbestrebungen Pfaffs aber nicht; vgl. ebd., S. 164–169. 391 Vgl. ebd., S. 205–208.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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Punkte“ waren also bestenfalls als erster Schritt hin zu einer zukünftigen Union zu verstehen und sie zeigen deutlich, dass man auch in Regensburg die Aussichten auf ein Zustandekommen einer kirchlichen Vereinigung für sehr gering hielt und sich vielmehr auf die Herstellung eines Vergleichs konzentrierte, der das Verhältnis der beiden Konfessionen grundsätzlich verbessern, mithin also auch und gerade die politische Aktionsfähigkeit des Corpus Evangelicorum steigern sollte. Da die Schrift fälschlicherweise als politisches Programm des Corpus Evangelicorum für die Herstellung einer Union angesehen wurde, konzentrierte sich die Polemik der vornehmlich orthodox-lutherischen Unionsgegner in den Folgemonaten auf die „Fünfzehn Punkte“.392 Wie bereits rund fünfzehn Jahre zuvor stellten dabei Hamburg und Wittenberg die wichtigsten Zentren der lutherischen Unionsgegner dar; und wie auf den Seiten der Unionsbefürworter befanden sich auch unter den publizierenden Gegnern der Union zahlreiche Protagonisten, die bereits gegen die unter Friedrich III./I. zwischen Hannover und Berlin verhandelten Unionspläne polemisiert hatten. Überhaupt ist es auffällig, wie sehr die Debatte um 1720 an die Diskussionen während der Regierungszeit Friedrichs III./I. anknüpfte: Selbst die „Fünfzehn Punkte“ Wolf von Metternichs hatten ihr Vorbild in der Unionsschrift eines Schweizer Pfarrers aus dem Jahr 1705, der bereits damals, in den Gesprächen des Collegium Charitativum und der um das „Arcanum regium“ geführten Debatte, dafür geworben hatte, die Union in Regensburg voranzutreiben.393 Auf der Seite der Unionsgegner meldeten sich sowohl der Hamburger Gymnasialprofessor Sebastian Edzardi394 als auch der Dresdner Superintendent und Oberkonsistorialrat Valentin Ernst Löscher395 erneut zu Wort; neu hinzu kamen als wichtige Stimmen im Lager der Unionsgegner der seit 1715 in Hamburg tätige Erdmann Neumeister396 sowie der Gothaer Kirchenrat Ernst Salomon Cyprian.397 Letzterer veröffentliche im Frühjahr 1721 eine Schrift, in der er auf das Verhalten der Reformierten in der Pfalz verwies, um zu verdeutlichen, dass die Reformierten nur deswegen eine Union befürworteten, weil sie den Lutheranern auf diese Weise weiteres Eigentum entziehen könnten.398 Cyprian hatte bereits 1720 in seiner Auseinandersetzung mit dem Unionstheologen Pfaff als Beleg für die bösen Absichten der Reformierten immer wieder auf die Situation in der Kurpfalz verwiesen, daneben aber auch auf die Situation in Brandenburg-Preußen, wo die Lutheraner ihre Kirchen den Reformierten abgeben müssten oder zu Simultaneen mit den
392
Vgl. ebd., S. 208. [Altmann], Neu-gebahnter Weg. Die Schrift wurde 1722 in Frankfurt zum zweiten Mal aufgelegt; vgl. Schäufele, Pfaff, S. 207. 394 Zu Edzardi vgl. Kap. B. II. 2. f). Edzardi hatte bereits im Sommer 1720 gegen den Heidelberger Katechismus polemisiert; Reskript an Evens (brandenburg-preußischer Resident in Hamburg), Berlin, 10.7.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 30 a, Fasz. 1, Bl. 71. 395 Zu Löscher vgl. Kap. B. II. 2. f). 396 Für biographische Angaben vgl. Waldberg, Neumeister. 397 Für biographische Angaben vgl. Beck, Cyprian. 398 Cyprian, Betragung. 393
338
E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Reformierten gezwungen würden.399 Überhaupt ging die Flut von Streitschriften spätestens seit 1721 auf Seiten der Unionsgegner immer mehr in eine anti-reformierte Polemik über.400 Edzardi bestritt sogar öffentlich, dass die Reformierten zu den Augsburgischen Konfessionsverwandten gehörten.401 Grundsätzlich wurde die im engeren Sinne theologische Unionsdebatte im Reich primär innerhalb des lutherischen Lagers geführt – auch auf Seiten der Unionsbefürworter standen vornehmlich Lutheraner. In der Debatte seit 1720 sind überhaupt nur von drei reformierten Theologen im Reich Veröffentlichungen zur Union nachweisbar; die maßgeblichen reformierten Stimmen zur Union kamen dagegen aus der Schweiz, teilweise auch aus den Niederlanden.402 In Regensburg hatte man nicht zuletzt aufgrund des publizistischen Echos bereits früh das gewünschte Vereinigungswerk auf eine weniger theologisch-kirchliche als vielmehr politische Verständigung beschränkt, die das gegenseitige Verhältnis verbessern und lediglich als Basis für weitere theologische Annäherungen in der Zukunft dienen sollte. Während das Corpus Evangelicorum einerseits gegen die Polemiken aus Hamburg vorzugehen versuchte, arbeiteten die Gesandten andererseits an einem Entwurf für ein förmliches Vereinigungs-Conclusum. Der erste, von Ernst von Metternich verfasste Entwurf beinhaltete die Einführung der gemein samen Bezeichnung „Evangelische“ und eine gegenseitige Begünstigung – im Rahmen des geltenden Rechtes. Allerdings sollten weder der Bekenntnisstand noch die Besitzstandsregelungen des Westfälischen Friedens angetastet werden. Schließlich sollten sich die evangelischen Stände auf eine strengere Überwachung theologischer Publikationen sowie eine engere Zusammenarbeit auf Reichsebene verpflichten. Nachdem Wrisberg das Projekt nochmals überarbeitet hatte und nach einigen Verzögerungen seitens der sächsischen Höfe, wurde Ende Februar 1722 schließlich ein Conclusum, das in etwa Metternichs Projekt entsprach, „zur näheren Vereinigung der beiden protestantischen Teile“ mehrheitlich in der evangelischen Konferenz verabschiedet,403 wobei sich Kursachsen, Sachsen-Gotha sowie der dänische Gesandte enthielten.404 Das Vereinigungsconclusum, das in der Folge überhaupt nur in Bayreuth und Hessen-Kassel offiziell publiziert wurde, entfaltete kaum Wirkung. Allerdings ging das Corpus Evangelicorum auf der Grundlage des Conlusums in den folgenden 399 Relation von Metternich, Regensburg, 10.2.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 45; s. a. Schäufele, Pfaff, S. 183–184. 400 Dies lässt sich bereits an den Titeln zahlreicher Traktate ablesen, etwa: Heinson, Calvinisten-ABC; Neumeister, Calvinistische Arglistigkeit. 401 Vgl. Schäufele, Pfaff, S. 222. 402 Vgl. ebd., S. 237–240. 403 Schauroth, Sammlung 2, S. 492–494 (Conclusum vom 28.2.1722: „Wegen näherer Zusammensetzung oder Vereinigung beyder evangelischer Theile im Reich“). 404 EStC 41, S. 552–553 („Chur-Sächsische Declaration wegen näherer Vereinigung derer Evangelischen. Communicirt d. 25. Martii 1722“); S. 554–564 („Bedencken des Chur-Sächsischen Ober-Consistorii in der näheren Vereinigungs-Sache der Evangelischen“, 23.2.1722); s. a. Schäufele, Pfaff, S. 256–262.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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Monaten verstärkt gegen die wichtigsten Verfasser theologischer Streitschriften vor. Auch diesen Bemühungen blieb ein durchschlagender Erfolg versagt, so dass der publizistische Streit noch etwa zwei Jahre lang weitergeführt wurde; dann allerdings versandete das Thema langsam.405 Die Unionsverhandlungen der Jahre 1720 bis 1722 müssen primär als Initiative einiger evangelischer Reichstagsgesandter verstanden werden, an die sich eine Gruppe von unionsbefürwortenden Theologen anschloss, die aber zumindest seitens der beteiligten Gesandten im Kern politisch – im Sinne einer vertieften Zusammenarbeit der evangelischen Reichsstände – motiviert war. Die Haltung der respektiven Höfe zu den in Regensburg betriebenen Unions- bzw. Verständigungsplänen scheint durchgängig wesentlich distanzierter gewesen zu sein als diejenige ihrer Vertreter in Regensburg – besonders eindeutig im Falle Brandenburg-Preußens. Ganz all gemein lässt sich das im Verlauf der Unionsbemühungen eher noch abnehmende Interesse der evangelischen Höfe (beider Konfessionen) an dem Projekt mit der Tatsache erklären, dass die Unionsschriften und die enge Verbindung zwischen einigen Unionstheologen und den wichtigsten Gesandten des Corpus Evangelicorum auf Seiten der orthodoxen Lutheraner den heftigsten (publizistischen) Widerspruch provozierten. Dadurch aber ließ das gesamte Unionsprojekt, statt eine Annäherung zu fördern, eher die Gegensätze der beiden evangelischen Konfessionen wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken – eine Entwicklung, die zu diesem Zeitpunkt den reichspolitischen Zielen der tonangebenden evangelischen Mächte eindeutig zuwiderlief. Insofern lässt sich das bald erlahmende Interesse selbst derjenigen Höfe, die zunächst dem Regensburger Vereinigungswerk wohlwollend gegenübergestanden hatten, wohl primär mit dem durch die Unionspläne selbst entfachten publizistischen Streit erklären. Insbesondere angesichts der anti-reformierten Propaganda aus den sächsischen Territorien und aus Hamburg spricht vieles dafür, dass diese Gründe für den Berliner Hof umso schwerer wogen. In Berlin hatte man sich jedenfalls seit Beginn der Unionsbemühungen zurückhaltend gezeigt, obgleich, wie bereits angedeutet, eine Verständigung unter den beiden evangelischen Konfessionsgruppen sowohl der traditionellen Linie brandenburg-preußischer Konfessionspolitik als auch den Erfordernissen der aktuellen reichspolitischen Prioritäten Berlins entsprochen hätte. Angesichts der Flut von Streitschriften konzentrierte sich die brandenburg-preußische Politik in der Unionsfrage jedoch bald darauf, die konfessionelle Polemik im eigenen Territorium einzuhegen bzw. die Prediger darauf zu verpflichten, nicht auf die theologischen Unterschiede (insbesondere in der Gnadenwahl), sondern vielmehr auf die Gemeinsamkeiten der beiden evangelischen Konfessionen hinzuweisen.406 Zudem bemühte man sich in Berlin nachdrücklich darum, dass die 405
Vgl. ebd., S. 268. In den Jahren 1719 bis 1722 wurden drei Verordnungen erlassen, die der innerevange lischen Polemik in Brandenburg-Preußen entgegensteuern sollten: Mylius, Corpus, Teil 1, Abt. 2, Nr. 103, Sp. 533–536 („Verordnung, daß die Prediger beyer Evangelischer Religionen 406
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anti-reformierten Polemiken in Sachsen-Gotha und vor allem in Hamburg verboten und die Verfasser bestraft würden.407 Wenngleich Metternich und Wrisberg sich zunächst noch dafür aussprachen, selbst gegen Edzardi „mit behutsambkeit zu verfahren“, um die Lutheraner insgesamt nicht zu verschrecken,408 gab die Berliner Regierung schon rasch zu verstehen, dass man nicht gewillt sei, einer derartigen anti-reformierten Propaganda tatenlos zuzusehen: Schon Ende 1721, also noch vor Abschluss des Vereinigungs-Conclusums, hatte sich Brandenburg-Preußen ebenso wie die Generalstaaten beim Hamburger Rat über einige lutherische Geistliche beschwert.409 Gleichzeitig erreichte Brandenburg-Preußen, dass sowohl auf der Ebene des Niedersächsischen Kreises als auch durch das Corpus Evangelicorum gegen die Hamburger Polemiker vorgegangen wurde.410 Die Prioritäten lagen in Berlin demnach eindeutig auf der Beendigung der konfessionellen Polemik im Allgemeinen und der Angriffe gegen die Reformierten im Besonderen, zumal die lutherischen Autoren immer wieder als Belege für die Arglistigkeit der Reformierten auf die Situation in Pfalz-Zweibrücken, in der Kurpfalz und nicht zuletzt (wenngleich weniger eindeutig) in Brandenburg-Preußen nicht wieder einander predigen sollen“, 10.5.1719); Nr. 107, Sp. 543–546 („Verordnung an die Inspectores wegen der zuhaltenden Catechismus-Predigten, und was dabey zu beobachten, insonderheit wegen der zwischen beyden Evangelischen Religion streitigen Puncten“, 13.11.1720); Nr. 111, Sp. 547–548 („Verordnung, daß weder von denen Evangelischen Lutherischen noch Evangelischen Reformirten Predigern der Disput von der Gnaden-Wahl auf die Cantzel gebracht werden soll“, 21.4.1722). 407 Die zentrale Überlieferung für die brandenburg-preußische Unionspolitik im Rahmen des Corpus Evangelicorum befindet sich im GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 19 d, Fasz. 22–27. Dabei handelt es sich ganz überwiegend um den Kampf gegen anti-reformierte Polemiken – woran sich bereits die Schwerpunktsetzung der Berliner Politik hinsichtlich der Regensburger Unionspläne ablesen lässt. Der Bestand ist ausführlich bearbeitet von Schäufele, Pfaff. 408 Relation von Metternich, Regensburg, 17.3.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 30 a, Fasz. 4. 409 EStC 42, S. 502–507 („Copia des Schreibens / welches Ihro Königl. Majestät in Preussen / ec. wegen der Reformirten und des Pastori Neumeisters in Hamburg / an dortigen Magistrat abgehen lassen“, Berlin, 20.12.1721), S. 508–514 („Copia unterthänigsten Antwort-Schreibens an Ihro Königliche Majestät in Preussen / des Raths der Stadt Hamburg d. d. 20. Januarii 1722 in Materia dicta“), S. 518–524 („Fernerweites Schreiben der Herren General Staaten der vereinigten Niederlande an den Magistrat in Hamburg / in Materia dicta ec. ergangen“, 3.1.1722). In Hamburg stand die anti-reformierte Polemik auch in einem innerstädtischen Zusammenhang, denn die Reformierten besaßen in der Stadt offiziell kein Recht auf öffentliches Religionsexerzitium. In der Praxis hatte sich allerdings dennoch seit ca. 1700 ein ständiges reformiertes Gemeindeleben etabliert, indem die Hausgottesdienste der niederländischen und brandenburg-preußischen Residenten stark ausgeweitet worden waren. Auf Seiten der lutherischen Geistlichkeit erwuchs gegen diese Praxis großer Unmut, der sich auch in der Vergangenheit in Kanzelpolemiken gegen die Reformierten geäußert hatte. Zur Situation der Reformierten und zu den Folgen der Regensburger Unionsverhandlungen in Hamburg vgl. Whaley, Religious Toleration, S. 122–135. 410 EStC 42, S. 536–538 („Copia unterthänigsten Schreibens an Ihro Königliche Majestät von Groß-Brittanien / und Königliche Majestät zu Preussen als Nieder-Sächs. Crayß-Directoribus d. d. 6. Febr. 1722 in vorgemeldter Materia abgelassen“); Schauroth, Sammlung 2, S. 494–495 (Schreiben an den Magistrat zu Hamburg, 13.3.1722), S. 495–496 (Conclusum vom 31.3.1722: „Wegen dem D. Cyprian zu Gotha in der Kirchen-Vereinigungs-Sache“); vgl. Schäufele, Pfaff, S. 253.
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rekurrierten und damit also sowohl die Politik des Corpus Evangelicorum als auch die Kirchenpolitik Brandenburg-Preußens diskreditierten. Dass von Neumeister, Edzardi und anderen nach wie vor die Meinung vertreten wurde, die Ausbreitung der reformierten Konfession im Reich sei durchweg widerrechtlich und auf Kosten der Lutheraner erfolgt, konnte vollends nicht im Interesse Berlins liegen. Die Folgen des ganzen Unionsprojekts konterkarierten mithin einen traditionellen Schwerpunkt der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik, der – vielleicht mehr denn je – darin bestand, die Unterschiede der evangelischen Konfessionen gerade nicht zu betonen. In diesem Sinne agierte Friedrich Wilhelm I. nicht nur gegen die antireformierte Polemik, sondern intervenierte auch in der Schweizer Debatte um die Abschaffung der Formula Consensus Helvetica, wie dies bereits seine beiden Vorgänger getan hatten.411 Das Festhalten an dieser streng-calvinistischen Bekenntnisschrift musste das Ziel einer Befriedung der beiden Konfessionen auch im Reich empfindlich stören, zumal die Schweizer Unionspublizistik im Reich stark rezipiert wurde, und die orthodoxen Lutheraner gerade die Formula Consensus immer wieder als einen Beleg für die wahren Auffassungen der Reformierten anführten.412 Ein weiterer Grund für die distanzierte Haltung Berlins zu den Regensburger Unionsplänen lässt sich mit der Rolle England-Hannovers erklären: Auch und gerade in dieser heiklen Angelegenheit hatte man in Berlin von Anfang an erklärt, nur diejenigen Schritte unterstützen zu wollen, die auch der englische König und Hannoveraner Kurfürst befürworte.413 Aber obwohl die deutschen Unionsbefürworter im Erzbischof von Canterbury einen wichtigen und politisch einflussreichen Fürsprecher besaßen, wurde in Hannover nicht einmal das Vereinigungs-Conclusum ratifiziert.414 Schließlich scheint Friedrich Wilhelm I. zwar persönlich durchaus Interesse an einer Annäherung der beiden evangelischen Konfessionen in Brandenburg-Preußen gehabt zu haben, stand aber, wie erwähnt, der Vorstellung einer reichsweiten Union offenbar von vorneherein skeptisch gegenüber. Tatsächlich hat Friedrich Wilhelm I. innerhalb Brandenburg-Preußens, besonders während der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit, entschieden eine Politik der Annäherung der beiden evangelischen Konfessionen verfolgt.415 Friedrich Wilhelm I. führte damit 411 EStC 42, S. 546–555 („Traduction de la lettre de Sa Majesté Prussienne aux deux Louables Cantons de Zurich et Berne“, 25.2.1721). 412 So bei [Edzardi] Friese, Erwegung; vgl. Schäufele, Pfaff, S. 223. 413 Reskript an Metternich, Berlin, 28.2.1722, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 19 d, Fasz. 22: Metternich wurde angewiesen, hinsichtlich der drei eng miteinander verbundenen Punkte: dem innerevangelischen Verhältnis in der Pfalz, der Unionsfrage sowie beim Vorgehen gegen Cyprian und Neumeister in Abstimmung mit Wrisberg zu agieren. 414 Thompson, Britain, S. 93–94, betont zwar das Engagement Georgs I. in der Pfälzer Religionskrise und auch die große Übereinstimmung von hannoverischen und englischen Interessen, bietet allerdings keine Erklärung dafür, dass das Unionsprojekt trotz der Fürsprache des Erzbischofs von Canterbury weder in England noch in Hannover politische Unterstützung fand. 415 Zur brandenburg-preußischen Kirchenpolitik unter Friedrich Wilhelm I. vgl. nach wie vor Pariset, L’État. Diese äußerst materialreiche und ausführliche Darstellung beinhaltet allerdings z. T. missverständliche Bewertungen; vgl. zur Kritik dieses Werkes Thadden, Hofprediger, S. 146–148.
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die Tradition einer aus- und angleichenden evangelischen Kirchenpolitik seiner Vorgänger fort, setzte allerdings durchaus eigene Schwerpunkte. So erneuerte er nicht nur das Verbot, in Wittenberg zu studieren; 1729 erließ er auch eine Verordnung, nach der alle zukünftigen lutherischen Pfarrer einen Teil ihres Studiums in Halle absolvieren und eine Empfehlung der dortigen theologischen Fakultät vorweisen mussten.416 Reformierte Theologen wurden dagegen angewiesen, aufgrund der dort teilweise gelehrten partikularistischen Gnadenlehre nicht mehr in den Niederlanden bzw. in der Schweiz zu studieren.417 Zudem ließ Friedrich Wilhelm I. zahlreiche neue evangelische Simultaneen einführen und erstellte für die unter ihm neu errichtete Potsdamer Garnisonskirche sogar persönlich das Reglement.418 In den späten Jahren seiner Regierung versuchte Friedrich Wilhelm I. verstärkt, „katholische“ Elemente wie lateinische Evangelien-Gesänge, Messgewänder, Chorhemden und Lichter aus der lutherischen Liturgie zu entfernen. Diese Maßnahmen ließen sich allerdings angesichts des massiven Widerstands der Geistlichen wie der Gläubigen in der Praxis kaum durchsetzen.419 Ebenfalls auf großen Widerstand stieß die schon zu Beginn der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. eingeführte öffentliche Kirchenbuße, die wohl als Versuch interpretiert werden muss, ein Element reformierter Kirchenzucht in die lutherische Landeskirche einzuführen.420 Gleichzeitig bekannte sich Friedrich Wilhelm I. persönlich eindeutig zum lutherischen Gnadenuniversalimus421 und bemühte sich darum, die reformierte Kirche in der Gnadenlehre an das Luthertum anzupassen.422 416
Mylius, Corpus, Teil 1, Abt. 2, Sp. 247–248 („Wiederholte Verordnung, daß keiner zu einer Evangelisch-Lutherischen Pfarre vociret, und introduciret werden solle, welcher nicht in Halle studiret, und ein gut Testimonium von der dortigen Theologischen Facultaet produciren könne“, 15.3.1729). 417 Vgl. die gedruckten Archivalien bei Stolze, Aktenstücke, S. 267–268. Überhaupt bemühte sich Friedrich Wilhelm I., das Theologiestudium an ausländischen Universitäten sowohl für Lutheraner als auch für Reformierte weitestgehend einzuschränken; s. etwa Mylius, Corpus, Teil 1, Abt. 2, Sp. 247–248 („Verordnung, daß keiner zum Pfarr-Ambt zu bestellen, welcher nicht auf Einländischen Universitäten zu letzt studiret“, 1.11.1727). 418 Vgl. Pariset, L’État, S. 243–244; s. a. für eine zeitgenössische Schilderung: Stolze, Kirchenpolitik, S. 266–267. Zur Garnisonskirche in Potsdam vgl. Klingebiel, Pietismus, S. 312; Rogge, Hof- und Garnisonskirche. 419 So wurde etwa das Tragen des Kruzifixes bei Leichenbegräbnissen mit der Begründung verboten, dass „solches wie bekannt, eine aus dem Pabstthum annoch übrig gebliebene ärgerliche Gewohnheit ist …“; Mylius, Corpus, Teil 1, Abt. 2, Nr. 127, Sp. 247–258 („Verordnung an die Inspectores, daß das Crucifix denen Evangelisch Lutherischen Leichen nicht mehr vorge tragen werden solle“, 26.8.1729); vgl. Pariset, L’État, S. 244, 423–425. Aufschlussreiche Akten, die zeigen, dass in diesem Punkt selbst die reformierten Hofprediger zu äußerst behutsamem Vorgehen mahnten, sind abgedruckt bei Stolze, Kirchenpolitik, S. 273–284. 420 Vgl. Klingebiel, Pietismus, S. 310–311; für die entsprechenden Verordnungen vgl. Mylius, Corpus, Teil 1, Abt. 2, etwa Nr. 106, Sp. 203–204 („Verordnung an die Inspectores, wie es mit der öffentlichen Kirchen-Busse gehalten werden solle“, 21.3.1716). 421 Vgl. die Instruktion Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger von 1722 bei Gericke, Glaubenszeugnisse, S. 196–197. 422 Im Jahr 1725 ließ der König alle reformierten Geistlichen auf die universalistische Confessio Sigismundi verpflichten; das Edikt ist abgedruckt bei Gericke, Glaubenszeugnisse, S. 198–201.
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Dass die Regensburger Unionsversuche 1720–1722 in Berlin auch und gerade unter den dortigen Theologen kaum Unterstützung fanden, liegt vermutlich nicht zuletzt in dem großen Einfluss begründet, den der Hallesche Pietismus unter Friedrich Wilhelm I. gewonnen hatte.423 Vieles spricht zudem dafür, dass gleichzeitig der Einfluss der reformierten Hofprediger und namentlich Jablonskis auf konfessionspolitische Entscheidungen seit 1713 deutlich geringer war als noch unter noch Friedrich III./I.424 Obwohl der Pietismus die Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms I. in weiten Teilen mittrug, von ihr auch profitierte und sie unterstützte, lehnten die Berliner wie die Hallenser Pietisten die Union im Kern doch letztlich ab.425 Zwar vermieden es pietistische Lutheraner in Brandenburg-Preußen, die Union – ob auf Reichs- oder Landesebene – offen zu kritisieren; die Bedenken, die sie gegenüber dem König formulierten und, noch mehr, einige Äußerungen in der Korrespondenz zwischen den wichtigsten Vertretern des Halleschen Pietismus verdeutlichen jedoch, wie sehr sich die Pietisten in dieser Frage eindeutig als Lutheraner und damit in Gegensatz und Konkurrenz zu der ebenfalls nach wie vor privilegierten Gruppe der Reformierten sahen.426 Diese Haltung der Pietisten wurde vor allem nach 1725 offenbar, als angesichts des persönlichen Interesses, das Friedrich Wilhelm I. an einer gerade publizierten Unionsschrift gezeigt hatte,427 die Sorge unter den dem Hof nahestehenden lutherischen Theologen umging, der Landesherr könne zur Einführung einer evangelischen Union in Brandenburg-Preußen geneigt sein.428 Zumindest in 423 Zusammenfassend zu Friedrich Wilhelms I. Verhältnis zum Pietismus vgl. Hillerbrand, Religion; aus der älteren Literatur vgl. Deppermann, Pietismus, S. 165–171; Stolze, Friedrich Wilhelm I. 424 Vgl. Neugebauer, Daniel Ernst Jablonskis Spielräume, bes. S. 49–52. Negativ auf Stellung und Einfluss Jablonskis am Hof mag sich auch dessen Verbindung zur „Affaire Klement“ ausgewirkt haben. Im Zuge der Untersuchung gegen Klement war Jablonski Anfang 1719 für einige Monate von seinem Amt suspendiert worden und hatte vom König einen Verweis erhalten; vgl. ebd., S. 52. 425 Dies wird beispielsweise deutlich in einem Brief von Johann Porst (Propst von St. Nicolai in Berlin, später Konsistorialrat und neben Spener der bedeutendste Vertreter des lutherischen Pietismus in Berlin) an August Hermann Francke vom 5.1.1726, abgedruckt bei Delius, Briefwechsel, S. 109–110; vgl. auch mit weiteren Auszügen aus dem Francke-Nachlass: Ders., Berliner Kirchengeschichte, S. 32–36. Zu der zum Teil dezidierten Ablehnung, mit der auch gemäßigte Pietisten den Unionsplänen engegenstanden s. a. die ältere Arbeit von Wotschke, Lampert Gedickes Briefe, bes. S. 108–109. 426 In diesem Punkt unterschied sich der Pietismus in Brandenburg-Preußen ganz maßgeblich vom württembergischen Pietismus, aus dem mit Pfaff und Klemm zwei der wichtigsten Unionstheologen der 1720er Jahre hervorgegangen waren. Die Württemberger Pietisten befanden sich allerdings auch in keiner vergleichbaren Konkurrenzsituation zu den Reformierten wie dies für die Pietisten in Brandenburg-Preußen zutraf. Die Gegnerschaft des Halleschen Pietismus zu den Reformierten wird auch betont von Neugebauer, Daniel Ernst Jablonskis Spielräume, S. 49–54; sowie Marschke, Mish-Mash. 427 Es handelte sich dabei um eine späte, anonyme Unionsschrift Johann Christian Klemms aus Tübingen: [Klemm], Christiani Fratelli. 428 Vgl. Delius, Unionsversuche, S. 91–94. In diesem Zusammenhang hatte sich Jablonski mit seinem Vorschlag, noch einmal in Hannover einen Vorstoß hinsichtlich des Regensburger Vereinigungs-Conclusums zu unternehmen, Gehör verschaffen können. Allerdings erhielt die
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der Ablehnung einer evangelischen Union waren sich die Pietisten und die gemäßig ten Lutheraner in Brandenburg-Preußen mit der lutherischen Orthodoxie also e inig – wenngleich freilich nicht in der Frage, wem die Verantwortung für etwaige unionsfreundliche Tendenzen zuzuschreiben sei.429 Dass das theologisch-kirchliche Klima in Brandenburg-Preußen trotz (oder gerade wegen) der offenbaren Sympathie, die der König persönlich gewissen unionstheologischen Tendenzen entgegenbrachte, in der lutherischen Landeskirche insgesamt unionsfeindlich war, lässt sich auch daran ablesen, dass die wenigen Unionsbefürworter unter den lutherischen Theologen in Brandenburg-Preußen praktisch sämtlich unter Pseudonymen publizierten.430 Die Frage, welche Haltung der Monarch persönlich zum innerevangelischen Verhältnis bzw. zur evangelischen Union um 1722 vertrat, ist, wie schon für Friedrich III./I., auch für Friedrich Wilhelm I. kaum eindeutig zu beantworten.431 So erlaubte Friedrich Wilhelm I. etwa dem Francke nahestehenden und als Feldpropst überaus einflussreichen Lampert Gedicke, 1722 im Zuge der Regensburger Unionsverhandlungen eine Schrift zu publizieren, die darauf zielte, die grundsätzlichen Unterschiede des lutherischen und reformierten Abendmahlsverständnisses zu unterstreichen.432 Als die lutherischen Pröpste Ende 1722, wohl aus Sorge vor konkreten Schritten hin zu einer Union, den König baten, die lutherische Landeskirche besserzustellen und insbesondere unabhängiger von der Einflussnahme der reformierten Hofprediger zu machen, hatten sie damit jedoch keinen Erfolg; der Berliner Regierung auf die entsprechende Anfrage Anfang 1726 erneut eine abschlägige Antwort aus Hannover. Als Begründung dafür, warum man in Hannover das Concusum nicht publiziere, antworteten die dortigen Geheimen Räte: „… welcher gestalt die Uhrsach sothanen Aufschubs darin bestehe, weil Wir bey dermahliger Euren Ex. selbsten mehr als zu wol bekandten Situation der gemüther im Corpus Evangelicorum nicht davohr halten können, daß solche publication, wan schon ein- und andere Ev. Stände dazu resolvireten, den daraus sich promittirenden guten effect, sondern vielmehr dieses nach sich ziehen dörffte, daß die nicht gar zu wol gesinnte Evangelische Mitstände, wan man ohne darüber mit Ihnen zu communiciren, solche publication verfügen wollte, dadurch noch mehr alieniret, mithin zu weiteren dissentionen bewogen werden mögten …“; GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 19 d, Fasz. 24. 429 s. etwa ein Zitat aus dem Briefwechsel zwischen dem Jenaer Professor Hallbauer und Cyprian aus dem Jahr 1739: „Syncretismus ille Borussicus est foetus pietismi, qui eum genuit, et wolfianismi, qui eum perficiet.“; zitiert nach: Wotschke, Lampert Gedickes Briefwechsel, S. 109, Anm. 1. 430 Zur publizistischen Debatte in Brandenburg-Preußen im Anschluss an das Regensburger Vereinigungs-Conclusum von 1722 vgl. Delius, Unionsversuche, S. 88–92; Schäufele, Pfaff, S. 240–241. 431 Vgl. dazu die sehr unterschiedlichen Bewertungen in der Literatur, etwa bei Stolze, Unionspolitik, S. 57–63; Gericke, Glaubenszeugnisse, S. 59–63; Wolff, Glaube Friedrich Wilhelms I. Zur persönlichen Glaubensauffassung vgl. daneben auch Pariset, L’État, S. 65–68. Zur reli giösen Entwicklung Friedrich Wilhelms I. als Kronprinz s. immer noch Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., S. 54–61. 432 Gedicke, Kurtze Erklärung. Dies ist insofern besonders bemerkenswert, als seit 1721 für die Zensur der theologischen Schriften Jablonski zuständig war, der seine Aufgabe explizit in den Dienst der innerevangelischen Verständigung stellte; vgl. Neugebauer, Daniel Ernst Jabolonskis Spielräume, S. 53–54. Zur literarischen Debatte im Anschluss an die Schrift Gedickes vgl. Wotschke, Lampert Gedickes Briefe, S. 107–108.
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König erklärte bei dieser Gelegenheit allerdings demonstrativ – und vermutlich auch vor dem Hintergrund der Regensburger Verhandlungen –, er selbst werde zwar reformiert bleiben, mache aber keinen Unterschied zwischen den evangelischen Konfessionen.433 Für den reichspolitischen Zusammenhang und für die Frage, wie Brandenburg-Preußen sich während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. und unter den Bedingungen einer immer klarer institutionalisierten evangelischen Reichstagspolitik präsentierte, bleibt indessen (besonders im Vergleich zu Friedrich III./I.) folgendes festzuhalten: Sowohl unter Friedrich III./I. als auch unter seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm I. vertrat Brandenburg-Preußen im Innern wie auf Reichsebene eine Konfessionspolitik, die generell eine Annäherung der beiden evangelischen Konfessionen befürwortete. In der evangelischen Schutzpolitik hatte unter Friedrich III./I. die Besserstellung der reformierten Klientel eindeutig Vorrang – was mitunter die grundsätzlich ebenfalls erwünschte Verständigung zwischen Lutheranern und Reformierten konterkarierte. Unter Friedrich Wilhelm I. hatten sich demgegenüber die Prioritäten der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik im Reich dahingehend verschoben, dass nun die (konfessions-) politische Kooperation der Protestanten in Opposition zu Wien im Vordergrund stand. Für eine Stärkung des Corpus Evangelicorum war es allerdings notwendig, vor allem die besitzrechtlichen Streitpunkte zwischen den beiden evangelischen Konfessionen so zu befrieden, dass die theologischen Unterschiede möglichst keinen politischen Sprengstoff entfalteten. Aber schon bald nach Beginn der Unionsdebatte um 1720 war abzusehen, dass das in Regensburg verfolgte Unionsprojekt genau dies bewirkte: Es beförderte den innerevangelischen Konflikt und ließ gleichzeitig die Unterstützung der übrigen evangelischen Höfe, vor allem aber England-Hannovers, schwinden. Und so distanzierte man sich in Berlin rasch von diesen Plänen. Unbenommen von dieser ablehnenden Haltung gegenüber der Union auf Reichsebene blieb aber die Selbstdarstellung der brandenburg-preußischen Reichspolitik und der Kirchenpolitik im Inneren als „tolerant“. Das gilt nicht zuletzt auch für die Präsentation der persönlichen Frömmigkeit des Herrschers, die unter Friedrich Wilhelm I. wesentlich weniger dezidiert reformiert war als unter seinem Vater und insofern als stärker „protestantisch“ im integrativen Sinne charakterisiert werden kann.434 Wenngleich es also kaum möglich ist, historiographisch eindeutige Kausalitäten zwischen den verschiedenen Feldern kirchenpolitischen und reichspolitischen Handelns (oder gar zwischen der Konfessionspolitik und der persönlichen Glaubensauffassung der einzelnen Herrscher) auszumachen, sind diese unterschiedlichen Aspekte von den Zeitgenossen durchaus als zusammenhängend wahrgenommen 433 Die Petition und die königliche Resolution sind abgedruckt bei Stolze, Unionspolitik, S. 63–67. 434 Zur Entstehung des Begriffs „Protestanten“ als ein beide evangelische Konfessionen umfassender Integrationsbegriff in der Frühen Neuzeit vgl. die begriffsgeschichtliche Untersuchung von Witt, Protestanten.
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worden und sind daher – im Sinne der Geschichte als Erklärung vergangener Erklärungen (Clifford Geertz) – auch analytisch nicht klar voneinander zu trennen. Sowohl für die Gegner einer Union als auch für deren Befürworter fungierten die preußischen Könige bzw. Brandenburg-Preußen als wichtige Referenz für das Verhältnis zwischen den beiden evangelischen Konfessionen. Und auch von den preußischen Königen selbst wurde in reichspolitischen Zusammenhängen immer wieder auf ihre tolerante Haltung gegenüber der lutherischen Mehrheit im eigenen Territorium hingewiesen, um auch von den lutherischen Reichsständen als Vertreter der „evangelischen“ Interessen im Reich akzeptiert zu werden. Hinsichtlich der Selbstdarstellung des Monarchen lassen sich allerdings auch gewisse Unterschiede zwischen Friedrich III./I. und Friedrich Wilhelm I. konstatieren: So wurde 1718 in Regensburg ein angebliches Glaubensbekenntnis Friedrich Wilhelms I. verteilt, das in seinem Titel explizit auf die aktuell offene Direktorialfrage im Corpus Evangelicorum Bezug nahm, inhaltlich aber eine Position vertrat, die den Unterschied der beiden evangelischen Konfessionen in einer demonstrativ einfachen Sprache für unerheblich erklärte. Bei dem Credo selbst handelte es sich allerdings um einen Text, der bereits 1690 veröffentlicht worden war, damals als angebliches persönliches Bekenntnis Friedrichs III. Hatte man in Berlin zu jener Zeit noch mit einem offiziellen Dementi auf die Veröffentlichung dieses gefälschten Bekenntnisses reagiert, erhielt der Frankfurter Resident Hecht, als er den Neudruck 1718 mit einer Relation einschickte, keinerlei Weisung, sich von dem Text (und seiner angeblichen Autorenschaft) zu distanzieren.435 Tatsächlich lassen sich vermutlich mehr Übereinstimmungen zwischen diesem Text und den persönlich geäußerten Glaubensauffassungen Friedrich Wilhelms I. finden, als dies für Friedrich III./I. zutrifft. Besonders aus der späteren Regierungszeit sind aus den Gesprächen des Königs mit dem jüngeren Francke und Canstein zahlreiche Äußerungen Friedrichs Wilhelms I. über seine persönliche Glaubensauffassung und seine Sicht auf die Unterschiede zwischen Luthertum und Calvinismus überliefert.436 Bereits im politischen Testament von 1722 hatte Friedrich Wilhelm I. seine Meinung niedergelegt, dass die Lehrunterschiede in den beiden evangelischen Konfessionen nicht heilsentscheidend seien – und hatte die Wahrheitsfrage unter den Protestanten mithin für irrelevant erklärt bzw. die theologischen Debatten als akademisches Gezänk abgetan.437 Bekanntlich besuchte der König auch regelmäßig den lutherischen Gottesdienst und äußerte mehrfach, er ziehe diesen dem reformierten – der 435 Relation von Hecht (Extrakt), Frankfurt, 7.10.1718, GStA PK, I. HA, Rep. 47, Nr. 21; auf die Anfrage Hechts ist keine Stellungnahme aus Berlin überliefert; zu den Verwendungen, die dieses Schriftstück im Laufe der Geschichte fand s. a. Gericke, Glaubenszeugnisse, S. 65–67; sowie das Exkurs-Kapitel am Ende dieser Arbeit. 436 Vgl. etwa die Schilderungen aus den Unterredungen Friedrich Wilhelms I. mit Gotthilf August Francke bei Klepper, König, S. 131. 437 „Wahs die Religion anlanget so bin ich und werde mit Gottes hülfe Reformiret sehlich sterben indeßen bin ich versicherdt das ein Lutterischer der da Gottsehlich wandelt eben so guht sehlich werde als die Reformirte und der unter[sch]eidt nur herrühre von die Prediger Zenckereien …“; zitiert nach Gericke, Glaubenszeugnisse, S. 196.
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besseren Predigten halber – vor.438 Zudem schwächte sich die traditionelle Bevorzugung reformierter Amtsträger in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. deutlich ab.439 Schließlich drückt sich auch in den Schilderungen der letzten Lebenstage Friedrich Wilhelms I. und seiner Beerdigung das religiöse Selbstverständnis des Königs aus: Während der letzten zwei Tage vor seinem Tod waren sowohl ein reformierter als auch ein lutherischer Geistlicher an der Seite des Königs. Die Beerdigung fand schließlich – ein klarer Bruch mit der hohenzollerischen Tradition – in der königlichen Garnisonskirche zu Potsdam statt.440 Die skizzierten Repräsentationen persönlicher Frömmigkeit Friedrich Wilhelms I. trugen sicherlich dazu bei, dass die Herrscherpersönlichkeit und die brandenburg-preußische Politik gegenüber Lutheranern und Reformierten nach innen wie nach außen von den Zeitgenossen durchaus als konsistent wahrgenommen wurden. Sowohl die Darstellung der persönlichen Frömmigkeit des Monarchen als auch die innerevangelische Positionierung entsprachen mithin einer allmählichen Transformation der von Brandenburg-Preußen betriebenen konfessionellen Reichspolitik: von einer dezidiert reformierten Interessenvertretung hin zu einer „evangelischen“ Politik, die kaum oder gar nicht mehr nach der spezifischen Konfessionszugehörigkeit fragte und für die stattdessen noch wesentlich stärker als in den Jahrzehnten zuvor die einende Gegnerschaft zum katholischen Reichsteil die entscheidende Bezugsgröße repräsentierte. Diese graduellen Veränderungen in der Politik und Repräsentation Brandenburg-Preußens gingen freilich wiederum mit der Etablierung einer starken evangelischen Opposition auf Reichsebene einher. Dieser Prozess führte paradoxerweise zumindest zunächst dazu, dass sich Brandenburg-Preußen nicht mehr so eindeutig als Führungsmacht des Corpus Evangelicorum positionierte, wie dies noch unter Friedrich III./I. der Fall gewesen war, und sich zudem wesentlich weniger prononciert zum Anwalt einer evangelischen Union jenseits des eigenen Territoriums machte. 5. Die Reichspolitik Brandenburg-Preußens während der Religions- und Verfassungskrise – Ziele und Prioritäten a) Die reichspolitische Zusammenarbeit mit England-Hannover In Berlin war man spätestens seit Beginn der Religions- und Verfassungskrise streng darauf bedacht, reichspolitisch ausschließlich in Abstimmung mit EnglandHannover zu agieren und die eigene Politik gegenüber den übrigen evangelischen Reichsständen und auch in Wien als untrennbar von jener Georgs I. zu präsentieren. Zu dieser Strategie gehörte, auch angesichts der nach wie vor labilen Stimmung zwischen den beiden evangelischen Konfessionen und der ungeklärten Direkto 438
Vgl. Friedlaender, Berliner geschriebene Zeitungen, S. 318, 527; Frensdorff, Briefe, S. 42. Vgl. Opgenoorth, Ausländer, S. 46–50. 440 Vgl. Hellmuth, Funerals, S. 455–457. 439
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riums-Frage, dass Brandenburg-Preußen im Corpus Evangelicorum tendenziell hinter England-Hannover als Führungsmacht zurücktrat. Nichtsdestoweniger übte Brandenburg-Preußen einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Festschreibung der evangelischen Verfassungsinterpretation aus, insbesondere durch die angesehene Juristische Fakultät der Universität Halle. Die Juristen der Universität Halle und allen voran Christian Thomasius wurden, wie auch schon in der Vergangenheit, so auch nun im Kontext des Religionsstreits, mehrfach von der Berliner Regierung beauftragt, Gutachten oder reichsrechtliche Abhandlungen zu entwerfen. So erhielt Thomasius im Zuge der intensivierten reichsrechtlichen Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Simultaneums441 Anfang 1720 den Befehl, eine eigene Schrift über diese Frage zu verfertigen.442 Die Arbeit wurde, nachdem sie in Regensburg für gut befunden worden war,443 anonym als Satire in Form eines Gesprächs zwischen zwei „katholischen Gelehrten“: einem „ehrlichen Jesuiten“ und einem „vernünftigen Juristen“ (der tatsächlich die evangelischen Positionen vertrat) gedruckt.444 Die vom Corpus Evangelicorum seit Beginn des Religionsstreits durchgängig vertretene Lehre zum Simultaneum wurde in der Folge auch für alle evangelischen Universitäten verbindlich vorgeschrieben.445 Insofern kann die Verfestigung des evangelischen Verfassungsbildes im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts als 441 In der Rechtspublizistik des 18. Jahrhunderts wurde gemeinhin zwischen zwei Formen des Simultaneums unterschieden, dem sogenannten Simultaneum crudum oder crassum, was den Mitgebrauch der Kirchengebäude und häufig auch der Kirchengefälle durch die Konfession des Landesherrn bedeutete, und dem Simultaneum innoxium, bei dem die Kirchengebäude und Einkünfte der (meistens protestantischen) Landeskirche unbehelligt blieben und bei dem der Landesherr lediglich auf eigene Kosten seinen Glaubensgenossen Kirchen erbauen ließ; vgl. Schäfer, Simultaneum, S. 67–69. Die evangelische Rechtslehre musste das Simultaneum grundsätzlich ablehnen, weil eine Differenzierung zwischen Simultaneum crudum und Simultaneum innoxium bedeutet hätte, dass es überhaupt legitime Abweichungen vom Normaljahr gebe; vgl. dazu etwa Moser, Landeshoheit im Geistlichen, S. 667–670. Die beiden wichtigsten protestantischen Schriften zum Simultaneum, die im Kontext des Religionsstreits ab 1719 entstanden, sind folgende: Ungrund des so genannten Simultanei, Regensburg 1720; Ursprung des so genannten Simultanei, Regensburg 1720. Beide Abhandlungen erschienen anonym; als Autor des „Ursprung“ wird gemeinhin der Hannoveraner Reichstagsgesandte Wrisberg angegeben; vgl. Schäfer, Simultaneum, S. 22, Anm. 75; s. a. Relation von Metternich, Regensburg, 8.2.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 30 a, Fasz. 1. Als Verfasser oder zumindest Herausgeber des „Ungrund“ gilt Wolf von Metternich, der Bruder des brandenburg-preußischen Reichstagsgesandten Ernst von Metternich; vgl. Schäfer, Simultaneum, S. 22, Anm. 73. 442 Lehmann, Preussen 1, Nr. 615, S. 682 (Erlass an den Geheimen Rath Professor Christian Thomasius, Berlin 17.2.1720). Thomasius hatte sich bereits in der um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert aktuellen Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Simultaneums anlässlich der Kontroversen zwischen den evangelischen Landständen und dem Bischof von Hildesheim mit dieser kirchen- und reichsrechtlichen Frage befasst; [Thomasius], Anti-Vindiciae; vgl. Schäfer, Simultaneum, S. 18–19. 443 Lehmann, Preussen 1, Nr. 621, S. 684 (Bericht des Gesandten am Reichstag, Graf Metternich, Regensburg, 25.3.1720). 444 [Thomasius], Erdmann, Zweier catholischer Gelehrten. 445 Schauroth, Sammlung 3, S. 539 (Conslusum vom 22.12.1719); für Brandenburg-Preußen: Königlicher Erlass an sämtliche Universitäten in königl. Landen, Berlin, 13.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 30 a, Fasz. 1.
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Wechselspiel zwischen Universitäten und Politik verstanden werden: Die evangelischen Staatsrechtler wirkten maßgeblich an der Entstehung und Ausdifferenzierung des protestantischen Verfassungsbildes mit; umgekehrt wurden sie wiederum durch ihre Landesherren auf die vom Corpus Evangelicorum offiziell vertretenen Grundsätzen verpflichtet.446 Als im April 1720 die erste umfangreiche Reaktion des Kaisers auf die Forderungen des Corpus Evangelicorum in Form eines Kommissionsdekrets Regensburg erreichte, griff man erneut auf den gleichermaßen in reichsrechtlichen Fragen wie (konfessioneller) Polemik ausgewiesenen Thomasius zurück.447 Das kaiserliche Kommissionsdekret sowie die beigefügte kaiserliche Relation waren äußerst scharf formuliert und beinhalteten eine systematische Widerlegung der wichtigsten Rechtsgrundsätze des Corpus Evangelicorum sowie seines verfassungsrechtlichen Selbstverständnisses. Es lassen sich daraus mithin gleichsam ex negativo die Principia evangelicorum ablesen: Karl VI. verurteilte die von den Protestanten als Selbsthilfe gerechtfertigten Repressalien, er bestritt das Recht der evangelischen Reichsstände, sich unter dem Namen eines „Corpus“ zu versammeln und Beschlüsse zu fassen, und erklärte daher auch alle in diesem Rahmen getroffenen Entscheidungen für null und nichtig, da sie sämtlich gegen das kaiserliche Amt gerichtet seien. Besonders hart wurden die protestantischen Gesandten angegriffen, die durch ihr Handeln den Westfälischen Frieden fahrlässig aufs Spiel setzten. Als Modus für die Behandlung der Religionsgravamina lehnte der Kaiser schließlich konsequenterweise die von den Protestanten geforderten Exekutionen ab, bekräftigte dagegen die Notwendigkeit rechtlicher Untersuchungen und stellte die Wiederbelegung der paritätischen, engeren Reichsdeputation von 1704 in Aussicht.448 Die Beantwortung dieses Kommissionsdekrets sollte für die kommenden Monate eine der wichtigsten Aufgaben des Corpus Evangelicorum darstellen.449 Gemeinsam mit Johann Peter von Ludewig und Nikolaus Hieronymus Gundling erhielt Thomasius bereits Ende April 1720 den Befehl, eine Antwort zu verfassen,450 und 446 Bis 1719/20 wurde auch in der evangelischen Publizistik das Simultaneum nicht durchgängig und grundsätzlich abgelehnt; seither aber wurde die in den beiden oben genannten Traktaten niedergelegte Lehre in der evangelischen Staatsrechtslehre praktisch durchgängig vertreten; vgl. Schäfer, Simultaneum, S. 18–20, 23. 447 Relation von Metternich, Regensburg, 18.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 30 a, Fasz. 1, Bl. 44. 448 Pachner von Eggenstorf, Sammlung 4, S. 105–117 (Kaiserliches Kommissionsdekret vom 12.4.1720); s. a. Schauroth, Sammlung 2, S. 641–655; vgl. Borgmann, Religionsstreit, S. 81–83; Biederbick, Reichstag, S. 43–46; Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 255–257; zur Reichsdeputation von 1704 vgl. Kap. B. II. 2. b). 449 Nachdem das Corpus Evangelicorum sich bereits am 14. April gegen die wichtigsten Punkte des Kommissionsdekrets verwahrt hatte, wurde die offizielle Erwiderung erst im November 1720 fertiggestellt; s. Schauroth, Sammlung 2, S. 724–727 (Conclusum vom 14.4.1720); S. 759–808 (Vorstellungsschreiben vom 16.11.1720). 450 Geheime Räte Berlin an die Geheimen Räte Thomasius, Ludewig und Gundling, Berlin, 30.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 1, Bl. 439. Tatsächlich kam es offenbar zu keiner Zusammenarbeit zwischen den genannten Gelehrten; s. dazu die Korrespondenz zwischen
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
zwar ohne „den geringsten zeit-verlust“.451 Dabei sollten die Gelehrten primär diskutieren, inwieweit der vom Kaiser vertretene Verfahrensmodus verfassungsgemäß sei bzw. welche legitimen Mittel den Protestanten zu Verfügung stünden, um ihre Rechte zu wahren.452 Thomasius wurde außerdem seit Beginn des Religionsstreites regelmäßig mit allen in Regensburg sukzessiv veröffentlichten Gravaminasammlungen der Protestanten versorgt, um diese in Gestalt einer weiteren Abhandlung oder eines Anhanges für die genannte Replik zu verwerten.453 Inwieweit die Entwürfe von Thomasius in die offiziellen Äußerungen des Corpus Evangelicorum einflossen oder zumindest Metternich als Vorlage bei den Konferenzen dienten, ist aus den Akten nicht eindeutig zu ersehen. Allerdings scheint Thomasius seinen Auftrag in Bezug auf die erwünschte Beantwortung des Kommissiondekrets recht eigenwillig ausgelegt zu haben, indem er auch in diesem Fall die Form einer Satire wählte.454 Das kaiserliche Kommissionsdekret vom April 1720 hatte keine Zweifel daran gelassen, dass der Kaiser die Verfassungsinterpretation des Corpus Evangelicorum nicht hinnehmen würde; und es waren nach wie vor die in Brandenburg-Preußen verhängten Repressionen, die diese evangelische Verfassungsinterpretation auf eine besonders aggressive Weise symbolisierten bzw. umsetzten. Daher forderte der Kaiser in den Verhandlungen der Folgemonate, die vor allem in Wien stattfanden und durch englische Diplomaten geführt wurden, in erster Linie die sofortige Abstellung der Repressionen – vorher, so machte insbesondere der Reichsvizekanzler Schönborn deutlich, werde man in Wien keine Schritte in Richtung einer Abmahnung der katholischen Fürsten unternehmen.
Thomasius und dem Berliner Geheimen Rat in: GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 266– 267. Zu Gundling und Ludewig vgl. Hammerstein, Jus und Historie, S. 169–265. Zu Halle als führender evangelischer Universität: ebd., S. 148–168; s. a. Deppermann, Voraussetzungen, S. 49–53. 451 Geheime Räte Berlin an die Geheimen Räthe Thomasius, Ludewig und Gundling, Berlin, 29.7.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 223. In diesem Zusammenhang äußerten Ilgen und Knyphausen die so zeitlose wie fatale Meinung: „… und ist es einerley, ob die leute ethliche wochen eher oder später Doctores werden …“. 452 Geheime Räte Berlin an die Geheimen Räte Thomasius, Ludewig und Gundling, Berlin, 30.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 1, Bl. 439. 453 s. das Inhaltsverzeichnis für eine „Species Facti“ in: GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 31, Fasz. 1, Bl. 268–269. 454 So äußerte Metternich die Einschätzung, das Projekt von Thomasius sei zwar „sehr solide, der stylus desselben aber satyrisch“, weshalb Metternich die Schrift vorerst mit dem Hannoveraner Gesandten Wrisberg besprechen wollte; Relation von Metternich, Regensburg, 5.9.1720, ebd., Bl. 26–27, 26. Die fragliche Auftragsarbeit von Thomasius verbirgt sich vermutlich unter dem Titel „Sinceri Gottlieb Freytags eines Pfälzers Schreiben an seinen Bruder in Heidelberg, worinnen der Erste Theil vernünfftiger und unpartheyischer Urtheile eines Holländischen Rechts-Gelehrten über das dieses Jahr zu Regensburg in Druck publicirte Keyserliche Commissions Decret, die Religions-Gravamina betreffend wohlmeinend entdecket wird“. Im GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, befindet sich lediglich eine handschriftliche Ausgabe, auf dem Titelblatt ist allerdings angegeben, die Schrift sei 1720 in Rotterdam gedruckt worden.
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Aus Regensburg hatte Metternich schon im März 1720, also noch vor der Veröffentlichung des Kommissionsdekrets, berichtet, zahlreiche evangelische Gesandte seien der Meinung, man sei dem Kaiser gegenüber doch zu weit gegangen, und man solle die Repressionen eher heute als morgen aufheben, um das Reichsoberhaupt nicht noch mehr gegen die evangelischen Reichsstände einzunehmen.455 Um dieser Meinung entgegenzusteuern, betonte Metternich immer wieder, man dürfe sich keinesfalls von England-Hannover separieren, denn nur auf diese Weise könne man auch die evangelische Front geschlossen halten.456 Die Einigkeit zwischen den beiden evangelischen Kurfürsten-Königen sollte auch durch die gemeinsame Sendung des englischen Sondergesandten Lord C adogan demonstriert werden, der im Frühjahr 1720 auf dem Weg über Berlin nach Wien reiste.457 Cadogan war unter anderem auch mit der Frage der Investituren betraut worden (und in diesem Punkt sollte er sowohl die Interessen Georgs I. als auch diejenigen Friedrich Wilhelms I. vertreten), nicht aber primär mit den Religionsangelegenheiten. Die vorrangigen Aufgaben seiner Mission lagen vielmehr auf dem Gebiet der europäischen Friedenssicherung: der Festigung der Quadrupelallianz, der Italienpolitik Österreichs und der Vorbereitung eines Bündnisses gegen den Zaren.458 Dennoch nahm die Religionsfrage in den Gesprächen mit den kaiserlichen Ministern aufgrund der Aktualität und Brisanz, die das Thema für die Beziehungen des Kaiserhofes sowohl zu England-Hannover als auch zu Brandenburg-Preußen besaß, einen zentralen Platz ein. Die unnachgiebige Haltung, mit der beide Parteien die Frage behandelten, welche Seite im Religionsstreit zuerst einlenken sollte: ob also zunächst die Repressionen aufgehoben werden müssten oder ob dies erst nach den entsprechenden kaiserlichen Schreiben an die wichtigsten Gravantes geschehen sollte, trug schließlich dazu bei, dass Cadogan seine diplomatische Mission ergebnislos beendete.459 An der Sendung Cadogans lassen sich nichtsdestoweniger einige wichtige Aspekte sowohl für die Zusammenarbeit zwischen London / Hannover und Berlin als auch für die Strategie der kaiserlichen Reichspolitik, diese Kooperation nach Möglichkeit zu stören, ablesen. Die gemeinsame Beauftragung Cadogans zeigt zunächst, dass man in London und Berlin gleichermaßen nach wie vor daran interessiert war, in Reichsangelegenheiten – und das hieß vor allem „in Nordicis“ und in der Religionsfrage – nach Möglichkeit uni sono zu sprechen. Wenn überhaupt politischer Spielraum bestand, um auch für Friedrich Wilhelm I. die Investitur mit Stettin zu erreichen, so konnte dies praktisch nur über die Verhandlungsführung durch England-Hannover erreicht werden, zumal man in Berlin keineswegs gewillt war, 455
Relation von Metternich, Regensburg, 14.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 1, Bl. 115–118. 456 s. etwa Relation von Metternich, Regensburg, 15.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 30 a, Bl. 40–41. 457 Vgl. Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 250–251. 458 Vgl. Borgmann, Religionsstreit, S. 97; Naumann, Österreich, S. 45. 459 Vgl. Borgmann, Religionsstreit, S. 87–89; Thompson, Britain, S. 82–85.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
zugunsten der Investituren in puncto Repressionen Zugeständnisse zu machen. Wenngleich Cadogan und Canngiesser immer wieder darauf hinwiesen, dass die Repressionen jedem Fortkommen in der Frage der Investituren im Wege stünden,460 lauteten die Antworten aus Berlin doch immer gleich: Canngiesser solle grund sätzlich Cadogan den Vortritt lassen und sich selbst im Hintergrund halten.461 Die Repressionen wolle man gerne aufheben, aber eben nur, sofern Cadogan auch in der Religionsfrage die Forderungen Berlins bzw. des Corpus Evangelicorum durchsetzen könne, wenn also zunächst die evangelischen Untertanen, vornehmlich in der Pfalz, in Mainz und in Speyer, durch kaiserliche Intervention restituiert würden.462 Tatsächlich war, nachdem das Schiff der Heidelberger Heilig-Geist-Kirche den Reformierten wieder eingeräumt worden war, durch königlichen Erlass im Mai 1720 zumindest der Mindener Dom wieder geöffnet worden – offenbar nicht zuletzt auf Druck Cadogans bzw. Londons.463 Sowohl Canngiesser als auch Metternich reagierten mit Erleichterung auf diese Ankündigung, standen doch beide Diplomaten hinsichtlich der nach wie vor anhaltenden Repressionen unter keinem geringen Druck, da die von Friedrich Wilhelm I. verhängten Maßnahmen nicht nur in Wien, sondern auch in den Augen der meisten evangelischen Gesandten in Regensburg primär Mittel der königlichen Konfessions- und Ständepolitik im eigenen Land waren. So berichtete Metternich, viele Gesandten hätten die Meinung geäußert, „daß weil Euer Königl. Mayt. mit gedachtem Closter [Hamersleben] im Process zu Wien begriffen seynd, man lieber gesehen, wann solches wehrenden Processes mit denen Repressalien wäre verschonet worden …“.464 Obwohl offenbar in Regensburg wie auch in London erhebliche Zweifel an einer Aufrechterhaltung der Gewaltmaßnahmen bestanden, warb Berlin nach wie vor vehement für die abschreckende Wirkung der
460 s. etwa Relation von Canngiesser, Wien, 23.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 1, Bl. 203–208; Relation von Wallenrodt, London, 27.5./7.6.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 2, Bl. 205–206: Cadogan gebe immer wieder zu bedenken, „die retardirte Aufhebung der gäntzlichen Repressalien hielte die Investitursache auf“. Die Investitur sei aber für beide Könige eine „Capitalsache“, die nach Kräften verfolgt werden müsse. „Zwar müße die Religionssache deswegen nicht sacrificiret werden, allein, man müße den Kayser deswegen vor jetzo auch nicht irritiren.“. 461 Reskript an Canngiesser, Berlin, 11.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 2, Bl. 29: „… und approbiren wir in Gnaden, daß Ihr in diesen angelegenheiten Euch bisher nach den Sentimenten des Lord Cadogans gerichtet; Es muß solches allerdings auch noch ferner geschehen, und von Euch deshalb kein pas gethan werden, den Ihr nicht vorhehr mit Ihm consentiret habt.“ Ähnlich lauteten die Anweisungen noch im Juli 1720: Canngiesser solle sich nach wie vor „ganz stille verhalten und nicht die geringste vorstellung oder insinuationes thun, als die Euch Mylord Cadogan an Handt geben und in den Mundt legen …“; GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 2, Bl. 47. 462 Reskript an Canngiesser, Berlin, 11.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 2, Bl. 29. 463 Reskript an Wallenrodt, Berlin, 4.6.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 35. 464 Relation von Metternich, Regensburg, 2.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 2, Bl. 52–55, 53.
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Repressionen.465 Tatsächlich hielt die Berliner Regierung mit dem Hamersleber Sequester bewusst diejenige Zwangsmaßnahme aufrecht, die in Wien am meisten Anstoß erregte. Die brandenburg-preußische Verhandlungsführung lässt sich mithin am ehesten als eine Mischung aus strategischer Zurückhaltung und Delegation der Verhandlungsführung an England-Hannover beschreiben. Die Position des brandenburg-preußischen Residenten in Wien war so schlecht, die diplomatischen Beziehungen zwischen Wien und Berlin derartig angespannt, dass es für die brandenburg-preußische Politik nahe lag, den eigenen Repräsentanten in den Hintergrund treten zu lassen und auf diese Weise diplomatisch wortwörtlich weniger „greifbar“ – und damit weniger angreifbar – zu sein.466 Mit der strikten Weisung an Canngiesser, Cadogan den Vortritt zu lassen und sich in allen Äußerungen bis ins Detail mit ihm abzustimmen, verfolgte man in Berlin einerseits das Ziel, angesichts der eigenen diplomatischen Isolation in Wien überhaupt Verhandlungen führen lassen zu können; andererseits wollte man so aber auch der Gefahr begegnen, dass die in Regensburg demonstrierte Einheit in Wien diplomatisch aufgesprengt und damit über kurz oder lang die von Friedrich Wilhelm I. verfolgte Konfessionspolitik auch nicht mehr als gesamtevangelische Reichspolitik legitimiert werden könnte. Eben diese Einigkeit der beiden großen evangelischen Mächte wurde durch einen so hochrangigen Diplomaten wie Cadogan nochmals unterstrichen. Trotz der ostentativen Einigkeit der beiden norddeutschen Potentiores bestand allerdings gleichzeitig ein immenses Misstrauens-Potential zwischen den jeweiligen Diplomaten. Selbstverständlich gingen schon die reichspolitischen Ziele Hannovers und Brandenburg-Preußens nicht ineinander auf; und die englische Außenpolitik – die Cadogan ja in erster Linie vertrat – musste noch einmal ganz andere Aspekte berücksichtigen, als dies für die Reichspolitik eines evangelischen Reichsfürsten galt. So stellte sich die englisch-hannoverische Position auch für die Zeitgenossen als äußerst wechselhaft dar; und wirklich gingen in dieser Phase die Meinungen zwischen den englischen Ministern und der deutschen Kanzlei bzw. dem Hannoveraner Geheimen Rat offenbar in Bezug auf die politischen Prioritäten weit auseinander.467 465
So in einem Reskript an Wallenrodt, Berlin, 1.6.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 7: „Die Catholische im Reich werden als dann [wenn man die Repressionen aufrechterhielte, R. W.] nicht nur zur abstellung der bisherigen gravamina so viel eher bewogen, sondern auch abgeschrecket werden, denen Evangelischen im reich ein andermahl wieder solche gewalt zu thun …“. 466 Diese Strategie wird auch in einem Bericht Canngiessers deutlich: „… doch umb von der Sache [der Religionssache, R. W.] lieber gar nicht zu sprechen, habe ich nun schon etliche tage den Reichs Vice Canzler, der mich allemahl am meisten gefraget, ob Ew. Königl. Mayt. nicht mehrbesagte Repressalien in Ihren landen bald aufheben würden? mit fleiß evitiret …“. Dies habe Canngiesser „umso leichter tun können“, weil Cadogan derzeit die Reichssachen verhandle; Relation von Canngiesser, Wien, 1.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 2, Bl. 39–42, 41. 467 Dieser Eindruck herrschte offenbar auch bei Wallenrodt vor, der zunehmend Schwierigkeiten hatte, eindeutige Tendenzen nach Berlin zu berichten; so etwa Relation von Wallenrodt, London 12./23.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 2, Bl. 33–34; vgl. auch Borgmann, Religionsstreit, S. 101–108.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Diese unterschiedlichen Vorstellungen wurden aber auch an der Uneinigkeit deutlich, die zwischen dem ständigen englischen Vertreter in Wien, François Louis de Saint- Saphorin,468 und dem Sondergesandten Cadogan herrschte, da ersterer auch in der Vergangenheit für die Hannoveraner Angelegenheiten und insbesondere die Religionsfrage zuständig gewesen war, nun aber durch die Anwesenheit des höherrangigen Sondergesandten in die zweite Reihe rückte.469 Für die kaiserliche Reichspolitik wiederum musste das primäre Ziel im aktuellen Religions- und Verfassungsstreit darin bestehen, die evangelische Front und also die auch in Wien dargestellte Einheit zwischen Berlin und London / Hannover aufzusprengen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der erste Vertreter kaiserlicher Reichspolitik in Wien, der Reichsvizekanzler Schönborn, das grundsätzlich vorhandene Misstrauen zwischen den beiden konkurrierenden norddeutschen Mächten nach Möglichkeit zu schüren versuchte. Diese Strategie lässt sich deutlich aus den zahlreichen Relationen Canngiessers herauslesen, in denen der Resident von den regelmäßigen Audienzen beim Reichsvizekanzler berichtete: So beschreibt Canngiesser immer wieder, wie Schönborn ihm einerseits vorhielt, dass sein König als „tête“ der evangelischen Religionspartei im Reich naturgemäß auch die kaiserliche Ungnade am meisten zu spüren bekäme; gleichzeitig aber, so Canngiesser, habe der Reichsvizekanzler auch sein persönliches Bedauern darüber ausgedrückt, „daß Ew. Königl. Mayt. sich hierin abermahl von dem Churbraunschweigischen Hof nach dessen alten hergebrachten Gewohnheit auf das Eyse führen lassen, wo sie nunmehro wohl alleine das baad würden ausbaden müßen …“.470 Ein ähnliches Zitat Schönborns, ebenfalls aus einer Relation Canngiessers stammend, hat, indem es Eingang in die Literatur fand, auch die historiographische Charakterisierung der brandenburg-preußischen Reichspolitik nachdrücklich geprägt: So habe Schönborn, um das Verhältnis von Hannover und Berlin zu beschreiben, Canngiesser gesagt, dass England-Hannover es mit Preußen mache „wie der Affe mit der Katze, welcher dieser ihre Pfoten gebrauchte, umb die Kastanien aus dem Feuer zu holen“.471 Diese und ähnliche überlieferte Äußerungen des Reichsvizekanzlers472 sind in der Literatur praktisch durchweg für die Charakterisierung der brandenburg-preußi 468
Zu Saint-Saphorin vgl. die ausführliche Darstellung von Gehling, Ein europäischer Diplomat; speziell zu Saint-Saphorins Rolle im Kontext des Religionsstreits: Hantsch, Relationen, bes. S. 625–626; Borgmann, Religionsstreit, S. 15–21, 89–93. 469 Diese Meinung äußerte auch Canngiesser mehrfach in seinen Berichten; er interpretierte die unterschiedlichen poltischen Vorstellungen der beiden Diplomaten allerdings primär als persönliche Rivalität; Relation von Canngiesser, Wien, 29.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 57–59. 470 Relation von Canngiesser, Wien, 13.4.1720, ebd., Bl. 350–352, 352. 471 Zitiert nach Borgmann, Religionsstreit, S. 81; s. a. Naumann, Österreich, S. 52; HaugMoritz, Württembergischer Ständekonflikt, S. 160. 472 s. etwa Relation von Wallenrodt, London, 29.4./10.5.1720, GStA PK, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 2, Bl. 118–120, 118: „… was der Reichs-Vice-Cantzler Gr. von Schönborn E. Königl. Mayt. Residenten in Wien gesaget, wie nehmlich der hiesige Hoff in den Religions-Sachen den Kopf auß der Schlinge ziehen, und E. Königl. Mayt. allein sitzen laßen wollte …“.
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schen Politik bzw. des Verhältnisses zwischen England-Hannover und Brandenburg-Preußen übernommen worden.473 Dabei können die Äußerungen grundsätzlich wohl weder ohne weiteres als authentische Meinung des Reichsvizekanzlers noch als historisch adäquate Beschreibung der politischen Situation interpretiert werden. Vielmehr verfolgte Schönborn mit Bemerkungen dieser Art eine eindeutige politische Strategie, nämlich die sorgfältig aufrecht erhaltene Fiktion der Interessengemeinschaft der beiden großen norddeutsch-protestantischen Mächte zu durchbrechen, um überhaupt wieder nennenswerte Verhandlungsspielräume für die kaiserliche Reichspolitik zu gewinnen. Denn, dessen war man sich in Wien bewusst, mit der Einigkeit zwischen Brandenburg-Preußen und England-Hannover stand und fiel auch die Geschlossenheit des Corpus Evangelicorum und damit dessen Potential zu einer effektiven anti-kaiserlichen Opposition. Nichtsdestoweniger hatte Schönborn mit der Frage, welcher der beiden Monarchen die Folgen der gemeinsamen evangelischen Reichspolitik diplomatisch würde stärker zu spüren bekommen, in der Tat einen sensiblen Punkt der Beziehungen zwischen Hannover / London und Berlin berührt – oder zumindest doch einen Aspekt, den der brandenburg-preußische Resident Canngiesser persönlich ebenfalls als heikel betrachtete. Wenngleich der Resident natürlich in den Audienzen derartigen Darstellungen des Reichsvizekanzlers widersprach und nicht müde wurde, die guten Beziehungen zwischen England-Hannover und Brandenburg-Preußen zu betonen, äußerte er in seinen Relationen nach Berlin durchaus kritischere Gedanken. Es scheine ihm, so schrieb Canngiesser im Mai 1720, dass die Intention des Londoner Hofes darin bestehe, „daß nachdem man Ew. Königl. Mayt. das odium wegen der so genannten Repressalien alhier lange genug allein tragen laßen, der Königl. Groß-Britannische Hoff gerne das etwa noch aus deren Wiederabstellung zu erwartende Meritum Sich zueigenen und den Kayser glauben machen will, daß diese nicht leichtlich geschehen seyn würde, wan Ew. Königl. Mayt. Er nicht dazu disponiret hätte“.474 Es ist allerdings auffällig, dass derartige Misstrauensäußerungen gegen England-Hannover – stammten sie nun vom Reichsvizekanzler oder von Canngiesser persönlich – in Berlin keinerlei schriftlich überlieferten Wiederhall fanden.475 Stattdessen wurden Canngiesser in Wien, Wallenrodt in London und Metternich in Regensburg von der Berliner Regierung geradezu gebetsmühlenartig auf die Einigkeit eingeschworen, die zwischen Brandenburg-Preußen und England-Hannover in der Religionsfrage nach wie vor bestünde und die sie überall nachdrücklich vertreten sollten. Die genannten Diplomaten drangen ihrerseits in Berlin mehr oder weniger deutlich auf eine rasche Aufhebung der Repressionen. Canngiesser wies am nachdrücklichsten darauf hin, wie sehr die anhaltenden Gewaltmaßnahmen die 473
Besonders deutlich wird dies bei Hantsch, Reichsvizekanzler, etwa S. 254. Relation von Canngiesser, Wien, 1.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 2, Bl. 39–42, 41. 475 So erhielt Canngiesser auf die von ihm überbrachten Äußerungen des Reichsvizekanzlers lediglich die Antwort, es handelte sich dabei um „nichts als bloße inventiones …“; Reskript an Canngiesser, Berlin, 27.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 1, Bl. 402. 474
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diplomatischen Möglichkeiten Brandenburg-Preußens einschränkten, mithin seine eigene Arbeit erschwerten: So äußerte er im Mai 1720 die Hoffnung, durch die Verhandlungen Lord Cadogans in der Religionsfrage seine eigene Position zu verbessern und endlich im Stande zu sein, „mich auch einmahl nach vorhero darüber mit wohlgedachtem Mylord gepflogener communication, zu Laxenburg sehen laßen zu können, als wohin ich noch zu Zeit zu gehen darum bedencken getragen, weil bishero der Punct von Abstellung der erwehnten Repressalien, worauf allemahl die ersten Discurse der Kayserl. Ministrorum fallen, noch nicht zu solcher Richtigkeit gelanget ist, daß ich dazu einige zuverläßige hoffnung machen oder deshalb ein besseres accueil als vorhin erwarten dürffte …“.476 Der Resident wies in seinen Relationen mehrfach darauf hin, dass es ihm sehr angenehm wäre, durch die Aufhebung der Repressionen aus jener marginalisierten diplomatischen Position zu entkommen, in der er sich praktisch seit Beginn seiner Arbeit in Wien befand.477 So mag Canngiesser seine Sorge, die englisch-hannoverische Diplomatie werde ihn am Ende auch noch um die Früchte dieser einen positiven Botschaft in seiner bisherigen Wiener Karriere bringen, nicht zuletzt aufgrund seiner persönlichen Situation geäußert haben.478 Denn als gleichsam dauerhafter Repräsentant schlechter Beziehungen und zudem im Schatten der hannoverisch-englischen Minister stehend, konnte Canngiesser praktisch keinen einzigen diplomatischen Erfolg verbuchen. Als Canngiesser im November 1720 endlich die langersehnte Nachricht überbringen konnte, sein König werde die Repressionen aufheben und das Kloster Hamersleben restituieren lassen, handelte er sich denn auch prompt scharfe Kritik von Saint-Saphorin ein: Der preußische Resident biedere sich in unerhörter Weise beim Reichsvizekanzler an, der doch als Hauptfeind der Protestanten gelten müsse.479 In der Historiographie haben Überlieferungen wie die oben zitierten Äußerungen Canngiessers und Schönborns das Bild verfestigt, die brandenburg-preußische Reichspolitik habe sich in dieser Phase durch Ungeschicklichkeit und Unwissen-
476 Relation von Canngiesser, Wien, 25.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 10. 477 So sprach sich Canngiesser im Zuge des Berichts über eine der zahlreichen, äußerst unangenehmen Audienzen bei Schönborn dafür aus, dass man die Repressionen aufheben solle, „woferne E. K. M. sich nicht gar zu sehr bey dem Kayserlichen Hof in die Augen stellen und selbigen in der Muthmaßung, daß es Ihro, wie der Reichsvicekanzler deutlich gesagt haben soll, nicht umb die Religion so sehr als die Religion der Catholischen zu thun sey, noch mehr befestigen wollen …“; ebd. Dabei handelte es sich allerdings offensichtlich um Konsequenzen, die man in Berlin zu tragen bereit war. 478 Canngiesser äußerte in seinen Relationen mehrfach sein Missfallen darüber, im Vergleich zu den englischen Ministern Cadogan und Saint-Saphorin gleichsam in die zweite Reihe gerückt worden zu sein: „Ich werde mich also hierunter [in den Verhandlungen über die Repressionen, R. W.] wohl schlechter dings, in den Willen besagter königl. Englischer Ministrorum, wenigstens bis auf Ew. Königl. Mayt. näheren allergnädigsten Verhaltungs-befehl, schicken müßen …“; Relation von Canngiesser, Wien, 1.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 29, Fasz. 2, Bl. 39–42, 41. 479 s. das entsprechende Zitat bei Borgmann, Religionsstreit, S. 127, Anm. 140.
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heit über das diplomatische Comment ins Abseits manövriert.480 Doch berücksichtigt diese Sichtweise nicht, dass man in Berlin offenbar dazu entschlossen war, die Machtdemonstration, die in der Aufrechterhaltung der Repressionen bestand, möglichst lange fortzusetzen und dafür auch die weitgehende diplomatische Isolation des eigenen Repräsentanten in Kauf zu nehmen – zumal es sich im Falle Canngies sers um einen niederrangigen Diplomaten handelte, dessen Sendung ohnehin sowohl für Berlin als auch für Wien die derzeit schlechten Beziehungen zwischen den beiden Höfen symbolisierte.481 War man also in Berlin geradezu peinlich darauf bedacht, das Bild der Einheit zwischen Brandenburg-Preußen und Hannover-England gegenüber dem Kaiser aufrechtzuerhalten, trat man auch in London Spekulationen, der englische König fühle sich nicht weiter dem evangelischen Religionswesen im Reich verpflichtet, nachdrücklich entgegen. Denn besonders in Regensburg begannen die übrigen evangelischen Gesandten angesichts der Mission Cadogans den politischen Zielen des englischen Hofes immer mehr zu misstrauen, weshalb Georg I. noch einmal in Regensburg zur Geschlossenheit aufrufen und bekräftigen ließ, er selbst kämpfe nach wie vor für die Interessen der Protestanten.482 In Wien sollten die englischen Repräsentanten auf Befehl Georgs I. konkrete Vorschläge für die Behandlung der evangelischen Religionsgravamina verhandeln. Georg I. betonte erneut, dass, sollte der kaiserliche Hof die Religions- und Investiturfrage miteinander „combiniren“, für den englischen Hof die Religion immer den Vorrang haben werde.483 Was den Modus der Abstellung der Religionsgravamina betraf, wollte man sich in London jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht festlegen. Der Kaiser hatte in seinem Kommissionsdekret vom April 1720 dafür die Wiederbelebung der bereits 1704 beschlossenen engeren Reichsdeputation vorgesehen; Georg I. äußerte sich dazu nicht, sondern verwies die Entscheidung an die evangelische Konferenz zurück. Dort zeichnete sich im Frühsommer 1720 allerdings bereits die Meinung ab, sich nicht auf die engere Reichsdeputation einlassen zu wollen, und zwar aus den hergebrachten Gründen, die schon Anfang des Jahrhunderts zum Scheitern eben jener Deputation geführt hatten: Der Kaiser habe schon in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass er den Rijswijker Frieden als verbindlich ansehe, und außerdem würden mit Kurmainz und Kurpfalz zwei der wichtigsten Gravantes als Mitglieder der Deputation agieren.484 Daher verlegte sich das Corpus Evangelicorum immer eindeutiger auf die Forderung, die grundsätzlich strittigen Rechtsfragen, die vor allem die Geltung der 480
Vgl. Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 265–266. Vgl. Kap. E. II. 3. 482 Relation von Metternich, Regensburg, 30.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40 Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 69; vgl. Borgmann, Religionsstreit, S. 106–108. 483 Die Grundsätze der hannoverisch-englischen Konfessionspolitik sind zusammengefasst in: Pro Memoria, o. D. [Juni 1720], GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 108–111. Darin wurden die evangelischen Gravamina nach Dringlichkeit in drei unterschiedliche Gruppen unterteilt. 484 Relation von Metternich, Regensburg, 3.6.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 86–88; zu den Vorgängen des Jahres 1704 vgl. Kap. B. II. 2. b). 481
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Rijswijker Klausel und die Legitimität von Simultaneen betrafen, auf dem Reichstag de corpore ad corpus bearbeiten zu lassen, sprich: unter Ausschluss des Kaisers und unter strenger Beachtung der Verfahrensparität.485 Verhärtete sich demnach einerseits der grundsätzliche Antagonismus zwischen kaiserlich-katholischer und evangelischer Verfassungsinterpretation, artikulierte sich andererseits auch die Missbilligung über die anhaltenden Repressionen innerhalb des Corpus Evangelicorum immer deutlicher. Da die Stimmung in Regensburg mehrheitlich dahin ging, sämtliche Repressionen so rasch wie möglich wieder aufheben zu lassen, sprach sich auch der englische König im Spätsommer schließlich eindeutig und unmissverständlich dafür aus, Friedrich Wilhelm I. möge das Kloster Hamersleben und die übrigen Klöster in Halberstadt restituieren.486 Dennoch sollte der Befehl aus Berlin zur tatsächlichen Aufhebung der Repressionen erst Anfang November erfolgen.487 Zunächst wurde Metternich lediglich angewiesen, im Corpus Evangelicorum zu erklären, dass, sobald eine zufriedenstellende kaiserliche Erklärung erfolge, man ein Conclusum zur Aufhebung der Repressionen verfassen solle, „und werdet Ihr die Sache dergestalt einzurichten wissen, daß gleichwie die Repressalien mit einmühtigem Consens aller Evangelischen stände des Reichs zu verhängen resolviret worden, also auch deren wieder aufhebung auf gleiche art erfolgen möge“.488 In Berlin bemühte man sich also, die Repressionen so lange beizubehalten, wie sich nur irgend die Fiktion aufrechterhalten ließ, dass alle evangelischen Stände hinter diesen Maßnahmen stünden. Gleichzeitig wurde zwischen Wien auf der einen Seite und London, Hannover und Berlin auf der anderen Seite der Streit über die Frage weitergeführt, welche Seite als erste Zugeständnisse machen würde, ob also zunächst die Repressionen aufzuheben oder zuerst die kaiserlichen Dehortatoria an die katholischen Fürsten ergehen müssten.489 Schließlich entschied das Corpus Evangelicorum am 19. Oktober, dass die Repressionen aufgehoben werden müssten,490 und am 2. November erging der Befehl aus Berlin an
485
Relation von Metternich, Regensburg, 29.7.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 2, Bl. 156–157, 157: Die Evangelischen könnten bei einer Deputation nur verlieren, „indem Ca tholici Mittel zu wege haben, wann vota paria in einer Sache sind, jemanden von denen Evangelischen auf Ihre seite zu bringen, und ein Schluß nach ihrer Intention zu machen. Hingegen wann man de corpore ad corpus handelt, müßten Evangelici votiren, wie die majora in Corpore ausgefallen wären, und könnte sich keiner leicht vorführen lassen“. Dieser Meinung schloss sich auch der englische Hof an: Reskript an Wrisberg, London, 17./28.8.1720, ebd., Bl. 41–45. 486 Lehmann, Preussen 1, Nr. 626, S. 687 (Bericht des Gesandten Wallenrodt, Hannover, 7.9.1710); ebd., Nr. 630, S. 688–689 (König Georg I. von England an den König von Preussen, Hannover, 23. 10./ 3.11.1720). 487 Die Kirche von Celle war bereits im Vormonat wieder geöffnet worden; vgl. Borgmann, Religionsstreit, S. 126. 488 Reskript an Metternich, Berlin, 12.10.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 31, Fasz. 1, Bl. 146. 489 Zu diesen Verhandlungen, die sich über den Sommer und Herbst 1720 erstreckten, vgl. ausführlich Borgmann, Religionsstreit, S. 114–128. 490 Schauroth, Sammlung 2, S. 737 (Conclusum vom 19.10.1720).
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den Halberstädter Regierungspräsidenten, die Klöster zu restituieren – allerdings nicht ohne den Hinweis, dass die Restitution weit über dasjenige hinaus gehe, was den Klöstern entsprechend dem Normaljahresstatus zustehe.491 Zudem entschied Friedrich Wilhelm I. persönlich, dass die nicht unerhebliche Summe der so genannten Sequestergelder, also die klösterlichen Einnahmen aus der Zeit der SequesterVerwaltung, einbehalten werden sollten.492 Das symbolische Tauziehen zwischen Wien auf der einen und Berlin und Regensburg auf der anderen Seite, wer zuerst Zugeständnisse machen sollte, war schließlich dergestalt ausgegangen, dass zwar der Prinzipalkommissar in Regensburg erklärt hatte, der Kaiser habe die Dehortatoria an die beklagten katholischen Fürsten versandt; tatsächlich aber hatte der Reichsvizekanzler diese offensichtlich so lange zurückgehalten, bis die Aufhebung der Repressionen offiziell verkündet worden war.493 Diese kleine Verzögerung veränderte das Ergebnis freilich nicht; dennoch besaß sie eine symbolische Dimension, wurde auf diese Weise doch die kaiserliche Autorität gewahrt.494 Doch auch die beiden evangelischen Führungsmächte hatten in Regensburg an diesem sensiblen Punkt noch einmal ein Zeichen gesetzt, indem die dem Prinzipalkommissar gemachte Erklärung die folgenden Wendungen enthielt: Die beiden königlichen Majestäten hätten das kaiserliche Pro Memoria (das die Schreiben an die katholischen Fürsten bekannt machte) „allergnädigst approbieret“ bzw. „allergnädigst zu erkennen geben laßen“, dass der Befehl zur Aufhebung der Repressionen ergangen sei. Diese Ausdrucksweise sorgte insbesondere beim Reichsvizekanzler offenbar für Irritation, weil die beiden evangelischen Führungsmächte damit erneut bewusst den im Reichsverband üblichen Stil verletzt hätten: „… als ob man gar nicht mehr wüßte, daß man von Churfürsten, in welcher qualitaet Euer Königl. Mt. und der König von England auf dem Reichs Tage zu consideriren wären, nicht die Worte allergnädigst, sondern gnädigst gebrauchen müßten …“.495
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Lehmann, Preussen 1, Nr. 628, S. 688 (Erlass an den Präsidenten Hamrath, Berlin, 2.11.1720). Vgl. Peters, Kloster Hamersleben, S. 66. Die während der Sequester-Verwaltung eingenommenen Gelder waren 1720 offenbar direkt an den König überstellt worden. Das geht aus einem Bericht über den Sequester hervor: Bericht der Halberstädter Regierung, Halberstadt, 4.6.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 25 a, Fasz. 4, Bl. 50. 493 Vgl. Borgmann, Religionsstreit, S. 127–128. Als der Reichsvizekanzler den Residenten Canngiesser nochmals mit der zeitlichen Abfolge, in der die Befehle zur Aufhebung der Repressionen bzw. die kaiserlichen Dehortatoria ergangen seien, konfrontierte, erklärte Canngiesser daher auch, „daß ich die angeführte Umstände von nunmehro erst befohlener Ablaßung der terminirten Verordnungen an die immovirende Cathol. Stände, lieber ignoriren wollte …“. Der Prinzipalkommissar habe schließlich erklärt, „daß solche schon vorhin ertheilet seyen […], weil auß dieser Ursache allein die Aufhebung der angegebenen Repressalien Eurer Königl. Mt. eingerathen.“; Relation von Canngiesser, Wien, 16.11.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 31, Fasz. 3, Bl. 122–124, 123. 494 Das betont vor allem Borgmann, Religionsstreit, S. 128. 495 Relation von Canngiesser, Wien, 23.11.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 31, Fasz. 3, Bl.145–146, 145. 492
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Seit Beginn des Konfessionskonflikts um die Kurpfalz hatte Brandenburg-Preußen die Politik verfolgt, die eigenen Maßnahmen und daraus resultierenden Konflikte mit Wien als Teil der gesamtevangelischen Konfessionspolitik im Reich darzustellen. So sollte auf Wunsch der Berliner Regierung das Corpus Evangelicorum auch in der Antwort auf das kaiserliche Kommissionsdekret vom April 1720 explizit die Haltung des Kaisers gegenüber Friedrich Wilhelm I. kritisieren. Man forderte in Berlin nichts weniger, als dass sämtliche evangelische Reichsstände geschlossen „einige ressentiments“ äußern sollten, „daß der Kayser sich in denen […] an Uns abgelassene Schreiben, einer so gar harten und vielleicht noch nie erhörten Art zu schreiben bedient hat“ und dadurch die Ehre eines „Churfürsten und gekröhnten Haubtes“ verletzt habe. Gleichzeitig sollte das Corpus Evangelicorum in diesem Kontext auch darauf hinweisen, dass sich der Kaiser mit der Etablierung eines derart schroffen Stils keinen Gefallen tue, würde die kaiserliche Autorität „durch dergleichen harte brieffe, die doch keinen effect haben könnten, nur vergeblich exponiret …“.496 Daneben sollte nach dem Willen der Berliner Regierung auch der „Krontraktat“ von 1701 in der Antwort an den Kaiser berücksichtigt werden, und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen fänden in diesem Vertrag die Vertretung der evangelischen Reichsstände sowie mögliche Repressionen explizit Erwähnung – wodurch also die Legitimität der Institution und der Bezeichnung „Corpus Evangelicorum“ sowie der „Selbsthilfe“ erwiesen sei. Zum anderen aber sollte auch das Corpus Evangelicorum die bereits mehrfach von Brandenburg-Preußen ins Feld geführte Argumentation übernehmen, wonach der preußische König (Friedrich I.) seinerzeit auf die Nutzung von Repressionen in der pfälzischen Religionsfrage nur unter der Bedingung verzichtet habe, dass der Kaiser die Gravamina zufriedenstellend behandle.497 Das Ziel derartiger Forderungen – die im Übrigen in Regensburg keinesfalls auf ungeteilte Zustimmung stießen498 – bestand darin, die Geschichte der Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaiserhaus „in confessionibus“ gewissermaßen in die Geschichte des Corpus Evangelicorum zu integrieren. Eine solche Darstellung zielte auf eine enge rhetorische Verbindung Brandenburg-Preußens und des Protestantismus im Reich: Sie suggerierte zum einen, dass Brandenburg-Preußen auf eine lange Geschichte pro-evangelischer Reichspolitik zurückblicken konnte, sich gleichsam „schon immer“ beim Kaiser für die Belange der Protestanten eingesetzt hatte; zum anderen beinhaltete sie das Signal an Wien, dass ein Vorgehen gegen den preußischen König in diesem Kontext gleichbedeutend sei mit einem Vorgehen gegen sämtliche evangelische Reichsstände, mithin gegen „den Protestantismus“ im Reich. Im Laufe dieses ersten großen Verfassungskonfliktes im nachwestfälischen Reich nutzte Brandenburg-Preußen immer wieder die Fiktion des ständischen Bündnisses, 496 Reskript an Metternich, Berlin, 15.10.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 31, Fasz. 1, Bl. 162. 497 Relation von Metternich, Regensburg, 4.11.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 31, Fasz. 3, Bl. 45–46. 498 Ebd.
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um in den Reihen der in diesem Corpus vermeintlich gleichberechtigt zusammengeschlossenen evangelischen Reichsstände „unterzutauchen“. Damit folgte die Argumentation mit dem Corpus Evangelicorum freilich einer völlig anderen verfassungstheoretischen Logik als das von Friedrich Wilhelm I. gegenüber Wien so oft beschworene Prinzip der königlichen Souveränität. Das Selbstverständnis und die Legitimation des Corpus Evangelicorum bauten schließlich eindeutig auf dem Verfassungssystem „Reich“ auf, wenn sich auch die evangelische Interpretation des Reichsrechts in entscheidenden Punkten von dem hierarchischen Verständnis des Reichs mit dem Kaiser als oberstem Richter unterschied. Demgegenüber wurzelte die Souveränitätsidee im Völkerrecht, das in den Augen Friedrich Wilhelms I. für das Verhältnis zwischen Wien und Berlin maßgeblich war und das Reichsrecht gewissermaßen ersetzte. Denn nach der „Reichslogik“ war der preußische König als brandenburgischer Kurfürst (wie alle anderen Reichsstände auch) ein Vasall des Kaisers. Diese beiden verfassungsrechtlichen Argumentationen (die evangelisch-ständische auf der einen Seite und die völkerrechtliche auf der anderen Seite) waren streng genommen nicht miteinander vereinbar; dennoch dienten sie demselben politischen Ziel: nämlich Brandenburg-Preußen so weit wie möglich dem Einfluss von Kaiser und Reich zu entziehen. Es war diese grundsätzliche Spannung zwischen hierarchischer Reichsvorstellung hier und der Idee gleichberechtigter Souveräne bzw. der Zurückweisung der kaiserlichen Suprematie dort, die sich speziell in dem Verhältnis zwischen dem Berliner Hof und der Wiener Reichskanzlei niederschlug. Hier prallten die beiden unterschiedlichen Vorstellungen der jeweiligen Würde und der damit verbundenen Rechte besonders heftig aufeinander. Gleichzeitig gab es allerdings auch innerhalb der kaiserlichen Diplomatie Gruppen, die, zumindest in bestimmten Situationen, auch in Reichsangelegenheiten das reichsständische Verhältnis Friedrich Wilhelms I. zum Kaiser weniger stark betonten. Selbst in der äußerst angespannten Situation um 1720 war die „österreichische Partei“ in Wien wohl grundsätzlich geneigter, dem preußischen König in der Frage einer „Diplomatie auf Augenhöhe“ entgegenzukommen. So berichtete der brandenburg-preußische Gesandte in London, Wallenrodt, der sich anlässlich eines längeren Aufenthaltes Georgs I. in dessen Stammlanden im Sommer 1720 ebenfalls in Hannover befand, von Gesprächen mit dem österreichischen Gesandten Graf Starhemberg. In diesen Unterredungen habe Starhemberg hinsichtlich der verfahrenen Situation in der Religionsfrage ein klares Angebot formuliert: Wenn Friedrich Wilhelm I. die Repressionen abstellen würde, könne er mit großem Entgegenkommen des Kaisers in der Religionssache, aber auch in der Investiturfrage sowie der gesamten norddeutschen Reichspolitik rechnen.499 Eine auf diese Weise formulierte Offerte des do ut des stand – zumindest stilistisch – in einem deutlichen Gegensatz zu der Ausdrucksweise, die in den von der Reichskanzlei bzw. dem Reichshofrat stammenden Schreiben in der Religions 499 Starhemberg wurde durch die österreichische Hofkanzlei instruiert und gehörte eindeutig zur österreichischen „Partei Sinzendorff“; vgl. Hughes, Law, S. 185.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
angelegenheit und anderen reichspolitischen Fragen gegenüber dem Berliner Hof verwendet wurde. Deutlicher noch wurde der vergleichsweise verbindliche Ton, den Starhemberg gegenüber Wallenrodt anschlug, durch die Nachfrage des ersteren, ob man denn eigentlich mit dem kaiserlichen Residenten Voss in Berlin zufrieden sei? Damit stellte Starhemberg unmissverständlich in Aussicht, dass man auch in diesem sensiblen und hochsymbolischen Punkt gegebenenfalls Entgegenkommen zeigen und den in Berlin als „Schönbornsche Kreatur“ so verhassten Residenten ersetzen könnte. In Berlin umging man zwar die Religionsfrage mit dem üblichen Verweis auf die Verantwortlichkeit des Corpus Evangelicorum; umso empfänglicher aber zeigte man sich für die durch Starhemberg geweckten Hoffnungen auf eine Abberufung des Residenten Voss: Dieser habe sich seit Beginn seines Aufenthaltes in Berlin durchweg so betragen, „daß Wir zu Ihm nicht die allgeringste confidenz haben, noch zu einer sinceren und beständigen intelligentz mit dem Kaiserl. Hofe zu gelangen, jemahlen Hoffnung schöpfen könnten, wann ged. Voss hier länger bleiben sollte; und würden Wir es dannenher vor eine höchst angenehme probe des Kaysers vor Uns habende intention aufnehmen, wenn Ihre Mt. diesen bey retablierung der intendirten neuen intelligentz zwischen beyden höfen höchstschädlichen Menschen bald von hier rappelliren wollte“.500 Der Resident Voss repräsentierte in Berlin in erster Linie den Reichsvizekanzler Schönborn. Schönborn wiederum repräsentierte, indem er die traditionelle Reichsvorstellung und eine aktive kaiserliche Reichspolitik vertrat, nicht das habsburgische Kaisertum in seiner ganzen Breite. Vielmehr standen Schönborn und seine „Kreatur“ Voss primär oder gar ausschließlich für die Rolle des Kaisers als Reichsoberhaupt, nicht aber für diejenige des Hauses Österreich als europäische Großmacht und damit als fürstliche Dynastie neben anderen europäischen Herrscherhäusern. Diese letztere Facette des Kaisertums wurde am Wiener Hof naturgemäß stärker von der „österreichische Partei“ und den aus ihren Reihen stammenden Diplomaten wie Starhemberg vertreten; und diesen Akteuren fiel es unter Umständen leichter, gegenüber dem Berliner Hof einen diplomatischen Stil zu pflegen, der den Vorstellungen Friedrich Wilhelms I. von einem „königlichen Traktament“ mehr entgegenkam als der von Reichskanzlei und Reichshofrat gepflegte Stylus curiae. b) Der Kampf für eine souveräne Landesherrschaft. Die Auseinandersetzung mit dem Reichskammergericht über die Landesherrschaft im Geistlichen Auch in jenen Bereichen der Reichspolitik, die nicht in direktem Zusammenhang mit der kaiserlichen Suprematie standen, war man in Berlin auf eine möglichst weitgehende Wahrung der landesherrlichen Rechte im Sinne der „Souveränität“ 500 Reskript an Wallenrodt, Berlin, 12.10.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 30, Fasz. 1, Bl. 150–152, 151–152.
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bedacht. Dies wird beispielsweise an der Politik gegenüber dem Reichskammergericht deutlich. Das Verhältnis zwischen dem Gericht und Brandenburg-Preußen hatte sich spätestens seit Beginn des 18. Jahrhunderts merklich verschlechtert, was sich in der häufigen Zurückweisung der von Brandenburg-Preußen präsentierten Assessoren äußerte, seinen tieferen Grund aber wohl primär in den von Berlin nur spät oder unvollständig gezahlten Kammerzielern hatte.501 Nach der Beendigung der Visitation, die unter anderem die Erhöhung der Kammerzieler zum Ergebnis hatte, erklärte Brandenburg-Preußen, die Zahlung seiner erhöhten Beiträge so lange zu verweigern, bis die zahlreichen Moderationsgesuche am Reichstag bearbeitet worden seien.502 Tatsächlich unterstützte Brandenburg-Preußen gleichzeitig jene Reichsstände, die sich mit der Bitte nach Berlin wandten, ihre Moderationsgesuche durch die brandenburg-preußischen Voten am Reichstag sekundieren zu lassen, und untergrub auf diese Weise auch aktiv die finanzielle und personelle Besserstellung des Gerichts.503 Ein kaiserliches Kommissionsdekret, das im Mai 1719 dem Reichstag die Ergebnisse der Reichskammergerichtsvisitation präsentierte, hatte aber neben der Erhöhung der Kammerzieler auch nochmals die vom Corpus Evangelicorum 1713–1715 vertretene Nichtzuständigkeit der Reichsgerichte in evangelischen Kirchensachen scharf zurückgewiesen.504 Als im März 1720 inmitten des Religionsstreits auch der Fall des von der Reichsstadt Wetzlar suspendierten lutherischen Pfarrers Hellmund noch einmal aktuell wurde, drang insbesondere Brandenburg-Preußen darauf, in der Frage der Landeshoheit der evangelischen Stände „in ecclesiasticis“ dem Kaiser bzw. dem Reichskammergericht gegenüber die Principia evangelicorum zu verteidigen.505 Die erste Phase der Differenzen zwischen dem Magistrat der Stadt Wetzlar und einem der lutherischen Stadtpfarrer hatte mit einem Interimsvergleich geendet, der den Geistlichen vorerst in seinem Amt beließ. Dennoch hatte der Magistrat bei der theologischen Fakultät der Universität Straßburg ein Gutachten über die von 501
Von 1701 bis 1703 waren von Brandenburg-Preußen überhaupt keine Kammerzieler gezahlt worden; Friedrich Wilhelm I. ließ 1718 die Zahlungen erneut suspendieren; vgl. dazu und zur brandenburg-preußischen Politik im Kontext der Visitation des Reichskammergerichts: Smend, Brandenburg-Preußen, S. 191–192, 196–199. Friedrich II. führte die rigorose Politik gegenüber dem Reichskammergericht fort; vgl. ebd., S. 194–196. 502 Reskript an Metternich, Berlin, 26.11.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 14, Bl. 183. 503 Etwa im Falle Ortenburgs: Friedrich Wilhelm I. an den Grafen von Ortenburg, Berlin, 20.11.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 14, Bl. 179; oder im Falle des Schwäbischen Kreises: Relation von Metternich, Regensburg, 24.3.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 16; s. a. zahlreiche weitere Belege in den beiden genannten Akten sowie in: GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 13. 504 Pachner von Eggenstorf, Sammlung 4, S. 3–6 (Kaiserliches Kommissionsdekret vom 14.5.1719). 505 Reskript an Metternich, Berlin, 16.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 13, Bl. 58.
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Hellmund vertretene Lehre eingeholt, das im März 1720 ausgefertigt wurde.506 Damit trat die Auseinandersetzung um den Pfarrer Hellmund in eine neue Phase: Das Straßburger Gutachten hatte befunden, dass Hellmund nicht als orthodoxer Pfarrer und Seelsorger zu betrachten sei, und damit die ursprüngliche Absetzung des Geistlichen durch den Magistrat bestätigt. Gegen diesen Spruch der Fakultät reichte Hellmund erneut eine Nullitätsklage beim Reichskammergericht ein, das auch sofort ein Schreiben um Bericht „cum temporali inhibitione“ an den Magistrat erließ.507 Im Zuge dieser Entwicklungen und im Zusammenspiel mit dem kaiserlichen Kommissionsdekret vom Mai 1719 flammte nun der bereits rund sieben Jahre zuvor am Beispiel desselben Falles ausgetragene Streit zwischen dem Corpus Evangelicorum und dem Kaiser bzw. einem Teil der Reichskammergerichtsassessoren wieder auf: ob nämlich dem Kammergericht (und dem Reichshofrat) die Jurisdiktion über evangelische Reichsstände in geistlichen Sachen zustehe – was das Corpus Evangelicorum freilich erneut und grundsätzlich verneinte.508 Die Situation hatte sich allerdings gegenüber 1713/14 insofern verändert, als es angesichts des aktuellen Religionsstreits den evangelischen Reichsständen nun umso mehr darum zu tun war, dem Reichskammergericht keine Gelegenheit zu geben, die Rechtsprechung in einem Fall auszuüben, der so eng mit dem Verfassungskonflikt verbunden war. Hinzu kam, dass, wie schon zu Beginn des Streits um den Pfarrer Hellmund, auch jetzt wieder ein Teil der evangelischen Assessoren der vom Corpus Evangelicorum vertretenen Interpretation entgegentrat und sich dafür aussprach, dass das Reichskammergericht auch in Kirchensachen der Protestanten Nullitätsklagen annehmen dürfe.509 Wohl vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Fall Hellmund in den Jahren 1713/14 wandten sich drei der evangelischen Assessoren, noch bevor das Verfahren am Reichskammergericht erneut aufgenommen wurde, an das Corpus Evangelicorum, um dort dafür zu werben, dass man in diesem äußerst verwickelten Streit tunlichst auf eine gütliche Einigung zwischen den Parteien dringen und es somit nicht auf einen erneuten Grundsatzkonflikt zwischen Reichskammergericht und evangelischen Reichsständen ankommen lassen sollte. Auch machten die Assessoren in ihrem Schreiben deutlich, dass die theologische 506
EStC 40, S. 531–533 („Extract Respons. von der Theologischen Facultät zu Straßburg / worinnen der Pfarrer Hellmund vor inhabil und der Cassation würdig erkannt worden“). 507 Relation von Hofmann (brandenburg-preußischer Prokurator am Reichskammergericht), Wetzlar, 23.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 13, Bl. 62–65; s. a. EStC 40, S. 568–570 („Extract arctioris Inhibitionis von dem Kayserl. Cammer-Gericht zu Wetzlar an dasigen Stadt Magistrat in der Hellmunder Pfarr-Streitt-Sache ergangen, d. d. 12. April 1720“). 508 Die ausführliche Beantwortung des kaiserlichen Kommissionsdekrets vom 24. Mai 1719 ist abgedruckt bei Schauroth, Sammlung 1, S. 286–292 (Vorstellungsschreiben an den Kaiser, 22.5.1720). 509 Schreiben der evangelischen Reichskammergerichtsassessoren an das Corpus Evangelicorum = Beilage zur Relation von Metternich, Regensburg, 18.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 13, Bl. 107–112. Der von Brandenburg-Preußen präsentierte Assessor Christian von Brand lehnte es freilich demonstrativ ab, an den Verhandlungen zum Fall Hellmund teilzunehmen; Relation von Metternich, Regensburg, 12.9.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 14, Bl. 40.
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Frage nach der Orthodoxie der von Hellmund vertretenen Lehre von der juristischen Frage der Rechtmäßigkeit seiner Absetzung aufgrund des Straßburger Gutachtens streng zu trennen sei. Nur die letztere sei für das Reichskammergericht von Interesse; und nur die erstere gehöre in den Bereich der Landesherrschaft im Geistlichen.510 Tatsächlich gestaltete sich der Konflikt noch vielschichtiger und besaß auch für die evangelischen Kammergerichtsassessoren eine wichtige lokale Dimension: So besuchten die lutherischen Assessoren offenbar selbst regelmäßig den Gottesdienst bei Hellmund und hielten die von ihm vertretene Lehre für unbedenklich, den Vorwurf der Heterodoxie mithin für ungerechtfertigt. Die konfessionellen Tendenzen innerhalb des Luthertums spiegelten sich auch im innerstädtischen Gegensatz zwischen Bürgerschaft und Magistrat. Denn die Bürgerschaft stand, anders als der Magistrat, mehrheitlich hinter Hellmund.511 Wies der lokale Konflikt also die typische Mischung aus im engeren Sinne religiösen und politisch-gesellschaftlichen Ursachen auf, betrachtete man in Regensburg die Angelegenheit naturgemäß primär unter dem verfassungsrechtlichen Aspekt. Dass einige prominente evangelische Reichsjuristen von den durch das Corpus Evangelicorum als quasi-offizielle „evangelische Rechtsauffassung“ beschlossenen Prinzipien abgingen, ließ es den evangelischen Gesandten offenbar nur umso wichtiger erscheinen, die in Regensburg vertretene Auffassung in diesem prominenten Fall durchzusetzen, sprich: eine weitere Verhandlung vor dem Reichskammergericht um jeden Preis zu verhindern.512 Daher beschloss die evangelische Konferenz im Frühjahr 1720, den Landgrafen von Hessen-Darmstadt als Schutzherrn von Wetzlar zu ersuchen, den Straßburger 510 EStC 40, S. 547–556 („Memoriale einiger Evangelischen Herren Cameral-Assessoren zu Wetzlar an das Corpus Evangelicorum zu Regenspurg / die zu Beylegung der Hellmundischen Streit-Sache gethane Vorschläge betreffend“, Wetzlar, 5.4.1720). Zu den Unterzeichnern gehörte auch Georg Melchior von Ludolff, der sich bereits im Zuge der Reichskammergerichtsvisitation und in zahlreichen seiner juristischen Publikationen gegen die Rechtsauffassung des Corpus Evangelicorum, die Reichsgerichte dürften in geistlichen Dingen der Protestanten unter keinen Umständen Recht sprechen, gewandt hatte (vgl. Kap. C. I.). 511 Ebd., bes. S. 550–553. Hinzu kam, dass die vom Pfarrer Hellmund vertretene Lehre durch einflussreiche Theologen aus Tübingen und Hanau positiv beurteilt worden war, die Frage seiner Heterodoxie also auch unter lutherischen Theologen durchaus nicht unumstritten war; vgl. ebd., S. 534–538 („Drey Theologische Bedencken […], Woraus erhellet daß Herr Pfarrer Hellmund eines gegen den Grund des Glaubens steigenden Irrthumbs mit Recht nicht könne beschuldiget werden“, o. D.). 512 Diese Auffassung wird deutlich in einem Beschluss des Corpus Evangelicorum vom April 1720: Schauroth, Sammlung 1, S. 767–768 (Conclusum vom 17.4.1720: „In Causa Hellmundina und die circa Jura Ecclesiastica Evangelicorum von dem Cammer-Gericht sich gantz ohnbefugter Dingen hierunter angemaßte Jurisdiction, auch deshalb an des Herrn Landgraffen zu Hessen-Darmstadt Hochfürstl. Durchleucht beschehene Requisition betreffend“), S. 767: „Nun hätte man zwar verhofft, daß vorbenannte Evangelische Herren Assessores bey dem Kayserl. Reichs Cammer-Gericht weitere ganz incompetente proceduren würden verhütet und nicht dabey concurriret, […] es hat sich aber das Widerspiel geäussert, daß nemblich sub praetextu nullitatis und sonsten mit Zuziehung Roemisch-Catholischer Urtheiler, über einer Evangelischen Theologischen Facultät Ausspruch irrige Lehr-Puncten betreffend, weiters die Hand in Evangelische Gerechtsame eingeschlagen …“.
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Rechtsspruch zu exekutieren, mithin Fakten zu schaffen und dadurch jegliches Präjudiz vom Wetzlarer Magistrat – und allen übrigen evangelischen Ständen – abzuwenden.513 Doch der Landgraf zeigte sich gegenüber diesen Vorschlägen äußerst zurückhaltend. Das lag zum einen daran, dass man in Darmstadt offenbar eher mit dem Pfarrer Hellmund und der ihn unterstützenden Bürgerschaft sympathisierte als mit dem Magistrat. Dabei werden sowohl die konfessionelle Ausrichtung als auch grundsätzliche Differenzen zwischen dem Magistrat der Stadt und ihrem Schutzherrn eine Rolle gespielt haben. Zudem hätte der Landgraf sich aber auch durch eine vom Corpus Evangelicorum erbetene Exekution gegenüber dem Kaiser in eine äußerst exponierte Lage gebracht. In Darmstadt vertrat man jedenfalls die Meinung, dass primär der Magistrat mit seiner unversöhnlichen Haltung die Verantwortung für das Präjudiz trüge, das allen evangelischen Reichsstände durch ein erneutes Reichskammergerichtsverfahren in dieser Sache widerfahren würde. Das Ziel müsse demnach viel eher darin bestehen, den Wetzlarer Rat dazu zu bringen, sich mit Hellmund zu vergleichen.514 Auch in Berlin maß man dem Fall Hellmund große Bedeutung bei, und Metternich wurde mit ausführlichem Material versorgt, um mit den übrigen Mitgliedern des Corpus Evangelicorum die Zuständigkeit der Reichsgerichte in geistlichen Sachen auch und gerade „ex capite nullitatum“ zurückzuweisen.515 Die Rechte, welche die evangelischen Landesherren im Geistlichen besäßen, seien den katholischen Reichsständen und dem Kaiser schon lange ein „dorn im Auge“, und es sei daher nicht verwunderlich, „daß man nichts versäume[.], um auch hierin die Gräntzen der Jurisdiction zu erweiteren …“. Unter dem Vorwand von Nullitätsklagen würden die Gerichte nur zu bereitwillig Streitfälle annehmen, die nicht in ihren Zuständigkeitsbereich gehörten, um damit den evangelischen Reichsständen „Ihr höchstes Vorrecht aus den Händen zu spielen“.516 Doch hatte man in Berlin gleichzeitig mindestens ebenso große verfassungspolitische Bedenken, die Exekution einfach einem anderen evangelischen Reichsstand zu übertragen. In den Weisungen nach Regensburg äußerte sich die Regierung sehr kritisch und wies Metternich in diesem Punkt sogar einmal deutlich an, sich von Hannover zu distanzieren, auf dessen Gesandten der Vorschlag einer hessen-darmstädtischen Exekution offenbar zurückging:517 Es sei doch sehr fraglich, ob man dem Corpus Evangelicorum in dergleichen Fällen die Jurisdiktion zugestehen dürfe, und ob es gar dazu bemäch 513 Relation von Metternich, Regensburg, 28.3.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 13, Bl. 68; s. a. Schauroth, Sammlung 1, S. 767–768 (Conclusum vom 17.4.1720). 514 EStC 40, S. 573–582 („Copia Rescripti Ihrer Durchleucht zu Hessen Darmstadt / an Dero Gesandtschafft zu Regenspurg d. d. Darmstadt den 31. May 1720“). 515 Reskript an den Asssessor Christian von Brand, Berlin, 26.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 13, Bl. 129; diese Akte enthält auch zahlreiche weitere Schriftstücke zum Fall Hellmund. 516 Gutachten von Plotho, Seelow, 12.4.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 13, Bl. 89–94, 91. 517 Auch zum Folgenden: Reskript an Metternich, Berlin, 7.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 13, Bl. 143–145.
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tigt sei, das Jus episcopale eines evangelischen Reichsstandes zu ignorieren und einem anderen Reichsstand die Ausübung dieses Rechtes zu gestatten. Zwar fußte gewissermaßen die gesamte Politik des Corpus Evangelicorum genau darauf: nämlich die Interpretation des Reichsrechts für sich zu beanspruchen und – zumindest theoretisch – in bestimmten Fällen sogar Exekutionen zu beschließen (die dann von einzelnen Reichsständen ausgeführt wurden); aber im Wetzlarer Fall handelte es sich eben um einen evangelischen Landesherrn, für dessen Rechte man sich in Berlin offensichtlich sensibler zeigte als für die landesherrlichen Befugnisse katholischer Fürsten. Freilich ging es der brandenburg-preußischen Reichspolitik auch im Fall der Stadt Wetzlar wohl kaum grundsätzlich darum, kleinere Reichsstände vor Übergriffen mächtigerer Territorialherren (welcher Konfession auch immer) zu schützen; aber in diesem Fall hielt man die uneingeschränkte Verteidigung der evangelischen Rechte im Geistlichen für das höhere Gut: „… ob zwar des Landtgraffen Lbd. woll zu gönnen ist, wann Sie Dero über Wetzlar habende Schutz-Gerechtigkeit extendiren können, So ist doch nicht ausgemacht, ob sich diese Schutz-Gerechtigkeit so weit erstrecke […], wie dann auch zu besorgen, daß sich die Bischöffe zu Speyer, zu Worms, auch andere Catholische Reichstände Ihnen an Evangelischen Orten sehr zu nutzen machten mögten, wann das principium etabliret würde, daß ein bloßer Schutz-Herr in Religions Sachen so weit greiffen könnte“.518 Die evangelische Landesherrschaft im Geistlichen anzutasten, und geschähe dies auch „nur“ durch andere Protestanten, berge doch immer die Gefahr, dass auch katholische Fürsten sich derartige Übergriffe gegenüber benachbarten evangelischen Ständen anmaßen könnten. Diese Gefahr aber bestand naturgemäß primär für solche evangelischen Reichsstände, die über katholische Untertanen verfügten – also allen voran für Brandenburg-Preußen. Und tatsächlich stellte die Abwehr bischöflicher Juris diktionsansprüche in den westlichen Gebieten, aber auch in Magdeburg, Minden und Halberstadt ein zentrales Element des herrschaftlichen Selbstverständnisses der Hohenzollern dar.519 Aus diesen Gründen sprach man sich in Berlin mit Nachdruck dafür aus, durch das Corpus Evangelicorum einen Kompromiss zwischen dem Pfarrer und dem Magistrat vermitteln zu lassen. Damit wäre der Rechtsstreit beendet, ohne dass die Wetzlarer Landeshoheit im Geistlichen von irgendeiner Seite (Reichsgerichtsbarkeit oder benachbartem Reichsstand) verletzt worden wäre.520 Auf diese Weise sollte also der ursprüngliche Konflikt zwischen Pfarrer und Obrigkeit gelöst und das Reichskammergerichtsverfahren schlicht obsolet werden. Da einem solchen Vorgehen auch der Landgraf von Hessen-Darmstadt und zumindest einige der evangelischen Reichskammergerichtsassessoren zuneigten, vermochte Brandenburg-Preußen sich offenbar auch im Corpus Evagelicorum durchzusetzen: 518 Reskript an Metternich, Berlin, 7.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 13, Bl. 143–145, 144. 519 Vgl. Kap. D. II. 2. 520 Reskript an Metternich, Berlin, 11.5.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 13, Bl. 147.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Die evangelische Konferenz beschloss, dass der Magistrat den Pfarrer Hellmund nach erfolgter Abbitte wieder zulassen solle.521 Auf den ersten Blick mag der Konflikt um den Wetzlarer Pfarrer Hellmund als ein wenig spektakulärer Fall erscheinen, in dem sich noch dazu zwei evangelische Parteien gegenüberstanden und der nicht einmal vor dem Reichshofrat verhandelt wurde. Trotzdem zeigte gerade die brandenburg-preußische Reichspolitik an diesem Streit großes Interesse und verfolgte nicht nur das Ziel, die Rechtsprechung des Reichskammergerichts in einer „geistlichen Sache“ unter Protestanten zu unterbinden. In Berlin wollte man auch unbedingt verhindern, dass die Landeshoheit im Geistlichen eines evangelischen Reichsstandes durch einen anderen evangelischen Reichsstand verletzt würde. Dabei war es der Berliner Politik sicherlich weniger darum zu tun, die Landeshoheit kleiner Reichsstädte wie Wetzlar zu schützen. Es ging vielmehr darum, einen Präzedenzfall zu verhindern, bei dem sich das Corpus Evangelicorum aktiv an der Verletzung der evangelischen Landesherrschaft im Geistlichen beteiligt hätte – und auf den in der Zukunft auch katholische Reichsstände hätten verweisen können, wenn sie ihre diözesanrechtlichen Ansprüche über katholische Untertanen evangelischer Landesherren durchsetzen wollten. Gerade den brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige mit ihrem expliziten Anspruch auf die umfassende Landeshoheit im Geistlichen über alle in ihrem Territorium vertretenen Konfessionen (Summespiskopat) hätte dies zum Nachteil gereicht. 6. Der Konflikt mit dem Kaiser II: Höhepunkt und Wiederannäherung (ca. 1721–1723) Mit der Aufhebung der Repressionen in Halberstadt hatte Friedrich Wilhelm I. Ende 1720 das zentrale Hindernis für eine Einigung im Religionsstreit sowie für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Wien und Berlin aus dem Wege geräumt. Zumindest war sowohl vom Kaiserhof als auch zunehmend von der Mehrheit der evangelischen Reichsstände das Ende des Hamersleber Sequesters als wichtigste Bedingung für eine Entspannung der Krise bezeichnet worden. Paradoxerweise hatte die Restitution der katholischen Klöster und Kirchen aber zumindest für das Verhältnis Wien – Berlin nicht den erwartbaren positiven Effekt; vielmehr verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaisertum im Verlauf des Jahres 1721 noch weiter. Zu dieser Entwicklung trug unter 521
Relation von Metternich, Regensburg, 8.7.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 14, Bl. 1; Schauroth, Sammlung 1, S. 768 (Conclusum vom 12.8.1720: „Daß der Pfarrer Hellmund nach der dem Magistrat zu Wetzlar vorgängig zu thuenden Abbitte, auch Revocation der ihme aus dem Straßburgischen Responso specifice vorzulegenden puncten von irriger Lehre, und künfftig versichernder Abstehung, bey seinem Priesterlichen Amt zu lassen seye.“); ebd., S. 768–770 (Conclusum vom 9.9.1720: „Des Pfarrers Hellmunds Reversirung betreffend.“). Zum Verlauf der Verhandlungen zwischen dem Pfarrer Hellmund, dem Magistrat, dem Landgrafen von Hessen-Darmstadt und dem Corpus Evangelicorum s. a. die weitere Überlieferung in: GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 14.
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anderem bei, dass der Religionsstreit und insbesondere der schriftliche Schlag abtausch zwischen Berlin und Wien ein entsprechendes publizistisches Echo hervorgerufen hatten. Die kursierenden Berichte spitzten den Religionsstreit offenbar mitunter sehr stark auf ein Kräftemessen zwischen Berlin und Wien zu und richteten sich – je nach konfessioneller Färbung – deutlich gegen Friedrich Wilhelm I. bzw. Karl VI.: In Berlin häuften sich die Berichte über Zeitungen katholischer Provenienz, in denen der preußische König in beleidigenden Worten als Hauptverantwortlicher für die Religionskrise angegriffen würde; umgekehrt beschwerte sich der kaiserliche Resident Voss bei Ilgen über angeblich in Berlin entstandene Berichte, die der kaiserlichen Ehre zu nahe träten.522 Nachdem mit den Dehortatoria an die maßgeblichen der beklagten katholischen Fürsten eine zentrale Forderung der Protestanten erfüllt worden war, bemühte sich die kaiserliche Diplomatie, die einzelnen evangelischen Prinzipalen mit den Angriffen des Corpus Evangelicorum zu konfrontieren, um die Höfe dazu zu zwingen, sich eindeutig zu positionieren und ihre Reichstagsgesandten zur Ordnung zur rufen. Insbesondere die mittlerweile fertiggestellte und überreichte Antwort auf das kaiserliche Kommissionsdekret vom April 1720 wurde in Wien als erneuter Angriff auf die kaiserlichen Rechte gesehen. Hinzu kam, dass das Corpus Evangelicorum Ende 1720 einen eigenen Bevollmächtigten nach Heidelberg geschickt hatte, der dort über die Abstellung der evangelischen Gravamina berichten sollte.523 Mit der Sendung des hannoverischen Gesandtschaftssekretärs Johann von Reck hatten die evangelischen Reichsstände in den Augen sowohl des Pfälzer Kurfürsten als auch des Kaisers die ihnen zustehenden Rechte definitiv übertreten: Karl Philipp konnte sich keinesfalls auf eine derartige Überwachung seiner landesherrlichen Entscheidungen einlassen; der Kaiser aber nahm primär an dem Anspruch des Corpus Evangelicorum Anstoß, als Corpus politicum eigene Gesandte ernennen und instruieren zu dürfen. Zu dieser neuen Provokation kam hinzu, dass die evangelischen Gesandten aus Protest gegen das Kommissionsdekret vom April 1720 nach wie vor die Reichstagssitzungen boykottierten und so den Reichstag beschlussunfähig machten.524 Außerdem war das Corpus Evangelicorum seit 1721 dazu übergegan 522
Relation von Canngiesser, Wien, 4.1.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 289, Bl. 1; Relation von Canngiesser, Wien, 8.5.1721, ebd., Bl. 9–10; s. a. ähnliche Berichte ebd. 523 Schauroth, Sammlung 2, S. 434–435 („Vollmacht vor des Evangelischen Corporis Gevollmächtigten an den Chur-Pfälzischen Hoff, Herrn Rath von Reck“, 11.12.1720). 524 Dieses Thema behandelt eine ausführliche Denkschrift, die als Beilage eines Rekripts an Voss gesandt wurde: Beilage F zum Reskript an Voss, Wien, 14.2.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a, Fasz. 3. Die Denkschrift behandelte allgemein die Frage, wie man gegenüber den evangelischen Höfen in Bezug auf die Religionsfrage argumentieren sollte, und machte deutliche Unterschiede zwischen den großen und den kleineren evangelischen Reichsständen. Die kleineren Reichsstände sollten davon überzeugt werden, dass ein andauernder Widerstand gegen den Kaiser nur „denen mächtigen gleichsamb ein Recht, die wehr und waffen zu einem gantzen praedominat in die hand gebe“, wodurch Preußen und Hannover „denen mittlern oder hülffbedürftigen ständen aber die Reichs-Rechte und der kaiserlichen treu und hülff aus der hand spieleten …“.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
gen, neben der verfahrensparitätischen Aushandlung grundsätzlicher Streitfragen de corpore ad corpus, für alle anderen, nach Meinung der Protestanten unstrittigen Gravamina, die sofortige Exekution vor Ort durch vom Kaiser eingesetzte Lokalkommissionen zu fordern.525 Ziel der Forderung nach Lokalkommissionen war es, sich bezüglich der Normaljahresregelung nicht erst auf Verhandlungen einzulassen und mit dem Kaiser eine eindeutige Instanz zu benennen, die (in den Augen der Protetanten) für die Exekution verantwortlich sein sollte.526 Das Kernstück der evangelischen Forderung nach Lokalkommissionen bestand darin, dass diese vom Kaiser beauftragten Kommissionen, die in der Regel aus den kreisausschreibenden Fürsten bestehen sollten, die Entscheidung, dem nudum factum possessionis entsprechend, sofort und vor Ort vollstrecken sollten, ohne dass dem Kaiser noch Entscheidungsspielraum (und damit die Möglichkeit, eine Entscheidung aufzuschieben) eingeräumt würde. Durch diese Ausgestaltung der Exekution sollten aus Sicht der Protestanten zahlreiche Schwierigkeiten umgangen werden: Es sollte weder um die Besetzung (kreisausschreibende Stände) noch um die Instruktion (weil die Kommissare bereits durch den Westfälischen Frieden selbst und die dem Frieden folgenden Exekutionsbestimmungen ausreichend instruiert seien) Diskussionen geben; die Beschwerden an die Reichsjustiz zu verweisen, sollte unmöglich gemacht werden; damit sollte auch vermieden werden, dass die im Friedensvertrag festgeschriebenen Facta posessionis der Protestanten als der Interpretation bedürftige Rechtsfragen aufgeweicht würden.527 Angesichts dieses nach wie vor konfrontativen Kurses des Corpus Evangeli corum wurde der kaiserliche Resident in Wien, Voss, beauftragt, den Anteil Berlins an diesen neuerlichen Provokationen herauszufinden und Ilgen und Prinzen zu Auszügen des letzten Vorstellungsschreibens der Protestanten Stellung beziehen zu lassen.528 Doch Voss vermochte wenig Konkretes nach Wien zu berichten: Die brandenburg-preußischen Minister hielten sich sehr bedeckt, betonten zwar durchgängig die Einheit des Corpus Evangelicorum, sprächen sich aber gleichzeitig dafür aus, die evangelischen Gesandten zu „aller glimpflichen moderation“ aufzurufen.529 525
s. etwa Schauroth, Sammlung 3, S. 47–60 (Pro Memoria vom 12.9.1721). Zur Entwicklung der juristischen Vorstellungen des Corpus Evangelicorum in der strittigen Frage der Untersuchung bzw. Exekution von Religionsgravamina vgl. zusammenfassend Belstler, Stellung, S. 200–215, zu den Lokalkommissionen bes. S. 207–211. 527 s. etwa Schauroth, Sammlung 3, S. 137–144 (Vorstellungsschreiben vom 9.7.1726); Belstler, Stellung, S. 205–210. 528 Reskript an Voss, Wien, 14.2.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a, Fasz. 3. 529 Relation von Voss, Berlin, 1.2.1721, HHStA, RK, Berlin – Berichte 12 a. Ilgen habe zwar einerseits bekräftigt, „daß die Principales […] zweiffels ohn bey den in der vorstelllung [dem Vorstellungsschreiben, R. W.] behaupteten Principiis beharren, auch die Höffe auch besonders der hiesige sich nicht von dem Corpore Evangelico separiren würden …“. Andererseits habe Ilgen eingeräumt, „daß E. Kayserl. Mt. allerhöchstem Ambte billig der Raum […] gelassen werden müsse […]; [Ilgen] contestirte abseithen des Königs alle Patriotische Moderation und Reichsschuldigkeit auch den Einrath an dessen Neben- und Mitstände, sich in den billigen Schranken zu halten und bathe anbey, nur den hiesigen König, seinen Herren, mit ferneren hart lautenden Rescriptis zu verschonen.“; Relation von Voss, Berlin, 25.1.1721, ebd. 526
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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Trotz dergleichen Beteuerungen, so Voss, laufe doch alles darauf hinaus, dass einer es auf den anderen schiebe „und zu letzt alles generaliter auf das zu Regensburg befindliche Corpus …“.530 Auch in Wien konfrontierte man offenbar den brandenburg-preußischen Residen ten immer wieder mit den Äußerungen des Corpus Evangelicorum, so dass jener sich in Erklärungsnot sah. Daher wurde Canngiesser von Berlin aus recht harsch angewiesen, in Wien keinesfalls weiter die gesamtevangelische Politik zu rechtfertigen und sich „gleichsam zum defensore“ des Corpus Evangelicorum zu machen.531 Vielmehr möge er das Thema überhaupt meiden; wenn aber das Gespräch dennoch darauf käme, so solle er „alles von sich selbst ab- und dem Corpus Evangelicorum zuweisen …“.532 Gleichzeitig wurde Canngiesser befohlen, weiterhin auf dem engen Schulterschluss mit England-Hannover in der Religionsangelegenheit zu beharren und allen Versuchen der Wiener Minister, die beiden evangelischen Kurfürsten-Könige in Gegensatz zueinander zu bringen, abzuwehren.533 Tatsächlich gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Brandenburg-Preußen und England-Hannover in der Reichspolitik nicht nur im Rahmen des Corpus Evangelicorum nach wie vor eng; auch und gerade der gemeinsame Wunsch, die mit den ehemals schwedischen Reichsgebieten verbundenen Rechte wahrzunehmen, einte Hannover und Berlin. Sowohl Georg I. als auch Friedrich Wilhelm I. verlangten vom Kaiser nach wie vor – und nach wie vor erfolglos – die Investitur für Bremen und Verden bzw. für Stettin; umgekehrt forderte der Kaiser von beiden Kurfürsten-Königen vergeblich die Beschickung des Braunschweiger Kongresses und die Beendigung der konfessionellen Oppositionspolitik. Als Hannover angesichts der unnachgiebigen Haltung Wiens 1721 versuchte, die Voten für Bremen und Verden auf dem Reichstag auch ohne vorherige Belehnung auszuüben, unterstützte Brandenburg-Preußen dies nachdrücklich.534 Neben der Stettiner Investitur und der evangelischen Reichspolitik thematisierten die diplomatischen Berichte auch weiterhin die Reichshofratsprozesse sowie die zahlreichen gewaltsamen Werbungen, die brandenburg-preußische Militärs nach wie vor in praktisch allen angrenzenden Territorien und auch auf schlesischem Boden durchführten.535 Der Berliner Hof stellte die schlechten Beziehungen deutlich durch die ostentative Missachtung dar, mit der man die Audienzgesuche des kaiserlichen Residenten bedachte.536 In Wien wiederum wurde die kontinuierliche Weigerung des preußischen Königs, den kaiserlichen Residenten zu empfangen, 530
Relation von Voss, Berlin, 8.2.1721, ebd. Reskript an Canngiesser, Berlin, 7.1.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 32, Fasz. 1. 532 Reskript an Canngiesser, Berlin, 14.1.1721, ebd. 533 Reskript an Canngiesser, Berlin, 11.2.1721, ebd. 534 Relation von Metternich, Regensburg, 13.2.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 79, Fasz. 16; weitere Belege ebd. 535 s. etwa Reskript an Voss, Wien, 18.7.1721, HHStA, RK, Weisungen – Berlin 4 a, Fasz. 1, Bl. 24. 536 Ebd. 531
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
gerade angesichts der vielen Spannungen zwischen den beiden Höfen als besonders verletzend für die kaiserliche Würde aufgefasst. Wohl aufgrund dieser dauerhaften Kommunikationsverweigerung stellte man in Wien im Mai 1721 erstmals Überlegungen an, eine neue, höherrangige Gesandtschaft nach Berlin zu schicken.537 Der Resident Voss nahm diesen Gedanken nur zu bereitwillig auf und begann umgehend, bei Schönborn ernsthaft dafür zu werben, ihn selbst abzuberufen und eine neue kaiserliche Gesandtschaft an den Berliner Hof zu schicken. Offenbar hatte Schönborn sich grundsätzlich offen für derartige Pläne gezeigt,538 so dass Voss in mehreren Relationen ausführlich darlegte, von welcher Beschaffenheit eine solche Gesandtschaft sein müsse, um am Berliner Hof erfolgreich Diplomatie betreiben zu können.539 Es müsse sich dabei in jedem Fall um einen Gesandten „von Distinction“, sprich von höherem Adel handeln. Eine solche Sendung würde sicherlich als ein positives Zeichen in Berlin gedeutet werden; allerdings sah Voss in der Frage des Zeremoniells große Schwierigkeiten. Zwar habe seinerzeit der Graf Virmond als kaiserlicher Gesandter es erreicht, die einem kaiserlichen Gesandten zukommenden Rechte zu weiten Teilen auch tatsächlich auszuüben, also unter anderem als Erster die Visite des führenden Ministers zu empfangen sowie eine öffentliche Audienz beim König mit allen dazugehörigen Ehrenbezeugungen zu erhalten. Und dieser, wie Voss bemerkte, „nicht ohne Mühe erworbene[n] Possession des Kaiserlichen Gesandtschaffts-Ceremonialis“ könne eigentlich am Berliner Hofe auch niemand zu Recht widersprechen. Doch, so gab Voss zu bedenken, die Konjunkturen seien eben schlecht, und am preußischen Hofe müsse man sich in Bezug auf die Behandlung auswärtiger Diplomaten auf fast alles gefasst machen: Man müsse damit rechnen, dass „bey der itzigen verkehrten Welt Arth, die allerbegründeste und wollbefestigte Jura nicht allezeit am ersten gelten“, einem ordentlichen kaiserlichen Gesandten also, ungeachtet seines Ranges, das ihm zustehende Zeremoniell verweigert würde. Unter diesen Bedingungen gab Voss daher zu bedenken, „ob es nicht etwa überhaupt besser sey, einen mit dem Character eines Kaiserlichen Geh. Raths oder eines Kaiserlichen Generalfeldzeugmeisters […], und zwahr ohne einige andere Gesandtschaffts qualität anhero zu schicken und durch selbige ohne weiteren Anstoß und mit ohnzweiffelichen mehrern success die Kaiserlichen Angelegenheiten besorgen zu lassen …“. Einem solch hohen kaiserlicher Amtsträger wäre es möglich, die zeremoniellen Schwierigkeiten zu umgehen, er könnte gleichsam „sich über alle Ceremonien, oder vielmehr selbige unter sich setzen, mit dem Könige und seinen Geheimen Räten freyer und mit mehrer authorität, auch zu hoffender größeren Ehrerbiethung reden, die Kaiserlichen vorrechte mehr geltend ma 537 Reskript an Voss, Laxenburg, 7.5.1721, HHStA, RK, Weisungen – Berlin 4 a, Fasz. 3: Es sei geplant, eventuell einen „Minister von Condition“ an den preußischen Hof zu senden; wegen der schlechten Konjunkturen wurde Voss von Schönborn allerdings angewiesen, darüber derzeit noch nichts verlauten zu lassen und nur geheim darüber zu berichten, ob dem „in Ceremonia libus“ etwas entgegenstünde. 538 Relation von Voss, Berlin, 17.5.1721, HHStA, RK, Weisungen – Berlin 4 a, Fasz. 3. 539 Auch zum Folgenden: Ebd.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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chen …“. Ein Gesandter ohne offiziellen diplomatischen Rang, dessen persönliche Ehre ihm aber den Umgang mit den Ministern und dem König selbst eröffnete, könnte auf diese Weise die bisherigen zeremoniellen Schwierigkeiten umgehen und gleichzeitig weitgehend „informell“ verhandeln. Denn, so klagte Voss, „es ist ansonsten mit dem itzigen praxi des Gesandten Ceremonialis allhier schlecht beschaffen …“: Die fremden Gesandtschaften müssten sich grundsätzlich zunächst bei Ilgen anmelden, der dann den König um offizielle Audienz bitte, die aber überhaupt nur einmalig gewährt würde. Für alle weiteren Gesprächsmöglichkeiten müssten die Gesandten informelle Wege beschreiten: beispielsweise, indem man den König durch den Kammerdiener eine Bitte um Audienz übergebe, worauf dann der König den Gesandten Ort und Stunde wissen lasse. Doch würden solche Bitten nicht eben häufig erfüllt. Öfter fänden sich daher die Gesandten, „wann sie genugsam gelitten“, bei der Parade ein, wo dann theoretisch Gelegenheit bestünde, den König anzusprechen – ein Kommunikationsweg, der allerdings Voss persönlich aufgrund seines niedrigen Ranges niemals offenstand. Aber so seien nun einmal die Sitten am hiesigen Hofe, und der König selbst, so Voss, „hält all dieses nicht für eine Geringschätzigkeit für auswärtige Characteres, sondern vielmehr eine den selben vergönnete facilitaet, Ihn aller Ohrten anzureden“.540 Tatsächlich habe sich der eine oder andere Gesandte dieser ungewöhnlichen Praxis durchaus „eine zeitlang mit gutem Nutzen bedienet …“. Gerade ein hochrangiger kaiserlicher Minister aber könnte nun in diesem bewusst von von höfischem Comment befreiten Kontext „füglich sich nach und nach ein ziemliches heraus nehmen“, auch nicht zuletzt, wenn er zur königlichen Tafel geladen sei, sogleich beim König selbst oder bei der königlichen Familie seinen Platz einnehmen.541 540 Ebd. Die Handhabung des Gesandtenzeremoniells ist von der Forschung zur Hofkultur unter Friedrich Wilhelm I. leider kaum behandelt worden. Eine zeitgenössische (wenngleich höchst tendenziöse) Schilderung unter dem Titel „Der königlich Preußische Hof in Berlin 1718“ bietet: Loen, Des Herrn von Loen, Abschnitt 3, S. 22–39. Zur Berliner Hofhaltung unter Friedrich Wilhelm I. vgl. als Überblick: Hahn, Pracht; Neugebauer, Staatsverwaltung. Hahn und Neugebauer relativieren beide in gewissem Maße das gängige Bild des jeglichen höfischen und kulturellen Glanzes abholden Herrschers insbesondere mit Verweis auf die repräsentative Funktion des Berliner Stadtschlosses. Neugebauer charakterisiert den Umgang mit höfischer Repräsentation unter Friedrich Wilhelm I. als eine Form „fallweise[r] Repräsentation“ im Gegensatz zur permanenten Repräsentation seines Vaters sowie zahlreicher seiner fürstlichen Standesgenossen (Neugebauer, Staatsverwaltung, S. 256). Hahn interpretiert zudem die hohe militärische Präsenz als herausstechende und eigenwillige Form höfischer Selbstinszenierung (Hahn, Pracht, S. 93). 541 Relation von Voss, Berlin, 17.5.1721, HHStA, RK, Weisungen – Berlin 4 a, Fasz. 3. Wie ungewöhnlich der Umgang mit dem diplomatischen Zeremoniell und allgemein üblichen Comment am Berliner Hof unter Friedrich Wilhelm I. war, zeigt besonders deutlich eine Episode aus der frühen Regierungszeit dieses Königs (zum Folgenden: Acta Borussica, Behördenorganisation 2, S. 19–27): Im August 1714 hatte der König (offenbar auf Betreiben Ilgens) eine Ordre erlassen, wonach es den Wirklichen Geheimen Räten künftig verboten sein sollte, mit den am Hof anwesenden auswärtigen Ministern „Umbgang und Conversation in privato“ zu pflegen (S. 21). Auch wurde den brandenburg-preußischen Räten untersagt, auswärtigen Ministern Visiten zu geben bzw. Visiten von jenen anzunehmen. Stattdessen wurde festgelegt, dass die auswärtigen Minister „wann sie etwas anzubringen haben, an den ersten von denen in loco sich befindenden
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Mit dieser Charakterisierung einer zukünftigen Gesandtschaft rechtfertigte Voss implizit auch seine eigene Erfolglosigkeit als langjähriger Resident, die wiederum dem Wiener Hof als Warnung dienen sollte: Wenn der Kaiserhof weiter auf dem für das Verhältnis Kaiser – Reichstand hergebrachten Gesandtschaftszeremoniell bestehen sollte, beschneide er nicht nur die diplomatischen Möglichkeiten seiner Repräsentanten. Der Kaiser riskiere sogar eine noch größere öffentliche Ehrverletzung, wenn einem höherrangigen offiziellen Gesandten eine ähnlich schlechte Behandlung zuteil werden sollte wie dem aktuellen Residenten. Aus diesem Dilemma könne sich nur eine Person befreien, die nicht mit offiziellem Gesandtschafts charakter ausgestattet sei, in Rang und Amt aber unmittelbar auf den Kaiser verweise und zudem von so hohem Adel sei, dass dadurch dem Berliner Hof gegenüber einige Wertschätzung ausgedrückt würde. Es liege nicht zuletzt in Schönborns eigenem Interesse, den Posten des Gesandten am Berliner Hof mit einem treuen kaiserlichen Diener zu besetzen, da „fast handgreifflich wahrzunehmen“ sei, dass der nun wieder losbrechende Sturm über die Religionsfrage „vornehmblich gegen dero höchste persohn als dirigenten des Cantzley styli gerichtet ist“ und sich auch weiterhin primär auf den Reichsvizekanzler richten werde.542 Er, Voss, könne angesichts der momentanen politischen Situation nur wünschen, dass eine Person „von Ansehen“ in Berlin anwesend wäre, die derartigen Angriffen nicht ausschließlich mit (im Übrigen wirkungslosen) Ermahnungen im Reichskanzlei-Stil entgegentreten müsse. Die skizzierten Pläne für eine neue diplomatische Mission sollten sich nicht realisieren – zumindest nicht unmittelbar. Erst Jahre später, als die Verständigung mit Ministris, denen Wir die Respicirung der auswärtigen Affairen anvertrauet, sich adressiren und dasjenige, was sie zu proponiren haben, demselben entweder schriftlich übergeben oder eine Conferenz begehren und in derselben ihren Vortrag ad protocollum thun …“ (S. 22). Hintergrund dieser Verordnung war offenbar der Konkurrenzkampf zwischen Grumbkow und Dohna. Im Dezember 1714 wurde sämtlichen auswärtigen Ministern bekannt gemacht, dass sie künftig nur noch mittwochs vormittags dem Grafen von Dohna Mitteilung machen dürften, wenn sie etwas vorzutragen hätten. Dann sollten die königlichen Konferenzmitglieder nachmittags versammelt werden, und in dieser Runde hätten die Diplomaten dann die Möglichkeit, ihre Anliegen „in conferentz“ vorzutragen (S. 23). Damit sollte den Repräsentanten auswärtiger Höfe jegliche Möglichkeit zum vertraulichen Gespräch mit unterschiedlichen Mitgliedern der brandenburg-preußischen Regierung genommen werden. Diese äußerst ungewöhnliche Regelung führte umgehend zu einem langwierigen Konflikt mit dem kaiserlichen Residenten Voss, der sich weigerte, bei den vorgesehenen Konferenzen zu erscheinen, zumal offenbar auch bei bestimmten Diplomaten Ausnahmen zugelassen wurden, von denen Voss aber nicht profitierte. Daraufhin erklärte der Berliner Hof, dem kaiserlichen Residenten auch – einmal pro Woche – die Möglichkeit zu geben, außerhalb der Konferenz mit Ministern zu sprechen. Nachdem sich der Wiener Hof aber mit diesen Zugeständnissen nicht zufrieden erklärte, gestattete Friedrich Wilhelm I. Voss „aus besonderer vor Ihro Kaiserl. Majestät tragenden Consideration“ wieder freien Zutritt zu allen Ministern (S. 27). Auch für die übrigen Gesandten wurde die Verfügung bereits im Januar 1715 wieder aufgehoben, nachdem sie sich offenbar nicht bewährt hatte. 542 Auch zum Folgenden: Relation von Voss, Berlin, 17.5.1721, HHStA, RK, Weisungen – Berlin 4 a, Fasz. 3.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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Brandenburg-Preußen sehr weit oben auf der politischen Agenda des Kaiserhofes stand, sollte man in Wien schließlich auf dergleiche Überlegungen zurückgreifen – und zwar im Zusammenhang der Missionen des Generals von Seckendorff in den Jahren 1726 bis 1730. Zunächst und in erster Linie aber lesen sich die Vorschläge von Voss als ein Gegenentwurf zu ihm selbst, der bürgerlicher Herkunft war und als Resident einen niedrigen diplomatischen Rang bekleidete, vor allem aber eindeutig als „Kreatur“ Schönborns galt. In Schönborn wiederum sah man auf brandenburg-preußischer Seite den Hauptverantwortlichen für die schlechten Beziehungen zum Kaiser – das sprach man in Berlin offen aus: „Ob zwischen dem Kayser und Uns jemahlen, so lange der Reichs-Vice-Cantzler zu Wien in einem so considerablen posto ist, eine sincere und vollenkommene freundschaft zu stifften seyn werde, daran zweiffeln wir gar sehr …“.543 Aber nicht nur in Berlin wünschte man, dass der Einfluss des Reichsvizekanzlers beschränkt würde. Auch das ausführliche Vorstellungsschreiben, mit dem das Corpus Evangelicorum offiziell das kaiserliche Kommissionsdekret vom April 1720 beantwortet hatte, beinhaltete unverhohlene Angriffe auf die Person des Reichsvizekanzlers, seine Amtsführung und seine Familie.544 Aufgrund seiner Konfession, seines Standes, seiner Familie, seines Amtsverständnisses, der von ihm vertretenen Reichspolitik und der engen Verbindung zwischen Reichskanzlei und Reichshofrat stellte Schönborn für die evangelischen Potentiores, England-Hannover und Brandenburg-Preußen, das zentrale Feindbild am Kaiserhof dar. Schon zu Beginn des Religionsstreits hatte man in Berlin vor einer angeblich geplanten katholischen Liga unter der Führung der Schönborn gewarnt.545 Immer wieder waren Gerüchte im Umlauf, der Reichsvizekanzler besuche die katholischen Höfe im Reich, um dort für Unterstützung gegen die Protestanten zu werben.546 England-Hannover und Brandenburg-Preußen verfolgten im Kontext des Religionsstreits explizit das Ziel, den Kaiser dazu zu bewegen, den Reichsvizekanzler von den Verhandlungen der Religionssachen auszuschließen – zumal Schönborn die Religionsfrage eng an die Frage der Investituren von Bremen, Verden und Stettin gekoppelt hatte und nicht verhehlte, dass er den Trumpf der kaiserlichen Investitur gegen die beiden Kurfürsten-Könige nicht unter Preis aus der Hand geben würde.547 Die Berliner Regierung hatte bereits im Juni 1721 ihren Residenten in Wien, Cann 543
Reskript an Canngiesser, Berlin, 13.2.1721, GStA PK, Rep. 1, Nr. 288, Fasz. 1, Bl. 30. Vgl. Schauroth, Sammlung 2, S. 759–808 (Vorstellungsschreiben vom 16.11.1720), bes. S. 760–761, 771, 787; dabei wandten sich die Protestanten auch explizit gegen den Mainzer Erzkanzler, den Onkel des Reichsvizekanzlers (ebd., S. 788–789). 545 Reskript an Wallenrodt, Metternich, Hecht und Burchard, Berlin, 13.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28, Fasz. 1, Bl. 157; Relation von Wallenrodt, London, 22.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28., Fasz. 2, Bl. 199–202. 546 s. etwa Relation von Hecht, Heidelberg, 24.1.1720, ebd., Bl. 25–26. 547 Reskript an Metternich, Berlin, 27.1.1720, GStA PK, I. HA, Rep. 40, Nr. 28., Fasz. 1, Bl. 278; dort findet sich die Weisung an Metternich, im Corpus Evangelicorum ein entsprechendes Schreiben an den Kaiser zu verfertigen, „umb des Reichs-Vice-Cantzlers vor die Evange lische Reichsstände habende böse intention mit lebendigen farben vorzustellen …“. 544
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
giesser, angewiesen, er solle mit den dort anwesenden englischen Ministern überlegen, ob man nicht unter Hinzuziehung der Feinde Schönborns am Wiener Hof dem Reichsvizekanzler schaden könne. Zu der England-Hannover und Branden burg-Preußen gemeinsam betreffenden und nach wie vor ungeklärten Frage der Investituren kam noch hinzu, dass die Nachfolge Schönborns als Fürstbischof von Bamberg bevorzustehen schien; ein reichsfürstlicher Titel aber hätte den Einfluss des Reichsvizekanzlers in Wien (und im Reich) nochmals gesteigert.548 In dieser Situation erließ der Kaiser Anfang August 1721 zwei Dekrete wegen der Investituren für Bremen und Verden bzw. Stettin,549 nachdem Friedrich Wilhelm I. zuvor angekündigt hatte, die Huldigung in Stettin auch ohne vorherige Belehnung durchführen zu lassen, was am 10. August dann auch wirklich geschah.550 Die Dekrete verdeutlichen noch einmal, in welchem Maße die Reichskanzlei die Investituren dazu gebrauchen wollte, um von Brandenburg-Preußen und England-Hannover reichspolitische Zugeständnisse einzufordern: In beiden Resolutionen wurde als erste Bedingung genannt, dass sich Georg I. und Friedrich Wilhelm I. im Gegenzug für die Belehnungen darauf verpflichten müssten, als Direktoren des Niedersächsischen Kreises wieder Kreistage auszuschreiben und so diesen seit Jahrzehnten praktisch darniederliegenden Reichskreis wieder zu aktivieren. Weiterhin entsprachen sich beide Resolutionen in der Forderung an die Landesherren, die Rechte und Privilegien der neu erworbenen Gebiete zu schützen bzw. diejenigen Neuerungen, die unter der schwedischen Regierung, dem Reichsrecht zuwider, eingeführt worden waren, wieder rückgängig zu machen.551 Nur dem Dekret wegen Stettin war ein zusätzliches Pro Memoria angehängt, in dem der Kaiser weitere Bedingungen finanzieller Art aufführte, die vor allem die diversen brandenburg-preußischen Zahlungsrückstände aufführten: die Türkensteuer, die Beiträge für die Instandhaltung der Reichsfestungen, den Kammerzieler usw.552 In einem weiteren zentralen Punkt unterschied sich das Dekret für Friedrich Wilhelm I. von demjenigen, das sich an Georg I. richtete: Die Resolution über die Belehnung mit Stettin führte als zweiten Punkt die Bedingung auf, „daß der 548 Reskript an Canngiesser, Berlin, 1.6.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 290, Bl. 1; vgl. Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 266–267. 549 Auch zum Folgenden: „Copia Kayserl. Decreti an den Freyherrn von Huldenberg, alß Chur-Braunschweig-Lüneburg. Abgesandten am Kayserl. Hoff wegen 3 puncten, welche vor d. Brem- und Verdischen belehnung abzuthun sind“, Wien, 10.8.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a, Fasz. 3, Bl. 8–13; „Copia Decreti Caesarei An den Königl. Preuss. und Chur Brandenburg. Residenten am Kayserl. Hoff Conrad Cannengiesser wegen der puncte, welche vor der Stettinischen Belehnung abzuthuen“, Wien, 10.8.1721, ebd., Bl. 14–17. 550 Reskript an Voss, Wien, 2.8.1721, HHStA, ebd., Bl. 19–20. 551 Dies galt insbesondere für die Zollrechte und die städtischen Privilegien Bremens; „Copia Kayserl. Decreti an den Freyherrn von Huldenberg, alß Chur-Braunschweig-Lüneburg. Abgesandten am Kayserl. Hoff wegen 3 puncten, welche vor d. Brem- und Verdischen belehnung abzuthun sind“, Wien, 10.8.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a, Fasz. 3, Bl. 8–13, 9–10. 552 „Pro Memoria“, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a, Fasz. 3, Bl. 18.
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König und Churfürst den gesambten clerum des fürstenthumbs Halberstadt, und zu förderist das Closter Hamersleben mit allen von Zeit der dorten neüerlich unbefugter weise […] unternohmenen allerdings ohnzulässigen Repressalien […] so wohl an Ihrer Religion alß güther herkommen und freyheiten gantz ungekräncket lassen [solle] …“.553 Dem König wurde auferlegt, über diese Punkte „nebst der gehorsambsten Reichs-Ständischen Schuldigkeit“ dem Kaiser eine schriftliche Versicherung zu geben. Sollte Friedrich Wilhelm I. dagegen aber rechtliche Einwände geltend machen wollen, so verpflichte sich der Kaiser seinerseits, eine eigens für die Differenzen zwischen dem katholischen Klerus in Halberstadt und seinem Landesherrn zu bildende Kommission in Wien einzuberufen, um die strittigen Punkte zu klären. Vor dieser Kommission sollten beide Teile gehört werden; dem abschließenden kaiserlichen Votum aber sollten „ohne fernere wiederrede beyde theile in allen stücken zu befolgen verbunden seyn, wozu der König als Churfürst zu brandenburg sich auch von nun an […] verbindlich machen solle …“.554 Die übrigen Punkte bezogen sich entweder direkt auf diejenigen Territorien, um deren Belehnung es ging, also um die Respektierung des Reichsrechts und der spezifischen Privilegien, Zollbestimmungen etc.; oder aber sie betrafen, insofern die vom Kaiser gestellten Bedingungen die Verpflichtungen Brandenburg-Preußens und Hannovers als kreisausschreibende Fürsten ansprachen, die fraglichen Gebiete jedenfalls indirekt, da diese sämtlich zum Niedersächsischen Reichskreis gehörten. Dagegen standen die kaiserlichen Forderungen an Friedrich Wilhelm I. wegen des Halberstädter Klerus völlig für sich. Die Tatsache, dass dieses Thema in die Resolution nicht nur aufgenommen worden war, sondern sogar einen derart zentralen Platz einnahm, belegt noch einmal, in welch hohem Maße die Behandlung der Halberstädter Katholiken im Allgemeinen und die Repressionen gegen Hamersleben im Besonderen als Belastung des Verhältnisses zwischen Berlin und Wien wahrgenommen wurden. Freilich stellte die anti-katholische Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms I. nur einen der vielen Gründe für die zahlreichen Prozesse des Königs am Reichshofrat dar. Beispielsweise hatten Kaiser und Reichshofrat ja auch im Falle der Allodifikation der Lehen die Landstände in ihrem Widerstand gegen die Pläne ihres Landesherrn unterstützt.555 Aber die Repressionen standen eben nicht nur für den Versuch, Appellationen an die Reichsjustiz flächendeckend zu unterbinden, mithin die Verbindung zwischen Landständen und dem Kaiser als ihrem „obersten Herrn“ möglichst zu durchtrennen; es handelte sich vielmehr um wesentlich anti-kaiserliche Maßnahmen, und zwar in zweifachem Sinne: Zum einen richteten sich die Repressionen gegen den Kaiser als Schutzherrn der katholischen Kirche im Reich; zum anderen aber und wichtiger noch handelte es sich bei diesen Maßnahmen gewissermaßen um eine öffentliche Demontage des kaiserlichen 553
„Copia Decreti Caesarei An den Königl. Preuss. und Chur Brandenburg. Residenten am Kayserl. Hoff Conrad Cannengiesser wegen der puncte, welche vor der Stettinischen Belehnung abzuthuen“, Wien, 10.8.1721, ebd., Bl. 14–17, 15. 554 Ebd., Bl. 15–16. 555 Vgl. Kap. D. II. 3. b).
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Amtes. Der preußische König wies, indem er gleichsam anstelle des Kaisers agierte, unmissverständlich auf einen Punkt der kaiserlichen Reichspolitik hin, an dem der Kaiser – zumindest in den Augen der meisten Protestanten – sein Amt nicht gerecht und parteilos ausübte; gleichzeitig aber demonstrierte er mit der langen Aufrechterhaltung der Repressionen und den nach wie vor einbehaltenen Sequestergeldern nachdrücklich die Machtlosigkeit sowohl seiner eigenen Landstände als auch des Kaisers, ihres Schutzherrn. Auch die Ankündigung, ohne vorherige kaiserliche Investitur die Huldigung in Stettin durchführen zu lassen, sollte freilich nichts anderes als die eigene Souveränität und Unabhängigkeit von der Lehenshierarchie des Reiches demonstrieren; doch belegen die langanhaltenden Auseinandersetzungen über die Investituren zwischen Wien einerseits und London / Hannover bzw. Berlin andererseits, dass im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts dem Kaiserhof mit diesem Bereich des Lehnswesens durchaus noch ein reales Druckmittel zur Verfügung stand.556 Das kaiserliche Reskript bezüglich der Investitur Stettins scheint denn auch der unmittelbare Anlass für jene Auseinandersetzung zwischen dem brandenburgpreußischen Residenten in Wien, Canngiesser, und dem Reichsvizekanzler Schönborn gewesen zu sein, in deren Folge die diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und Wien zwischenzeitlich abgebrochen wurden.557 Die zahlreichen, über Jahre hinweg angesammelten Differenzen zwischen Friedrich Wilhelm I. und dem Kaiser kulminierten gleichsam in diesem Zusammenstoß ihrer beiden Repräsentanten. Naturgemäß bestehen in Darstellung und Deutung dessen, was sich zwischen Canngiesser und Schönborn in der Audienz am 29. August 1721 ereignete, in den jeweiligen Überlieferungen aus Berlin und Wien große Unterschiede. Dem Wiener Konferenzbericht über das folgenreiche Gespräch liegt die Darstellung Schönborns zugrunde; die Berliner Akten stützen sich dagegen maßgeblich auf die Relation Canngiessers vom 3. September 1721. Die jeweiligen Schilderungen und Interpretationen flossen allerdings auch in die inoffiziellen Darstellungen ein, die von diesem Ereignis in Regensburg zirkulierten. Und auch die ältere Historiographie
556
Vgl. dazu die Analyse für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider, S. 293–297. 557 Unterm 2. August berichtete Canngiesser davon, dass er den Reichsvizekanzler in seiner Audienz nach dem Stand der kaiserlichen Entscheidung über die Investituren gefragt, jedoch keine Auskunft erhalten habe; Relation von Canngiesser, Wien, 2.8.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Bl. 8–10. Auch laut der Darstellung des auf der Schilderung Schönborns fußenden Wiener Konferenzberichts begann das Gespräch zwischen Canngiesser und dem Reichsvizekanzler am 29. August 1721 damit, dass der Resident sich im Namen seines Königs über das gerade ergangene kaiserliche Reskript in der Investiturfrage beschwert habe: „Sein König könne aus dem, wegen der Stettinischen belehnung Ihme zugefertigten Decreto wenig consolation und noch weniger kaiserliche affection zu schöpfen haben […], viele Sachen seyn darinnen, die gar nicht dazu gehörten; den punctum Religionis würde sein Herr nie annehmen können; die türckensteuer schicke sich dahin nicht …“; Konferenzrelation vom 4.9.1721 = Anlage zu Reskript an Voss, Wien, 16.9.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a.
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hat sich zum Teil eng an die respektiven Überlieferungen angelehnt und damit die „borussische“ bzw. „Wiener“ Deutung dieses Ereignisses fortgeschrieben.558 Die Schilderungen Canngiessers und Schönborns stimmen darin überein, dass Canngiesser, noch bevor er in der Audienz am 29. August jenes königliche Reskript abzulesen begann, das für die diplomatischen Beziehungen zwischen Wien und Berlin den Tiefpunkt einer langen Krisenphase bezeichnete, auf eine Angelegenheit des Mainzer Erzkanzlers und Onkels des Reichsvizekanzlers, Lothar Franz von Schönborn, zu sprechen kam:559 Lothar Franz hatte zwei Ämter vom Markgrafen von Bayreuth erworben, und zwar unter der Bedingung des Rückkaufrechtes, um dadurch mögliche lehnsrechtliche Schwierigkeiten zu umgehen. Friedrich Wilhelm I. aber benutzte diesen Umstand offenbar unter anderem dazu, dem Reichsvizekanzler einmal nicht als Vertreter des Kaisers entgegenzutreten, sondern um als Reichsfürst mit der reichsgräflichen Familie Schönborn zu kommunizieren. Denn Canngiesser verlangte im Namen seines Herrn, dass aufgrund der brandenburgischen Hausverträge für den Abschluss des Kaufhandels die Einverständniserklärung Friedrich Wilhelms I. eingeholt werden müsse – deren Erteilung der Resident gleichzeitig auch schon in Aussicht stellte. Canngiesser hatte dieses Thema schon in einer früheren Audienz am 1. August angesprochen.560 Bereits bei dieser Gelegenheit habe der Reichsvizekanzler zwar für das Angebot gedankt, gleichzeitig aber betont, dass aufgrund der genauen Umstände kein brandenburgischer „Consensus“ erforderlich sei. Im Übrigen aber betreffe ihn persönlich diese Angelegenheit seines Onkels nicht. Canngiesser aber scheint seinen Weisungen gemäß darauf bestanden zu haben, dass es unbedingt notwendig sei, seinen König als „Caput Familiae“ um Zustimmung zu diesem Vertrag anzusuchen.561 Im Zuge dieser Diskussion kam dann, sowohl am 1. August als auch am 29. August, seitens des Residenten offenbar die Sprache auf die generelle „intention“ des Reichsvizekanzlers gegenüber dem preußischen König.562 Beiden Berichten zufolge betonte Schönborn mehrfach, dass er keineswegs gegen den König eingenommen sei, vielmehr lediglich seit achtzehn Jahren 558 Vgl. die Darstellung bei Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 2, S. 330–336, der sich ausschließlich auf die Berliner Akten stützt. Dagegen verwendet Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 267–271, zwar die Wiener und die Berliner Berichte; allerdings wird der Bericht Schönborns im Indikativ wiedergegeben, während für die Darstellung der Berliner Überlieferung durchgängig der Konjunktiv verwendet wird. Auch in der Bewertung der Folgen des diplomatischen Bruches für die beiden Höfe gelangen beide Arbeiten zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. 559 Das Folgende bezieht sich, wenn nicht anders gekennzeichnet, auf die übereinstimmenden Schilderungen in: Relation von Canngiesser, Wien, 3.9.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 293, Bl. 13–16; bzw. Konferenzrelation vom 4.9.1721 = Anlage zum Reskript an Voss, Wien, 16.9.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a. 560 s. a. Relation von Canngiesser, Wien, 2.8.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 293, Bl. 8–10. 561 Zitat: Relation von Canngiesser, Wien, 3.9.1721, ebd., Bl. 13–16, 14. 562 Laut dem Wiener Konferenzbericht habe Canngiesser die Frage, ob der Reichvizekanzler ihm mitteilen könne, wie sein Onkel über das Angebot eines „Consensus“ des preußischen Königs denke, mit dem deutlichen Hinweis darauf verbunden, wie nötig es für Friedrich Wilhelm I. sei, mit der Familie Schönborn insgesamt und dem Reichsvizekanzler im Besonderen auf gutem Fuße zu stehen, „allemaßen ihm wohl wissend, daß an dem Kaiserlichen Hof ihm
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
gewissenhaft sein Amt ausübe.563 Canngiesser aber benutzte die Gelegenheit, um zum Ausdruck zu bringen, dass man am Berliner Hof von der freundlichen Haltung des Reichsvizekanzlers gegen den König ganz und gar nicht überzeugt sei.564 In der Audienz vom 29. August bat Canngiesser schließlich in diesem Kontext um die Erlaubnis, ein königliches Reskript zu verlesen, das – so die Ankündigung Canngiessers – die Versicherungen des Reichsvizekanzlers widerlegen würde.565 Das Reskript führte diverse Beschwerden über die schlechte Behandlung auf, der sich der preußische König seitens Wiens ausgesetzt sah. Dabei wurden die kaiserlichen Schreiben an den König als „indigne“ bezeichnet, als Hauptverantwortlicher aber – zumindest für den Stil dieser Schreiben – der Reichsvizekanzler genannt.566 Um diese beiden Zuschreibungen: die eines Königs „unwürdigen“ kaiserlichen Schreiben und die behauptete Verantwortung des Reichsvizekanzlers für eben diese Schreiben wurde im Folgenden heftig debattiert – zunächst zwischen Canngiesser und Schöborn. In der Folge sollte aber auch zwischen Berlin und Wien über die Deutung dieser Worte gerungen werden. Laut beiden Berichten entgegnete der Reichsvizekanzler, noch bevor der Resident das Reskript zu Ende verlesen hatte, es sei inakzeptabel („eine von pflichtigen Reichsständen unerhörte sach“), dass ein Reichsstand kaiserliche Reskripte „indigne“ nenne.567 Schließlich unterzeichne der Kaiser diese Schreiben mit seinem eigenen Namen. Diese als „indigne“ zu bezeichen, so Schönborn, sei gleichbedeutend mit einem Angriff sowohl auf den Kaiser als auch auf ihn, Schönborn, persönlich sowie auf das von ihm vertretene Amt des Reichsvizekanzlers. Das aber werde Schönborn nicht zulassen; wenn man etwas gegen seine Amtsführung vorzubringen habe, so solle man ihn beim Kaiser verklagen; Beleidigungen gegen seine Person aber sei er nicht verpflichtet anzuhören. Deutlich gab Schönborn alles daran gelegen were …“; Konferenzrelation vom 4.9.1721 = Anlage zum Reskript an Voss, Wien, 16.9.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a. 563 Das Haus Brandenburg könne seiner, des Reichsvizekanzlers, „guten Intention“ versichert sein, bestehe doch die Hauptaufgabe seines Amtes darin, „Chur- und Fürsten des Reichs mit Ew. Kayserl. Mt. und dem Ertzhaus in gutem vernehmen zu halten …“; Konferenzrelation vom 4.9.1721 = Anlage zum Reskript an Voss, Wien, 16.9.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a; s. a. Relation Canngiesser, Wien, 2.8.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 293, Bl. 8–10. 564 Canngiesser habe eingewandt, „dass sein Herr und Hoff dessen gar nicht persuadiert weren …“; Konferenzrelation vom 4.9.1721 = Anlage zum Reskript an Voss, Wien, 16.9.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a. Canngiesser berichtet dagegen: „Meines theils nahm ich von solchen Contestationen dieses Ministri Gelegenheit, ihm nicht zu verhalten, daß zeithero so woll in denen Religions differentzien als auch sonsten ein und ander umbstände geäußert, welche Ew. Königl. Mt. glaubten machten, daß Er [der Reichsvizeklanzler] nicht allerdings Ihr guther Freund sey …“; Relation von Canngiesser, Wien, 2.8.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 293, Bl. 8–10, 9. 565 Relation von Canngiesser, Wien, 3.9.1721, ebd., Bl. 13–16, 14; Konferenzrelation vom 4.9.1721 = Anlage zum Reskript an Voss, Wien, 16.9.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a. 566 Selbst wenn der Reichsvizekanzler nicht persönlich alle diese Schreiben verfasst habe, so läge es doch in seiner Verantwortung, die „Schreib-arth“ zu korrigieren und harte Ausdrücke zu mildern; ebd. 567 Zitat: ebd.
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Canngiesser zu verstehen, dass dessen Herr selbst für die schlechten Konjunkturen verantwortlich sei; wenn der König sich nach den Reichsgesetzen richtete, so hätte der Kaiser auch keine Veranlassung für entsprechende Verordnungen.568 Im Kern wurde in der Debatte um das königliche Reskript wieder die alte und nach wie vor virulente Frage nach dem Verhältnis von königlicher Würde und Reichshierarchie verhandelt: In Berlin hielt man die Art und Weise, wie Friedrich Wilhelm I. in den kaiserlichen Schreiben angesprochen wurde, für unvereinbar mit der Würde eines Königs – in Canngiessers Worten: Die „Schreib-arth“ (die auf den Konzipienten verweise!) sei gegenüber einem König „unanständig“.569 Für Schönborn stand indessen die königliche Würde gar nicht zur Debatte: Es handele sich ausschließlich um Reichssachen, und „Ihre Kayserl. Mt. und die Kayserl. Cantzeley wissen zwischen personen und personen, sachen und sachen schon den unterschied zu machen …“. Der preußische König hingegen übergehe diesen Unterschied, er meine sich weder an die Reichsverfassung noch an den Stil halten zu müssen, der für die Korrespondenz zwischen einem Reichsstand und dem Reichsoberhaupt angemessen sei.570 Gerade in den Religionsangelegenheiten, so referierte Canngiesser die Aussage Schönborns, habe Friedrich Wilhelm I. gegenüber dem Kaiser nicht die Sprache eines Reichsstandes geführt, er habe gewiss nicht als Kurfürst und noch viel weniger als Fürst von Halberstadt an den Kaiser geschrieben – obwohl er doch nur als letzterer vom Kaiser in diesem Kontext angesprochen worden sei. Doch in den Augen Friedrich Wilhelms I. konnte man derartige Differenzierungen eben gar nicht erst vornehmen: „Der könig von Preußen und Churfürst von Brandenburg wären in einer Persohn so genau vereiniget, daß einem nicht wehe geschehen könnte, ohne daß es der andere fühlete, so wenig, als sich die qualität eines kaysers von einem Erzherzoge von Österreich trennen ließe …“.571 Für beide Seiten verdichtete sich dieses grundsätzliche Problem offenbar im Religionsstreit: Laut Canngiesser hob Schönborn besonders auf die Haltung Friedrich Wilhelms I. im Religionskonflikt ab, um zu unterstreichen, wie wenig sich der preußische König noch an das Reich und seine Regeln halte. Umgekehrt bezog sich laut Schönborns Bericht die Beschwerde über die „indignen“ Schreiben ausdrücklich auf die in den Religionssachen ergangenen kaiserlichen Reskripte. Tatsächlich hatte die brandenburg-preußische Politik im Kontext des Religionsstreits gleich in mehrfacher Weise der traditionellen, hierarchisch-monarchischen Interpretation des Reichsverbandes widersprochen: Brandenburg-Preußen hatte sich mit Eng 568
„… die ganze welt sei ein Echo, wo nach fragen oder thaten der wiederhall folgen müsse, sonderlich in Reichsdingen …“; Konferenzrelation vom 4.9.1721 = Anlage zu Reskript an Voss, Wien, 16.9.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a. „Wie man in den Waldt schreie, so hallete es wieder zurück …“; Relation von Canngiesser, Wien, 3.9.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 293, Bl. 13–16, 15. 569 Ebd., Bl. 15. 570 Konferenzrelation vom 4.9.1721 = Anlage zu Reskript an Voss, Wien, 16.9.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a. 571 Relation von Canngiesser, Wien, 3.9.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 293, Bl. 13–16, 16.
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land-Hannover gemeinsam an die Spitze einer Vereinigung gestellt, die eine strikt föderativ-ständische Interpretation der Reichsverfassung vertrat und die zumindest das Potential besaß, den Kaiser seiner wichtigsten Vorrechte zu berauben. Der mit der evangelischen Verfassungsinterpretation untrennbar verbundene Vorwurf der kaiserlichen Parteilichkeit in Konfessionsfragen wurde wiederum von Friedrich Wilhelm I. am öffentlichkeitswirksamsten formuliert. Indem man in Berlin die Notwendigkeit für Repressionen damit begründete, dass nur so den unterdrückten Protestanten zu ihrem Recht verholfen werden könne, stellte Friedrich Wilhelm I. nicht nur die Fähigkeit und den Willen des Kaisers, für Gerechtigkeit zwischen den Konfessionen zu sorgen, in Frage, sondern inszenierte sich selbst als evangelischer Gegenpol zum katholischen Kaiserhaus. Schließlich aber verdeutlichte der preußische König mit den allen Reichshofratsverfahren zum Trotz aufrecht erhaltenen Repressionen in Halberstadt auch seinen Anspruch auf innenpolitische Souveränität. Denn der Halberstädter katholische Klerus war besonders prominent unter jenen Landständen, die dem Souveränitätsanspruch der Hohenzollern mit Hilfe des Kaisers Widerstand entgegensetzten.572 Wenngleich also der zentrale Konflikt in beiden Überlieferungen deutlich zu Tage tritt, unterscheiden sich die Berichte Canngiessers und Schönborns in der Darstellung des genauen Ablaufs der Audienz sowie der von den Protagonisten gebrauchten Begriffe naturgemäß ganz erheblich. Die dem Konferenzbericht zugrunde liegende Schilderung Schönborns zeichnet sich durch eine gewisse Dramatik aus, indem detailliert beschrieben wird, wie der Reichsvizekanzler den Residenten mehrfach unterbrochen und gewarnt habe, mit seinen ungerechten Behauptungen und Beleidigungen einzuhalten, weil der Kaiser empfindlich auf derlei Äußerungen reagieren werde.573 Der Resident wird von Schönborn dabei einerseits als arglistig und andererseits als naiv geschildert:574 Ungeachtet aller Warnungen habe Canngiesser immer weiter seine Beschuldigungen vorgebracht und erst zuletzt realisiert, in welch ernste Situation er sich (und seinen Hof) mit seiner „ungeschickte[n] kühnheit“ gebracht habe. Unter „confuse[n] explicationes und vorstellungen“ habe Canngiesser den Rückzug angetreten und versucht seine Worte zu relativieren. Noch im Fortgehen sei der nun ganz erschrockene Resident fortgefahren, „erneuerte affectirte
572
Vgl. Kap. D. II. Schon zu Beginn habe Schönborn erklärt, ein solches Reskript zu verlesen, sei nicht ratsam, der Resident gefährde damit nur ohne Not die Beziehungen zwischen seinem Herrn und dem Kaiser: „Herr Resident, wir kennen beide unsere Herren und Höffe, seines Hoffs federn, und uns selbsten ein Rescript abzulesen kann ich endlich nicht verbiethen, derselbe aber nehme sich in obacht, daß darin nichts irrespectuoses gegen I. Kaiserl. Mt. oder nichts injurioses gegen mich sey …“; Konferenzrelation vom 4.9.1721 = Anlage zum Reskript an Voss, Wien, 16.9.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a. 574 Auf die Warnungen des Reichsvizekanzlers, das Reskript besser nicht zu verlesen, habe Canngiesser geantwortet: „… es sey gar special, würde dem Reichs-Vice-Cantzler gefallen und viel gutes stifften. […] Ille zog endlich das rescript aus dem sack und versicherte, daß nichts missfälliges darin sey …“; ebd. 573
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excusationen“ vorzubringen, bis Schönborn ihm endlich die Tür gewiesen und so gewissermaßen dem Elend ein Ende gemacht habe.575 Canngiessers Bericht enthält dagegen kein vergleichbares Wechselspiel von Warnungen, Einwürfen und Argumenten. Auch in seiner Darstellung heißt es jedoch, er habe nur die Hälfte des Reskripts verlesen können, bis der Reichsvizekanzler „in ein großes Emportement gerieht“ und begonnen habe, mit ihm über den Inhalt des Reskripts zu argumentieren.576 Die Schilderung des laut der Wiener Überlieferung für den Residenten so unrühmlichen Endes der Audienz fehlt dagegen in Canngiessers Darstellung völlig. Neben diesen (wohl primär der Selbstdarstellung der Autoren geschuldeten) markanten Abweichungen in der jeweiligen Darstellung der Geschehnisse weisen beide Berichte bestimmte rhetorische Strategien und Bilder auf, die an ihren respektiven Höfen schon seit längerem gepflegt wurden: Auf Seiten Canngiessers bzw. Friedrich Wilhelms I. ist dabei an erster Stelle das Bemühen zu nennen, die Haltung des Kaiserhofes gegenüber Brandenburg-Preußen als unabhängig vom Kaiser selbst darzustellen, stattdessen aber den Reichsvizekanzler persönlich (und seine Verbündeten bzw. den Reichshofrat) für die schlechten Beziehungen verantwortlich zu machen. Dieser Interpretation der Verhältnisse enspricht die von Canngiesser gestellte Frage nach den von Lothar Franz von Schönborn im Fränkischen Reichskreis erworbenen Gütern. Auf den ersten Blick erscheint diese Begebenheit, auch weil sie in dem von Canngiesser verlesenen königlichen Reskript nicht noch einmal aufgegriffen wurde, gleichsam unverbunden neben der eigentlichen Auseinandersetzung zu stehen. Doch gab der besagte Kaufhandel Friedrich Wilhelm I. die Gelegenheit, die aktuelle politische Krise so darzustellen, als bedürfe es für eine Wiederannäherung zwischen Wien und Berlin lediglich einer auf die eine oder andere Weise hergestellten Verständigung zwischen dem Reichsvizekanzler und dem preußischen König. Die Angelegenheit ihrer jeweiligen Familienangehörigen, des Bayreuther Markgrafen und des Mainzer Kurfürsten, bot Friedrich Wilhelm I. aber nun die Gelegenheit, mit großer Geste gleich mehrere Zeichen zu setzen. Zum einen präsentierte sich Friedrich Wilhelm I. in diesem Kontext als eine politische Größe, mit der die Familie Schönborn trotz aller ihrer „Intrigen“ gegen die brandenburgischen Erbverbrüderungen im Fränkischen Reichskreis zu rechnen hatte. Mit dem gleichzeitig in Aussicht gestellten placet zu dem Kaufvertrag korrespondierte wiederum das Bild des großzügigen Fürsten, der – nicht kleinlich, bürokratisch oder rachsüchtig – die Hand zur Verständigung reicht, sofern man ihm die ihm zustehende Ehre (im konkreten Fall als Familienoberhaupt, im weiteren Kontext als „gekröntes Haupt“) nicht verweigerte. Den Gegensatz zu dieser Selbstdarstellung bildete der Reichsvizekanzler: Der Bürokrat, der sich ständig auf das reichsrechtliche Regelwerk und seine Pflichten berief, tatsächlich aber, von persönlichen Animositäten und Geltungsbewusstsein beeinflusst, 575
Ebd. Relation von Canngiesser, Wien, 3.9.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 293, Bl. 13–16, 14.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
sein Amt zu seinem persönlichen Vorteil und demjenigen seiner Familie nutzte. Indem Schönborn – sicherlich erwartungsgemäß – die Angelegenheit zwischen seinem Onkel und dem Bayreuther Markgrafen zu einer Sache erklärte, die ihn selbst nichts angehe, auch jegliche Freundschaftsbekundungen als unerheblich für das Verhältnis zwischen einem Reichsstand und einem Reichsvizekanzler erklärte, bestätigte er eben jenes Bild, das man in Berlin von ihm zeichnete: Schönborn behaupte zwar, als Reichsvizekanzler bestehe sein Amt wesentlich in der Aufgabe, ein gutes Verhältnis zwischen den Reichsständen und dem Kaiser aufrechtzuerhalten; tatsächlich vereitle er aber bewusst alle Möglichkeiten, zu einer Verständigung mit dem preußischen König zu gelangen. So erfüllte die Nachfrage des Residenten nach den Angelegenheiten von Lothar Franz von Schönborn vermutlich nicht zuletzt den Zweck, die Notwendigkeit eines solchen Reskripts, wie es Canngiesser im Folgenden verlesen sollte, in der konkreten Situation noch einmal zu erweisen. Umgekehrt gelang es dem Reichsvizekanzler ganz offensichtlich, in der Geheimen Konferenz, die im Anschluss an den Zusammenstoß zwischen Schönborn und Canngiesser den Fall diskutierte, seine eigene Lesart der Auseinandersetzung zu untermauern.577 Die Konferenz befand, dass es sich um einen Angriff auf den Kaiser handelte, die Beschwerden über Schönborns Amtsführung wurden hingegen nicht weiter thematisiert. Schönborn war primär als Repräsentant des Kaisers beleidigt worden.578 Von wem dagegen diese Beleidigungen ausgesprochen worden waren, wem mithin die Verantwortung für die in der Audienz gefallenen Worte (und für den politischen Schaden) zugeschrieben werden sollte, stellt sich in der Konferenzrelation nicht ganz so eindeutig dar. Denn einerseits interpretierten die Konferenzmitglieder die Äußerungen Canngiessers als geradezu symptomatisch für die aktuelle Krise des Reiches und stellten sie dadurch in einen breiteren Kontext: Es sei leider nur zu bekannt, „auf was auch in denen beschwerlichsten und kriegerischsten zeiten nicht leicht erhöhrte arth in denen Reichslanden, auf dem allgemeinem Reichstag, bey den Höchsten Reichsgerichten und endlich gar an Dero Kaiserl. Hoflager, folgsam unter Dero geheiligten augen […] gegen die Kayserl. Mt. und die vatterländische gesätze aufgetretten werde“; wobei sich die Minister der evangelischen Kurfürsten-Könige besonders negativ hervortäten. Jedes kaiserliche Reskript oder Dekret werde „gleichsamb ohne rücksicht zur rede gestellet, offentlich angefochten“, die Exekutoren der kaiserlichen Gewalt würden in Amt und Person angegriffen, „wobey weder die Kayserl. Mt. noch das Vatterland, am allerwenigsten aber das Regiment, und die teutsche ordnung in die länge werde bestehen können …“. Die „vermessene that“ des Residenten sei auch deswegen von so großer
577 Zum Folgenden: Konferenzrelation vom 4.9.1721 = Anlage zum Reskript an Voss, Wien, 16.9.1721, HHStA, RK, Berlin – Weisungen 4 a. 578 „Gewiss sey, daß hier per totum nicht ein factum des grafen von Schönborn oder dessen Person getadelt und angegriffen, sondern es lediglich umb Ew. Kayserl. Mt. facta und Dero Ministerium in officio es zu thun sey …“; ebd.
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Tragweite, weil sie in engstem Zusammenhang mit dem „praedominat“ stünde, das England-Hannover und Brandenburg-Preußen über den evangelischen Reichsteil ausübten. Die unter dem Druck dieser beiden mächtigen Stände in Regensburg entstandenen Resolutionen hätten zur Genüge deren Ziel zu erkennen gegeben, „das Vatterlandt gleichsamb zu destruiren …“.579 Die von Canngiesser laut Konferenzbericht besonders hervorgehobenen kaiserlichen Reskripte in der Religionsangelegenheit, vor allem hinsichtlich der Repressalien, hätten dagegen keinen ungewöhnlichen Ton angeschlagen und beinhalteten nichts, was den vom Residenten bzw. Friedrich Wilhelm I. erhobenen Vorwurf, es handle sich um „indigne“ Schreiben, rechtfertige. Selbst wenn der beleidigte Minister, also Schönborn, für seine Person Nachsicht üben wollte, so könne man es in Anbetracht der Umstände nicht hingehen lassen, dass das Amt des Kaisers als oberster Lehnsherr- und Richter von einem Reichsvasall „in verbis et factis je länger je mehr, entweder zu ärgernus oder üblen nachfolge anderer Reichsstände unleydlich angetastet [werde] …“.580 Der Konferenzbericht interpretierte also die Auseinandersetzung, die sich im Hause des Reichsvizekanzlers abgespielt hatte, als denselben Konflikt, der zwischen Kaisertum und evangelischen Potentiores, vor allem aber zwischen Wien und Berlin bestand. Denn besonders der preußische König habe sich, gerade im Kontext des Religionsstreits, „in verbis et factis“ deutlich exponiert. Welche konkreten Absichten hinter dem Auftritt des Residenten stünden: ob es darum gegangen sei, den Reichvizekanzler entweder „zu gewinnen oder zu schrecken“, „sich seiner Person zu entladen“, oder ob das von Canngiesser verlesene Reskript als Versuch des preußischen Königs bewertet werden müsse, sich des Gehorsams gegenüber dem Reichsoberhaupt ganz zu entziehen – darüber könne man gleichwohl nur spekulieren.581 Andererseits und trotz dieser weitreichenden Analyse der zugrundeliegenden Antagonismen votierte die Konferenz einstimmig dafür, offiziell ausschließlich den Residenten für seine Aussagen verantwortlich zu halten, um auf diese Weise den akuten Konflikt politisch handhabbar zu machen: „Mit bewerffung dieser Sach auf erstbenannten Kannegiesser“ sprach sich die Konferenz dafür aus, vom König entsprechende Satisfaktion zu fordern und „auf die abruffung [des Residenten] zu deuten“; zwischenzeitlich aber sollte Canngiesser Hofverbot erteilt werden. In jedem Fall müsse man vom König ein deutliches Zeichen fordern, „er [Canngiesser] möge nun diesen unfug aus heimblicher veranlasung oder [auf] befehl seines königs (wie alle kaiserliche Ministri dies für gewiss gehalten) oder aus eigenem bedacht […] begangen haben …“.582 Die Konferenzmitglieder waren sich somit durchaus in der Einschätzung einig, dass der Resident tatsächlich auf ausdrücklichen Befehl
579
Ebd. Ebd. 581 Ebd. 582 Ebd. 580
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gehandelt und ein authentisches Reskript seines Königs verlesen habe. Gerade deswegen votierte die Konferenz auch dafür, diese Angelegenheit ernst zu nehmen und mit der Reaktion des kaiserlichen Hofes ein Signal zu senden, dass man in Wien derartigen Angriffen auf die Würde des Reichsoberhaupts und seiner Minister nicht tatenlos zusehen werde. Denn Brandenburg-Preußen sei zwar der prominenteste und aggressivste, aber keinesfalls der einzige Reichsstand, der in „fortwehrender aufflehnung“ gegen Kaiser und Reichsrecht agiere. Die Konferenz sei sich wohl bewusst, dass diese Resolution für das Verhältnis zum preußischen König ernste Folgen haben könnte, müsse man doch bei dem „bekandter massen sehr ohnbeständig und wankelbaren Preussischen Hof“ auf praktisch alles gefasst sein. Andernfalls riskiere man jedoch, dass die dortige „vermessenheit“ weiter Schule mache; die Antwort müsse daher unmissverständlich lauten: „gegen den Kaiserlichen Respect und Recht aber sey absolute nichts mehr zu dulden oder zu leiden …“.583 In Wien war man also einerseits gewillt, im offiziellen Sprachgebrauch den Residenten als Verantwortlichen zu betrachten und Friedrich Wilhelm I. mit der Abberufung Canngiessers eine Möglichkeit einzuräumen, sich dieser Deutung anzuschließen und damit die diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen. Andererseits hielt man aber an der Interpretation fest, die Schönborn bereits während der Audienz vorgeben hatte: dass sich die Beleidigungen und Angriffe gegen den Kaiser richteten und nicht primär oder gar ausschließlich gegen die Person des Reichsvizekanzlers. Doch Friedrich Wilhelm I. ließ sich auf dieses Deutungsangebot aus Wien nicht ein, sondern blieb seinerseits bei derjenigen Rollenzuschreibung, die sich im Berliner Sprachgebrauch bereits etabliert hatte und die Canngiesser weisungsgemäß in der Audienz inszeniert hatte: dass das schlechte Verhältnis zwischen Wien und Berlin nämlich im Kern auf die unfreundliche Haltung des Reichsvizekanzlers sowie der von ihm abhängigen Minister (zu denen auch der kaiserliche Resident Voss zu zählen war) zurückging – und nicht auf die Persönlichkeit Canngiessers oder auf schlechte Beziehungen zwischen dem preußischen Residenten und dem Reichsvizekanzler, geschweige denn zwischen dem Kaiser und dem preußischen König selbst. Dieser Sichtweise folgend schrieb Friedrich Wilhelm I. zwar an den Kaiser, um diesen seiner persönlichen Treue zu versichern, rechtfertigte aber gleichzeitig das Hofverbot, das er als Reaktion auf den Bericht seines eigenen Residenten dem kaiserlichen Residenten Voss erteilt hatte:584 Voss würde ohnehin immer nur „öhl zum feuer gießen“, und so habe Friedrich Wilhelm I. das Hofverbot Canngiessers (von dem er hoffe, dass es der Kaiser bald wieder aufheben werde) zum Anlass genommen, „das Commercium mit Ihme [Voss] allhier suspendiren zu lassen …“. Der Kaiser möge Friedrich Wilhelm I. „die vorlängst schon von Deroselben gebetene Affection und Justiz nur endlich einmahl erweisen und gedachten Voss von hier zurück ruffen“, denn schließlich hätte Voss doch dem guten Verständnis zwischen
583
Ebd. Auch zum Folgenden: Friedrich Wilhelm I. an Karl VI., Berlin, 21.9.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 293, Bl. 54–57. 584
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Berlin und Wien „alle ersinnliche hinderung“ entgegengestellt.585 Auf die Aufforderung, Canngiesser abzuberufen, ging man in Berlin dagegen überhaupt nicht ein, wiewohl man ganz offensichtlich damit rechnete, dass es sogar zur Ausweisung des Residenten aus Wien kommen könnte.586 Auf diese Weise spitzte sich die Situation schließlich soweit zu, dass in Wien die Entscheidung getroffen wurde, dem eigenen Residenten, Voss, zu befehlen, ohne vorherige Bekanntgabe Berlin sofort zu verlassen. Parallel dazu erhielt der Resident Canngiesser seine Pässe mit der Aufforderung, innerhalb eines Tages die Stadt zu verlassen.587 In Berlin hatte man angesichts der nicht lange unbemerkt gebliebenen Abreise des kaiserlichen Residenten zwar umgehend auch Canngiesser den Befehl erteilt, abzureisen; doch scheint die kaiserliche Bürokratie dem Berliner Kurier zuvorgekommen zu sein, so dass sich Canngiesser bereits auf dem Weg nach Berlin befand, als ihn der Befehl seines Königs erreichte.588 Auf diese Weise war der völlige Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Wien und Berlin im Herbst 1721 vollzogen, und es sollten rund zwei Jahre vergehen, bis man sich überhaupt darauf einigte, wieder ständige Repräsentanten an die jeweiligen Höfe zu entsenden. Zunächst aber war man zumindest in Berlin darum bemüht, gegenüber auswärtigen Höfen und Ministern den Eklat zwischen dem brandenburg-preußischen Residenten und dem Reichsvizekanzler als relativ harmlosen Zwischenfall darzustellen.589 Gleichzeitig aber konkurrierten beide Seiten um die Deutungshoheit über die Ereignisse. So waren in Regensburg zwei unterschiedliche Flugschriften über den Zusammenstoß zwischen dem preußischen Residenten und dem Reichsvizekanzler im Umlauf, die beide maßgeblich auf den Berichten Canngiessers 585
Ebd., Bl. 55. In einem weiteren Schreiben an den Kaiser legte Friedrich Wilhelm I. nochmals seine Sicht auf die Ereignisse dar und versicherte dem Kaiser, „daß meine intention nie gewesen, hierunter den geringesten pas zu thun, so Eurer Kayserl. Mt. missfallen könnte, sondern daß ich nur ged. Dero Ministrum, den Herrn Grafen von Schönborn ersuchen lassen, daß ich doch nicht immerhin in Eure kayserl. Mt. an mich ablassenden Schreiben auf eine so harte und ungütige art, wie unter seinem Vice Cancellariat geschehen und wovon ich die Uhrsache keines weges Eurer Kayserl. Mt. sondern den concipienten zuschreibe, tractiret werden möchte.“ Friedrich Wilhelm I. an Karl VI., Berlin 7.10.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1 Nr. 293, Nr. Bl 111–113, 112. 586 Canngiesser wurde angewiesen, für den Fall, dass ihm bedeutet würde, aus Wien abzureisen, unbedingt die geheime Korrespondenz mitzubringen bzw. die in seinem Besitz befindlichen Prozessunterlagen dem Agenten Graeve zu übergeben; Reskript an Canngiesser, Berlin, 7.10.1721, ebd., Bl. 116–117. Zuvor hatte Ilgen zudem die Weisung erlassen, das Haus des kaiserlichen Gesandten in Berlin observieren zu lassen – in der, wie sich herausstellen sollte, berechtigten Annahme, Voss könne den Befehl zur Ausreise erhalten und sich auf diese Weise einer offiziellen (und demütigenden) Ausweisung entziehen; Immediatbericht von Ilgen, Berlin, 20.9.1721, ebd., Bl. 30. 587 Reskript an Voss, Wien, 9.10.1721, HHStA, RK, Weisungen – Berlin 4 a. 588 Vgl. dazu ausführlich Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 271–273. 589 s. etwa Reskript an Wallenrodt, Berlin, 7.10.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 293, Bl. 115; Relation von Metternich, Regensburg, 20.11.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 290, Bl. 21–24, 21: Die Nachrichten aus Wien lauteten alle dahingehend, dass der Zwischenfall „in der Güthe würde abgetahn werden …“; auch sei der Prinzipalkommission verboten worden, „von dieser Sache ein Geschäfft zu machen …“.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
bzw. Schönborns basierten.590 Dabei verlief die jeweilige Rezeption dieser Darstellungen zumindest in Regensburg offenbar deutlich entlang den konfessionellen Demarkationen: Metternich sandte schon im Oktober 1721 eine Schrift ein, von der er berichtete, sie zirkuliere ausschließlich unter den katholischen Gesandten und er habe sie als evangelischer Minister nur unter größten Schwierigkeiten erhalten.591 Dass man allerdings auf brandenburg-preußischer Seite durchaus gewillt war, auch den Rest des Reiches über den aktuellen Stand der Beziehungen zwischen Wien und Berlin in Kenntnis zu setzen (und auch über die zentralen Gründe für die Verstimmung), verdeutlicht die Reaktion aus Berlin auf ein Reichshofratsdekret in der Tecklenburger Streitsache, das im Sommer 1722 erlassen wurde und dem König die Abtretung der Grafschaft gegen Erhalt der von ihm gezahlten Kaufsumme befahl, und zwar innerhalb von zwei Monaten und verbunden mit der Androhung einer Exekution durch Hannover, Kurpfalz und Münster. Friedrich Wilhelm I. wandte sich daraufhin umgehend an den Reichstag, um gegen die Entscheidung des Reichshofrats zu protestieren, der den Streit an sich gezogen und im Jahr 1703 bereits ein in dieser Sache ergangenes Reichskammergerichtsurteil von 1686 aufgehoben hatte. Ungeachtet dessen waren in der Tecklenburger Erbfrage an beiden Reichsgerichten die jeweiligen Verfahren weitergelaufen. Der Reichshofrat hatte dabei schon in der Vergangenheit zwei Dekrete gegen Brandenburg-Preußen erlassen. Bereits 1710 und noch einmal 1717 war Friedrich I. bzw. Friedrich Wilhelm I. befohlen worden, die Grafschaft Tecklenburg dem Grafen von Bentheim-Tecklenburg zu restituieren.592 Nun, im Jahr 1722, wehrte sich Friedrich Wilhelm I. vehement gegen die erneute Entscheidung und warf dem Reichshofrat öffentlich vor, die brandenburg-preußische Seite sei noch nicht einmal in der Sache gehört worden. Weiterhin beschuldigte der König die kaiserliche Rechtsprechung unverhohlen, politische Interessen zu verfolgen. Nicht nur versuche der kaiserliche Hof bzw. der Reichshofrat, ihn „aus dem wohlerlangten Recht und Besitz auf eine im Reich wohl nie erhörte Art setzen zu lassen, sondern es scheinet fast, daß andere von dem Weg Rechtens abweichende Absichten, und welche bey gegenwärtigen annoch unerledigten Religions-Differenzien leicht zu einigen Weiterungen Anlaß geben könnten, mit unter lauffen …“.593 590 In Regensburg war die Wiener Darstellung unter dem folgenden Titel im Umlauf: „Ausführliche Relation, Was sich wegen des Reichs-Vice-Cantzler Hr. Graffen von Schönborn, undt dem von Wien hinweggeschafften Preußischen Residenten Kanngiesser begeben“; GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 293, Bl. 42–45; s. a. ebd., Bl. 204–209. Die Berliner Sicht auf die Ereignisse beinhaltete die Schrift: „In der Wahrheit gegründetes Factum des zwischen des Herrn Reichs- Vice-Cantzler Excellentz und dem am kayserlichen Hof residierenden königl. preußischen Ministri jüngst vorgefallenen verdießlichkeit“; ebd., Bl. 46–50. 591 Relation von Metternich, Regensburg, 20.10.1721, ebd., Bl. 161–162. 592 Zu dem Konflikt um die Grafschaft Tecklenburg und den konkurrierenden Ansprüchen vgl. Kap. C. III. 593 EStC 41, S. 664–668, („Copia Königlich preussischen Schreibens / an verschiedene ReichsStände abgegangen de dato Berlin / den 21. August 1722 die Tecklenburgische Sache betreffend“), Zitat S. 666–667.
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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Der Reichstag solle entscheiden, ob der Reichshofrat in diesem Falle die Jurisdiktion an sich ziehen und die Urteile des Reichskammergerichtes kassieren dürfe, um „sich die, vermöge der Reichs-Fundamental-Gesetze vor das gantze Reich gehörende Interpretation der Reichs-Grund-Gesetze anzumassen …“594. Die brandenburg-preußische Argumentation ging denn auch ausführlich auf die Frage ein, inwieweit der Rekurs an den Reichstag in diesem Falle gerechtfertigt sei: Zwar habe der Kaiser in seinem Kommissionsdekret von 1715 die Rekurse an den Reichstag „als ein schädliches […], folglich nicht mehr zu gestattendes Werck anzusehen beliebet“, doch habe zum einen das Corpus Evangelicorum in seinem Antwortschreiben vom Mai 1716 erwiesen, „daß die Parthey-Sachen unter den ständen des Reichs nicht allein in so weit, als man zusiehet, daß die höchste Judicia ihre gesetzte Schrancken nicht überschreiten, sondern auch in wichtigen Fällen, quoad ipsam Decisionem Causae Principalis, ejusque Executionem, mit gutem Grunde als Staatssachen consideriret, mithin vor den Reichstag gezogen werden können“; zum andern aber habe der Kaiser ja bislang auf diese Einwände nicht geantwortet und sie mithin nie widerlegt.595 Weitere Publizität erhielt die akute Krise zwischen dem Berliner und dem Wiener Hof durch die Vermittlungsversuche England-Hannovers und Sachsens. Schon unmittelbar nachdem das Hofverbot für Canngiesser ausgesprochen worden war, hatte man sich in Berlin mit dem Wunsch nach London gewandt, dass der englischhannoverische Gesandte in Wien, Saint- Saphorin, den Befehl erhalten möge, „auf raisonable expedientia zu gedencken, wie diese kleine broullerie, welche eigentlich den Kayser selbst nicht, sondern nur den Reichs-Vice-Cantzler touchirt, baldt wieder aus dem wege geräumet werden mögte …“.596 Auch der kursächsische leitende Minister Jakob Heinrich von Flemming bot sich als Vermittler an.597 Sowohl für England-Hannover als auch für Sachsen-Polen war die Rolle als Vermittler auch deswegen attraktiv, weil sie dadurch ihren eigenen politischen Einfluss in Wien stärken konnten.598 In diesem Zusammenhang bemühte man sich in Berlin auch darum, einen engeren Kontakt zum kaiserlichen Beichtvater, Vitus Georg Tönne-
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EStC 41, S. 691–698, („Memoriale an die Hochlöbliche Allgemeine Reichs-Versammlung zu Regenspurg von der Königlich-Preussischen und Chur-Brandenburgischen Gesandtschafft übergeben / die ohmittelbare Allodial-Reichs-Grafschafft Tecklenburg und Dependentien betreffend. d. d. Regenspurg / den 17. Octobris 1722“), Zitat S. 694. 595 Ebd., Zitat S. 693. 596 Reskript an Wallenrodt, Berlin, 7.10.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 293, Bl. 115. Wie bereits zuvor orientierte man sich in Berlin auch nach dem diplomatischen Bruch mit Wien an England-Hannover. Dabei griff man wie schon früher auf den englisch-hannoverischen Gesandten Saint-Saphorin zurück, der von Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 274–275, äußerst negativ charakterisiert wird. 597 Zur Überlieferung der unterschiedlichen Vermittlungsbemühungen aus dem Jahr 1722 s. die Akten in: GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 299. 598 Dass England-Hannover und Sachsen-Polen dabei beide nicht zuletzt daran interessiert waren, eine engere Verbindung zwischen dem Kaiser und dem Zaren nach Möglichkeit zu verhindern, betonen sowohl Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 274–277, als auch Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 2, S. 341–342.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
mann, herzustellen.599 Dessen Vorschläge, wie auch diejenigen des kursächsischen Ministers Flemming, gingen dahin, dass man in Berlin dem ehemaligen kaiserlichen Residenten Voss zumindest eine Abschieds-Audienz geben müsse. Diese Satisfaktionsforderung des Kaisers wollte man in Berlin aber lange Zeit keinesfalls annehmen, sondern blieb vielmehr bei der ursprünglichen Lesarts des Konflikts als einer Angelegenheit, die, „wann man dieselbe mit rechten augen ansehen wollte, eine bagatelle [sei], woran der kayser gar keinen theil hätte, sondern womit es auf ein mis-verstand der ministre á ministre ankehme …“.600 Grund zur Klage bestünde überhaupt nur auf der Berliner Seite; nichtsdestoweniger sei man dort grundsätzlich zur Verständigung bereit. Dass der König aber dem kaiserlichen Hof „große reparation und Satisfaction thuen sollten, wie derselbe vielleicht praetendiren mögte, dazu können Wir uns umb so viel weniger verstehen, weil wir der laedirte theil sind“.601 Zwar wurde in Berlin der Vorschlag, selbst einen neuen Minister nach Wien
599 Die Gespräche zwischen dem kaiserlichen Beichtvater und dem brandenburg-preußischen Agenten Graeve handelten hauptsächlich von den Möglichkeiten, die diplomatische Kommunikation zwischen Berlin und Wien wiederherzustellen. Allerdings war Graeve Anfang 1722 in diesem Kontext auch angewiesen worden, gegenüber Tönnemann anzudeuten, dass der König seine Armee auch den Feinden des Kaisers anbieten könne (im Gegenzug für die Unterstützung seiner Ansprüche auf Jülich und Berg). Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 276–277, hat daher den Versuch, den Kontakt zu Tönnemann zu nutzen, als „politische Intrige“ bewertet, die Friedrich Wilhelm I. aber persönlich zuwider gewesen sei und die er deshalb bereits im März 1722 abgebrochen habe. Zur Rezeption dieser Bewertung vgl. Thöne, Vitus Georg Thönemann, S. 31; sowie die „Ergänzenden Aspekte“ zu dieser Episode bei Korting, Tönnemann, S. 149–150, dort unter der sprechenden Überschrift: „Der Pater wehrt mit einer einzigen Bemerkung eine Intrige Berlins gegen den Kaiser ab (1722)“. Allerdings wurde Graeve auch noch im August 1722 angewiesen, Tönnemann gegenüber relativ unmissverständliche Drohungen auszusprechen und ihm vorzustellen, dass im Reich „gleichsahm das feuer unter der asche glimmete, und welches leicht zu einer hellen flamme ausbrechen könnte, wen man mit vornehmen ständen des reichs, dehnen es doch endlich auch an mächtigen Freunden und aliierten nicht ermangelt dergestalt umginge, und dieselbe gleichsahm zur desperation bringen wollte …“; Reskript an Graeve, Berlin, 11.8.1722, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 299, Bl. 180– 183, 181. Die Berliner Quellen zeigen zudem, dass die von Hantsch und Korting so bezeichnete „Intrige“ zumindest nicht zum Abbruch der Gespräche geführt haben kann, da der Kontakt zu Tönnemann bis 1723 überliefert ist; s. etwa Relation von Graeve, Wien, 13.1.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 300, Bl. 1–2. Der Vorschlag, Kontakt mit Tönnemann aufzunehmen, ging im Übrigen weder auf Friedrich Wilhelm I. selbst noch auf den Kaiser (so Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 2, S. 334) zurück, sondern auf die Grafen Dohna, die offenbar selbst mit dem kaiserlichen Beichtvater korrespondierten; Geh. Räte an Graf Christoph von Dohna, Berlin, 14.1.1722, GStA PK, Rep. 1, Nr. 299, Bl. 24–25; Graf Christoph von Dohna an Tönnemann, Königsberg, 10.1.1722, ebd., Bl. 44–45. 600 Reskript an Schwerin (brandenburg-preußischer Gesandter in Dresden), 31.1.1722, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 299, Bl. 33–34, 33. 601 Ebd. „Es verlanget niemand des Kaysers freundschafft und affection mehr als Wir, der Kayser aber wird Selbst nicht begehren, daß Wir, umb dieselbe zu erwerben, uns bey der gantzen Welt ridicul machen, und einen Menschen wie Voss […] dergleichen reparation, wie man verlanget, thun, und ihn bey unserem Hoffe, wan es auch gleich nur umb eine abschieds audientz zu thun wehre, wieder admittiren …“; Reskript an Graeve, 23.1.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 300, Bl. 7–8.
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zu senden, um gleichsam ein Zeichen für einen Neuanfang zu setzen, diskutiert, doch auch in diesem Fall gab Ilgen dem König zu bedenken, dass „E. K. M. mit der Schickung nach Wien nichts risquiren [sollten]“, um „E. K. M. gloire [keinen] tort zu thun“.602 Auf diese Weise zogen sich die Vermittlungsversuche weiter hin, bis der Berliner Hof endlich im Jahr 1723 in das folgende Prozedere einwilligte: Voss sollte für einen Aufenthalt von einigen Tagen noch einmal nach Berlin zurückkehren, wo ihm dann eine kurze Abschiedsaudienz gewährt würde; danach aber sollte er sofort wieder abberufen, statt seiner aber ein anderer Repräsentant nach Berlin gesandt werden.603 An diesen Verhandlungen war auch bereits der einige Jahre später für das Zustandekommen des Vertrags von Wusterhausen verantwortliche Graf Friedrich Heinrich von Seckendorff an der Seite Flemmings beteiligt.604 Mit der schließlichen Einigung auf einen Ausweg, der beiden Seiten ermöglichen sollte, ihr Gesicht zu wahren, war die unmittelbare diplomatische Eiszeit zwischen Berlin und Wien zwar vorüber, und offiziell herrschten nach 1723 wieder „gute Beziehungen“.605 Es sollte jedoch noch drei weitere Jahre dauern, bis sich die beiden Höfe im Zuge der maßgeblich von Seckendorff geführten Verhandlungen über den Vertrag von Wusterhausen auch wieder politisch annähern sollten. In der Historiographie wurde der Abbruch der Beziehungen zwischen dem Berliner und dem Wiener Hof vielfach als ein diplomatisches Ungeschick charakterisiert, für das in erster Linie die brandenburg-preußische Seite verantwortlich war und das nicht zuletzt auf die Person des Residenten Canngiesser zurückzuführen ist.606 Denn der Bruch habe nicht dem „innersten Empfinden“ Friedrich Wilhelms I. entsprochen, der vielmehr „im Herzen doch die Freundschaft mit dem Kaiser nur ungern entbehren mochte“.607 Diese Darstellung suggeriert, der König bzw. seine Minister – und vor allem Canngiesser – hätten mit dem Angriff auf Schönborn (mit dem sie ja auch einen Bruch mit dem Kaiser riskierten) letztlich den eigentlichen Interessen Brandenburg-Preußens zuwider gehandelt. Und diese Interessen hätten 602
Immediatbericht von Ilgen, Berlin, 23.5.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 300, Bl. 11–14, 14; s. a. Immediatbericht von Ilgen, Berlin, 26.5.1722, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 299, Bl. 128a-128b. 603 Geheime Räte Berlin an Flemming, Berlin, 2.6.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 300, Bl. 23–24. 604 s. diverse Schreiben in: ebd.; vgl. Kuntke, Seckendorff, S. 156, Anm. 50. Friedrich Wilhelm I. sprach Seckendorff sogar persönlich seinen Dank dafür aus, dass er und Flemming den König wieder mit dem Kaiserhof ausgesöhnt hätten; Förster, Friedrich Wilhelm I. 3, Urkundenbuch, Nr. 13, S. 241 (Friedrich Wilhelm I. an Seckendorff, Berlin, 14.8.1723). 605 So entsandte Friedrich Wilhelm I. 1723 mit dem Grafen Truchsess von Waldburg einen hohen Würdenträger nach Prag, um dem Kaiser zu seiner dortigen Krönung zum böhmischen König zu gratulieren; vgl. Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 279–280. 606 Vgl. Korting, Tönnemann, S. 149–150; Aretin, Reich 2, S. 290 (unter Angabe der falschen Jahreszahl); Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 270–275; ohne explizite Wertung dagegen: Naumann, Österreich, S. 70–71. 607 Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 271, 274.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
stattdessen in einem guten Verhältnis oder gar einer Allianz mit dem Kaiserhaus bestanden, wie sie mit dem Bündnis von Wusterhausen 1726 realisiert werden sollte.608 Eine solche Darstellung greift insofern zu kurz, als sie die strukturellen Spannungen, die sich über Jahre aufgebaut hatten und teilweise noch auf die Regierungszeit Friedrichs III./I. zurück gingen, nicht als Kern jenes Konfliktes ernst nimmt, der hinter dem Angriff auf den Reichsvizekanzler stand. Wenn man die reichspolitischen Zusammenhänge, in denen der Zusammenstoß zwischen dem brandenburg-preußischen Residenten und Schönborn stattfand, sowie die Beschreibung und Deutung des Ereignisses durch die Akteure selbst berücksichtigt, so erscheint der diplomatische Bruch dagegen als eine Eskalation von Widersprüchen, deren Wurzeln letztlich in unvereinbaren Vorstellungen lagen, wie das Verhältnis zwischen dem Kaiser und einem mächtigen, evangelischen und noch dazu gekrönten Reichsstand aussehen sollte. Das Bild des „eigentlich kaiser- und reichstreuen Königs“ bezieht sich zudem vermutlich nicht ausschließlich auf jene Treue-Versicherungen, die Friedrich Wilhelm I. dem Kaiser unmittelbar nach dem diplomatischen Zwischenfall vom August 1721 gegeben hatte. Vielmehr steht eine derartige Charakterisierung Friedrich Wilhelms I. wohl eher unter dem Eindruck der späteren Regierungsjahre seit ca. 1728, als der preußische König außenpolitisch eng an den Kaiser gebunden war und sich maßgeblich für die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion im Reich engagierte. Tatsächlich stammen die meisten überlieferten Äußerungen Friedrich Wilhelms I. über seine Verbundenheit zu Kaiser und Reich (großenteils bekannt durch die Berichte Seckendorffs vom Berliner Hof) aus den Jahren nach 1728.609 Aber zu diesem Zeitpunkt hatte sich im Zuge der Konzentration der Wiener Politik auf die Durchsetzung der Pragmatischen Sanktion auch die kaiserliche Reichspolitik bekanntermaßen grundlegend gewandelt. Und das hieß mit Blick auf Brandenburg-Preußen, dass neben dem zentralen Thema der Erbfolge in Jülich und Berg der Kaiser auch und gerade für jene Aspekte, die das Verhältnis zwischen Wien und Berlin jahrelang belastet und 1721 zum Abbruch der Beziehungen geführt hatten, bereits Zugeständnisse gemacht oder zumindest Gesprächsbereitschaft signalisiert hatte.610 Schießlich zeigt auch der Blick auf das weitere Schicksal des „confusen“ und „ungeschickten“ Residenten Canngiesser, dass der Berliner Hof offensichtlich nicht der Ansicht war, Canngiesser habe im Zuge des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen seine reichspolitische Unfähigkeit unter Beweis gestellt, sich ungehörig aufgeführt oder gar seinem Hof immensen politischen Schaden zugefügt. Nach seiner Ausweisung aus Wien war Canngiesser zunächst in der jülich-bergischen Sukzessionsfrage tätig: In den Jahren 1721/22 führte er mit kurpfälzischen Repräsentanten Ausgleichsverhandlungen wegen der pfalz-sulzbachischen Ansprüche auf die Erbfolge in Jülich und Berg.611 Und auch in der Folge wurde Canngiesser „in 608
Vgl. Aretin, Reich 2, S. 282; Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 274. Vgl. dazu Kap. A. IV. 610 Vgl. dazu weiter unten in diesem Kap. (E. IV.). 611 Vgl. Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 159. 609
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Ansehung seiner in Teutschen Reichssachen erlangten sonderbaren Wissenschaft und Erfahrung, auch bis hieher schon darin geleisteten nützlichen Dienste“ weiterhin mit Reichsangelegenheiten betraut, zu denen er regelmäßig Gutachten erstellte.612 Ilgen schlug ihn sogar 1725 als Nachfolger Metternichs für den Posten des kurbrandenburgischen Gesandten in Regensburg vor. Wenngleich der König sich nach dem Tod Metternichs 1728 gegen diese Ernennung aussprechen sollte, beweist Cangiessers Tätigkeit am Berliner Hof als ausdrücklicher Experte für Reichsangelegenheiten, dass er dort keineswegs als „gescheiterter“ Diplomat galt.613 Dass sich im Übrigen der Zusammenstoß zwischen Canngiesser und Schönborn und der Abbruch der Beziehungen nicht ohne weiteres als eine Episode beurteilen lässt, die primär oder gar ausschließlich auf diplomatisches Ungeschick zurückzuführen ist, wird ebenfalls deutlich, wenn man auf einen erneuten Angriff auf Schönborn blickt, der nur ein Jahr später stattfand: Schon unmittelbar nach der Ausweisung Canngiessers war Metternich aus Berlin der Befehl zugegangen, sich mit anderen Gesandten zu beraten, ob man nicht gegen den Reichsvizekanzler auf Ebene des Corpus Evangelicorum vorgehen könnte. „Es ist bekandt, wie schädlich der Reichs-Vice-Cantzler bishero dem Evangelischen Wesen im Reich gefallen, und daß dessen größtes studium dahin gerichtet, wie Er den Kayser gegen die Evangelische je mehr und mehr irritieren und denselben zu deren gäntzlichen Unterdrückung, wo möglich, verleiten möge.“ Es wäre daher zu wünschen, „wenn man Mittel und wege finden könnte, Ihn wo nicht gäntzlich aus dem Sattel zu heben, dennoch es dahin zu bringen, daß Er in Unseren und des Königes in Engelandt auch aller Evangelischen Stände zu Wien und auf dem Reichstag habenden affairen, sich weiter nicht mischen dürfte“.614 Zwar ließ man derartige Pläne in Berlin offenbar zunächst rasch wieder fallen, nachdem Metternich die Erfolgsaussichten eines solchen Vorhabens im Corpus Evangelicorum für sehr gering erachtet hatte, wenn sich nicht zumindest die beiden evangelischen Könige klar an die Spitze setzen würden.615 Doch setzte sich in der Folge der Hannoveraner Reichstagsgesandte Wrisberg maßgeblich dafür ein, dass im Namen des Corpus Evangelicorum tatsächlich ein entsprechend deutliches Schreiben an den Kaiser verfasst würde, in dem der Reichsvizekanzler als Hauptverantwortlicher für die Verstimmung zwischen Kaiser und evangelischem Reichsteil dargestellt werden sollte.616 Zu den geheimen Vorbereitungen dieses Projekts reiste Canngiesser – nunmehr von Berlin aus – ins brandenburgische Gardelegen, um dort mit einem Hannoveraner Hof- und Konsistorialrat über das weitere Vorgehen in der Religionsangelegenheit zu beraten.617 612 Acta Borussica. Behördenorganisation, 4.1, S. 729–731, Zitat S. 731 (Immediatbericht von Ilgen, Berlin, 9.6.1725). 613 Vgl. ebd., S. 731, Anm. 2. 614 Reskript an Metternich, Berlin, 4.11.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 290, Bl. 19–20, 19. 615 Reskript an Metternich, Berlin, 2.12.1721, ebd., Bl. 25. 616 Zum Folgenden vgl. auch Biederbick, Reichstag, S. 61–69. 617 Zum Folgenden: Relation von Canngiesser, Berlin, 13.9.1722, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 31, Fasz. 1.
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In Hannover war zu diesem Zweck ein Schreiben entworfen worden, das als offizielle Beantwortung des letzten kaiserlichen Kommissionsdekrets vom Juni 1722 fungieren und also von sämtlichen evangelischen Ständen unterzeichnet werden sollte. Man habe sich, so berichtete Canngiesser, darauf verständigt, dass darin besonders auf die Parteilichkeit des kaiserlichen Hofes in Religionsfragen abgehoben werden solle. Allerdings sei es „eine absolute Nothwendigkeit, alle Schuld auff den R[eich]s Vice Cantzler zu legen, als welcher auch in der that und Wahrheit solche hätte …“.618 Auch die Möglichkeit einer bewaffneten Auseinandersetzung wurde auf der Konferenz noch einmal angesprochen. Dabei flossen von Hannoveraner Seite allerdings auffällig deutliche Warnungen an Berlin ein: Sollte sich die derzeitige Religionskrise weiter steigern und die Notwendigkeit zu einem engeren Bündnis einiger der evangelischen Reichsstände (und ggf. auch der Niederlande) ergeben, so müssten sich alle darauf verpflichten, dass „Privat-Sachen und Processe […] nicht in das Religions Werck zu mischen [seien]“. Man müsse den Anschein vermeiden, als wolle man den Kaiser ganz grundsätzlich nicht mehr als Richter anerkennen. Ein solcher Eindruck wäre eine gefährliche Waffe in den Händen der katholischen Reichsstände und müsse notwendig zur Trennung unter den Protestanten führen, indem leicht die Meinung entstehen würde, „es sey hier nicht umb die Religion, oder dergleichen gemeinsames Interesse der Protestierenden zu thun, sondern nur umb dieses oder jenes privat Interesse von England und Preußen …“. Spielten derartige Warnungen unverhohlen auf die zahlreichen Prozesse gegen den preußischen König bzw. den ganz grundsätzlichen Konflikt zwischen Brandenburg-Preußen und der kaiserlichen Gerichtsbarkeit an, so verabredete man doch, die zentralen Forderungen des Kaisers im Religionskonflikt zunächst nicht zu erfüllen: Brandenburg-Preußen sagte zu, mit seinen Voten weiter den Verbleib Recks in der Kurpfalz zu unterstützen, denn dadurch könne dann auch die Restitution der Hamerslebischen Sequestergelder „desto füglicher anstehen“.619 Der Entwurf des Schreibens, das Canngiesser mit seinem Bericht einsandte, beinhaltete ähnlich offensive Vorwürfe gegen den Reichsvizekanzler wie die seinerzeit von Canngiesser vorgebrachten Beschwerden.620 Auch in diesem Fall versuchte man, die Person des Kaisers von allen Anschuldigungen auszunehmen: Der Kaiser könne sich verständlicherweise nicht von allen Reichsangelegenheiten selbst ein Bild machen und sei daher auf den Vortrag seiner Minister angewiesen. Unter jenen befinde sich aber einer, der „selbst nicht nur wegen seiner eigenen Familie bey denen, den Evangelischen zugefügten gantz enormen Religions beschwehrden, als auch wegen seines Geistlichen Standes vornehmblich interessieret […] ist“. Dieser Minister habe, weil er der geistlichen Obrigkeit (sprich: Rom und der Reichs kirche) mindestens im selben Maße verbunden sei wie der weltlichen (sprich: Kaiser und Reich), alle Erklärungen und Rechtfertigungen der Protestanten durchweg
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Ebd. Ebd. 620 Zum Folgenden: „Projekt“ = Anlage zur Relation von Canngiesser, Berlin, 13.9.1722, ebd. 619
II. Brandenburg-preußische Reichspolitik
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als „anzüglichkeiten“, „unerträgliche bitterkeit, lästerungen, hass und mistrauen gegen die Catholische Religion und alle, so derselben zugethan sind“ ausgegeben. So lange es ausschließlich diesem Minister obliege, die Reichssachen – und damit die Religionssachen – dem Kaiser vorzutragen, so lange könnten die Protestanten „unmöglich etwas unpartheyliches zu hoffen haben“. Die Verantwortung für die eventuellen Folgen: dass die Protestanten schließlich noch aus schierer Not auf die im Westfälischen Frieden garantierte Selbsthilfe zurückgreifen würden, trage daher auch niemand anderes als dieser Minister persönlich. Dem Entwurf des Schreibens, das Canngiesser eingeschickt hatte, sind, offfenbar in Berlin vorgenommene, kleinere Verbesserungen angefügt; insgesamt scheint man in Berlin aber mit den Hannoveraner Plänen einverstanden gewesen zu sein.621 Allerdings verständigte man sich zwischen London, Hannover und Berlin in den folgenden Wochen darauf, sowohl die Person des Reichsvizekanzlers lieber nicht namentlich zu erwähnen als auch den Passus über die Selbsthilfe der Protestanten auszulassen.622 Obwohl also nach verschiedenen Verbesserungen mehrere Versionen dieses „Projekts“ existierten, gelangte um die Jahreswende 1722/23 die ursprüngliche, offensivste Version in katholische Hände und wurde auf diese Weise in Wien bekannt, noch bevor es zu einem förmlichen Beschluss im Corpus Evangelicorum hatte kommen können.623 Dass das maßgeblich von Hannover konzipierte Schreiben des Corpus Evangelicorum vorzeitig bekannt wurde, provozierte zum einen eine entsprechend deutliche Reaktion aus Wien, wo man unter anderem beschloss, den kaiserlichen Ministern in Regensburg jeden Kontakt mit Wrisberg zu untersagen.624 Zum anderen aber unterminierten diese Entwicklungen den ohnehin bereits deutlich abnehmenden Zusammenhalt innerhalb des Corpus Evangelicorum weiter. Den Erfolg oder Misserfolg der Angriffe auf Schönborn historisch zu bemessen, fällt nicht leicht;625 denn auch wenn der Kaiser sich in der unmittelbaren Folge 621 Allerdings hegte man in Berlin offenbar große Bedenken, sich auf das Hannoveraner Projekt einzulassen, bevor man nicht über eine persönliche Versicherung Georgs I. verfügte, dass er selbst bzw. die Londoner Regierung dieses Vorhaben unterstütze; Reskript an Metternich, Berlin, 17.11.1722, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 31. Fasz. 1; vgl. Biederbick, Reichstag, S. 64. Brandenburg-Preußen wiederum verpflichtete sich, die fränkischen Hohenzollern für eine gemeinsame Beschlussfassung im Corpus Evangelicorum zu gewinnen (s. etwa Relation von Metternich, Regensburg, 8.12.1722, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 31, Fasz. 1), was sich allerdings äußerst schwierig gestaltete (Relation von Metternich, Regensburg, 10.12.1722, ebd.). 622 Geh. Räte Hannover an Geh. Räte Berlin, Hannover, 20.11.1722, ebd. 623 Metternich berichtete schon Anfang Dezember 1722, dass „die kayserl. Ministri sich wähnen, solches project bereits in den Händen zu haben …“; Relation von Metternich, Regensburg, 7.12.1722, ebd.; vgl. Biederbick, Reichstag, S. 65. 624 Vgl. Biederbick, Reichstag, S. 65–69. 625 Tatsächlich kommt die Literatur in dieser Hinsicht zu völlig konträren Bewertungen: Während Aretin in Anschluss an Hantsch die Stellung des Reichsvizekanzlers durch die Angriffe auf ihn sogar als gestärkt beschreibt, sieht Naumann den Reichsvizekanzler eindeutig in der Defensive; vgl. Aretin, Reich 2, S. 292; Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 283–284; Naumann, Österreich, S. 71.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
klar hinter den Reichsvizekanzler stellte, verlor Schönborn bzw. die Reichskanzlei doch bekanntlich mittelfristig immer mehr an Einfluss, während das Gewicht der „österreichischen Partei“ bzw. Hofkanzlei im Zuge der Konzentration auf die Durchsetzung der Pragmatischen Sanktion fraglos stieg.626 In jedem Fall müssen die Attacken auf Schönborn als Versuch interpretiert werden, die starke Position des Kaisers im Reich, die die erste Hälfte der Regierungszeit Karls VI. kennzeichnet, zu schwächen. Auch wenn man gerade in Berlin diesen Eindruck nach Möglichkeit vermeiden wollte, so ging die Kritik an Schönborn weit über seine Person und selbst seine Amtsführung hinaus. Vielmehr stand Schönborn für die damalige kaiserliche Reichspolitik, er repräsentierte ein Kaisertum, das selbstbewusst agierte, ein Kaisertum, das maßgeblich auf die jurisdiktionellen und oberlehnsherrlichen Vorrechte des Kaisers rekurrierte und – last but not least – ein Kaisertum, das als Patron der traditionellen kaiserlichen Klientel im Reich auftrat und also – auch abgesehen von der persönlichen Frömmigkeit Karls VI. – ein prononciert katholisches war. In den Jahren 1723–1726 versuchte die kaiserliche Diplomatie denn auch verstärkt – und zunehmend erfolgreich – dieses Bild zu revidieren und die Verbindung zur traditionellen Klientel unter den evangelischen Reichsständen zu stärken. So wurden 1723 aus Wien mehrere kaiserliche Diplomaten zu Missionen an mittlere und kleinere evangelische Höfe gesandt;627 gleichzeitig ließen die kaiserlichen Schreiben an die protestantischen Reichsstände bzw. an das Corpus Evangelicorum den Willen zur Abstellung der Religionsgravamina erkennen, erklärten aber auch deutlich, dass man in Wien nicht von den alten Forderungen – der Abberufung Recks und der vollständigen Restitution des Klosters Hamersleben – abgehen werde.628 Parallel zu dieser kaiserlichen Offensive begann man auch auf katholischer Seite verstärkt, Religionsgravamina zu sammeln und zu publizieren, um damit der evangelischen Reichspublizistik, die auch auf dem Gebiet der konfessionellen Propaganda bisher praktisch das Monopol besessen hatte, etwas entgegenzusetzen. Maßgeblich initiiert wurden diese katholischen Gravaminaschriften offenbar von Kur-Köln und Kurpfalz und konzentrierten sich daher auf die Religionsbeschwerden der katholischen Kirche in Kleve und Mark.629 Aber auch aus vielen anderen 626
Vgl. Groß, Die Geschichte der Deutschen Reichshofkanzlei, S. 69–76; Hantsch, Reichsvizekanzler, bes. S. 336–337 627 Einem Bericht Graeves zufolge sollten die Grafen Wels und Kuefstein an verschiedene Höfe gesandt werden; Relation von Graeve, Wien, 2.6.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 31, Fasz. 2. Graf Metsch, der kaiserliche Gesandte beim Niedersächsischen Kreis, reiste in diesem Zusammenhang nach Dresden; Reskript an Metternich, Berlin, 7.6.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 31, Fasz. 6. In Hannover bewertete man diese diplomatischen Missionen durchaus als Erfolg für die kaiserliche Position im Reich; Geheime Räte Hannover an Geheime Räte Berlin, Hannover, 26.9.1724, ebd. 628 Vgl. die kaiserlichen Kommissionsdekrete der Jahre 1723–1725 bei Pachner von Eggenstorf, Sammlung 4. 629 Schon in den Jahren zuvor waren derartige Schriften in Umlauf gekommen; doch ab 1723 scheint man sich auch am Kaiserhof intensiver mit den katholischen Religionsbeschwerden befasst zu haben, nachdem Karl Philipp von der Pfalz im Dezember 1722 eine Sammlung katho-
III. Von der Religions- und Verfassungskrise zum Herrenhauser Bündnis
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Gebieten des Reiches wurden katholische Gravamina-Sammlungen gedruckt und in Regensburg verteilt.630 Die in den Wiener Religionsakten überlieferten katholischen Gravamina- Sammlungen aus den Jahren 1723/24 beschränkten sich zwar nicht auf die klevisch-märkischen Gebiete; allerdings sticht Brandenburg-Preußen auch hier in zweifacher Hinsicht hervor:631 Während beispielsweise gegen Kurhannover gerade einmal zwei Gravamina aufgeführt werden, beläuft sich die Anzahl der gegen Brandenburg-Preußen gerichteten Beschwerden auf insgesamt etwa 100, wovon wiederum fast die Hälfte auf den König in Preußen als Herzog zu Kleve und Grafen von Mark bzw. Herrn zu Ravensberg entfallen. Zwar entwickelte sich aus diesen Sammlungen katholischer Gravamina keine Gegenoffensive der katholischen Reichsstände, denn eine solche hätte der vom Kaiser vertretenen Verfassungsinterpretation klar widersprochen.632 Doch lässt sich anhand der schieren Anzahl der katholischen Religionsbeschwerden gegen den König in Preußen nochmals ablesen, dass Brandenburg-Preußen in der katholischen Reichsöffentlichkeit und auch in Wien fraglos als derjenige der evangelischen Potentiores galt, von dem am meisten Gefahr für die katholische Religion im Reich ausging.
III. Von der Religions- und Verfassungskrise zum Herrenhauser Bündnis(ca. 1723–1725) 1. Versuche zur Wiederbelebung der gesamtevangelischen Reichspolitik Seit der Mitte des Jahres 1723 waren die diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und Wien wiederhergestellt. Trotzdem hatte hinsichtlich der strukturellen Probleme zwischen den beiden Höfen praktisch noch keine Verständigung stattgefunden. Die strittigen Fragen konzentrierten sich nach wie vor auf die Themen Religion und Justiz. Schon im Zuge der Wiederherstellung guter Beziehungen zwilischer Gravamina aus Kleve sowie ein entsprechendes Hilfegesuch an den Kaiser nach Wien gesandt hatte. In den folgenden Monaten erschienen mehrere Gravaminasammlungen und (brandenburg-preußische) Gegendarstellungen über die Situation der Katholiken in Kleve und Mark; vgl. dazu Weber, Konflikte, S. 197–206; Biederbick, Reichstag, S. 41. 630 Relation von Metternich (mit Anlagen), Regensburg, 14.6.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 31, Fasz. 2; Relation von Metternich, Regensburg, 28.6.1723, ebd. 631 s. auch zum Folgenden die Sammlung katholischer Gravamina in: HHStA, RK, Religionsakten 49–1. 632 Wären die katholischen Reichsstände in diesem Kontext als geschlossenes Corpus aufgetreten, hätte dies als implizite Anerkennung des Selbstverständisses des Corpus Evangelicorum interpretiert werden können und wäre so den kaiserlichen Bemühungen, den evangelischen Reichsständen das Recht zur korporativen Politik zu bestreiten, diametral entgegen gelaufen; vgl. dazu grundsätzlich Haug-Moritz, Corpus Evangelicorum, bes. S. 191; zur „Invisibilisierung“ des Corpus Catholicorum vgl. Brachwitz, Autorität, S. 60–96.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
schen Kaiser und preußischem König hatte die Berliner Regierung dem zentralen Vermittler Flemming ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass, wenn man nun den Residenten Voss noch einmal nach Berlin kommen lassen würde, um dort seine formelle Abschiedsaudienz zu nehmen, man im Gegenzug auch deutliche Zeichen des Entgegenkommens aus Wien – genauer gesagt: vom Reichshofrat – erwarte.633 Welche Bedeutung dieses Thema nach wie vor für beide Seiten besaß, lässt sich auch daran ablesen, dass 1723/24, ungeachtet der gerade wieder offiziell etablierten „guten Beziehungen“, sowohl in Berlin als auch in Wien umfangreiche Sammlungen über die zahlreichen Reichshofratsverfahren entstanden, an denen der preußische König beteiligt war.634 Obwohl mit der Aufhebung der Repressalien in Halberstadt und Minden die aktivste Phase der gesamtevangelischen Reichspolitik definitiv beendet war, verfolgte man in Berlin nach wie vor die eigenen reichspolitischen Ziele mithilfe des Corpus Evangelicorum. Tatsächlich gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen England-Hannover und Brandenburg-Preußen nicht nur im Corpus Evangelicorum in den Jahren 1723/24 nach wie vor eng: Das allgemeine gute Einvernehmen fand in dem im Oktober 1723 in Charlottenburg geschlossenen Freundschaftsvertrag zwischen Brandenburg-Preußen und Großbritannien eine erneute Bestätigung.635 Bereits zu Beginn des Jahres 1723 hatten diese beiden Mächte einen neuen Angriff auf den Reichshofrat initiiert: Das Corpus Evangelicorum stellte dem Kaiser vor, er dürfe dem Reichshofrat in Zukunft nicht mehr gestatten, dass bei der Einsetzung von gemischtkonfessionellen Kommissionen ein mächtiger katholischer 633 So habe Ilgen gegenüber Flemming erklärt, dass nun „der Kayser auch hingegen einige Marquen Seiner gegen Eure Königl. Maj. wieder gefasseten affection und freundschafft geben und sonderlich in der Tecklenburgischen Sach wie auch wegen der renitierenden Edelleute im Magdeburgsichen [gemeint ist der Prozess wegen der Allodifikation der Lehen, R. W.] und anderen der gleichen processen, Eure Königl. Maj. nicht weiter so hart wie bishero tractiren laßen …“; Immediatbericht von Ilgen, Berlin, 3.6.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 300, Bl. 18–19, 19. In einem Schreiben an Flemming wurden zahlreiche konkrete Prozesse aufgeführt, versehen mit dem allgemeineren Hinweis, der Kaiser möge nicht weiter gegen die Reichsverfassung agieren und einen Landesherrn in der legitimen Regierung über seine Untertanen behindern; Geheime Räte Berlin an Flemming, Berlin, 2.6.1723, ebd., Bl. 23–24. 634 Im Februar 1724 wurde von Berlin aus der Befehl an sämtliche Regierungen der Provinzen erteilt, Berichte über die aus ihren Sprengeln ergangenen Appellationen einzusenden; GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 152, Bl. 1; für die daraufhin eingesandten Berichte aus den verschiedenen Landesteilen s. ebd; vgl. dazu auch Schenk, Reichsjustiz, S. 185. In Wien entstand um dieselbe Zeit eine Zusammenstellung über die von „verschiedenen ständen des Reichs wider den König in preußen als Churfürsten zu Brandenburg geführten Klagden, welche bey dem kayserl. Reichshofrath noch anhängig sind“; Brandenburgica 30 (1723–1724). Auch das Thema der gewaltsamen Werbungen auf fremden Territorien bezeichnete nach wie vor einen wichtigen Konfliktpunkt; s. etwa Reichshofratsgutachten vom 24.3.1724 („Gutachten in Sachen Königl. Preußische gewalthtigen Werbungen in specie die hinwegnehmung des kayserl. Postilions zu Silhorst betr. …“), HHStA, RHR, Vota 46-23. 635 Loewe, Staatsverträge Friedrich Wilhelms I., S. 278–284.
III. Von der Religions- und Verfassungskrise zum Herrenhauser Bündnis
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und ein schwächerer evangelischer Reichstand als Kommissare ernannt würden, denn diese Praxis widerspräche dem Sinn der Paritätsregelungen des Westfälischen Friedens.636 Von der Durchsetzung dieses Konzepts hätten Kurhannover und Kurbrandenburg gleichermaßen profitiert: Zum einen wären die Freiheiten der kaiserlichen Gerichtsbarkeit grundsätzlich empfindlich eingeschränkt worden – eine Folge, die zweifellos vor allem im reichspolitischen Interesse Berlins lag.637 Zum anderen hätte der Kaiser noch häufiger auf die mächtigeren evangelischen Reichsfürsten als Kommissare zurückgreifen müssen – und dadurch hätte vermutlich besonders Hannover profitiert, das man in Wien bei Kommissionsvergaben im norddeutschen Raum dem Konkurrenten Brandenburg-Preußen schon seit einigen Jahren vorzog.638 Der Reichshofrat erteilte erwartungsgemäß auch diesen neuen Forderungen des Corpus Evangelicorum eine umfassende Absage.639 Ein in dieser Frage im April 1723 verfasstes Votum bewertete den Vorstoß primär unter dem Gesichtspunkt, dass die protestantischen Reichsstände sich auch in diesem Fall wieder „gantz einseitig eine interpretationis authenticae Instr. Pacis in einer die kayserlichen allerhöchste autoritas und das ganze Reich betreffenden, so wichtigen sach, anmaßen“. Aber auch materiell wies der Reichshofrat die evangelischen Argumente zurück: Zum einen hob das Votum auf den Wortlaut von IPO § 51 ab, der lediglich die zahlenmäßige Parität und nicht die qualitative Gleichrangigkeit der Kommissare festlege. Auch sei die Annahme, „als ob der schwächere [Kommissar] allezeith dem mächtigen nachgeben, vor demselben ein forcht habe, ja gar still schweige“, keinesfalls zulässig. Schließlich argumentierte der Reichshofrat auch mit der Impraktikabiliät einer solchen Regelung, die wiederum auf die eigentlichen Beweggründe der Initiatoren verweise: nämlich eine weitere Schwächung der kaiserlichen Justiz. Die offizielle kaiserliche Zurückweisung des Vorstellungsschreibens unterstrich denn
636 Schauroth, Sammlung 1, S. 352–354 (Vorstellungsschreiben vom 30.1.1723). Wie schwierig es zu diesem Zeitpunkt bereits war, für derartige Schreiben an den Kaiser im Corpus Evangelicorum positive Beschlüsse herbeizuführen, verdeutlicht der lange Zeitraum, der zwischen der Entstehung und der Überreichung des Schreibens lag: Das Vorstellungsschreiben wurde erst Ende April 1723 autorisiert und überreicht. Von den Problemen bei der Ausfertigung dieses Vorstellungsschreibens berichtete auch Metternich: Relation von Metternich, Regensburg, 11.2.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 31, Fasz. 2. 637 So wurde Metternich angewiesen, im Zusammenhang der Beschwerde wegen der „ungleichgewichtigen“ Kommissionen in der evangelischen Konferenz zudem darauf hinzuweisen, dass der Reichshofrat auch sonst häufig die Reichsgesetze verletze, indem er beispielsweise Prozesse annähme, die bereits am Reichskammergericht verhandelt wurden – eine Anspielung, die vermutlich auf den Prozess um Tecklenburg zielte; Reskript an Metternich, Berlin, 20.2.1723, ebd.; zum Reichshofratsverfahren wegen Tecklenburg vgl. Klueting, Grafschaft, S. 118–127; s. a.Kap. C. III., Kap. E. III. 2., Kap. E. IV. 3. 638 Vgl. Kap. C. III. 639 Zum Folgenden: Reichshofratsgutachten vom 29.4.1723 („Gutachten in Sachen Kayserl. Commission-Ertheilung ins Reich und die von den A. C. verwandten gesandtschafften zu Regenspurg eingebrachte beschwärdte betreffend“); HHStA, RHR, Vota 28-1.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
auch die Vermutung, dass dieser Vorstoß primär den „eigennützigen privat-absichten“ bestimmter Reichsstände zuzuschreiben sei.640 Während die Unterstützung im Corpus Evangelicorum für weitere Angriffe dieser Art immer mehr schwand,641 versuchten Brandenburg-Preußen und EnglandHannover wiederholt, durch Appelle die Stimmung bei den Gesandten selbst und bei ihren Höfen im Sinne einer gemeinsamen, aktiven Politik zu beeinflussen. Wrisberg wurde im Sommer 1723 angewiesen, in der evangelischen Konferenz vorzutragen, wie ungern man in Hannover und London zur Kenntnis nehme, dass die „schlechte harmonie“ im Corpus anhalte, ungeachtet der Tatsache, „wie sehr die jura Corporis und alle und jedes deßen Glieder darunter leiden müßten …“.642 Wrisberg sollte bei dieser Gelegenheit auch deutlich machen, dass die übrigen Reichsstände auf die Mächtigen angewiesen seien: Hannover selbst (und auch Brandenburg- Preußen) gehörten schließlich nicht zu jenen, die sich um Hilfe ans Corpus wandten. Und obwohl sie „mithin eigentlich und principaliter bey diesem negotio kein absonderliches interesse hätten“, seien sie niemals vor der Verantwortung für die Religion zurückgeschreckt, was ihnen in ihren „beym Kayserl. Hof habenden Angelegenheiten nicht wenige Ungelegenheiten und Nachtheil verursachet …“. Ähnliche Klagen führte man in Berlin: Die protestantischen Stände würden sich von Wien „ohne alle Noth und Uhrsach […] dergestalt intimidieren und einschrecken laßen, daß fast keiner mehr den Mund aufthun, und vor die Jura der Evangelischen religion sprechen will“.643 Um das Corpus Evangelicorum wieder zu einer selbstbewussten und aktiven Politik zu animieren, verfiel man in Berlin erneut auf Christian Thomasius. Er wurde beauftragt, einen kurzen Aufsatz zu verfassen, der von den evangelischen Bündnissen seit der Reformation handeln sollte, verbunden mit der Aufforderung, dass „dabey auch der Ernst und Eiffer gezeiget würde, so damahlen in Religions-Sachen von den Protestanten gebrauchet worden …“. Es sei nötig, den Höfen und ihren Gesandten vor Augen zu führen, wie vielversprechend die aktuelle 640
Die Antwort auf das Vorstellungsschreiben wegen der Kommissionen bestand in einem kaiserlichen Kommissionsdekret vom 15.8.1723, abgedruckt bei Schauroth, Sammlung 1, S. 354–356. Eine offenbar von der kaiserlichen Prinzipalkommission publizierte Denkschrift betonte insbesondere, dass hinter dem Vorhaben, „gleichgewichtige“ Kommissionen zu erwirken, primär Hannovers Interesse am Streit zwischen dem Osnabrücker Fürstbischof (Ernst August II. von Braunschweig-Lüneburg) und dem Kapitel stünde, da der Reichshofrat in diesem Konflikt KurTrier und Ostfriesland zu Kommissaren ernannt hatte; „Unvorgreiffliches bedencken über deren Ausburg. Confessions-Verwandten etwa führende beschwerde gegen das Kayserl. Comm. De cret vom 16. Aug. 1723“ = Beilage zur Relation von Metternich, Regensburg, 30.12.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 31, Fasz. 2. 641 Für die Stimmungslage (und die Mehrheitsverhältnisse) im Corpus Evangelicorum war es besonders nachteilig, dass Hessen-Kassel sich seit Frühjahr 1723 von der Gruppe der aktiven Mächte zurückgezogen hatte, nachdem in bilateralen Gesprächen zwischen Kassel und Mainz zahlreiche Konfliktpunkte geklärt worden waren; vgl. Biederbick, Reichstag, S. 66; Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 286. 642 Auch zum Folgenden: Reskript an Wrisberg (Extrakt), Herrenhausen, 25.6.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 31, Fasz. 2. 643 Auch zum Folgenden: Geheime Räte Berlin an Thomasius, Berlin, 24.7.1723, ebd.
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Situation im Vergleich zur Reformationszeit sei, da die Protestanten „jetzo klaare Pacta und verträge vor sich, auch von Gott mehr Kräffte und Vermögen dieselbe zu mainteniren haben, als Sie damahlen nicht gehabt …“. Die Schrift sollte den Protestanten also wieder Mut machen, sich mit Rückblick auf ihre Vergangenheit auf ihre gegenwärtigen Potentiale zu besinnen. Man sei, so die Geheimen Räte, auf Thomasius als den richtigen Autor für eine derartige Arbeit verfallen, weil er durch seine zahlreichen pro-evangelischen Schriften (und besonders seine Arbeit zum Simultaneum) in Regensburg über ein hohes Ansehen verfüge. Doch diesmal lehnte Thomasius ab.644 Zum einen, so antwortete er Ilgen, biete die Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts wenig Erbauliches hinsichtlich des Zusammenhalts der Protestanten. Zum anderen aber und wichtiger noch könne man mit einem derartigen Appell angesichts der derzeitigen politischen Passivität der evangelischen Stände ohnehin nichts erreichen. Es sei zwar offensichtlich, dass die Katholiken seit dem Westfälischen Frieden versucht hätten, den Protestanten „die Hälse zu brechen“. Insofern fehle es sicherlich nicht an Material für einen solchen Aufruf – man denke nur an den großen Einfluss der Jesuiten und ihre, häufig erfolgreichen, Konversionsbemühungen an den evangelischen Höfen. Wenn sich aber angesichts der nur allzu bekannten katholischen Umtriebe keiner traue, „auf die Evangelische Politische Union bedacht zu seyn […] oder mit geziemender bescheidenheit gleichfals nur zu begehren, daß andere Principal und Concommissarii, die nicht Cardinäle sind, noch von der Evangelischen Religion zu den Catholischen getreten, auf Kayserlicher Seite geordnet werden möchte“, so lange würden schriftliche Aufrufe jedweder Art nichts fruchten.645 Im Gegenteil, eine Schrift, wie Ilgen sie wünschte, würde den Katholiken nur eine neue Gelegenheit bieten, die Verständigung unter den Protestanten weiter zu hintertreiben. Schließlich aber würde sich der Verfasser einer solchen Schrift aus den genannten Gründen selbst schaden. Dass Thomasius Ilgen recht unumwunden bitten konnte, ihn von diesem Auftrag zu befreien, ist zunächst einmal aufschlussreich für das Verhältnis, in dem Thomasius zum Berliner Hof stand. Thomasius befand sich offenbar in einer sehr privilegierten Position, wenn er, ohne ernsthafte Folgen befürchten zu müssen, eine derartige Anfrage von der Spitze der Regierung nicht nur ablehnen, sondern den Sinn des dahinter stehenden politischen Ansinnens auch noch deutlich in Frage stellen konnte. Doch auch jenseits dieser individuellen Konstellationen gibt Thomasius’ Absage Aufschluss über die Konjunkturen des politischen Protestantismus in den Jahren 1723/24. Thomasius war davon überzeugt, dass der Zeitpunkt für einen engeren Zusammenschluss der Protesanten denkbar ungeeignet war und daher ein Aufruf zur Einheit seiner eigenen Reputation als Reichspublizist eher schaden würde.
644
Thomasius an Ilgen, Halle, 2.10.1723, ebd. Diese Anspielung bezog sich auf den Prinzipalkommissar, Kardinal Christian August von Sachsen-Zeitz, sowie den Kon-Kommisssar, Freiherrn Michael Achatius von Kirchner, die beide Konvertiten waren. 645
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Sowohl die Anfrage der Geheimen Räte als auch die Antwort von Thomasius verweisen aber auch zumindest indirekt auf die noch nicht weit zurückliegenden Bemühungen, auf der Ebene des Reiches zu einer förmlichen theologischen Union oder doch zumindest einer theologischen Annäherung der beiden protestantischen Bekenntnisse zu gelangen. Diese maßgeblich von Regensburg aus geförderten Unions-Versuche der Jahre 1720–1722 hatten nicht die intendierten Folgen gezeitigt, sondern aufgrund der publizistischen Debatte sogar, zumindest zwischenzeitlich, das Bewusstsein für die Gegensätze zwischen Reformierten und Lutheranern verstärkt und damit die politischen Ziele Berlins eher gehemmt als gefördert.646 Konsequenterweise war in dem Auftrag an Thomasius von den theologischen Differenzen zwischen den Protestanten auch keine Rede mehr; vielmehr sollte Thomasius die Reichsstände zu einer evangelischen politischen Union animieren – und dafür primär auf das katholische Bedrohungs-Szenario rekurrieren. Tatsächlich ließ sich langfristig bekanntlich weder eine theologische noch eine politische Union im Rahmen des Corpus Evangelicorum verwirklichen. Doch starb das Corpus als Institution bzw. die gemeinsame evangelische Reichspolitik deswegen nicht einfach einen stillen Tod. Vielmehr sollte sich mit der Quasi-Institutionalisierung durch regelmäßige Konferenzen, Schreiben an den Kaiser, Sammlungen von Religions beschwerden etc. ein Kanon von Rechtsauffassungen etablieren, der durch eben diese Praktiken im Bewusstsein erhalten blieb. Das war nicht unbedingt gleichbedeutend mit der politischen Aktivität im Sinne einer Oppositionspolitik gegen den Kaiser, wie man sie, analog zu den ersten Jahren des Religionsstreits, auch noch 1723/24 in Berlin und Hannover gewünscht hätte; aber die Prinzipien und die Existenz des Corpus Evangelicorum wurden durch die beschriebenen Praktiken gleichsam diskursiv am Leben erhalten. Im Juni 1723 hatte das Corpus Evangelicorum zudem in einer ähnlichen Angelegenheit wie der des Zweibrücker Vergleichs noch einmal Erfolg: Der evangelische Graf von Hohenlohe-Pfedelbach ersuchte das Corpus um eine Garantie für einen Erbfolge-Rezess zwischen der evangelischen hohenlohe-pfedelbachischen Linie und den präsumtiven Erben, den katholischen Grafen zu Hohenlohe-Schillingsfürst.647 Der Sukzessionsvertrag war bereits 1720 zwischen den beiden Linien geschlossen worden und sollte u. a. den Fortbestand des evangelischen Kirchenwesens in Hohenlohe nach dem zu erwartenden Aussterben der letzten evangelischen Grafen absichern.648 Auch der Kaiser hatte in dieser Angelegenheit eine Garantie angeboten; der evangelische Graf wandte sich aber dennoch an das Corpus Evangelicorum.649 Doch bereits im September desselben Jahres wurde die vom Corpus 646
Vgl. Kap. E. II. 4. Schauroth, Sammlung 1, S. 789–790 (Conclusum vom 9.6.1723). 648 Zur Geschichte der Grafschaft Hohenlohe vgl. Fischer, Geschichte des Hauses Hohenlohe, bes. S. 3–11; zur konfessionellen Entwicklung seit 1667 vgl. Schoch, Gegenreformation in Hohenlohe; für die Religionskonflikte, insbesondere seit Mitte des 18. Jahrhunderts: vgl. Vötsch, Hohenloher Religionsstreitigkeiten. 649 Vgl. Biederbick, Reichstag, S. 69. 647
III. Von der Religions- und Verfassungskrise zum Herrenhauser Bündnis
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gegebene Garantie durch ein kaiserliches Reskript annulliert. Wie diese erneute Kassierung einer gesamtprotestantischen Garantie zeigt, war man in Wien weiter hin darum bemüht, das Corpus Evangelicorum als Corpus politicum zu delegitimieren.650 Dennoch wurde der kaiserlichen Kommission in Regensburg im August 1723 per Reskript bekanntgegeben, auf welche Weise man die evangelischen Religionsgravamina endgültig erledigen wolle: Einige der Beschwerden, die „der schlechten Importanz halber, keiner kostbahren Commission werth“ seien, sollten durch schriftliche Verfügungen gelöst werden; für die übrigen stellte der Kaiser Lokalkommissionen in Aussicht. Bedingung für die Umseztung dieser Ankündigungen war gleichwohl nach wie vor zum einen die Abberrufung des evangelischen Gesandten Reck aus der Pfalz und zum anderen die vollständige Restitution der Einkünfte des Klosters Hamersleben.651 Die Erfüllung eben dieser Bedingungen, die Abberufung des Hannoveraner Legationssekretärs aus der Pfalz sowie die vollständige Restitution der H amersleber Gefälle, wurden in der Folge auch immer nachdrücklicher von einer Mehrheit der Gesandten in der evangelischen Konferenz gefordert.652 Außerdem waren verschiedene evangelische Gesandte von ihren Höfen angewiesen worden, zu nichts ihre Zustimmung zu erteilen, was im Namen des Corpus Evangelicorum an den Kaiser geschrieben würde, wenn es nicht zuvor als Entwurf der Prinzipalkommission vorgelegt worden sei.653 Diese Praxis machte es Brandenburg-Preußen und Hannover praktisch unmöglich, schärfer formulierte Schreiben an den Kaiser in der Konferenz mittels einer raschen Beschlussfassung durchzusetzen. Zwar konnte auch die gemäßigte Fraktion innerhalb des Corpus Evangelicorum hinter den einmal geforderten Modus der Behandlung der diversen Religionsbeschwerden in Form von Lokalkommissionen nicht zurück; jedoch vermochten Brandenburg-Preußen und Hannover die Mehrheit im Corpus nicht mehr zu einer Form der Oppositionspolitik wie noch 1720/21 zu veranlassen. Im April 1724 wurde im Corpus Evangelicorum endgültig ein Beschluss über die Abberufung Recks sowie die völlige Restitution des Klosters Hamersleben gefasst. Sowohl in Hannover als auch in Berlin äußerten sich die Regierungen nicht eben angetan von diesen Entwicklungen. Doch während Georg I. bereits im Folgemonat tatsächlich Recks Rückkehr nach Regensburg anwies,654 erklärte man in Berlin: „mit der restitution der Hammerslebischen 650 Zum Umgang des Kaisers und des Reichshofrats mit vom Corpus Evangelicorum ausgesprochenen Garantien vgl. Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt, S. 172–199. 651 Pachner von Eggenstorf, Sammlung 4, S. 176–178 (Kaiserliches Reskript an die Prinzipalkommission, Wien, 28.9.1723), Zitat S. 178. 652 Relation von Metternich, Regensburg, 13.4.1724, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 31, Fasz. 3; Schauroth, Sammlung 1, S. 730 (Schreiben an den König in Preußen: „Die Restitution der noch rückständigen Hammerslebischen Revenüen betreffend“, 8.2.1723); Schauroth, Sammlung 2, S. 462 (Conclusum vom 12.4.1723 [Extrakt]: „Die Reckische Avocation aus der Pfalz und Sr. Königl. Majest. von Groß-Brittanien abzustattenden unterthänigste Dancksagung betreffend“). 653 Geheime Räte Hannover an Geheime Räte Berlin, Hannover, 5.7.1724, GStA PK, I. HA, Rep. 10, Nr. 67 a, Fasz. 3. 654 Vgl. Biederbick, Reichstag, S. 75.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Revenuen werden Seine Königl. Mt. sich auch nicht übereylen“, da solches „dem Evangelischen Wesen mehr schädlich als zuträglich seyn würde …“.655 Trotzdem genehmigte der Kaiser in einem Kommissionsdekret vom Mai 1724 grundsätzlich die Lokalkommissionen.656 Diese Lösung war vornehmlich vom kaiserlichen Konkommissar in Regensburg, dem Freiherrn Michael Achatius von Kirchner, in langwierigen Verhandlungen mit dem Corpus Evangelicorum erreicht worden.657 Wenngleich die in der polnischen Stadt Thorn im Sommer 1724 ausbrechenden konfessionell motivierten Tumulte und das anschließende „Thorner Bluturteil“ noch einmal in Regensburg zu einer Flut von konfessionellen Streitschriften führten, war der reichsweite Religions-und Verfassungskonflikt im Sommer 1724 praktisch befriedet.658 Das hieß allerdings nicht, dass man in Wien in der Folge diesem Thema nicht nach wie vor eine erhöhte Aufmerksamkeit zollte. Gerade im Zuge der seit Mitte der 1720er Jahre immer dringender werdenen Suche nach Verbündeten – auch und gerade im Reich – war die kaiserliche Diplomatie darum bemüht, Ansatzpunkte für eine erneute „Konfessionalisierung der Reichspolitik“ nach Möglichkeit zu neutralisieren.659 2. Brandenburg-preußische Reichspolitik im Kontext des Herrenhauser Bündnisses Mit der Verständigung zwischen Spanien und dem Kaiser, die im ersten Wiener Frieden 1725 offiziell wurde, rückten England-Hannover und Brandenburg-Preußen außenpolitisch – und gegen Wien – noch näher zusammen und schlossen gemeinsam mit Frankreich Anfang September 1725 das Bündnis von Herrenhausen.660 Die Herrenhauser Allianz, der auch Dänemark, Schweden und das mit Schweden 655 Geheime Räte Berlin an Geheime Räte Hannover, Berlin, 29.4.1724, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 31, Fasz. 3. 656 Schauroth, Sammlung 3, S. 134–135 (Kaiserliches Kommissionsdekret vom 3.5.1724). 657 Zu den Verhandlungen s. die abgedruckten Schreiben in: EStC 45, S. 373–410. 658 Im Juli 1724 waren in Thorn konfessionell motivierte Tumulte ausgebrochen, in deren Folge zwölf evangelische Bürger zum Tode verurteilt worden waren und die evangelische Gemeinde der Stadt mit schweren Repressionen belegt wurde. Europäische evangelische Mächte protestierten gegen dieses harte Verfahren; vor allem Friedrich Wilhelm I. bemühte sich um eine Intervention zugunsten der evangelischen Untertanen. Aus dem zahlreichen zeitgenössischen Schrifttum zu diesem Ereignis sei lediglich hingewiesen auf: Jabolonski, Das betrübte Thorn. Allgemein zur brandenburg-preußischen Schutzpolitik zugunsten der polnischen Protestanten vgl. die ältere Arbeit von Rhode, Brandenburg-Preußen und die Protestanten in Polen. Die jüngere Studie von Hartmann, Polenpolitik, bietet eine Einbettung der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik in die allgemeine Außenpolitik und korrigiert so in manchen Aspekten die Arbeit von Rhode. Für die englische Politik im Kontext der Thorner Krise vgl. Thompson, Protestant Interest, S. 97–132. 659 Dazu weiter unten in diesem Kap. (E. IV. 2.–IV. 4.). 660 Zur Allianz von Herrenhausen nach wie vor am ausführlichsten: Chance, Alliance. Der Vertragstext ist abgedruckt bei Loewe, Staatsverträge Friedrich Wilhelms I., S. 285–294.
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in Personalunion verbundene Hessen-Kassel sowie später auch noch die Niederlande beitraten, richtete sich grundsätzlich gegen das spanisch-kaiserliche Bündnis. Der Beitritt Brandenburg-Preußens zu dieser englisch-französischen Allianz führte wiederum zu einer noch engeren Verbindung zwischen Österreich und Spanien.661 Obwohl England-Hannover und Brandenburg-Preußen Ende 1725 also offiziell enger verbündet waren als je zuvor in den vergangenen Jahren, zeigte das gegenseitige Verhältnis doch schon bald Risse. Diese Spannungen gingen zum einen auf die anti-russische Ausrichtung des Herrenhausener Bündnisses zurück, die Friedrich Wilhelm I. nicht befürwortete.662 Zum anderen verschlechterte sich die Beziehung Brandenburg-Preußens zu den Herrenhauser Alliierten durch den Beitritt der Generalstaaten. Weil eine Verstärkung der brandenburg-preußischen Präsenz in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht ihrem geopolitischen Interesse entsprach, setzten die Niederlande den von Friedrich Wilhelm I. geforderten Garantien für die Erbfolge in Jülich und Berg deutlichen Widerstand entgegen. In der Folge verhielten sich auch Frankreich und England in dieser Frage gegenüber Brandenburg- Preußen weniger entgegenkommend.663 Umgekehrt teilte Friedrich Wilhelm I. nicht die handelspolitischen Ziele der Seemächte, die sich auf die Zerschlagung der vom Kaiser ins Leben gerufenen Kompanie von Ostende konzentrierten; ebensowenig unterstützte er die Haltung Englands und der Niederlande in der holsteinischen Frage.664 Die immer deutlicher zutage tretenden Spannungen zwischen den Herrenhauser Bündnispartnern und Berlin äußerten sich aber auch auf dem Gebiet der konfessionspolitischen Zusammenarbeit zwischen Brandenburg-Preußen und Hannover im Rahmen des Corpus Evangelicorum, wie im Folgenden ausführlicher zu zeigen sein wird. Obwohl sich also außenpolitisch die konfessionellen Blöcke fast geschlossen in den jeweilligen Bündnissystemen in Europa gegenüberstanden und die Kriegsgefahr bis Ende 1725 immer weiter stieg, führten diese Verhältnisse gerade nicht zu einer intensiveren Politik des Corpus Evangelicorum. Zwar appellierten Hannover und Brandenburg-Preußen nach wie vor uni sono an die übrigen evangelischen Reichsstände, sich wieder aktiv um die Religionsbeschwerden im 661 Am 5. November 1725 schlossen Spanien und der Kaiser einen weiteren Allianzvertrag, in dem sich beide gegenseitige militärische Unterstützung versprachen, Spanien die Pragmatische Sanktion garantierte und der Kaiser die Eheschließung zweier seiner Töchter mit den Söhnen Elisabeth Farneses in Aussicht stellte (Maria Theresia sollte Don Carlos heiraten); vgl. Aretin, Reich 2, S. 299–302; Hughes, Law, S. 190–193. 662 Nach dem Tod Peters des Großen im Februar 1725 war die neue außenpolitische Ausrichtung Russlands zunächst unklar; im Sommer 1726 schloss sich die Zarin Katharina I. dann Spanien und Österreich an. An einem guten Verhältnis zu Russland war Friedrich Wilhelm I. auch wegen der gemeinsamen Haltung gegenüber Sachsen-Polen gelegen; vgl. Immich, Staatensystem, S. 260–262; Hughes, Law, S. 198. 663 Vgl. Duchhardt, Balance of Power, S. 276–277. 664 Während Russland und Schweden dem Herzog von Holstein-Gottorp den Wiedergewinn Schleswigs zugesichert hatten, unterstütze England den König von Dänemark in seinen Ansprüchen auf Schleswig; ausführlich zu diesen Aspekten der Herrenhauser Allianz: Chance, Alliance, S. 104–122.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Reich zu kümmern und aus ihrer „in Religions-Sachen gehabten lethargie [zu] erwachen“;665 die Differenzen wurden jedoch allzu deutlich, als Brandenburg-Preußen im Sommer 1725 einen neuen Vorstoß in der Frage der reichshofrätlichen Kommissionen machte: In Anlehnung an die Beschwerde über die „ungleiche“ Besetzung gemischtkonfessioneller Kommissionen, die 1723 von Hannover und Brandenburg-Preußen gemeinsam vorgebracht worden war, lancierte die Berliner Regierung einen neuen Angriff auf die reichshofrätliche Exekutionspraxis: In Streitigkeiten zwischen zwei evangelischen Parteien, so die Forderung, sollten auch ausschließlich evangelische Kommissare vom Reichshofrat beauftragt werden, und zwar nicht nur in „Religionssachen“, sondern in allen Verfahren, an denen ausschließlich Protestanten beteiligt waren – alles andere verstoße gegen die Paritätsbestimmungen des Reichsrechts.666 Metternich, dem befohlen worden war, das Thema im Corpus Evangelicorum zu vertreten, setzte sich auch sogleich mit seinem Hannoveraner Kollegen in Verbindung. Sowohl Metternich als auch Wrisberg sprachen sich zunächst dafür aus, diese Frage mit der Beantwortung des kaiserlichen Kommissionsdekrets vom 13. August 1723 zu verbinden, in dem der Kaiser die vorherige Beschwerde über die gemischtkonfessionellen Kommissionen zurückgewiesen hatte.667 In Berlin wandte man sich zudem auch direkt an die Hannoveraner Geheimen Räte, um für ein gemeinsames Vorgehen in dieser Frage zu werben.668 Die Antwort aus Hannover behandelte das Thema allerdings eher dilatorisch. Die Geheimen Räte gaben zu bedenken, dass die derzeitige Stimmung im Corpus Evangelicorum für eine solche Initiative nicht eben günstig sei und dass man die Beantwortung des Kommissionsdekrets vom August 1723 – und damit auch die neue Beschwerde gegen den Reichshofrat – besser noch einige Zeit anstehen lassen solle.669 Auf dieses ernüchternde und „überhaupt sehr kühl gefasset[e]“670 Schreiben aus Hannover antworteten die Berliner Geheimen Räte wiederum, man werde sich wohl gefallen lassen müssen, dass das Thema in Regensburg derzeit noch nicht „poussiret“ werde, man bitte aber nichtsdestoweniger, dass Hannover sich zumindest in der Praxis der brandenburg-preußischen Interpretation des Reichsrechts in diesem Punkt anschließe: Wenn in Zukunft evangelischen Reichsständen und besonders dem preußischen König („welcher noch immer aus mehr erwehntem Reichs-Hof-Rath hart zugesetzet und ein Gravamen über das andere zugefühget wird …“) derartige Kommissionen „auf den Hals gehetzt“ würden, möge man in Hannover solche Kommissionen nicht anerkennen, noch weniger übernehmen. Stattdessen erwartete man in Berlin, „daß S. Königl. Mt. von 665
Reskript an Metternich, Berlin, 14.4.1725, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 31, Fasz. 4. s. den Entwurf für ein Pro Memoria, das Metternich in der evangelischen Konferenz vorstellen sollte: „Projekt“ = Anlage zur Relation von Metternich, Regensburg, 11.10.1725, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Fasz. 65. 667 Relation von Metternich, Regensburg, 11.6.1725, ebd. 668 Geheime Räte Berlin an Geheime Räte Hannover, Berlin, 19.6.1725, ebd. 669 Geheime Räte Hannover an Geheime Räte Berlin, Hannover, 7.7.1725, ebd. 670 So die Einschätzung Canngiessers: Bericht von Canngiesser, o. O., 27.7.1725, ebd. 666
III. Von der Religions- und Verfassungskrise zum Herrenhauser Bündnis
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Groß-Brittanien Sie [den preußischen König] in solchen Fällen am kayserlichen Hof mit allem ernst und nachdruck secundiren zu helffen belieben wollen“.671 Auch der brandenburg-preußische Reichshofratsagent Graeve wurde umgehend angewiesen, eine Auflistung derjenigen Prozesse zu erstellen, bei denen der preußische König entweder unmittelbar betroffen oder aber „interessiert“ sei und bei denen zwei evangelische Parteien und mindestens ein katholischer Kommissar beteiligt waren. Die von Graeve daraufhin eingesandte Liste umfasste einige der politisch brisantesten Prozesse: die Klagen des Halberstädter Domkapitels wegen der Residenzpflicht und der Magdeburger Ritterschaft gegen die Allodifkation der Lehen sowie die hinsichtlich der Arrondierungsbestrebungen Brandenburg-Preußens bedeutsamen Verfahren um Tecklenburg, Limpurg und Ostfriesland.672 In Wien erfuhr man bald von diesen erneuten Angriffen auf den Reichshofrat. Der neue brandenburg-preußische Gesandte in Wien, Christian von Brandt,673 berichtete im November 1725, dass die Berliner Pläne am Reichshofrat und unter den kaiserlichen Ministern großes Aufsehen erregten.674 Doch in Berlin war man offenbar entschlossen, die hergebrachte Politik ungeachtet aller Widerstände weiterzufühen. Brandt wurde zu verstehen gegeben, dass man sich in Berlin um das Missfallen des kaiserlichen Hofes „nicht kehren“ werde, vielmehr wolle man „das Werck allda so lange poussieren, als man zu Wien fort fährt, uns auff solche arth zu drücken …“.675 Erklärungsbedürftiger als die geschilderten Reaktionen aus Wien sind allerdings diejenigen, die die brandenburg-preußische Initative im Corpus Evangelicorum hervorriefen. Hatte Hannover bereits eindeutig Distanz signalisiert, wurde von Seiten Kursachsens noch deutlichere Kritik laut. Tatsächlich zielte der Angriff auf die kaiserlichen Kommissionen nur allzu deutlich speziell auf Kursachsen ab, das laut der Berliner Interpretation – ungeachtet seines Direktorenpostens im Corpus Evangelicorum – in dieser Frage nicht als evangelischer Kommissar zu gelten habe, sondern als katholischer, weil die Kommissionen immer auf den Landesherrn ernannt würden.676 Die kursächsische Kritik ging allerdings auf diese juristischen Interpretationen (die sich, wie schon 1723, hauptsächlich auf IPO § 51 Art. 5 bezog) kaum ein. Die reichsrechtlichen Deduktionen aus Berlin grundsätzlich zurückzuweisen, verbot sich für Kursachsen schon deswegen, weil diese auf jenen Prinzipien fußten, die bereits 1723 – damals noch unter Zustimmung vor allem Hannovers
671 Geheime Räte Berlin an Geheime Räte Hannover, Berlin, 15.8.1725, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Fasz. 65. 672 „Designation Seiner Königl. Mayt. in Preußen am Kayserl. Reichs-Hoff Rath habenden hohen Rechts Angelegenheiten mit Evangel. Religions Verwandten Partheyen, wo Deroselben gegen die diposition des Instrumenti Pacis Westphal. Catholische Commissarien aufgedrungen werden wollen.“ = Anlage zur Relation von Graeve / Brandt, Wien, 29.9.1725, ebd. 673 Christian von Brandt war seit Juni 1724 in Wien als Gesandter akkreditiert; vgl. Hausmann, Repertorium, S. 292. 674 Relation von Brandt, Wien, 24.11.1725, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Fasz. 65. 675 Reskript an Brandt, Berlin, 4.12.1725, ebd. 676 Reskript an Metternich, Berlin, 20.10.1725, ebd.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
und schließlich auch des gesamten Corpus Evangelicorum – zur Forderung machtpolitisch ausgewogener, gemischt-konfessioneller Kommissionen angewandt worden waren. Der Berliner Vorstoß von 1725 stellte letztlich nur eine – wenngleich radikale – Weiterentwicklung dieser Interpretation des Paritätsgebotes dar. Stattdessen stand im Mittelpunkt der kursächsischen Kritik der Vorwurf, dieses brandenburg-preußische Projekt sei ausschließlich aus „particular Absichten“ erwachsen. Dahinter stehe die alte Absicht, Kursachsen das Direktorium im Corpus sowie im Obersächsischen Kreis zu entwinden, indem man nun das kursächsische Territorium als katholisch ansehe (anstatt wie vorher lediglich die Person des Kurfürsten). Dann aber, so die Argumentation der kursächsischen Räte, könne Kursachsen auch kein evangelisches Votum mehr führen, geschweige denn das Direktorium des C orpus Evangelicorum innehaben, wodurch dem „evangelischen Wesen im Reich“ ein ganzes Kurfürstentum verloren ginge.677 Wie eindeutig die Berliner Initative gegen den (Raum-)Konkurrenten Kursachsen gerichtet war, zeigt bereits der Blick auf die von Graeve verfasste Liste derjenigen Verfahren, in denen jeweils der König in Preußen und eine andere evangelische Partei mit einem katholischen Kommissar konfrontiert waren: In fast allen diesen Prozessen war der König von Polen bzw. Kurfürst von Sachsen als Kommissar beteiligt (in den Verfahren um Tecklenburg und um Ostfriesland, in der Halberstädter Residenz-Klage sowie bei der Allodifikation der Lehen). Dagegen wird die nach wie vor ungeklärte Direktoriumsfrage wohl zu diesem Zeitpunkt nicht im Mittelpunkt der Berliner Überlegungen gestanden haben,678 und Metternich bemühte sich auch in Regensburg, diesem Eindruck entgegenzutreten.679 Gleichwohl eignete sich für Kursachsen dieser Ansatzpunkt besonders gut, um die brandenburg-preußische Initiative innerhalb des evangelischen Lagers zu diskreditieren. Neben Kursachsen übte auch Wolfenbüttel harte Kritik an dem brandenburg- preußischen Projekt: Wolfenbüttel konzentrierte sich in seiner Ablehnung der Berliner Plänen auf ähnliche Argumente wie Kursachsen, indem man Brandenburg-Preußen vorwarf, ausschließlich zugunsten seiner Partikularinteressen einen Austritt Kursachsens aus dem Corpus Evangelicorum zu riskieren und damit eine massive Schwächung des Protestantismus billigend in Kauf zu nehmen.680 Doch hinter diesen Vorwürfen und Szenarien standen freilich genauso machtpolitische Interessen wie hinter der brandenburg-preußischen Initiative: Als protestantische Reichsstände 677 Kursächsisches Pro Memoria = Anlage zur Relation von Metternich, Regensburg, 27.12. 1725, ebd. 678 In den überlieferten Akten und insbesondere in der internen Korrespondenz wird lediglich auf die Reichshofratsverfahren abgehoben. 679 „In Ansehung des Königs in Pohlen kommt es dermahlen nicht darauf an, ob er als Churfürst zu Sachsen vor einen Director des Obersächsischen Creises oder auch des Ev. Corporis zu erkennen, sondern darauf, ob Er als Catholicus in Sachen, die bloß unter Ev. schweben, als kayserlicher Commissarius gültig seyn könne?“; Reskript an Metternich, Berlin, 20.10.1725, ebd. 680 Bericht von Canngiesser, o. O., 21.1.1726, ebd.
III. Von der Religions- und Verfassungskrise zum Herrenhauser Bündnis
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konnten weder Wolfenbüttel noch Hannover ein Interesse an der Durchsetzung der Berliner Pläne haben. Wenn Kursachsen aus der Reihe der möglichen Kommissare ausgeschieden wäre, die gegen evangelische Reichsstände im mittel- und norddeutschen Raum eingesetzt werden konnten, hätte dies beiden geschadet. Denn sowohl Hannover als auch Wolfenbüttel waren häufig vom Kaiser gemeinsam mit Kursachsen mit Kommissionen betraut worden – und hatten damit auch zahlreiche Aufträge übernommen, von denen Brandenburg-Preußen direkt oder indirekt betroffen war. Ein Erfolg der Berliner Initiative aber hätte für den Kaiser eine massive Einschränkung in der Wahl potentieller Kommissare im norddeutschen Raum bedeutet – und davon hätte hauptsächlich Brandenburg-Preußen profitiert. In der Tat hatte sich der Kaiser seit dem Westfälischen Frieden für die Reichspolitik im „kaiserfernen“, norddeutschen Raum ganz maßgeblich auf die Praxis gestützt, Kommissionen an konkurrierende Reichsstände zu vergeben, um für ein gewisses Gleichgewicht in dieser Region zu sorgen. Dass dem brandenburg-preußischen agrandissement durch eine massive Beschränkung dieser Möglichkeiten zukünftig noch weniger Grenzen gesetzt würden, daran konnten die Nachbarterritorien so wenig Interesse haben wie der Kaiser selbst. Und wirklich stand im Mittelpunkt des Berliner Vorstoßes gegen die katholischen Kommissare ein konkretes agrandissement-Projekt Brandenburg-Preußens, nämlich das Fürstentum Ostfriesland.681 Für das von Ständekonflikt und Bürgerkrieg geschüttelte Territorium hatte der Kaiser 1723 eine Kommission auf Wolfenbüttel und Kursachsen ernannt. Sowohl Brandenburg-Preußen (als Direktor des Westfälischen Reichskreises) als auch Hannover waren dabei bewussst übergangen worden; Brandenburg-Preußen, weil es bereits ohnehin militärisch in Ostfriesland präsent war, Hannover dagegen wohl aufgrund der zu diesem Zeitpunkt stark abgekühlten Beziehungen zwischen Karl VI. und Georg I.682 Die brandenburg-preußischen Interventionen in Ostfriesland gingen, wie der Konflikt zwischen Ständen und Fürst, bis ins 17. Jahrhundert zurück.683 Brandenburg-Preußen hatte im Ständekonflikt praktisch durchgehend die „Renitenten“ unterstützt, eine Gruppe von Landständen, die unter Führung Emdens gegen den Landesherrn opponierten. Dabei war es Brandenburg-Preußen vor allem durch ein 681 Die Konzentration auf Ostfriesland geht aus der Berliner Überlieferung eindeutig hervor; s. etwa Reskript an Metternich, Berlin, 16.4.1726, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Fasz. 65. Die Berliner Regierung ließ sich in diesem Kontext nochmals vor Ort versichern, dass es in Ostfriesland keinerlei katholische Landstände gebe, denn eine solche Konstellation hätte die brandenburg-preußische Argumentation für den Fall des ostfriesischen Ständekonflikts wertlos gemacht; Sebastion Anthon Homfeld an Geheime Räte Berlin, Emden, 15.1.1726, ebd.; s. a. den internen Bericht Canngiessers zu diesem Brief: Bericht von Canngiesser, o. O., 21.1.1726, ebd. 682 Vgl. Hughes, Law, S. 140. Ironischerweise scheint in Wien bei der Entscheidung für Wolfenbüttel und Kursachsen nicht zuletzt die Überlegung eine Rolle gepielt zu haben, dass im Falle Ostfrieslands, wo beide Parteien (Herzog und Stände) evangelisch waren, der Kaiser die Kommission auch nur auf protestantische Reichsstände ernennen sollte; vgl. ebd. 683 Zum Folgenden vgl. Rother, Auseinandersetzungen; Hughes, Law.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Ende des 17. Jahrhunderts von Leopold I. auf die Direktoren des Westfälischen Kreises ernanntes Konservatorium sowie durch die Stellung des ostfriesischen Kontingentes zur Kreisarmatur zu Beginn des 18. Jahrhunderts gelungen, seine eigene militärische Position in Ostfriesland auszubauen.684 Auch andere auswärtige Mächte intervenierten im ostfriesischen Ständekonflikt auf beiden Seiten; die Emdener Partei wurde neben Brandenburg-Preußen besonders durch die benachbarten Niederlande unterstützt. Seitdem der Konflikt in den 1720er Jahren in Wien wieder intensiver verhandelt wurde, wiesen die Gutachten des Reichshofrats regelmäßig auf die Gefahr der auswärtigen Interventionen hin, unter deren Einfluss schon wegen der immensen finanziellen Belastungen, die mit den zahlreichen fremden Truppen einhergingen, ein geregeltes landesherrliches Regiment auf die Dauer nicht zu etablieren sei. Ähnlich wie im Mecklenburgischen Ständekonflikt bemühte sich der Kaiser, den Einfluss auswärtiger Mächte möglichst zurückzudrängen und selbst als die zentrale Vermittlungs- und Schlichtungsinstanz zu agieren.685 Der Reichshofrat betonte ausdrücklich das offensichtliche Streben Brandenburg-Preußens, sich Ostfriesland einzuverleiben – und warnte vor den Folgen.686 Tatsächlich konnte sich Brandenburg-Preußen auf eine Expektanz für Ostfriesland berufen, die Friedrich III./I. 1694 von Leopold I. erhalten hatte, die aber von Seiten der ostfriesischen Fürsten nie akzeptiert worden war. Mit Verweis auf diese Expektanz versuchte die brandenburg-preußische Politik, sich sowohl vor Ort als auch in Regensburg und in Wien als idealer Vermittler zu inszenieren.687 So verlangte der Reichshofratsagent Graeve im Mai 1724 eine Annulierung der auf Kursachsen und Wolfenbüttel ernannten Kommission, weil Friedrich Wilhelm I. – sowohl in Anbetracht des Direktoriums des Westfälischen Kreises als auch hinsichtlich der Expektanz – in seinen legitimen Ansprüchen übergangen worden sei. Der preußische König sei selbst nicht als Partei innerhalb des Ständekonfliktes zu verstehen, es sei vielmehr seine Aufgabe als präsumptiver Nachfolger, dafür zu sorgen, dass der Einfluss fremder Mächte in Ostfriesland nicht überhand nehme.688 Sowohl der regierende Fürst Georg Albrecht als auch der Reichshofrat lehnten die Vermittlungsversuche Brandenburg-Preußens allerdings ab. Der Reichshofrat verwies die Parteien stattdessen auf die kaiserliche Kommission und verlangte nach wie vor den vollständigen Abzug sämtlicher brandenburg-preußischer Truppen.689 Fürst Georg Albrecht wiederum suchte gegen die „Renitenten“ sowie gegen die mit militärischer Präsenz untermauerten erbrechtlichen Ansprüche Brandenburg-
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Vgl. Rother, Auseinandersetzung, S. 40. Vgl. Hughes, Law, S. 128–129. 686 Vgl. die Zusammenfassung der Reichshofratsgutachten der Jahre 1720–1723 ebd., S. 129–143. 687 Vgl. Rother, Auseinandersetzung, S. 56–61. 688 Damit bezog sich Brandenburg-Preußen letztlich auf dasselbe Argument, das der Reichshofrat angeführt hatte, um Brandenburg-Preußen nicht zum Kommissar zu ernennen, nämlich die Tatsache, dass Brandenburg-Preußen im ostfriesischen Ständekonflikt als „interessierte Macht“ gelten müsse; vgl. Hughes, Law, S. 143. 689 Vgl. ebd., S. 143. 685
III. Von der Religions- und Verfassungskrise zum Herrenhauser Bündnis
411
Preußens nicht nur in Wien Unterstützung, sondern wandte sich auch nach Hannover.690 Denn auch Georg I. verfügte über bestimmte Sukzessionsrechte in Ostfriesland, die auf Erbverbrüderungsverträge zurückgingen, welche zwischen den beiden Häusern in den Jahren 1690/91 geschlossen worden waren. Angesichts des sich immer weiter zuspitzenden Ständekonflikts und der immer drückenderen Übermacht Brandenburg-Preußens bemühte sich Georg Albrecht mehrfach in Hannover um finanzielle und militärische Unterstützung und bot im Gegenzug eine Erneuerung der Erbverbrüderung an. Die Hannoveraner Politik war hinsichtlich Ostfrieslands jedoch äußerst zurückhaltend. Zwar scheiterte Brandenburg-Preußen wiederholt in dem Bemühen, von Hannover einen „Konsens“ zu der vom Kaiser gewährten Expektanz zu erhalten; gleichzeitig vermied es die Hannoveraner Politik aber auch, zu eindeutig die eine oder die andere Partei im Ständekonflikt zu unterstützen, weswegen auch in den ersten Jahren der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. die ostfriesische Frage für das Verhältnis Berlin – Hannover kaum Konfliktpotential geboten hatte. Hannover hatte es über Jahre hinweg, aller Hilfegesuche und Angebote Georg Albrechts ungeachtet, unterlassen, irgendwelche eigenen Rechte oder Forderungen von den bestehenden Erbverbüderungen abzuleiten oder gar eine aktive Rolle im Ständekonflikt zu übernehmen; lediglich eine explizite Anerkennung der brandenburg-preußischen Expektanz hatte man durchgängig verweigert. Denn trotz dieser konsequent neutralen Haltung, die Hannover in der ostfriesischen Frage einnahm, konnte es doch keinesfalls im hannoverischen Interesse liegen, Brandenburg-Preußens Stellung in Ostfrieland zu stärken. Nicht zuletzt also das Bemühen Hannovers, die Verhältnisse in Ostfriesland möglichst in der Schwebe zu halten oder sie zumindest nicht zugunsten des norddeutschen Konkurrenten zu beeinflussen, erklärt die ablehnende Haltung der Hannoveraner Geheimen Räte gegenüber dem Berliner Versuch, katholische Kommissare für Verfahren zwischen evangelischen Parteien grundsätzlich abzulehnen. Und das, obwohl Hannover ja sogar selbst bei der kaiserlichen Kommissionsvergabe für Ostfriesland übergangen worden war. Doch im konkreten Falle Ostfrieslands hätte eine Hemmung der kaiserlichen Justiz primär Friedrich Wilhelm I. bei der Durchsetzung seiner Ansprüche genutzt. Vor allem aber hätte Hannnover allein durch die Unterstützung der Berliner Initiative – so unwahrscheinlich ihr Erfolg auch gewesen sein mag – zumindest indirekt auch den brandenburg-preußischen Erbansprüchen zugestimmt.691 Obwohl der Versuch Brandenburg-Preußens, gegen die Ernennung katholischer Kommissare vorzugehen, von vornherein kaum Aussicht auf Erfolg hatte, so kann er doch als ein symbolischer Vorstoß verstanden werden, der in mehrere Richtungen zielte. Als weiterer Angriff auf die kaiserliche Reichspolitik bündelte er gleich mehrere konfliktträchtige Themen, die das Verhältnis Berlin – Wien schon seit längerem prägten. In der Berliner Argumentation erschien der Reichshofrat wieder einmal als ein Instrument der anti-evangelischen und zugleich anti-preußischen Reichspolitik 690
Vgl. auch zum Folgenden: Rother, Auseinandersetzung, S. 62–73. Vgl. ebd., S. 73–75.
691
412
E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Wiens: Der Reichshofrat übergehe bewusst – und rechtswidrig – Brandenburg-Preußen bei der Ernennung von Kommissionen; in Wien versuche man mit allen Mitteln, jedes noch so legitime agrandissement Brandenburg-Preußens (wie im Falle Tecklenburgs und Ostfrieslands) zu hintertreiben – und in dieser Politik verbinde sich, so die Berliner Lesart, die grundsätzlich anti-protestantische Haltung Wiens mit der spezifischen jalousie des Hauses Habsburg gegenüber den Brandenburger Hohenzollern. Dass die agrandissement-Bestrebungen der Brandenburger sich freilich nicht nur in Konflikten mit dem Kaiser niederschlugen, sondern natürlich auch in Spannungen mit den Nachbarterritorien, verdeutlichen die Reaktionen aus Kursachsen und Hannover. Ohnehin war das Verhältnis zwischen Berlin und Dresden um 1725/26 äußerst angespannt.692 Die Gründe dafür lagen neben einigen kleineren Territorialkonflikten und langwierigen Zollstreitigkeiten auch in dem engen Verhältnis, das Kursachsen in den vergangen Jahren zum Kaiserhof gepflegt hatte. Die guten Beziehungen zwischen Dresden und Wien hatten sich in der Vergangenheit unter anderem darin geäußert, dass der Kaiser in zahlreichen Reichshofratsverfahren, in denen der preußische König entweder direkt oder indirekt betroffen war, Kur sachsen zum Kommissar ernannt hatte – und Kursachsen diese Aufträge auch angenommen hatte.693 Aber auch im Bereich der Konfessionspolitik traten die Differenzen zwischen Brandenburg-Preußen und Kursachsen deutlich zu Tage. Das so genannte „Thorner Blutgericht“ von 1724 hatte zur nachdrücklichen Verstimmung zwischen Dresden / Warschau und Berlin genauso beigetragen,694 wie die Tatsache, dass Kursachsen im Corpus Evangelicorum nicht nur erfolgreich das Direktorium beanspruchte, sondern spätestens seit 1723 auch die Gruppe der „Gemäßigten“ hinter sich versammelte. Auf diese Weise trug das kursächsische Direktorium maßgeblich dazu bei, dass es der „Aktionspartei“ nicht mehr gelingen sollte, das C orpus Evangelicorum in eine aktive Oppositionspolitik wie in den Jahren 1719–1721 zurückzuführen.695 Obwohl Ostfriesland offensichtlich im Mittelpunkt der brandenburg-preußischen Initiative gegen die Beauftragung katholischer Kommissare in „evangelischen“ Verfahren stand, vermied man sowohl in Berlin als auch in Hannover lange Zeit jeden direkten Hinweis auf die Interessen, die beide Seiten in diesem konkreten 692 Zur angespannten Lage zwischen Kursachsen und Brandenburg-Preußen um 1725 vgl. die Korrespondenz Friedich Wilhelms I. mit dem Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau: Krauske, Briefe, bes. Nr. 373–378. 693 Für den Prozess wegen der Allodifikation der Lehen, in dem sich Kursachsen in den Jahren 1725/26 aktiv um die kaiserliche Kommission bemüht hatte, vgl. Schenk, Reichsjustiz, bes. S. 190–196. Neben den Kommissionen in der Lehnssache und im ostfriesischen Ständekonflikt war es vor allem die von Kursachsen (gemeinsam mit Hannover) in Mecklenburg übernommene Kommission, die das Verhältnis zu Brandenburg-Preußen nachdrücklich getrübt hatte. 694 Vgl. dazu ausführlich Hartmann, Polenpolitik. 695 Deutlich wird die sächsische Position im Corpus Evangelicorum in einer Denkschrift für den kursächsischen Direktorial-Gesandten Gersdorff von Ende 1723; vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 153–154.
III. Von der Religions- und Verfassungskrise zum Herrenhauser Bündnis
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Territorium verfolgten. Hatte sich der Hannoveraner Geheime Rat bereits 1725 von dem brandenburg-preußischen Vorstoß im Corpus Evangelicorum distanziert, so formulierte er seine Ablehnung Anfang 1726 noch deutlicher: Es sei völlig sinnlos, so schrieben die Geheimen Räte im Januar 1726 nach Berlin, sich in einer Frage, in der man „das klare recht nicht vor sich hat“ und gegen die so viele gute Argumente angebracht werden könnten, auf eine erneute Auseinandersetzung mit dem Kaiser einzulassen.696 Selbst der Hannoveraner Reichstagsgesandte Wrisberg musste Metternich erklären, dass er nicht befugt sei, Brandenburg-Preußen in dieser Frage zu unterstützen.697 Daraufhin kamen auch aus Berlin unversöhnlichere Töne. Das ehemals vor allem hinsichtlich der Konfessionspolitik so enge Verhältnis zwischen Hannover und Berlin war trotz der außenpolitischen Verbindung 1725/26 labiler geworden. Diese Entwicklungen ließen in Berlin aber offenbar auch die noch junge Herrenhauser Allianz in einem weniger vorteilhaften Licht erscheinen. So lautete Anfang 1726 die Antwort nach Hannover: Die dortigen Geheimen Räte sollten selbst urteilen, „ob es nicht, da beyderseits königliche Mt. in der ohnlängst zusammen geschlossenen Allianz unter anderem die exacte behauptung des Westphälischen Friedens Instruments sich kräfftigst versprochen, ein schlechtes zeichen […] seyn dörffte, wann man in einem so wichtigen punct von der Reichssatzung abgehen und denen Catholischen deshalb ohne noth die weiche seite zeigen sollte …“.698 Diese explizite Verknüpfung zwischen der Hannoveraner Haltung in der gemeinsamen Konfessionspolitik und dem Wert der Herrenhauser Allianz für Brandenburg-Preußen verdeutlicht noch einmal, dass das Berliner Projekt, die Kommissionsvergabe an katholische Reichsstände einzudämmen, nicht lediglich als Vorschlag für ein konkretes Vorgehen im Corpus Evangelicorum zu verstehen ist. Vielmehr muss dieser von Brandenburg-Preußen so vehement vertretene Vorschlag im unmittelbaren Kontext der angespannten Bündnissituation des Jahres 1726 interpretiert werden: Seit Ende des Jahres 1725 standen sich in Europa und im Reich mit der spanisch-österreichischen und der Herrenhauser Allianz zwei Bündnissysteme gegenüber, die in den Folgemonaten intensiv um neue Partner, auch unter den Reichsständen, konkurrierten. Im Zentrum dieser Bemühungen aber stand im Jahr 1726 Brandenburg-Preußen, das sich zwar offiziell im englisch-französischen Bündnis befand, aber schon ein Jahr nach dem Beitritt zur Herrenhauser
696 Geheime Räte Hannover an Geheime Räte Berlin, Hannover, 11.1.1726, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 65. 697 Relation von Metternich, Regensburg, 31.1.1726, ebd. Der langjährige Hannoveraner Reichstagsgesandte Wrisberg wurde im April 1726 endgültig aus Regensburg abberufen. Ihm folgte im Juni 1726 als neuer Reichstagsgesandter der Freiherr Gerlach Adolf von Münchhausen nach; vgl. Hausmann, Repertorium, S. 175. Die Debatte um die umstrittene Initative Berlins wurde zwischen Metternich und Münchhausen in der zweiten Hälfte des Jahres 1726 in Regensburg weitergeführt; zu diesem Zeitpunkt stand die Frage der brandenburg-preußischen Anrechte auf Ostfriesland auch explizit im Zentrum der Verhandlugnen; vgl. Rother, Auseinandersetzung, S. 73–75. 698 Geheime Räte Berlin an Geheime Räte Hannover, Berlin, 19.1.1726, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 65.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Allianz nicht mehr als sicheres Mitglied gelten konnte. Für den Übertritt Branden burg-Preußens ins kaiserliche Lager warb in den folgenden Monaten (und Jahren) in Berlin der Sondergesandte Seckendorff. Vor diesem Hintergrund muss die brandenburg-preußische Initative, im Rahmen des Corpus Evangelicorum und gestützt auf England-Hannover einen neuerlichen, konfessionell-paritätisch argumentierenden Angriff auf die kaiserliche Höchstgerichtsbarkeit zu lancieren, auch als ein Versuch verstanden werden, mit dessen Hilfe Berlin um 1725/26 den Nutzen und die Spielräume, die das Herrenhauser Bündnis für die Verfolgung der langfristigen reichspolitischen Interessen und Ziele Brandenburg-Preußens bot, auslotete.
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin. Die Beziehungen zwischen Wien und Berlin 1724–1728 1. Politische Annäherung zwischen Berlin und Wien 1724–1727 Schon seit 1724 hatte man in Wien eine bündnispolitische Annäherung an den preußischen König ins Auge gefasst,699 den eigentlichen Auftakt nahmen die Gespräche zu einem Freundschaftsvertrag allerdings erst im Sommer 1726. In den sich über mehrere Jahre erstreckenden Verhandlungen, die der kaiserliche Sondergesandte Friedrich Heinrich von Seckendorff in Berlin führte, stand bekanntlich für den Kaiser die brandenburg-preußische Garantie der Pragmatischen Sanktion im Mittelpunkt. Für Brandenburg-Preußen lag der Schwerpunkt auf der Erbfolge in Jülich und Berg. In diesem zentralen Anliegen der Außenpolitik Friedrich Wilhelms I. waren die Herrenhauser Verbündeten dem preußischen König nicht so weit entgegengekommen, wie dieser es sich gewünscht hätte. Die Erbfolgefrage für die von Neuburg regierten Herzogtümer Jülich und Berg und die Herrschaft Ravenstein stellte sich von neuem, seitdem sich abzeichnete, dass Karl Philipp von Pfalz-Neuburg keine männlichen Erben haben würde.700 Den beiden Brüdern Karl Philipps sprach Brandenburg-Preußen das Nachfolgerecht mit Verweis auf ihren Übertritt in den geistlichen Stand ab. Karl Philipp selbst aber verfolgte den Wunsch, Jülich-Berg und Ravenstein der nächst erbberechtigten Linie Pfalz-Sulzbach zu garantieren. Diese Linie konnte insofern viele Nachfolgerechte für sich in Anspruch nehmen, weil Karl Philipp 1717 seine Tochter Elisabeth Auguste mit dem ältesten Sohn des Herzogs Theodor Eustach von Pfalz-Sulzbach, dem Erbprinzen Joseph Karl Emanuel, verheiratet hatte. Karl Philipp berief sich auf den zwischen Pfalz-Neuburg und Brandenburg 1666 geschlossenen Erbvergleich, in dem die Vertragspartner sich gegenseitig den jeweiligen Anteil an Jülich-Kleve für sich und ihre Nachkommen garantiert hatten – und der in der Neuburger Interpreta 699
Vgl. Kuntke, Seckendorff, S. 157 Zum Folgenden vgl. Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 156–160, 188–204; Rosenlehner, Karl Philipp, S. 1–37. 700
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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tion die weibliche Erbfolge einschloss. Brandenburg-Preußen wiederum protestierte gegen diese Interpretation genauso wie gegen die Rechte der Linie Pfalz-Sulzbach als Nachfolger Pfalz-Neuburgs überhaupt, weil die Erbfolgeregelung von 1666 ausschließlich für die direkten Nachkommen der Vertragsschließenden getroffen worden sei. Die Sulzbacher argumentierten dagegen, dass der Erbvergleich von 1666, der sie unberücksichtigt gelassen hatte, ihre Rechte keinesfalls berühren könne. Die verworrene Lage verkomplizierte sich weiter, als bis 1729 sowohl die Söhne aus der Ehe Elisabeth Augustes und Joseph Karl Emmanuels als auch die Ehepartner selbst gestorben und lediglich drei Töchter zurückgeblieben waren. Diese Entwicklungen ließen zwischenzeitlich wieder die Ansprüche des Bruders Karl Philipps, Franz Ludwig (des Trierer und später Mainzer Kurfürsten) in den Vordergrund treten.701 Als auch Franz Ludwig 1732 starb, konzentrierten sich die Erbansprüche auf der Seite der Pfälzer Wittelsbacher schließlich auf den zweiten Sohn des Sulzbacher Herzogs Theodor Eustach, den Pfalzgrafen Johann Christian. Nachdem auch dieser 1733 verstorben war, war dessen Sohn Karl Theodor der nächste Erbe – dessen Ansprüche Friedrich Wilhelm I. freilich ebenso wenig anerkannte wie seinerezeit diejenigen seines Onkels und dessen weiblicher Nachkommen. Noch während Friedrich Wilhelm I. offiziell dem Herrenhauser Bündnis angehörte, hatte er sich zunehmend darum bemüht, dass der Kaiser seine Ansprüche auf die Sukzession in Jülich und Berg anerkannte. Und so konzentrierten sich die Verhandlungen mit Wien in den Jahren 1726–1728 zu weiten Teilen auf diese sensible Frage. Aber auch die evangelischen Religionsbeschwerden sowie die Stellung Brandenburg-Preußens zur Reichsjustiz und schließlich die umfassende Frage nach dem Verhältnis von königlicher Würde zu Kaiser und Reich stellten nach wie vor Probleme in den bilateralen Beziehungen dar und sollten auch in den Verhandlungen über ein mögliches Bündnis zwischen Brandenburg-Preußen und Österreich eine Rolle spielen. Seckendorff war mit diesen Schwierigkeiten bereits 1724 konfrontiert worden, als er – damals noch ohne offiziellen diplomatischen Auftrag – die Annäherung zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaiser am Berliner Hof betrieb.702 Seckendorff bemühte sich zunächst darum, die diversen Schwierigkeiten zu lösen, die den Sendungen der designierten Repräsentanten nach Berlin bzw. Wien noch entgegenstanden. Im Falle des brandenburg-preußischen Gesandten Christian von Brandt verzögerte sich die Abreise nach Wien primär wegen der geringen finanziellen Mittel, die der König seinem Repräsentanten zugestehen wollte.703 Nachdem Friedrich Wilhelm I. aber einer besseren Ausstattung Brandts zugestimmt hatte, konnte dieser im Mai 1724 nach Wien abreisen. Die Ankunft des kaiserlichen Ge 701 Der zweite Bruder Karl Philipps, der Augsburger Fürstbischof Alexander Sigismund, hatte 1728 auf seine Ansprüche verzichtet; vgl. Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 158. 702 Auch zum Folgenden vgl. ebd., S. 156–162. 703 Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, Nr. 5, S. 6–12 (Seckendorff an Prinz Eugen, Teplitz, 9.6.1724), S. 7.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
sandten Rabutin in Berlin verzögerte sich dagegen wesentlich länger und forderte von Seckendorff intensive Vermittlungstätigkeit. Die Verhandlungen betrafen vor allem das Zeremoniell und die konkreten Freiheiten und Rechte, die der neue Gesandte in Anspruch nehmen sollte. Dabei gingen die Meinungen über das, „wie es in vorigen Zeiten [von den kaiserlichen Repräsentanten in Berlin] gehalten worden“, allerdings deutlich auseinander. Friedrich Wilhelm I. verwahrte sich dagegen, dass Rabutin nicht nur von der Akzise und anderen Abgaben ausgenommen sein, sondern auch als Erster die Visite von den königlichen Ministern empfangen sollte.704 Es entsprach den jeweiligen Perspektiven auf das Verhältnis Wien – Berlin, wenn Friedrich Wilhelm I. sich auf die Beispiele an anderen königlichen Höfen bezog, während man in Wien darauf verwies, „wie es sonst mit den kaiserlichen Ministern im römischen Reich gehalten und beobachtet wird …“.705 Die alte, maßgeblich auf der Ebene des Gesandtschaftszeremoniells ausgetragene Streitfrage, wie sich innerhalb des Reichsverbands die königliche Würde zur kaiserlichen Würde verhalte, und die schon Voss Jahre zuvor ausführlich in seinem „Brevis Conspectus“ erörtert hatte, wurde auch jetzt wieder aufgrund der Sendung eines neuen kaiserlichen Repräsentanten virulent. Im Kontext der Verhandlungen um die diplomatischen Rahmenbedingungen des neuen kaiserlichen Gesandten in Berlin machte Friedrich Wilhelm I. aber auch deutlich, dass er für eine dauerhafte Verbesserung des Verhältnisses zum Wiener Hof vor allem eine andere Behandlung durch den Reichshofrat erwarte. In einem ausführlichen Schreiben an Seckendorff betonte der König, dass man die Sendung Brandts mit bestimmten Hoffnungen verbunden hätte, die bislang aber alle enttäuscht worden seien. Statt dass dem König nun endlich am kaiserlichen Hofe Unparteilichkeit widerfahre, würden weiterhin zahllose Reichshofrats-Conclusa gegen ihn verfasst.706 Angesichts solcher Äußerungen Friedrich Wilhelms I. und der in der Tat nach wie vor zahlreichen gegen ihn laufenden Reichshofratsverfahren riet Seckendorff im April 1725 gegenüber dem Prinzen Eugen davon ab, den Grafen Rabutin nach Berlin kommen zu lassen. Die Möglichkeiten des neuen Gesandten würden von vorneherein leiden, wenn er gerade zu diesem Zeitpunkt seine Tätigkeit aufnähme und gleich zu Beginn vom König und dessen Ministern mit den Reichs-
704 Vgl dazu auch Müller, Gesandtschaftswesen, S. 161. Ähnliche Konflikte über das Problem der Zoll- und Portofreiheit für die kaiserlichen Diplomaten gab es 1723 auch mit dem Hannoveraner Hof; im Kern ging es auch hier um die Geltung des Völkerrechts bzw. Reichsrechts, mithin um die Frage der Souveränität gekrönter Reichsstände. 705 Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, Nr. 15, S. 26–27 (Prinz Eugen an Seckendorff, Wien, 17.3.1725). 706 „… und wodurch nur mehr als zu klar gezeigt wird, daß der Reichshofrath nichts anders suche, als mich, wenn es bei ihm stünde, um Land und Leute zu bringen, von meinen landesfürstlichen Jurisbus mir das eine nach dem andern aus den Händen zu reißen, meine Unterthanen über mich zu erheben, ja! mir allen schuldigen Gehorsam und Respect bei demselben verlieren zu machen.“; Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, Beilage zu Nr. 12, S. 19–22 (Friedrich Wilhelm I. an Seckendorff, Berlin, 17.2.1725).
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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hofratsprozessen konfrontiert würde.707 Insbesondere gegen den Reichsvizekanzler Schönborn und gegen den Reichshofratsvizepräsidenten Graf Wurmbrand hege der König nach wie vor größtes Misstrauen und verdächtige sie, aus privaten Absichten dem Haus Hohenzollern schaden zu wollen.708 Als Rabutin allen Warnungen Seckendorffs zum Trotz im Mai 1725 in Berlin eintraf, konnte Seckendorff vom König lediglich das Versprechen erhalten, „alle diese Justizsachen von den Staatsaffairen in Berlin zu separireren“ und ausschließlich über die letzteren Angelegenheiten mit dem neuen Gesandten zu sprechen.709 Doch gegen Ende des Jahres 1725, nach Bekanntwerden des spanisch-österreichischen Bündnisses und dem Abschluss der Herrenhauser Allianz, verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Berlin und Wien erneut drastisch, und Rabutin wurde schon nach wenigen Monaten vom Berliner Hof abgezogen.710 Von nun an übernahm Seckendorff die Geschäfte ausschließlich und wurde im Juli 1726 vom Kaiser damit beauftragt, Brandenburg-Preußen für ein kaiserliches Bündnis zu gewinnen. Auch Seckendorff sollte es in den folgenden Monaten und Jahren nicht gelingen, die seitens des Kaiserhofes gewünschte Trennung zwischen „Justizsachen und den Staatsaffairen“ in seinen Verhandlungen völlig durchzuhalten. Tatsächlich hatte Seckendorff bereits 1725 in seinen Schreiben nach Wien mehrfach darauf hingewiesen, dass die reichshofrätliche Rechtsprechung wohl das größte strukturelle Hindernis für die Herstellung guter Beziehungen zwischen dem Kaiser und dem preußischen König darstelle. Dabei gab Seckendorff auch zu verstehen, dass es sicherlich hilfreich wäre, wenn der Reichshofrat „in billigen Sachen ein wenig gelinder mit dem Könige verfahren, und ihn in geringen […] Sachen menagiren und favorisiren könnte …“.711 Wenngleich Prinz Eugen die Unabhängigkeit der Jusitz betonte und Seckendorffs Vorschläge in diesem Punkt zunächst zurückwies,712 so veränderte sich die Haltung der kaiserlichen Räte im Laufe der langwierigen Verhandlungen mit Berlin während der Jahre 1726–1728 doch auch in diesem Punkt. Ein unumschränktes Appellationsprivileg für sämtliche Landesteile, wie es von den brandenburg-preußischen Verhandlungsführern im Sommer 1726 gefordert wurde, wies man in Wien zwar zurück. Doch wurde Seckendorff gleichzeitig angewiesen, sich hinsichtlich der Reichshofratsverfahren entgegenkommend zu äußern: Der Kaiser könne zwar in den schwebenden Verfahren nicht völlig frei agieren; man wolle sich 707 Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, Nr. 20, S. 34–35 (Seckendorff an Prinz Eugen, Meuselwitz, 21.4.1725). Im April 1725 war ein weiteres Mandat gegen den König im Verfahren wegen der Allodifikation der Lehen ergangen; vgl. Schenk, Reichsjustiz, S. 196–197. 708 Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, Nr. 19, S. 29–31 (Seckendorff an Prinz Eugen, Meuselwitz, 11.4.1725). 709 Ebd., Nr. 24, S. 38–46 (Seckendorff an Prinz Eugen, Meuselwitz, 27.6.1725), S. 40. 710 Vgl. Kuntke, Seckendorff, S. 159. 711 Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, Nr. 12, S. 16–19 (Seckendorff an Prinz Eugen, Altenburg, 23.2.1725). 712 Ebd., Nr. 16, S. 27–28 (Prinz Eugen an Seckendorff, Wien, 28.3.1725); vgl. Schenk, Reichsjustiz, S. 197–198.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
aber bemühen, wo immer möglich gütliche Vergleiche zu vermitteln, und habe dafür bereits beim Reichshofrat die entsprechenden Auskünfte erbeten.713 Tatsächlich floss die Forderung, die zahlreichen Prozesse des preußischen Königs „ohne fernere Weitläufftigkeit“ durch Vergleiche beizulegen, in einen brandenburg-preußischen Vertragsentwurf ein, den Seckendorff im Juli 1726 einsandte. Ein weiterer Artikel jenes Entwurfs widmete sich dem brandenburg-preußischen Anspruch auf Berücksichtung in der Kommission über Mecklenburg, an der Friedrich Wilhelm I. bislang nicht beteiligt gewesen war.714 Aus Wien wurde Seckendorff daraufhin angewiesen, diese Themen aus dem Vertragstext unbedingt zu tilgen. Keinesfalls dürfe in einem Allianzvertrag der Reichshofrat „öffentlich, gleichsam eines unordentlichen, Verfahrens in administranda justitia beschuldigt werden …“.715 Auch hier zeigte sich erneut die unterschiedliche Sicht auf die Reichsjustiz: Während man in Berlin die kaiserliche Justiz primär als ein politisches Instrument (dessen sich der Kaiser selbst oder führende kaiserliche Minister bedienten) und damit auch als politische Verhandlungsmasse verstand, war die kaiserliche Seite darauf bedacht, zumindest rhetorisch die strikte Trennung zwischen Justiz und „Staatsaffairen“ beizubehalten und Zugeständnisse auf diesem Gebiet zumindest nicht so explizit zu machen, wie es von brandenburg-preußischer Seite gerne gesehen worden wäre. Denn dass die Reichshofratsprozesse gegen Friedrich Wilhelm I. und auch die brandenburg-preußischen Ansprüche auf eine Beteiliung an der Mecklenburger Kommission gleichwohl langfristig Berücksichtigung finden müssten, konzedierte man auch auf kaiserlicher Seite.716 Diesen Beschwerden allerdings sollte „in anderen Wegen abgeholfen werden“,717 also jenseits des bilateralen Bündnisvertrages, der schließlich am 12. Oktober 1726 im namensgebenden Wus terhausen unterzeichnet wurde. Mit der Stettiner Investitur wurde auch ein wichtiges reichspolitisches Streitthema geklärt, indem die „Particular-Belehnung“ entweder bis zur nächsten Gesamt-Belehnung ausgesetzt bleiben sollte, oder – sollte Friedrich Wilhelm I. dies wünschen – der Kaiser sich verpflichtete, jederzeit diese spezifische Investitur zu erteilen.718 Einige der wichtigsten strukturellen Faktoren, die 713
Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, Nr. 44, S. 70–74 (Prinz Eugen an Seckendorff, Wien, 15.6.1726). 714 Ebd., S. 97–100 (Brandenburg-preußischer Vertragsentwurf = Beilage C zu Nr. 46: Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 5.7.1726), bes. S. 99–100 (Art. 9 und 10). 715 Ebd., S. 107–112 (Instruktion für Seckendorff = Beilage 3 zu Nr. 47: Prinz Eugen an Seckendorff, Wien, 27.7.1726), S. 111. 716 Ebd., S. 115–120 („Allerunterthänigste unvorschreibliche Remonstrationen und fernere Anfragen über Dero allerhöchsten kaiserlichen Majestät Erklärung und Instruction, die vorseienden preußischen Tractaten betreffend (Extrakt), 1.8.1726 = Beilage zu Nr. 48: Seckendorff an Prinz Eugen, Meuselwitz, 1.8.1726), bes. S. 119–120. 717 Ebd., S. 107–112 („Instruction, welche unser General-Feldzeugmeister […] Friedrich Heinrich Graf von Seckendorf an dem preußischen Hof bei Übergabe dieser unserer Gegen-Erklärung auf die königlichen Postulata und weiter vernehmender Allianz-Handlungen vor fundamento zu beobachten hat“ = Beilage 3 zu Nr. 47: Prinz Eugen an Seckendorff, Wien, 27.7.1726), Zitat S. 111. 718 Loewe, Staatsverträge Friedrich Wilhelms I., S. 319–320.
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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das Verhältnis zwischen dem Kaiser und Brandenburg-Preußen maßgeblich prägten, wurden also von der Wiener Seite bewusst ausgeklammert – sie waren und blieben gleichwohl Gegenstände diplomatischer Verhandlungen. Das galt auch für das Zeremoniell: Grundsätzlich bestätigte der Vertrag von Wusterhausen den letzten Allianzvertrag zwischen dem Kaiser und BrandenburgPreußen aus dem Jahr 1700.719 Dass der „Krontraktat“ dem neuen Bündnisvertrag zugrunde gelegt werden sollte, sah man in Berlin allerdings hinsichtlich der darin enthaltenen Festschreibung des Zeremoniells kritisch. Der König verwahrte sich gegen eine zu buchstabengetreue Interpretation des Vertrages von 1700, „als ob man das darin [im Krontraktat] enthaltene Cermonial gegen ihn in Zukunft stricte observiren wollte“ und „ihn im Ceremonial geringer als andere Könige und namentlich als den König von England tractiren wollte …“.720 Die Antwort aus Wien auf diese durch Seckendorff dargestellten Bedenken des Berliner Hofes mutet fast resigniert an: Seckendorff möge den König in diesem Punkt nur beruhigen: Man werde kaiserlicherseits den Bezug auf den Krontraktat hinsichtlich des Zeremoniells schon nicht wörtlich nehmen – „weil ja das Ceremonial nicht so genau bis anjetzo ist genommen worden, wie die Exempla dessen, so mit den Grafen Virmond und Rabutin ist vorgegangen, es genug zu erkennen geben“.721 Um das stückweise eroberte Terrain auf dem Gebiet des Zeremoniells zu bewahren, bestanden die brandenburg-preußischen Verhandlungsführer bei Abschluss des Vertrags nichtsdestoweniger auf der folgenden Ergänzung: Die gegenseitigen Zusagen aus dem Allianzvertrag von 1700 sollten von neuem bestätigt werden, „soweit solches durch die bisherigen Conjuncturen und andere Umstände nicht bereits seine Erfüllung erlanget und alteriret worden …“.722 Dass ein gewisser Widerspruch zwischen der ostentativen Geringschätzung, mit der Friedrich Wilhelm I. zeremonielle Gepflogenheiten behandelte, und der Bedeutung, die man in Berlin diesen Fragen gerade in Bezug auf die kaiserlichen Repräsentanten beimaß, bestand, hatte schon der langjährige kaiserliche Resident Voss erfahren müssen. Voss hatte seinerzeit dieses Problem in einer auführlichen Relation behandelt. Ein zentraler Punkt für den Erfolg eines Diplomaten am Hof Friedrich Wilhelms I. sei, so hatte Voss die dortigen Verhältnisse damals analysiert, die Möglichkeit zum persönlichen Gespräch mit dem König. Dafür aber war gerade in Zeiten angespannter Beziehungen die wichtigste Voraussetzung, dass der Diplomat nicht 719
Loewe, Staatsverträge Friedrich Wilhelms I., S. 357–373, 360. Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, S. 115–120 („Allerunterthänigste unvorschreibliche Remonstrationen und fernere Anfragen über Dero allerhöchsten kaiserlichen Majestät Erklärung und Instruction, die vorseienden preußischen Tractaten betreffend (Extrakt), 1.8.1726 = Beilage zu Nr. 48: Seckendorff an Prinz Eugen, Meuselwitz, 1.8.1726), Zitat S. 116. 721 Ebd., S. 123–126 („Fernerweite Erklärung über die, unter dem 1. August eingeschickten, Anfragepunkte“ = Beilage zu Nr. 51: Karl VI. an Seckendorff, Wien, 10.8.1726), Zitat S. 124. 722 Ebd., S. 167–170 („Anmerkungen bei dem geschlossenen Allianz-Tractat, Meuselwitz, 14.10.1726 = Beilage zu Nr. 59: Seckendorff an Prinz Eugen, Meuselwitz, 14.10.1726), S. 167 (ad Art. I). 720
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
primär oder gar ausschließlich auf die offiziellen Audienzen angewiesen war – auf deren Gewährung man sich in Berlin eben nicht verlassen könne und die der König mit Verweis auf seine Abneigung gegen alles Höfisch-Zeremonielle zurückzuweisen pflege.723 Zudem bestanden für den kaiserlichen Repräsentanten aufgrund der Konkurrenz zwischen der Reichshierarchie und der von Brandenburg-Preußen immer stärker beanspruchten völkerrechtlichen Souveränität besonders viele zeremonielle Schwierigkeiten.724 Deswegen hatte Voss 1721 angesichts der akuten Krise zwischen Berlin und Wien empfohlen, einen Diplomaten zu schicken, der aufgrund seines persönlichen Ranges die Schranken und Fallstricke des diplo matischen Zeremoniells umgehen könne, in Rang und Amt aber dennoch eindeutig auf den Kaiser verweise.725 Seckendorff erfüllte in geradezu idealer Weise diese von Voss aufgestellten Kriterien: Er war selbst Reichsgraf, dazu ein hoher militärischer Würdenträger des Kaisers, und er zählte zum engeren Umfeld des Prinzen Eugen, gehörte also nicht, wie seinerzeit Voss, so eindeutig in den Einflussbereich des Reichsvizekanzlers. Hinzu kam, dass Seckendorff und Friedrich Wilhelm I. eine persönliche Bekanntschaft verband, die sich noch dazu auf gemeinsame militärische Unternehmungen gründete.726 Außerdem stammte Seckendorff aus einer prononciert lutherischen Familie. Er galt selbst als religiöser Mensch ohne Neigung zur Konversion – trotz seiner beachtlichen Karriere in kaiserlichen Diensten.727 Nicht zuletzt profitierte Seckendorff maßgeblich von der Verbindung aus seinem hohen persönlichen Rang und seiner zunächst undefinierten diplomatischen Stellung.728 Durch diese Kombination umging er von vorneherein praktisch alle potentiellen Schwierigkeiten mit dem Zeremoniell, so dass es ihm offenbar tatsächlich weitgehend gelang, „[sich] über alle Ceremonien, oder vielmehr selbige unter sich
723
Vgl. Kap. E. I. Vgl. zu diesem Problem allgemein Müller, Gesandtschaftswesen, S. 144–161. 725 Vgl. Kap. E. II. 6. 726 Vgl. Förster, Friedrich Wilhelm I. 3, Urkundenbuch, S. 235; s. a. die Auszüge aus der Korrespondenz zwischen Friedrich Wilhelm I. und Seckendorff seit 1716: ebd., S. 237–242. 727 Vgl. dazu auch Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 2, S. 20–21. 728 Wenngleich Seckendorff in der Literatur häufig bereits ab 1724 als „kaiserlicher Gesandter“ betitelt wird, trifft diese Bezeichnung erst für seine späteren Missionen in Berlin zu. Auch nachdem Graf Rabutin als offizieller Gesandter aus Berlin abgezogen worden war, agierte Seckendorff zunächst weiterhin in seiner Rolle als kaiserlicher Sondervermittler, ohne einen spezifischen diplomatischen Posten zu bekleiden. Auch der kaiserliche Befehl an Seckendorff vom Juli 1726 beinhaltete lediglich den Auftrag, die Verhandlungen für einen zukünftigen Friedensvertrag zu führen, nicht aber die Ernennung zum offiziellen Gesandten; Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, S. 101–102 (Handschreiben Karls VI. an Seckendorff, Wien, 24.7.1726 = Beilage zu Nr. 47: Prinz Eugen an den Grafen von Seckendorff, Wien, 27.7.1726); vgl. Kuntke, Seckendorff, S. 155, Anm. 47, S. 159, Anm. 60. Zu Zeremoniell und Rang im kaiserlichen Gesandtschaftswesen und zur Praxis, Diplomaten mitunter bewusst nicht in die offiziellen Rangklassen einzuordnen, um zeremonielle Schwierigkeiten zu vermeiden: Müller, Gesandtschaftswesen, S. 116–143, bes. 138. 724
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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[zu] setzen“729 – eine zentrale Voraussetzung für die privilegierte Rolle, die er am Berliner Hofe spielen konnte und die ihm ungewöhnlich große persönliche und politische Spielräume eröffnete.730 Ebenso wichtig wie für den persönlichen Kontakt mit dem König, der Seckendorffs Gesellschaft ausdrücklich wünschte,731 waren diese Freiheiten im weiteren Kontext des Hoflebens: Seckendorff wurde rasch zum Tabakskollegium zugelassen, konnte an der königlichen Tafel teilnehmen und besaß einen privilegierten Zugang zu den entscheidenden Ministern. Insbesondere die Verbindung zum Vizepräsidenten des Generaldirektoriums, Friedrich Wilhelm von Grumbkow, war für Seckendorff von großer Bedeutung.732 Wichtige Verhandlungspartner im Vorfeld des Wusterhausener Bündnisses waren neben Grumbkow die Minister Knyphausen und Borcke sowie allen voran Ilgen, der von Seckendorff allerdings zu denjenigen gezählt wurde, die ein Bündnis mit dem Kaiser skeptisch betrachteten und eher zu England-Hannover tendierten.733 Nichtsdestoweniger etablierte sich offenbar eine gute Zusammenarbeit zwischen Seckendorff und I lgen, der im Übrigen auch die explizite Anweisung erhalten hatte, mit Seckendorff „nicht als ein Minister, sondern als ein guter Freund auf Befehl seines Königs umzugehen …“.734
729 Relation von Voss, Berlin, 17.5.1721, HHStA, RK, Weisungen – Berlin 4 a, Fasz. 3; vgl. Kap. E. I. 730 Es ist in diesem Kontext bemerkenswert, dass Seckendorff sich gelegentlich auch selbst demonstrativ von Fragen des Zeremoniells distanzierte. So schrieb er anlässlich der Vorberei tungen für Rabutins Ankunft in Berlin an den Prinzen Eugen, er gebe gerne zu, „ daß alles dieses Ceremoniel und was dem anhängig, nicht in mein Handwerk läuft, und ich dabei folglich schlecht erfahren …“; Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, Nr. 14, S. 23–25 (Seckendorff an Prinz Eugen, Altenburg, 5.3.1725), Zitat S. 24. Immer wieder ließ Seckendorff in seiner Korrespondenz mit dem Prinzen Eugen durchblicken, dass er sowohl das Zeremoniell als auch die Reichshofratsprozesse als lästige Hindernisse auf dem Weg zu einer Allianz betrachtete; damit vertrat er eine Haltung und Sprechweise, die in gewisse Weise derjenigen des Berliner Hofes entsprach. 731 Welch große politische Bedeutung die ständige Begleitung des Königs besaß, erläuterte Seckendorff dem Prinzen Eugen Mitte 1726 folgendermaßen: „Es ist mir auch, wenn der König in loco, so wenig Zeit übrig […] maßen früh Morgens um 10 Uhr bis des Nachts gegen 11 und 12 Uhr man stets in Gesellschaft des Königs sein muß, wo man nicht die Gelegenheit, ihm etwas Gutes zu insinuiren, versäumen will …“; Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, Nr. 46, S. 75–77 (Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 5.7.1726), Zitat S. 75. 732 Vgl. Kuntke, Seckendorff, S. 161–162, 168–170, 174–175; zu den zahlreichen finanziellen Zuwendungen des kaiserlichen Hofes, von denen neben Grumbkow auch andere brandenburg-preußische Minister profitierten, vgl. Braubach, Geheimdiplomatie, S. 31–32. 733 Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, Nr. 49, S. 121–122 (Seckendorff an Sinzendorff, Meuselwitz, 1.8.1726); vgl. Kuntke, Seckendorff, S. 161–162. Noch im Zuge der Verhandlungen der Jahre 1727/28 galt Ilgen bei Seckendorff als tendenziell England-freundlich: „… so lange er [Ilgen] lebt, [wird] die englische und hannöverische Partei nimmer ganz aus dem Credit kommen …“; Förster, Höfe 1, Urkundenbuch, S. 107–108 (Seckendorff an Sinzendorf, Leipzig, 7.5.1727), S. 108. 734 Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, S. 77–96 („Berliner Journal“ vom 25. Juni bis 5. Juli = Beilage zu Nr. 46: Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin, 5.7.1726), Zitat S. 81.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Der Abschluss des Vertrags von Wusterhausen und der damit verbundene Übertritt des Königs in das kaiserliche Lager war unbestritten zu weiten Teilen das persönliche Verdienst Seckendorffs. Einen wichtigen außenpolitischen Implus stellte allerdings auch der Abschluss einer Allianz zwischen Russland und dem Kaiser sowie Russland und Brandenburg-Preußen im August 1726 dar.735 Für den Kaiser bestand der Wert des Bündnisses von Wusterhausen zum einen in der darin von Friedrich Wilhelm I. zugesagten Garantie und Unterstützung der Pragmatischen Sanktion, zum anderen in der Tatsache, dass mit Brandenburg-Preußen eine bedeutsame Macht aus dem Herrenhauser Bündnis herausgelöst worden war. Dabei war der kaiserlichen Seite sicherlich zugute gekommen, dass Friedrich Wilhelm I. schon zuvor immer wieder betont hatte, dass er das Herrenhauser Bündnis als reine Defensivallianz und nicht als gegen den Kaiser gerichtet verstehe.736 Umgekehrt wurde der Vertrag von Wusterhausen auf Wunsch Berlins ausdrücklich nicht als Beitritt Brandenburg-Preußens zur Wiener Allianz zwischen Österreich und Spanien abgeschlossen, sondern als ein separater Vertrag zwischen dem preußischen König und dem Kaiser.737 Für Brandenburg-Preußen stand dagegen bekanntlich die Erbfolgegarantie für die Herzogtümer Jülich und Berg im Zentrum der Verhandlungen. Karl VI. verpflichtete sich auch im Vertrag von Wusterhausen, innerhalb eines halben Jahres für das Herzogtum Berg und die Herrschaft Ravenstein beim Konkurrenten Pfalz-Sulzbach die Zustimmung zur preußischen Erbfolge zu erreichen. Aufgrund dieser Bedingung waren die Chancen für ein Inkrafttreten der Wusterhausener Verabredungen von Anfang an äußerst gering. Denn noch im August 1726 hatte der Kaiser einen Vertrag mit dem Pfälzer Kurfürsten Karl Philipp unterzeichnet, durch den Karl Philipp der Wiener Allianz beitrat und der in einem Separatartikel die sulzbachische Erbfolge für Jülich und Berg festschrieb.738 Der Wusterhausener Vertrag stellte also zunächst eine reine Interims-Verständigung dar und sollte auch tatsächlich niemals ratifiziert werden. Dass der Kaiser die gesetzte Frist von sechs Monaten für eine erfolgreiche Vermittlung zwischen den beiden Prätendenten nicht würde einhalten können, stand praktisch bereits bei der Unterzeichnung fest, und so wurde Seckendorff schon im Januar 1727 von Karl VI. 735
Vgl. Duchhardt, Balance of Power, S. 275–276; Hughes, Law, S. 199. So der Bericht Seckendorffs über ein Gespräch mit dem Köng im Juni 1726: Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, Nr. 42, S. 63–67 (Seckendorff an Prinz Eugen, Meuselwitz, 12.6.1726). 737 Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, S. 167–170 („Anmerkungen bei dem geschlossenen Allianz-Tractat“, Meuselwitz, 14.10.1726 = Beilage zu Nr. 59: Seckendorff an Prinz Eugen, Meuselwitz, 14.10.1726). 738 Nur wenig später, im September 1726, waren die drei wittelsbachischen Kurfürsten von Bayern, Köln und der Pfalz im österreichisch-spanischen Bündnis vereint; vgl. Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 166–167; Aretin, Reich 2, S. 320. Die Einigkeit zwischen den Wittelsbachern (die seit 1724 zur so genannten „Hausunion“ zusammengeschlossen waren) und dem Kaiser war allerdings nur von kurzer Dauer. Zur Wittelsbachischen Hausunion vgl. Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 150–187; Aretin, Reich 2, S. 317–325. 736
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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beauftragt, die Möglichkeiten auszuloten, wie der König „zu einem völligen Beitritt veranlaßt werden [könnte] …“.739 Trotzdem gilt der Vertrag von Wusterhausen in der Literatur häufig als der entscheidende Richtungswechsel in der Außenpolitik Friedrich Wilhelms I.740 Doch sollte diese Bewertung nicht darüber hinwegtäuschen, dass am Berliner Hof 1727–1728 nach wie vor zwei starke Parteien existierten: Die „Hannoverische Partei“, der auch die preußische Königin angehörte, stand der Gruppe der Befürworter eines dauerhaften Bündnisses mit dem Kaiser gegenüber.741 Hinzu kam, dass die Bündnisfrage spätestens seit 1728 mit dem Streit um die Vermählung der königlichen Kinder verwoben war. Die preußische Königin verfocht auch hier mit dem Projekt einer Doppelhochzeit zwischen Prinzessin Wilhelmine und dem Prinzen von Wales bzw. Kronprinz Friedrich und Prinzessin Amalie eine Verbindung zu England-Hannover, während Seckendorff eben dies im Dienste des Kaisers zu verhindern suchte.742 Wenngleich aus dieser Zeit von Friedrich Wilhelm I. zahlreiche Treuebekenntnisse zu Kaiser und Reich überliefert sind, war die Allianz zwischen Karl VI. und Friedrich Wilhelm I., die nach monatelangen, zähen Verhandlungen schließlich im Dezember 1728 geschlossen werden konnte, keine selbstverständliche Fortführung des Wusterhausener Bündnisses. Seckendorff selbst beurteilte zu dieser Zeit die Aussprüche, mit denen der König „seine Devotion vor seine kaiserliche Majestät und Lieb vor das teutsche Reich und Vaterland durch patriotische Reden hervor[gibt]“, kritisch: Man könne nie wissen, ob solche Äußerungen des Königs nicht primär der Königin und der „Hannoveraner Partei“ am Hofe galten, die er damit „irritiren“ wolle.743 Es ist im Übrigen bezeichnend, dass Seckendorff in seiner Korrespondenz beschreibt, wie der König selbst im Kontext seiner „reichpatriotischen“ Äußerungen gleichzeitig noch den eigenen Erwartungen an das kaiserliche Regiment Ausruck verlieh. Wiederholt habe der König im Tabakskollegium gesagt, 739
Förster, Friedrich Wilhelm I. 3, Urkundenbuch, Nr. 91, S. 330–332 (Karl VI. an Seckendorff, Wien, 22.1.1727). 740 Vgl. etwa die Bewertung des Wusterhausener Vertrags bei Loewe, Staatsverträge Friedrich Wilhelms I., S. 311–312: „Das Jahr 1726 bildet den wichtigsten Wendepunkt in der auswärtigen Politik Friedrich Wilhelms I., indem es seinen engen Anschluß an den Kaiser herbeiführte und damit auf lange hinaus die Richtung festlegte, in der sich seine Politik fortbewegen sollte.“; s. a. Aretin, Reich 2, S. 309; Aretins Darstellung vermittelt den Eindruck, der Bündnisvertrag von 1728 sei gleichsam nahtlos auf den Wusterhausener Vertrag gefolgt. Ähnlich auch die Schilderung bei Duchhardt, Balance of Power, S. 277. 741 Vgl. Seckendorffs Schilderung der englisch-hannoverischen Partei um die preußische Königin bei Förster, Friedrich Wilhelm I. 3, Urkundenbuch, Nr. 92, S. 333–347 (Seckendorff an Prinz Eugen, Altenburg, 22.1.1727), bes. S. 346–347; vgl. Kuntke, Seckendorff, S. 170–174. 742 Zum Hochzeitsstreit vgl. zusammenfassend Baumgart, Friedrich Wilhelm I., S. 158–159; hier auch zum Zusammenhang mit dem Fluchtversuch des Kronprinzen Friedrich und der schließlichen Vermählung Friedrichs mit Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern, einer Nichte der Kaiserin; s. dazu auch Ders., Kronprinzenopposition, bes. S. 6–12. Zur Rolle Secken dorffs im Heiratsstreit vgl. Kuntke, Seckendorff, S. 182–186. 743 Förster, Friedrich Wilhelm I. 3, Urkundenbuch, Nr. 92, S. 333–347 (Seckendorff an Prinz Eugen, Altenburg, 22.1.1727), Zitat S. 333.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
„‚daß alle teutsche Fürsten müßten Schelme sein, die es nicht gut mit dem Kaiser und dem Reich meinten‘“, aber auch im selben Atemzug hinzugesetzt: „‚und müssen wir den Kaiser bitten, daß er alle Beschwerden, so ein oder der andre Fürst des Reichs hat, abthue und daß man die mächtigen Stände doch nicht durch den Reichs- Hofrathsstylum so schnöde als einen Fürsten von Zipfel-Zerbst tractire‘“.744 Die hier geäußerte „Reichstreue“ war mitnichten bedingungslos, die Bedingungen aber wiederum konnten kaum der kaiserlich-hierarchisch-traditionellen Verfassungsvorstellung entsprechen. Denn diese letztere Reichsidee beruhte zum einen auf einer traditionellen Beständigkeit bzw. Statik, in der machtpolitische Veränderungen, sprich: die Entwicklung einzelner Reichsstände zu europäischen Potentaten, nicht vorgesehen waren bzw. zumindest keine Bedeutung für das Reichssystem als solches entfalteten. So hatte der Reichsvizekanzler Schönborn immer wieder darauf hingewiesen, dass Friedrich Wilhelm I. für den Reichshofrat und die Reichskanzlei eben nicht als preußischer König zu gelten habe, sondern bestenfalls als Kurfürst – und in bestimmten Zusammenhängen sogar ausschließlich als Fürst (etwa in Halberstadt) oder aber Herzog (in Kleve) oder gar als Graf (in Ravensberg). Doch die von Friedrich Wilhelm I. vertretene Reichsidee stand mit der Forderung nach einem differenzierten Umgang mit Mindermächtigen und Potentiores nicht nur quer zum traditonell-hierarchischen Reichsverband, sondern beinhaltete zudem eine Relativierung des Reichs als Rechtssystem (das Machtfragen ja im Prinzip nicht berücksichtigte). Genau diese Unterscheidung forderte Friedrich Wilhelm I. aber im selben Atemzug wie die Versicherung seiner persönlichen Treue zu Kaiser und Reich. Die „Treue zu Kaiser und Reich“, die Friedrich Wilhelm in den folgenden Jahren auch im Kontext seiner Werbemaßnahmen für die Garantie der Pragmatischen Sanktion an anderen Höfen im Reich beschwor, war eben primär außenpolitisch motiviert – das zentrale Argument war die außenpolitische Bedrohung des Reiches, namentlich die Gefahr, dass ein „ausländischen“ Prinz auf den Kaiserthron gelangen könnte. Der Begriff der „Reichstreue“ resp. „Treue zu Kaiser und Reich“ bezeichnet mithin keine eindeutige Idee, die für alle Zeitgenossen einen identischen Kanon von Wertevorstellungen (und ggf. sogar Handlungsanweisungen) beinhaltet hätte, und zwar gerade mit Blick auf die innere Ausgestaltung des Reichsverbandes und die Interpretation der Reichsverfassung. Vielmehr handelte es sich um einen ausgesprochen dehnbaren politischen Begriff, der offensichtlich sogar gegensätzliche Ansichten kommunizieren konnte. Natürlich war es möglich, solche differierenden Vorstellungen politisch handhabbar zu machen; und es ist richtig und wichtig zu betonen, dass Friedrich Wilhelm I. nicht – wie später sein Sohn – gewillt war, sich offen gegen das Reich zu positionieren. Gleichwohl wurden auch im Zuge der engen reichspolitischen Zusammenarbeit von Brandenburg-Preußen und dem Kaisertum in den Jahren seit 1728 die Differenzen in den jeweiligen Reichsvorstellungen 744 Ebd., Nr. 92, S. 333–347 (Seckendorff an Prinz Eugen, Altenburg, 22.1.1727), Zitat S. 333–334.
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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(die untrennbar mit den strukturell verschiedenen politischen Interessen verbunden waren) nicht obsolet. Insofern eignet sich der Begriff der „Reichstreue“ nicht als trennscharfe analytische Kategorie. Friedrich Wilhelm I. pauschal eine geradezu naive „Reichstreue“ zu attestieren, wie dies in der Forschung bis heute gängig ist,745 suggeriert daher auch ein vereinfachtes Bild, das nicht zuletzt Gefahr läuft, die langfristigen Zugeständnisse zu übersehen, die das Kaisertum Karls VI. zugunsten Brandenburg-Preußens (und anderer Reichsstände) seit Ende der 1720er Jahre machte, um die Pragmatische Sanktion im Reich und in Europa durchzusetzen. 2. Kaiserliche Reichspolitik im Zeichen der Kriegsgefahr: Die Suche nach Alliierten und die Bedeutung der Religionsfrage Als Anfang 1727 ein Krieg zwischen den beiden Bündnissystemen in Europa immer wahrscheinlicher zu werden drohte, intensivierten sich auch die Bemühungen der Wiener Politik, Friedrich Wilhelm I. dauerhaft in eine Allianz einzubinden und die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion durch Brandenburg-Preußen festzuschreiben. Parallel zu der erneuten Beauftragung Seckendorffs mit Verhandlungen in Berlin wurde von Wien aus eine groß angelegte diplomatische Mission veranlasst, um im Reich Unterstützung für einen möglichen Krieg gegen die Herrenhauser Alliierten zu mobilisieren.746 In der ersten Hälfte des Jahres 1727 reiste der mit dieser Mission primär betraute Reichshofratsvizepräsident Wurmbrand an mehrere Höfe, um für die Erneuerung der Kreisassoziation zur Verteidigung des Reiches zu werben.747 Die Assoziationspolitik wurde von Wien zu dieser Zeit erstmals seit dem Spanischen Erbfolgekrieg wieder aufgenommen und unter der Mitwirkung von Kurmainz, das auch das Direktorium der Assoziation innehatte, vorangetrieben.748 Nachdem die kaiserliche Diplomatie die entsprechenden Vorarbeiten geleistet hatte und die offzielle Aufforderung an alle Kreise, das Assoziationswerk wiederzubeleben bzw. fortzusetzen, ergangen war, wurde zunächst auf den Kreistagen der vier vorderen Kreise beraten, bevor im Mai 1727 die Assoziationsversammlung in Frankfurt zusammentrat.749 Zwar wurde das Ergebnis in Gestalt des Assoziationsrezesses von 1727 nicht verwirklicht, nachdem die unmittelbare Kriegsgefahr bereits im Herbst 1727 wieder vorüber war. Dennoch muss die Bereitschaft der vorderen Reichskreise, zu einer deutlichen Verbesserung der Reichsverteidigung
745
Vgl. dazu Kap. A. IV. Zu den maßgeblich durch den Prinzen Eugen beeinflussten und koordinierten außenpolitischen Strategien Wiens in dieser Zeit vgl. Braubach, Geheimdiplomatie, S. 35–37. 747 Zur Assoziationspolitik des Jahres 1727 vgl. zusammenfassend Aretin, Reich 2, S. 306–308; ausführlicher: Hammerstein, Geschichte; ausführlich zu Wurmbrands einzelnen Stationen im Reich: Ders., Johann Wilhelm Graf Wurmbrand. 748 Speziell zum Mainzer Interesse an den Kreisassoziationen als kollektives Sicherheitssysem im deutschen Südwesten vgl. Schröcker, Kurmainz. 749 Zu den Verhandlungen auf dem Assoziationstag vgl. Hammerstein, Geschichte, S. 102–106. 746
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
beizutragen, als Vertrauensbeweis und damit als Erfolg der kaiserlichen Reichspolitik bewertet werden.750 Parallel zu den Bemühungen, möglichst viele Reichsstände der vorderen Kreise für eine Erneuerung der Kreisassoziationen zu bewegen, beinhaltete Wurmbrands Mission auch die Aufgabe, durch bilaterale Gespräche an den jeweiligen Höfen die immer noch schwelenden Religionsbeschwerden soweit zu entschärfen, dass sich der evangelische Reichsteil in dieser für den Kaiser gefährlichen politischen Lage nicht erneut gegen Wien positionieren lassen würde.751 Zum Pfälzer Kurfürsten Karl Philipp nach Mannheim reisten sowohl Wurmbrand als auch Graf Stephan Kinsky; letzterer, um weitere Verhandlungen wegen der konkurrierenden Erbansprüche auf Jülich und Berg zu führen, nachdem der Kaiser seit 1726 in dieser Frage gegenüber beiden Seiten – und damit widersprüchlich – im Wort stand.752 Wurmbrand bemühte sich in der Kurpfalz auch für eine gegenüber den Protestanten präsentable Abstellung der wichtigsten Religionsbeschwerden, um auf diese Weise die Religionsfrage möglichst soweit zu neutralisieren, dass sie für potentielle evangelische Bündnispartner des Kaisers – und vor allem für Brandenburg-Preußen – zumindest kein Hindernis mehr darstellte und umgekehrt von England-Hannover nicht weiter als Argument für den Beitritt zur Herrenhauser Allianz verwendet werden konnte. Der zentrale Verhandlungspartner für diese Fragen in Mannheim war ein kurpfälzischer Geheimer Rat namens Busch, der auch nach Wurmbrands Abreise der primäre Ansprechpartner für die Abstellung der noch anhaltenden Religionsbeschwerden in der Kurpfalz bleiben sollte.753 Dass man sich am Kaiserhof, auch nachdem 1721 die akute Religionskrise bzw. die aktivste Phase des Corpus Evangelicorum langsam zu Ende gegangen war, mit der Frage der Religionsbeschwerden und ihrem politischen „Störpotential“ für die kaiserliche Reichspolitik bzw. Außenpolitik intensiv beschäftigte, beweist auch eine Wiener Denkschrift aus dem Jahr 1725. Diese Denkschrift enthält eine detaillierte Zusammenfassung des Religionsstreits ab 1719 und war laut Aktentitel als Handreichung für den Reichshofratsvizepräsidenten Wurmbrand gedacht – wobei daraus nicht zu ersehen ist, ob man in Wien bereits 1725 eine diplomatische Mission Wurmbrands ins Reich geplant hatte oder ob die schon früher entstandene Schrift Wurmbrand anlässlich seiner Reise „ins Reich“ übergeben wurde.754 Aufschluss 750
Vgl. ebd., S. 104. Vgl. dazu Ders., Johann Wilhelm Graf Wurmbrand, S. 328, der allerdings nicht auf die Verhandlungen über die Religionsangelegenheiten eingeht. 752 Zu den Verhandlungen Kinskys in Mannheim vgl. Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 170–175; Rosenlehner, Karl Philipp, S. 233–270. Zu Wurmbrands Verhandlungen in Mannheim vgl. ebd., S. 174–175. 753 Vgl. Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 178. 754 „Modus procedendi in causa Restitutionum ex capite Amnestiae et Gravaminum, wie solcher von Kayserl. May. Ferdinando III. auf dem Reichstag zu Regenspurg in Annis 1653 und 1654 mit genehmhaltung aller Stände des Reich beobachtet worden“; HHStA, RK, Religionssachen 49. 751
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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reich sind in jedem Fall die hier niedergelegten strategischen Überlegungen vor allem hinsichtlich der Frage, inwieweit sich der Kaiser auf den von den Protestanten geforderten Modus für die Abstellung der Gravamina einlassen sollte.755 Der nicht genannte Autor des Gutachtens stellt dabei grundsätzlich die Behandlung der evangelischen Religionsbeschwerden unter Ferdinand III. als leuchtendes Beispiel einer gelungenen kaiserlichen Reichspolitik dar: Ferdinand III. habe erfolgreich die gerichtliche Untersuchung von Religionsbeschwerden etabliert und damit das oberstrichterliche Amt des Kaisers verteidigt. Zwar hätten die Protestanten schon Mitte des 17. Jahrhunderts dem Reichshofrat vorgeworfen, insbesondere in Religionssachen die Paritätsregeln nicht einzuhalten. Ferdinand III. aber habe die kaiserliche Autorität und die Autonomie des Reichshofrats gegen diese Angriffe bewahrt und zwar maßgeblich dadurch, dass es ihm gerade in der Exekution der vielfach strittigen Restitutionen gelungen sei, seine kaiserlichen Prärogativen auszuüben und das Lager der Protestanten zu spalten. Tatsächlich hatte Ferdinand III. 1654 angekündigt, die noch unerledigten Restitutionsfälle nicht der außerordentlichen, paritätischen Reichsdeputation des Reichstags zu übergeben, sondern stattdessen einer paritätisch ergänzten, ordentlichen Deputation unter der Führung eines kaiserlichen Kommissars zu überantworten. Damit hatte er erfolgreich den fürstlichen Teil der evangelischen Reformpartei und die kurfürstlichen Interessen einiger ihrer Mitglieder in Gegensatz gebracht, seinen eigenen Einfluss als oberster Richter aber gewahrt.756 An diesen Zielen, so argumentiert das Gutachten von 1725 weiter, solle man sich auch in der gegenwärtigen Situation orientieren.757 Das aber bedeute für die aktuelle politische Lage, dass man sich kaiserlicherseits vornehmlich um die Gruppe der evangelischen Fürsten bemühen müsse. Denn die fürstlichen Stimmen repräsentierten die klare Mehrheit im Corpus Evangelicorum, zumal in diesem Gremium – zumindest offiziell – die ständische Hierarchie des Reichstags nicht galt.758 Auch wenn Brandenburg-Preußen und Hannover zahlreiche der fürstlichen Voten auf sich vereinigen konnten, so repräsentierten (neben der vernachlässigbaren Gruppe der Reichsstädte) doch gerade die mindermächtigen evangelischen Fürsten fraglos diejenige Gruppe innerhalb des Corpus Evangelicorum, die traditionell am ehesten zur kaiserlichen Klientel gezählt werden konnte. Hier also sollte die kaiserliche Diplomatie ansetzen und auf die Vorarbeit der kaiserlichen Gesandten im Reich, der Grafen Metsch und Wels, aufbauen. Gleichzeitig aber sollte sich der Kaiser auch bei den katholischen Höfen 755
Zum Folgenden: ebd. Vgl. dazu auch mit Blick auf die verfassungstheoretischen Implikationen der Frage, wie die im Westfälischen Frieden festgesetzen Restitutionen durchgeführt werden sollten bzw. wie mit den uneindeutigen und damit konflikträchtigen Bestimmungen in der Praxis umgegangen werden sollte: Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 456–462. 757 Auch zum Folgenden: „Modus procedendi in causa Restitutionum ex capite Amnestiae et Gravaminum, wie solcher von Kayserl. May. Ferdinando III. auf dem Reichstag zu Regenspurg in Annis 1653 und 1654 mit genehmhaltung aller Stände des Reich beobachtet worden“; HHStA, RK, Religionssachen 49. 758 Vgl. Friedrich, Drehscheibe Regensburg, S. 93; Kalipke, Verfahren, S. 486. 756
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
auf bilateralem Weg darum bemühen, dass tatsächlich einige der evangelischen Religionsbeschwerden jüngeren Datums abgestellt würden. Nur auf diese Weise, nicht aber durch die von den Protestanten geforderten Lokalkommissionen, ließen sich die Religionsbeschwerden lösen. Die Lokalkommissionen würden dagegen vermutlich ohnehin niemals zustande kommen, weil der Kaiser und die Protestanten sich auf keine Bedingungen einigen könnten. Die geschilderten strategischen Überlegungen zur kaiserlichen Politik in der Religionskrise enthalten an sich wenig Überraschendes. Bemerkenswert ist lediglich die Tatsache, dass man in Wien offenbar die aktuellen konfessionspolitischen Probleme als Folgeerscheinung jener Grundproblematik, die bereits in unmittelbarer Folge des Westfälischen Friedens bei der Exekution der Restiutionsbestimmungen für die kaiserliche Stellung virulent geworden war, interpretierte und entsprechend versuchte, an die „Erfolgsrezepte“ aus der Vergangenheit anzuknüpfen. Ungewöhnlich klar formuliert sind die Aussagen, die das Gutachten über das Verhältnis zwischen Kaiser und katholischem Reichssteil macht: Der Autor des Gutachtens übt deutliche Kritik an der Haltung der katholischen Reichsstände, die sich im Religonsstreit bislang verhalten hätten, „gleichsahm als ob ihnen die Sache nichts angienge“, obwohl sie schließlich meistenteils die Beklagten darstellten.759 Es sei hohe Zeit, dass die katholischen Reichsstände unter sich ihr Verständnis der Reichsgesetze klärten, damit sie der allgegenwärtigen geschlossenen evangelischen Verfassungsinterpretation etwas entgegenzusetzen hätten. In diesem Kontext betont das Gutachten auch, wie wichtig es für die zukünftige Stellung des Kaisers sei, glaubwürdig eine neutrale Position zwischen den Konfessionsparteien zu bewahren: „Nachdem aber Allerhöchst besagte Ihro Kayserl. Maj. bey diesem Religions-Werk das officium Supremi Judicis, Arbitris, Mediatoris et Executoris oblieget: so können Sie nicht zugleich die Vertrettung der hochlöbl. Catholischen Stände übernehmen …“. Zum einen benennt das Gutachten also eindeutig die Prioritäten der kaiserlichen Politik: die unbedingte Verteidigung der kaiserlichen Gerichtsbarkeit sowie – als Voraussetzung dafür – eine Spaltung des evangelischen Lagers. Zum anderen werden Mittel und Wege vorgeschlagen, auf denen diese Ziele zu erreichen seien: eine möglichst weitreichende Abstellung der Religionsgravamina seit dem Badischen Frieden durch die katholischen Landesherren sowie die diplomatische Annäherung des Kaisers an einige der evangelischen Fürsten, um diese – mit Verweis auf die tatsächliche Lösung der wichtigsten Konfessionsbeschwerden – aus der aktiven evangelischen Oppositionspartei zu lösen. Die kaiserliche Politik sollte sich mithin darauf konzentrieren, die drängendsten konfessionspolitischen Probleme ohne übertriebene Rücksicht auf die katholischen Reichsstände zu beseitigen, um dadurch den aus der evangelischen Verfassungsinterpretation fließenden For 759
Auch zum Folgenden: „Modus procedendi in causa Restitutionum ex capite Amnestiae et Gravaminum, wie solcher von Kayserl. May. Ferdinando III. auf dem Reichstag zu Regenspurg in Annis 1653 und 1654 mit genehmhaltung aller Stände des Reich beobachtet worden“; HHStA, RK, Religionssachen 49.
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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derungen der Protestanten den unmittelbaren Anlass zu nehmen und die konfessionelle Blockbildung zu schwächen, die eigene Position als Schiedsrichter aber zu unterstreichen. 3. Die Berliner Mission des Grafen Wurmbrand 1727 Der wichtigste aller potentiellen Allianzpartner im Reich war für den Kaiser allerdings 1727 nach wie vor Brandenburg-Preußen, das zudem eine Führungsrolle im Corpus Evangelicorum einnahm und in den vergangenen Jahren als Triebkraft für die evangelische Oppositionspolitik gelten konnte. Folglich musste auch die Frage, wie künftig mit den evangelischen Religionsbeschwerden umgegangen werden sollte, in den bilateralen Verhandlungen zwischen Wien und Berlin eine Rolle spielen – nicht zuletzt, weil die Hannoveraner Partei am Berliner Hof und auch im Reich sich die Propagierung der evangelischen Anliegen zu eigen machte. Wenngleich diese Fragen also auf die eine oder andere Weise in die Allianzverhandlungen mit dem Berliner Hof einfließen mussten, so fielen sie doch nicht direkt in Seckendorffs Zuständigkeitsbereich; zumindest tauchen sie in der edierten Korrespondenz zwischen Seckendorff und dem Prinzen Eugen nur am Rande auf. Tatsächlich war schon bald nach Abschluss des Vertrags von Wusterhausen in Wien entschieden worden, dass diejenigen Themen, die zwar nicht in den geplanten Allianzvertrag einfließen würden, denen aber für das Verhältnis Wien – Berlin gleichwohl strukturelle Bedeutung beigemessen wurde, dem Grafen von Wurmbrand übertragen werden sollten. Schon im März 1727, also nur einige Wochen nachdem Seckendorff durch den Kaiser mit Verhandlungen für eine dauerhafte Allianz betraut worden war, berichtete der brandenburg-preußische Gesandte aus Wien, dass man dort plane, Wurmbrand auch nach Berlin zu senden.760 In Wien war man sich also offen bar darüber im Klaren, dass eine Allianz mit Brandenburg-Preußen und also die Etablierung stabiler guter Beziehungen auf lange Sicht nicht ohne eine Neutralisierung der wichtigsten jener konfliktreichen „Dauerthemen“ zu realisieren wäre, die sich in den vergangenen Jahren als große Belastung erwiesen hatten. Nachdem Seckendorff den Besuch Wurmbrands in Berlin bereits im Mai in Aussicht gestellt hatte, kündigte ein kaiserliches Schreiben den Reichshofratsvizepräsidenten Anfang Juni 1727 offiziell an. Wie schon an den meisten Höfen, die Wurmbrand in der ersten Jahreshälfte besucht hatte, sollte er auch in Berlin das Assoziationswerk und die Religionsangelegenheiten behandeln.761 Wurmbrands Auftrag für seine Berliner Mission beinhaltete daneben aber auch die recht um 760 Vgl. Schenk, Reichsjustiz, S. 200–201. Zu den Verhandlungen Wurmbrands in Berlin ist wenig geforscht worden. Hammerstein, Johann Wilhelm Graf Wurmbrand, behandelt zwar ausführlich die Mission Wurmbrands ins Reich 1727, berücksichtigt aber nicht mehr seinen Aufenthalt in Berlin im Sommer desselben Jahres. 761 Karl VI. an Friedrich Wilhelm I., Laxenburg, 9.6.1727, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 321, Bl. 1–2.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
fangreiche Aufgabe, mit dem König und dessen Ministern zu diskutieren, was in den „so vielen und schwähren Reichs angelegenheiten und dessentwegen öffters vorfallenden verdrusses“ für Mittel und Wege zu finden wären, um diesen Pro blemen in beiderseitigem Einvernehmen abzuhelfen.762 Dass dieser letztere Punkt hauptsächlich die zahlreichen Prozesse am Reichshofrat betreffen sollte, war schon im Vorfeld festgelegt worden.763 Friedrich Wilhelm I. entschied, dass federführend Ilgen die Verhandlungen mit Wurmbrand führen sollte.764 In Berlin erhielt Wurmbrand offenbar eine gute Aufnahme.765 Die Gespräche wurden großenteils von Seckendorff und Wurmbrand gemeinsam mit Ilgen und Knyphausen geführt; Wurmbrand wurde zudem eine Audienz beim König in Potsdam gewährt. Über die Frage der Kreisassoziationen bestand weitgehend Einigkeit: Friedrich Wilhelm I. versprach, das „Assoziationswerck“ im Reich nicht zu behindern und auch am Niederrheinisch-Westfälischen Kreistag dafür zu werben, dass sich auch dieser Kreis der Einladung zur Assoziation anschließe. Größere Schwierigkeiten bereiteten die Religionsangelegenheiten und die Reichshofratsprozesse. So betonte Wurmbrand Ilgen gegenüber bei dieser Gelegenheit nochmals die Unabhängkeit der reichshofrätlichen Rechtsprechung, gab aber dennoch zu verstehen, dass man, wo immer möglich, gütliche Vergleiche vermitteln wolle.766 Doch konnte diese umfangreiche Frage ebensowenig wie die Religionsbeschwerden bei dem nur etwa drei Wochen währenden Besuch Wurmbrands annähernd erledigt werden. Für beide Themen wurden lediglich positive Absichtserklärungen fest gehalten: Für die weitere Klärung der Prozesse wollte der König seinen Geheimen Rat Ludwig Otto von Plotho767 nach Wien senden, „umb zu versuchen, ob man solche processe nicht in der güte abthun und ausmachen könne …“.768 Bezüglich der Religionssachen übergab Wurmbrand Ilgen eine Aufstellung der Bedingungen für die vom Kaiser in Aussicht gestellte Bewilligung von Lokalkommissionen.769 Ilgen wiederum hatte für Wurmbrand eine Liste der nach wie vor in der Kurpfalz bestehenden Religionsgravamina erstellt.770 762
Ebd, Bl. 1. Vgl. Schenk, Reichsjustiz, S. 201. Seckendorff hatte laut seinem Bericht dem König im Mai persönlich vorgeschlagen, dass Wurmbrand bei seinem Aufenthalt am Berliner Hof auch die Prozesse des Königs mitbehandeln könne. 764 Karl VI. an Friedrich Wilhelm I., Laxenburg, 9.6.1727, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 321, Bl. 1–2, und die dortige Randbemerkung Friedrich Wilhelms I.: „Soll Ilgen mit ihm in conferentz treten“ (Bl. 2). 765 Relation von Wurmbrand, Dresden, 23.6.1727, HHStA, RK, Berichte aus dem Reich 21, Bl. 739–769, 739. 766 Ebd. 767 Vgl. Kap. D. II. 1. a). 768 Immediatbericht von Ilgen, Berlin, 1.7.1727, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 321, Bl. 9–10, 10. 769 Wurmbrand an Ilgen, o. O., 5.7.1727, ebd., Bl. 30. 770 „Kurtze Vorstellung der jetzigen Religions beschwerden in der Pfaltz“ = Beilage F zur Relation von Wurmbrand, Dresden, 23.6.1727, HHStA, RK, Berichte aus dem Reich 21, Bl. 756–761. Diese Liste deckte sich offenbar mit derjenigen Gravaminasammlung, die der Reformierte Kirchenrat Wurmbrand breits bei dessen Aufenthalt in Mannheim überreicht 763
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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Hatte sich Wurmbrand in der Justizfrage stark bedeckt gehalten, so war es in den Religionssachen die Berliner Seite, die Zurückhaltung übte: In seiner offiziellen Resolution für Wurmbrand erklärte Friedrich Wilhelm I., dass Brandenburg-Preußen sich auf die kaiserlichen „Requisita“ bezüglich der Ausgestaltung von Lokalkommissionen nicht einlassen werde, bevor diese Punkte nicht mit den übrigen evangelischen Reichsständen abgestimmt worden seien.771 Trotz dieser äußerst vagen Ergebnisse von Wurmbrands Mission verdeutlicht der Ton, in dem die königliche Resolution verfasst ist, wie sich das Verhältnis zwischen Berlin und Wien in den vergangenen zwei Jahren geändert hatte: Ausdrücklich dankte Friedrich Wilhelm I. dem Kaiser für die Sendung Wurmbrands – eines Ministers „von so sonderbahrer distinction und meriten“. Man werde „keine gelegeheit aus händen gehen lassen“, diese kaiserlichen Freundschaftsbezeugungen zu erkennen und zu erwidern.772 Dass ausgerechnet der Reichshofratsvizepräsident Wurmbrand von Friedrich Wilhelm I. derartiges Lob erfuhr, wäre noch wenige Jahre zuvor völlig undenkbar gewesen. Nichtsdestoweniger versuchte man in Berlin hinsichtlich der Reichshofrats prozesse offensichtlich, den Druck zu erhöhen, um die eher vagen Aussagen Wurmbrands möglichst umgehend in konkrete Zugeständnisse umgesetzt zu sehen: Im Juli erstellten Brandt und Graeve eine Tabelle mit über 250 Prozessen, für die man sich in Berlin eine baldige „Lösung“ erhoffte.773 Wenn also die Erwartungshaltung auf brandenburg-preußischer Seite mit Blick auf die Justiz weit über das hinaus ging, was man in Wien für noch einigermaßen vereinbar mit der kaiserlichen Rechtsprechung hielt,774 deutet gleichwohl vieles darauf hin, dass sich zahlreiche der politisch brisanten Verfahren mittelfristig tatsächlich im brandenburg-preußischen Sinne entwickeln sollten oder – was praktisch auf dasselbe hinauslief – schlicht „liegen blieben“. So gelang es Friedrich Wilhelm I., mit dem Grafen von Bentheim-Tecklenburg im August 1729 einen Vergleich zu schließen, in dem der Graf endgültig auf die faktisch bereits seit Jahren dem brandenburg-preußischen Territorium inkorporierte hatte; Relation von Wurmbrand, Dresden, 23.6.1727, HHStA, RK, Berichte aus dem Reich 21, Bl. 756–761. 771 Zum Inhalt dieser kaiserlichen „Requisita“ in Bezug auf die Ausgestaltung der von den Protestanten geforderten Lokalkommissionen vgl. weiter unten in diesem Kap. (E. IV. 4.). 772 Finalresolution Friedrich Wilhelms I. für Wurmbrand, Berlin, 7.7.1727 = Beilage zu Relation von Wurmbrand, Dresden, 23.6.1727, HHStA, RK, Berichte aus dem Reich 27, Bl. 751–754, 751. 773 Vgl. Schenk, Reichsjustiz, S. 202. 774 So äußerte sich auch Metternich nach dem Besuch von Wurmbrand in Berlin sehr optimistisch hinsichtlich der „Abtuung“ der Prozesse: „Daß die Process-Sachen am Kayserl. Hof in der Kürtze durch eine billigmäßige composition gehoben werden sollten, solches wird von allen treuen dienern Eu. Königl. Mt. gewünschet werden […]; der Graf von Wurmbrand redet zwar in seinem Memorial vom 27. Juny nur von einigen Process-angelegenheiten, ich zweiffle aber nicht, daß er solches von allen verstehe …“; Relation von Metternich, Regensburg, 21.7.1727, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 321, Bl. 54–58, 55.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Grafschaft Tecklenburg verzichtete.775 Der so genannte Berliner Vergleich wurde 1730 durch Karl VI. ratifiziert und beendete damit ein jahrzehntelanges Reichshofratsverfahren de facto zugunsten des preußischen Königs, nachdem der Reichshofrat offensichtlich spätestens seit 1728 die Grafen von Bentheim-Tecklenburg nicht mehr in der Weise unterstützt hatte, wie dies noch in den vorangegangenen Jahren der Fall gewesen war.776 Der Vergleich von 1729, der letztlich – allen Reichshofratsmandaten und der vom Kaiser angewiesenen Exekution zum Trotz – den von Brandenburg-Preußen erfolgreich verteidigten status quo legalisierte, war im Übrigen unter maßgeblicher Beteiligung Wurmbrands zustande gekommen.777 Auch im Falle des Konflikts um die Allodifikation der Lehen blieben die verschiedenen Appellationen der Mecklenburger und Halberstädter Ritterschaft nach 1727 schließlich sämtlich liegen.778 Auch wenn der brandenburg-preußische Reichshofratsagent Graeve von Wurmbrand keine explizite Garantie erhalten konnte, dass der Lehenskonflikt am Reichshofrat im Sinne Brandenburg-Preußens entschieden oder verglichen würde, erklärte man sich angesichts der Entwicklungen in Berlin schließlich damit zufrieden, „wann der Reichshofrath die Sache auff sich ersitzen ließe …“.779 Einen weiteren Beleg für die langfristige Veränderung der Haltung des kaiserlichen Gerichts gegenüber dem preußischen König bietet der Verlauf des mit dem Religionsstreit aufs Engste verquickten Prozesses um die Einnahmen des Klosters Hamersleben während der rund einjährigen Sequesterverwaltung. Diese Einnahmen waren, auch nachdem die Mönche ihr Kloster wieder in Besitz genommen hatten, nicht erstattet worden, weshalb der Prozess um den – vom Reichshofrat ohnehin als unrechtmäßig qualifizierten – Sequester auch nach 1720 weiter verhandelt wurde.780 Neben dem Reichshofrat bemühten sich sowohl die Niederlande als auch England-Hannover – und im Zuge dessen das gesamte Corpus Evangelicorum – um eine Restitution der Sequestergelder.781 Doch weigerte sich der preußische König (der ein großes persönliches Interesse am weiteren Schicksal des Klosters Hamersleben bezeigte)782 standhaft, den Mönchen die Klostereinnahmen zu erstatten.783 Auf brandenburg-preußischer Seite wurde dabei regelmäßg auf die nach wie vor bestehenden Beschwerden der Reformierten in der Kurpfalz ver 775
Loewe, Staatsverträge Friedrich Wilhelms I., S. 384–391. Vgl. Klueting, Grafschaft, S. 127–129. 777 Reskript an Brandt, Berlin, 30.3.1728, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 153. 778 Vgl. Schenk, Reichsjustiz, S. 202–205. 779 Relation von Brandt, Wien, 19.11.1727, GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 153; zitiert nach Schenk, Reichsjustiz, S. 203, Anm. 437. 780 Vgl. die Überlieferung in: GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 25 a, Fasz. 2–4. 781 Schauroth, Sammlung 1, S. 730–731 („Schreiben an Ihro Königliche Majestät in Preußen von dem Corpore Evangelicorum“, 8.2.1723); Schauroth, Sammlung 3, S. 132 (Conclusum vom 2.4.1724). 782 Das bezeugen die zahlreichen Randverfügungen Friedrich Wilhelms I. in: GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 25 a, Fasz. 4. 783 s. etwa Relation von Metternich, Regensburg, 1.5.1724, ebd., Bl. 67–68. 776
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wiesen, denen doch immer noch wesentlich mehr ihrer rechtmäßigen Einkünfte vorenthalten würde als den Hamersleber Mönchen.784 Gleichzeitig verstärkte die Halberstädter Regierung auf Befehl aus Berlin den Druck auf das Kloster, keine weiteren Eingaben an den Reichshofrat zu machen. Seit Ende 1721 bemühte sich die Regierung intensiv darum, von den Mönchen eine schriftliche Erklärung zu erhalten, in der sie auf ihre Ansprüche verzichteten und sich verpflichteten, keine weiteren Beschwerden zu führen.785 Doch die Mönche entzogen sich diesem Ansuchen ein ums andere Mal, indem sie darauf verwiesen, dass diese Entscheidung in die Verantwortung ihrer Ordensleitung fiele, auf die sie keinen Einfluss hätten.786 Dabei hatte der Halberstädter Regierungspräsident Hamrath schon im April 1723 den Mönchen angedeutet, dass der König für den Fall, dass das Kloster ihm in der Frage der Sequestergelder engegenkäme, er sich seinerseits sowohl in der strittigen Frage der Klosterwahlen als auch hinsichtlich des Streits mit dem Hauptmann von Ottleben konziliant zeigen würde.787 Was die Klosterwahlen betraf, hatte sich das Kloster Hamersleben bereits 1722 auf das von der Regierung verlangte Prozedere, die Wahl unter Aufsicht königlicher Kommissare abzuhalten, eingelassen, jedoch unter Protest und ohne damit von dem am Reichshofrat anhängigen Verfahren zurückzutreten.788 Schließlich, als der Prozess am Reichshofrat schon länger keine Fortschritte mehr machte, musste sich das Kloster Hamersleben auch hinsichtlich der Sequestergelder auf einen Vergleich einlassen.789 Das Kloster erhielt jene Güter zurück, die der Fiskal beanspruchte und die der König dem Hauptmann von
784 s. etwa Reskript an Hamrath, Berlin, 15.10.1721, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 25 a, Fasz. 3, Bl 56: „… da den Evangelischen in der Pfaltz und an anderen Orthen, so große und considarable revenuen noch bis diese stunde, ohne den gerinsten Heller davon zurück zu geben, vorenthalten würde, daß jene [die von den Hamersleber Mönchen verlangten Gelder, R. W.] damit nicht im aller geringsten in Vergleichung kommen könten …“. Die einbehaltenen Einkünfte aus dem Jahr des Sequesters beliefen sich auf etwa 5440 preußische Taler; vgl. Peters, Kloster Hamersleben, S. 66. Schließlich sah sich das Corpus Evangelicorum angesichts der starren Haltung Friedrich Wilhelms I. in dieser Frage gezwungen, gegenüber dem Kaiser offizell zu erklären, er möge die Frage der Hamersleber Sequestergelder als eine „particular-Sache, dabey das Corpus Evangelicorum weiter nichts zu thun vermöchte“, ansehen; Evangelisches Conclusum vom 12.4.1724 (Extrakt), GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 25 a, Fasz. 4, Bl. 64. 785 s. etwa Relation von Hamrath, Halberstadt, 30.12.1721, ebd., Bl. 3–6; sowie zahlreiche weitere Schreiben ebd. 786 s. etwa Relation vom Hamrath, Halberstadt, 9.4.1723, ebd., Bl. 39–42. 787 Ebd. 788 Lehmann, Preussen 1, Nr. 782, S. 796 (Bericht der Halberstädter Regierung, Halberstadt, 6.7.1722). Im Zuge der königlichen Bestätigung für den neu gewählten Abt forderte Friedrich Wilhelm I. sogleich die Zusage, dass „er [der Abt] nit die Sequester Gelder fohdern wierdt“; Lehmann, Preussen 1, Nr. 733, S. 797 (Immediatbericht an den König, Karow, 17.8.1722; Randverfügung des Königs). 789 Die letzten in Berlin überlieferten Aufforderungen des Reichshofrats an den preußischen König, die Einnahmen aus der Zeit der Sequesterverwaltung zu restitutieren, datieren auf Anfang 1726; s. GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 25 a, Fasz. 5.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Ottleben übertragen hatte; Ottleben wurde dafür wiederum aus den Sequestergeldern entschädigt und erhielt somit eine „gewisse Satisfaktion“.790 Besonders eindrücklich verdeutlicht die Haltung des Kaisers im Mecklenbur gischen Ständekonflikt, wie sehr sich die außenpolitische Lage seit 1725 verändert hatte:791 1728 suspendierte Karl VI. den Schweriner Herzog Karl Leopold provisorisch von der Regierung und setzte dessen jüngeren Halbbruder Christian Ludwig als kaiserlichen Administrator ein. Der Exekutions- und Kommissionsauftrag für Kurhannover und Wolfenbüttel wurde nicht erneuert; beide Mächte wurden lediglich erneut mit dem Konservatorium für Mecklenbug betraut, jetzt allerdings gemeinsam mit Brandenburg-Preußen. Die drei Konservatoren sollten die neue Administrationsregierung schützen und ggf. militärische Hilfe leisten. Diese Neubesetzung resultierte ganz offensichtlich aus den veränderten politischen Bedingungen: Der Einfluss Kurhannovers in Mecklenburg sollte durch die Entscheidung von 1728 deutlich gemindert werden, während Brandenburg-Preußen, nachdem man sich in Berlin jahrelang erfolglos über die Nicht-Berücksichtigung bei der Exekution gegen den Mecklenburger Herzog beschwert hatte, jetzt hinzugezogen wurde. Nun waren es Wolfenbüttel und vor allem Kurhannover, die der kaiserlichen Entscheidung entschiedenen Widerstand entgegensetzten und sich weigerten, ihre Truppen aus dem Land abzuziehen, bevor Wien nicht sämtliche Exekutionskosten erstattet habe.792 Die genannten Beispiele sprechen mithin für die gängige Forschungsthese, dass die unabhängige, selbstbewusste kaiserliche Reichspolitik der frühen Regierungsjahre Karls VI. gegen Ende der 1720er Jahre hinter die österreichischen Hausmachtinteressen bzw. die Wiener Großmachtpolitik zurücktrat.793 Dass sich diese Entwicklung auch und gerade auf die Tätigkeit des Reichshofrats auswirken musste, ist nicht überraschend. Die Veränderung der Wiener Politik seit ca. 1725 spiegelt sich schließlich auch im Verhältnis der beiden anderen zentralen politischen Institutionen des Wiener Hofs, der österreichischen Hofkanzlei und der Reichskanzlei. Die letztere verlor gegenüber der ersteren im Laufe der Regierungszeit Karls VI. immer stärker an Bedeutung. Schließlich sollte 1734 mit dem langjährigen Reichsvizekanzler Schönborn jener Politiker zurücktreten, der wie kein anderer eine Politik der kaiserlichen Präsenz im Reich unter Rückbesinnung auf eine hierarchische Verfassungsinterpretation und die traditionellen Vorrechte des Reichoberhauptes 790 Vgl. Kunze, Hamersleben, S. 68. Dieser Vorschlag war bereits 1723 an die Hamersleber Mönche herangetragen worden; damals hatten sie ihn allerdings noch abgelehnt: Relation von Hamrath, Halberstadt, 4.6.1723, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 25 a, Fasz. 4, Bl. 50. 791 Zum Folgenden vgl. Jahns, Mecklenburgisches Wesen, S. 342–344. 792 Vgl. Hughes, Law, S. 213–215. 793 So der Tenor der einschlägigen Forschungsliteratur, etwa bei Press, Kriege und Krisen, S. 475; Aretin, Reich 2, S. 324, mit Blick auf die Verständigung mit England 1731 bes. S. 326–328; Schmidt, Geschichte, S. 247; am Beispiel des Konflikts um Tecklenburg: Klueting, Grafschaft, S. 129–131; für den Mecklenburger Ständekonflikt: Jahns, Mecklenburgisches Wesen, S, 349–350.
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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verkörperte.794 Es ist allerdings gerade mit Blick auf Brandenburg-Preußen zu betonen, dass die Wiener Politik auch unter den beschriebenen außenpolitischen Voraussetzungen weiterhin stets darum bemüht war, die juristischen und verfassungsrechtlichen Fragen auf eine Art und Weise zu behandeln, die nicht – wie von Berlin gewünscht – feste Zusagen implizierte, auf welche man sich seitens Berlins in Zukunft hätte berufen können. Die Möglichkeit, unter veränderten politischen Rahmenbedingungen zu einer starken kaiserlichen Reichspoltik zurückzukehren – auch und gerade gegenüber Brandenburg-Preußen –, sollte offenbar weiter gewährleistet bleiben. Die geschilderten Entwicklungen waren allerdings 1727, als die Beratungen um eine dauerhafte Allianz zwischen Brandenburg-Preußen und Österreich in vollem Gange waren, noch nicht absehbar. Zunächst sollten die Themen Religion und Justiz die Verhandlungen in Berlin gleichsam im Hintergrund weiter begleiten. Wurmbrand war auch nach seiner Rückkehr von Berlin mit diesen Fragen befasst und befand sich mit Blick auf die Prozesse Friedrich Wilhelms I. im ständigen Gespräch mit den brandenburg-preußischen Repräsentanten in Wien, Brandt und Graeve, die ihrerseits immer wieder auf das versprochene Entgegenkommen des Reichshofrats pochten.795 Schon im Laufe des Jahres 1728 kolportierte Brandt anlässlich des sich abzeichnenden Vergleichs mit Bentheim-Tecklenburg die Ankündigung Wurmbrands, dass „noch mehr andere dergleichen Erklährungen in unseren dort habenden Process-Sachen erwartet würden …“. Ilgen befahl Brandt daraufhin, „besagten Grafen [Wurmbrand] dieses seines versprechens gelegentlich zu erinnern …“.796 4. Die Bündnisverhandlungen 1727 Nachdem sich im Frühjahr 1727 die Kriegsgefahr durch die Suspendierung der Ostende-Kompanie und den Tod Georgs I. wieder spürbar verringert hatte und ein Friedenskongress für die Klärung der verbliebenen Fragen anberaumt worden war, verschlechterte sich die außenpolitische Position des Kaisers im Herbst desselben Jahres erneut, als sich eine Verständigung zwischen Spanien und Frankreich abzeichnete und Spanien sich dadurch den westlichen Verbündeten annäherte. Karl Albrecht von Bayern wechselte im November 1727 endgültig auf die französische Seite und verpflichtete sich, auch bei den übrigen Mitgliedern der Wittelsbacher Hausunion für eine Annäherung an Frankreich zu werben.797 Im Herbst 1727 ver 794 Vgl. Müller, Gesandtschaftswesen, S. 27–30; Hantsch, Reichsvizekanzler, S. 338–339; Groß, Geschichte, S. 69–76. 795 Vgl. die Überlieferung in: GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 153; die Akte ist betitelt: „Wegen gütlicher Abthuung der Processe beym Reichshofrath“. 796 Reskript an Brandt, Berlin, 30.3.1728, ebd. 797 Vgl. Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 179. Eine entsprechende Einigung sollte im April 1728 in Mannheim erzielt werden. Die Wittelsbacher unterzeichneten die Hausunion in neuer
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
härtete sich auch die brandenburg-preußische Haltung in den Verhandlungen mit dem Kaiser, nachdem man in Berlin von dem Garantieversprechen für die Sulzbacher Erbfolge in Jülich und Berg erfahren hatte, das Karl VI. in dem Subsidienvertrag mit Kurpfalz im August 1726 gemacht hatte.798 Sämtliche Versuche Wiens aber, zwischen Pfalz-Sulzbach bzw. Pfalz-Neuburg und Brandenburg-Preußen eine gütliche Einigung zu vermitteln, waren bislang gescheitert.799 Friedrich Wilhelm I. hatte seinerseits schon im Frühjahr 1727 Seckendorff gegenüber deutlich zu verstehen gegeben, dass eine Garantie der Erbfolge in Berg die Conditio sine qua non für einen Allianzvertrag mit dem Kaiser sei.800 Aus diesen Gründen schien es auch in der zweiten Hälfte des Jahres 1727 nach wie vor denkbar, dass sich Friedrich Wilhelm I. zur Neutralität entschließen oder aber wieder enger an England-Hannover orientieren und inbesondere in Reichs- und Religionsfragen erneut einer engeren Zusammenarbeit mit dem zweiten protestantischen Kurfürsten-König den Vorzug geben würde. Für die englisch-hannnoverische Propaganda besaßen die evangelischen Religionsbeschwerden daher eine große Bedeutung, gerade in der Kommunikation mit Brandenburg-Preußen, das man nicht zuletzt über eine gemeinsame Haltung bei der Abstellung von Religionsbeschwerden zu gewinnen suchte. In diesem Sinne warb England-Hannover im Corpus Evangelicorum bereits Mitte 1727 intensiv darum, dem Kaiser die Vertretung des gesamten Reichs auf dem sich abzeichnenden Friedenskongress zu verwehren und ihn damit außenpolitisch zu schwächen:801 Schon aufgrund der noch immer nicht vollständig abgestellten Religionsgravamina könnten die evangelischen Stände den Kongress nicht unbeschickt lassen, sondern müssten dafür sorgen, dass die evangelischen Anliegen ebenfalls „auffs Tapit“ gebracht und die zahlreichen Beschwerden gegen den Kaiser behandelt würden. Die „vornehmsten Stände“ – also der preußische und der englische König – sollten sich darüber verständigen, wie die zahlreichen „Reichssachen“ auf dem Kongress am besten zu vertreten seien.802 Form und verständigten sich auf ein gemeinsames Vorgehen auf dem nächsten Friedenskongress insbesondere hinsichtlich Jülich-Bergs. Außer dem Kurfürsten von Trier waren damit im Frühjahr 1728 alle Wittelsbacher für die französische Seite gewonnen. 798 Vgl. Schmidt, Kurfürst Karl Philipp, S. 166. 799 Zu den langwierigen und letztlich erfolglosen Versuchen der kaiserlichen Diplomatie, Pfalz-Sulzbach bzw. Pfalz-Neuburg für einen Vergleich mit Brandenburg-Preußen zu gewinnen, vgl. Rosenlehner, Karl Philipp, S. 173–174, 233–270, 280–357. 800 Vgl. die Berichte Seckendorffs aus dem Frühjahr 1727, abgedruckt bei Förster, Höfe 1, Urkundenbuch, etwa S. 104–107 (Seckendorff an Prinz Eugen, Leipzig, 7.5.1727). Angesichts der erfolglosen Bemühungen, Pfalz-Sulzbach zu einem Vergleich zu bewegen, war in dieser Zeit zum ersten Mal von kaiserlicher Seite der Vorschlag formuliert worden, Friedrich Wilhelm I. ein Äquivalent zu Berg anzubieten. Das lehnte der König allerdings strikt ab. 801 Relation von Metternich, Regensburg, 14.7.1727, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 32, Fasz. 4. 802 s. ein Aktenkonvolut mit dem Titel „Acta, wegen der Reichs Gravaminum in puncto Religionis und anderer, so bey dem bevorstehenden Friedens Congress auffs Tapit zu bringen, de 1727–1728“, GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 32, Fasz. 4. Wallenrodt berichtete im Sommer 1727 von einem Gespräch mit dem Grafen Bothmer, der die verschiedenen Möglichkeiten, Reichsbeschwerden auf dem Kongress zu behandeln, folgendermaßen erörtert habe: „Eine aparte
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Die Reaktion aus Berlin, die in der zweiten Jahreshälfte 1727 auf diese Vorschläge erfolgte, suggerierte zwar grundsätzliche Zustimmung, war aber gleichzeitig völlig unverbindlich.803 Die brandenburg-preußische Diplomatie hielt sich nach wie vor bedeckt, welche Seite – die Herrenhauser Verbündeten oder den Kaiser – man schließlich unterstützen würde. Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, nutzte die brandenburg-preußische Politik allerdings nichtsdestoweniger in den parallel laufenden Verhandlungen mit Wien gerade die Religionsangelegenheiten dazu, ein immer noch mögliches Umschwenken Berlins zur Herrenhauser Allianz anzudeuten und auf diese Weise weitere Zugeständnisse aus Wien zu erlangen. Wie bereits an mehreren Stellen deutlich wurde, begleiteten im Hintergrund sowohl die Justiz- als auch die Religionsfrage die Verhandlungen um eine Allianz zwischen Brandenburg-Preußen und Österreich im Jahr 1727, und Seckendorff zufolge behinderten insbesondere die Religionsbeschwerden seine Arbeit in Berlin seit dem Herbst 1727 sogar erheblich.804 Die Forschung hat diesen Aspekten der Verhandlungen der Jahre 1727/28 kaum Beachtung geschenkt, sondern sich auf die Sukzession in Jülich und Berg auf der einen Seite und die Durchsetzung der Pragmatischen Sanktion auf der anderen Seite konzentriert. Ein Grund für diese Schwerpunktsetzung liegt vermutlich bereits in dem späteren Vertragstext selbst, der sich ja tatsächlich primär auf die beiden letztgenannten Punkte bezog. Zu dieser Perspektive beigetragen haben vermutlich auch die Editionen der Secken dorffschen Korrespondenz, in denen hauptsächlich die zwischen Seckendorff und dem Prinzen Eugen bzw. Friedrich Wilhelm I. gewechselten Briefe aufgenommen wurden, nicht aber die Korrespondenz zwischen Seckendorff und Wurmbrand.805 Der letztere Briefwechsel befindet sich im Wurmbrand-Stuppachschen Hausarchiv, ist aber auch auszugsweise als Anlagen der Korrespondenz zwischen Wurmbrand
Abschickung vom Reiche würde schwer seyn, in den Stand zu bringen, und der Kayserl. Hoff würde auch suchen, selbige unter der Hand zu hintertreiben; dem Kayser selbsten Commission auffzutragen, wäre auch gefährlich, wie man solches bey dem Badenschen Frieden gesehen, und da die meisten gravamina des Reichs wieder den kayserlichen Hoff selbst gingen, würden sie schlecht besorgt werden …“; Relation von Wallenrodt, London, 22. 8./2.9.1727, ebd. 803 Im Antwortschreiben an die Geheimen Räte in Hannover bekannte sich der preußische König freilich zum Schutz der Freiheiten und Prärogativen der Stände – eine eigene Vertretung der (evangelischen) Reichsstände auf dem Friedenkongress unterstütze man in Berlin tatsächlich aber keineswegs; Geheime Räte Berlin an Geheime Räte Hannover, Berlin, 18.10.1727, ebd. 804 Nach einer Phase intensiver Verhandlungen im Sommer und Herbst 1727 reiste Seckendorff im Dezember 1727 nach Wien, um im Sommer 1728 (mit Umweg über Dresden) zur letzten Verhandlungsphase nach Berlin zurückzukehren; vgl. die Korrespondenz zwischen Friedrich Wilhelm I. und Seckendorff aus der ersten Jahreshälfte 1728 bei Förster, Friedrich Wilhelm I. 3, Urkundenbuch, Nr. 37–58, S. 250–265. 805 Vgl. Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch; ders., Friedrich Wilhelm I. 3, Urkundenbuch; sowie die ausführlichen Zitate aus der Korrespondenz bei Arneth, Prinz Eugen 3, S. 550–555, 565–573.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
und dem Mainzer Erzkanzler, Lothar Franz von Schönborn, angefügt, die sich in den Beständen des Mainzer Erzkanzlerarchivs befindet.806 Wurmbrand informierte im Herbst 1727 den Mainzer Kurfürsten regelmäßig über die Fortschritte der Wiener Diplomatie im Reich und über die Religionsangelegenheiten sowie den Stand der Allianzverhandlungen mit Berlin. Bereits im Zusammenhang seiner Reisen an verschiedene Höfe im Reich und der Erneuerung der Kreisassoziationen hatte Wurmbrand intensiv mit Lothar Franz zusammen gearbeitet; zudem war Wurmbrand der Familie Schönborn durch ein enges Klientelverhältnis verbunden.807 So setzte sich Lothar Franz 1727, als der Sitz des Reichshofratspräsidenten vakant wurde, nachdrücklich für Wurmbrand als Kandidaten ein. Tatsächlich sollte Wurmbrand (offenbar nicht zuletzt dank der Patronage durch die Familie Schönborn) 1728 Ernst Friedrich Graf von Windischgrätz als Präsident des Reichshofrats nachfolgen.808 Aus den Berichten Seckendorffs an Wurmbrand, die letzterer in Auszügen seinen Schreiben an Lothar Franz beilegte, wird deutlich, dass vor allem Ilgen nach der Abreise Wurmbands immer wieder auf die Religionsfrage zurückgriff, um den Druck auf den Verhandlungspartner zu erhöhen. Seckendorff seinerseits schrieb in seinen Briefen an Wurmbrand mehrfach, dass er in den Religionsangelegenheiten eine immense Belastung für seine Verhandlungen sah. Er bekannte gegenüber Wurmbrand, er „wünschete […] herzlich, man machte von diesen dingen ein baldiges erwünschetes endt, damit nicht unter diesem praetext die gegen Parthey [England-Hannover, R. W.] nicht allein dem hiesigen, sondern auch noch andere protestirende höffe von uns zu trennen gelegenheit nimbt; denn ich muß täglich mit anhören, alß ob gefährliche Anschläge gegen die Religion bevor wären …“.809 Ilgen gebe ihm immer wieder zu verstehen, dass, so lange die Konfessionbeschwerden in der Pfalz noch nicht abgestellt seien, „dieses sicherlich viele veränderung in der guten disposition, solche die Protestirende Fürsten biß dato vor den Kayser gehabt, verursachen [würde] …“.810 Wurmbrand berichtete wiederum an Seckendorff, er selbst habe aus Regensburg die Nachricht erhalten, dass die brandenburgische Reichstagsgesandtschaft eindeutig beauftragt worden sei, auf die Lokalkommis 806
Vgl. Zwiedineck-Südenhorst, Anerkennung, S. 286, Anm. 2; ders., Haus- und Familienarchiv, S. 109. Die Korrespondenz zischen Lothar Franz und Wurmbrand aus dem Jahr 1727 ist überliefert in: HHStA, MEA, Geistl. u. Kirchensachen 46. Angesichts der zentralen Rolle, die Wurmbrand als Reichshofratspräsident auch für die juristische bzw. lehensrechtliche Beurteilung der Jülich-Berg-Frage spielte, und der Tatsache, dass er auch nach seinen Reisen „ins Reich“ 1726 hinsichtlich Brandenburg-Preußens mit den Themen Religion und Justiz befasst blieb, wäre eine weitere Erforschung der – offenbar starken Veränderungen unterworfenen – Beziehungen Wurmbrands zum Berliner Hof und der brandenburg-preußischen Politik ein Forschungsdesiderat. 807 Vgl. Schröcker, Schönborn, S. 103. 808 Vgl. Gschließer, Reichshofrat, S. 403–404. 809 Seckendorff an Wurmbrand, Berlin, 21.10.1727, HHStA, MEA, Geistl. u. Kirchen sachen 46, Bl. 606 = Beilage B zu: Wurmbrand an Lothar Franz, Wien, 18.10.1727, Bl. 601–617. 810 Seckendorff an Wurmbrand, Berlin, 11.10.1727, HHStA, MEA, Geistl. u. Kirchen sachen 46, Bl. 608 = Beilage C zu: ebd.
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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sionen zu dringen und diesen Trumpf der evangelischen Partei noch nicht so bald aus der Hand zu geben.811 Im Oktober 1727 schrieb Seckendorff an Wurmbrand, der König sei von England „de novo starck animiret worden, nicht allein in denen Religions- sondern auch in den übrigen vermeintlichen Reichs-beschwerden causam communem mit England bey dem Reichs-Tag zu Regenspurg zu machen, und die beyderseits Gesandtschafften allda auf gleiche Arth zu instruiren, damit die resolution gefasset würde, alle gravamina, wie sie nahmen haben möchten, auf dem Congress zu Cambray zu bringen“.812 In der Tat warb England seit einiger Zeit im Corpus Evangelicorum nicht nur dafür, alle Reichsangelegenheiten und damit auch alle evangelischen Religionsbeschwerden auf den nächsten Kongress zu bringen,813 sondern auch dafür, dass die evangelischen Stände dort durch England vertreten werden sollten814 – ein Szenario, das man auf kaiserlicher Seite freilich unter allen Umständen vermeiden wollte. Seckendorffs Berichten zufolge habe Friedrich Wilhelm I. ihm zwar versichert, Brandenburg-Preußen werde ein solches Unterfangen nicht unterstützen; jedoch habe der König die unmissverständliche Drohung hinzugefügt, „daß von denen Religions-Sachen ein baldiges Ende müßte gemacht werden, sonst könten Sie [der König] Sich nicht entschlagen, mit denen übrigen Protestirenden Ständen einhellige mesures zu Ihrer beruhigung zu nehmen“.815 Schon im Frühjahr desselben Jahres habe Friedrich Wilhelm I. deutlich gemacht, er werde niemals akzeptieren, dass Hannover und Hessen-Kassel (als die mächtigsten Reichsstände im Herrenhauser Bündnis) im Kriegsfall wesentlich geschwächt würden, weil dies notwendigerweise zu Lasten der evangelischen Religion im Reich gehen müsse.816 Ilgen, der sich laut Seckendorff im November 1727 „in den Religions Sachen […] härter als noch jemahlen“ zeigte, sei sogar noch deutlicher geworden und habe ihm erklärt, dass man notfalls die bisherige „moderate“ Haltung im Corpus Evangelicorum aufgeben werde. Auf Brandenburg-Preußen ruhten schließlich die Hoffnungen der Protestanten, und der König werde aus diesen Reihen derzeit „starck pressiret […] Sich dieser und anderer Reichs beschwehrden mit mehrerem Nachdruck bey jetzi 811
Seckendorff an Wurmbrand, Berlin 21.10.1727, HHStA, MEA, Geistl. u. Kirchen sachen 46, Bl. 609–611 = Beilage D zu: ebd. 812 Seckendorff an Wurmbrand, Berlin 28.10.1727 (Extrakt), HHStA, MEA, Geistl. u. Kirchensachen 46, Bl. 623 = Beilage zu: Wurmbrand an Lothar Franz, Wien, 5.11.1727, Bl. 622–625. 813 Als Orte für den schließlich in Soissons tagenden Kongress waren zunächst Cambray oder Aachen im Gespräch gewesen. 814 Naumann, Österreich, S. 133–134, 144. Dabei wurde von der englisch-hannoverischen Dipomatie die sich abzeichnende Verständigung zwischen Spanien und Frankreich als Argument dafür angeführt, dass nur England-Hannover eine Verbindung dieser katholischen Mächte ausbalancieren könne. Dieses Argument gibt auch Seckendorff wieder: Seckendorff an Wurmbrand, Berlin, 21.10.1727, HHStA, MEA, Geistl. u. Kirchensachen 46, Bl. 606 = Beilage B zu: Wurmbrand an Lothar Franz, Wien, 18.10.1727, Bl. 601–617. 815 Seckendorff an Wurmbrand, Berlin, 8.11.1727 (Extrakt), ebd, Bl. 628–629 = Beilage zu: Wurmbrand an Lothar Franz, Wien, 15.11.1727, Bl. 627–663, Zitat Bl. 628. 816 Förster, Friedrich Wilhelm I. 3, Urkundenbuch, Nr. 112, S. 383–385 (Seckendorff an Prinz Eugen, Berlin 8.3.1727).
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
gen Conjuncturen anzunehmen …“.817 Brandenburg-Preußen sei nicht nur aus moralischen Gründen zum Schutz des Protestantismus verpflichtet; auch seine eigenen Interessen seien untrennbar mit dem Erhalt des Religionsfriedens verbunden: Von allen Reichsständen hätte Brandenburg-Preußen unter einer schleichenden Aushöhlung des Westfälischen Friedens am meisten zu leiden, da der größte Teil des Landes aus säkularisierten Gütern bestünde, „und wo diese tractu temporis, wie es scheinen wollte, weggenommen würden, so dürffte das Hauß Brandenburg sich nur gefaßt machen, wiederum die figur von einem Graffen von Zollern zu praesentiren“.818 Diese drastische Darstellung lag freilich jenseits jeder denkbaren politischen Realität. Sie entspricht aber in bemerkenswerter Weise jenem Narrativ, das Ilgen bereits in seiner Denkschrift von 1715 verwendet hatte und demzufolge Brandenburg-Preußen maßgeblich durch die in Folge der Reformation durchgeführten Säku larisationen so sehr an Macht und Größe gewonnen habe, dass es die jalousie des Hauses Österreich erweckte. Dieses stark konfessionalisierte Bild der Konkurrenz zwischen den beiden Häusern, das auch sonst seit 1715 vermehrt in den Berliner Akten zu finden ist, kam nun auch in der Kommunikation nach außen, noch dazu gegenüber einem Repräsentanten des Kaisers, zur Anwendung. Der darin zum Ausdruck kommenden Perspektive auf die Beziehungen zwischen dem Kaiser und Brandenburg-Preußen folgend, betonte Ilgen gegenüber Seckendorff explizit, dass deswegen auch eine untrennbare Verbindung zwischen dem Verhältnis des Kaisers zum Haus Brandenburg und seiner Haltung gegenüber dem evangelischen Reichsteil ingesamt bestehe. Ex negativo implizierte eine derartige Interpretation der Verhältnisse im Reich die Aussage, dass Karl VI., wenn er die bisherige, dem Protestantismus im Reich so schädliche gegenreformatorische Politik einiger katholischer Reichsstände dulde, sich damit gleichzeitig unausgesprochen zu dem Ziel bekenne, die Protestanten aller ihrer Rechte zu berauben und also in letzter Konsequenz auch den preußischen König wieder zu einem „Fürsten von Zipfel Zerbst“ resp. einem „Grafen von Zollern“ zu machen. Weiterhin habe Ilgen in diesem Kontext Seckendorff zu verstehen gegeben, dass der Kaiser gut beraten sei, in Zeiten, in denen selbst die katholischen Stände Misstrauen gegen den Kaiser hegten, zumindest die protestantischen Stände nicht durch eine zu „katholische“ Reichspolitik weiter gegen sich aufzubringen.819 Vermutlich spielte diese Bemerkung auf den Streit um die Herrschaft Zwingenberg an, die aktuell am Reichstag verhandelt wurde und in deren Kontext es Kurpfalz gelungen war, die katholische Mehrheit auf dem Reichstag gegen den Kaiser zu mobilisieren.820 817
Seckendorff an Wurmbrand, Berlin, 8.11.1727 (Extrakt), HHStA, MEA, Geistl. u. Kirchensachen 46, Bl. 628–629 = Beilage zu: Wurmbrand an Lothar Franz, Wien, 15.11.1727, Bl. 627–630, Zitat Bl. 628. 818 Ebd., Zitat Bl. 629. 819 „… denn woferne, nach des Ilgen discoursen judiciren soll, so ist in der that bey denen Evangelischen Ständten das Mißvergüngen größer als jemahls, und giebt Er nicht undeutlich zu verstehen, daß die Catholischen Stände selbst dieses Mißtrauen gegen den Kayser unterhielten.“; ebd., Zitat Bl. 629. 820 Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Moser, Reichs-Fama 4, S. 58–190.
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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a) Der Konflikt um die Herrschaft Zwingenberg Der Pfälzer Kurfürst hatte am Ende des 17. Jahrhunderts die Herrschaft Zwingenberg an den Freiherrn von Wieser, einen kurpfälzischen Rat, als Mannlehen übertragen, obwohl Zwingenberg 1651 durch die Beschlüsse der Reichsdeputation an die lutherischen Ritter von Hirschhorn restituiert worden war.821 Dagegen reichte der Erbe des letzten Hirschhorners, Friedrich Jakob Göler von Ravensberg, Klage beim Reichshofrat ein. Dieser Prozess wurde nach seinem Tod von den Erben, den Ehemännern seiner Töchter, weitergeführt. Als der Reichshofrat 1725 die Entscheidung der Reichsdeputation bestätigte, brachte Kurpfalz Ende 1726 die Zwingenberger Frage erfolgreich als Rekurs an den Reichstag, um eine Exekution des Reichshofratsurteils zu vereiteln.822 Zunächst unterstützte der Kaiser Karl Philipp von der Pfalz bzw. behinderte zumindest nicht das Rekursverfahren, dessen Beginn noch in die Zeit der Assoziationsverhandlungen fiel.823 Im Oktober 1727 wurde der Rekursantrag im Reichstag mehrheitlich angenommen, wobei allerdings im Fürstenrat die evangelischen Gesandten zwar mehrheitlich, aber nicht geschlossen gegen den kurpfälzischen Antrag gestimmt hatten. Daraufhin erklärte das Corpus Evangelicorum die Zwingenberger Frage zur Religionssache und kündigte an, in partes zu gehen, so dass die Streitsache in Verhandlungen zwischen den beiden konfesionellen Corpora via amicabili am Reichstag hätte behandelt werden müssen.824 Tatsächlich handelte es sich im Falle Zwingenbergs um einen exemplarischen Fall für die Anwendung der evangelischen Restitutionstheorie, derzufolge Kurpfalz zwar das Recht zur Klage oder zum Rekurs besaß, aber eben erst nach erfolgter Restitution.825 Die Restitution ex capite amnestiae wiederum, so die evangelische Argumentation, sei in diesem Fall von der Reichsdeputation rechtmäßig angeordnet worden. Letzteres bestritten die Katholiken; sie bezweifelten, dass die Kommissare der Reichsdepuation jemals legitimerweise darüber hätten entscheiden dürfen. Vor allem aber erklärten die katholischen Stände per Votum commune die vom Corpus Evangelicorum angekündigte Itio in partes für ungültig: Zum einen handele es sich in der Zwingenberger Frage nicht um eine Religionssache; zum anderen erachteten es 821 Zur Geschichte der Herrschaft Zwingenberg seit dem 16. Jahrhundert bis 1728: Ebersold, Zwingenberg, S. 23–41. 822 Vgl. ebd., S. 43–45. 823 Auf die ursprüngliche Unterstützung des Kaisers für den kurpfälzischen Rekurs hob auch noch einmal ein Schreiben der katholischen Reichsstände vom Juli 1728 ab; Moser, ReichsFama 5, S. 569–583, bes. S. 573. 824 Schauroth, Sammlung 3, S. 870–872 (Votum Commune vom 3.10.1727: „Daß der Pfältzische Recursus in der Zwingenbergischen Restitutions- und Executions-Angelegenheit nicht Platz greiffen und unter dem Praetext derer mehresten Stimmen zu keinem Concluso geschritten werden könne“). 825 Die evangelische Diskussion bildet ein Pro Memoria aus dem Jahr 1727 ab, in dem es heißt, es sei für die ständische Freiheit unbedingt nötig, „daß der recursus ad comitia in causis justitiae frey gelassen werde. […] Hierbey würde nun der […] Gebrauch dieses recursus zu reguliren seyn, damit nicht der Mißbrauch deßselben zu Hemmung der Justitz aus schlagen möge …“; GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 32, Fasz. 4.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
die Katholiken für unrechtmäßig, eine Itio in partes per internen (evangelischen) Mehrheitsbeschluss zu erklären, noch dazu, wenn nicht bereits zuvor eine Entscheidung auf dem Weg des ordentlichen, sprich: kurialen Reichstagsverfahrens gefällt worden sei. In der Folge wurde, wie schon in früheren Jahren, die Frage der legitimen Durchführung einer Itio in partes zwischen den Konfessionsparteien intensiv diskutiert.826 Vor allem England-Hannover nutzte die Zwingenberger Streitsache, um erneut die evangelischen Reichsstände in Opposition zum Kaiser zu bringen, der seinerseits aber im Laufe des Jahres 1727 seine Haltung gegenüber Kurpfalz und in Folge dessen auch in der Zwingenberger Angelegenheit änderte, den Rekurs ablehnte, gleichzeitig aber auch die Itio in partes in diesem Fall für verfassungswidrig erklärte und deshalb primär darum bemüht war, den Streit um Zwingenberg vom Reichstag abzuziehen und wieder in die alleinige Zuständigkeit des Reichshofrats zu überführen. In einem Kommissionsdekret forderte der Kaiser daher im Januar 1728, „daß alles, was dieser Sach halber vorbey gangen, als nicht geschehen geachtet […], auch nun zu keiner Zeit zu ein – oder des andern Theils Präjudiz und Nachtheil angezogen werden [solle] …“.827 Wenngleich sich die Beziehungen zwischen dem Kaiser und Karl Philipp zu diesem Zeitpunkt bereits stark abgekühlt hatten und der Pfälzer Kurfürst für sein Rekursverfahren nicht mehr auf Unterstützung aus Wien hoffen konnte, so musste Karl VI. der evangelischen Position doch mindestens genauso deutlich widersprechen. Denn mit der noch dazu per Mehrheitsbeschluss innerhalb des Corpus Evangelicorum und gegen den Willen der Katholiken herbeigeführten Itio in partes hatten sich die Protestanten einer Interpretation dieses Verfassungsinstruments bedient, die der Kaiser unabhängig von allen anderen (tages-)politischen Erwägungen ablehnen musste,828 weil eine deratige Handhabung der Itio in partes durch die Protestanten der kaiserlichen Verfassungsinterpretation diametral entgegenlief: Das vom Corpus Evangelicorum vertretene Verständnis hätte schließlich bedeutet, dass die Protestanten künftig in praktisch jeder von ihnen selbst zur „Religionssache“ erklärten Materie per internen Mehrheitsentscheid die kurialen Beratungen auf dem Reichstag blockieren und stattdessen eine Verhandlung de corpore ad corpus hätten durchsetzen können.829
826
Die katholische Position ist ausführlich dargestellt in: Schauroth, Sammlung 3, S. 901–942 (Votum Commune Catholicorum vom 13./16.8.1728); s. a. die darauf folgenden Äußerungen des Corpus Evangelicorum ebd. 827 Ebd., S. 891–892 (Kaiserliches Kommissionsdekret vom 27.1.1728: „Worinnen die occa sione der Zwingenbergischen Restitutions-Sache zwischen beyden Corporibus entstandene Mißhelligkeiten ex officio gehoben, und beyderseitige Religions-Verwandte zur so nöthigen Harmonie ermahnet werden“). 828 Vgl. Belstler, Stellung, S. 129, Anm. 55 (mit falscher Datierung). 829 Schauroth, Sammlung 3, S. 889–891 (Conclusum vom 3.11.1727: „Denen bishero beschehenen Aeusserungen beständigst zu inhaeriren, und Glimpfs halber zwar bey Rath zu erscheinen, Die Zwingenbergische Angelegenheit aber betreffend, keinem anderen Fürtrag, Handlung oder Deliberation beyzuwohnen, bis Catholici denen Evangelischen das Jus eundi in partes nicht mehr bestreiten und amicabilem compositionem vor die Hand nehmen würden“).
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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Im Zuge der Verhandlungen um die Herrschaft Zwingenberg auf dem Reichstag distanzierten sich der Kaiser und die katholischen Reichsstände deutlich vonein ander, weil letztere überwiegend die kurpfälzische Position – und damit den Rekurs gegen das Reichshofratsurteil – unterstützt hatten.830 Im Laufe des Jahres 1728 folgten noch weitere Vota communia der beiden Corpora sowie eine publizistische Debatte über die Frage, inwieweit Fälle am Reichstag revidiert werden könnten, die bereits durch eine Reichsdeputation abgeurteilt waren.831 Schließlich kündigte im November 1728 ein kaiserlicher Beschluss die Exekution des ursprünglichen Reichshofratsurteils an, die allerdings nicht durchgeführt wurde.832 Nach jahrelangen Verhandlungen und weiteren Streitigkeiten musste Kurpfalz schließlich doch noch nachgeben, kaufte aber 1747 den Hirschhorner Erben Zwingenberg ab und konnte die Herrschaft so endgültig in das kurpfälzische Gebiet inkorporieren.833 Die Zwingenberger Streitsache verdeutlicht zum einen nochmals die verfassungs rechtliche Position des Kaisers, die dieser auch gegenüber den katholischen Ständen beibehalten musste, wenn jene als „Corpus“ – und damit gewissermaßen analog zu den Protestanten – agierten. Zum anderen lässt sich aber am Konflikt um Zwingenberg auch die Veränderung in den Beziehungen zwischen Karl VI. und Karl Philipp von der Pfalz ablesen: Je unsichererer in den Augen Karl Philipps das kaiserliche Garantieversprechen für die pfälzische Erbfolge in Jülich und Berg angesichts der laufenden Verhandlungen in Berlin wurde, desto mehr orientierte sich der Pfälzer Kurfürst an Bayern und Frankreich und betrieb mit Hilfe der Mehrheit der katholischen Reichsstände (und vor allem der übrigen Wittelsbacher) auf dem Reichstag Oppositionspolitik gegen den Kaiser. Schließlich war, auch das zeigt der Streit um die Herrschaft Zwingenberg, die Reichspolitik um 1727/28 immer noch stark „konfessionalisiert“. Und nicht zuletzt lag es angesichts der europäischen Bündnislage im Interesse England-Hannovers, die evangelischen Reichsstände möglichst geschlossen mit Rückgriff auf konfessionspolitische Argumente gegen den Kaiser bzw. die Wiener Allianz zu positionieren. Das aber konnte wirksam nur im Verbund mit Brandenburg-Preußen geschehen – wie es im Konflikt um Zwingenberg auch noch einmal kurzfristig gelang. Allerdings war Brandenburg-Preußens Interesse an der Zwingenberger Streitsache vermutlich auch deswegen vergleichsweise groß, weil sich hier deutlich die Differenzen zwischen Karl Philipp von der Pfalz und Karl VI. offenbarten bzw. vertieften – und davon wiederum konnte die Berliner Regierung nur profitieren. 830
Vgl. Ebersold, Zwingenberg, S. 52–55; zum „sichtbaren“ Auftreten der gesammelten katholischen Reichsstände auf dem Reichstag im Zusammenhang mit der Zwingenberger Streitsache und den damit verbundenen verfassungstheoretischen Implikationen vgl. Brachwitz, Auto rität, S. 69–72. Ebenfalls mit Blick auf Stellung und Entwicklung des Corpus Catholicorum, jedoch ohne jede Berücksichtigung des reichspolitischen Kontexts: Härter, Corpus Catholi corum, S. 85–88. 831 Vgl. Ebersold, Zwingenberg, S. 56–75. 832 Zu den weitläufigen Verhandlungen und der unvollständigen Restitution vgl. ebd., S. 90–107. 833 Vgl. ebd., S. 127–129.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Demgegenüber war man in Wien darum bemüht, den konfessionellen Antagonismus zu beruhigen und endlich auch die wichtigsten evangelischen Religions gravamina zumindest so weit als abgetan erklären zu können, dass vor allem Brandenburg-Preußen im Corpus Evangelicorum nicht mit England-Hannover zusammenging. Denn die gemeinsame evangelische Reichspolitik im Rahmen des Corpus Evangelicorum wurde sowohl von Hannover als auch von BrandenburgPreußen gegenüber Wien als eine potentiell entscheidende Brücke der Verständigung zwischen den beiden protestantischen Kurfürsten-Königen dargestellt. Dabei wiederum spielte die evangelische Forderung nach der Einsetzung von Lokalkommissionen für die Klärung von Religionsbeschwerden eine Schlüsselrolle. Zwar hatte der Kaiser den Protestanten 1723/24 die Einsetzung von Lokalkommissionen generell in Aussicht gestellt und diese Bereitschaft auch von Wurmbrand noch im Sommer 1727 in Berlin wiederholen lassen. Doch hatte Wurmbrand bei dieser Gelegenheit auch eine Liste mit gewissen „Requisita“ übergeben, die sich der Kaiser bereits in der Vergangenheit für die Ernennung von Lokalkommissionen vorbehalten hatte: Es müsse ein eindeutiger Kläger auftreten, der Gegenstand der Klage müsse zumindest „nothdürfftig“ bescheinigt und die Unrechtmäßigkeit des status quo aus den Reichsgesetzten dargestellt werden. Weiterhin müssten die Kommissare mit einer „zulänglichen“ Instruktion versehen werden, „damit Sie die Hand in solche dinge nicht einschlagen mögen, über welche zu cognosciren sie nicht befugt oder die eine vorläufige interpretation legum imperii erfordern“. Schließlich aber würden die Kommissare ihre Arbeit wohl kaum aufnehmen, bevor nicht die Kostenfrage geklärt sei.834 Diese Einwände gegen eine Ausgestaltung der Lokalkommissionen nach Vorstelllung der Protestanten hatte Wurmbrand mit der Überreichung eines entsprechenden Memorials in Berlin noch einmal unterstrichen. Die brandenburg-preußischen Verhandlungsführer wiederum hatten erklärt, sich zu diesen Punkten nicht individuell äußern zu können, sondern erst nach Beratung mit den übrigen evangelischen Reichsständen. Tatsächlich leitete die Berliner Regierung die kaiserlichen „Requisita“ unmittelbar an Metternich weiter. Metternich wies die kaiserlichen Bedingungen Punkt für Punkt zurück und machte deutlich, dass eine Ausgestaltung der Lokalkommissionen nach den Vorstellungen Wiens sämtliche Vorteile, die dieser Modus für die Protestanten besaß, zunichtemachen würde. Er warnte in seiner Stellungnahme davor, die einmal einmütig beschlossenen Grundsätze für die Abstellung der Religionsbeschwerden anzutasten.835 834 Pro Memoria (zu den Lokalkommissionen), o. D. [1727], GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 321, Bl. 15. 835 Metternich bezog sich ausdrücklich auf ein Vorstellungsschreiben des Corpus Evangelicorum von 1726, in dem die Protestanten die von ihnen vorgesehene Ausgestaltung der Lokalkommissionen gegen die kaiserlichen Forderungen verteidigten; s. Schauroth, Sammlung 3, S. 137–144 (Vorstellungsschreiben vom 9.7.1726). „… so ist mir um somehr bedencklich, davon [von den in diesem Schreiben aufgeführten Grundsätzen, R. W.] in einigen stücken abzugehen, als dieses Schrieben p[er] unanimia verglichen, und zum überfluß von allerseits Principalen approbirt worden …“; Relation von Metternich, Regensburg, 21.7.1727, GStA PK, I. HA, Rep. 1, Nr. 321, Bl. 54–58, 58.
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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Und in der Tat erlaubten die politischen Verhältnisse um 1727 zwar nicht, neue Beschlüsse in der evangelischen Konferenz durchzusetzen, vor allem weil Brandenburg-Preußen zu diesem Zeitpunkt kein unmittelbares Interesse an einer aktiven gemeinschaftlichen evangelischen Politik hatte. Aber hinter die einmal festgelegten Principia evangelicorum konnte man nicht zurück, ohne für die Zukunft einen Rückgriff auf diese Rechtsgrundsätze von vorneherein unmöglich zu machen und die bisherige gesamtevangelische Politik zu delegitimieren. Und so bestand der einmal manifestierte Kanon „evangelischer Prinzipien“ fort und legte die offizielle Position der Protestanten zur Frage der Behandlung von Religionsgravamina fest – auch unabhängig von der geringen Wahrscheinlichkeit, diese Position politisch umzusetzen.836 5. Die Verständigung zwischen Berlin und Wien und die Konsequenzen für die evangelische Reichspolitik Zwar hatten Brandenburg-Preußen und England-Hannover im Kontext der Zwingenberger Streitsache noch einmal erfolgreich gemeinsam protestantische Oppositionspolitik betrieben; grundsätzlich aber hatte sich die Haltung, die BrandenburgPreußen innerhalb des Corpus-Evangelicorum vertrat, ab etwa 1726/27 deutlich gewandelt: Noch im Sommer 1726 hatten die Instruktionen wegen des Umgangs mit den katholischen Paritionsanzeigen an Metternich ähnlich wie jene an den Hannoveraner Gesandten Münchhausen gelautet; und beide waren von ihren Regierungen angewiesen worden, in dieser Frage unbedingt zusammenzuarbeiten.837 Spätestens seit Ende 1726, also etwa gleichzeitig mit dem Abschluss des Wusterhausener Vertrags, wurde Metternich dagegen regelmäßig befohlen, sich bei evangelischen Konferenzen möglichst bedeckt zu halten und eine neutrale Position zu vertreten. Als Anfang 1727 die Frage diskutiert wurde, ob man von evangelischer Seite wegen der Lokalkommissionen noch einmal an den Kaiser schreiben sollte, weil dieser das letzte Vorstellungsschreiben vom Juli 1726 noch immer nicht beantwortet hatte, erhielt Metternich die Weisung, sich „mit dem Mangel an Instruction“ zu entschuldigen.838 Auch bei zukünftigen Diskussionen über die Frage der Lokalkommissionen sollte Metternich keine weiteren Beschlüsse aktiv unterstützen, gleichzeitig aber auch den Anschein wahren, „denen mehreren oder vielleicht gar einhelligen stimmen 836
Vgl. Belstler, Stellung, S.205–212. Sowohl Münchhausen als auch Metternich wurden im Sommer 1726 angewiesen, die katholischen Paritionsanzeigen durch das Corpus Evangelicorum beantworten zu lassen und weiterhin auf den Lokalkommissionen zu bestehen: Reskript an Metternich, Berlin, 9.7.1726, GStA PK, I. HA, Rep 13, Nr. 32, Fasz. 3; Reskript an Münchhausen, Hannover, 13.8.1726, ebd. 838 s. etwa: Relation von Metternich, Regensburg, 9.1.1727, GStA PK, I. HA, Rep 13, Nr. 32, Fasz. 3: „Werde ich […] wenn Evangelischer Seits auf eine Erinnerung bey der Kayserl. Commission wegen ausbleibender Kayserl. resolution in puncto der versprochenen local commissionen in der religions Sache angetragen werden sollte, mich darüber nicht einlassen, sondern mich damit entschuldigen, daß ich über dieses Sujet mit keiner resolution […] versehen wäre …“. 837
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
nicht contrair zu seyn, sondern nur dahin mit zu helffen, daß allen falls sothane […] wiederholende Vorstellung mit möglichstem glimpff gegen den Kayser abgefaßet werde …“.839 Aus den Weisungen an die Regensburger Reichstagsgesandtschaft spricht mithin eine abwartende Haltung Berlins, definitv verdeutlichen sie aber eine Abkehr von der aktiven, aggressiven konfessionellen Oppositionspolitik der Jahre bis 1725. Das hielt die Berliner Regierung freilich nicht davon ab, die evangelische Reichspolitik weiterhin als Drohkulisse gegenüber Wien zu nutzen. Hatte sich Brandenburg-Preußen also mit dem Abschluss des Wusterhausener Vertrags und den weiterlaufenden Verhandlungen mit Wien zumindest zeitweilig von der aktiven evangelischen Reichspolitik zurückgezogen, war die kaiserliche Diplomatie nach wie vor darum bemüht, die Religionsbeschwerden möglichst auf bilateralen Wegen zu klären und den kaiserlichen Hof als zentrale Vermittlungsinstanz zu verteidigen. Dafür gab der Kaiser die diversen Paritionsanzeigen der katholischen Reichsstände bekannt, die beweisen sollten, dass die wichtigsten Beschwerdegründe der Protestanten bereits gegenstandslos geworden seien.840 Für den besonders im Verhältnis zu Brandenburg-Preußen sensiblen Fall der kurpfälzischen Religionsgravamina versuchte man in Wien sogar, die Verhandlungen ganz an den kaiserlichen Hof zu ziehen. Zu diesem Zweck sollte der kurpfälzische Rat Busch, der bereits mit Wurmbrand bei dessen Aufenthalt in Mannheim über die Religionsfrage verhandelt hatte, nach Wien abgesandt werden, um dort vor Ort ausführlich über den Stand der Dinge zu berichten und Belege für die Abstellung der Gravamina vorzulegen.841 Busch hatte mit Wurmbrand seit dessen Aufenthalt in Mannheim 1727 in regelmäßigem Austausch gestanden und detailliert über den Stand der Religionsgravamina berichtet.842 Wurmbrand drängte nun auf ein persönliches Erscheinen Buschs am Wiener Hof und sprach sich dafür aus, auch einen Abgeordneten des Reformierten Kirchenrats zu den Beratungen hinzuzuziehen, damit schließlich dokumentiert werden könnte, dass die wichtigsten Religionsbeschwerden in der Kurpfalz erledigt seien, „damit man in Comitiis ein vollkommenes Werck vorlegen […] könne“ und somit sowohl die Lokalkommissionen verhindern als auch Brandenburg-Preußen von einer weiteren Aktivität im Corpus Evangelicorum (im Verbund mit England-Hannover) abhalten könnte.843
839
Relation von Metternich, Regensburg, 13.5.1727, ebd. s. die Akten über die katholischen Paritionsanzeigen in: GStA PK, I. HA, Rep. 13, Nr. 32, Fasz. 3. 841 Wurmbrand an Lothar Franz, Wien, 5.11.1727, HHStA, MEA, Geistl. u. Kirchensachen 46, Bl. 622–625, 623: „Gott gebe nur, daß der Chur-Pfältz. Geheime Rath Busch wohl instruirt hierher komme, von denen abgestellten wahren gravaminibus legaliter, einfolglich mit genugsamer bescheinigung docire, bey denen noch nicht abgethanen aber gründliche rationes, warum man sich dazu nicht schuldig zu seyn glaubet, beybringe …“. 842 s. etwa: Busch an Wurmbrand (Extrakt), ebd., Bl. 634–639 = Anlage zu: Wurmbrand an Lothar Franz, Wien, 19.11.1727, Bl. 633–640. 843 Wurmbrand an Lothar Franz, Wien, 5.11.1727, HHStA, MEA, Geistl. u. Kirchensachen, 46, Bl. 622–625. 840
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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Die Korrespondenz zwischen Wurmbrand und dem Mainzer Kurfürsten Lothar Franz von Schönborn verdeutlicht, für wie gefährlich beide eine mögliche Ein setzung von Lokalkommissionen (jenseits der grundsätzlichen verfassungspolitischen Einwände) in der aktuellen, äußerst angespannten außenpolitischen Lage hielten. Gerade angesichts der derzeit für Österreich so schwierigen außenpolitischen Situation könne man, so Wurmbrand, sich niemals auf derartige Kommissionen einlassen, die „einen großen lermen im ganzen Reich verursachen [würden], welcher fast so schädlich als ein offentlicher Krieg seyn würde …“. Lothar Franz drückte wiederholt sein Vertrauen in Wurmbrand aus, dieser werde sich „pro re Catholica“ einsetzen und das evangelische Ansinnen vereiteln. Denn die Lokalkommissionen würden es den Protestanten schießlich erlauben, in den Ländern katholischer Reichsstände „Papst und Kaiser zu spielen …“.844 Sowohl in Mainz als auch in Wien sah man die treibende Kraft auf der Seite der Protestanten 1727 eindeutig in England-Hannover; allgegenwärtig aber war die Sorge, dass Brandenburg-Preußen sich schließlich erneut zu einer gemeinsamen evangelischen Reichspolitik entschließen könnte – mit allen Konsequenzen, die ein solcher Kurswechsel auf die aktuellen Allianzverhandlungen haben würde.845 Immerhin berichtete Seckendorff im Oktober 1727, in Berlin habe man die in Aussicht gestellte Klärung der pfälzischen Gravaminia durch die Sendung des Geheimen Rates Busch nach Wien positiv aufgenommen und erwarte nun die Er gebnisse.846 Tatsächlich sollte es dem kaiserlichen Hof gelingen, sowohl die Lokalkommissionen zu verhindern als auch die Verhandlungen über die wichtigsten der verbleibenden Religionsbeschwerden in der Pfalz ganz an den kaiserlichen Hof zu ziehen und damit die politische Aktivität des Corpus Evangelicorum dauerhaft zu schwächen.847 Ein entscheidender Grund für diesen Erfolg der kaiserlichen Politik lag allerings in dem endgültigen Übertritt Brandenburg-Preußens ins kaiserliche Lager, der sich schließlich Ende des Jahres 1728 vollziehen sollte. Umgekehrt war eine der Voraussetzungen für dieses Bündnis, dass zumindest die wichtigsten evangelischen Religionsbeschwerden (vor allem in der Kurpfalz) soweit als gelöst gelten konnten, dass Brandenburg-Preußen ohne politischen Gesichtsverlust von einer weiteren aktiven Politik im Corpus Evangelicorum zurückstehen konnte. Seckendorffs Berichten zufolge hatte Ilgen im Laufe der Verhandlungen immer wieder die Religionsbeschwerden bzw. die von den Protestanten erhobene Forderung nach Lokalkommissionen mit der Stellung Brandenburg-Preußens zu den beiden Allianzsystemen verbunden. Die Konfessionspolitik gehörte mithin, ebenso wie die Reichsjustiz, zu jenen Themen, die zwar nicht im Mittel 844
Lothar Franz an Wurmbrand, Mainz, 8.11.1727, ebd., Bl. 619–621, 619. Lothar Franz an Wurmbrand, Mainz, 15.10.1727, ebd., Bl. 626. 846 Seckendorff an Wurmbrand, Berlin, 11.10.1727, ebd., Bl. 608–611 = Anlage C zu: Wurmbrand an Lothar Franz, Wien, 29.10.1727, Bl. 601–617. 847 Der Reichsvizekanzler Schönborn berichtete Anfang des Jahres 1728, man rechne in Wien mit der Ankunft des kurpfälzischen Geheimen Rats Busch gegen Dreikönig: Schönborn an Lothar Franz, Wien, 3.1.1728, ebd., Bl. 658. 845
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
punkt der eigentlichen Verhandlungen um den Wortlaut der Vertragsbestimmungen standen, aber gleichwohl politisch sensible Bereiche im Verhältnis Berlin – Wien darstellten – und zwar auch während der Phase der außenpolitischen Annäherung beider Mächte. So führten auch die Umstände, unter denen der brandenburg-preußische Gesandte Metternich in Regenburg verstorben war, um die Jahreswende 1727/28 kurzzeitig zu Irritationen zwischen Wien und Berlin, obwohl insgesamt das politische Klima seit Ende 1727 deutlich konstruktiver geworden war: Der langjährige Reichstagsgesandte und prominenter Vertreter im Corpus Evangelicorum war noch auf dem Sterbebett im brandenburg-preußischen Gesandtschaftsquartier und – wie nach Berlin von den übrigen Gesandtschaftsangehörigen berichtet worden war – unter Mitwirkung des kaiserlichen Prinzipalkommissars und einiger jesuitischer Geistlicher zum Katholisimus konvertiert.848 Friedrich Wilhelm I. konfrontierte Seckendorff, der sich seit Dezember 1727 in Wien aufhielt, im Januar 1728 in mehreren Briefen mit den evangelischen Berichten aus Regensburg. Diese besagten, dass Metternich noch kurz vor seinem Tod das Abendmahl nach reformierter Art genommen habe. Der Prinzipalkommissar aber habe veranlasst, dass als Ärzte getarnte Jesuiten zum Kranken gebracht worden seien. Diese hätten alle anderen Personen, auch die Gattin Metternichs, aus dem Sterbezimmer ausgeschlossen.849 Unter welchen Umständen sich die Konversion vollzogen habe, sei also höchst fraglich. Sicher aber sei, dass der Prinzipalkommissar nach dem Tod Metternichs dafür gesorgt habe, dass die Leiche nach St. Emmeram überführt, dort aufgebahrt und schließlich mit großem Pomp bestattet worden sei. Friedrich Wilhelm I. beschwerte sich bei Seckendorff bzw. dem Kaiser vor allem über das Betragen des Prinzipalkommissars: Schon das Eindringen der Jesuiten in das Gesandtschaftsquartier, noch mehr aber die sofortige und eigenmächtige Entfernung des Leichnams von dort sei eine „offenbahre Violirung meines königlichen und churfürstlichen Juris legationis ausschlagende Gewaltthätigkeit“ gewesen. Dass die anschließende Beerdigung mit so viel katholischer Prachtenfaltung einherging, sei „bloß in dem Absehen [geschehen], […] daß mir und allen evangelischen Ständen des Reichs in dem Gesicht der ganzen Welt dadurch desto heftiger insultiret und eine desto empfindlichere Prostitution zugefügt werden möchte“.850 Seckendorff solle diese Ereignisse dem Kaiser vortragen und sehen, „ob es nicht zum wenigsten dahin zu richten, daß von dem Principal Comissario mir, wegen der durch die Sache mir zugefügten Beschimpfung und Violirung meines Juris Legationis, eine proportionirte Satisfaction gegeben werde“.851 In der Tat fand die Konversion des langgedienten und prominenten evangelischen Reichstagsgesandten Metternich einen großen Wiederhall in der zeitgenössischen
848 Förster, Friedrich Wilhelm I. 3, Urkundenbuch, Nr. 45, S. 254–257 (Friedrich Wilhelm I. an Seckendorff, Berlin, 20.1.1728). 849 Ebd., S. 254–257 (Friedrich Wilhelm I. an Seckendorff, Berlin, 20.1.1728). 850 Ebd., S. 254–257 (Friedrich Wilhelm I. an Seckendorff, Berlin, 20.1.1728), Zitat S. 257. 851 Ebd.
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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Publizistik. Je nach konfessioneller Provinienz wurde Metternich in diesen Berichten zugeschrieben, bereits Jahre vor seinem Tod konvertiert zu sein und daher im Geheimen schon lange den Katholiken zugearbeitet zu haben,852 oder aber nur aufgrund krankheitsbedingter Schwäche und nachlassender geistiger Kräfte den jesuitischen Überredungskünsten erlegen zu sein.853 Seckendorff antwortete Friedrich Wilhelm I., der Kaiser bedauere die Verstimmung des Königs sehr.854 Zwar habe man in Wien die Information, dass sowohl die Konversion als auch das Begräbnis nach dem ausdrücklichen Wunsch des Verstorbenen vonstatten gegangen seien; der Kaiser wolle aber weitere Nachrichten einholen lassen, um zu erfahren, „ob bei dieser metternichschen Religionsveränderung einige Excesse vorgegangen, wodurch Ew. Königlichen Majestät Respect zu nahe getreten worden …“.855 Seckendorff versicherte Friedrich Wilhelm I. auch im Voraus, es würde gegen die Verantwortlichen vorgegangen werden. Dem Prinzipalkommissar sei auch bereits befohlen worden, sich schriftlich dem König gegenüber zu erklären und zu entschuldigen, „alsdann auch hoffentlich Ew. Königliche Majestät diese, vermuthlich aus allzu heftigem Religionseifer über Gebühr unterstützte, Conversion an seinen Ort würden laßen gestellt sein …“.856 Und eben dies war man – angesichts des Status der Allianzverhandlungen und der allgemeinen politischen Lage – in Berlin offensichtlich auch tatsächlich bereit zu tun. Die Episode um die Metternichsche Konversion zeigt mithin zweierlei: Zum einen verdeutlichen sowohl die große Aufmerksamkeit, mit der dieser Bekenntniswechsel von den Zeitgenossen verfolgt und kommentiert wurde, als auch der demonstrative Aufwand, mit dem das katholische Regensburg das Begräbnis Metternichs zelebrierte, wie präsent der konfessionelle Gegensatz, der die Reichspolitik während der vorangegangenen Jahre geprägt hatte, nach wie vor war. Naturgemäß wurde die Konversion eines so prominenten evangelischen Gesandten vom katholischen „Reichspersonal“ in Regensburg entsprechend symbolisch ausgeschlachtet.857 Zum anderen und in auffälligem Gegensatz dazu aber belegt der über dieses
852
Wahrhaffter Auch mit unverwerfflichen Zeugen-Aussagen und Attestatis bestättigter Verlauff, Von allem dem, Was bey des seeligen Herrn Grafen Ernst von Metternich Tit. Ohnlängst erfolgten Annehmung Der Catholischen Religion geschehen: Denen hin und wider ausgestreuten boßhafften und falschen Relationibus Entgegen gesetzt, Und zum Druck befördert, Stadt am Hof, 1728. 853 Fassmann, Gespräche in dem Reiche derer Todten […] zwischen dem letztverstorbenen regierenden Hertzog zu Sachsen-Zeitz […] und Ernst Grafen von Metternich […], bes. S. 1128–1134. 854 Auch zum Folgenden: Förster, Friedrich Wilhelm I. 3, Urkundenbuch, S. 257–259 (Seckendorff an Friedrich Wilhelm I., Wien, 14.2.1728). 855 Ebd., S. 258. 856 Ebd., S. 258–259. 857 In Folge der Abreise des langjährigen Hannoveraner Reichstagsgesandten Wrisberg im April 1726 war in Regensburg ebenfalls ein Spottgedicht in Umlauf, in dem berichtet wurde, Wrisberg habe Regensburg verlassen müssen, weil seine Frau zum Katholizismus konvertieren wolle; vgl. Naumann, Österreich, S. 120, der aus Marburger Reichstagsberichten zitiert.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Thema geführte Briefwechsel zwischen Friedrich Wilhelm I. und Seckendorff, wie zurückhaltend man in Berlin und in Wien mit dieser Angelegenheit umging. Hätte man sich zumindest in Berlin noch einige Jahre zuvor sicherlich der konfessionalistischen Deutung eines solchen Ereignisses angeschlossen und es möglichst öffentlichkeitswirksam als Beleg für die gegenreformatorische Haltung des Kaiserhofs dargestellt, vermieden es 1727/28 beide Seiten, durch einen derartigen Zwischenfall das konstruktive Klima zwischen den beiden Höfen zu gefährden. 6. Die letzte Phase der Verhandlungen und der Abschluss des Berliner Vertrags 1728 Im März 1728 hatte Spanien die Friedenspräliminarien unterzeichnet, und damit stand auch dem Beginn des geplanten europäischen Friedenskongresses in Soissons nichts mehr im Wege. Nachdem dann auch noch Karl Philipp im Juni 1728 einen Neutralitätspakt mit Frankreich abgeschlossen hatte, der in einer Zusatzbestimmung die französische Garantie über Jülich und Berg zugunsten der pfalz-sulzbachischen Verwandten beinhaltete,858 standen sowohl die Berliner als auch die Wiener Seite unter größtem Druck, in den Verhandlungen um einen gemeinsamen Allianzvertrag Erfolge zu erzielen. Während der Kaiser vor allem mit Blick auf die unsicheren Allianzen mit Spanien und Russland einen neuen Verbündeten benötigte, war Friedrich Wilhelm I. nach wie vor vorrangig daran interressiert, seine Rechte am jülich-bergischen Erbe gesichert zu sehen, d. h. zumindest das Herzogtum Berg zugesprochen zu bekommen. Beide Seiten teilten allerdings das Interesse, dass die Erbfrage in Jülich-Berg sowie andere Reichsangelegenheiten nicht, wie England-Hannover und auch Kurpfalz dies befürworteten, auf dem Kongress in Soissons behandelt werden sollten.859 Nachdem Seckendorff im Dezember 1727 aus Berlin nach Wien zurückgekehrt war, um dort mündlich über die Berliner Vorschläge zu berichten, reiste er im Mai 1728 mit einem neuen Vertragsentwurf nach Berlin, wo nun die letzte, intensive Verhandlungsphase beginnen sollte. Monatelang wurde zwischen Berlin und Wien um den konkreten Vertragstext gerungen. Für die kaiserliche Seite gestaltete es sich zunehmend schwierig, in der jülich-bergischen Sukzessionsfrage möglichst geringe Zugeständnisse zu machen, Friedrich Wilhelm I. aber dennoch für eine Allianz zu gewinnen und gleichzeitig den Kurfürsten von der Pfalz, mit dem Karl VI. zumindest nominell noch verbündet war, nicht gänzlich an Frankreich zu verlieren. Die zentrale Forderung Wiens bestand daher in der Wahrung des kaiserlichen Entscheidungsspielraums als oberster Richter. Das oberste Richteramt des Kaisers in Bezug auf die Erbfolgeregelung in Jülich und Berg war es schließlich auch, um dessen Interpretation in den Wochen und Monaten bis zum Vertragsabschluss im Dezem 858
Vgl. Rosenlehner, Karl Philipp, S. 390–464; Naumann, Österreich, S. 145. Vgl. Rosenlehner, Karl Philipp, S. 362–365.
859
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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ber 1728 zwischen den Verhandlungsführern am intensivsten gerungen wurde. Schon im September 1727 hatte ein Berliner Vertragsentwurf gefordert, „daß man sich von kaiserlicher Seite etwas deutlicher explicire, was man dann unter solchem oberrichterlichen Amt verstehe und wie Ihro kaiserliche Majestät dasselbe in dieser Sache gegen Se. Königliche Majestät exerciren wollten“.860 Wenn nämlich der Reichshofrat die Frage an sich ziehen bzw. das ursprüngliche, über hundert Jahre zuvor begonnene Verfahren um die jülich-klevische Erbfolge wieder aufrollen würde, könne er schließlich auch gegen den König und dessen Rechte an Jülich und Berg entscheiden und Friedrich Wilhelm I. am Ende sogar noch Kleve, Mark und Ravensberg absprechen. So aber hätte der König „bei dem ganzen kaiserlichen Versprechen nichts profitirt, sondern Ihr würde mit der einen Hand mehr genommen, als mit der anderen gegeben“.861 Schließlich existierten neben den Häusern Pfalz-Neuburg bzw. Pfalz-Sulzbach und Brandenburg auch noch andere Parteien, die Rechtstitel geltend machen könnten. Neben Kursachsen und Pfalz-Zweibrücken war dies vor allem Karl VI. selbst, der Erbansprüche über seine Mutter, Eleonore von Pfalz-Neuburg, besaß. Die geschilderten Bedenken wurden in Wien zunächst dahingehend beantwortet, dass der Kaiser erklärte, er werde auf die von seiner Mutter herrührenden Erbansprüche verzichten und zumindest seine eigenen Anrechte auf Berg an Kurbrandenburg abtreten, sofern ein Allianzvertrag zustande kommen sollte.862 Was die zwischen den Häusern Brandenburg und Sulzbach strittigen Rechte angehe, so sollte eine Kommission des Reichshofrats unter der Leitung Wurmbrands diese Streitfrage untersuchen. Der Kaiser aber wolle sich darauf verpflichten, „alles mögliche bei denen Tractaten [den früheren Verträgen zwischen Pfalz-Neuburg und Brandenburg, R. W.] vorzukehren, daß auf ein oder andere Weiß die Intention Ihro königliche Majestät erreicht […], daß nach Anleitung des wusterhausischen Tractats, das Herzogthum Berg derselben überlassen werden möge“.863 Außerdem versprach Karl VI., die Herzogtümer beim Erbfall nicht in kaiserlichen Sequester zu nehmen. Die Berliner Forderung aber, der Kaiser solle ein gewaltsames Vorgehen Brandenburg-Preußens für den Fall dulden, dass Karl Philipp noch zu Lebzeiten einen Statthalter aus dem Hause Sulzbach bestellen sollte, lehnte man in Wien rundweg ab. Schließlich wurde im Frühjahr 1728 von Berliner Seite der Vorschlag zugrunde gelegt, dass der Kaiser, sobald das Haus Pfalz-Neuburg im Mannesstamm ausgestorben und also der Erbfall eingetreten wäre, seine eigenen Erbansprüche zunächst erklären, dann aber dem Haus Brandenburg Berg und Ravenstein, dem Haus Sulzbach dagegen Jülich zusprechen sollte.864 Dieser Vorschlag hatte seinen Ursprung in einem Reichshofratsgutachten, das die Erbrechte der verschiedenen 860 Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, Urkundenbuch, S. 207–215 („Königlich preußische Punkte vom 13.9.1727 und die hinzugefügte kaiserliche Gegenerklärung“), Zitat S. 208. 861 Ebd. 862 Ebd., S. 209. 863 Ebd., S. 210. 864 Vgl. Loewe, Staatverträge Friedrich Wilhelms I., S. 358.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Prätendenten nach dem Aussterben des Hauses Pfalz-Neuburg in der männlichen Linie untersucht und die Ansprüchen der Kaiserin-Mutter – und damit diejenigen Karls VI. – relativ hoch veranschlagt hatte, die pfalz-sulzbachischen dagegen vergleichsweise gering.865 Dieser Lösungsvorschlag, wie er von Berlin auf Grundlage des genannten Reichshofratsgutachtens in die Verhandlungen eingebracht wurde, entsprach zwar nicht der brandenburg-preußischen Rechtsauffassung (die nach wie vor den Anspruch auf das Gesamterbe vertrat), stellte aber in der verfahrenen Lage eine Möglichkeit zur faktischen Teilung der Gebiete zwischen Pfalz-Sulzbach und Brandenburg-Preußen dar.866 Trotz zahlreicher Differenzen über die Details dieser Regelung867 sollten die entsprechenden Artikel des Berliner Vertrags schließlich im Grundsatz tatsächlich auf dieser Konstruktion aufbauen.868 Nichtsdestoweniger schrieben die Bestimmungen des Allianzvertrages fest, dass durch dieses Übereinkommen keinerlei Rechte, weder von Brandenburg noch von Pfalz-Sulzbach oder aber von Seiten Dritter, sowohl in possessorio als auch in petitorio, geschmälert würden.869 Grundsätzlich baute der Vertrag von 1728 auf dem „Krontraktat“ von 1700 auf.870 Beide Seiten garantierten sich gegenseitig ihre Besitzungen und versprachen militärischen Schutz; Friedrich Wilhelm I. garantierte zudem die österreichische Erbfolgeregelung von 1713.871 Ebenso versprachen beide Seiten, sich gegenseitig über alle zukünftigen Verträge mit anderen Mächten zu informieren, insbesondere über alle Verhandlungen mit Polen und Russland.872 Die Artikel V bis XI befassten sich ausführlich mit der jülich-bergischen Erbfolgefrage. Aufgrund dieser Regelungen und der außenpolitischen Rücksichten, die Karl VI. auf seinen (Noch-)Verbündeten Kurpfalz und damit auf die gesamte Wittelsbacher Hausunion nehmen musste, sollte
865
Vgl. Mecenseffy, Karls VI. Spanische Bündnispolitik, S. 121–122, Anm. 12. Das hat vor allem Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 2, S. 25–26, betont. 867 So etwa über die Stellung der Stadt Düsseldorf. Von Juli bis November 1728 gingen noch mehrere Vertragsentwürfe zwischen Berlin und Wien hin und her; vgl. Mecenseffy, Bündnispolitik, S. 123–124 868 Die brandenburg-preußischen Verhandlungsführer vermochten nicht durchzusetzen, dass der Vertrag schon dann in Kraft treten sollte, wenn bereits zu Lebzeiten der drei Neuburger Brüder der Erbprinz von Pfalz-Sulzbach als Statthalter eingesetzt würde. Die Vertragsbestimmungen hinsichtlich Jülich-Bergs galten ausdrücklich nur für das Aussterben der Linie Pfalz-Neuburg im Mannesstamm oder für den Fall, dass die jülich-bergischen Länder von einem der drei Neuburger zum Nachteil Friedrich Wilhelms I. einem Dritten übertragen werden sollten. In diesen Fällen bestimmte der Vertrag, dass der Kaiser seine eigenen Rechte an Berg und Ravenstein auf Friedrich Wilhelm I. übertragen würde, der sich seinerseits gegen jedermann „reichscon stitutionsmäßig“ dieser Rechte bedienen dürfe – auch gegenüber einem ggf. zwischenzeitlich eingesetzten Statthalter aus dem Hause Pfalz-Neuburg; Loewe, Staatsverträge Friedrich Wilhelms I., S. 364–365. Der Kaiser verpflichtete sich umgekehrt, seine Rechte an Jülich dem Haus Pfalz-Sulzbach zu übertragen; ebd., S. 366. 869 Ebd., S. 366 (Art. 8). 870 Ebd., S. 360. 871 Ebd., S. 360–362. 872 Ebd., S. 362–363, 369. 866
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der Berliner Vertrag streng geheim gehalten werden.873 Zudem sollte zu Lebzeiten der drei Brüder aus der Linie Pfalz-Neuburg (oder möglicher Erben) am status quo nichts verändert werden. Nur für den Fall, dass die Linie Pfalz-Neuburg im Mannesstamm aussterben oder einer der drei lebenden Brüder zum Nachteil Branden burg-Preußens seine Erbrechte einem Dritten übertragen würde, sollten die Bestimmungen über Jülich und Berg überhaupt in Kraft treten.874 Dann aber wollte der Kaiser seine eigenen Rechte auf die Sukzession „überall, wo es nöthig ist, bekannt machen“, gleichzeitig aber erklären, dass er im Interesse des Reichs seine eigenen Anrechte nur einsetzen werde, um die beiden Häuser Sulzbach und Brandenburg „wenigstens ad interim auseinanderzusetzen“.875 Der Kaiser übertrug seine Erbrechte den beiden Prätendenten bereits mit Abschluss des Vertrages.876 Im Gegenzug erklärte Friedrich Wilhelm I. nochmals, mit dem Kaiser von nun an „in der genauesten Einverständniß, auch in und außer Reichs für einen Mann [zu] stehen“, und verpflichtete sich nicht zuletzt, in Berg und Ravenstein – sofern er die Herrschaft dort anträte – die katholische Religion in ihrem aktuellen Zustand zu schützen.877 Die Vertragsbestimmungen hoben zwar die Gültigkeit der Reichsgesetze und der zwischen Pfalz-Neuburg und Brandenburg geschlossenen Religionsrezesse auch für die Zukunft hervor, schrieben aber gleichzeitig für alle Zweifelsfälle, „da besagte Reichsconstitutiones und Religionsrezessus etwas weder absolute gebieten noch verbieten“, den status quo als Richtschnur für den Bestand und die Rechte der katholischen Religion in den fraglichen Gebieten fest.878 Friedrich Wilhelm I. versprach ausdrücklich, „unter keinerlei Vorwand“ das Diözesanrecht über die katholischen Untertanen zu beanspruchen, die entsprechenden Instanzen der katholischen Hierarchie auch nicht zu behindern sowie sämtliche Ämter, die bislang von Katholiken besetzt wurden, auch weiterhin „katholischen Subjectis“ zu verleihen.879 In der zentralen Frage des Verhältnisses zwischen den bilateralen Vertragsbestimmungen auf der einen Seite und dem oberstrichterlichen Amt auf der anderen Seite gelang es Karl VI., sich auch in der Endfassung des Vertrags letztlich eine 873
Ebd., S. 363. Dazu gehörte allerdings nicht die von Brandenburg-Preußen befürchtete Möglichkeit einer Übertragung der Statthalterschaft auf Pfalz-Sulzbach. In Berlin hatte man gefordert, dass im Falle einer Statthalterschaft Pfalz-Sulzbachs automatisch die Vertragsbestimmungen in Kraft treten sollten. Wien konzedierte aber lediglich, dass „die währenden ihren [der drei Neuburger] Lebzeiten von einem Pfalzgrafen von Sulzbach verwaltete Statthalterschaft dem Könige in Preußen weder in possessorio summarissimo noch ordinatorio den mindesten Eintrag thun [solle] …“; ebd., S. 364. 875 Ebd., S. 365. 876 Ebd. In der Wiener Ausfertigung des Vertrags ist dieser Artikel allerdings mit dem Zusatz versehen, dass diese Übertragung lediglich für den Fall gelte, dass die die Sukzession betreffenden Verabredungen überhaupt in Kraft träten. 877 Ebd., S. 367. 878 Ebd., S. 368. 879 Ebd. 874
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
richterliche Entscheidung vorzubehalten: Nach einem möglichen Aussterben der Linie Pfalz-Neuburg wollte der Kaiser – ungeachtet der Übertragung seiner eigenen Rechte auf die beiden Prätendenten – eine Kommission oder eine andere Austrägalinstanz einsetzen, die eine gütliche Einigung zwischen den Häusern Sulzbach und Brandenburg herbeiführen sollte. Dadurch würde dann die Sukzession „finaliter entschieden werden“– „jedoch mit Vorbehalt Ihres [des Kaisers] höchsten und uneingeschränkten oberrichterlichen Amts“.880 Durch diesen Zusatz in Verbindung mit der erwähnten Kommission, die der Kaiser „zu gütlicher Auseinandersetzung des Churhauses Brandenburg und der pfalz-sulzbachischen Linie“ nach dem Aussterben der Linie Pfalz-Neuburg einsetzen wollte, sollte zum einen ausgeschlossen werden, dass Brandenburg-Preußen unmittelbar nach dem Tod des letzten Neuburgers eigenmächtig von Berg und Ravenstein Besitz ergreifen würde.881 Zum anderen aber sollte auf diese Weise die Unabhängigkeit des Reichshofrats bzw. der Spielraum für eine endgültige kaiserliche Entscheidung erhalten werden. Weiterhin verständigten Karl VI. und Friedrich Wilhelm I. sich auf eine enge Zusammenarbeit in Reichsangelegenheiten. Beide Parteien erklärten, jegliche Beschlüsse, die hinsichtlich der Sukzession in Jülich und Berg auf dem Friedenskongress gefasst würden (der bereits während der letzten Verhandlungsphase zwischen Berlin und Wien in Soissons tagte), nicht anzuerkennen.882 Zudem verpflichtete sich Karl VI., Friedrich Wilhelm I. und seinen Nachkommen in allen ihren Angelegenheiten im Reich „Ihre kaiserliche Hülfe, denen Reichsgesetzen gemäß […] angedeihen zu lassen“ und nicht zu gestatten, dass der preußische König in seinen „wohlgegründeten Erbfolgs- und anderen Rechten von jemand […] gekränket werde[.]“.883 Für die nach wie vor nicht erfolgte Belehnung Friedrich Wilhelms I. mit Stettin wiederholte der Vertrag die Bestimmungen von Wusterhausen.884 Im Gegenzug versprach Friedrich Wilhelm I. in den „Articuli secretissimi“, bei der nächsten Kaiserwahl dem künftigen Ehemann Maria Theresias seine Stimmen zu geben.885 Dem Versprechen des Kaisers entsprechend, die brandenburg-preußischen 880 Ebd. Die angesichts dieser Unsicherheiten zunächst aufgestellte Forderung, der Vertrag müsse den Anspruch Friedrich Wilhelms I. auf ein Äquivalent zu Berg und Ravenstein für den Fall festhalten, dass schließlich doch gegen den König entschieden werden sollte, ließ man auf Berliner Seite schließlich auf Geheiß des Königs fallen; vgl. ebd., S. 359. 881 Es war den brandenburg-preußischen Verhandlungsführern nicht gelungen, für diesen Punkt den Wortlaut durchzusetzen, dass der preußische König „ohngeachtet dieser Kommission“ im Erbfall sofort die Herzogtümer in Besitz nehmen dürfe. Man konnte lediglich erreichen, dass der Kaiser im 4. Geheimartikel zusagte, eine solche Kommission solle nicht auf die Sequestrierung der jülich-bergischen Länder abzielen; ebd., S. 366, Anm. 4, S. 372–373. 882 Ebd., S. 368–369. 883 Ebd., S. 369. 884 Ebd., S 369–370. 885 Die Forderung Berlins, dass die Garantie der Pragmatischen Sanktion nur für den Fall gelten solle, dass Maria Theresia einen deutschen Fürsten heiratete, hatte man in Wien als unzumutbare Festlegung des Kaisers in der Ehefrage zurückgewiesen; vgl. ebd., S. 359. In den Vertragstext selbst fand diese Forderung nur insoweit Eingang, als Friedrich Wilhelm I. zusagte, bei der künftigen Kaiserwahl seine Stimme dem „aus altem teutschen Reichsfürstengeblüt ent-
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Reichsangelegenheiten zu fördern, gab Friedrich Wilhelm I. seine Zusage, „nach äußersten Kräften darob zu sein, daß Ihre Kaiserl. Maj. allerhöchste Autorität im Reich bevorab Dero jura caesareo-judicialia, auch übrige sämmtliche Deroselben reservata […] ungekränket erhalten“. Diese Versicherung schloss explizit die Religionsstreitigkeiten mit ein, die dem „natürliche[n] Verstand des Westphälischen Friedens“ und „der Billigkeit nach ehemöglichst abgethan“ werden sollten.886 Während sich die von Friedrich Wilhelm I. an den Berliner Vertrag von 1728 geknüpften Erwartungen in dem zentralen Punkt der Sukzession in Berg und Ravenstein bekanntlich nicht erfüllen sollten, besaß die Allianz für Karl VI. vor allem in der unmittelbaren Folge des Vertragsabschlusses umso größere Bedeutung: Ende 1729 zerschlug sich das Bündnis zwischen Österreich und Spanien endgültig, und der Kaiser sah sich nach dem Abschluss des Vertrags von Sevilla zwischen Spanien, England, Frankreich und den Niederlanden einer geeinten Front der vier Westmächte gegenüber.887 Hinzu kam, dass die Durchsetzung einer Garantie der Pragmatischen Sanktion durch das Reich zu dieser Zeit angesichts der außenpolitischen Lage immer wichtiger wurde. Und in diesem Punkt erhielt die kaiserliche Politik durch die intensive Werbetätigkeit Friedrich Wilhelms I. unter den übrigen Reichsständen tatsächlich maßgebliche Unterstützung.888 Demgegenüber stellt sich der Ertrag, den Brandenburg-Preußen aus dem Berliner Vertrag von 1728 genießen sollte, in der Tat äußerst gering dar: In der Historiographie wird traditionell die Erbfolge in Jülich-Berg in den Mittelpunkt der Außenpolitik Friedrich Wilhelms I. gestellt. Da sich diese Sukzessionspläne, die Friedrich Wilhelm I. auch selbst zu Lebzeiten als zentrales Ziel seiner Politik bezeichnete, aber nicht erfüllten, gilt die außenpolitische Bilanz dieses Königs häufig insgesamt als gescheitert. So berechtigt diese Bilanz ist – auch und gerade mit Blick auf Friedrich Wilhelms I. persönliche Enttäuschung über die von Wien nicht eingehaltenenen Versprechen –, so übersieht diese Perspektive doch die längerfristigen und weniger leicht greifbaren Erfolge der Regierungszeit Friedirch Wilhelms I. auf der Ebene der Reichspolitik, die inbesondere für das Verhältnis zum Kaiser von struktureller Bedeutung waren: sprossenen Prinzen, welchem Dieselbe [der Kaiser] Dero Erbtochter werden vermählen wollen“, zu geben; ebd., S. 371. Daher ließ der König bei der Unterzeichnung des Vertrags eine Erklärung übergeben, wonach „im Fall Ihro Kaiserl. und Kathol. Maj. wider alles Vermuthen einen französischen oder spanischen, obgleich aus teutschem Geblüt entsprossenen Prinzen zu Dero Successore in Ihren Erbkönigreichen und Landen zu bestimmen und zu ernennen für gut finden mögten, Se. Königl. Maj. in Preußen alsdann an die Garantie einer solchen Succession nicht gebunden sein, sondern desfalls überall, jedoch unbeschadet Dero mit Ihro Kaiserl. Maj. habenden alten und jetzigen neuen Allianzen, nicht gebunden sein wollen“; ebd., S. 359. Nachdem man die Erklärung in Wien aber nicht hatte annehmen wollen, wurde diese Einschränkung von den brandenburg-preußischen Ministern noch einmal mündlich gegenüber Seckendorff wiederholt. 886 Ebd., S. 372. 887 Zu den außenpolitischen Entwicklungen in Folge des Vertrags von Sevilla und ihren Auswirkungen auf das Reich vgl. Auer, Das Reich und der Vertrag von Sevilla. 888 Vgl. dazu immer noch Zwiedineck-Südenhorst, Anerkennung.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
1. Wenngleich es Friedrich Wilhelm I. nicht gelang, ein unbeschränktes Appel lationsprivileg für sämtliche brandenburgischen Reichsgebiete durchzusetzen, so scheint sich im Zuge der Verträge von Wusterhausen und Berlin das Verhältnis Brandenburg-Preußens zum Reichshofrat doch mittelfristig spürbar verändert zu haben. Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass sich spätestens seit 1728 auf dem Gebiet der kaiserlichen Justiz zwischen Berlin und Wien ein Modus etablierte, der dem ähnelt, was Ilgen in seiner Denkschrift von 1716 über das Verhältnis zwischen den Häusern Habsburg und Hohenzollern über die „guten Zeiten“ unter dem Großen Kurfürsten und Friedrich III./I. geschrieben hatte:889 Hinsichtlich der brandenburg-preußischen Reichsangelegenheiten und der Reichshofratsprozesse des Königs scheint sich mit Abschluss des Berliner Vertrages von 1728 – wieder – tendenziell eine Praxis etabliert zu haben, „daß man zu Wien zu vielen Dingen durch die finger sahe“.890 2. In den für die Institutionalisierung des Corpus Evangelicorum entscheidenden Jahren von ca. 1715 bis 1725 hatte Brandenburg-Preußen gemeinsam mit England-Hannover die oppositionelle Kraft einer korporativ agierenden evangelischen Reichspolitik demonstriert. Aufgrund dieser Erfahrungen, das zeigen die Überlegungen zahlreicher Akteure der kaiserlichen Reichspolitik in den Jahren seit 1725, nahm man in Wien das anti-katholische und anti-kaiserliche Potential, über das Brandenburg-Preußen als Führungsmacht des Corpus Evangelicorum verfügte, sehr ernst. Die Formierung des Corpus Evangelicorum bzw. die Etablierung einer geschlossenen evangelischen Interpretation der Reichsverfassung bedeutete eine Steigerung der reichspolitischen Möglichkeiten Brandenburg-Preußens, in dem Sinne, dass unter bestimmten politischen Konstellationen eine evangelische Front gegen den Kaiser aktiviert werden konnte, welche die verfassungsrechtliche Stellung des Kaisers empfindlich unterminierte. Diesen Faktor musste die Wiener Reichspolitik zukünftig berücksichtigen. 3. Schließlich schwang die Frage des Verhältnisses zwischen preußischer Königskrone resp. Souveräntität und kaiserlicher Stellung resp. Reichshierarchie in der ersten Hälfte der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. in vielen der zahlreichen Differenzen zwischen Wien und Berlin mit. Dieses Grundproblem hatte sich auch direkt in Konflikten um das Gesandtschafts- und das Briefzeremoniell niedergeschlagen. Auch in dieser Hinsicht, also in der Frage der Gewährung des „königlichen Tractaments“, scheint es Friedrich Wilhelm I. gelungen zu sein, gewisse Zugeständnisse vom Kaiserhof zu erreichen: Im Krontraktat von 1700 war die königliche Würde noch zur Gänze aus Reichszusammenhängen ausgeklammert worden. Doch die wachsenden Schwierigkeiten des Kaiserhofs, die kaiserliche Suprematie am Berliner Hof zeremoniell zur Geltung zu bringen, führten auf die Dauer dazu, dass die kaiserliche Diplomatie ihre zeremoniellen „Maximalforderungen“ in Berlin praktisch nicht mehr durchsetzen konnte. Diese Entwicklung erlaubte es der bran 889
Zu dieser Denkschrift vgl. ausführlich Kap. E. I. Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 4, S. 309–317, 314.
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IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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denburg-preußischen Politik, anlässlich der Verhandlungen um den Wusterhausener Vertrag die Gültigkeit der zermoniellen Regelungen des Krontraktats explizit für überholt zu erklären, da die Normen den politischen Realitäten eben nicht mehr entsprächen. Die strikte Trennung zwischen der Rolle, die die Könige in Preußen innerhalb des Reichsverbandes spielen sollten, und dem, was sie gegenüber der europäischen Fürstengesellschaft fordern konnten, war also bereits 25 Jahre nach Abschluss des Krontraktats offensichtlich aufgeweicht worden. Und dieser Trend sollte sich bekanntlich in der Zukunft nicht mehr umkehren.891 Aber selbst jenes Projekt, das Friedrich Wilhelm I. selbst mehrfach zum Kernstück seiner Außenpolitik erklärt hatte, nämlich die Sukzession in Jülich und Berg, sollte zumindest auch unter den Gesichtspunkten betrachtet werden, die das Verhältnis zwischen Wien und Berlin über Jahre hinweg strukturell geprägt hatten: Die jüngere Forschung hat viele Hinweise auf die Bedeutung des Themas „Justiz“ für die Beziehungen zwischen dem Kaisertum und Brandenburg-Preußen in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. geliefert.892 Gleichwohl stehen diese wichtigen Ansätze und Erkenntnisse zur Interpretation des Verhältnisses Brandenburg-Preußens zum Reich im 18. Jahrhundert nach wie vor weitgehend unverbunden neben der Sukzessionsfrage in Jülich und Berg, auf die sich wiederum die historiographische Behandlung der Außenpolitik Friedrich Wilhelms I. (und ihre Bewertung) konzentriert hat. Doch waren auch und gerade die Verhandlungen über die Erbfolge in den niederrheinischen Herzogtümern ganz wesentlich von der grundsätzlichen Auseinandersetzung um die Interpretation des kaiserlichen oberstrichterlichen Amtes geprägt. Der Vertragstext von 1728 behandelt in zentralen Teilen die Abwägung zwischen der Rolle des Kaisers als interessierter Partei in einem bilateralen Bündnis und seiner Rolle als über den Prätendenten stehender, unabhängiger Richter. Gerade die erfolgreiche Verteidigung der richterlichen Entscheidung des Kaisers in der Jülich-Berg-Frage hat nun Brandenburg-Preußen bzw. Friedrich Wilhelm I. den Tadel der Geschichtswissenschaft eingebracht, der Berliner Vertrag sei seitens der brandenburg-preußischen Politik „keine Meisterleistung“ gewesen893 – eben weil sich die Gegenseite darin letztlich nicht festlegte und es dem Kaiser bekanntlich in der Folge auch wirklich gelang, die äußerst vagen Zusagen zu umgehen. Was Friedrich Wilhelm I. in den Vertragsverhandlungen verlangt hatte, nämlich die Unterordnung der kaiserlichen Rechtsprechung unter politische Erwägungen, war aber im Grunde genau das, was er und seine Minister in der Vergangenheit dem Reichshofrat immer wieder vorgeworfen hatten. Naturgemäß nahm man in Berlin an einer solchen Unterwerfung der Justiz unter die Politik keinen Anstoß, sofern es 891 Zur allgemeinen Entwicklung von Symbolsprache und Ritual im Reichsverband während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider, S. 227–318, mit Blick auf Brandenburg-Preußen bes. S. 293, 313. 892 Vgl. die Literaturangaben in Kap. A. I. 893 Aretin, Reich 2, S. 309.
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
sich nur um die „richtigen“ politischen Erwägungen, sprich: die brandenburg-preußischen Interessen, handelte. Unter solchen Bedingungen konnte sich Friedrich Wilhelm I. dann auch seinerseits explizit verpflichten, die Vorrechte und inbesondere die Jurisdiktion des Kaisers zu schützen.894 Es war der kaiserlichen Diplomatie 1728 offensichtlich gelungen, einerseits zu kommunizieren, dass man sich tatsächlich im brandenburg-preußischen Interesse festgelegt hatte, andererseits jedoch durch entsprechende Formulierungen des Vertragstextes sehr weitgehende Spielräume für die höchstrichterliche Entscheidung des Kaisers zu bewahren. Dass man in Wien auf die kaiserlichen Prärogativen zurückgriff, wenn es darum ging, Bündnisse innerhalb des Reiches zu schließen, gehörte freilich – in mehr oder weniger großem Ausmaß – zum politischen Standardrepertoire. In diesem spezifischen Fall hatte die weitgehende Wahrung des kaiserlichen Entscheidungsspielraums vor allem die Funktion, dem Kaiser die Möglichkeit zu erhalten, von der Realisierung der politischen Ziele der Gegenseite Abstand zu nehmen, ohne im strengen Sinne vertragsbrüchig zu erscheinen.895 Denn den grundsätzlichen und langfristigen Interessen des Kaiserhofes entsprach es selbstverständlich nicht, Brandenburg-Preußen zu einem so substantiellen agrandissement zu verhelfen. Und wenn man in Wien jeden Machtzuwachs Brandenburg-Preußens prinzipiell skeptisch sah, so mussten diese Bedenken umso mehr für eine mögliche Inbesitznahme mehrheitlich katholischer Gebiete durch die Hohenzollern gelten.896 Dass derartige Überlegungen bei den Beratungen in Wien tatsächlich eine zentrale Rolle gespielt haben, beweisen die Protokolle der Geheimen Konferenz aus dem Jahr 1728. So sprachen die Mitglieder der Geheimen Konferenz unumwunden aus, dass es grundsätzlich weder im kaiserlichen noch im katholischen Interesse liegen könne, Brandenburg-Preußens Wachstum zu fördern. Der katholischen Religion würde vermutlich großer Schaden zugefügt, wenn die mehrheitlich katholischen Gebiete Berg und Ravenstein in brandenburg-preußischen Besitz übergingen.897 Eben diesen Befürchtungen trugen dann auch die entsprechenden Vereinbarungen im Berliner Vertrag Rechnung, in denen Friedrich Wilhelm I. sich dazu verpflichtete, die katholischen Konfessionsrechte zu schützen. Es spricht viel dafür, dass nicht nur in Wien die Konfessionsfrage einen wichtigen Aspekt für die Bewertung des Konflikts um die jülich-bergische Sukzession darstellte. Zum einen prägte der konfessionelle Gegensatz zwischen den beiden „possedierenden“ Fürstenhäusern, Brandenburg und Pfalz-Neuburg, die Situation in dem geteilten jülich-klevischen Gebietskomplex bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert; und nicht zuletzt über die konfessionelle Schutzherrenrolle der beiden Fürs 894
Loewe, Staatsverträge, Friedrich Wilhelms I., S. 372. Vgl. Mecenseffy, Karls VI. Spanische Bündnispolitik, S. 127. 896 So auch die Einschätzung bei Aretin, Reich 2, S. 310. 897 Vgl. die Zusammenfassung der Konferenz-Gutachten vom 13. Januar und 30. Juni 1728 bei Mecenseffy, Karls VI. Spanische Bündnispolitik, S. 119–124. 895
IV. Herrenhausen – Wusterhausen – Berlin
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ten für die eigenen Konfessionsverwandten im jeweils anderen Territorium wurden von beiden Seiten die jeweiligen Ansprüche auf das Gesamterbe aufrechterhalten. Hinzu kommt, dass Brandenburg-Preußen und Pfalz-Neuburg sich auch als zentrale Akteure ihrer eigenen „Konfessionspartei“ im Kontext der Religionskonflikte in den pfälzischen Kurlanden gegenüberstanden – und dass Pfalz-Neuburg umgekehrt eine offenbar nicht unerhebliche Rolle als Schutzmacht auch für die Katholiken in den säkularisierten Fürstbistümern Minden, Magdeburg und vor allem Halberstadt spielte. Es gibt zudem Gründe für die Vermutung, dass sich die allgemeine konfessionelle Krisenstimmung im Reich auch auf die konfessionspolitische Situation in den geteilten jülich-klevischen Gebieten auswirkte. Zumindest für das Herzogtum Kleve ist für das erste Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts ein deutlicher Anstieg von Religionsgravamina auf katholischer Seite festgestellt worden.898 Dass gerade die brandenburg-preußische Seite in dieser Zeit offenbar auch in zunehmend aggressiver Form ihre konfessionellen Schutzrechte zugunsten der Protestanten in Jülich ausübte,899 mag wiederum auch von der seit spätestens 1718 wieder an Bedeutung gewonnenen Sukzessionsfrage für die von Pfalz-Neuburg beherrschten Gebiete beeinflusst gewesen sein. So exponierte sich Brandenburg-Preußen gerade im Streit um die Pfarrerwahl in der Herrschaft Rheydt besonders deutlich als Schutzherr der dortigen reformierten Gemeinde und geriet aufgrund der in Kleve verhängten Repressionen in einen weiteren Konflikt mit dem Reichshofrat. Gerade dieser Fall sowie ähnliche Erfahrungen mit der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik, etwa in Halberstadt, waren vermutlich nicht dazu angetan, in Wien eine mögliche Sukzession Brandenburg-Preußens in Jülich-Berg (die unter rein machtpolitischen Erwägungen ohnehin nicht den kaiserlichen Interessen entsprochen hätte) wünschenswert erscheinen zu lassen.900 Es verbanden sich also für den Kaiser in der Frage der brandenburg-preußischen Sukzession in (Jülich-)Berg mehrere für das Verhältnis zu den brandenburgischen Hohenzollern maßgebliche Fragen: Zum einen das Problem, dass der Erwerb von Berg und Ravenstein einen weiteren Machtzuwachs für einen der wichtigsten norddeutsch-evangelischen Potentiores bedeutet hätte und damit eine weitere Umgestaltung des sich ohnehin immer stärker verändernden Mächtegleichgewichts innerhalb des Reichsverbandes. Da es sich noch dazu um mehrheitlich katholische Gebiete handelte, musste auch die hohenzollernsche Konfessionpolitik in die Beurteilung dieser Frage miteinfließen. Schließlich verdeutlichte die jülich-bergische Sukzessionsfrage aber auch eine Entwicklung, die für die Wiener Politik in der zweiten Hälfte der Regierungszeit Karls VI. zunehmend problematisch wurde: die Spannung zwischen europäischer Außenpolitik und Reichspolitik resp. Kaiseramt, dessen „rechten Armes“ (also des Reichshofrats bzw. des obersten Richteramts) man 898
Vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 163–210. Vgl. ebd., passim. 900 Zum Konflikt um die Pfarrerwahl in Rheydt vgl. Kap. E. II. 3. (Der Fall Bylandt). 899
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
sich auch zu jenen Zeiten nicht ohne weiteres begeben durfte, in denen eine starke kaiserliche Reichspolitik deutlich zugunsten der österreichischen Hausmachtspolitik in den Hintergrund gerückt war. Nachdem die Sukzessionsfrage für Jülich-Berg schließlich im Februar 1738 mit der Entscheidung der Westmächte bekanntermaßen faktisch zugunsten des pfalz-sulzbachischen Konkurrenten gelöst worden war, scheinen auch die konfessionellen Beschwerden bzw. die Intensität der konfessionspolitischen Interessenvertretung durch die Düsseldorfer und Klever Regierungen deutlich zurückgegangen zu sein. Die beiden Fürstenhäuser waren offenbar nicht mehr im gleichen Maße an ihrer konfessionspolitischen Profilierung interessiert wie in den Vorjahren.901 Die Jülich-Berg-Frage trat dann für den Nachfolger Friedrich Wilhelms I. auch eindeutig zugunsten des Erwerbs von Schlesien zurück, so dass sie für die brandenburg-preußische Außenpolitik seit 1740 in der Praxis keine Rolle mehr spielte. Gleichwohl hat Friedrich der Große sich explizit auf die gescheiterte Sukzession in Berg und Ravenstein berufen und auf das vertragsbrüchige Verhalten des Kaisers als Argument zurückgegriffen, um nach dem Tod Karls VI. die Verpflichtung Brandenburg-Preußens zur Einhaltung der Pragmatischen Sanktion zu bestreiten.902 Und auch hier wurde, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, noch einmal erfolgreich das alte Bild der maßgeblich durch die konfessionelle Gegnerschaft geprägten Beziehungen der Häuser Brandenburg und Österreich bemüht und damit gleichsam zum roten Faden im Verhältnis Wien – Berlin vom frühen 17. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts stilisiert.
V. Resümee Sowohl hinsichtlich der Positionierung Brandenburg-Preußens innerhalb des evangelischen Lagers als auch mit Blick auf das Verhältnis zwischen Wien und Berlin markieren die Jahre von ca. 1715 bis zum Ende der 1720er Jahre mit dem Höhepunkt der reichsweiten Religions-und Verfassungkrise eine entscheidende Phase. Für die Formierung des Corpus Evangelicorum als Corpus politicum war es, nachdem in den Jahren zuvor die Entwicklung der protestantischen Reichsrechtslehre in vielen Teilen bereits weit vorangeschritten war, unbedingt notwendig, den reformiert-lutherischen Gegensatz zumindest hinsichtlich eines der Kernstücke des evangelischen Verfassungsbildes zu lösen, nämlich mit Blick auf die Auslegung der Normaljahresbestimmung. Diese Notwendigkeit bestand umso mehr, als es gerade die kurpfälzischen Konfessionsverhältnisse waren, die für den katholisch-evange 901 Vgl. Weber, Konfessionelle Konflikte, S. 210–220, der diese Beobachtungen allerdings lediglich mit der „allgemeinen Frustration“ über die Ineffektivität der bestehenden Verfahren zur Lösung von Religionsgravamina sowie mit einem „daraus resultierenden Wandel in der Einstellung des katholischen Klerus“ erklärt; ebd., S. 211. 902 Vgl. etwa Aretin, Reich 2, S. 331–332.
V. Resümee
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lischen Gegensatz im Reich eine Schlüsselrolle spielten, gleichzeitig aber auch für die meisten Differenzen innerhalb des evangelischen Lagers sorgten. Ein wichtiger Schritt war deswegen die Entscheidung, den rechtlichen Ansprüchen der pfäzischen Lutheranern (die in der Vergangenheit auch auf Reichsebene im lutherischen Lager Unterstützung gefunden hatten) eine klare Absage zu erteilen und sich damit auf eine einheitliche Interpretation der Normaljahresbestimmungen des Westfälischen Friedens auch und gerade für den äußerst komplizierten Fall der Kurpfalz festzulegen. Eine zentrale Voraussetzung für diese Festlegung war die Verständigung zwischen (dem lutherischen) Hannover und (dem reformierten) Brandenburg-Preußen. Für die brandenburg-preußische Konfessionspolitik im Reich gingen diese Entwicklungen einher mit einer spürbaren Relativierung des unter Friedrich III./I. noch prononciert reformierten Profils Brandenburg-Preußens. Die Interessenvertretung der reformierten Klientel im Reich trat eindeutig hinter das Ziel, eine gemeinsame evangelische Opposition gegen Wien zu formieren, zurück. Dieser Prozess entsprach allerdings auch der von Friedrich Wilhelm I. persönlich vertretenen, im Vergleich zu seinem Vater nochmals deutlich abgeschwächten Form des reformierten Glaubens. Die traditionellen Bemühungen der Brandenburger Hohenzollern, die innerevangelischen theologischen Gegensätze nicht zu betonen, sondern stattdessen die Gemeinsamkeiten zu unterstreichen, führte auch Friedrich Wilhelm I. fort, förderte aber die Versuche zu einer theologischen Annäherung zwischen Reformierten und Lutheranern ausschließlich auf der Ebene des brandenburg-preußischen Territoriums. Den von einigen, vornehmlich aus dem württembergischen Pietismus stammenden Theologen und evangelischen Reichstagsgesandten vorangetriebenen Versuch, auf der Ebene des Reiches zu einer Annäherung oder gar zu einer förmlichen Union zwischen Reformierten und Lutheranern zu gelangen, befürwortete die Berliner Regierung dagegen nicht. Dass man in Berlin dieses Projekt, das in den Jahren 1721/22 die politische Einigkeit unter den protestantischen Reichsständen gewissermaßen theologisch zu untermauern versuchte, nicht unterstützte, lag vermutlich primär in der Tatsache begründet, dass die Unionsbemühungen eine extreme Reaktion von Seiten der Unionsgegner (also vornehmlich von Seiten des orthodoxen Luthertums) provozierten und mit scharfen Angriffen auf die reformierte Konfession einhergingen. Die vielen unionsfeindlichen Publikationen verwiesen zum einen immer wieder implizit wie explizit auf die brandenburg-preußische Konfessionspolitik bzw. krisierten die in Brandenburg-Preußen herrschenden Konfessionsverhältnisse; zum anderen diskreditierten sie aber auch die Politik des Corpus Evangelicorum mit Blick auf einen Ausgleich zwischen reformierten und lutherischen Interessen, namentlich in Pfalz-Zweibrücken und in der Kurpfalz. Solche Angriffe und Schmähungen gegen die Reformierten konnten schon grundsätzlich nicht im (reichs-)politischen Interesse Berlins liegen. Mit Blick auf die kurzfristige und äußerst labile – aber von Brandenburg-Preußen unbedingt gewünschte – politische Aktionsfähigkeit des Corpus Evangelicorum mussten die Unionsversuche bzw. deren Folgen für die reichspolitischen Prioritäten Brandenburg-Preußens sogar geradezu dysfunktional erscheinen. Nicht zuletzt dürfte die
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
Berliner Regierung auch aus Rücksicht auf die theologische Gemengelage innerhalb Brandenburg-Preußens dem Projekt einer protestantischen Union so distanziert gegenübergestanden haben. Denn die Regensburger Unionsbemühungen fanden unter den brandenburg-preußischen Theologen nur verhaltenen Zuspruch; vor allem die Vertreter des Halleschen Pietismus standen der reichsweiten Annäherung der Bekenntnisse – wie auch den Unionsbemühungen auf territorialer Ebene in den späten Jahren der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. – äußerst kritisch gegenüber und vertraten in dieser Hinsicht eine völlig andere Position als die tendenziell unionsfreundlichen württembergischen Pietisten. Für die brandenburg-preußische Reichspolitik lag der Fokus in den frühen Jahren der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. eindeutig auf der Opposition gegen Wien – und damit auf einem geeinten Corpus Evangelicorum, das die Verfolgung dieser Politik maßgeblich unterstützte. Hinter dem Ziel, die evangelischen Reichsstände politisch zu einen und diese Geschlossenheit zu erhalten, traten andere reichspolitische Interessen, etwa die Patronage gegenüber der traditionellen reformierten Klientel im Reich oder die eindeutige Führungsposition Brandenburg-Preußens innerhalb des Corpus Evangelicorum, zurück. Dass die mit dieser Politik verbundene Abkehr von spezifisch reformierten Positionen gerade mit Blick auf den innerevangelischen Konflikt in der Kurpfalz relativ unvermittelt mit Beginn der reichsweiten Religionskrise einsetzte, wurde an den Reaktionen mehrerer brandenburg-preußischer Diplomaten deutlich. Diese Amtsträger, die sämtlich der reformierten Konfession angehörten und über enge Kontakte zu den pfälzischen Reformierten verfügten oder sogar in der Vergangenheit mit der brandenburg-preußischen Schutzpolitik zugunsten der Reformierten in der Kurpfalz betraut gewesen waren, unterstützten auch dann noch die Interessen ihrer Konfessionsangehörigen, als man in Berlin bereits andere politische Prioritäten verfolgte. Dort konzentrierte man sich zu diesem Zeitpunkt offensichtlich schon auf die reichspolitischen Vorteile, die Brandenburg-Preußen, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Beziehungen zu Wien, aus einem politisch aktiven Corpus Evangelicorum ziehen konnte. Schon bevor der reichsweite Konfessionskonflikt, angestoßen durch die kurpfälzischen Verhältnisse, 1719 entbrannte, hatte die brandenburg-preußische Reichspolitik in den diversen Reichshofratsverfahren gegen Friedrich Wilhelm I. auf die evangelische Verfassungsinterpretation zurückgegriffen, um die Zuständigkeit der kaiserlichen Gerichtsbarkeit zurückzuweisen. Besonders in jenen Gebieten, die erst im Zuge des Westfälischen Friedens an Brandenburg-Preußen gefallen waren und in denen die Hohenzollern über kein unbeschränktes Appellationsprivileg verfügten, verbanden sich die landesherrlichen Bemühungen um staatliche Integration mit dem Kampf gegen jegliche Schranken reichsrechtlicher oder kirchenrechtlicher Art, die diese Integration behinderten. Ohnehin musste Brandenburg-Preußen als mächtiges evangelisches Territorium ein Interesse daran haben, die Höchstgerichtsbarkeit des Kaisers durch die evangelische Verfassungsinterpetation und die Opposition der Protestanten grundsätzlich zu schwächen – zumal gegen Friedrich Wilhelm I. besonders viele politisch brisante Verfahren am Reichshofrat anhängig waren. Han-
V. Resümee
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delte es sich, wie dies vor allem für Halberstadt der Fall war, bei den Klägern um katholische Korporationen mit Landstandschaft, ließ sich zur Abwehr kaiserlicher Eingriffsmöglichkeiten sogar direkt auf die evangelische Verfassungslehre zurückgreifen. Vertrat das Corpus Evangelicorum, wie in den Jahren von 1719 bis 1722, noch dazu eine aktive korporative Politik gegen den Kaiser, so vermochte Brandenburg-Preußen, in der evangelischen Opposition eine zentrale Rolle zu spielen und sich deutlich gegen Wien zu profilieren, gleichzeitig aber auch hinter die korporative Fassade der im Corpus zusammengeschlossenen evangelischen Reichsstände zurückzutreten: Friedrich Wilhelm I. konnte – vom Corpus Evangelicorum legitimiert – Repressionen just gegen jene katholischen Untertanen erlassen, die in der Vergangenheit beim Reichshofrat Schutz gegen ihren Landesherrn gesucht hatten; er konnte den Kaiser öffentlichkeitswirksam unter Druck setzen, sein richterliches Amt nach den Vorstellungen der Protestanten auszuüben. Gleichzeitig aber konnte man in Berlin die direkte politische Verantwortung für eben diese Politik abstreiten und alle Beschwerden, Ermahnungen und Mandate mit dem Verweis auf die Entscheidungsgewalt des Corpus Evangelicorum beantworten. Zugleich zwangen die in der evangelischen Konferenz gefällten Beschlüsse, durch die Brandenburg-Preußen im Namen aller Protestanten mit bestimmten Formen der Selbsthilfe beauftragt worden war, sämtliche protestantischen Reichsstände, die von Brandenburg-Preußen durchgeführten Repressionen zu verteidigen und sich gegenüber Wien mit dem preußischen König solidarisch zu erklären. Freilich wurden die Repressionen in Wien und zunehmend auch innerhalb des Corpus Evangelicorum als eine Fortführung der bisherigen brandenburg-preußischen Reichspolitik und deren Angriffe auf die kaiserliche Suprematie gewertet. Entsprechend sank auch die Bereitschaft der übrigen evangelischen Reichsstände, eine solche Politik zu unterstützen, rasch wieder. Nichtsdestoweniger war man sich in Wien seit der Religions- und Verfassungskrise der Jahre 1719–1725 offensichtlich bewusst, wie gefährlich ein unter der gemeinsamen Führung England-Hannovers und Brandenburg-Preußens geeintes Corpus Evangelicorum der kaiserlichen Position im Reich werden konnte; und man zog daraus die Konsequenz, dass es eine solche Konstellation insbesondere angesichts der außenpolitisch für Wien immer bedrohlicher werdenden Situation der Jahre ab 1725 unbedingt zu vermeiden gelte. Die strukturelle Spannung zwischen dem umfassenden brandenburg-preußischen Souveränitätsanspruch bzw. dem Streben nach agrandissement und einer kaiserlichen Reichspolitik, die spätestens mit dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges von neuem selbstbewusst agierte und sich dabei insbesondere ihres „rechten Arms“ (der kaiserlichen Justiz) bediente, hatte dazu geführt, dass sich das Verhältnis zwischen Berlin und Wien vor allem in der ersten Hälfte der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. zunehmend konfliktträchtig gestaltete. Bei den nun aufbrechenden Streitigkeiten handelte es sich allerdings um Konflikte, die größtenteils auf die Regierungszeit Friedrichs III./I. oder sogar des Großen Kurfürsten zurückgingen, die aber nun, in der außenpolitisch für das Reich relativ ruhigen Phase zwischen 1715 und 1725, in aggressiverer Form ausgetragen wurden. Dass die strukturellen Dif-
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E. Konfessionelle Krise und politische Annäherung an Wien
ferenzen zwischen einem mächtigen evangelischen norddeutschen Reichsstand mit Königswürde und einem sich auf seine traditionellen Vorrechte berufenden Kaisertum in einem Klima der rekonfessionalisierten Reichspolitik auch in konfessionalisierter Form ausgetragen wurden, ist schon aufgrund des in der Reichsverfassung angelegten Verhältnisses von konfessionellen Paritätsbestimmungen und kaiserlichem Amt naheliegend. Hinzu kam, dass Friedrich Wilhelm I. mit der von ihm verfolgten Politik auch eine konfessionelle Profilierung betrieb. Auf der anderen Seite verkörperte der Reichsvizekanzler Schönborn das die traditionellen kaiserlichen Vorrechte betonende und dezidiert katholische Kaisertum Karls VI. Tatsächlich lässt sich für viele Bereiche der Beziehungen zwischen Wien und Berlin beobachten, dass die brandenburg-preußische Politik unter Friedrich Wilhelm I. durchaus gewillt war, diese strukturellen Konflikte in Konfrontation mit Wien – bilateral-diplomatisch, juristisch oder auf dem Reichstag – auszufechten. Die brandenburg-preußische Politik im Kontext des Religionsstreits wie auch die diplomatische Krise zwischen Berlin und Wien im Jahr 1721 müssen daher als eine Weiterführung (und Eskalation) jener Differenzen interpretiert werden, die das gegenseitige Verhältnis akut spätestens seit 1715, latent aber schon wesentlich länger geprägt hatten. Eine zumindest zeitweilig tragfähige Verständigung über viele jener konkreten Streitfragen, denen fundamentale Konflikte zugrunde lagen, fanden Brandenburg-Preußen und das Kaisertum 1726–1728 in Folge ihrer politischen Annäherung, die schließlich im Berliner Vertrag gipfelte. Obwohl es Friedrich Wilhelm I. nicht gelang, in den Verhandlungen eine Ausweitung des Priviliegium de non appellando auf seine sämtlichen Reichsterritorien durchzusetzen, entwickelte sich das Verhältnis Brandenburg-Preußens zur kaiserichen Justiz in der Folge vor allem hinsichtlich einiger politisch besonders brisanter Verfahren im Sinne der Berliner Interessen. Friedrich Wilhelm I. verpflichtete sich seinerseits explizit, die kaiserlichen Vorrechte im Reich und insbesondere die kaiserliche Rechtsprechung nicht nur nicht mehr anzugreifen, sondern sogar zu unterstützen. In der Religionsfrage war es Karl VI. gelungen, die Abstellung der wichtigsten Religionsbeschwerden zu befördern. Das wiederum erleichterte es Friedrich Wilhelm I., sich ohne Gesichtsverlust von der aktiven protestantischen Konfessionspolitik an der Seite England-Hannovers im Corpus Evangelicorum zurückzuziehen. Schließlich sagte der Kaiser dem preußischen König zu, ihn in seinen „begründeten“ Jura succedendi und Anwartschaften im Reich zu unterstützen – eine Forderung, die Ilgen bereits 1716 in seiner Denkschrift über das Verhältnis zum Kaiserhaus erhoben hatte. Diese Spannung zwischen den – aus Berliner Sicht gut begründeten – Sukzessionsansprüchen (und also dem legitimen Streben nach agrandissement) des Hauses Brandenburg hier und der Rolle des Kaisers als Lehensherr und Richter dort machte schließlich auch den für Brandenburg-Preußen zentralen Punkt des Berliner Vertrags aus: die Sukzession in Jülich und Berg. Es gelang dem Kaiser dort, seine Rolle als oberster Richter in dieser Frage zu verteidigen und sich in letzter Konsequenz nicht festzulegen. In der Tat hätte ein derartiger Machtzuwachs für Brandenburg-Preußen im Westen des Reiches nicht den kaiserlichen Interessen entsprochen – und ebenso
V. Resümee
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wenig den Interessen der traditionellen kaiserlichen Klientel im Reich, sprich: der mindermächtigen, vornehmlich katholischen Reichsstände. Dass sich die brandenburg-preußische Sukzession in Berg am Ende tatsächlich nicht realisieren sollte, ist von Friedrich Wilhelm I. selbst und im Anschluss auch von der Historiographie als Scheitern seiner Außenpolitik bewertet worden. Doch hat die Historiographie bislang kaum berücksichtigt, dass gerade in der Jülich-BergFrage zwei strukturelle Faktoren der Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaisertum eine wichtige Rolle spielten – nämlich die Rolle des Kaisers als höchster Richter bzw. die ihm daraus erwachsenden politischen Einflussmöglichkeiten sowie das Problem des konfessionellen Gegensatzes im Reich. Diese beiden Aspekte hatten das Verhältnis zwischen Berlin und Wien in den vergangenen Jahren besonders auffälig geprägt. Für die zeitgenössische Wahrnehmung des Konflikts um Jülich-Berg waren diese Faktoren aber nicht zuletzt deswegen von Bedeutung, weil sie auch in der historischen Perspektive aufs Engste mit dem gesamten jülich-klevischen Erbe seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert verknüpft waren. Wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird, griff die brandenburg-preußische Propaganda seit 1718 auf eine dezidiert konfessionalistische Deutung der Beziehungen Brandenburg-Preußens zum Kaisertum zurück, um die eigenen Sukzessionsansprüche in Jülich und Berg zu untermauern. Das beste Beispiel für eine solche konfessionelle Lesart des Verhältnisses Wien – Berlin, wie sie bereits zu Beginn dieses Kapitels in der Denkschrift von Ilgen deutlich anklang, bot aber das historische Beispiel des jülich-klevischen Erbfolgestreites selbst (also der Erbstreit im frühen 17. Jahrhundert). Und das galt offenbar sogar noch zu einem Zeitpunkt, als die hohenzollerischen Ansprüche bereits übergangen worden waren, die brandenburg-preußische Arrondierungspolitik sich unter Friedrich II. eindeutig nach Osten verlagert hatte und also Jülich-Berg für die außenpolitische Praxis Berlins schon längst keine Rolle mehr spielte, die Reichspolitik aber noch einmal für einige Jahre ganz im Zeichen des konfessionellen Gegensatzes stehen sollte.
Exkurs: Konfession als Paradigmafür die Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaisertum I. Das so genannte „Stralendorfsche Gutachten“ und seine Renaissancen In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstand ein in der Form eines geheimen Gutachtens formulierter Text, der zeitgenössisch sowie in der Geschichtsforschung unter dem Namen „Stralendorfsches Gutachten“ bekannt wurde. Dieses Schriftstück, das Ende des 19. Jahrhunderts als Fälschung identifiziert worden ist, gibt sich als eine Denkschrift aus, die ein hoher kaiserlicher Rat ausschließlich für den internen Gebrauch verfertigt hat. Es beinhaltet Überlegungen und Ratschläge für die kaiserliche Politik hinsichtlich der jülich-klevischen Erbfolge. Als Verfasser werden in den verschiedenen überlieferten Handschriften entweder der Reichs vizekanzler Leopold von Stralendorf1 oder der Reichsvizekanzler Lewin von Ulm2 genannt; als Entstehungsdatum suggeriert die Schrift den Zeitpunkt des Todes des letzten Jülicher Herzogs (1609). Höchstwahrscheinlich zielte die Verwendung des Gutachtens ursprünglich auf eine Beeinflussung der kursächsischen Reichspolitik in den 1610er Jahren ab. Vermutlich sollte in Dresden mithilfe dieser „Offenlegung“ der kaiserlichen Absichten in Bezug auf Jülich-Kleve seinerzeit für eine stärkere Orientierung an der protestantischen Union und damit eine Abkehr von der kaisertreuen Haltung Kursachsens geworben werden.3 Die Argumentation des Gutachtens verknüpfte die Darstellung der politischen Ziele Wiens mit einer ausgesprochen anti-evangelischen Rhetorik bzw. setzte die Steigerung der politischen Macht des Hauses Österreich mit der Verteidigung des Katholizismus im Reich weitgehend gleich. Als wichtigstes Ziel erscheint dabei die Schwächung des Hauses Brandenburg, das Kursachsen schon lange überflügelt habe und unter den evangelischen Reichsständen am ehesten zur Gefahr für das Haus Österreich zu werden drohe. Um dieses zentrale Ziel, die Schwächung Brandenburgs, zu erreichen, schreckte der angebliche Verfasser nicht davor zurück, dem Kaiser zu Wortbruch, Justizbeugung und Verstellung zu raten. Vor allem aber sollte durch eine entsprechende Haltung des Kaisers im jülich-klevischen Erbfolgestreit ein Keil zwischen die Protestanten getrieben werden (also vor allem zwi 1
Vgl. Stieve, Stralendorf; Gschließer, Reichshofrat, S. 174–176. Zur Familie Ulm vgl. Zedler 48, Sp. 575; Gschließer, Reichshofrat, S. 156. 3 Vgl. allgemein zum Folgenden: Klinkenborg, Gutachten 1, sowie ausführlich weiter unten in diesem Kapitel. 2
I. Das so genannte „Stralendorfsche Gutachten“
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schen Brandenburg und Sachsen), um auf diese Weise der evangelischen Religion insgesamt und Brandenburg im Besonderen zu schaden – und dem Kaisertum, dem Haus Österreich und der katholischen Religion zu nutzen. Wenngleich dank mehrerer Forschungsarbeiten des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert heute feststeht, dass es sich bei dem so genannten „Stralendorfschen“ Gutachten um eine Fälschung aus dem frühen 17. Jahrhundert handelt, besteht sowohl über den genauen Entstehungszeitpunkt als auch über den Verfasser nach wie vor Unklarheit. Chronologisch setzt die Kenntnis über die Verwendung des Gutachtens mit dem Jahr 1614 ein, als es in Dresden den dortigen Geheimen Räten überreicht und damit aktenkundig wurde.4 Während das Gutachten in Kursachsen allem Anschein nach später nicht mehr zu politischen Zwecken gebraucht wurde, fand es im benachbarten Kurbrandenburg sowohl im 17. als auch im 18. Jahrhundert mehrfach Verwendung.5 Bevor das „Stralendorfsche Gutachten“ schließlich als Fälschung erkannt wurde, war es auch im 19. Jahrhundert noch von einigen Historikern der borrussischen Schule in affirmativer Weise als Beleg für die kaiserliche Haltung gegenüber Brandenburg seit dem 17. Jahrhundert angeführt worden, sozusagen im Sinne einer historischen Rechtfertigung für die anti-kaiserliche bzw. anti-österreichische Politik der Hohenzollern in Vergangenheit und Gegenwart.6 Seit seiner Entstehung waren offenbar mehrere handschriftliche Kopien des Gutachtens angefertigt worden, unter anderem in Berlin, Dresden und Jena.7 Die erste vollständige Veröffentlichung des Gutachtens unter dem Titel „Discursus Politicus et Consilium Catholico-Politicum“8 wurde 1718 durch Rüdiger von Ilgen veranlasst, um die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf diesen Text zu lenken.9 Ilgen erteilte damals Christian Thomasius den Auftrag, eine Drucklegung zu veranlassen sowie ein satirisches Vorwort zu verfassen, das sowohl unter den Zeitgenossen als auch in der Geschichtswissenschaft mitunter zu Missverständnissen geführt hat. Knapp zehn Jahre später, im Jahr 1727, wurde das Gutachten mitsamt dem Vorwort von 1718 noch einmal publiziert;10 aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges stammt schließlich eine dritte Auflage, die mit einem weiteren, aktualisierten Vorwort versehen, 4
Vgl. ebd., S. 83–89, sowie weiter unten in diesem Kap. (III. 1.). Vgl. ebd. 6 Vgl. weiter unten in diesem Kap. (III. und IV.). 7 Vgl. Droysen, Gutachten; Schirrmacher, Streitschriften. 8 Discursus Politicus & Consilium Catholico-Politicum, Von dem Aufnehmen und der grossen Macht des Churfürstlichen Hauses Brandenburg, und wie demselben zue steuren und zue wehren, damit es den Catholischen nicht zu Heupten wachse. Vor hundert Jahren von einem Christlichen und eyffrig-Catholischen Politico verfertigt, Anitzo aber Durch einen von dessen Nachkommen aus dringenden und höchstwichtigen, in der Vorrede mit mehreren angedeuteten Ursachen Zum ersten mahl durch den Druck publiciret, Ingolstadt 1718. (Im Folgenden zitiert als: Dicursus Politicus 1718). 9 Auch zum Folgenden vgl. Klinkenborg, Gutachten 2, S. 240–242, sowie weiter unten in diesem Kap. (III. 2.). 10 Im Folgenden zitiert als: Discursus Politicus 1727; vgl. zu dieser Ausgabe weiter unten in diesem Kap. (III. 3.). 5
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Exkurs: Konfession als Paradigma
1759 gedruckt wurde.11 Im Gegensatz zur ersten Publikation von 1718 existieren allerdings bis heute keine Erkenntnisse über die genauen Hintergründe der Auflagen von 1727 und 1759. Der Schwerpunkt der bisherigen Forschungen über das „Stralendorfsche Gutachten“ lag auf der Frage seiner ursprünglichen Entstehung im 17. Jahrhundert. Im Mittelpunkt standen daher die intensive Textkritik der verschiedenen Handschriften sowie der Erweis der Fälschung.12 Die Druckversionen des Textes und ihre politischen Hintergründe haben dagegen wenig Aufmerksamkeit gefunden.13 Dass man sich 1718 in Berlin entschied, das angeblich für den Kaiser zu Beginn des 17. Jahrhunderts verfasste Gutachten zu veröffentlichen und es damit bewusst zur Beeinflussung eines größeren Publikums zu nutzen, ging vermutlich auf die jüngsten Entwicklungen in der jülich-bergischen Erbfolgefrage zurück: Im vorangegangen Jahr hatte Karl Philipp seine einzige Tochter, Elisabeth Auguste, mit dem pfalz-sulzbachischen Erbprinzen Joseph Karl Emanuel verheiratet.14 Auf diese Weise hatten sich die Erbrechte der Linie Pfalz-Sulzbach als Nachfolger der Neuburger gewissermaßen kumuliert – eine Entwicklung, die man naturgemäß in Brandenburg-Preußen nicht begrüßte. Das „Stralendorfsche Gutachten“ und eindeutiger noch das von Thomasius verfasste Vorwort richteten sich aber mitnichten gegen die Pfälzer Konkurrenten, sondern eindeutig gegen Wien, und zwar in einer Weise, die die politische Gleichsetzung von österreichisch-kaiserlichen und katholischen Interessen im Reich implizierte. Zudem wurde das Haus Brandenburg als größte Gefahr für die Wahrung eben dieser katholisch-österreichischen Interessen beschrieben – und zwar (vorgeblich) aus Wiener Perspektive. Dass dieses konfessionelle Interpretationsmuster für das Verhältnis zwischen Kaisertum und Brandenburg-(Preußen) offensichtlich langfristige Relevanz besaß, beweist allein die Tatsache, dass das Gutachten mitsamt dem Vorwort noch zwei weitere Male im Laufe des 18. Jahrhunderts aufgelegt wurde, 1727 und 1759. Und dabei bestand im letzten Fall, in der Mitte des Siebenjährigen Krieges, nicht einmal mehr der unmittelbare Zusammenhang mit dem Jülicher Erbe. Nichtsdestoweniger war dieser Text aus dem frühen 17. Jahrhundert auch Mitte des 18. Jahrhunderts offensichtlich noch politisch „verwertbar“. Sowohl das Gutachten selbst als auch die aus dem 18. Jahrhundert stammenden Vorworte bieten mithin Aufschlüsse über die zeitgenössische konfessionspolitische Deutung der Beziehungen zwischen dem Kaisertum und Brandenburg-Preußen aus Berliner Sicht – und das, wenn man den Entstehungszeitraum des „Stralendorfschen Gutachtens“ mitberücksichtigt, über einen Zeitraum von fast 150 Jahren. 11 Im Folgenden zitiert als: Discursus Politicus 1759; vgl. zu dieser Ausgabe weiter unten in diesem Kap. (III. 4.). 12 So bei Droysen, Gutachten; Stieve, Gutachten; Meinecke, Gutachten; Klinkenborg, Gutachten 1. 13 Zu den bisherigen Forschungen über die Druckausgaben des 18. Jahrhunderts vgl. weiter unten in diesem Kap. (II. 2.). 14 Vgl. Klinkenborg, Gutachten 2, S. 240.
II. Forschungsgeschichte
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II. Forschungsgeschichte 1. Das ursprüngliche Gutachten aus dem 17. Jahrhundert Nachdem Johann Gustav Droysen 1861 eine ausführliche Untersuchung des „Stralendorfschen Gutachtens“ unternommen hatte,15 erbrachten Felix Stieve und Friedrich Meinecke 1883 bzw. 1886 den Beweis, dass es sich um eine – mutmaßlich brandenburgische – Fälschung handeln musste.16 Droysen war zunächst, ausgehend von der Publikation des Gutachtens von 1718, der Frage nachgegangen, ob es sich um eine Fälschung aus dem 18. Jahrhundert handeln könnte und ob sogar Christian Thomasius der Verfasser des Gutachtens (und nicht lediglich des Vorwortes) gewesen sei. Droysen verneinte diese Fragen damals zu Recht, bewertete das Gutachten allerdings als authentische Denkschrift, die am Kaiserhof des 17. Jahrhunderts entstanden und höchstwahrscheinlich tatsächlich von dem damaligen Reichsvizekanzler Stralendorf im Juni 1609 verfasst worden sei.17 Felix Stieve erschütterte diese Annahme einige Jahre später durch eine detaillierte Untersuchung, die sich ganz auf die Überlieferung der Handschriften aus dem 17. Jahrhundert stützte und wichtige Einwände gegen die Authentizität des angeblich für Kaiser Rudolf II. angefertigten Gutachtens vorbrachte. Stieve und Meinecke zogen auch die Datierung des Textes auf den Frühsommer 1609, also den Zeitpunkt des Jülicher Erbfalls, in Zweifel, hielten aber dennoch an der Entstehung des Gutachtens im späteren Verlauf des Jahres 1609 fest. Ein zentrales Argument für diese Datierung bestand für Meinecke in der Beobachtung, dass der Verfasser des Gutachtens Pfalz-Neuburg bzw. den Neuburgischen Ansprüchen auf das Jülicher Erbe wenig Platz einräumte und hinsichtlich der sächsischen Ansprüche bestenfalls lückenhaft informiert war.18 Diese Gewichtung der unterschiedlichen Erbansprüche passte in der Tat nicht zu den politischen Ereignissen des Frühsommers 1609. Weder Stieve noch Meinecke konnten allerdings sichere Erkenntnisse über die Hintergründe der Entstehung des Gutachtens gewinnen. Den Nachweis der Fälschung hatten beide primär auf der Grundlage intensiver Textkritik geführt. Insbesondere Meinecke konnte die Hinweise auf eine Fälschung weiter erhärten, indem er das angebliche Gutachten mit zeitgenössischen Reichshofratsgutachten über die Jülicher Frage verglich.19 Über die ursprüngliche Zielrichtung der Fälschung sowie den Autor konnten beide Forscher jedoch lediglich Hypothesen aufstellen. Stieve erklärte es für wahrscheinlich, dass der Text primär auf Sachsen berechnet gewesen sei und von brandenburgischer Seite ausging;20 Meinecke wiederum vermutete, der 15
Droysen, Gutachten. Stieve, Gutachten; ders., Nachwort; Meinecke, Gutachten (ursprünglich veröffentlicht als Diss. phil. Univ. Berlin 1886, Potsdam 1886). 17 Vgl. Droysen, Gutachten, bes. S. 385–392. 18 Vgl. Meinecke, Gutachten, bes. S. 16–33. 19 Vgl. ebd., S. 8–16. 20 Vgl. Stieve, Gutachten, bes. S. 467–471. 16
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Verfasser habe das Gutachten ursprünglich für die brandenburgischen Räte und den Kurfürsten angefertigt, möglicherweise um „sich durch Insinuierung eines solchen Machwerks [am brandenburgischen Hof] beliebt zu machen“.21 Erst 1928 vermochte Melle Klinkenborg mithilfe von Aktenbeständen aus dem Dresdner Hauptstaatsarchiv einen entscheidenden Hinweis auf die ursprüngliche Verwendung des so genannten „Stralendorfschen Gutachtens“ im Jahr 1614 zu liefern:22 Das Gutachten wurde unter dem Titel „Diskurs und Bedencken über die gulischen Lande“ im Kontext von Verhandlungen über das zukünftige Verhältnis Kursachsens zur evangelischen Politik der Union im September 1614 von den Bevollmächtigten Sachsen-Coburgs den kursächsischen Räten in Dresden übergeben. Wenngleich selbst nicht Mitglied der Union, bemühte sich Herzog Johann Kasimir von Sachsen-Coburg-Gotha damals intensiv, Kursachsen von einer Unterstützung der evangelischen Politik zu überzeugen und, anstatt weiter den Schulterschluss mit dem Kaiser zu suchen, im Verein mit der Union eine Übereinkunft mit Brandenburg über die jeweiligen Ansprüche auf die Jülicher Erbschaft zu erzielen. Einer der leitenden Räte Johann Kasimirs aber war zu diesem Zeitpunkt Christof von Waldenfels, der wiederum früher in kurbrandenburgischen Diensten gestanden hatte. Waldenfels, der 1614 mit seinem Herrn zu den Beratungen nach Dresden gereist war, hatte zu jenen gehört, die den „Diskurs“ den kursächsischen Räten übergeben hatten. Laut dem Dresdner Protokoll hatten Waldenfels und die übrigen sachsen-coburgischen Räten behauptet, es handele sich dabei um eine Schrift, die ihnen „unter den Zeitungen“ zugegangen sei.23 Klinkenborg sah nun aufgrund der skizzierten Überlieferung in dem früheren kurbrandenburgischen und zu diesem Zeitpunkt in sachsen-coburgischen Diensten stehenden Rat Christof von Waldenfels den Verfasser des so genannten „Stralendorfschen Gutachtens“ und datierte damit auch die Entstehung des Textes auf 1614, und damit auf einen wesentlich späteren Zeitpunkt als die bisherige Forschung.24 Wenngleich in den von Klinkenborg bearbeiteten Quellen vieles auf den ehemaligen kurbrandenburgischen Rat Waldenfels als Autor und damit als Fälscher des „Stralendorfschen Gutachtens“ hindeutet, ist diese Frage bis heute nicht endgültig geklärt.25 21
Vgl. Meinecke, S. 56–59, 57. Dagegen argumentiert wiederum: Stieve, Nachwort. Vgl. zum Folgenden: Klinkenborg, Gutachten 1. 23 Ebd., S. 86. 24 Wen auch immer man in Dresden tatsächlich für den Autor des Gutachtens hielt – Klinkenborg belegt eindrücklich, wie sehr sich das Verhältnis zwischen Kurbrandenburg und Kursachsen im Oktober 1614, also unmittelbar nach der Überreichung des Gutachtens, verschlechterte; vgl. Klinkenborg, Gutachten 1, S. 89–91. 25 Damit verbunden ist auch die Datierung auf 1614 nicht eindeutig geklärt; vgl. zur Frage der Datierung: Schirrmacher, Streitschriften, der die Existenz von zwei weiteren, bis dato unbekannten, handschriftlichen Kopien des so genannten „Stralendorfschen Gutachtens“ in zeitgenössischen Sammlungen von Flugschriften aus den frühen Jahren des Jülicher Erbfolgekrieges belegt. Zu den sich aus der Zusammenschau der verschiedenen Flugschriften ergebenden Rückschlüssen auf die Datierung des „Stralendorfschen Gutachtens“ vgl. ebd., S. 50. 22
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In seiner zweiten Veröffentlichung zur Geschichte des „Stralendorfschen Gutachtens“ räumte Klinkenborg selbst ein, dass der Zweck der Fälschung nicht unbedingt zu jenen politischen Zielen zu passen scheint, die Waldenfels während seiner Tätigkeit als Rat im Dienste des brandenburgischen Kurfürsten Joachim Friedrich verfolgt hatte.26 Denn als kurbrandenburgischer Rat hatte Waldenfels sich in der späten Regierungszeit Joachim Friedrichs gemeinsam mit dem damaligen Kanzler Löben bald gegen jene offensive evangelische Politik gewandt, die Brandenburg-Preußen zwischenzeitlich (1604–1605) unter dem maßgeblichen Einfluss Otto Heinrich von Bylandts, Freiherrn zu Rheydt, und dem Kurprinzen Johann Sigismund an die Seite der protestantischen Aktionspartei im Reich gebracht hatte.27 Bylandt wurde schließlich durch die Partei um Löben und Waldenfels gestürzt, die in der Jülicher Frage eine Politik der gütlichen Einigung mit den übrigen Prätendenten propagierten. Löben und Waldenfels wurden ihrerseits von Johann Sigismund bei dessen Regierungsantritt entlassen. Der junge Kurfürst nahm wiederum die politische Linie des inzwischen verstorbenen Freiherrn von Rheydt von neuem auf.28 Klinkenborg konstatierte daher selbst, es sei, „eigentümlich, daß Waldenfels, ein Gegner von Rheydt, dessen Ideen vom kaiserlichen Hofe in seiner Fälschung verkündigte und somit am Berliner Hofe befestigte, wo er sie früher bekämpft hatte“.29 Besteht also über die ursprüngliche politische Verwendung des Gutachtens am Dresdner Hof dank der Forschungsergebnisse von Klinkenborg Klarheit, so bleibt nach wie vor fraglich, wer die Fälschung verfasste und vor allem auf welche Weise und wann genau das Schriftstück am Berliner Hof bekannt wurde.30 Für die Regierungszeit des Großen Kurfürsten hat Klinkenborg die Verwendung des Gutachtens eindeutig nachgewiesen: So verwies Georg Friedrich von Waldeck in seinen Denkschriften über die Sukzession in Jülich-Kleve mehrfach auf das angeblich für den Kaiser verfasste Gutachten; und der Große Kurfürst selbst ließ im Oktober 1679, gleichsam am Vorabend des Allianzvertrags mit Frankreich, die Schrift aus dem Archiv anfordern, die dort offenbar nicht unbekannt war.31 Schließlich ist der Text in Ausschnitten auch in den „Res gestae“ von Pufendorf erwähnt. Pufendorf teilt Auszüge aus dem Gutachten zwar im Kontext der Jülicher Erbfolgefrage mit, führt es allerding gleichzeitig als ein arcanum imperii des Hauses Österreich ein: „… et quia inter secretas eiusdem [des Hauses Österreich] rationes habetur, impedire, ne qua alia principalis in Germania domus ad aemula[tione]m isti po-
26
Vgl. Klinkenborg, Gutachten 2, S. 244–245. Zur Rolle und zum politischen Einfluss Otto Heinrich von Bylandts zu Rheydt vgl. Kap. E. II. 3. (Der Fall Bylandt). 28 Zu diesen Vorgängen vgl. etwa Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der frühen Neuzeit, S. 136–138. 29 Klinkenborg, Gutachten 2, S. 245. 30 Die in Berlin überlieferten Handschriften stammen auch laut Meinecke und Klinkenborg definitiv aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, vgl. Meinecke, Gutachten, S. 4; Klinkenborg, Gutachten 2, S. 233. 31 Vgl. ebd., S. 234–236. 27
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tentiam assurgat …“.32 Über die Erwähnung bei Pufendorf wiederum fand das Gutachten Eingang in die deutschsprachige Reichspublizistik, als Johann Christian Lünig Anfang des 18. Jahrhunderts die Auszüge des Gutachtens für seine Sammlung „Europäische Staats-Consilia“ übernahm und diese wieder ins Deutsche zurück übertrug.33 2. Die Publikationen des 18. Jahrhunderts als „Discursus Politicus“ Diese gekürzte Überlieferung des Gutachtens bei Lünig bildete wiederum den angeblichen Anlass, mit dem der fingierte Herausgeber 1718 die anonyme Publikation des Gutachtens in voller Länge unter dem Titel eines „Discursus Politicus“ begründete.34 Der Herausgeber gibt sich im Vorwort als kämpferischer Jesuit sowie als Nachkomme des Autors des Gutachtens aus, nennt aber weder seinen eigenen Namen noch den seines angeblichen Vorfahren.35 Bereits Droysen war seinerzeit dem Hinweis auf Christian Thomasius’ Autorenschaft nachgegangen, dem der „Discursus Politicus“ in der 1743 von Georg Gottfried Küster herausgegebenen „Bibliotheca historica brandenburgica“ zugeschrieben worden war.36 Wie bereits erwähnt, hielt Droysen mit Blick auf das Alter der überlieferten handschriftlichen Kopien des Gutachtens eine Autorschaft von Thomasius zwar für ausgeschlossen; dass Thomasius aber der Herausgeber und damit der Autor des Vorwortes von 1718 gewesen sei, hielt Droysen dagegen für wahrscheinlich, wenngleich er diese Annahme aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Akten noch nicht beweisen konnte. Droysen sprach sich allerdings gleichzeitig auch noch vehement gegen die Möglichkeit aus, dass die Publikation des „Discursus Politicus“ von 1718 auf Geheiß des Berliner Kabinetts erfolgt sein könne.37 Erst Klinkenborg vermochte 1928 zweifelsfrei zu belegen, dass Christian Thomasius die Druckversion des Gutachtens bearbeitet und vor allem das Vorwort verfasst hatte. Der von Klinkenborg zitierte einschlägige Schriftwechsel zwischen Thomasius und dem Geheimen Rat in Berlin beweist, dass es sich dabei – entgegen Droysens Annahme – eindeutig um eine Auftragsarbeit handelte.38 Aus Klinkenborgs Erkenntnissen ergibt sich zudem, dass der unmittelbare Anlass für die Pu blikation offenbar tatsächlich die für Brandenburg-Preußen gefährlich erscheinenden Entwicklungen in der jülich-bergischen Frage gewesen waren, konkret: die gerade erst geschlossene Ehe-Verbindung der beiden pfälzischen Linien Neuburg 32
Pufendorf, De rebus gestis 4, S. 10. Lünig, Europäische Staats-Consilia 1, S. 1532–1535. 34 Discursus Politicus 1718, S. 4–7. 35 Ebd., S. 2–4. 36 Vgl. Droysen, Gutachten, S. 363. 37 Ebd., S. 402: „Ich sage nicht, daß das Berliner Kabinett diese Publication veranlasst hat; daran ist im Entferntesten nicht zu denken.“ 38 Vgl. Klinkenborg, Gutachten 2, S. 240–242. 33
III. Inhalt
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und Sulzbach sowie die Sendung eines kaiserlichen Gesandten, des Grafen von Wels, an den kurpfälzischen Hof im Jahr 1718.39 Über die Forschungsergebnisse Klinkenborgs hinaus hat die jüngere Forschung praktisch keine neuen Erkenntnisse über die Publikationen des „Stralendorfschen Gutachtens“ in Form des „Discursus Politicus“ im 18. Jahrhundert hervorgebracht.40 Das von Thomasius verfasste ironische Vorwort hat vielmehr offensichtlich zur Verwirrung beigetragen, indem der „Discursus Politicus“ in seinen Auflagen von 1718 und 1727 sowohl von den Zeitgenossen als auch von der Forschung mehrfach als eine authentische anti-evangelische Schrift aus der Feder eines entschiedenen Katholiken interpretiert worden ist.41
III. Inhalt 1. Das „Stralendorfsche Gutachten“ im 17. Jahrhundert Droysen hat in seiner eingehenden Untersuchung des so genannten „Stralendorfschen Gutachtens“ sowohl den Text in seinen unterschiedlichen handschriftlichen Überlieferungen verglichen und daraus eine vereinheitlichte Version hergestellt als auch den gedruckten Text von 1718 diesen Handschriften gegenübergestellt.42 Dabei stellte er fest, dass der vom Herausgeber in der Druckversion von 1718 als „wahres Original“ mitgeteilte Text zwar gegenüber den handschriftlichen Überlieferungen einige Lücken und zum Teil fehlerhafte oder sprachlich vereinfachte Stellen beinhaltet, die jedoch, was Inhalt und Stil der Schrift betreffen, zu vernachlässigen sind. Im Folgenden wird daher grundsätzlich aus der Druckausgabe des Textes von 1718 zitiert. Das Gutachten betont gleich zu Beginn die enge Verbindung zwischen der Jülicher Erbfolgefrage und dem „Religions-Werck“ im Reich:43 Durch „des Lutheri Ketzerey“ habe das ganze Reich einen Riss bekommen, und nur der göttlichen Vorsehung sei es zu danken, dass keines der evangelischen kurfürstlichen und fürstlichen Häuser dem Haus Österreich an Macht gleichkomme.44 Daher hätten die „Ketzer“ immer schon nach einer Macht gesucht, die „den Catholischen Einhalt thuen, und dem Hause Österreich den Kopf bieten könte“, und in diesem Bemühen
39
Vgl. ebd., S. 240. Vgl. dazu weiter unten in diesem Kap. (III. 2.). 41 Vgl. dazu weiter unten in diesem Kap. (III. 2.–III. 3.). 42 Vgl. Droysen, Gutachten, S. 394–396, 420–448. 43 Im „Discursus Politicus“ von 1718 ist fälschlicherweise statt von dem „Jülichen Regiment“ vom „Römischen Regiment“ die Rede. Vermutlich handelte es sich dabei allerdings lediglich um einen Transkriptionsfehler bei der Übertragung von der handschriftlichen Vorlage in die Druckversion; s. Discursus Politicus 1718, S. 14; sowie Droysen, Gutachten, S. 420. 44 Discursus Politicus 1718, S. 14–15, 14. 40
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bislang auf Frankreich und Sachsen gesetzt.45 Diese Hoffnungen hätten sich aber in beiden Fällen nicht erfüllt. Neuerdings habe sich allerdings beim Haus Brandenburg „eine solche unvermuthliche Veränderung“46 (sprich: ein deutlicher Machtzuwachs und namentlich die Aussicht auf das Jülicher Erbe) ergeben, dass die Lutheraner wieder neue Hoffnung schöpften. Es folgt eine Skizzierung des Aufstiegs des Hauses Brandenburg: die Vermehrung seiner Macht durch Heiratspolitik, Erbschaften, gute Regierung, der Übergang zum Protestantismus und die damit einhergehenden Säkularisierungen und schließlich die durch die Heirat Johann Sigismunds mit Anna von Preußen erworbenen Rechte an Jülich-Kleve-Berg. Wenn nun, so die Überlegung des Verfassers, Brandenburg tatsächlich auch noch die Jülicher Erbschaft hinzugewönne, so drohe dieses Haus, sich „über alle die Fürsten des Reichs zu erheben, [und] den Catholischen, dem Hause Österreich, ja auch Kayserl. Majestät selbsten erschröcklich zu machen“.47 Für diesen Fall sieht der Verfasser voraus, „daß der Churfürst von Brandenburg leichtlich aller Catholischen Meister werden“ und sich auf diese Weise zum direkten Konkurrenten des Kaisers entwickeln könnte, „so von dem Lutherischen und Calvinischen Geschmeiß längst gewünschet und erwartet worden“.48 Denn zur ansehnlichen Macht Brandenburgs komme dessen allseits bekannter Hass gegen die Katholiken hinzu („so bey dem Hause Brandenburg vor langen Jahren gespüret worden“) und schließlich, „daß jetziger Churfürst wegen seiner Religion noch wenig Erklärungen gethan, und ihm also beyde die Lutherischen und Calvinischen obligirt gemacht…“.49 Auch der geopolitischen Folgen einer Sukzession der Hohenzollern in den Jülicher Landen wird gedacht und besonders auf die Gefahr einer Verbindung der zahlreichen Feinde Österreichs im Osten und Westen mit einem so sehr erstarkten Brandenburg hingewiesen.50 Praktisch „alles Ketzerische Geschmeiß in und ausserhalbe des Reichs“ orientiere sich am Haus Brandenburg, auf das die Protestanten alle Hoffnung gesetzt hätten.51 Es sei schier kein Ausweg zu sehen, „wie die Sachen zu remidiren seyn wollen“, denn die Ansprüche der Hohenzollern auf die Jülicher Sukzession seien so gut begründet, die Rechtslage so eindeutig, „daß schier nichts erdacht, ja fast kein Mittel vorgeschlagen werden kan, dadurch zuwege zu bringen, daß Brandenburg nicht dabey solte gelassen werden“.52 Tatsächlich unterstreicht das Gutachten selbst nochmal, dass die Hohenzollern diejenigen der zahlreichen Prätendenten auf die rheinischen Herzogtümer seien, die ihre Rechte am besten begründen könnten.53
45
Ebd., S. 15. Ebd., S. 17; zum Folgenden ebd., S. 17–22. 47 Ebd., S. 19. 48 Ebd., S. 23. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 24–27. 51 Ebd., S. 27. 52 Ebd. 53 Ebd, S. 27–28. 46
III. Inhalt
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Dennoch – oder vielmehr gerade deswegen – müsse der tatsächliche Übergang dieser Gebiete an Brandenburg unbedingt verhindert werden. Noch verfüge man über Möglichkeiten, „das angehende Feuer“ zumindest „in etwas zu dempfen“.54 Das Mittel der Wahl sieht der Verfasser in den – wesentlich weniger gut begründeten – Ansprüchen des Gesamthauses Sachsen.55 Zwar sei man sich in Sachsen der Schwäche der eigenen Rechtstitel wohl bewusst. Doch der Neid gegenüber dem aufstrebenden Nachbarn Brandenburg sei sehr groß, und eben diese Eifersucht gelte es vom Kaiserhof aus zu fördern: „Es will aber gleichwohl von nöthen seyn, diese Mißgunst nicht allein zu vermehren, sondern Sachsen zugleich an und fort zu treiben“.56 Der Verfasser rühmt sich dieses Einfalls, indem er schreibt, es scheine fast, als wollte Gott selbst „ins Spiel greiffen, und seiner Kirchen Sachen ausführen, indem spiritus vertiginis sich bey den Ketzern selbst findet, und die durch Abgunst und Ehrgeitz gar wol irre gemacht, in einander geführet, und darzu allerseits zum Untergange befördert werden könten“.57 Zudem sei die brandenburgische Macht ohnehin noch im Werden begriffen, wodurch „alles noch leichtlich […] hintertrieben und aufgehalten werden [könnte]“.58 Käme es zum Streit unter diesen beiden protestantischen Konkurrenten, so würde dies dem Haus Österreich und der katholischen Religion gleichermaßen nutzen.59 Zu diesem Zweck schlägt der Verfasser das folgende Vorgehen vor: Der Kaiser solle zunächst einen Kommissar in die Herzogtümer schicken und sich so der Länder faktisch bemächtigen. Dabei müsse natürlich der Schein gewahrt bleiben, „daß [um] mehr Unruhe im Reich zu verhüten, Kayserl. Majestät als ordinarius Judex, dieses alles also nothwendig anordnen müsse […]. Summa man müßte sich hüten und eigentlich vorsehen, damit kein Theil einige Partheylichkeiten spüren und vermercken könne…“.60 Das Ziel bestehe darin, dass „Kaiserl. Majestät die Lande durch ein Wechsel möchten an sich bringen, und alle Theil gütlich abfinden könten“.61 In diesem Zusammenhang stellt der Verfasser des Weiteren einige Überlegungen an, wie die Hauptanwärter, Brandenburg, Sachsen und Pfalz-Neuburg, gegebenenfalls durch andere Gebiete, die der Kaiser ihnen zusprechen könnte, zu „contentiren“ wären. Sollte sich dann eine der Parteien mit diesem Prozedere nicht zufrieden zeigen, stünde ihr der Rechtsweg offen. Dann würde es also, nachdem der kaiserliche Sequester in den Herzogtümern erfolgreich etabliert worden sei, zum Prozess kommen, „der allhier [am kaiserlichen Hof] formirt werden müste“.62 In diesem Prozess aber müsse nun ein dem Hause Österreich nützlicher Richterspruch ergehen, der sowohl Brandenburg als auch Sachsen ihr Recht auf das Jülicher Erbe 54
Ebd., S. 29. Auch zum Folgenden: ebd. S. 33–35. 56 Ebd. S. 35. 57 Ebd. S. 29. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 35 60 Ebd., S. 36. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 39. 55
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abspräche. Dabei sollte im Falle Brandenburgs (dessen eigentlich unbestreitbare Erbrechte der Verfasser ja bereits zugestanden hatte) auf die 1532 ergangene Acht gegen Albrecht von Brandenburg zurückgegriffen werden.63 Karl V. hatte diese Acht gegen den ersten preußischen Herzog erlassen, nachdem dieser den Ordensstaat säkularisiert, dem polnischen König gehuldigt und damit das ehemalige Ordensland dem Lehensverband des Reiches endgültig entzogen hatte. Die Achterklärung gegen Albrecht von Brandenburg war tatsächlich bald nach ihrer Publizierung zwar suspendiert, aber niemals aufgehoben worden.64 Die Kurlinie wurde seit 1569 vom polnischen König mit-belehnt und das Herzogtum auch tatsächlich seit 1603 praktisch von brandenburgischen Hohenzollern regiert. Durch die Heirat des damaligen Kurprinzen Johann Sigismund mit Anna von Preußen im Jahr 1594 wurde schließlich die Personalunion zwischen Preußen und Brandenburg absehbar. Vor diesem Hintergrund argumentiert das Gutachten, dass es nun gelte, die damals gegen Albrecht von Brandenburg verhängte Acht nun auch auf den regierenden Kurfürsten (Johann Sigismund) anzuwenden. Auf dieses Konstrukt also sollten laut dem Ratschlag des Gutachters die Richter zurückgreifen. Das Urteil müsse folgerichtig in der Entscheidung münden, „…daß nemblich Brandenburg wegen der ergangenen Acht inhabilis wäre, und Sachsen seine concessionem eventualem wie Recht nicht bescheiniget, sein Recht auch praescribiret wäre, derowegen Sie beyde nicht zuläßig, sondern die Lande dem Reiche nunmehr zugefallen wären“.65 Die gesamte Verhandlung dürfe sich ruhig hinziehen; auch eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen beiden Kontrahenten (Brandenburg und Sachsen) solle man nicht verhindern – im Gegenteil, eine solche wäre hochwillkommen: „denn durch dieses Mittel könnten die Catholischen stille sitzen, und alle Gefahr von sich wenden, lachend zusehen, und die starcken Flügel so den Lutheranismus hoch empor in die Lufft gehoben, sich selbst herunter stürtzen lassen.“66 In einer Auseinandersetzung zwischen Sachsen und Brandenburg aber würden die europäischen Mächte vermutlich neutral bleiben; und „die stillsitzende Catholische Fürsten würden allen Argwohns erlassen, und die Ketzer an einander gehetzet werden“.67 Um dieses Ziel zu erreichen, müsse Sachsen aber immer wieder im Geheimen ein wenig Vorschub gewährt werden „doch nur zu Zeiten und selten geschehen, damit es dem anderen Teil die Wag halte und so paullatim ein Wolf, wie man sagt, den anderen fresse, sie sich und ihre Helfershelfer dermaßen enervieren möchten, daß sie nicht mehr groß zu achten wären“.68 Dann aber könne sich der Kaiser endgültig selbst in den Besitz der Jülicher Länder setzen. Das Gutachten endet schließlich mit dem Wunsch: „Hierzu dem hochlöblichen Hause Oesterreich und der Catholischen Kirchen, der Glück geben wolle, von dem es allenseits zum Flor erhoben und 63
Ebd., S. 30–32. Vgl. Dolezel, Lehnsverhältnis, S. 48–58, bes. S. 54–58. 65 Discursus Politicus 1718, S. 39. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 40. 68 Ebd. 64
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fundiret worden, auf daß wir all bey der erkandten Wahrheit im Schifflein Petri vor den Wellen der Ketzer unanstößig seyn und bleiben mögen“.69 2. Die Publikation des „Discursus politicus“ von 1718 Im Jahr 1718 wurde das so genannte „Stralendorfsche Gutachten“ zum ersten Mal selbstständig und als vollständiger Text veröffentlicht, ebenfalls anonym, aber mit einem Vorwort versehen, das den konfessionalisierenden Tenor, den das Gutachten selbst aufweist, noch einmal ironisch überzeichnet aufnimmt. Bereits der Titel verweist auf diese Tendenz: „Discursus Politicus, et Consilium Catholico-Politicum, Von dem Aufnehmen und der grossen Macht des Churfürstl. Hauses Brandenburg, und wie Demselben zu steuren und zu wehren, damit es denen Catholischen nicht zu Haupte wachse.“ Der Herausgeber und Autor des Vorwortes (i. e. Thomasius) erklärt in seiner Einleitung, er selbst sei ein Urenkel des Verfassers des ursprünglichen Gutachtens, das er im Folgenden entsprechend dem Titel als „discurs“ bezeichnet.70 Der Kaiser (gemeint ist wohl Rudolf II.) habe zu Beginn des 17. Jahrhunderts seinerzeit seinem Urgroßvater für dieses Gutachten 70 000 Gulden bezahlt. Mehrere Fürsten hätten in der Folge große Summen geboten, nur um eine Kopie von diesem höchst geheimen Schriftstück zu erhalten. So erkläre sich auch die Existenz diverser Abschriften, die bis heute in verschiedenen fürstlichen Archiven im Reich zu finden seien. Davon habe der Herausgeber bei einer vor einigen Jahren durch das Reich unternommenen Reise selbst erfahren und sei darüber umso erfreuter gewesen, als man offenbar dieses Gutachten nicht nur unter katholischen Fürsten, sondern auch an protestantischen Höfen für beachtenswert gehalten habe, mithin sein Urgroß vater, „für einen so ungemein klugen Mann müßte seyn gehalten worden …“.71 Der Herausgeber schmeichelt sich weiter, dass ihm auf jener Reise, sobald er sich als Nachkomme dieses klugen Mannes zu erkennen gegeben habe, an katholischen Orten ganz besondere Ehr- und Höflichkeitsbezeugungen zuteil geworden seien. Umgekehrt habe er bei seinen Aufenthalten an evangelischen Orten besondere Sorgfalt walten lassen, seine Identität zu verschleiern, „weil ich mich daselbst nicht anders als Haß und Neid gewärtig zu seyn, nicht unbillig befahret“.72 An den verschiedenen Stationen seiner Reise sei ihm allerdings aufgefallen, dass die unterschiedlichen handschriftlichen Kopien des alten Gutachtens nicht den korrekten Titel führten; und auch über den Verfasser fänden sich widersprüchliche Angaben. Die meisten Kopien würden entweder Lippold von Stralendorf oder Lewin von Ulm als Verfasser nennen; beides aber entspreche nicht der Wahrheit. Allein er, der Herausgeber und Nachfahre des wirklichen Autors, besäße den Schlüssel für dieses Rätsel: Sein 69
Ebd. Auch zum Folgenden: ebd., S. 2–4. 71 Ebd., S. 2. 72 Ebd., S. 2–3. 70
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Urgroßvater sei nämlich unter beiden Reichsvizekanzlern Geheimsekretär gewesen und habe seinerzeit in diesem Amt unter dem maßgeblichen Einfluss eines Jesuitenpaters das Gutachten verfasst. Auch der Herausgeber selbst, so wird im weiteren Verlauf des Vorworts deutlich, beschreibt sich kaum verschleiert als Mitglied der Gesellschaft Jesu. Als Grund für seinen Entschluss, gerade jetzt das Gutachten durch den Druck bekannt zu machen, gibt der Herausgeber an, dass die vor wenigen Jahren erschienenen „Europäischen Staats-Consilia“ von Lünig den Text zwar aufgenommen hätten, jedoch nur in völlig verstümmelter Form. Durch den Abdruck des vollständigen und ursprünglichen Textes73 wolle der Herausgeber nun die Ehre seines Vorfahren retten, und zugleich diejenige „aller der allein seeligmachenden Catholischen Religion zugethanen“.74 Nach diesen autobiographischen Ausführungen beginnt der Herausgeber mit dem eigentlichen Vorwort, das als eine Art Einstimmung auf den Haupttext fungiert:75 Der Herausgeber berichtet über seine Bekanntschaft mit einem „Kavalier“, der sich im Auftrag eines lutherischen Fürsten in W. [Wien] eingefunden habe. Bei dieser Gelegenheit hätten sich die beiden Protagonisten kennen und schätzen gelernt. Eines Tages aber habe der Herausgeber seinen Freund bei der Lektüre der „Staats-Consilia“ von Lünig angetroffen, wodurch die beiden Herren ins Gespräch über das fragliche Gutachten gekommen seien und der Herausgeber seinem lutherischen Freund mitgeteilt habe, dass es sich beim Autor jenes Textes um einen seiner Vorfahren handle. Daraufhin habe sich der lutherische Kavalier über die unmoralischen und gewissenlosen, aller Vernunft zuwiderlaufenden Grundsätze dieser Schrift ereifert. Schließlich, so habe der Lutheraner argumentiert, gebe der Autor in seinem Gutachten selbst zu, „daß der Churfürst zu Brandenburg das beste Recht an denen Jülischen Landen hätte“ – wie könne er also angesichts dessen dem Kaiser raten, „wie Er nicht alleine besagten Churfürsten unter dem Schein, eine unpar theyische Justiz demselben zu administriren, umb besagte Lande brächte, sondern auch denselben mit Chur-Sachsen zusammen hetzten, und alle nur zu erdenkende finessen gebrauchen solle, daß beyde Partheyen einander gäntzlich ruinirten“?76 Der zunächst überraschte Herausgeber habe bald erkannt, dass sein Freund zu einem so harten Urteil nur gelangen konnte, weil er die verstümmelte Version bei Lünig gelesen hatte, in der die eigentliche Motivation seines Vorfahren, nämlich der Schutz und die Ausbreitung der katholischen Religion, kaum erwähnt werde. Deswegen habe er seinem Freund das Gutachten in seiner ursprünglichen Form zukommen lassen, um auf dieser Grundlage noch einmal mit ihm zu disputieren. Dieses erneute Gespräch habe der Herausgeber mit der Annahme begonnen, sein Freund könne 73 Zu dem von Droysen durchgeführten Vergleich des abgedruckten „Originals“ mit einigen der überlieferten Handschriften vgl. weiter oben in diesem Kap. (III. 1.). 74 Discursus Politicus 1718, S. 5. 75 Zum Folgenden: ebd., S. 5–14. 76 Ebd., S. 6.
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nun, nachdem er über die „wahre Intention“ seines Urgroßvaters im Bilde sei, wohl nicht mehr so unfreundlich über das Gutachten urteilen. Entgegen jeder Erwartung aber sei der Lutheraner bei seiner Meinung geblieben. Ausführlich berichtet der Herausgeber nun von dem sich anschließenden Streit, in dem die jesuitische Moral des Herausgebers und die vernunftbetonte, „aufrechte“ Argumentation des Lutheraners einander in überzeichneter Weise gegenübergestellt werden. Wo der lutherische Kavalier die Meinung vertritt: „Unrechte Gewalt und Betrug bleiben schändliche Dinge, wenn gleich noch so ein scheinheiliger Praetext vorgewendet wird“, repliziert der Jesuit: „Ihr armen Lutheraner, ich bedauere Euch von Hertzen, daß Ihr einer solchen Morale verfallen seyd, die in Beurtheilung Lobund Scheltwürdiger Thaten, die blosse elende und verfinsterte Vernunfft und das daraus hergleitete natürliche Recht zu Rathe ziehet …“.77 Die jesuitische Beweisführung gründet auf dem Postulat, „daß zu Vertheydigung und Fortpflanzung der wahren Religion alle sonst unzuläßlichen Mittel gebraucht werden können, weil sie in Betrachtung der göttlichen Ehre, die dadurch befördert werde, aufhöhren unzuläßig zu seyn“; mit anderen Worten: „daß denen Ketzern […] gleichfalls die Rechtgläubigen keinen Glauben noch Versprechen zu halten schuldig wären“.78 Das Hauptargument des Lutheraners besteht dagegen in der „goldenen Regel“: „quod tibi non vis fieri, alteri ne feceris“.79 Der Allgemeingültigkeit dieses Satzes hält der katholische Herausgeber wiederum entgegen, dass gerade darin „der Vortheil der wahren Religion“ bestehe: „[…] daß allein jene Gruppe [die der Rechtgläubigen] an die sonst gemeinen Regeln des Rechts der Natur wegen der Ehre Gottes, die über alle Natur erhaben, nicht gebunden ist, dahingegen die Ketzer, als die sich dieses Privilegii nicht zu bedienen haben, mit unter die Regel gehören“.80 Leider sei der Disput an dieser Stelle abgebrochen, weil der Kavalier von seinem Fürsten aus W. abberufen worden sei. Aber, so schreibt der Herausgeber selbstbewusst, er sei gewiss, dass weder sein lutherischer Bekannter von einst noch sonst irgendein Protestant die von seinem Urgroßvater dargelegten Grundsätze würde widerlegen können. Ja, er habe auch später noch mit vielen Lutheranern und Calvinisten über eben diese Frage diskutiert, und niemals habe ihm jemand auf seine Einwände gegen die „goldene Regel“ etwas erwidern können. Der Herausgeber gibt sich daher überzeugt, die Edition des ungekürzten Gutachtens werde schließlich auch die protestantischen Zweifler überzeugen und „sowohl meines Elter-Vaters als der gesamten Catholischen Religions-Verwandten guten Leymuth und Ehre […] retten …“.81 Im Übrigen sei er, der Herausgeber, sich seiner eigenen Argumentation so gewiss, dass er sich nicht scheue, alle Lutheraner und Calvinisten („denn, was redliche Catholicen seyn, werden ohne dem daran nicht zweiffeln“)82 77
Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. 79 Ebd., S. 11. 80 Ebd. 81 Ebd., S. 13. 82 Ebd. 78
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herauszufordern, seine in dieser Vorrede angeführten Gründe zu widerlegen. Er lobe daher 100 Dukaten für denjenigen aus, dem es gelinge, seine Beweisführung zu entkräften. Und damit seine Leser dies nicht nur für einen Spaß hielten, weil der Herausgeber seinen Namen nicht nenne – wofür er im Übrigen seine „wichtigen Ursachen“ habe –, hinterlege er das genannte Preisgeld in München, und zwar „in dem bekannten Gasthof zum Kardinalshut, bei einem daselbst wohnenden Perückenmacher […]“.83 Dieser Perückenmacher sei befugt, die Summe an denjenigen auszugeben, der ein von drei Schiedsrichtern ausgestelltes Zeugnis vorweisen könne, das ihm die Widerlegung des Vorwortes bescheinige. Ein Verzeichnis der Schiedsrichter aber sei bei dem Perückenmacher hinterlegt; es handele sich um durchweg ehrwürdige und gelehrte Männer, aus denen der Kandidat zwei auswählen, einen dritten aber nach eigenem Gefallen aus den Reihen des Rats und der Bürgerschaft der Stadt München hinzuziehen dürfe. Dieses Gremium solle dann – wohlgemerkt mit Stimmenmehrheit – entscheiden. Als Ort und Jahr der Veröffentlichung nennt das Vorwort „Ingolstadt, in Verlegung Peter Stuhlwagens 1718“. Schon Droysen hat es in seiner Untersuchung des „Stralendorfschen Gutachtens“ für wahrscheinlich erklärt, dass der Verlagsort und sämtliche Angaben des „Discur sus Politicus“ fingiert seien und die gesamte Einleitung als ironisches Zerrbild verstanden werden müsse.84 Droysen hat auch darauf hingewiesen, dass Christian Thomasius, den er mit Recht als den wirklichen Herausgeber und also auch als Verfasser des Vorwortes vermutete, bereits in früheren Jahren wiederholt als Gutachter für die Regierung in der Jülicher Sukzessionsfrage tätig gewesen war.85 In diesen Gutachten hatte Thomasius grundsätzlich die pragmatische Meinung vertreten, dass der König im Erbfall zunächst „die possessio“ der Herzogtümer ergreifen müsse, um erst danach „auf deren Colorirung“ zu denken, „wozu sich die rationes alsdann aus allerseitigen Bedenken schon finden werden, wenn man nur erst siehet, mit wem es S. K. M. eigentlich werde zu thun haben“. Wenn man einmal mit entsprechender Truppenstärke und finanziellen Mitteln den Besitz Jülichs und Bergs gesichert habe, würden sich die übrigen Dinge schon ergeben. Dabei könne man zwar auch preußischerseits nichts anderes tun als „die alten Gesänge und rationes wieder anzustimmen“, doch besäßen diese dann eben viel größeres Gewicht als jene „rationes des Gegentheils ohne Posses“.86 Was Droysen dagegen noch für undenkbar erklärt hatte, dass nämlich die Berliner Regierung Thomasius mit der Publikation des „Discursus Politicus“ beauftragt hatte, hat Klinkenborg belegt.87 Der Publikation von 1718 unmittelbar voraus 83
Ebd., S. 13–14. Vgl. Droysen, Gutachten, S. 367, 396–397. 85 Vgl. ebd., S. 376. 86 Zitiert nach Droysen, Gutachten, S. 405. Die Rolle von Christian Thomasius als Verfasser politischer Gutachten für den Berliner Hof markiert eine Forschungslücke in der sonst schier unübersehbaren Thomasius-Forschung. Auch Hammerstein, Jus, behandelt diesen Aspekt der Tätigkeit von Thomasius oder anderer Gelehrter der Universität Halle, wie etwa Gundling, nicht. 87 Zum Folgenden vgl. Klinkenborg, Gutachten 2, S. 240–243. 84
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gegangen waren Entwicklungen in der Jülich-Berg-Frage, die man in Berlin mit Sorge betrachtete. Das Berliner Kabinett entschied offenbar in dieser Situation, das alte „Stralendorfsche Gutachten“ veröffentlichen zu lassen, um die Meinung in der Reichsöffentlichkeit im brandenburg-preußischen Sinne zu beeinflussen. Erhalten ist lediglich das Antwortschreiben von Thomasius an den Geheimen Rat in Berlin. Aus diesem Brief geht hervor, dass Thomasius unterm 16. August 1718 angewiesen worden war, eine Publikation des alten Gutachtens zu veranlassen, und dass dieser Auftrag maßgeblich auf Rüdiger von Ilgen zurückging.88 Es ist bemerkenswert, dass die Schrift in der Folge tatsächlich in Halle selbst gedruckt wurde, und zwar unter Mitwirkung Hermann August Franckes, dem, wie Thomasius schrieb, das „Stralendorfsche Gutachten“ sehr wohl aus eigener Lektüre bekannt gewesen sei. Francke habe auch seine Mithilfe angeboten, um die „dunklen Stellen“ in dem Thomasius von Berlin zugegangenen Exemplar der Schrift zu korrigieren. Dafür wolle Francke eine Kopie aus Dresden beschaffen, woher er das Gutachten auch ursprünglich kenne. Was die gewünschte Vorrede betraf, machte Thomasius konkrete Vorschläge, die explizit an Ilgen adressiert waren. Es sei wohl nicht dienlich, bemerkte Thomasius, bereits in der Vorrede von den Rechten Brandenburgs auf Jülich und Berg zu schreiben; stattdessen aber könne man so tun, als ob „ein catholischer Anonymus von des Autoris Descendenten das scriptum fürnehmlich aus diesem Absehen itzo edirete, weil die in des Lünigs Staatsconsiliis befindliche Abbreviation dieses Bedenkens das Hauptabsehen des Concipienten, welches die Propagation der catholischen Religion sey, ausgelaßen und demselben gantz nicht gedacht worden wäre …“.89 Dieser Vorschlag fand in Berlin und insbesondere bei Ilgen offensichtlich Anklang, wie die Randbemerkung „optime“ vermuten lässt. Somit traf der Haupttext, das Stralendorfsche Gutachten, den unmittelbaren politischen Anlass für die Publikation des „Dicursus Politicus“ 1718, also die jüngsten Entwicklungen in der jülich-bergischen Erbschaftsfrage. Die Vorrede, wie Thomasius sie ausgestaltete, aber war angesichts der konfessionellen Krisenstimmung im Reich nicht weniger aktuell. Das Vorwort verstärkte gleichsam die konfessionelle Lesart des Konflikts um die Jülicher Erbschaft, die als „immer schon“ aufs Engste mit dem Verhältnis der Konfessionen verquickt dargestellt wurde. Da das eigentliche Gutachten ja bereits konfessionell argumentierte, bot die Betonung dieses Aspektes durch ein entsprechendes Vorwort zudem einen geistreichen Weg, die Leser den Ursprung dieser Publikation nicht notwendig unmittelbar in BrandenburgPreußen oder gar in Berlin bzw. Halle vermuten zu lassen. Wer das Vorwort als die Satire verstand, als die es gemeint war, konnte vielmehr auch annehmen, dass es sich beim Herausgeber des „Discursus Politicus“ schlicht um einen entschiedenen Vertreter der sich immer deutlicher formierenden protestantischen Opposition im Reich handelte.
88 Auch zum Folgenden: Thomasius an Ilgen, Halle, 27.8.1718, GStA PK, I. HA, Rep. 34, 155, abgedruckt bei: Klinkenborg, Gutachten 2, S. 241–242. 89 Ebd., S. 241.
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Las man nun das Vorwort und das anschließende Gutachten nacheinander, so musste die – freilich ironisch gedrehte – „katholische“ Botschaft beider Texte kombiniert in etwa folgendermaßen lauten: Weil dem Gebot und der Ehre Gottes auch das natürliche Recht weichen muss, hätte seinerzeit der Kaiser das Haus Brandenburg mit Betrug, List und Gewalt an seinen legitimen Ansprüchen auf das gesamte Jülicher Erbe hindern dürfen, um mit den Brandenburgern zugleich auch den gesamten Protestantismus im Reich nach Kräften zurückzudrängen. Die Parallelen zur Gegenwart mussten 1718 für jeden politisch informierten Leser auf der Hand liegen. Tatsächlich hatte Thomasius das Ironie-Verständnis seiner Leser aber offensichtlich überschätzt – wie sich an den zeitgenössischen Reaktionen bis hin zur modernen Geschichtswissenschaft ablesen lässt.90 In Brandenburg-Preußen selbst ließ der Fiskal das Werk unmittelbar nach seinem Erscheinen verbieten.91 Und selbst der Reichstagsgesandte Metternich, der in Regensburg rasch ein Exemplar in die Hände bekam, schwankte offenbar in seiner Bewertung dieser ungewöhnlichen Streitschrift: Im November 1718 berichtete er in einer Relation über das Werk, das er als „Schandfleck“ für die Katholiken bezeichnet, „wenn es denn genuin ist“.92 Auch schilderte Metternich, dass der Kaiser den Fiskal gegen die Schrift bzw. ihre Verfasser vorgehen lasse und dass in Regensburg viele meinten, es handele sich um ein „Blendwerk“. Ilgen versicherte daraufhin Metternich zwar, dass zumindest das Gutachten aus dem 17. Jahrhundert keine Satire sei, „sondern vor langen Jahren von einem kaiserlichen vornehmen Ministro würklich also abgefaßet und seit mehr als einem halben seculo allhier, auch an anderen Orten vorhanden gewesen“.93 Die weiteren Hintergründe aber verschwieg Ilgen dem Gesandten: „Qua occasione selbiges jetzo herausgekommen, und, was man dabey vor einen Zweck habe, solches laßen wir dahin gestellet sein. Ihr habt Euch dabey ganz indifferent zu betragen, jedoch zu berichten, was deshalb vor iudicia alldort gefället werden“. Und auch der brandenburg-preußische Repräsentant in Wien, Daniel Burchard, wurde von der Berliner Zentrale im Unklaren gelassen. Ihm wurde aus Berlin lediglich ein Exemplar zugeschickt mit dem Auftrag, es an geeignetem Ort zu übergeben und sich dann bei Gelegenheit nach der jülich-bergischen Sukzession zu erkundigen.94 Dass die zeitgenössischen Leser mitunter das Vorwort von Thomasius nicht als anti-katholische Satire verstanden, mag auch daran gelegen haben, dass der Haupttext, das Stralendorfsche Gutachten, nicht unbedingt als evangelisches Machwerk, sprich: als Fälschung zu erkennen war.95 Nicht umsonst hat es auch in der Ge 90
Dazu ausführlich weiter unten. Vgl. auch zum Folgenden: Klinkenborg, Gutachten 2, S. 242–244. 92 Auch zum Folgenden: Relation von Metternich, Regensburg, 14.11.1718, GStA PK, I. HA, Rep. 34, 155; zitiert nach Klinkenborg, Gutachten 2, S. 242. 93 Auch zum Folgenden: Reskript an Metternich, Berlin, 29.11.1728, ebd., S. 243. 94 Ebd. 95 Das legt auch die Tatsache nahe, dass in Lünigs Ausgabe der „Selecta scripa illustria“ von 1723 der publizierte Text des „Stralendorfschen Gutachtens“ entsprechend der Ausgabe des „Discursus Politicus“ von 1718 übernommen wurde; vgl. Lünig, Selecta scripta illustria, S. 24–23. 91
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schichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts zunächst als Original gegolten.96 Umso erstaunlicher ist es allerdings, dass auch nach den Publikationen von Stieve, Meinecke und Klinkenborg seither in verschiedenen Forschungsarbeiten der „Discursus Politicus“ völlig fehlinterpretiert worden ist.97 Zwar wird in der einschlägigen Thomasius-Werksbibliographie von Rolf Lieberwirth unter der Jahreszahl 1718 der „Discursus Politicus“ aufgeführt; der Eintrag ist allerdings mit dem Zusatz versehen, „daß Thomasius als Herausgeber dieser Schrift nicht in Frage kommt“.98 Begründet wird dieses Urteil mit der Beobachtung, der Verfasser des Vorwortes sei „eindeutig Angehöriger der katholischen Konfession.“ Zudem sei die Schrift in erster Linie gegen Brandenburg gerichtet, und „eine solche Schrift hätte Thomasius schon aus Gründen der Klugheit nicht veröffentlichen lassen …“.99 Diese Einordnung ist sowohl angesichts der referierten Forschungsarbeiten als auch mit Blick auf Stil und Inhalt des Vorwortes in der Tat verwunderlich, steht aber nicht allein. Auch die Auflage des Discursus von 1727, die völlig identisch mit derjenigen von 1718 ist, wurde selbst noch von der jüngeren Forschung als ernst gemeinte anti-preußische Streitschrift interpretiert. So ist Heinz Duchhardt zwar darin zuzustimmen, dass die Veröffentlichung des „Stralendorfschen Gutachtens“ auch 1727 zweifellos den Zweck verfolgte, die Parallelen zur gegenwärtigen politischen Situation zu demonstrieren, mithin „den Vergleich mit der angeblich ähnlichen Situation der 1720er Jahre herauszufordern“. Indessen bestand das Ziel des „Discursus Politicus“ eben gerade nicht darin, „Brandenburg-Preußen als den Rivalen des Hauses Habsburg zu ‚entlarven‘“,100 sondern vielmehr umgekehrt in dem Bemühen, Brandenburg-Preußen als Rivalen des Hauses Österreich zu stilisieren bzw. die schändlichen Absichten des Hauses Österreich gegenüber BrandenburgPreußen (und Kursachsen) aufzudecken. Ganz gewiss aber kann man in jenen, die katholisch-kaiserliche Haltung derart karikierenden, Ausführungen des „Discursus 96
Vgl. dazu auch weiter unten in diesem Kap. (IV.). Bei Naumann, Österreich, S. 135, wird der „Discursus Politicus“ in der Ausgabe von 1727 nur kurz erwähnt und als Aufforderung an die Katholiken interpretiert, brandenburg-preußische Ambitionen auf Jülich-Berg mit aller Macht zu verhindern. Naumann behauptete allerdings auch mit Verweis auf die Berichte der kaiserlichen Prinzipalkommission, dass der Regensburger Stadtsekretär Büchner die Schrift verfasst habe, den der Kaiser dafür bestraft hätte (Naumann, Österreich, S. 135, Anm. 12). Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 279–280, bezieht sich auch auf diese Angabe und schreibt die Autorschaft ebenfalls dem Regensburger Stadtsekretär Büchner zu, klassifiziert die Schrift aber gleichzeitig als katholische Streitschrift. Die Frage, weshalb ein Stadtschreiber einer evangelischen Reichsstadt eine anti-preußische und dezidiert pro-katholische Streitschrift verfasst haben sollte, bleibt dabei offen. 98 Lieberwirth, Thomasius, S. 127, waren somit offenbar weder die Forschungsdiskussion zum „Stralendorfschen Gutachten“ aus dem 19. Jahrhundert noch die Erkenntnisse Klinkenborgs bekannt. Vielmehr missinterpretiert Lieberwirth den Diskurs, indem er ihn nicht als ironische Streitschrift begreift. 99 Ebd. Bemerkenswert ist angesichts der offenbar ironischen Figuren des angeblichen „Gasthofs zum Kardinalshut“ und des dort ansässigen Perückenmachers als Hüter des Preisgeldes auch die Schlussfolgerung von Lieberwirth, dass der Verfasser des Vorwortes über eine sehr gute Kenntnis Münchens verfügt haben müsse (ebd.). 100 So Duchhardt, Protestantisches Kaisertum, S. 281. 97
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Politicus“ nichts von einer authentischen katholischen Warnung vor angeblichen brandenburgischen Ambitionen auf ein protestantisches Kaisertum herauslesen – auch nicht „zwischen den Zeilen“.101 3. Die Ausgabe des „Discursus Politicus“ von 1727 Betrachtet man die politische Situation des Jahres 1727, ist es in der Tat kaum verwunderlich, dass der Discursus gerade in diesem Jahr eine Neuauflage erfuhr.102 Der Wusterhausener Vertrag zwischen Friedrich Wilhelm I. und dem Kaiser war zwar geschlossen worden, aber es war bereits klar, dass die darin getroffenen Vereinbarungen aufgrund der erfolglosen Verhandlungen mit den Häusern Pfalz-Neuburg und Pfalz-Sulzbach vermutlich niemals ratifiziert werden würden und Brandenburg-Preußen somit 1727 zwischen den beiden europäischen Bündnissystemen stand. Zu diesem Zeitpunkt war es noch völlig offen, auf welche Seite sich der preußische König schließlich stellen würde; und am Berliner Hof existierte eine durchaus starke pro-englische Partei. Ilgen, der 1718 Thomasius mit der Publikation des „Discursus“ beauftragt hatte, stand auch 1727, ein Jahr vor seinem Tod, noch eindeutig an der Spitze der brandenburg-preußischen Außenpolitik. Dass er zumindest kein uneingeschränkter Befürworter einer engen Bindung an den Kaiser war, verdeutlichen sowohl der Verhandlungsverlauf der Jahre 1726 bis 1728 als auch die Berichte Seckendorffs. Ob Ilgen auch 1727 der Auftraggeber für die Neuauflage des „Discursus“ war, lässt sich jedoch einstweilen nicht beantworten. Es spricht jedenfalls viel dafür, dass auch diesmal der Impuls von Brandenburg-Preußen ausging (wenngleich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohne Mitwirkung oder Wissen des Monarchen) und die Veröffentlichung höchstwahrscheinlich von Anhängern der englisch-hannoverischen Partei am Berliner Hof lanciert worden war. Die zeitgenössischen Reaktionen auf die Publikation des „Discursus Politicus“ sind für die Auflage von 1727 wesentlich besser überliefert als für die Ersterscheinung im Jahr 1718, vermutlich auch deswegen, weil die Auflage 1727 höher war bzw. das Werk an unterschiedlichen Orten nachgedruckt wurde. Während der „Discursus Politicus“ auch und gerade in der evangelischen Publizistik teilweise erneut als anti-preußisches Pamphlet missverstanden wurde,103 erkannte man auf kaiser licher Seite 1727 die eindeutig diffamierende Absicht der Schrift – sowie die Gefahr, 101 Ebd. Es bleibt unverständlich, wie Duchhardt überhaupt zu dem Schluss kommen konnte, die Publikation von 1727 sei eine katholische Streitschrift, wenn er selbst auf die Forschungsergebnisse von Stieve und Meinecke verweist und damit auf die Tatsache, dass es sich bei dem angeblichen „Stralendorfschen Gutachten“ um eine Fälschung des 17. Jahrhunderts handelte, die eben gerade nicht aus Wien stammte, sondern vielmehr von einem, wenn nicht brandenburgischen, so doch fraglos pro-brandenburgischen Autor verfasst worden war. 102 Zum Folgenden vgl. Kap. E. IV. 4.–E. IV. 5. 103 So etwa der Bericht über den „Discursus Politicus“ im „Europäischen Mercurius“ von 1727. Laut dem „Europäischen Mercurius“ protestierte sogar der brandenburg-preußische Reichstagsgesandte gegen die Publikation; vgl. Koopmans, Glorification, S. 156.
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die davon für ein preußisch-kaiserliches Bündnis ausging – und ging umgehend dagegen vor. In Regensburg wurde die kaiserliche Prinzipalkommission bereits im Oktober 1727 aktiv, also noch im selben Monat, in dem der „Discursus“ in Regensburg in den Verkauf kam.104 Die Prinzipalkommission bemühte sich in den folgenden Wochen intensiv um Informationen, die Hinweise auf den oder die Auftraggeber bzw. den Autor des Werkes geben könnten.105 Auch lassen sich, anders als für das Jahr 1718, für die zweite Auflage zumindest zwei direkt auf den „Discursus“ bezogene publizistische Reaktionen ermitteln, die im Folgenden eingehender betrachtet werden sollen – auch weil sie, wie der „Discursus“ selbst, unter den zeitgenössischen Lesern wie auch in der Forschung für weitere Verwirrung sorgten: Nach der zweiten Auflage des „Discursus Politicus“ erschienen noch im selben Jahr zwei publizistische Reaktionen: eine kurze Antwort unter dem Titel „Beyläuffige Meynung“106 sowie eine ausführliche Kritik, als „Eilfertige Abfertigung“ überschrieben.107 Beide Erwiderungen wurden anonym und ohne Angabe des Druckortes bzw. Verlages publiziert und zirkulierten 1727 offenbar in relativ hoher Auflage unter anderem in Regensburg. Wenngleich beide Schriften den Verfasser des „Discursus“ deutlich kritisieren, unterscheiden sie sich untereinander doch in Bezug auf den Stil und vermutlich auch die dahinterstehende politische Absicht ganz erheblich. Der Verfasser der „Beyläuffigen Meynung“ geht zumindest im ersten Teil seiner Erwiderung stilistisch auf seine Vorlage insofern ein, als er sich zunächst über die Ruhmsucht des Herausgebers des Discursus lustig macht und ebenfalls einen ironisch-konfessionalisierenden Ton anschlägt:108 Er frage sich, ob der Herausgeber nicht lieber selbst jene 7000 Gulden besitzen würde, die sein Urgroßvater seinerzeit für die Abfassung des Gutachtens erhalten habe. Aber jene Reichtümer seien wohl nur noch „Tradition“ – vielleicht seien sie aber auch als solche in das in München hinterlegte Preisgeld eingeflossen? „[…] soferne sie durch die Länge der Zeit nicht etwann auch fort gegangen / oder nur gar wie das gantze Capital zur Tradition worden / welche Traditiones redlich bey denen Catholicis ein glauben finden könnten / aber von Evangelicis nicht geachtet werden / weil sie nur allein auf den Text halten“. Ganz den evangelischen Prioritäten folgend, widmet sich der Verfasser im Folgenden dem eigentlichen Haupttext, also dem Gutachten, und zwar – so erscheint es dem Leser zumindest – durchaus ernsthaft und aus der Perspektive eines moralisch argumentierenden Protestanten: Man dürfe zwar davon aus 104
Vgl. Droysen, Gutachten, S. 412. Dazu ausführlich weiter unten. 106 Beyläuffige Meynung / Von denen ohnlängst unter denen Herrn Catholischen roullirenden Discursu Politico et Consilio Catholico Politico …, o. O. 1727; im Folgenden zitiert als: Bey läuffige Meynung. 107 Eilfertige Abfertigung Des Zu Wien discursierenden Editoris, von demjenigen Consilio-Politico, welches 1609 von einem eyffrigen Catholischen Politico […] verfertiget, und anjetzo dieses 1727ste Jahr wiederum zum Druck befördert worden, o. O. o. J. [1727]; im Folgenden zitiert als: Eilfertige Abfertigung. 108 Auch zum Folgenden: Beyläuffige Meynung. Die Druckschrift ist unpaginiert, deswegen wird im Folgenden auf weitere Fußnoten verzichtet. 105
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gehen, dass dieses Gutachten aus dem 17. Jahrhundert in zahlreichen evangelischen Archiven zu finden sei, doch könnten deswegen „dergleichen verbottene Consilia“ nicht approbiert werden, sondern lediglich dem Zweck dienen, zu demonstrieren, „wie fälschlich und ungerecht man Catholischer Seits mit Evangelischen jederzeit zu verfahren intentionieret […]“. Dass man aber ausgerechnet zum jetzigen Zeitpunkt dieses Werk wieder herausbringe, wo doch die jülich-bergische Sukzession von neuem offen sei und der Kaiserliche Hof sich „auf alle mögliche Art bemühet / durch des Königs in Preussen Majestät Alliantz sich mächtig zu machen“, spreche für die politische Unbesonnenheit des Herausgebers. Denn durch die Bekanntmachung derartiger Diskurse und Ratschläge „dürffte die gesuchte Alliantz wenig befördert / wo nicht gar rückgängig gemacht / und die Sache endlich dahin getrieben werden / daß das mächtige Hauß Brandenburg mit seinen Alliirten sich einmahl die Mühe gebe / seinen verdeckten Feinden die Spitze zu biethen“. Der Verfasser der „Beyläuffigen Meynung“ betrachtet den Discursus also als eine katholische Veröffentlichung, zieht aber nur das Vorwort ins Lächerliche. Das Gutachten selbst behandelt er als authentische Überlieferung aus dem 17. Jahrhundert, für dessen Publikation er den Herausgeber des Discursus in zweifacher Hinsicht kritisiert: Zum einen verwirft er die im Haupttext niedergelegten Grundsätze als unmoralisch und den Reichsgesetzen zuwider. Zum anderen aber spricht er dem Herausgeber jeglichen politischen Instinkt ab. Der Herausgeber könne sich doch ausrechnen, dass die Bekanntmachung dieser alten Grundsätze kaiserlicher Politik zu diesem heiklen Zeitpunkt dazu führen könnte, dass sich die vom Kaiser so erwünschte Allianz mit dem preußischen König nun zerschlage – mithin auch alle in jenem Gutachten zugrundegelegten Ratschläge nicht mehr zum Tragen kommen würden, sondern das Haus Brandenburg sich vielmehr gegen Wien wenden könnte. Die Wortwahl, mit der diese Möglichkeit umschrieben wird, verdeutlicht allerdings, dass dem Verfasser der „Beyläuffigen Meynung“ eine solche Entwicklung an sich wünschenswert erscheint: „[…] durch Einsendung aber der gleichen politischen Discursen und Staats-Consilien dürffte die gesuchte Alliantz wenig befördert / […] und die Sache endlich dahin getrieben werden / daß das mächtige Hauß Brandenburg mit seinen Aliierten sich einmahl die Mühe gebe / seinen verdeckten Feinden die Spitze zu biethen […].“ Und auch der Nachsatz des Textes, der als Analogie zum Schlusswort des angeblichen katholischen Gutachtens fungiert, lässt keinen Zweifel daran, dass der Verfasser die „evangelische Sache“ verteidigt: Die Protestanten hätten sich aber auf derartig gottlose Ratschläge nie eingelassen, sondern vielmehr nach ihren gerechten politischen Grundätzen: „Fürchte Gott / thue recht / und scheue niemand“ gehandelt und sich so und dank göttlicher Hilfe vor allen widrigen Umtrieben zu schützen vermocht. Die „Beyläuffige Meynung“ kommt also letztlich zu dem Schluss, zu dem auch ein protestantischer Leser des „Discursus“ kommen sollte, und zwar unabhängig davon, ob er das Vorwort als ironisch interpretierte oder nicht: Die im Haupttext zugrunde gelegten politischen Maximen seien verabscheuungswürdig und deckten endlich einmal die wahren, maßgeblich unter jesuitischen Einflüssen entstande-
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nen Absichten auf, die das Kaiserhaus gegen die Protestanten im Allgemeinen und gegen das Haus Brandenburg im Besonderen verfolgte. Angesichts dessen sollte eine Allianz zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaiser als eine unnatürliche Verbindung erscheinen, aus der dem preußischen König vermutlich nur Nachteile erwüchsen. Wo der „Discursus“ ironisch und mehrfach gewunden argumentiert, mithin diese Folgerungen mit keinem Wort explizit macht, sondern es ganz dem Leser überlässt, die „richtigen“ Schlüsse zu ziehen, spricht die „Beyläuffige Meynung“ die Kritik direkt aus. Hier spricht ein aufrechter und ehrlich empörter Protestant, der sich lediglich wundert, dass der Herausgeber des „Discursus“ so dumm sein konnte, derartige Enthüllungen just zu diesem Zeitpunkt zu publizieren und so sein eigentliches Ansinnen vermutlich selbst zu konterkarieren. Somit spricht viel dafür, dass es sich nur scheinbar um eine echte Entgegnung handelte und tatsächlich der Verfasser der „Beyläuffigen Meynung“ selbst die politische Absicht, die hinter der erneuten Publikation des Discursus stand, erkannt hatte oder tatsächlich kannte. In jedem Fall verfolgte er dieselben politischen Motive wie diejenigen, die 1727 eine erneute Auflage des „Discursus“ veranlasst hatten. Ja, man könnte die „Beyläuffige Meynung“ sogar als eine Schrift charakterisieren, die dem Discursus gewissermaßen an die Seite gestellt wurde, um all denjenigen Lesern, denen es schwerfiel, den stilistisch äußerst anspruchsvollen Discursus einzuordnen, eine von der ärgsten Ironie und den missverständlichsten Verdrehungen bereinigte Version desselben Angriffs auf den Kaiser – und auf eine mögliche preußisch-kaiserliche Allianz – zu liefern. Die zweite Erwiderung auf den Discursus erschien in der Form einer umfangreichen Auseinandersetzung und konsequenten Widerlegung insbesondere des Vorwortes des Discursus.109 Der Verfasser der „Eilfertigen Abfertigung“ nahm den Discursus offensichtlich ernst, zumindest hinsichtlich des eigentlichen Ziels seiner Veröffentlichung, das er darin sah, den kaiserlichen Hof zu überzeugen, bei der bevorstehenden Allianz Brandenburg-Preußen wegen Jülich und Berg nicht zu viele Zugeständnisse zu machen, „und gegen Preussen so [zu] simuliren, daß man dessen Dienste sich zur Catholischen Aufnehmen und zur Evangelischen Unterdrückung bedienen könnte“. In Zweifel zog er dagegen mit Verweis auf die Anonymität des Herausgebers dessen angebliche Verwandtschaft zum Autor des Haupttextes. Ausgehend von der Erklärung des Herausgebers des „Discursus“, mit der Publikation des „wahrhaften Originals“ die Ehre seines Vorfahren und der katholischen Religion retten zu wollen, fragt der Verfasser der „Eilfertigen Abfertigung“ zunächst nach der Veranlassung zu einer derartigen „Ehrenrettung“. Denn eine solche sei ja nur dann notwendig, wenn die Katholiken im Reich und insbesondere die Kaiser die im Discursus und im ursprünglichen Gutachten angeführten Grundsätze und Ratschläge auch tatsächlich befolgt hätten – was aber glücklicherweise niemals der Fall gewesen sei. Im Folgenden bemüht sich der Verfasser, mit zahlreichen Bibelstellen die Aussagen des Vorwortes zu widerlegen. So bezieht er sich auf die Lehre des Neuen 109
Zum Folgenden: Eilfertige Abfertigung. Auch diese Druckschrift ist unpaginiert, deswegen wird im Folgenden auf weitere Fußnoten verzichtet.
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Testaments, nach der das Wort Gottes nur durch Lehren und Predigen verbreitet werden könnte. Die Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit und Toleranz aber hätten schließlich auch die Katholiken im Reich als richtig erkannt und im Religionsfrieden zugesichert, einen jeden bei seiner Gewissensfreiheit zu belassen. Ausführlich rühmt der Verfasser die Errungenschaften der Reichsverfassungsgeschichte bis zum Westfälischen Frieden, der die Gewissensfreiheit endgültig festschrieb. Könnte man bis zu diesem Punkt als Autor der „Eilfertigen Abfertigung“ einen Katholiken vermuten, wird im zweiten Teil der Abhandlung rasch deutlich, dass es sich zwar um einen glühenden Reichspatrioten handeln musste, aber genauso fraglos um einen durchaus selbstbewussten Protestanten. Denn der Verfasser gibt weiter zu bedenken, wie zu Beginn jenes Weges, an dessen Ende im Reich der „ewig und immerwährende Religions Frieden“ stand, die Katholiken in der Tat heftig und auch mit Krieg und Gewalt für den unbedingten Primat der römischen Kirche gestritten hätten. Und immer noch würden wohl nicht nur die Jesuiten dergleichen Thesen, wie sie das Vorwort des Discursus aufstelle, vertreten. Doch viele Mitglieder der katholischen Kirche hätten derartige Prinzipien schon lange verworfen. Nichtsdestoweniger ist es dem Verfasser der „Eilfertigen Abfertigung“ darum zu tun, insbesondere der vom Autor des Vorwortes gemachten Gleichstellung von Heiden oder von Gott abgefallenen Gläubigen mit den Evangelischen entgegenzutreten. Den Evangelischen werde „in Ewigkeit kein Abfall von Gott und seinem Worte dazuthun [sein]“, vielmehr dürfe sich „die Evangelische Kirche allein“ rühmen, „daß sie das wahre Wort Gottes ohne allen irrigen und Menschlichen zusatz und Traditiones vor die Regul und Richtschnur des Glaubens hält.“ Das Schisma aber habe die katholische Kirche verursacht, indem sie in vielen Punkten vom Wort Gottes und der Praxis der Urkirche abgegangen sei. Schließlich aber könne auch der Verfasser des Vorwortes aus all seinen Beispielen keine Überlegenheit der katholischen Kirche über die Evangelischen ableiten. Man solle es doch ruhig auf ein allgemeines christliches Consilium ankommen lassen. Indessen, so schließt er seine Ausführungen, seien die Evangelischen „von allen böswilligen Rathschlägen frey und überlassen die Geistliche Tyranney der Römischen Kirche …“. Der Verfasser der „Eilfertigen Abfertigung“ schien die im Vorwort des „Discursus“ entwickelten Grundsätze also durchaus ernsthaft widerlegen zu wollen. Darauf deutet auch eine kuriose Angabe in der „Bibliotheca Historica Brandenburgica“ hin, nach der der Verfasser der „Eilfertigen Abfertigung“ tatsächlich das im Vorwort des „Discursus Politicus“ ausgelobte Preisgeld eingefordert habe. Zwar sei der Verfasser mit diesem Versuch gescheitert, er habe aber schließlich (gleichsam zum Ausgleich für das vorenthaltende Geld) als Lohn für seine Erwiderungsschrift die Doktorwürde der Universität Halle verliehen bekommen.110 Ob diese Angabe korrekt ist oder nicht – die „Eilfertige Abfertigung“ beweist mithin, dass das ironische Vorwort offensichtlich bei den zeitgenössischen Lesern zu Missverständnissen führte. Derartige Entgegnungen sicherten allerdings dem „Discursus“ selbst nur 110
Vgl. Küster, Bibliotheca Historica Brandenburgica, S. 672–673.
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eine umso größere öffentliche Aufmerksamkeit. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die kaiserliche Seite sämtliche mit dem „Discursus Politicus“ verbundenen Veröffentlichungen verbieten und die Prinzipalkommission gleichermaßen gegen alle mutmaßlichen Autoren und Verleger vorgehen ließ. Sowohl der „Discursus“ als auch die beiden Erwiderungen waren 1727 in Regensburg gedruckt zu erhalten, und die kaiserliche Prinzipalkommission begann im Oktober, indem sie verschiedene, an Druck und Verkauf beteiligte Personen, verhörte, Licht in das Dunkel ihrer Entstehung zu bringen. Demgegenüber bemühten sich alle Befragten, die Hintergründe so gut es irgend ging zu verschleiern.111 Als erster wurde der Buchdrucker aus dem fränkischen Stadt am Hof, namens Hanck vernommen. Dieser gab an, den „Discursus“ nicht selbst gedruckt, sondern lediglich die ihm anonym aus Ingolstadt zugesandten rund 400 Exemplare zum Verkauf angenommen zu haben, nannte aber schon bald unter dem Druck der kaiserlichen Beamten den Regensburger Stadtschreiber Büchner als seinen Auftraggeber, von dem er auch das Manuskript erhalten haben wollte.112 In der Folge wurde auch der Stadtschreiber einbestellt.113 Der daraufhin verhörte Stadtschreiber Büchner leugnete allerdings ebenfalls, den Auftrag zum Druck des „Discursus“ gegeben zu haben. Vielmehr, so gab Büchner an, habe der Buchdrucker Hanck das Manuskript, das tatsächlich in seiner eigenen Schreibstube herumgelegen habe, einfach mitgenommen und auf eigene Verantwortung gedruckt. Auf die Frage, wie er, Büchner, denn überhaupt an den Traktat gekommen sei, führte der Stadtschreiber eine ganze Reihe von Lakaien verschiedener evangelischer Gesandter an, durch deren Hände der „Discursus“ zunächst in den Besitz seines persönlichen Schreibers und so schließlich auf seinen eigenen Schreibtisch gelangt sei. Als der Buchdrucker Hanck daraufhin ein zweites Mal zum Verhör vor den Prinzipalkommissar geladen wurde, musste er zwar einräumen, tatsächlich selbst den „Discursus“ gedruckt zu haben; er widersprach aber den Angaben Büchners und wies erneut dem Stadtschreiber als dem Auftraggeber die alleinige Verantwortung für die Veröffentlichung des „Discursus“ zu.114 Büchner habe ihn auch angewiesen, den Text anonym und unter falscher Orts- und Verlagsangabe (Ingolstadt, Stuhlwagen) zu publizieren. Bei dieser Gelegenheit sagte Hanck auch aus, bereits in der Vergangenheit, insbesondere im Zusammenhang der evangelischen Pläne zu einer Kirchenunion, vom Regensburger Stadtschreiber verschiedene Aufträge zum Druck einschlägiger Traktate angenommen zu haben. Konfrontiert mit diesen Aussagen musste auch Büchner bei seiner nächsten Befragung zugeben, tatsächlich den Nachdruck des „Discursus“ und verschiede 111
Zum Folgenden: Akten der Prinzipalkommission. Ebd., Relation vom 12.12.1727, Lit. D, Nr. 105145–105146. 113 Zum Folgenden: Ebd., Relation vom 12.12.1727, Lit. E, Nr. 105149–105153. 114 Auch zum Folgenden: Ebd., Relation vom 12.12.1727, Lit. F, Nr. 105155–105163. 112
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ner anderer Traktate in der Vergangenheit bei Hanck veranlasst zu haben.115 Da es sich aber sämtlich um Nachdrucke gehandelt habe, verfüge er in allen diesen Fällen über kein einziges Manuskript, noch kenne er die Namen der Autoren. Der Prinzipalkommission waren zu diesem Zeitpunkt auch die beiden gedruckten Erwiderungen auf den „Discursus“ bekannt; nach diesen befragt, erklärte Büchner, zumindest auch für die „Beyläuffige Meynung“ den Druckauftrag erteilt zu haben, und zwar erneut an den Buchdrucker Hanck. Wie schon im Falle des „Discursus“ machte Büchner allerdings keine verwertbaren Angaben zur jeweiligen Autorenschaft, noch sah er sich im Stande, ein Manuskript auszuhändigen. Im Falle der „Beyläuffigen Meynung“ gab Büchner allerdings an, ein Advokat namens Horneck habe ihm die Schrift ins Haus gebracht;116 ob dieser auch der Autor sei, könne er aber nicht sagen. Das Manuskript wiederum habe er, Büchner, nach der Veröffentlichung vom Buchdrucker Hanck zwar wieder zurückerhalten, danach habe er es aber leider verlegt. Nachdem Büchner einmal den Advokaten Horneck ins Spiel gebracht hatte, schrieb er diesem auch gleich die eigentliche Verantwortung für die Veröffentlichung der „Beyläuffigen Meynung“ zu: Er, Büchner, habe diese Schrift nur auf Hornecks Versicherungen hin drucken lassen, dass es damit nichts weiter auf sich habe. Der Brisanz dieser Schrift – und derjenigen des „Discursus Politicus“ selbst – sei er sich niemals bewusst gewesen. In der Folge wurde Büchner auch noch nach der „Eilfertigen Abfertigung“ befragt. Der Stadtschreiber musste auch in diesem Fall einräumen, dass diese Schrift nicht, wie noch zuvor von ihm behauptet, in Altdorf gedruckt worden sei, sondern in Regensburg bei einem Buchdrucker mit Namen Lenz. Ansonsten aber gab Büchner sich auch hinsichtlich der „Eilfertigen Abfertigung“ unwissend und verwies auf den Buchdrucker Lenz bzw. erneut auf Horneck. Von Lenz habe er gehört, dass Horneck der Autor sei und dass die Gesandten von Kurbraunschweig und Kurbrandenburg die Publikation befürwortet hätten.117 Horneck habe bereits im Zusammenhang des so genannten „Thorner Blutgerichts“ einige Schriften verfasst. Im weiteren Verlauf des Verhörs musste Büchner zugeben, dass er beide Buchdrucker nach seiner eigenen ersten Befragung versucht hatte dahingehend zu beeinflussen, dass sie keine Aussage über die Autoren jener Traktate machen sollten.
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Auch zum Folgenden: Ebd., Relation vom 12.12.1727, Lit. G, Nr. 105165–105184. Zu Horneck vgl. weiter unten. 117 Küster, Bibliotheca Historica Brandenburgica, S. 672–673, nennt als Autor der „Eilfertigen Abfertigung“ einen Regensburger Advokaten namens „Hernicus“, woraus dann Droysen, Gutachten, S. 414, „Hernicke“ machte. Aus dem in den hier zitierten Akten genannten Namen „Horneck“ ist vermutlich die fehlerhafte Angabe in manchen Bibliothekskatalogen hervorgegangen, wonach die „Eilfertige Abfertigung“ Ludwig von Hörnigk (1600–1667) zugeschrieben wird, der wiederum tatsächlich auch teilweise „Horneck“ geschrieben wurde. Ob es sich bei dem von Büchner genannten Advokaten Horneck um einen Nachkommen Hörnigks handelte, scheint eher zweifelhaft, da der Autor der „Eilfertigen Abfertigung“ eindeutig Protestant war. Hörnigk konvertierte aber 1647 zum Katholizismus, und somit waren vermutlich auch seine Kinder katholisch; zu Ludwig von Hörnigk vgl. Teichmann, Hörnigk. 116
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Nun wurde auch der Buchdrucker Lenz aus Regensburg einbestellt und mit diesen Aussagen Büchners konfrontiert. Lenz bestätigte vieles, widersprach Büchner aber auch in einigen Punkten:118 Lenz gab tatsächlich Horneck als Autor der „Eilfertigen Abfertigung“ an, berichtete allerdings auch davon, dass Büchner in die Veröffentlichung von Anfang an involviert gewesen sei und ihn, Lenz, auch „umb das blut Christi willen“ beschworen habe, Horneck nicht zu verraten.119 Der letztere befinde sich nun auf der Flucht. Dafür aber trage auch hauptsächlich Büchner die Verantwortung, der den armen Horneck mit seiner eigenen Angst vor einer Strafverfolgung ganz irre gemacht habe. Schließlich wurde auch noch die Ehefrau des Buchdruckers Lenz einbestellt, doch auch ihre Aussage förderte nichts Neues zu Tage. Die Ehefrau des Advokaten Horneck wiederum, die sich nach wie vor in Regensburg aufhielt, ließ sich mit ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft entschuldigen und erklärte, sie wisse selbst nicht, wo sich ihr Gatte derzeit aufhalte.120 Laut den Protokollen wurden die Buchdrucker bis auf weiteres auf freien Fuß gesetzt, während der Stadtsekretär Büchner in Arrest blieb und vermutlich auch eine Strafe erhielt.121 Die intensiven Nachforschungen der kaiserlichen Prinzipalkommission über die Ursprünge des „Discursus“ und der beiden gedruckten Erwiderungen verdeutlichen, dass der Kaiserhof im Jahr 1727 daran interessiert war, derartige Veröffentlichungen zu unterbinden. Vergleichbare Bemühungen sind für die Veröffentlichung des „Discursus“ im Jahr 1718 nicht überliefert; allerdings hat die Schrift damals vermutlich aufgrund der geringeren Auflage und des fehlenden publizistischen Echos auch weniger öffentliche Aufmerksamkeit gefunden. Entscheidend wird aus kaiserlicher Perspektive aber wohl der Zeitpunkt gewesen sein: Angesichts der außenpolitischen Lage, in der sich der Wiener Hof Ende 1727 befand und insbesondere mit Blick auf die fast abgeschlossenen Allianzverhandlungen in Berlin musste die Veröffentlichung des „Discursus Politicus“, der durch jede publizistische Erwiderung (zumal, wenn eine solche den Haupttext als authentisches Gutachten vom Kaiserhof des 17. Jahrhunderts ernst nahm) noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zog, als gefährliches politisches Störfeuer wahrgenommen werden. Trotz der eingehenden Befragung der an den verschiedenen Veröffentlichungen mutmaßlich beteiligten Personen sollte es der Regensburger Prinzipalkommission aber weder gelingen, den Ursprung des „Discursus“ zu eruieren, noch des oder der Autoren der beiden Folgepublikationen habhaft zu werden. Geht man davon aus, dass auch die Neuauflage des „Discursus“ von 1727 in Berlin veranlasst worden war, standen die Chancen der Prinzipalkommission, die Auftraggeber des „Discursus“ herauszufinden, von Vorneherein nicht besonders gut. Bereits 1718 war das brandenburg-preußische Kabinett um äußerste Geheimhaltung bemüht gewesen und 118 Auch zum Folgenden: Akten der Prinzipalkommission, Relation vom 12.12.1727, Lit. G, Nr. 105165–105184, hier: Nr. 105177–105181. 119 Ebd., Zitat Nr. 105179. 120 Ebd., Nr. 10581–105184. 121 Ebd., Relation vom 12.12.1727, Lit. K, Nr. 105187–105193.
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hatte selbst den eigenen diplomatischen Vertretern die Hintergründe der Publi kation bewusst verschwiegen – und dadurch sogar in Kauf genommen, dass diese von den Geheimen Räten selbst in Auftrag gegebene Veröffentlichung von vielen Lesern missinterpretiert wurde und sogar in den Fokus des eigenen Fiskals geriet. Insofern spricht vieles dafür, dass die 1727 in Regensburg befragten Zeugen tatsächlich über die beiden Erwiderungsschriften mehr wussten als über die Entstehung des „Discursus“ selbst. 4. Die Ausgabe des „Discursus Politicus“ von 1759 Im Jahr 1759, gewissermaßen auf der Höhe des Siebenjährigen Krieges, wurde der „Discursus Politicus“ noch einmal neu aufgelegt, diesmal allerdings mit einem aktuellen „Avertissement“ versehen, das sich an das von Thomasius verfasste Vorwort von 1718 anschloss.122 Wie auch die vorherigen Ausgaben erschien der „Discursus“ 1759 anonym, allerdings diesmal unter der – vermutlich korrekten – Angabe des Druckortes „Regensburg“ und mit dem Zusatz, das neue Vorwort sei „gegeben zu Würtzburg am Tage S. Petronellae Catholicae“,123 also am 31. Mai 1759.124 Das „Avertissement“ behielt den Stil des Vorwortes von 1718 bei, überzeichnete die ironischen Figuren allerdings noch wesentlich stärker. Der aktuelle Herausgeber gibt sich darin als Sohn des Herausgebers von 1718 aus und somit als Ur-Ur-Enkel des Verfassers des so genannten „Stralendorfschen Gutachtens“. Auch der Anlass für die Neuauflage wird parallel zur Publikation von 1718 begründet: Zwar habe Lünig in seiner neuen Sammlung, den „Selecta scripta illustria“ von 1723, seinen früheren Fehler korrigiert und endlich den vollständigen Text des alten Gutachtens aufgenommen; allein die „vortreffliche Vorrede“ seines Vaters, habe Lünig – als Lutheraner natürlich vorsätzlich – ausgelassen und somit dazu beigetragen, dass das Vorwort mitsamt der ausgesetzten Prämie bei den „Calvinischen und Lutherischen Ketzern“ bisher kaum bekannt geworden sei.125 Aus diesem Grunde hätten sich der jetzige Herausgeber sowie dessen zahleiche Geschwister als Erben ihres Vaters („nach eifrigst geschehener Anruffung der heil. Jungfrau Maria, und aller übrigen Heiligen, so namentlich hier anzuführen, der Platz zu enge ist“)126 entschieden, den Text neu aufzulegen und gleichzeitig den „Ketzern“ eine letzte Frist von drei Monaten einzuräumen, um die Argumente ihres Vaters zu widerlegen. Bis zu diesem Zeitpunkt müssten sich die potentiellen Disputanten bei einem bekannten „Notario caesareo publico“, „Herrn Georgio Mathis Josepho April“, in Regensburg melden und diesem eine „in einem deutlich verständlichen Dialect und gewöhnlichen Reichs-Hof-Raths-Stilo abgefaßte“ Widerlegung über 122
Discursus Politicus 1759, S. 12–16. Ebd., S. 16. 124 Vgl. Droysen, Gutachten, S. 417, Anm. 13. 125 Discursus Politicus 1759, S. 13. 126 Ebd., S. 14. 123
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geben. Im Übrigen werde dann entsprechend dem von seinem Vater festgelegten Prozedere verfahren, und der Notar April werde die nach wie vor „in heilig guter Verwahrung“ sich befindlichen 100 Dukaten auszahlen.127 Sollte aber – wie es der Verfasser des „Avertissement“ voraussieht – während der dreimonatigen Frist keine satisfaktionsfähige Widerlegung eingereicht werden, so würde das Preisgeld an die „gantz neulichst unvermuthtet plötzlich von ihrer Mission und Pilgramschaft aus Paragual und Portugall glücklich hier eingelangte Herren Patres spririt. Societatis Jesu völlig zugestellet und ausgezahlet“, auf dass sich die Patres nach ihrer langen und beschwerlichen Reise wieder „etwas laben und erquicken“ könnten.128 Der Verfasser und die übrigen Erben seines Vaters hätten zudem festgesetzt, dass aus ihren eigenen Mitteln der berühmte Herr Notar April für seine zahlreichen Mühen belohnt werden solle.129 Der Text schließt mit einer gewissen, wenngleich erneut ironisch gedrehten Analogie zum Ende des „Stralendorfschen Gutachtens“: Die Jungfrau Maria möge die „echt Catholische“ Absicht seiner Vorfahren und seiner selbst „dergestalt wundertätig seegnen“, dass das Haus Österreich weiter wachse, und damit zur weiteren Verherrlichung der katholischen Religion beitrage.130 Wie schon 1718 bzw. 1727 diente auch dieses zusätzliche Vorwort dazu, den aktuellen Bezug zum Haupttext, dem „Stralendorfschen Gutachten“, herzustellen. Dabei setzte der anonyme Herausgeber und Verfasser des „Avertissements“ noch wesentlich mehr auf eindeutig ironische Stilmittel als Thomasius dies seinerzeit getan hatte. So ist bereits die natürlich fiktive Vorstellung des Verfassers des neuen Vorwortes als Sohn des Herausgebers von 1718 im Sinne einer weiteren Betonung dieser ironischen Figur zu verstehen: Denn der angebliche Herausgeber von 1718 hatte sich in seiner Vorrede unmissverständlich als Jesuit ausgegeben – nun aber, rund zwanzig Jahre darauf, beschlossen also „sämtliche Erben“ ihres „wohlseel. Herrn Vaters“ eine Neuauflage seines Werkes. Besonders aber durch die zahlreichen Anspielungen auf die aktuelle politische Situation wird das zeitgenössische Publi kum den „Discursus“ von 1759 vermutlich wesentlich einfacher und eindeutiger als anti-kaiserliche satirische Streitschrift erkannt haben als im Falle der früheren Auflagen von 1718 und 1727. Sowohl die vom Herausgeber gesetzte dreimonatige Frist als auch die Figur des kaiserlichen Notars mit Namen April und schließlich die Angabe zur Veröffentlichung „am Tage S. Petronellae Catholicae“ spielten offensichtlich auf das Achtverfahren gegen Friedrich II. an:131 Vom 31. März 1757 datierte der Antrag auf Einleitung des Achtprozesses gegen Friedrich II., den der Reichshoffiskal beim Reichshofrat einen Tag später, also am 1. April eingereicht hatte. Unterm 18. Juli und noch einmal unterm 22. August war an den preußischen König, nachdem sich dessen 127
Ebd. Ebd., S. 15. 129 Ebd. 130 Ebd., S. 16. 131 Zum Folgenden vgl. Meyer, Plan, S. 70–71; Koch, Reichstag, S. 61–64. 128
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militärische Lage entschieden verschlechtert hatte, eine Vorladung vor den Reichshofrat ergangen. Binnen einer Frist von drei (bzw., nach einer nochmaligen Aufforderung, von zwei) Monaten sollte sich der König oder ein Bevollmächtigter vor dem kaiserlichen Gericht zu den Vorwürfen äußern. In Regensburg wurde der kaiserliche Notar, der in der Tat Georg Matthias Aprill hieß, Anfang Oktober 1757 angewiesen, dem brandenburg-preußischen Reichstagsgesandten Erich Christoph von Plotho132 die Ladung zu übergeben, wobei es angeblich zu einer heftigen Szene zwischen dem Notar und dem Gesandten kam.133 Jedenfalls wurde die Szene in der Folge von der brandenburg-preußischen Kriegspropaganda weidlich ausgeschlachtet: Als „Aprilscherz“ ließ Plotho am 1. April 1758 durch seinen Legationssekretär einen Kupferstich verkaufen, der den Notar Aprill mit der Achts-Anklageschrift in der Hand abbildete.134 Die verschiedenen Datierungen und Fristen, die das Vorwort nennt, spiegelten mithin die Schritte des tatsächlichen Achtprozesses, der wiederum im Sommer 1758 von neuem aufgenommen worden war.135 Und auch die Rolle, die der Herausgeber des „Discursus“ von 1759 dem kaiserlichen Notar zudachte, knüpfte nahtlos an die vergangenen satirischen Scherze der brandenburg-preußischen Kriegspropaganda an. Eine weitere, nicht weniger aktuelle, wenngleich auch über den unmittelbaren Kontext des Achtverfahrens hinausweisende ironische Anspielung stellte die Ankündigung dar, das voraussichtlich niemals ausgelöste Preisgeld großzügig den aus Paraguay und Portugal so „unvermuthtet plötzlich von ihrer Mission und Pilgramschaft“ zurückgekehrten Jesuiten zu spenden: Im Januar 1759 hatte der portugiesische König per Dekret die Ausweisung der Jesuiten angeordnet. Dieses Verbot der Jesuiten in Portugal war maßgeblich mit den angeblich gegen die weltliche Obrigkeit gerichteten Missionstätigkeiten der Jesuiten in den südamerikanischen Kolonien begründet worden.136 Die Bezüge, die das neue Vorwort zur aktuellen politischen Situation herstellte, ließen keinen Zweifel daran, dass die gesamte Publikation anti-kaiserlich bzw. antiösterreichisch gemeint war und aus dem brandenburg-preußischen Lager stammte, wenn sie nicht sogar direkt auf die Berliner Regierung zurückging.137 Die durch die neue Vorrede hergestellte Unmissverständlichkeit markiert mithin einen deutlichen 132 Zu Erich Christoph von Plotho und seiner Tätigkeit als brandenburg-preußischer Reichstagsgesandter vgl. zusammenfassend Rohrschneider, Österreich, S. 141–146. 133 Zur Rolle des brandenburg-preußischen Reichstagsgesandten Plotho und dessen Auseinandersetzung mit dem kaiserlichen Notar Georg Matthias Joseph Aprill vgl. ebd. S. 143, sowie die dort aufgeführte Literatur. 134 Vgl. Schort, Politik, S. 143. 135 Dazu weiter unten in diesem Kapitel. 136 Vgl. Vogel, Untergang, S. 41–49. 137 Schort, Politik, S. 12, geht davon aus, dass die meisten der fast ausnahmslos anonym veröffentlichten Streitschriften im Siebenjährigen Krieg direkt aus den Kabinetten hervorgingen oder in Auftrag bzw. mit Billigung der jeweiligen Regierungen entstanden. Zur Einflussnahme der Regierung auf das Zeitungswesen in Brandenburg-Preußen im 18. Jahrhundert vgl. ebd., S. 17, Anm. 15.
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Unterschied zu den früheren Auflagen. Allerdings wies umgekehrt der Haupttext des „Discursus“, also das „Stralendorfsche Gutachten“, wesentlich weniger eindeutige Bezüge zur Gegenwart auf, als dies in den Jahren 1718 und 1727 der Fall gewesen war. Denn die politischen Ambitionen Friedrichs II. hatten sich bekanntlich gegenüber denjenigen seines Vaters nach Osten verlagert, und die Erbrechte in Jülich und Berg spielten schon bald nach dem Regierungswechsel in der preußischen Außenpolitik praktisch keine Rolle mehr. Trotzdem bot sich das „Stralendorfsche Gutachten“ offensichtlich an, um die Reichsöffentlichkeit 1759 im brandenburg-preußischen Interesse zu beeinflussen, und schien daher für die Berliner Kriegspropaganda geeignet. Die wichtigste und naheliegendste Parallele, die der Leser zwischen dem aus dem frühen 17. Jahrhundert stammenden, angeblich am kaiserlichen Hof entstandenen Gutachten über die Jülicher Erbfolgefrage und der aktuellen politischen Kriegssituation zwischen Österreich und Brandenburg-Preußen ziehen konnte, war zunächst der Vorwurf des ungebrochenen gegenreformatorischen Eifers Österreichs bzw. die Rolle Brandenburg-Preußens als Vor- und Schutzmacht des Protestantismus im Reich – beides typische Figuren der von brandenburg-preußischer Seite betriebenen religiös argumentierenden Kriegspropaganda im Siebenjährigen Krieg.138 Das „Stralendorfsche Gutachten“ verlieh dem damals in pro-preußischen Flugschriften gängigen Vorwurf, Österreich führe nicht nur Krieg gegen den preußischen König, sondern gegen den gesamten Protestantismus im Reich, gewissermaßen die historische Tiefendimension. Zudem offenbarte das angebliche Gutachten sowohl, wie parteiisch und feindlich das Kaisertum den Brandenburger Hohenzollern gleichsam seit jeher gegenüberstand, als auch, wie skrupellos der Kaiser den Reichshofrat für die österreichischen Interessen nutzte. Beides konnte der aktuellen preußischen Propaganda gegen die Reichsexekution und das Achtverfahren am Reichshofrat an die Seite gestellt werden.139 Überdies mochte die unrühmliche Rolle, die Kur sachsen im „Stralendorfschen Gutachten“ spielte, als Rechtfertigung für den Überfall Friedrichs II. auf Sachsen gelesen werden – insbesondere in konfessioneller Hinsicht. Ein Hauptargument der sich gegen den Religionskriegs-Topos zur Wehr setzenden österreichischen Kriegspropaganda war schließlich der Verweis auf den Widerspruch zwischen der einerseits von Friedrich II. in Anspruch genommenen Rolle als Verteidiger des Protestantismus und seinem Überfall auf das älteste evangelische Kurfürstentum. Die kursächsische Kriegspropaganda stellte sich dagegen zu Beginn des Krieges eher als „Staatsopfer“ der zwischen Österreich und Branden burg herrschenden Eifersucht dar.140 Gegen beide Vorwürfe konnte nun die Geschichte, die das „Stralendorfsche Gutachten“ erzählte, insofern ins Feld geführt werden, als Kursachsen gleichsam „immer schon“ und in Wirklichkeit getrieben 138 Zum Religionskriegs-Topos und seiner Bedeutung für die Kriegslegitimation in der brandenburg-preußischen Propaganda während des Siebenjährigen Krieges vgl. Schort, Politik, S. 99–110 und passim; Fuchs, Siebenjährige Krieg, bes. S. 325–328. 139 Vgl. dazu Schort, Politik, S. 129–169. 140 Vgl. Blitz, Vaterland, S. 158.
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durch die eigene Eifersucht auf den brandenburgischen Nachbarn, selbstsüchtigen Motiven gefolgt sei, anstatt die „evangelische Sache“ zu verteidigen. Schließlich enthielt das erste Vorwort von Thomasius in Form des fiktiven Streitgesprächs zwischen dem lutherischen Kavalier und dem jesuitischen Herausgeber ein, wenngleich ironisch verdrehtes, Plädoyer für das natürliche Recht, das wiederum auch ein wichtiges Argumentationsmuster für die Legitimierung des preußischen Präventivkriegs darstellte.141 In der Zusammenschau enthielten also nicht nur das „Avertissement“ von 1759, sondern auch das Vorwort von 1718 sowie das edierte Gutachten zahlreiche jener gängigen Motive, die von der preußischen Kriegspropaganda im Siebenjährigen Krieg verwendet wurden. Das aktuelle Vorwort wiederum sorgte für einen zwar ironischen, aber als solchen doch leicht verständlichen Bezug zur gegenwärtigen politischen Situation. Aus welchen Gründen aber hatte man auf preußischer Seite nicht schon früher, genauer gesagt: zu Beginn des Ersten Schlesischen Krieges auf dieses alte und offenbar nach wie vor bekannte Schriftstück zurückgegriffen? Schließlich hätte es nahegelegen, den österreichischen Vorwurf, der preußische König habe mit dem Überfall auf Schlesien die Garantie der Pragmatischen Sanktion verletzt, mit einem Verweis auf den Geheimvertrag von 1728 zu beantworten. Damit hätte man der Öffentlichkeit darstellen können, dass die brandenburg-preußische Anerkennung der österreichischen Erbfolgeregelung seinerzeit direkt mit der Zusage des Kaisers verknüpft worden war, dass zumindest das Herzogtum Berg an Brandenburg-Preußen fallen sollte. Denn dass im Frühjahr 1738 – zur großen Erbitterung Friedrich Wilhelms I. – Österreich, Frankreich und die Seemächten in gleichlautenden Noten erklärt hatten, die wittelsbachische Erbfolge in Jülich und Berg zu unterstützen, war wiederum allgemein bekannt. Zu einer Argumentation mit dem praktischen Vertragsbruch des Kaisers aber hätte es gut gepasst, auch den „Discursus Politicus“ noch einmal aufzulegen und in dieser Situation für die preußische Kriegspropaganda zu verwenden.142 Tatsächlich hatte Friedrich II. schon Anfang Dezember 1740 in Wien und London die Warnung aussprechen lassen, dass für den Fall, dass Österreich den preußischen Einmarsch in Schlesien als Verletzung der Pragmatischen Sanktion bezeichnen und die Garantiemächte zu Hilfe rufen sollte, er seinerseits den Berliner Vertrag offenlegen würde, um das vertragsbrüchige Verhalten Karls VI. zu beweisen.143 Aber wenngleich man in Wien wirklich nur einige Wochen später Friedrich II. den Vorwurf machte, er habe die Garantie der Pragmatischen Sanktion verletzt, sah man in Berlin zunächst von dem angedrohten Schritt ab, und der Berliner Vertrag von 1728 blieb nach wie vor unter Verschluss.144 Erst nach dem Ende des Zweiten 141 Zum „Notwehr-Argument“ nach Natur- und Völkerrecht als Rechtfertigung für den preußischen Angriff auf Sachsen vgl. Schort, Politik, S. 74–75, 135. 142 Vgl. die freilich äußerst pro-preußische Darstellung bei Koser, Geschichte Friedrichs des Großen 1, S. 284–286. 143 Vgl. Mazura, Kriegspropaganda, S. 181–182. 144 Koser, Geschichte Friedrichs des Großen 1, S. 286, kritisierte, dass man in Berlin zu Beginn des Ersten Schlesischen Krieges die Veröffentlichung des Berliner Vertrages unterlassen hatte.
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Schlesischen Krieges entschloss man sich in Berlin, den Vertrag zu veröffentlichen, nachdem Österreich das Reich zur Hilfe gegen Frankreich aufgefordert hatte.145 Diese Zurückhaltung erklärt sich aus den Grundlinien der von Preußen vertretenen Kriegslegitimation im Ersten Schlesischen Krieg: In Berlin hatte man sich besonders zu Beginn des Krieges nach außen sehr darum bemüht, die eigenen Ansprüche auf Schlesien von der Frage der Rechtsverbindlichkeit der Pragmatischen Sanktion zu trennen. Während die österreichische Seite sich darauf berief, dass der preußische Angriff auf Schlesien nicht nur einen Bruch von Reichsverfassung und Völkerrecht, sondern auch der Pragmatischen Sanktion darstellte, betonte die preußische Politik stattdessen sowohl in offiziellen Stellungnahmen als auch in der Kriegspropaganda, die Pragmatische Sanktion nicht anzufechten und in Schlesien lediglich die eigenen (älteren) Rechtsansprüche zu wahren. Entsprechend stellte man in Berlin auch – unabhängig von der tatsächlich verfolgten Politik – die preußischen Gebietsforderungen als völlig unabhängig von den jeweiligen Absichten der Prätendenten auf das österreichische Erbe dar. Ziel dieser Argumentation war freilich, zu erweisen, dass damit auch die in der Garantie der Pragmatischen Sanktion festgelegte Beistandspflicht der Seemächte nicht für den preußischen Angriff auf Schlesien gelte.146 Dass die preußische Kriegspropaganda um 1740 auf eine Veröffentlichung des Berliner Vertrags von 1728 verzichtete, lag also zum einen daran, dass ein solcher Schritt nicht zu der ansonsten verfolgten argumentativen Linie, zwischen der umstrittenen österreichischen Erbfolge und den preußischen Ansprüchen auf Schlesien zu unterscheiden, gepasst hätte.147 Zum anderen war eine Bekanntmachung des Vertrags vermutlich aus Rücksicht auf Paris unterblieben, denn das kaiserlich-preußische Bündnis von 1728 hatte sich seinerzeit ja nicht zuletzt gegen Frankreich gerichtet, mit dem Preußen aber nun verbündet war.148 Die Vermeidung einer grundsätzlichen Diskussion über die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion durch Preußen erklärt mithin auch, dass eine Veröffentlichung des „Discursus Politicus“ zu diesem Zeitpunkt nicht opportun erscheinen konnte und also unterblieb, obwohl die inhaltlichen Bezüge zur aktuellen politischen Situation viel eindeutiger gewesen wären, als dies, Jahre später, für die Zeit des Siebenjährigen Krieges der Fall war.
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Vgl. Mazura, Kriegspropaganda, S. 182, Anm. 147. Ausführlich zu dieser freilich rein rhetorischen Differenzierung, die auf Friedrich II. selbst zurückgeht, vgl. ebd., S. 174–188. 147 Friedrich II. betonte, dass er in seinen Ansprüchen auf Schlesien nicht als Erbe auftrete, sondern eigene Rechtstitel besitze. Gleichzeitig zählte er Schlesien nicht zum habsburgischen Erbe und erkannte dort zudem eine weibliche Nachfolge nicht an; vgl. Mazura, Kriegspropaganda, S. 183. Damit unterschied sich also die preußische Argumentation nicht grundsätzlich von den Begründungen der übrigen Prätendenten, die ebenfalls die Rechtswirksamkeit der Erbfolgereglung für bestimmte, von ihnen beanspruchte Teile des habsburgischen Erbes bestritten und ältere Rechte ins Feld führten; vgl. ebd., S. 185. 148 Vgl. ebd., S. 182. 146
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In einer anderen und gewissermaßen grundsätzlicheren Hinsicht passte der „Discursus Politicus“ allerdings besonders gut auf die politischen Verhältnisse von 1759: Denn die Reichspolitik war insgesamt schon seit ca. 1750 – und also wie schon zu den Zeiten der Auflagen von 1718 und 1727 – wieder wesentlich stärker konfessionalisiert als noch während der 1740er Jahre. Im Siebenjährigen Krieg standen sich bekanntlich die Kriegsparteien in geschlossenen konfessionellen Blöcken gegenüber.149 Tatsächlich fiel die dritte Publikation des „Discursus Politicus“ mit dem Beginn einer neuerlichen grundlegenden verfassungspolitischen Auseinandersetzung zwischen den beiden großen Konfessionsparteien im Reich zusammen, die wiederum aufs Engste mit dem Federkrieg um das Achtverfahren gegen Friedrich II. verknüpft war:150 Nachdem sich die militärische Lage im Sommer 1757 wieder zugunsten Österreichs verändert hatte, war auch das Achtverfahren gegen Friedrich II. von Neuem aufgenommen worden.151 Man hatte in Wien zudem beschlossen, das Achtverfahren auf Kurbraunschweig und dessen Verbündete auszuweiten und die Durchführung der Acht am Reichstag per Majoritätsbeschluss und damit entgegen den Bestimmungen der kaiserlichen Wahlkapitulation durchzusetzen. Diese Entwicklungen trugen maßgeblich dazu bei, die evangelischen Reichsstände zu beunruhigen, so dass es Preußen und Hannover in der Folge gelang, erfolgreich für eine geschlossene Opposition zu werben und im November 1758 im Corpus Evangelicorum eine Itio in partes beschließen zu lassen. Nachdem man wiederum in Wien dieses Vorgehen der evangelischen Reichsstände für ungültig erklärt hatte, wurde die alte Debatte über die richtige Auslegung des Rechts zur Itio in partes mit großer Heftigkeit fortgeführt. Dabei konzentrierte sich die kaiserlich-katholische Seite wie schon in der Vergangenheit darauf, nachzuweisen, dass die Itio in partes ausschließlich für Religionsangelegenheiten vorgesehen sei und zudem innerhalb des jeweiligen Corpus durch einen einstimmigen Beschluss herbeigeführt werden müsse.152 In den Jahren 1757–1761 erschienen zahlreiche Publikationen zu dieser Thematik, die auch in einem engen Zusammenhang mit den Folgen der Konversion des hessen- kasselischen Erbprinzen standen und ihrerseits zur Zuspitzung der konfessionspolitischen Debatte beitrugen.153 Dabei traten auf evangelischer Seite der hannoveri 149
Für die Rekonfessionalisierung der Reichspolitik seit ca. 1750 und während des Siebenjährigen Krieges vgl. Haug-Moritz, Ständekonflikt, S. 163–169. In den ersten beiden Schlesischen Kriegen spielten insbesondere für die preußische Kriegslegitimation und -propaganda religiöse Argumentationsmuster praktisch keine Rolle; vgl. Mazura, Kriegspropaganda, S. 66. 150 Zu den weiteren Zusammenhängen zwischen der konfessionellen Darstellung des Krieges in der preußischen Publizistik und der grundsätzlichen Reichsverfassungsdiskussion dieser Jahre vgl. Burgdorf, Reichskonstitution, S. 133–140. 151 Zum Folgenden vgl. Rohr, Reichstag, S. 77–86. 152 Vgl. Schort, Krieg, S. 157; Haug-Moritz, Ständekonflikt, S. 166. 153 s. etwa: Beweiß, daß die bey denen Reichstäglichen Beratschlagungen […] von denen Evangelischen ergriffene Itio in partes rechtens sey […], Nebst verschiedenen neuen und wichtigen Betrachtungen und Entdeckungen über das Betragen und die Absichten des Hauses Oesterreich und seiner meisten Anhänger gegen die Evangelische Religion, o. O. 1761.
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sche Kanzleidirektor David Georg Strube, auf katholischer Seite aber der Abt von St. Emmeram, Johan Baptist Kraus, besonders hervor. Als der letztere im Sommer 1759 eine Schrift veröffentlichte, in der er eine Interpretation des Augsburger sowie des Westfälischen Friedens vertrat, welche die evangelische Religionsfreiheit zugunsten des landesherrlichen Jus reformandi zum Katholizismus konvertierter Landesherren radikal einschränkte,154 führte dies selbst unter den bislang distanzierten evangelischen Reichsständen zu einem pro-preußischen Meinungsumschwung und damit zu einer geschlossenen Opposition im Corpus Evangelicorum.155 Wenngleich gegen den Abt infolge dieser Schrift ein Publikationsverbot verhängt wurde, steigerten diese und ähnliche katholische Veröffentlichungen sowie die tatsächlich betriebene Politik des Wiener Hofes das Misstrauen unter den evangelischen Reichsständen und bestätigten damit gewissermaßen die von Preußen betriebene Religionskriegs-Propaganda.156 Die dritte Auflage des „Discursus Politicus“ reihte sich also nicht nur in die zahlreichen (pro-) preußischen Veröffentlichungen gegen den Achtprozess ein; sie passte auch zu der seit den 1750er Jahren zu beobachtenden Rekonfessionalisierung der Reichspolitik, die sich wiederum 1759 auf einem Höhepunkt befand und fraglos der preußischen Reichspolitik nutzte, der kaiserlichen Position im Reich dagegen nachhaltig schadete. Die Publikation des „Discursus Politicus“ von 1759 muss demnach auch als Teil jener spezifischen und sehr erfolgreichen preußischen Propaganda verstanden werden, die sich während des Siebenjährigen Krieges und besonders im Kontext der von Preußen und Hannover betriebenen Itio in partes gegen das ausgeweitete Achtverfahren gezielt an den Reichstag bzw. das Corpus Evangelicorum richtete und mit Rückgriff auf überkommene konfessionelle Argumentationen Unterstützung für die eigene Seite suchte. Zudem war die erneute Veröffentlichung des „Discursus Politicus“ offenbar Teil einer Reihe von Neuauflagen älterer anti-kaiserlicher Propagandaschriften, die von Berlin aus in den Jahren 1759–1761 veranlasst wurden.157 Unter diesen Publikationen war der neu kommentierte Wiederabdruck der ins Deutsche übertragenen „Dissertatio“ des Hippolithus a Lapide (Bogislaus Philipp von Chemnitz) sicherlich die bekannteste.158 Neben dieser umfangreichen dreiteiligen Abhandlung wurde 154 Kraus, Nachrichten. Zu den Parallelen zwischen der von Kraus vertretenen Interpretation und den von der Kurie in diesen Jahren entwickelten konfessionspolitischen Grundsätzen und Zielsetzungen für die Verhältnisse im Reich und insbesondere für Hessen-Kassel vgl. Burkhardt, Religionskrieg, S. 234–242. 155 Vgl. Rohr, Reichstag, S. 96–99; Schort, Politik, S. 164–167; zu den in diesem Kontext noch einmal auflebenden Plänen für eine evangelische Union vgl. Meyer, Plan, S. 75–83. 156 Wie wenig der angeheizte konfessionelle Antagonismus den kaiserlichen Interessen entsprach, zeigt eindrücklich die Reaktion des schwedischen Hofes auf die katholische Haltung zur Itio in partes 1759; vgl. Schort, Politik, S. 160–161. 157 Vgl. auch zum Folgenden Schort, Politik, S. 327–334, der allerdings den „Discursus Politicus“ nicht erwähnt. 158 Zu Bogislaw Philipp von Chemnitz alias Hippolithus a Lapide vgl. Hoke, Hippolithus a Lapide. Die kommentierte Neuauflage des „Hippolithus“ erschien unter dem Titel: Hippolithi a
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auch das angebliche Testament Herzog Karls von Lothringen von 1695 in deutscher Übersetzung neu aufgelegt und ebenfalls mit einem Kommentar in Form einer „Abhandlung von den Österreichischen Hauß-Maximen“, versehen.159 Auch die aus dem Dreißigjährigen Krieg stammende Schrift „Des Kayserlichen General und Geheim raths Johann Altringers Politisches Staats-Bedencken“ wurde von neuem publiziert.160 Bei den beiden letzteren Schriften handelte es sich im Übrigen wie auch beim „Stralendorfschen Gutachten“ definitiv um Fälschungen aus dem 17. Jahrhundert.161 Sowohl die Publikation des Testaments des Herzogs von Lothringen als auch die Neuauflagen des „Hippolithus“ sowie der „Staats-Bedencken“ Altringers mitsamt ihren Kommentaren sind sämtlich von dem Hallenser Juristen Johann Ludwig Uhl besorgt worden,162 wie bereits Reinhold Koser1882 festgestellt hat.163 Allen diesen Schriften sowie dem ebenfalls von Uhl verlegten und kommentierten „Schreiben an den Cantzley-Rath Friedel“164 war gemeinsam, dass sie einem größeren Publikum auf die eine oder andere Weise die „schon immer“ von Österreich verfolgte imperialistisch-despotische Politik aufdecken sollten. Die erwähnten Publikationen dienten sämtlich dem Zweck, die Leser über die von Österreich in der VergangenLapide Abriß der Staats-Verfassung, Staats-Verhältniß und Bedürfniß des Römischen Reichs Deutscher Nation; nebst einer Anzeige der Mittel zur Wiederherstellung der Grund-Einrichtung und alten Freyheit nach dem bisherigen Verfall. Aus Bogislav Philipp von Chemnitz vollständiger lateinischer Urschrift; mit Anmerkungen, welche die gegenwärtigen Umstände im Reich betreffen. 3 Teile [hrsg. u. komm. v. Johann Ludwig Uhl], Mainz / Koblenz 1761. 159 Politisches Testament des Herzogs Carl von Lothringen und Baar, Groß-Vaters Sr. jetztregierenden Kayserlichen Majestät, welches derselbe zu Presburg am 29. November 1687 dem Kayser Leopold zum Unterricht für den König von Hungarn Joseph und dessen Nachfolger im Reich übergeben. Aus dem Französischen übersetzt, mit einer Abhandlung von den Österreichischen Hauß-Maximen [hrsg. u. komm. v. Johann Ludwig Uhl], Stadt am Hof 1760. 160 Des Kayserlichen General und Geheimraths Johann Altringers Politisches Staats-Bedencken, welches unter dem Tutil „Wilt du den Kayser sehen? so siehe hinten diesen Brieff: Gedruckt zu Mülhausen, daselbst für Jahren unter den Churfürsten ein unreiffer neuer Religions-Frieden ausgehecket worden, den 6ten Januarii im Jahr 1629 herausgekommen, anjetzo aber aus denen im Avertissement enthaltenen Ursachen, wiederum von neuem aufgelegt und bekannt gemachet worden [hrsg. u. komm. v. Johann Ludwig Uhl], o. O. 1760. 161 Für das angebliche Testament des Herzogs von Lothringen von 1689 hat Koser, Testament, bes. S. 67–74, gezeigt, dass es sich um eine Fälschung handelte, die seinerzeit vermutlich im Auftrag der französischen Regierung verfasst worden war. Für den Fälschungsnachweis in Bezug auf das Altringersche Gutachten in seiner ersten Ausgabe von 1629 vgl. Grünbaum, Publizistik, S. 110–113. 162 Die Übersetzungen des Testaments sowie des „Hippolithus“ waren jeweils von anderen preußischen Professoren besorgt worden; vgl. Koser, Testament, S. 92; Schort, Politik, S. 329–330. 163 Vgl. Koser, Testament, S. 91–92, der bereits 1882 nicht nur nachwies, dass die Nachdrucke des Altringerschen Gutachtens, des Testaments des Herzogs von Lothringen und des „Hippolithus“ denselben Ursprung hatten, sondern auch, dass alle drei Publikationen von Uhl besorgt worden waren; anders Schort, Politik, S. 331, Anm. 658. Burgdorf, Reichskonstitution, S. 140–174, waren die Forschungen Kosers offenbar ebenfalls nicht bekannt, denn er gibt fälschlicherweise Heinrich Gottlob von Justi als Autor der Kommentare bzw. als Herausgeber an; s. dazu auch die Justi-Bibliographie bei Adam, Justi, S. 285–293, bes. 291–292. 164 Vgl. Schort, Politik, S. 329–330.
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heit verfolgten Ziele aufzuklären: also über die Errichtung einer Alleinherrschaft im Reich verbunden mit der Vernichtung der evangelischen Religion. Gleichzeitig aber sollten die Texte mit den jeweiligen Kommentaren bzw. Vorworten die Parallelen zur Gegenwart ziehen. Die Neuedition des „Hippolithus“ präsentierte zudem einen offensiven Reformentwurf zur bestehenden Reichsverfassung, in dem der Kaiser und seine Gefolgschaft unter den Reichsständen praktisch ihren ganzen Einfluss auf die Reichspolitik verlieren sollten. Dabei ging Uhl mit seinen umfangreichen Kommentaren zum Ursprungstext allerdings weit über Chemnitz hinaus:165 Während Chemnitz bei aller Betonung des aristokratisch-föderativen Moments der Reichsverfassung das Reich letztlich doch als Herrschaftspyramide beschrieb, deren Basis und Herz er allerdings in der Reichsversammlung, also im Reichstag, sah, betonte Uhl dagegen die souveräne Landesherrschaft der Fürsten, entwarf das Reich als Konföderation und gelangte damit im Grunde theoretisch bereits zur Auflösung des Reichsverbandes. Wenngleich zwischen der Interpretation des Reichs bei Chemnitz und jenem von Uhl vertretenen Reformmodell also ein deutlicher qualitativer Unterschied besteht, so stellte das Konzept einer Konföderation von Souveränen, die praktisch ohne Kaiser auskommt, eine zwar radikalisierte aber doch konsequente Weiterentwicklung der Ideen des „Hippolithus“ (und anderer Vertreter anti-kaiserlicher Reichspublizistik) dar. Die nachweislich von Uhl herausgegebenen Schriften, also das Testament des Herzogs von Lothringen, die „Staats-Bedenken“ Altringers, der „Hippolitus“ und das „Schreiben des Cantzleyrats Friedel“, zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass den „Originaltexten“ jeweils Aktualisierungen an die Seite gestellt wurden; sie besitzen zudem einen mit dem „Discursus Politicus“ durchaus vergleichbaren Grundtenor. Hinzu kommt, dass diese Veröffentlichungen auch teilweise explizit in den Vorworten oder Kommentaren aufeinander Bezug nahmen. So verweist etwa das Vorwort zu den „Staats-Bedencken“ Altringers unter anderem auf das Testament des Herzogs von Lothringen wie auch auf den „Discursus Politicus“;166 der erste Teil der so genannten „Erläuterungs-Schriften über den Hippolithus a Lapide“ von 1763 stellt dem Leser sogar die Lektüre der Altringerschen „Staats-Bedencken“ und des „Discursus Politicus“ als notwendig für das Verständnis des „Hippolithus“ vor.167 Die offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen diesen Publikationen hatten bereits Koser zu der Vermutung bewogen, dass die Publikation des Stralendorf bzw. Ulm zugeschriebenen „Gutachtens“ ebenfalls von Uhl besorgt worden sei.168 Nachweisen lässt sich diese in der Tat naheliegende Annahme bis heute nicht; angesichts der Forschungslage spricht allerdings zumindest vieles dafür, dass auch die Neu 165
Vgl. auch zum Folgenden die (von der Zuschreibung unabhängige) Interpretation bei Burgdorf, Reichskonstitution, S. 148–174, bes. 160–170. 166 Des Kayserlichen General und Geheimraths Johann Altringers Politisches Staats-Bedencken, S. V–VI. 167 Erläuterungs-Schriften über den Hippolithus a Lapide. Erster Theil, Regensburg 1763, bes. S. IV. 168 Vgl. Koser, Testament, S. 91.
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auflage des „Discursus Politicus“ im Jahr 1759 auf direkte Anweisung der Berliner Regierung erfolgte.
IV. Fazit Mit Blick auf die Verwendung des „Stralendorfschen Gutachtens“ in der Regierungszeit des Großen Kurfürsten und die Verbreitung, die es in gedruckter Form als „Discursus politicus“ im 18. Jahrhundert fand, kann man nicht umhin, diesem Schriftstück eine bemerkenswerte Langlebigkeit zu bescheinigen; umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass das Gutachten, bevor es als Fälschung erkannt worden war, auch noch in der borussischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als Referenz für die Bewertung der kaiserlichen Haltung gegenüber BrandenburgPreußen herangezogen wurde. So bezog sich etwa Friedrich Förster in seiner Biographie über Friedrich Wilhelm I. in affirmativer Weise auf das „Stralendorfsche Gutachten“ als einen Text, der die „wahren“ Grundsätze des kaiserlichen Hofes in der Jülicher Frage wiedergebe.169 Auch Ranke zitierte in seinen „Neun Büchern preußische Geschichte“ von 1847 das Gutachten als authentisches Schriftstück.170 Als erster hat sich dann, wie oben geschildert, Droysen ausführlich mit dieser Quelle auseinandergesetzt und ihre Echtheit nachzuweisen versucht. Bemerkenswerterweise hat Droysen in seiner „Geschichte der preußischen Politik“ von 1870 eine andere angebliche „österreichische Staatsschrift“ aus dem frühen 18. Jahrhundert, nämlich das so genannte „Testament politique ou derniers conseils d’un ministre de l’Empereur Léopold“ publiziert und auch diese Schrift in expliziter Analogie zum Stralendorfschen Gutachten für authentisch erklärt.171 Auch beim „Testament politique“, das starke Ähnlichkeiten zum angeblichen Testament Karls von Lothringen aufweist,172 handelt es sich um eine Fälschung, allerdings in diesem Falle um eine französische Fälschung
169
Vgl. Förster, Friedrich Wilhelm I. 2, S. 73. Zu Friedrich Christoph Förster vgl. Förster, Förster. 170 Vgl. Ranke, Neun Bücher preußische Geschichte 1, S. 30–31. In seiner „Genesis des preußischen Staates“ von 1874 erwähnt Ranke das Gutachten dagegen nicht; vgl. Klinkenborg, Gutachten 2, S. 246. 171 Vgl. Droysen, Geschichte, Teil 4, Abt. 4, S. 239–249, bes. 243; s. a. den Abdruck des französischen Textes: ebd., S. 249–270. 172 Auf diese Ähnlichkeiten hat als erster Koser, Testament, aufmerksam gemacht, der gleichzeitig auch den Nachweis erbrachte, dass es sich bei dem angeblichen Testament Karls von Lothringen um eine Fälschung handelte. Das von Droysen noch als authentisch bewertete „Testament politique“ wurde von Oswald Redlich 1928 erneut eingehend untersucht und ebenfalls als Fälschung identifiziert; vgl. Redlich, Das angebliche Politische Testament. Während die Hintergründe des „Testament politique“ von 1705 durch die Forschungen von Klaits, Printed Propaganda, S. 159–170, bekannt sind, ist bis heute nicht eindeutig geklärt, wer das angebliche Testament Karls von Lothringen ursprünglich verfasste und in welcher Beziehung dieses frühere Machwerk zum „Testament politique“ steht (vgl. ebd., bes. S. 165).
IV. Fazit
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aus der Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges.173 Tatsächlich stützt sich Droysens Interpretation der brandenburg-preußischen Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts viel stärker auf die in diesen Texten überlieferte Perspektive auf Österreich bzw. das Kaisertum und Brandenburg-Preußen als dies für Rankes Darstellung gilt. Für Droysen vereinigten sich im „Stralendorfschen Gutachten“ gewissermaßen die zentralen Charakteristika des Verhältnisses von katholischem Österreich hier und protestantischem Preußen dort – wie er sie auch in seiner eigenen Gegenwart nach wie vor gegeben sah.174 Und weil Droysen selbst zudem beanspruchte, die Echtheit dieses Dokuments bewiesen zu haben, lieferte es ihm auch einen letztgültigen Beweis für die Legitimität des dort gezeichneten Bildes – und damit seiner persönlichen politischen Haltung. Auch Treitschke verwies noch in der ersten Auflage seiner „Deutsche[n] Geschichte im 19. Jahrhunderts“ von 1879 auf das „Stralendorfsche Gutachten“;175 zum Zeitpunkt der vierten Auflage des Werkes war dann allerdings bereits die Untersuchung von Stieve erschienen, und so wurde die entsprechende Passage von Treitschke ersatzlos gestrichen.176 Vielleicht bedurfte es vor diesem Hintergrund eines katholischen Historikers mit ausgesprochen nationalen Sympathien wie Felix Stieve, um das „Stralendorfsche Gutachten“ mit anderem Blick zu lesen und es schließlich als frühneuzeitliche Fälschung zu identifizieren.177 Wie sehr sich an diesem Text die Geister in der preußisch-deutschen Historiographie des späten 19. Jahrhunderts schieden, verdeutlicht eine Äußerung Stieves, die sich im „Nachwort“ (1886) zu seinem Aufsatz zum „Stralendorfschen Gutachten“ findet: „Bedeutung messe ich nur der Tatsache bei, daß der Fälschungsnachweis erbracht ist, und daß das sogenannte Stralendorffsche Gutachten nicht mehr in einer particularistisch-confessionellen Geschichtsschreibung dazu dienen kann, Gegensätze in Deutschland zu nähren, deren Beseitigung unbedingt geboten ist, wenn ein lebendiges und festes Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit unser ganzes Volk verbinden soll.“178 Meinecke wiederum, der seinerseits den von Stieve erbrachten Fälschungsnachweis in seiner von Koser betreuten Dissertation noch weiter erhärtete und differenzierte, war selbst zwar sowohl hinsichtlich der persönlich-sozialen als auch der wissenschaftlichen Prägung ganz 173
Vgl. dazu ausführlich: Klaits, Printed Propaganda, S. 159–170. Aus der Fülle der Literatur zu Droysens Vorstellung vom „deutschen Beruf“ Preußens vgl.: Neugebauer, Preußen in der Historiographie, S. 24–28 (mit einer präzisen Gegenüberstellung von Droysen und Ranke). 175 Vgl. Treitschke, Deutsche Geschichte 1, S. 27. 176 Zu Heinrich von Treitschkes Position innerhalb des borrussischen Historismus vgl. Neugebauer, Preußen in der Historiographie, S. 30–31. 177 Felix Stieve, geb. 1845, gest. 1898, stammte aus einer westfälisch-katholischen Familie. Er erlebte als Student in Berlin noch Ranke und Droysen, arbeitete später jahrzehntelang als Historiker für die Historische Kommission in München und wurde – wohl maßgeblich aufgrund seiner Konfession – erst spät, 1885, zum Professor am Münchner Polytechnikum ernannt, wo er bis zu seinem Tod arbeitete. Aus Enttäuschung über die Ergebnisse des Ersten Vatikanischen Konzils war Stieve 1870 zu den Altkatholiken übergetreten; vgl. Mayr, Stieve; Weber, Biographisches Lexikon, S. 582–583. 178 Stieve, Nachwort, S. 470. 174
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eindeutig im patriotischen Borussismus verwurzelt, distanzierte sich allerdings im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere immer stärker von den politischen Glaubensgrundsätzen der Generation seiner Lehrer.179 Als Melle Klinkenborg dann in der Weimarer Republik die wissenschaftliche Erforschung des „Stralendorfschen Gutachtens“ erneut aufnahm,180 hatten sich die spezifisch konfessionellen Implikationen, die noch für Droysen und Stieve mit dieser Quelle verbunden waren, bereits deutlich abgeschwächt.181 Gleichwohl urteilte Klinkenborg noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dieser Text habe für die Geschichte Brandenburg-Preußens eine „verhängnisvolle Rolle“ gespielt,182 eben weil er ein gefälschtes, sprich: falsches Bild von den politischen Zielen Österreichs in Bezug auf Brandenburg-Preußen über mehr als zwei Jahrhunderte aufrechterhalten habe. Klinkenborg gründete diese Aussage explizit auf der Annahme, dass man in Berlin das Gutachten seit dem frühen 17. Jahrhundert bis zu den Untersuchungen Stieves und Meineckes tatsächlich durchgängig für echt gehalten habe. Anders ausgedrückt: Weil das „Stralendorfsche Gutachten“ bis 1883 nicht als Fälschung erkannt worden sei, habe es in der brandenburg-preußischen Politik des 17. und 18. Jahrhunderts (und darüber hinaus) eine geradezu fatale Wirkung entfalten können. So interpretierte Klinkenborg die Tatsache, dass unter dem Großen Kurfürsten das „Stralendorfsche Gutachten“ offenbar bekannt war und zu verschiedenen Gelegenheiten zur Begründung der eigenen Politik herangezogen wurde, als Beleg dafür, dass der Kurfürst und seine Minister es für ein authentisches Schriftstück gehalten hätten, in dem die Maximen der kaiserlichen Politik gegenüber Brandenburg offen dargelegt worden seien. Der Einfluss des Gutachtens auf die brandenburg-preußische Politik aber habe sich nicht auf die Jülicher Erbfolgefrage beschränkt; vielmehr konstatierte Klinkenborg für das Verhältnis zum Kaiserhaus insgesamt eine „allgemeine ununterbrochene Einwirkung des Gutachtens auf die brandenburgisch-preußische Politik etwa von 1640 bis 1740“.183 Das Jahr 1740 aber markiere deswegen das Ende für die Wirkung dieses Textes, weil mit dem Regierungsantritt Friedrichs II., so Klinkenborg, „eine vollständig neue Orientierung [der preußischen Politik] erfolgte […]“184 – offenbar waren Klinkenborg die späteren Auflagen aus der Regierungszeit Friedrichs des Großen nicht bekannt. 179
Zu Friedrich Meineckes wissenschaftlichem und politischem Verhältnis zu Preußen vgl. Kraus, Preußen als Lebensthema. Die von Kraus vertretene Meinung, die frühen wissenschaftlichen Arbeiten Meineckes hätten noch „keineswegs die wissenschaftlichen Konventionen jener Zeit überschritten“ (ebd. S. 278), wird der Arbeit über das „Stralendorfsche Gutachten“ insbesondere vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Prägung Meineckes durch Droysen vielleicht nicht ganz gerecht. 180 Zu Melle Klinkenborgs wissenschaftlichem Werdegang, Prägung und Werk vgl. den Nachruf von Schultze, Melle Klinkenborg. 181 Ausdrücklich vermied es Klinkenborg, zu den Vorwürfen Stieves gegenüber den Vertretern der „particularistisch-confessionellen“ Geschichtsschreibung Stellung zu nehmen; vgl. Klinkenborg, Gutachten 2, S. 247. 182 Ebd., S. 229. 183 Ebd., S. 244. 184 Ebd.
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Betrachtet man die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden Jahre der ersten Hälfte der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I., so ist es in der Tat auffällig, wie viele politische Aussagen sich finden lassen, die im Tenor jenen Schlussfolgerungen ähneln, die auch das gefälschte „Stralendorfsche Gutachten“ zu evozieren versucht. In zahlreichen Denkschriften, Immediatberichten oder Reskripten an die brandenburg-preußischen Diplomaten tauchen Grundgedanken auf, mit denen auch schon im „Stralendorfschen Gutachten“ das Verhältnis von Kaisertum und Brandenburg charakterisiert wurde. Besonders eindrücklich lassen sich diese Parallelen in der zitierten Denkschrift Ilgens aus dem Jahr 1716 beobachten, in der zudem das „Stralendorfsche Gutachten“ ausdrücklich als Referenz angeführt wird.185 Diese Beobachtungen sind aber nicht notwendig als ein Beweis dafür zu ver stehen, dass Ilgen und andere Akteure der brandenburg-preußischen Politik vor und nach ihm von der Echtheit des „Stralendorfschen Gutachtens“ überzeugt waren, wie dies Klinkenborg nahelegt. Vielmehr kann die Indienstnahme des Gutachtens und seiner Begründungen zunächst lediglich als Beleg dafür gelten, dass es als Bestätigung für eine bestimmte Sicht auf die kaiserliche Politik gegenüber Brandenburg-Preußen verwendet wurde. Es fungierte offensichtlich als Argument für eine anti-kaiserliche Politik – und zwar in Situationen, in denen die Hohenzollern tatsächlich Oppositionspolitik gegen den Kaiser betrieben bzw. außenpolitisch nicht mit Österreich verbündet waren. Zudem gewann das Gutachten naturgemäß zu dem Zeitpunkt an Relevanz, als die Jülicher Sukzessionsfrage im 18. Jahrhundert erneut aktuell wurde. Klinkenborgs Schlussfolgerung, dass man über Jahrhunderte nur und ausgerechnet „in Berlin gutgläubig und harmlos darauf hineingefallen ist“, während man in Dresden offensichtlich schon 1617 davon überzeugt war, dass es sich um eine Fälschung handelte,186 ist daher keineswegs zwingend. Gerade angesichts der von Klinkenborg selbst erforschten Hintergründe der Publikation des „Discursus Politicus“ im Jahr 1718 erscheint es immerhin fraglich, ob die Protagonisten der brandenburg-preußischen Politik, allen voran Ilgen und Thomasius selbst, tatsächlich von der Echtheit des angeblichen „Stralendorfschen Gutachtens“ überzeugt waren. Die Entscheidung von Ilgen und Thomasius, dem edierten Text eine derartig überzeichnete Einleitung voranzustellen, spricht jedenfalls nicht unbedingt dafür, dass sie das Gutachten für eine authentische Überlieferung aus den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts hielten, die – aktueller denn je – die geradezu „ewigen“ Leitlinien der kaiserlichen Politik gegenüber dem Haus Brandenburg belegte. Hinzu kommt, dass das Gutachten bzw. dessen verschiedene handschriftliche Kopien im 18. Jahrhundert auch außerhalb Berlins nicht vollkommen vergessen in Archiven schlummerten. Thomasius berichtete 1718 in einem Brief an den Geheimen Rat, dass Francke der Text von der Lektüre eines in Dresden befindlichen Exemplars bekannt war.187 Wenn man in Dresden aber tatsächlich, wie Klinkenborg 185
Vgl. Kap. E. I. Klinkenborg, Gutachten 2, S. 229. 187 Der Brief ist abgedruckt ebd., S. 241–242. 186
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dies darlegt, schon 1614 davon überzeugt war, dass es sich um eine Fälschung handelte, spricht einiges dafür, dass am kursächsischen Hof und dessen Umgebung mit den Abschriften des Gutachtens auch die damalige Einordnung als Fälschung überlebt hatte und weitergeben worden war. Diese Einschätzung aber wird in den rund hundert Jahren von 1614 bis 1718 vielleicht auch in Berlin auf die eine oder andere Weise bekannt geworden sein, zumal es sich bei dem „Stralendorfschen Gutachten“ auch schon vor seiner Veröffentlichung in Form des „Discursus P oliticus“ von 1718 nicht um ein derartig arkanes Schriftstück handelte, dass es nur dem innersten Kreis der jeweiligen Regierungen zugänglich gewesen wäre.188 Allerdings musste es in jedem Fall im Interesse der brandenburg-preußischen Regierung gelegen haben, das „Stralendorfsche Gutachten“ als authentisch zu behandeln bzw. nach außen seine Authentizität zu behaupten. Jedoch sind derartige Äußerungen nicht als Beweis dafür zu werten, dass die jeweiligen Akteure der brandenburg-preußischen Politik selbst von der Echtheit dieses Schriftstücks überzeugt waren. Auch wenn man also nicht davon ausgehen kann, das diese Fälschung, gleichsam aufgrund eines jahrhundertelangen Missverständnisses, auf geradezu fatale Weise die Ausrichtung der Außen- und Reichspolitik Brandenburg-Preußens über anderthalb Jahrhunderte maßgeblich mitbestimmte – das „Stralendorfsche Gut achten“ diente der brandenburg-preußischen Politik jedenfalls über Jahrzehnte immer wieder und auch und gerade noch während des Siebenjährigen Krieges als ein Paradigma für die Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaiserhaus, oder treffender: für die Beziehungen der Häuser Brandenburg und Österreich. In der für diese Arbeit zentralen Zeitspanne der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das Gutachten offensichtlich dafür herangezogen, gerade hinsichtlich des spätestens seit 1717 wieder besonders aktuellen Themas der Jülicher Erbfolge eine bestimmte Richtung in der politischen Argumentation durch den Verweis auf die Vergangenheit zu unterstützen. Aber auch über die jülich-bergische Sukzession hinaus spricht der Text bestimmte, immer wiederkehrende spannungsreiche Aspekte des Verhältnisses zwischen Wien und Berlin an: 1. Das Stralendorfsche Gutachten ließ sich besonders gut für den Anspruch der Brandenburger Hohenzollern, von Wien als „Konkurrent auf Augenhöhe“ behandelt zu werden, heranziehen. Denn mit Verweis auf die angeblich am Kaiserhof Rudolfs II. entstandenen Bedenken ließ sich beweisen, dass man in Wien bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts große Sorge vor dem geradezu unheimlichen Aufstieg des Hauses Brandenburg hatte, mithin also schon seit über hundert Jahren in Wirklichkeit Brandenburg(-Preußen) als direkten Konkurrenten des Hauses Österreich wahrnahm und gerade deswegen die Grundlagen von Brandenburgs Größe und Macht verkleinern wollte. Und auch für den immer wiederkehrenden Vorwurf, dass die Kaiser für die Herstellung bzw. Perpetuierung der schon lange nicht mehr 188 Spätestens mit dem Erscheinen von Pufendorfs „Res gestae“ konnte es nicht mehr als geheimes Herrschaftswissen gelten.
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„natürlichen“ Ungleichheit zwischen den Häusern Brandenburg und Österreich auf ihre Prärogativen zurückgriffen – also vor allem auf die Reichsjustiz –, lieferte das Gutachten Belege. 2. Der konfessionelle Gegensatz galt dabei gleichermaßen als Ursache des tiefen Misstrauens und der jalousie Wiens gegenüber Berlin wie auch als Instrument einer gegen Brandenburg gerichteten kaiserlichen Politik. Zudem schrieb das „Stralendorfsche Gutachten“ dem Haus Brandenburg bereits für das frühe 17. Jahrhundert eine Führungsposition innerhalb des deutschen Protestantismus zu – was den habsburgischen Kaisern die Hohenzollern freilich nur noch mehr verhasst gemacht habe. Dass mit diesen Punkten ganz zentrale Aspekte des Verhältnisses zwischen Brandenburg-Preußen und dem Kaisertum angesprochen wurden, verdeutlicht allein die Tatsache, dass (unabhängig von der Frage, wo man das Gutachten zu welchem Zeitpunkt für authentisch oder aber für eine Fälschung hielt) dieser Text vom frühen 17. Jahrhundert bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts von den Zeitgenossen offensichtlich „verstanden“ wurde; und das, obwohl sowohl das Gutachten selbst als auch das 1718 von Thomasius verfasste Vorwort an sich keine eindeutigen politischen Aussagen enthielten. Beide Texte formulierten vielmehr vermeintliche politische Leitlinien ausschließlich für die kaiserlich-katholische Seite, aufgrund derer sich dann indirekt die zwangsläufigen, „defensiven“ Grundsätze der brandenburg-preußischen Politik ableiten lassen sollten. Erst vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Rahmenbedingungen implizierten die Texte wiederum konkrete Folgerungen und Forderungen. So unterschiedlich sich aber auch die aktuelle politische Situation zu jenen Zeitpunkten gestaltete, zu denen man sich in Berlin auf die eine oder andere Weise des „Stralendorfschen Gutachtens“ bediente – der Text sprach mit den oben beschriebenen Themen offensichtlich grundlegende Probleme an, die auch jenseits der tagespolitischen Konstellationen über anderthalb Jahrhunderte die Beziehungen zwischen Berlin und Wien prägten. 1. Die „Rangfrage“: Sie hatte sich für die mächtigen Kurfürsten von Brandenburg schon lange vor dem Erwerb der Königswürde gestellt, und mit der preußischen Krone und der zumindest teilweisen Souveränität verschärfte sich die Spannung zwischen der verfassungsrechtlichen Stellung der preußischen Könige innerhalb des Reichsverbandes und ihrer Machtstellung im Reich und in Europa nur noch mehr. Diese Spannung äußerte sich naturgemäß am meisten im Verhältnis zum habsburgischen Kaisertum, dessen Position sich auch im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts immer noch deutlich von der Stellung der Brandenburger Hohenzollern abhob, für das aber umgekehrt Brandenburg-Preußen unter Friedrich dem Großen schließlich tatsächlich zur zentralen Gegenmacht im Reich wurde. 2. Der im „Stralendorfschen Gutachten“ gezeichnete Gegensatz zwischen beiden Mächten äußerte sich immer auch konfessionell, und zwar umso stärker, je mehr sich die brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige parallel zu ihrem Machtzuwachs auch als Schutzherren des Protestantismus profilierten und zudem er-
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Exkurs: Konfession als Paradigma
folgreich im Rahmen einer institutionalisierten gesamtevangelischen Reichspolitik agieren konnten. Bis zur endgültigen Etablierung des preußisch-österreichischen Dualismus war es in diesem Kontext von großer Bedeutung, dass die Brandenburger Hohenzollern möglichst von beiden evangelischen Konfessionen im Reich als Schutzmacht akzeptiert wurden. Schon das „Stralendorfsche Gutachten“ ließ anklingen, wie wichtig es für das Haus Brandenburg war, zu beiden evangelischen Konfessionen im Reich gute Beziehungen zu haben, um sich als die protestantische Schutzmacht im Reich (und damit potentiell als die evangelische Gegenmacht zum Kaiser) zu etablieren. Wie sich diese Beziehungen und auch die tatsächlich verfolgte Konfessionspolitik Brandenburg-Preußens im Reich zwischen dem späten 17. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, mithin im Kontext der sich in Form des Corpus Evangelicorum institutionalisierenden evangelischen Reichspolitik, veränderten, wurde in dieser Untersuchung dargestellt. Mit Blick auf die damit zusammenhängende Frage nach der Veränderung des konfessionellen „Images“ Brandenburg-Preußens als evangelischer Schutzmacht im Reich ist es lohnend, die „Renaissancen“ einer weiteren Quelle, die bereits in dieser Arbeit behandelt wurde, weiterzuverfolgen: Die Rede ist von dem seinerzeit Friedrich III./I. zugeschriebenen Glaubensbekenntnis von 1690. Auch auf dieses alte Glaubensbekenntnis griff die preußische Kriegspropaganda, besonders im Siebenjährigen Krieg, zurück; es erschien, auch in der späteren Regierungszeit Friedrichs des Großen, in einschlägigen Sammlungen, gemeinsam mit Kriegsliedern und anderen Formen von Kriegspropaganda oder Herrscherpanegyrik.189 So lassen sich Ausgaben aus den Jahren 1756,190 1757191 und 1784192 nachweisen. 189 Sowohl bei Rall, Glaubensbekenntnis, als auch bei Gericke, Glaubenszeugnisse, werden die Neuauflagen des Bekenntnisses während der Regierungszeit Friedrichs II. nicht erwähnt; vgl. das Kapitel über die Glaubensauffassung Friedrichs II. bei Gericke, Glaubenszeugnisse, S. 68–95; Erwähnung findet die Ausgabe von 1757 dagegen bei Schort, Politik, S. 108–198, dort allerdings wiederum ohne Angaben zur Geschichte dieses Textes. 190 Glaubensbekenntnis Sr. Königl. Majestät in Preussen / welches er allen Protestantischen Ministris zu Regenspurg insinuieren lassen, o. O. 1756; im GStA PK auch vorhanden als Teil von: Sammlung der Staats-Schrifften / Welche im Jahr 1757 in Folio in Druck erschienen, Cölln 1757. 191 Glaubens-Bekänntniss Sr. Königl. Majestät in Preussen, welches Sie allen protestantischen Ministris zu Regenspurg insinuieren lassen, o. O. 1757; die im Katalog des GStA PK als Einzeldruck nachgewiesene Ausgabe wurde offenbar (auch) als Flugschrift publiziert; in dem im GStA PK vorhandenen Exemplar befinden sich neben dem Glaubensbekenntnis weitere Schriftstücke zur Reichsexekution gegen Brandenburg-Preußen, u. a. das von Plotho verfasste Pro Memoria gegen das Reichsgutachten vom 17.1.1757. Eine weitere Ausgabe des Glaubensbekenntnisses, ebenfalls aus dem Jahr 1757, ist unter dem folgenden Titel (ebenfalls im GStA PK) nachgewiesen: Das ohnverfälschte und wohl-gegründete Glaubens-Bekenntniß seiner Majestät des Königs von Preußen, o. O. 1757. Das im GStA PK befindliche Exemplar ist abgedruckt in einem Buch mit diversen panegyrischen Gedichten auf Friedrich den Großen, Pro Memorien und ähnlichen Schriftstücken unter dem Titel: Sammlung verschiedener Gedichte auf Se. jeztregierende Königl. Majestät in Preussen, o. O. 1757. 192 Sr. Königl. Majestät in Preussen Glaubensbekänntniß, welches Sie allen protestantischen Ministris zu Regenspurg insinuieren lassen, Drey und fünfzigste Auflage, Berlin 1784. Das
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Allein die Überlieferung des Glaubensbekenntnisses in derartigen Sammlungen spricht dafür, dass diese Nachdrucke tatsächlich auf die Veranlassung der Berliner Regierung selbst zurückgingen oder zumindest von ihr gebilligt worden waren. Zudem erschien das Bekenntnis durchweg unter dem Titel einer persönlichen Bekenntnisschrift des aktuell regierenden Königs. Blickt man auf die früheren Publikationen dieses Textes zurück (die als angebliche Bekenntnisse Friedrichs III./I. und Friedrich Wilhelms I. erschienen waren), so wird deutlich, wie sehr sich der Umgang der brandenburg-preußischen Politik mit diesem Text zwischen dem späten 17. Jahrhundert und der Mitte des 18. Jahrhunderts verändert hatte. Als Ende des 17. Jahrhunderts das angeblich von Friedrich III. verfasste Glaubensbekenntnis erstmals publiziert worden war, hatte man sich in Berlin noch deutlich davon distanziert, weil man offenbar befürchtete, die darin enthaltenen Aussagen würden als theologische Lauheit oder konfessionelle Indifferenz interpretiert werden und wären daher dem (konfessionspolitischen) Ansehen Brandenburg-Preußens abträglich. Wenngleich nicht nachweisbar ist, dass die Publikation des angeblichen Glaubensbekenntnisses 1690 tatsächlich in diffamierender Absicht geschehen war, steht fest, dass bei der Berliner Regierung die Auffassung vorherrschte, derartige theologische Aussagen könnten zumindest auch als Diskreditierung der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik interpretiert werden und seien damit insbesondere für die eigene Stellung innerhalb des Corpus Evangelicorum eher von Nachteil.193 Zum Zeitpunkt der erneuten Veröffentlichung des (nun dem regierenden König Friedrich Wilhelm I. zugeschriebenen) Glaubensbekenntnisses im Jahr 1718 blieb eine derartige Reaktion aus; und wenngleich sich keine Hinweise auf eine offizielle Autorisierung seitens Berlins finden lassen, so ist andererseits auch kein offizielles Dementi des Hofes überliefert.194 Im Siebenjährigen Krieg und darüber hinaus nutzte die preußische Propaganda den Text schließlich offensiv als Bekenntnis zum Schutz des Protestantismus und zur Verteidigung von „evangelischer Freiheit“ und christlicher Toleranz. Zwischen dem Ende des 17. Jahrhunderts und der Mitte des 18. Jahrhunderts muss sich demnach die Rezeption der in dem angeblichen Bekenntnis gemachten Glaubenssätze deutlich geändert haben bzw. die Aussage, die man in Berlin mit dem Text verknüpfte. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wird die Verbreitung des Glaubensbekenntnisses in der Tat wohl weniger als eine Bekundung der persönlichen Frömmigkeit des Herrschers, in diesem Fall also Friedrichs II., gemeint und interpretiert worden sein, sondern vielmehr als eine politische Aussage, die sich in die Reihe anderer Propagandaschriften einfügte, in denen der preußische König als Verteidiger des
Glaubensbekenntnis wurde in dieser Ausgabe, wie sie im Katalog im GStA PK als Einzeldruck nachgewiesen ist, ebenfalls in Form einer kleinen Flugschrift publiziert. Dem Abdruck des Bekenntnisses folgen in dem im GStA PK vorhandenen Exemplar verschiedene Gedichte auf das Heldentum Friedrichs des Großen. 193 Vgl. dazu Kap. B. II. 2. f). 194 Vgl. dazu Kap. E. II. 4.
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Protestantismus gefeiert wurde.195 Mussten die relativierenden Äußerungen zu den Unterschieden zwischen dem reformierten und dem lutherischen Protestantismus (ja stellenweise sogar zum Katholizismus) 1696 noch als äußerst bedenklich gelten, konnte man Mitte des 18. Jahrhunderts im Sinne eines aufgeklärten Christentums diese Passagen dagegen positiv als Vertretung eines offenen und toleranten Verständnisses von Religion auslegen und mit dem der katholischen Seite unterstellten engstirnigen gegenreformatorischen Eifer affirmativ konterkarieren. Die in dem Glaubensbekenntnis gemachten Aussagen passten insofern zu dem auch sonst von der preußischen Kriegspropaganda im Siebenjährigen Krieg gezeichneten Bild des preußischen Königs als wichtigsten Schutzherrn der Evangelischen im Reich, das ja auch der „Discursus politicus“ vermitteln sollte.196 Die überwiegend positive Rezeption, die dieses von der preußischen Propaganda erfolgreich verbreitete Bild im protestantischen Europa erfuhr, wurde im Übrigen kaum durch die bekannte Distanz Friedrichs II. zur Kirche oder seine gut bezeugten Ansichten zum Christentum geschmälert.197 Zwar erfuhr die Haltung des Königs gegenüber der Religion immer wieder Kritik, die Wirksamkeit der vielfach auf den konfessionellen Gegensatz zurückgreifenden preußischen (und pro-preußischen) Propaganda wurde dadurch aber offenbar nicht nachhaltig beeinträchtigt.198 Zwar wurde das zu Beginn des 195
Dies sei gegenüber Schort, Politik, S. 108–109, betont, der gleichzeitig aber auch suggeriert (Anm. 230), bei der – laut Schort angeblich in Schaffhausen gedruckten Schrift – handele es sich gar nicht um eine preußische Publikation. Tatsächlich ist das in Regensburg gedruckte Bekenntnis lediglich in einer Schaffhauser Zeitung nachgedruckt worden, worauf sich wiederum eine auch von Schort zitierte zeitgenössische Kritik bezog (s. u.). 196 Tatsächlich hat Friedrich II. bei aller Kritik an der Geschichte des Christentums und der Kirche und seiner häufig formulierten Skepsis gegenüber zentralen christlichen Glaubensinhalten sich doch explizit als „Protestant“ bezeichnet. Es spricht einiges dafür, dass Friedrich persönlich diesen Begriff auch und vielleicht sogar primär als politische Zuschreibung verstanden und in dem Sinne benutzt hat, dass mit der Verteidigung des Protestantismus auch immer die Verteidigung eines konfessionell-politischen Gleichgewichts einherging; vgl. Gericke, Glaubenszeugnisse, S. 83–90, sowie pointiert S. 84: „Sein [Friedrichs II.] Eintreten für den Protestantismus war also sehr stark durch politische Gesichtspunkte bestimmt. Aber Friedrich fühlte sich auch als Anhänger der Aufklärung gedrungen, für den Protestantismus einzutreten.“ 197 Vgl. dagegen die Bewertung von Schort, Politik, S. 108: „Die preußische Religionspropaganda krankte […] auch an der bekannt distanzierten Haltung des Königs zur christlichen Religion …“. Schort bezieht sich bei diesem Urteil maßgeblich auf das veröffentlichte Glaubensbekenntnis selbst sowie eine (!) zeitgenössische Veröffentlichung, die eine betont reichspatriotische Kritik an der Frömmigkeit Friedrichs II. übte: Prüfung der Glaubens Bekäntnis. Bei dieser Schrift handelt es sich allerdings um eine katholische Schrift und also mitnichten um eine Kritik an der laxen Glaubenshaltung des preußischen Königs aus dem eigenen (sprich: protestantischen) Lager. 198 Als Beleg mag neben dem Verweis auf das im Siebenjährigen Krieg entlang der konfessionellen Demarkationslinie geteilte Reich der Blick auf die positive Rezeption Friedrichs als „protestant hero“ in England oder in den evangelischen Kantonen der Schweiz genügen; für England vgl. Schlenke, England; für die Schweiz vgl. Meyer, Beurteilung. Hinzu kommt im Übrigen, dass sich der in der Tat mitunter öffentlich formulierten Kritik an der religiösen Haltung Friedrichs II. auch zahlreiche Schriften gegenüberstellen lassen, in denen der König gegen den Vorwurf der Gleichgültigkeit in Religionsfragen verteidigt und stattdessen seine Toleranz hervorgehoben wurde; vgl. Meyer, Beurteilung, S. 75.
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Siebenjährigen Krieges gleich zweimal aufgelegte Glaubensbekenntnis mit mindestens einer scharfen Gegenschrift beantwortet;199 in diesem Fall handelte es sich allerdings eindeutig um eine katholische Veröffentlichung, die jene betont freien Glaubenssätze der preußischen Bekenntnisschrift zum Anlass nahm, die katholische Religion als einzig wahre christliche Konfession zu verteidigen.200 Die Konjunkturen des alten Glaubensbekenntnisses wie auch die erfolgreiche preußische Religionspropaganda insgesamt liefern also Hinweise für die Vermutung, dass die persönliche Frömmigkeit des Herrschers für die Überzeugungskraft der Figur eines „Schutzherrn des Protestantismus im Reich“ nicht mehr so relevant war wie noch unter den beiden vorigen preußischen Königen. Der König und die Dynastie der brandenburgischen Hohenzollern mochten zwar formell nach wie vor dem reformierten Bekenntnis angehören, sie nahmen aber längst für sich die Rolle des evangelischen Gegenpols zum katholischen Kaiserhaus in Anspruch, und hinter dieser (konfessions-)politischen Frontstellung traten alle anderen Binnenunterschiede in den Hintergrund.201
199
Prüfung der Glaubens Bekäntnis. Schort, Politik, S. 108–109, Anm. 230, zitiert diese Schrift völlig missverständlich: Der anonyme Autor der „Prüfung“ lege in seiner Erwiderungsschrift dar, dass es sich bei dem angeblichen Glaubensbekenntnis Friedrichs II. um eine katholische Veröffentlichung handele. Die von Schort angeführten despektierlichen Zitate über die Reformatoren stammen allerdings gerade nicht aus dem Glaubensbekenntnis selbst, sondern aus der offensichtlich aus katholischer Feder herrührenden „Prüfung“ eben dieses Glaubensbekenntnisses. 201 So gehörte auch die Förderung oder gar die Schaffung einer Union unter den beiden evangelischen Konfessionen innerhalb Brandenburg-Preußen definitiv nicht mehr zu den von Friedrich II. verfolgten kirchenpolitischen Zielen; vgl. Gericke, Glaubenszeugnisse, S. 89–90. 200
F. Schluss In seinem Roman „Vor dem Sturm“ charakterisiert Theodor Fontane in einem Kapitel den polnischstämmigen Geheimrat von Ladalinski: Nach der endgültigen Teilung Polens tritt Ladalinski, der auch in Schlesien begütert ist, in die Dienste des preußischen Hofes und macht dort als Diplomat rasch Karriere. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert konvertiert Ladalinski schließlich: „Er trat, in dem richtigen Gefühl, erst dadurch seine Staatszugehörigkeit zu beweisen, zum Protestantismus über. Er wählte die reformierte Kirche, weil es die Kirche des Hofes war.“1 Diese Anekdote verdeutlicht, dass, auch nachdem mit Schlesien und den polnischen Gebieten die Zahl der Katholiken in Preußen deutlich angewachsen war, „Preußentum“ wesentlich als protestantisch begriffen wurde. Als Katholik vor die Wahl gestellt, welche Form des Protestantismus er annimmt, entscheidet sich Ladalinski für das reformierte Bekenntnis des Herrscherhauses. Beide Aspekte der unter Karriere-Gesichtspunkten getroffenen Entscheidung Ladalinsiks verweisen auf Strukturen, deren Ursprünge deutlich vor dem späten 18. Jahrhundert zu suchen sind: sowohl die Identität von Preußentum und Protestantismus bzw. Antikatholizismus als auch die Identifizierung der Dynastie mit dem Calvinismus. Und während der erstgenannte Gesichtspunkt seine Bedeutung im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht verlieren sollte, war der zweite bereits um die Jahrhundertwende praktisch überholt. Nur zwanzig Jahre später hätte Ladalinski sich im Übrigen gar nicht mehr entscheiden müssen, er hätte es beim Übertritt zum Protestantismus belassen können.2 Aber schon zu der Zeit, in der Fontanes Roman spielt (in den Jahren 1812/13), waren die Unterschiede zwischen den beiden evangelischen Konfessionen in Preußen bereits deutlich abgeschwächt. Das zeigt auch der weitere Verlauf der Romanhandlung, wo das reformierte Bekenntnis für eine Eheschließung der Ladalinski-Kinder mit den Kindern der altmärkischen, streng lutherischen Familie Vitzewitz keine Rolle spielt. Die enge Verbindung von Preußentum und Protestantismus und auch die relative Bedeutungslosigkeit der Unterschiede zwischen den beiden protestantischen Konfessionen waren für Fontane selbstverständlich. Beide Entwicklungen, die – so eine der Thesen dieser Arbeit – eng miteinander zusammenhängen, gehen weit zurück bis ins späte 17. Jahrhundert und erfuhren im frühen 18. Jahrhundert auf 1
Fontane, Vor dem Sturm, S. 35 Zur preußischen Union von 1817 vgl. aus der jüngeren Forschung: Clark, Confessional Policy (mit ausführlichen Literaturangaben zur älteren Forschung); Gundermann, Evangelische Kirche. Nach wie vor grundlegend sind die älteren Werke von Geppert, Das Wesen der preußischen Union; sowie Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche. 2
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grund der reichspolitischen Ereignisse in dieser Zeit eine besondere Dynamik. Insofern lässt sich die vorliegende Untersuchung auch als eine Vorgeschichte zu dem konfessionellen Antagonismus der eigentlichen Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts erzählen. Dabei handelt es sich freilich nicht um eine neue Variante der Reformationsgeschichte, ebensowenig um eine Suche nach den Wurzeln des modernen Nationalismus (oder Patriotismus) in den Jahrhunderten vor der sogenannten „Sattelzeit“, sondern gewissermaßen um eine „Archäologie“ des konfessionellen Antagonismus, vor allem im Sinne einer politischen Parteienbildung. In der Zeit des Siebenjährigen Krieges war das Reich bekanntermaßen weitgehend entlang der konfessionellen Grenzen geteilt. Friedrich dem Großen gelang es denn auch äußerst erfolgreich, mithilfe des konfessionellen Gegensatzes zwischen Protestanten und Katholiken Politik zu betreiben – sowohl hinsichtlich der brandenburg-preußischen Haltung auf dem Reichstag als auch hinsichtlich seiner eigenen Repräsentation, oder mit anderen Worten: mit Blick auf sein „Image“ als Verteidiger der Protestanten. Doch bereits Friedrich der Große konnte dabei auf Strukturen aufbauen, die sich in der Vergangenheit entwickelt hatten, und zwar in entscheidenden Punkten während der Regierungszeit seines Vaters, Friedrich Wilhelms I. Drei grundlegende Entwicklungen sind dabei zu berücksichtigen: 1. Im frühen 18. Jahrhundert entwickelte sich ein geschlossen agierender politischer Protestantismus als wirkmächtige Korporation in Gestalt des Corpus Evangelicorum, wo Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten nicht von Belang waren, sondern die gemeinsamen (bzw. als gemeinsam vermittelten) Interessen überwogen. 2. Vor diesem Hintergrund konnte die Gegnerschaft zwischen dem (als homogen begriffenen) protestantischen Teil Deutschlands und dem (ebenfalls als homogen vorgestellten) katholischen Reich unter bestimmten Bedingungen zu einer Konfrontation aller protestantischen Stände mit dem Kaisertum führen. 3. Brandenburg-Preußen nahm im Kontext dieser Prozesse eine Führungsrolle ein. Der Anspruch der brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige auf eine solche Rolle basierte im Wesentlichen auf mehreren strukturellen Bedingungen: Die Kurfürsten von Brandenburg verzeichneten im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts einen kontinuierlichen Territorial- und Machtzuwachs, der zudem mit einer konsequent betriebenen und erfolgreichen Staatswerdung im Innern einherging. Hinzu kam, dass in den brandenburgischen Territorien am Niederrhein sowie in Minden, Halberstadt und Magdeburg zahlreiche Katholiken lebten; damit waren die Hohenzollern die einzigen protestantischen Fürsten, die über eine nennenswerte katholische Minderheit herrschten. Das ermöglichte es ihnen, innenpolitische Maßnahmen gegen katholische Institutionen öffentlichkeitswirksam in den Zusammenhang der reichsweiten Konfrontation zwischen protestantischem und katholischem Reichsteil zu stellen. Schließlich repräsentierten die Hohenzollern seit der Konversion Johann Sigismunds ein irenisches Reformiertentum (im Gegensatz etwa zum
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kämpferischen Calvinismus der pfälzischen Wittelsbacher). Als eine reformierte Dynastie in einem größtenteils lutherischen Territorium hatten die brandenburgischen Kurfürsten schnell alle Versuche eingestellt, eine erzwungene „zweite Reformation“ durchzuführen. Im Laufe des späten 17. und 18. Jahrhunderts schwächte sich das reformierte „Image“ der Hohenzollern weiter ab. Nicht zuletzt mit Verweis auf ihre innenpolitische Haltung konnten die brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige daher mit einer gewissen Glaubwürdigkeit eine „evangelische“ Interessenpolitik propagieren. Der Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. fiel nun in eine Zeit, die es dem jungen preußischen König vergleichsweise leicht machte, einen Politikstil zu vertreten, der auf eine Konfrontation mit dem Kaisertum abzielte – deutlich leichter zumindest, als dies seinem Vorgänger gefallen wäre. Zunächst konnte Friedrich Wilhelm I. – als zweiter König in Preußen – bereits ein relativ etabliertes Königtum beanspruchen und musste nicht mehr, wie noch sein Vater, besondere Rücksicht auf denjenigen nehmen, der ihm maßgeblich zur königlichen Würde verholfen hatte. Mit dem Ende des Spanischen Erbfolgekriegs bestand auch nicht mehr die Notwendigkeit, reichspolitische Interessen und Differenzen zugunsten eines außenpolitischen Ziels hintanzustellen. Der bewaffnete Kampf um die habsburgische Erbfolge in Spanien hatte zahlreiche reichspolitische Konflikte (nicht nur zwischen Berlin und Wien) zeitweilig überdeckt, die nun mit umso größerer Vehemenz ausgefochten wurden. Hinzu kam, dass Karl VI. ein prononciert katholisches Kaisertum repräsentierte – und diese Interpretation der kaiserlichen Würde forderte zu einer protestantischen Gegen-Profilierung geradezu heraus (wie natürlich auch umgekehrt der prononcierte Protestantismus der Brandenburger Hohenzollern und das gestiegene politische Selbstbewusstsein der Protestanten insgesamt die katholische Profilierung des letzten Habsburgers sicherlich befördert haben). Die geschilderten reichspolitischen Rahmenbedingungen erleichterten es Friedrich Wilhelm I., eine konfrontative Haltung gegenüber Wien zu vertreten, die sich noch dazu im Kontext der reichsweiten Religionskrise stark konfessionalisiert darstellte. Zentral für einen schlagkräftigen „politischen Protestantismus“ in Gestalt des Corpus Evangelicorum, wie dieses in den frühen Jahren der Konfessionskrise entstand, waren die Auseinandersetzungen über die religionspolitischen Maßnahmen der Pfälzer Kurfürsten. Die Pfälzer Wittelsbacher betrieben mit Verweis auf die so genannte Rijswijker Klausel für die Konfessionsverhältnisse in ihren Kurlanden eine Revision der Normaljahresbestimmungen. Bereits Friedrich III./I. hatte sich in dieser Frage stark engagiert – damals allerdings eindeutig zugunsten der eigenen, sprich: reformierten Glaubensgenossen. Friedrich III./I. hatte dabei noch größtenteils losgelöst vom Corpus Evangelicorum gehandelt, das sich überhaupt erst in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. zur politisch aktiven Institution entwickeln sollte. Insofern veränderten sich in den frühen Jahren der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. die Rahmenbedingungen einer „konfessionellen Reichspolitik“ Brandenburg-Preußens deutlich. Von größter Bedeutung für die Entstehung einer gesamtprotestantischen Reichspolitik war die Entwicklung einer einheitlichen evangelischen Interpretation der
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Reichsverfassung. Dafür wiederum aber war das Verständnis der Normaljahres bestimmung entscheidend: In verschiedenen Etappen und langwierigen Diskussionen legten sich die protestantischen Fürsten schließlich um 1720 auf eine gemeinsame Interpretation der Normaljahresregelung fest. Diese „evangelische“ Lesart einer der zentralen Bestimmungen des Reichs-Konfessionsrechts hatte ihre Wurzeln zwar in der brandenburg-preußischen Konfessionspolitik in der Kurpfalz unter Friedrich III./I., beanspruchte nun aber allgemeine Gültigkeit. Entscheidend für diese Perspektive war das unbedingte Festhalten am Wortlaut des Instrumentum Pacis Osnabrugensis. Mit dem Argument, dass in Zeiten eines nicht nur gleichsam „stündlich“ erstarkenden, sondern zudem eifernden Katholizismus jede Revision des 1648 gefundenen Kompromisses den Bestand des evangelischen Wesens in Deutschland gefährde, entwickelten die „Herren des Diskurses“ unter den protestantischen Ständen mit ihren Religionsverwandten so eine Lesart des Reichsverfassungsrechts, die einer Majorisierung durch den katholischen Reichsteil entgegengehalten werden konnte; und das hieß auch: eine Interpretation, die zentrale kaiserliche Prärogativen potentiell aushebelte – sofern man die evangelische Interpretation politisch durchsetzen konnte. Mit der Vereinheitlichung der evangelischen Verfassungsdeutung und der zunehmenden politischen Zusammenarbeit im Corpus Evangelicorum seit ca. 1715 ging aber naturgemäß auch einher, dass sich die Wahrnehmung des katholischen Reichsteils als Gegen-Gruppe verfestigte. Diese Vorstellung eines akuten konfessionellen Gegensatzes war wiederum zentral für die integrative Kraft, die von der Konstruktion einer gemeinsamen konfessionspolitischen Identität der Protestanten ausging. Dabei fielen die Unterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten nunmehr kaum noch ins Gewicht.3 Diese Entwicklung lässt sich gleichwohl, vor allem mit Blick auf das Verhältnis aller drei Konfessionen zueinander, kaum adäquat mit der Feststellung beschreiben, dass der konfessionelle Gegensatz im Reich des 18. Jahr-
3 Hier ergeben sich mit Blick auf die (kontrovers-)theologischen Debatten des 17. Jahrhunderts und die dort zu beobachtende Nutzung des Terminus „Protestanten“ als integrativer, d. h. beide evangelische Konfessionen umfassender Begriff bemerkenswerte Parallelen. So belegt die begriffsgeschichtliche Studie von Witt, Protestanten, für das späte 17. Jahrhundert, dass die den Reformierten und Teilen des gemäßigten Luthertums gemeinsame Deutung der Begriffe „Protestanten“ oder „Protestierende“ zunehmend „Ausdruck einer gemeinsamen Überzeugung [wurde]: dass es zwar zwischen den Reformationskirchentümern unhintergehbare und historisch gewachsene, theologisch begründbare Differenzen geben mag, diese aber dem versöhnenden Miteinander im Bewusstsein legitimer Pluralität nicht notwendig im Wege stehen müssen“ (ebd., S. 275). In dieser Entwicklung bildete der lutherische Pietismus mit seiner Konzentration auf die Bibel und der damit einhergehenden Relativierung der Bedeutung der Bekenntnisschriften eine entscheidende Voraussetzung für die, sich freilich erst später durchsetzende, „Entschränkung des Integrationsbegriffs Protestantes / Protestierende / Protestanten“. Die Untersuchung von Witt erstreckt sich allerdings nicht auf das 18. Jahrhundert. Dass sich erstens die integrative Verwendung dieser Begrifflichkeiten und zweitens die damit verbundene Überzeugung im 18. Jahrhundert schließlich gewissermaßen flächendeckend durchsetzten, steht am Ende der Studie als Ausblick (ebd., bes. S. 276).
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hunderts „zur reinen Parteibezeichnung […] verkam“.4 Vielmehr nahm „das unmittelbare dogmatische Konfliktpotential“5 zwischen allen drei Konfessionen in der Zeit der Aufklärung zweifellos ab; die politisch-rechtlichen Konflikte blieben dagegen erhalten. Die letzteren aber äußerten sich aufgrund der verfassungspolitischen Rahmenbedingungen sowie der politischen Entwicklungen seit Anfang des 18. Jahrhunderts „nur noch“ im katholisch-evangelischen Gegensatz. Das Verfassungsprogramm von 1648 erkannte zwar – im Unterschied zum Augsburger Religionsfrieden – drei Konfessionen (und konfessionelle Besitzstände) an, ging aber hinsichtlich der paritätischen Bestimmungen – wie schon der Augsburger Religionsfrieden 1555 – nur von zwei Konfessionsgruppen aus. Die Reformierten konnten seit dem Westfälischen Frieden zwar mit ihrer reichsrechtlichen Anerkennung nun ganz fraglos Besitzstände und politische Partizipationsrechte für sich reklamieren, gerieten damit aber unter Umständen nicht nur mit der katholischen Interpretation der einschlägigen Bestimmungen des Friedenswerkes in Konflikt, sondern auch mit den Interessen der Lutheraner, wie sich besonders deutlich am Beispiel der Kurpfalz ablesen lässt. Erst die erfolgreiche Überwindung dieser innerevangelischen Differenzen auf der Ebene des Reiches (also im Rahmen des Corpus Evangelicorum) und damit einhergehend die Entwicklung einer homogenen und in ihrer Einheitlichkeit klar der katholisch-kaiserlichen Auslegung entgegengesetzten Verfassungsinterpretation ermöglichte die Realisierung des (oppositions-)politischen Potentials, das die Paritätsbestimmungen der 1648er Ordnung den evangelischen Reichsständen boten. Im Zuge der Debatten um die innerevangelischen Differenzen hatte Brandenburg-Preußen mit einem doppelten Problem zu kämpfen: Die Dynastie der Hohenzollern bzw. die Berliner Regierung musste das „Image“ einer reformierten Vor- und Schutzmacht ablegen, das sie allen Lutheranern von vornherein verdächtig machte – und zwar insbesondere mit Blick auf den bedeutsamen Fall der Kurpfalz. Und um die reformierte Haltung glaubwürdig in eine allgemein-protestantische, auch für die Lutheraner akzeptable Rolle zu transformieren, mussten Traditionen über Bord geworfen und etablierte Klientelverbindungen aufgelöst werden. Friedrich Wilhelm I. scheute im Kontext der reichsweiten Konfessionskrise nicht davor zurück, die Erwartungen der kurpfälzischen Reformierten an ihre traditionelle Schutzmacht zu enttäuschen. Damit stieß er teilweise auch seine eigenen – reformierten – Diplomaten vor den Kopf, die sich schon in der Vergangenheit unter Friedrich III./I. für die Belange der Glaubensverwandten in der Kurpfalz eingesetzt hatten und die teilweise selbst pfälzische Wurzeln besaßen bzw. mit den reformierten Eliten der Kurpfalz eng verflochten waren. Doch diese noch unter Friedrich III./I. intensiv gepflegten Verbindungen rangierten für Friedrich Wilhelm I. im Zeichen der Auseinandersetzung mit Wien klar hinter dem primären Ziel seiner Reichspolitik dieser Jahre: einer Stärkung der Position Brandenburg-Preußens gegenüber dem Kaiser mithilfe einer möglichst geeinten Front aller evangelischen Reichsstände. 4
So Burgdorf, Reichskonstitution, S. 171. Burkhardt, Abschied, S. 4.
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Die sich etwa seit der Jahrhundertwende abzeichnende Konfessionskrise und das Ringen der protestantischen Reichsstände um eine einheitliche Lesart der Normaljahresbestimmungen waren entscheidende Katalysatoren für die Formierung des Corpus Evangelicorum zu einer politisch handlungsfähigen Institution – mit internen Verfahrensregeln und einer gemeinsamen Agenda für die Verhandlungen mit dem Kaiser und dem katholischen Reichsteil. Entscheidend für das Agieren des Corpus waren allerdings immer die Interessen und der Einfluss der mächtigen protestantischen Reichsfürsten, allen voran Brandenburg-Preußens und Hannover-Englands. Eine gesamtprotestantische Politik war ohne das Zusammenwirken dieser beiden „Großen“ nicht zu realisieren – weder in den 1720er Jahren noch im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts, als sich die Machtverhältnisse im Reich deutlich zugunsten Preußens verschoben. Während der in dieser Arbeit untersuchten Jahre, in der ersten politisch aktiven Phase des Corpus Evangelicorum also, formulierte Brandenburg-Preußen seinen Vorrang allerdings noch vergleichsweise zurückhaltend. Friedrich Wilhelm I. war offenbar daran gelegen, sich sowohl innerhalb des Corpus Evanglicorum als auch gegenüber dem Kaiser nicht zu sehr zu exponieren. Mit Blick auf die Situation innerhalb des Corpus Evangelicorum lag das wohl primär an dem Misstrauen, mit dem sich Brandenburg-Preußen seitens der lutherischen Mehrheit nach wie vor konfrontiert sah. Im Konflikt mit Wien erfüllte diese Strategie vor allem den Zweck, individuelle Maßnahmen gegen unbotmäßige katholische Korporationen im eigenen Territorium als Ausfluss gesamtprotestantischer Entscheidungen darstellen und so gewissermaßen hinter die Einheitsfront des Corpus Evangelicorum zurücktreten zu können. Diese Argumentation, wie überhaupt die gesamte verfassungstheoretische Struktur des Corpus Evangelicorum, basierte schließlich auf der Idee einer ständischen Korporation, mithin auf einer Betonung der horizontalen Struktur des Reichskörpers. Für die Berliner Politik erfüllte der Verweis auf die innerprotestantische ständische Solidarität und die Verbindlichkeit korporativ gefasster Entschlüsse aber zweifellos primär den Zweck, die eigene Machtposition gegenüber dem Kaisertum zu stärken und so letztlich die Sonderstellung Brandenburg-Preußens innerhalb des Reiches zu betonen; und das wiederum hieß nicht zuletzt: die kaiserlichen Prärogativen speziell für das eigene Territorium (und für die eigene, königliche Person) zurückzudrängen. Für alle großen weltlichen Territorien war der Einfluss, den die Kaiser in erster Linie mit Hilfe der Reichsjustiz auf ihre inneren Verhältnisse nehmen konnten, ein Faktor, den es möglichst weitgehend auszuschalten galt. Insofern ist es nicht überraschend, dass in der frühen Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. die zahlreichen Reichshofratsprozesse gegen den preußischen König einen großen Anteil an der dramatischen Verschlechterung des diplomatischen Verhältnisses zwischen Wien und Berlin hatten. Dabei waren sowohl quantitativ als auch qualitativ vor allem solche Prozesse von Bedeutung, die von Untertanen des preußischen Königs aus jenen Landesteilen angestrengt wurden, in denen die Hohenzollern über kein unbeschränktes Privilegium de non appellando verfügten – und das waren just jene Gebiete, in denen die meisten Katholiken lebten. Diese nahmen auch tatsächlich
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(sofern sie über die Landstandschaft verfügten) die Möglichkeit der Appellation häufig in Anspruch. Friedrich Wilhelm I. verwahrte sich in ganz besonders scharfem Ton gegen die Aktivität des Reichshofrats: Neben den üblichen Argumenten verwies man in Berlin besonders nachdrücklich auf die königliche Würde bzw. die königliche Souveränität. Was auf den ersten Blick als „Stilfrage“ erscheinen mag, nämlich die Zurückweisung der im sog. Stylus Curiae gehaltenen Schreiben, als eine einer königlichen Person unzumutbaren Schreibart, war im Kern der Versuch, die königliche Souveränität auf die brandenburgischen Reichsterritorien auszudehnen. Friedrich Wilhelm I. formulierte hier – zumindest implizit – für die in reichsrechtlicher Hinsicht ja eigentlich irrelevante Krone Ansprüche, die in direktem Widerspruch zu den Vereinbarungen des von seinem Vater geschlossenen „Krontraktats“ standen. Er trat in „Reichssachen“ nicht in den vielfältigen Rollen auf, die das Reichsrecht vorsah: als Kurfürst, Herzog, Fürst oder Graf, sondern beanspruchte zunehmend Privilegien, die einem König zustanden – eine Beobachtung, die sich im Übrigen auch auf dem Feld der Diplomatie machen lässt. In Berlin griff man aber neben dem „Souveränitäts-Argument“ zunehmend auch auf die vom Corpus Evangelicorum entwickelte verfassungsrechtliche Argumentation zurück, um dem Reichshofrat grundsätzlich die Legitimation zur Rechtsprechung in „Religionssachen“, ja sogar in sämtlichen gemischtkonfessionellen Fällen abzusprechen. Gerade der Streit um den Reichshofrat in der ersten Hälfte der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. zeigt daher, wie Friedrich Wilhelm I. auf verschiedene – verfassungstheoretisch sich geradezu widersprechende – Auslegungen der Reichsverfassung zurückgriff, um die eigene Stellung gegenüber dem Kaisertum zu verbessern. Damit setzte Friedrich Wilhelm I. sich in einen scharfen Gegensatz zum Kaiserhof oder doch zumindest zu jenen Kreisen in Wien, für die die Bewahrung der traditionellen Forma imperii gleichbedeutend mit der Essenz der kaiserlichen Würde war. Diese Form der Reichspolitik dominierte die frühe Regierungszeit Karls VI., und sie wurde personifiziert durch den Reichsvizekanzler Graf Friedrich Carl von Schönborn, der persönlich, familiär und institutionell gleichsam den Gegenentwurf zur weltlich-protestantischen Großmacht Brandenburg-Preußen bildete. Schon kurz nach seiner Thronbesteigung hatte Friedrich Wilhelm I. begonnen, die am Kaiserhof üblichen Formen der höfisch-diplomatischen Kommunikation immer wieder ostentativ zu missachten – eine Haltung, die dazu beitrug, dass die preußisch-österreichischen Beziehungen im Sommer 1721 in einem vielbeachteten diplomatischen Skandal, einem Zusammenstoß zwischen dem brandenburg-preußischen Residenten in Wien und dem Grafen Schönborn, gipfelten. Dieser Eklat brachte zwischenzeitlich die diplomatische Kommunikation zwischen den beiden Höfen zum Erliegen. Anders als in der Historiographie häufig zu lesen, war dieser Zusammenstoß aber nicht der Unkenntnis oder Ungeschicklichkeit eines mit den Gepflogenheiten seiner Zeit schlicht nicht vertrauten Königs geschuldet. Vielmehr handelte es sich um eine gezielte Eskalation mit eben jenem kaiserlichen Minister, der Friedrich Wilhelm I. das „königliche Traktament“ systematisch verweigerte und der daher in
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Berlin als Hauptverantwortlicher für die seit Regierungsbeginn immer schlechter werdenden Beziehungen zum Kaiserhof galt. Die Wiederannäherung zwischen Berlin und Wien steht vor allem mit dem Namen des Grafen Seckendorff in Verbindung. Weniger bekannt ist die flankierende Gesandtschaft des Reichshofrats-Vizepräsidenten Wurmbrand, die bemerkenswerterweise auf die Initiative des Kaiserhofes zurückging. Diese diplomatische Offensive war fraglos in erster Linie der dynastischen Notlage geschuldet, die sich für die Habsburger mittlerweile abzeichnete. Sie stellte jedoch auch eine Reaktion auf die Erfahrung dar, dass es zunehmend unmöglich wurde, eine traditionelle kaiserliche Reichspolitik gegen eine geschlossene protestantische Front zu gestalten. Nicht zuletzt verdeutlichen die Wiener Quellen aber auch, wie sehr sich die kaiser liche Diplomatie der Tatsache bewusst war, dass man dem preußischen König gerade in jenen Punkten würde entgegenkommen müssen, die in der Vergangenheit für ständige Reibereien gesorgt hatten: ein – wie auch immer geartetes – „königliches Traktament“ sowie eine deutliche Eindämmung der laufenden Prozesse gegen den preußischen König. Auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellten sich im Kampf um die Deutungshoheit über die Reichsverfassung bzw. über die politische Umsetzung der jeweiligen Deutungen die evangelische wie die katholisch-kaiserliche Seite rhetorisch konsequent auf den Boden der 1648er Ordnung. Beide Seiten nahmen mithin die Bewahrung des Westfälischen Friedens und damit verbunden den Erhalt des Reichsverbandes für sich in Anspruch. Nicht zuletzt, weil das „Reichsgrundgesetz“ politisch-moralisch als nicht hintergehbar galt und immer noch eines der wichtigsten Symbole für den – tatsächlich abnehmenden – „ideellen Grundkonsens“ (HaugMoritz) darstellte, war es für beide Konfessionsgruppen praktisch ausgeschlossen, sich offensiv zu einer gewaltsamen, dem (freilich strittigen) „wahren Sinn“ des Westfälischen Friedens zuwiderlaufenden Veränderung der konfessionellen Verhältnisse zu bekennen. Ein (gegen-)reformatorischer Impetus eignete sich daher auch nur noch zur Diskreditierung der Gegenseite. So wurde der Vorwurf, auf welche Weise auch immer die konfessionsrechtlichen Bestimmungen des Westfälischen Friedens zu unterminieren, regelmäßig der jeweils anderen Gruppe gemacht. Für den politischen Protestantismus im Allgemeinen und für die preußische Kriegspropaganda im Siebenjährigen Krieg im Besonderen bedeutete dies, dass man die eigene Politik durchgängig als Abwehr der vermeintlichen gegenreformatorischen Bestrebungen der Gegenseite und als Verteidigung der Religionsfreiheit darstellte. Johannes Burkhardt hat anhand seiner Untersuchung des Papsttums im Siebenjährigen Krieg gezeigt, dass die politischen Verhältnisse im 18. Jahrhundert es eben nicht mehr erlaubten, „sich zu einem Religionskrieg offen zu bekennen oder Religionsfragen auch außerhalb Roms zu einem zentralen Kriegsziel aufzubauen“.6 Insbesondere im Heilligen Römischen Reich (aber auch in Schlesien) war die Mehr 6
Burkhardt, Abschied, S. 371.
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konfessionalität politische Realität und der „Religionskrieg“ nur noch ein Topos, der in diffamierender Absicht benutzt wurde. Als legitim galt dagegen der Schutz der eigenen Konfession, der untrennbar mit der Verteidigung der Religionsfreiheit und dadurch mit dem Bekenntnis zur Mehrkonfessionalität verbunden war. Nichtsdestoweniger bzw. eben deshalb konnte man mit konfessioneller Polemik nach wie vor kollektive Identitäten ansprechen und damit Politik betreiben – das zeigen die Neuauflagen des „Discursus Politicus“ und des angeblichen Glaubensbekenntnisses Friedrichs III./I. genauso wie die zahlreichen anderen religionspropagandistischen Schriften aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges und darüber hinaus. Dass konfessionelle Identitäten auch in der Spätzeit des Alten Reichs immer noch erfolgreich für politische Zwecke angesprochen und instrumentalisiert werden konnten bzw. zur Deutung der politischen Realität herangezogen wurden, hatte seinen Grund wiederum nicht zuletzt in der engen Verquickung von politischen und konfessionellen Teilhaberechten und der damit verbundenen Entwicklung eines „politischen Protestantismus“. Die jüngere Reichshistoriographie hat sich – wenngleich mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten und Bewertungen – zum überwiegenden Teil auf die eine oder andere Weise mit der Spannung zwischen dem durch den Westfälischen Frieden noch einmal „geretteten“ und sich in der Folge konsolidierenden Reichsverband auf der einen Seite und seiner zunehmenden Krisenhaftigkeit ab der Mitte des 18. Jahrhunderts auf der anderen Seite beschäftigt – mit anderen Worten: mit dem Widerspruch zwischen einer friedenserhaltenden aber statischen (im Sinne von reformunfähigen) Reichsverfassung einerseits und dem dynamischen Prozess der Staatsbildung und Expansion sowie dem zunehmenden Souveränitätsstreben einiger großer Reichsstände andererseits. Dabei war Brandenburg-Preußen zweifellos derjenige Reichsstand, der die letztgenannten Faktoren in besonders ausgeprägter Weise auf sich vereinigte und deswegen seinerseits zu einer zentralen Ursache für die Krise des Reichsverbandes im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde. Trotzdem – oder gerade deswegen – stellt Brandenburg-Preußens Verhältnis zum Reich im 18. Jahrhundert nach wie vor keinen Schwerpunkt der Reichsgeschichtsschreibung dar. Ein wichtiger Grund hierfür liegt sicherlich in der Neubewertung des Westfälischen Friedenswerkes und der damit einhergehenden, etwa seit den 1980er Jahren vorherrschenden Perspektive auf das nachwestfälische Reich als einer funktionierenden politischen Größe. Insofern ist es – auch abgesehen von den weiteren historischen und gesellschaftspolitischen Gründen – nachvollziehbar, dass eine Macht wie Brandenburg-Preußen, deren Verhältnis zum Reich bestenfalls als ambivalent zu beschreiben ist und die vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wesentlich zur Dysfunktionalität der Reichsverfassung beitrug, zunächst nicht im Zentrum der Forschung stand. Und auch wenn Friedrich der Große heute nicht mehr einseitig als „ewiger Reichszerstörer“ gilt7 und sich die Forschung in jüngerer Zeit intensiver mit seiner Reichspolitik befasst hat, herrscht nichtsdesto 7
Neugebauer, Hohenzollern 2, S. 45.
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weniger Einigkeit darüber, dass die akute Krise, in die das Reich spätestens Mitte des 18. Jahrhunderts geriet, maßgeblich auf den Aufstieg Brandenburg-Preußens, mithin die Etablierung des preußisch-österreichischen Dualismus zurückzuführen ist und dass für diese Entwicklung wiederum der konfessionelle Gegensatz eine wichtige Rolle spielte. In der Tat konnte die preußische Reichspolitik unter Friedrich II. mit ihrer erfolgreichen Aktivierung jener verfassungspolitischen und propagandistischen Potentiale, die eine evangelische Oppositionspolitik gegen den Kaiser erst ermöglichten, einerseits auf verfassungsrechtlich-politische Entwicklungen aufbauen, die wesentlich in den Jahren zwischen 1700 und 1725 stattgefunden hatten. Andererseits vermochte Friedrich II. – insbesondere im Siebenjährigen Krieg – auf ein überkommenes „Image“ Brandenburg-Preußens als Schutzmacht beider evangelischer Konfessionen bzw. als die potentielle Gegenmacht zum katholischen Kaisertum zu rekurrieren. Die ideellen Grundlagen für die Stilisierung Brandenburg-Preußens als evangelischer Gegenpol zum katholischen Kaisertum gehen allerdings deutlich weiter zurück als die Entwicklung des Corpus Evangelicorum zum Corpus politicum. Das Beispiel des „Stralendorfschen Gutachtens“ deutet darauf hin, dass diese Vorstellung seit dem 17. Jahrhundert existierte. Hier wurde bereits deutlich, dass für dieses Bild wiederum das Verhältnis Brandenburg-Preußens zu beiden evangelischen Bekenntnissen im Reich einen sensiblen Punkt darstellte, auf den die brandenburgischen Hohenzollern schon aufgrund der konfessionellen Verhältnisse innerhalb ihres eigenen Territoriums seit 1613 Rücksicht nehmen mussten. Tatsächlich geht die Repräsentation und Förderung einer gemäßigten und auf Integration ausgerichteten Variante des Calvinismus bzw. eines Protestantismus jenseits der strengen Dichotomie Luthertum – Reformiertentum bis auf die Zeit der Konversion Johann Sigismunds zurück. Diese Tendenzen wurden in der Folge freilich unterschiedlich stark betont, umgesetzt und rezipiert; sie verschwanden aber nie ganz und waren auch auf der Ebene der Reichspolitik Teil der politischen Repräsentation Brandenburg-Preußens innerhalb des Lagers der evangelischen Reichsstände. In der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. kamen sie verstärkt zum Tragen, sowohl in der Herrscherrepräsentation als auch in der tatsächlich verfolgten Konfessionspolitik im Reich. Diese Entwicklungen standen in engem Zusammenhang mit der Entstehung einer institutionalisierten evangelischen Reichspolitik, im Zuge derer wiederum die theologischen Unterschiede zwischen den beiden evangelischen Bekenntnissen eine immer geringere Rolle spielten bzw. versucht wurde, politisch von den innerevangelischen Gegensätzen zu abstrahieren. Einen wichtigen Schritt für die Entwicklung des „Images“ Brandenburg-Preußens als der protestantischen Schutzmacht im Reich stellte zweifellos die Intervention Friedrich Wilhelms I. zugunsten der Salzburger Protestanten in den Jahren 1731/32 dar.8 Die „Rettung“ bzw. Emigration von über 15.000 protestantischen Ex 8
Die Emigration der Salzburger Protestanten ist gut erforscht; entsprechend umfangreich ist die Literatur zu diesem Ereignis. Das ältere Verzeichnis von Dannappel, Literatur der Salzburger
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ulanten, die von ihrem Landesherrn ausgewiesen worden waren und zu Tausenden durch das Reich nach Ostpreußen wanderten, verfestigte das Bild von BrandenburgPreußen als der wichtigsten evangelischen Schutzmacht im Reich. Zwar engagierten sich auch England-Hannover sowie das Corpus Evangelicorum für die bedrängten Glaubensgenossen, indem sie ebenfalls emigrierende Salzburger aufnahmen bzw. deren Rechte verteidigten, sich beim Kaiser für sie einsetzten und sie bei der Auswanderung unterstützten; in der kollektiven Memoria hat sich allerdings schon unter den Zeitgenossen die Vorstellung Brandenburg-Preußens als „Führer und Retter“ der Evangelischen verfestigt. Das liegt vor allem an der zeitgenössischen Publizistik, die dieses Ereignis intensiv begleitete.9 Die zahlreichen Illustrationen, Dichtungen und Lieder schufen noch zur Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. ein Bild, dessen Existenz es später Friedrich II. ermöglichte, sich so erfolgreich zum Wahrer der evangelischen Freiheiten zu stilisieren.10 Von Bedeutung war dabei sicherlich auch, dass es sich eben im Falle der Salzburger Protestanten (zumindest nominell) um Lutheraner handelte, definitiv jedenfalls nicht um Angehörige der reformierten Konfession.11 Gleichzeitig zeigt die brandenburg-preußische Intervention im Kontext der Salzburger Emigration aber auch – wie schon die Schutzpolitik Friedrichs III./I. gegenüber den kurpfälzischen Reformierten –, dass eine entschiedene brandenburg-preußische Konfessionspolitik im Reich nicht notwendigerweise mit einer anti-kaiserlichen Reichspolitik einhergehen musste. Die Jahre 1731/32 markieren vielmehr den Höhepunkt der preußisch-kaiserlichen Zusammenarbeit mit Blick auf die Durchsetzung der Garantie des Reichs für die Pragmatische Sanktion. Die prekäre Situation des Hauses Habsburg, in der Karl VI. unbedingt auf die Unterstützung des preußischen Königs angewiesen war, zwang freilich auch Wien zu einer vermittelnden Haltung in dieser äußerst brisanten Konfessionsangelegenheit. Friedrich Wilhelm I. wiederum agierte zwar weitgehend in Absprache mit dem Corpus Evangelicorum, hatte aufgrund der außenpolitischen Rahmenbedingungen aber keinerlei Interesse, die evangelische Ständevertretung erneut nach dem Vorbild der Jahre 1719–1722 zum Forum anti-kaiserlicher Oppositionspolitik Emigration, beinhaltet einen Großteil der äußerst zahlreichen zeitgenössischen Darstellungen. Aus der jüngeren Literatur sei hier exemplarisch verwiesen auf: Walker, Salzburger Handel; Emrich, Emigration; Florey, Geschichte der Salzburger Protestanten. 9 Vgl. Dannappel, Die Literatur der Salzburger Emigration; Dittrich, Lieder der Salzburger Emigranten; Marsch, Die Salzburger Emigration in Bildern; sowie zusammenfassend Walker, Salzburger Handel, bes. S. 99–102; allgemein zur Rezeption im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert: ebd., S. 172–200. 10 In der Deutung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde die „Salzburger Emigration“ mit ihren wirtschaftlichen wie konfessionellen Komponenten schließlich zu einem Sinnbild preußisch-protestantischer Tugenden; vgl. Walker, Salzburger Handel, bes. S. 188, 197–200. 11 Die Frage, ob die „Salzburger Protestanten“ zu einer der beiden reichsrechtlich anerkannten evangelischen Konfessionen gezählt werden konnten, war tatsächlich zwischen dem Erzbischof auf der einen Seite, der die evangelischen Bauern als „Ketzer“ und also keiner der anerkannten Konfessionen zugehörig darstellte, und dem Corpus Evangelicorum auf der anderen Seite umstritten. Das Corpus Evangelicorum betrachtete sie formell als Angehörige der lutherischen Konfession, um damit den Anspruch der Emigranten auf eine dreijährige Auswanderungsfrist sowie die damit verbundenen Besitzrechte aufrechtzuerhalten; vgl. Emrich, Emigration, S. 40–43.
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aufzubauen. Dennoch konnte das Ansehen Brandenburg-Preußens als evangelische Schutzmacht (und Gegenmacht zum katholischen Reichsteil), das gerade durch die Salzburger Emigration stark gewonnen hatte, zu anderen Gelegenheiten von der brandenburg-preußischen Politik auch wieder für genuin anti-kaiserliche respektive anti-katholische Propaganda genutzt werden. Sowohl mit Blick auf das Verfahren auf dem Reichstag bzw. innerhalb des Corpus Evangelicorum als auch mit Blick auf die Selbstdarstellung und Propaganda gelang es Friedrich dem Großen insbesondere während des Siebenjährigen Krieges, das Bild Brandenburg-Preußens als evangelische Schutzmacht erneut im anti-kaiserlichen Sinne zu instrumentalisieren und auf die „immer schon“ eminent konfessionell begründete Gegnerschaft zwischen den brandenburgischen Hohenzollern und dem Haus Habsburg zu verweisen. Im 19. Jahrhundert wurde das Bild Brandenburg-Preußens als genuin protestantische Macht dann bekanntermaßen eng mit dem „nationalen Beruf“ Preußens gekoppelt. Sowohl die affirmative Verwendung, die das „Stralendorfsche Gutachten“ bei einigen Vertretern des borrussisch gefärbten Historismus gefunden hat, als auch die emotionale Kritik des katholischen Historikers Felix Stieve an eben dieser Verwendung belegen, wie eng für die damalige Geschichtswissenschaft die „nationale Frage“ mit dem – nach wie vor bestehenden und lebensweltlich omnipräsenten – konfessionellen Antagonismus verbunden war. Der konfessionelle Gegensatz verschmolz nicht nur im 18., sondern auch und gerade im 19. Jahrhundert mit dem preußisch-österreichischen Dualismus und verband sich dann zudem im borrussischen Historismus mit der Vorstellung von „Preußens deutscher Sendung“. Insofern ist es naheliegend, diese konfessionellen Feindbilder primär oder gar ausschließlich als Konstruktionen des 19. Jahrhunderts zu diagnostizieren und infolgedessen die „nationale“ und die „protestantische Sendung“ Preußens gleichsam in einem Atemzug als teleologisch-nationalistische Rückprojizierungen in die Geschichte der Frühen Neuzeit zu dekonstruieren. Eine solche Interpretation läuft aber Gefahr, mit Blick auf die Geschichte der konfessionellen Repräsentation (Brandenburg-)Preußens nicht nur die genuin frühneuzeitlichen Wurzeln dieser Ideen zu übersehen, sondern auch die Bedeutung dieses Konstrukts für die politische Realität in der Frühen Neuzeit. So hat Anton Schindling mit Verweis auf die Ende des 17. Jahrhunderts deutlich gestärkte kaiserliche Position im Reich die Meinung vertreten, dass die „angebliche Eifersucht der Hofburg auf die anwachsende Geltung Brandenburgs […] eher eine Erfindung des 19. Jahrhunderts als eine Realität des 17. Jahrhunderts zu sein [scheine]“.12 Sicher, die jalousie der Habsburger auf die Brandenburger Hohenzollern war ein Konstrukt und damit, wenn man so will, eine „Erfindung“ – wie im Übrigen alle politischen Ideen. Aber – so wird man etwa mit Blick auf das „Stralendorfsche Gutachten“ einwenden können – dieses Konstrukt stammte eben bereits aus dem frühen 17. und nicht erst aus dem späten 19. Jahrhundert. Und mehr noch: Die Vorstellung der notorischen Eifersucht Österreichs auf das Haus Brandenburg fungierte als argumentative Grundlage für die 12
Schindling, Kurbrandenburg, S. 46.
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Idee eines strukturellen Gegensatzes zwischen Habsburg und den Hohenzollern. Das Bild dieses Gegensatzes, der direkten Konkurrenz, aber war wiederum bereits im frühen 17. Jahrhundert aufs Engste mit dem konfessionellen Antagonismus im Reich gekoppelt. Und so erscheint schließlich auch die so vielbeschworene wie dekonstruierte „protestantische Sendung Preußens“ nicht nur als eine nachträgliche Stilisierung des borussisch gefärbten Historismus; sie war vielmehr schon seit dem frühen 17. Jahrhundert Idee – und prägte damit die politische Realität.
Quellen- und Literaturverzeichnis I. Archivalien Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz: I. HA, Rep. 1
Nr. 264, 286, 288, 289, 290, 293, 299, 300, 321
I. HA, Rep. 10 Nr. 67 a, Fasz. 4; Nr. 67 b, Fasz. 8; Nr. 79, Fasz. 5, 12, 13, 14, 16 I. HA, Rep. 13 Nr. 25, Fasz 1; Nr. 25 a, Fasz. 1, 2, 3, 4, 5; Nr. 27; Nr. 29, Fasz. 5, 7, 10; Nr. 30 a, Fasz. 1, 4; Nr. 31, Fasz. 1, 2, 3, 4, 6; Nr. 32, Fasz. 3, 4 I. HA, Rep. 18
Nr. 31, Fasz. 23, 62, 63, 64, 65, 142, 144, 149, 152, 153
I. HA, Rep. 33
Nr. 93, 103
I. HA, Rep. 40
Nr. 15, 25, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 43, 44, 45
Wien, Haus-, Hof und Staatsarchiv Reichshofrat Denegata recentiora
110/2, 110/3, 110/5
Decisa
898, 1597
Vota ad imperatorem
9-22, 21-4, 21-5, 22-32, 22-33, 28-1, 46-23
Reichskanzlei Vorträge des Reichsvizekanzlers
6 b, 6 c
Berlin – Berichte
11 a, 11 b, 12 a,
Berlin – Weisungen
4a
Reich – Berichte
21
Reich – Weisungen
7
Religionsakten
37, 39, 40, 48, 49
Mainzer Erzkanzlerarchiv Geistliche und Kirchensachen
36, 46, 47
Religionssachen 34 Reichshofrat 7–7 Staatenabteilungen Brandenburgica
28, 29, 30, 31
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Fassmann, David, Gespräche in dem Reiche derer Todten Entrevue Nr. 125 zwischen dem letztverstorbenen regierenden Hertzog zu Sachsen-Zeitz Mauritio Wilhelmo und Ernst Grafen von Metternich […], Leipzig 1728. Fortgesetzte Sammlung von alten und neuen theologischen Sachen: darinnen von Büchern, Uhrkunden, Controversien, Veränderungen, Anmerckungen und Vorschlägen u. d. g. […] nützl. Nachricht ertheilet wird, Leipzig 1720–1750. Frensdorff, Ferdinand (Hg.), Briefe Friedrich Wilhelms I. von Preussen an Hermann Reinhold Pauli, Göttingen 1893. Gedicke, Lampert, Kurtze Erklärung der Lehre von der wahren Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im heiligen Abendmahl, Berlin 1722. Glaubens-Bekänntniss Sr. Königl. Majestät in Preussen, welches Sie allen protestantischen Ministris zu Regenspurg insinuieren lassen, o. O. 1757. Glaubensbekenntnis Sr. Königl. Majestät in Preussen / welches er allen Protestantischen Ministris zu Regenspurg insinuieren lassen, o. O. 1756. Gründliche Deduction Cum Rationibus Dubitandi Et Decidendi, Der Evangelisch-Reformirten In Franckfurt am Mayn Jura und Befugnüsse Zu einer Kirche in der Stadt betreffende: Welche von Seiner Königlichen Majestät in Preussen Gesandschafft dasigen Magistrats Deputirten den 21. Decembris 1711. zwar zugestellet, bishero aber von demselben unbeantwortet gelassen worden […], o. O. 1712. Heinson, Johann Theodor, Das Calvinisten-ABC. Zu dem Ende also genannt und in diese Ordnung gebracht, daß man so fort nachschlagen […] könne, wie die Herren Reformirten […] mit uns Evangelisch-Lutherischen […] umgegangen seyn, Hamburg 1721. Hellgläntzender Warheits-Spiegel denen Allerdurchl. und Großmüthigsten, der unveränderten Augsp. Confession Zugethanen K. K. M. M. Chur- und Hochfürstlichen […] Reichs-Ständen […] Abgesandten und Bottschafften zu Regenspurg / wider die in Chur-Pfaltz befindliche Reformirte […] auffgestellet von dem Evangelisch-Lutherischen Consistorio zu Heydelberg […], Heidelberg 1708. Henniges, Heinrich, Meditationum ad instrumentum pacis Caesareo-Suecicum specimen, 10 Bde., Halle 1706–1712. Hiltebrandt, Philipp, Preussen und die Römische Kurie. Band 1: Die vorfriderizianische Zeit (1625–1740), Berlin 1910. Hippolithi a Lapide, Abriß der Staats-Verfassung, Staats-Verhältniß und Bedürfniß des Römischen Reichs Deutscher Nation; nebst einer Anzeige der Mittel zur Wiederherstellung der Grund-Einrichtung und alten Freyheit nach dem bisherigen Verfall. Aus Bogislav Philipps von Chemnitz vollständiger lateinischer Urschrift; mit Anmerkungen, welche die gegenwärtigen Umstände im Reich betreffen. 3 Teile, [hg. u. komm. v. Johann Ludwig Uhl], Mainz / Koblenz 1761. Ihro Churfürstliche Durchleucht zu Brandenburg Friedrich Des Dritten Glaubens-Bekantnuß, o. O. o. J. [um 1690]. Jablonski, Johann Theodor, Das Betrübte Thorn, Oder die Geschichte so sich zu Thorn von dem 11. Jul. 1724. biß auf gegenwärtige Zeit zugetragen […], Berlin 1725.
II. Gedruckte Quellen
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[Klemm, Johann Christian], Christiani Fratelli Unpartheyisches Liebes-Schreiben an Einen guten Freund wegen Vereinigung derer Beyden Protestirenden Religionen, Nemlich Der Evangelisch-Lutherischen und Evangelisch-Reformirten, Frankfurt a. M./Mannheim 1726. [Klemm, Johann Christian], Die nöthige Glaubens-Einigkeit der Protestantischen Kirchen, auch nach denen selbst beliebten Principiis der so genannten Lutherischen und Orthodoxen Lehrer mit einem einigen Beweiß-Grund dargethan, Tübingen 1719. Kraus, Johann Baptist, Gründlich- und Acten-mäßige Nachrichten, Von Denen Die GewissensFreyheit Und Das Religions-Exercitium Deren Unterthanen Betreffenden Friedens-Handlungen von Anno 1555 bis 1648. Nebst einigen Wichtigen Beylagen, Regensburg 1759. Küster, Georg Gottfried, Bibliotheca historica Brandenburgica scriptores rerum Brandenbur gicarum maxime Marchicarum exhibens, Breslau 1743. Lehmann, Max, Preussen und die katholische Kirche seit 1640. Erster Theil von 1640 bis 1740 (Publicationen aus den k. Preussischen Staatsarchiven 1), Leipzig 1878. [Leucht, Christian Leonhard] Thucelius, Cassander, Des Heiligen Römischen Reichs-Staats Acta von ietzigen XVIII. Seculo sich anfahend, In welchen nicht allein, die bey annoch währenden Reichs-Tag eingereichte Staats-Schrifften, Und nach dem Reichs-Stylo verfertigte Memorialien, sammt denen darauf erfolgten Reichs-Gutachten, und der Römis. Kayserl. Majest. Approbations- und Commissions-Decreten, sondern auch, was in Ecclesiasticis und andern StaatsKriegs-Justiz-Policey-Commercien-Müntz- und Post-Wesens halber und sonsten in das Röm. Reich ausgefertigt worden, enthalten; Alles […] In gute Ordnung gebracht […] z. öff. Druck ans Licht gegeben. Teil II, Frankfurt a. M./Leipzig 1716; Teil III, Frankfurt a. M./Leipzig 1717. Loen, Johann Michael v., Des Herrn von Loen gesammelte kleine Schrifften, Bd. 1, Frankfurt a. M./Leipzig 1750. Loewe, Victor (Hg.), Preußens Staatsverträge aus der Regierungszeit König Friedrichs I. (Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven 92), Leipzig 1923. Loewe, Victor (Hg.), Preußens Staatsverträge aus der Zeit Friedrich Wilhelms I. (Publikationen aus den königlich preußischen Staatsarchiven 87), Leipzig 1878. Ludolf, Georg Melchior v., De jure camerali commentatio systematica […], Frankfurt a. M. 1722. Lünig, Johann Christian, Des Teutschen Reichs-Archivs Spicilegii Ecclesiastici Dritter Theil: Von Gefürstet- und ungefürsteten Reichs-Prælaten und Aebtißinnen, Leipzig 1716. Lünig, Johann Christian, Europäische Staats-Consilia, oder curieuse Bedencken, welche von Grossen Herren, Hohen Collegiis, Vornehmen Ministren, und andern Berühmten Männern, In Religions- Staats- Kriegs- und andern wichtigen Sachen, Die sowohl gantz Europam, als auch vornehmlich das heil. Röm. Reich Teutscher Nation concerniren, und zur Illustration der neuen geist- und weltlichen Historie, ingleichen des Juris Publici, ohnentbehrlich sind: Seit Dem Anfange des XVI. Seculi, nach beschehener Reformation der Kirche, bis auf dieses 1715. Jahr, abgefasset worden; […]. Bd. 1, Leipzig 1715. Lünig, Johann Christian, Selecta Scripta Illustria: Welche Viel wichtige und auserlesene In Causis Publicis ergangene Materien in sich halten, Die nicht alleine Des Heil. Röm. Reichs OberHaupt, Sondern auch Deßen Glieder, Ingleichen Die freye Reichs-Ritterschafft betreffen, auch andere Curiosa von auswärtigen Puissancen, und sonsten, vorstellen, Davon die meisten noch niemals zum Vorschein kommen, die übrigen aber sehr rar und gar schwer zu erlangen sind […], Leipzig 1723.
530
Quellen- und Literaturverzeichnis
[Metternich, Wolf v.], Ungrund des so genannten Simultanei, Regensburg 1720. Moerner, Theodor v. (Hg.), Kurbrandenburgs Staatsverträge von 1601 bis 1700. Nach den Originalen des Königl. Geh. Staats-Archivs, Berlin 1867. Moser, Johann Jacob (Hg.), Reichs-Fama, welche das Merckwürdigste von demjenigen, so sich ganz kürzlich auf dem Reichs-Convent, an dem Kayserlichen und anderen Höfen, auch mit denen übrigen Ständen des Heiligen Römischen Reichs zugetragen, besonders das, so in das Jus publicum Germaniae tam universale, quam singulorum statuum einschläget, aufrichtig und in guter Ordnung mittheilet […], 23 Bde., Frankfurt a. M./Leipzig, 1727–1738. Moser, Johann Jacob, Historisch- und Rechtliche Betrachtung des Recursus von denen höchsten Reichs-Gerichten an den Reichs-Convent, Frankfurt a. M./Leipzig 1750. Moser, Johann Jacob, Von denen teutschen Reichs-Tags-Geschäfften, 2 Bde. (Neues teutsches Staatsrecht 4), Frankfurt a. M./Leipzig 1768. Moser, Johann Jacob, Vollständiger Bericht von der so berühmt – als fatalen Clausula articuli IV. pacis Ryswiciensis, Frankfurt a. M. 1732. Moser, Johann Jacob, Von der Landeshoheit im Geistlichen (Neues teutsches Staatsrecht 15), Frankfurt a. M./Leipzig 1774. Moser, Johann Jacob, Von der teutschen Justiz-Verfassung, 2 Bde. (Neues teutsches Staatsrecht 8), Frankfurt a. M./Leipzig 1774. Moser, Johann Jacob, Von der teutschen Religions-Verfassung (Neues teutsches Staats-Recht 7), Osnabrück 1774. Mylius, Christian Otto, Corpus Constitutionum Marchicarum, Oder Königl. Preußis. und Churfürstl. Brandenburgische in der Chur- und Marck Brandenburg, auch incorporirten Landen publicirte und ergangene Ordnungen, Edicta, Mandata, Rescripta etc. […]. Erster Theil von Geistlichen, Consistorial- und Kirchen-Sachen […]. Erste Abtheilung von Geistlichen, Consistorial- und Kirchen Sachen etc. Zweite Abtheilung von Universität- Schul- Ehe-Sachen etc., Berlin / Halle 1755. Neumeister, Erdmann, Calvinistische Arglistigkeit, aus einer zu Zürich herausgekommenen Vereinigungs-Schrifft männiglich zu getreuer Warnung für die Augen geleget, Hamburg 1722. Nöhtige Anzeigung wegen des falschen Scripti, So unter dem Titul: Ihrer Churfürstl. Durchlaucht. zu Brandenburg / Herrn Hn. Friderici III. etc. etc. Gewissenhafftes Glaubens-Bekäntnüs / Hin und wieder divulgiret worden, o. O. O. J. [Berlin 1696]. Oberländer, Samuel, Lexicon Juridicum Romano-Teutonicum, Nürnberg 41753, ND hg. v. Rainer Polley, Köln / Weimar / Wien 2000. Pachner von Eggenstorff, Johann Joseph, Vollständige Sammlung Aller Von Anfang des noch fürwährenden Teutschen Reichs-Tags de Anno 1663. biß anhero abgefaßten ReichsSchlüsse: Worinnen, Nebst der bey Eröffnung dieses Reichs-Tags beschehenen Kayserlichen Proposition, alle nachhero von Zeit zu Zeit dahin ergangene Kayserl. Commissions- und andere Decreta: Der […] Reichs-Stände gemeinsamlich abgefaßte Bedencken, Gutachten und Schlüsse: […]. Teil 3: 1710 bis 1718, Regensburg 1776.
II. Gedruckte Quellen
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Politisches Testament des Herzogs Carl von Lothringen und Baar, Groß-Vaters Sr. jetztregieren den Kayserlichen Majestät, welches derselbe zu Presburg am 29. November 1687 dem Kayser Leopold zum Unterricht für den König von Hungarn Joseph und dessen Nachfolger am Reich übergeben. Aus dem Französischen übersetzt, mit einer Abhandlung von den Österreichischen Hauß-Maximen [hg. u. komm. v. Johann Ludwig Uhl], Stadt am Hof 1760. Prüfung der Glaubens-Bekäntnis, so unter dem höchsten Nahmen Seiner Königlich-Preus sischen Majestät Friderich des Zweyten zu Schafhausen in der Schweitz durch öffentlichen Druck an das Tag-Licht gestellet worden, fürgenommen v. einem Orthodoxo Theologo Im Jahr 1759, o. O. 1759. Pufendorf, Samuel v., De rebus gestis Friderici Wilhelmi Magni, Electoris Brandenburgici, commentariorum libri novendecim, Berlin 1695. Pütter, Johann Stephan, Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs. Theil 2: Von 1558 bis 1740, Göttingen 1786. Pütter, Johann Stephan, Systematische Darstellung der Pfälzischen Religions-Beschwerden nach der Lage, worin sie jetzt sind, Göttingen 1793. Schauroth, Eberhard Christian Wilhelm v., Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Schreiben und anderer übrigen Verhandlungen Des Hochpreißlichen Corporis Evangelicorum: Von Anfang Des jetzt fürwährenden Hochansehnlichen Reichs-Convents Bis auf die gegenwärtige Zeiten. Bd. 1, Regensburg 1751. Schauroth, Eberhard Christian Wilhelm v., Vollständige Sammlung Aller Conclusorum, Schreiben Und anderer übrigen Verhandlungen Des Hochpreißlichen Corporis Evangelicorum: Von Anfang Des jetzt fürwährenden Hochansehnlichen Reichs-Convents Bis auf die gegenwärtige Zeiten. Bd. 2, Regensburg 1751. Schauroth, Eberhard Christian Wilhelm v., Vollständige Sammlung Aller Conclusorum, Schreiben Und anderer übrigen Verhandlungen Des Hochpreißlichen Corporis Evangelicorum: Von Anfang Des jetzt fürwährenden Hochansehnlichen Reichs-Convents Bis auf die gegenwärtige Zeiten. Bd. 3: Vom Jahr 1663 bis 1752: nebst einer chronologischen Verzeichniß und vollständigen Register über samtliche drey Theile, Regensburg 1752. Schlosser, Johann Philipp / Debus, Georg, Wahrheit / Unschuld und Ehren-Rettung wider allerhand unverantwortlich so wol gegen das höchste Landes-Haupt Ihro Churfürstl. Durchl. zu Pfalz / ec. Unsern Allertheuerst Gnädigsten Landes Herrn / ec. Als uns Endsbemeldte Von Gewissen-losen boßhafftigen Menschen außgesprengte Lügen-Schrifften Und Lästerungen; So dann kurtzer und doch warhaffter Bericht / Vom verwichenen und gegenwärtigen Zustand Chur-Pfaltz Evangel. Lutherischen Kirchen / Außgefertiget von M. Jo. Philippo Schlossern und Georgio Debus, Chur-Pfaltz Lutherischen Consistorial-Räthen und Predigern zu Heydelberg und Creutzenach der ungeänderten Augspurgischen Confession zugethanen Gemein dten, o. O. [Heidelberg] 1699. Sellert, Wolfgang (Hg.), Die Ordnungen des Reichshofrats 1550–1766. 1. Halbband: bis 1626 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 8, 1), Köln / Wien 1980; 2. Halbband: 1626 bis 1766 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 8, 2), Köln / Wien 1990. Sr. Königl. Majestät in Preussen Glaubensbekänntniß, welches Sie allen protestantischen Ministris zu Regenspurg insinuieren lassen, Drey und fünfzigste Auflage, Berlin 1784.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Stolze, Wilhelm, Aktenstücke zur evangelischen Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms I., in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 1 (1904), S. 264–290. Struve, Burkhard Gotthelf, Ausführlicher Bericht Von der Pfältzischen Kirchen-Historie. In sich fassend die verschiedenen Religions-Veränderungen und den Kirchen-Staat in der ChurPfaltz, von Beginn der Reformation an, biß auf gegenwärtige Zeiten. Mit nöthigen Anmerckungen, bewährten so gedruckten als ungedruckten Documenten und publiquen Acten erläutert worden, Nebst vollständigen Registern, Frankfurt a. M. 1721. Super Jure Evangelico Lutheranorum in inferiori palatinatu ad bona Ecclesiastica, o. O. o. J. [1721]. [Thomasius, Christian], Anti-Vindiciae Statuum Episcopatus Hildesiensis Evangelicorum. […], Hildesheim 1703. Thomasius, Christian, Das Recht evangelischer Fürsten in theologischen Streitigkeiten, Halle 1696. [Thomasius, Christian], Discursus Politicus & Consilium Catholico-Politicum, Von dem Aufnehmen und der grossen Macht des Churfürstlichen Hauses Brandenburg, und wie demselben zue steuren und zue wehren, damit es den Catholischen nicht zue Heupt wachse. Vor hundert Jahren von einem Christlichen und eyffrig-Catholischen Politico verfertigt, Anitzo aber Durch einen von dessen Nachkommen Aus dringenden und höchstwichtigen, in der Vorrede mit mehrern angedeuteten Ursachen Zum ersten mahl durch den Druck publiciret, Ingolstadt 1718/1727. Thomasius, Christian, Juristische Disputation von der Kebs-Ehe […], Deme Wegen Gleichheit der Materie noch beygefüget: M. P. Antonini Antwort auf die Einwürffe Herrn Abt Breithaupts, Herrn Cantzler Jägers, D. Zierolds, Petri Encratitæ und Herrn Pastor Reinbecks wieder die Disp. von der Kebs-Ehe; […], Frankfurt a. M./Leipzig 1714. Thomasius, Christian, Kurtze und deutliche Deduction, Daß der Reichs Hof-Rath mit nichten befugt sey, Der Chur- und Fürsten, auch anderer Stände des Heiligen Römischen Reichs Räthe, Diener und andere Unterthanen, Unter was vor Schein und Vorwandt es auch seyn möge, So wohl in Peinlichen als Bürgerlichen Sachen, in Erster Instanz für sich zu citiren, Nebst handgreiflichem und augenscheinlichen Beweiß Des von dem Reichs-Fiscal, und etlichen Reichs Hof-Räthen hierwieder im Sept. 1714. begangenen offenbahren Unfugs, o. O. 1714. [Thomasius, Christian] Erdmann, Hector Gottfried, Zweier catholischer Gelehrten, eines ehrlichen Jesuiten und eines vernünfftigen Juristen angenehmes Gespräch vom Simultaneo […], Amsterdam / Halle 1723. Turretini, Jean Alphonse, De componendis protestantium dissidiis oratio inauguralis, Frankfurt a. M./Leipzig 1722. Unschuldige Nachrichten von alten und neuen theologischen Sachen, Büchern, Uhrkunden, Controversien, Veränderungen, Anmerckungen, Vorschläge u. d. g, hg. v. Valentin Ernst Löscher, Leipzig 1701–1719. Usleber, Paul, Vetus et moderna ecclesiae disciplina. Ex sacris canonibus, legibus et actis ecclesiasticis erudita, Heidelberg 1715.
III. Literatur
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Wahrhaffter Auch mit unverwerfflichen Zeugen-Aussagen und Attestatis bestättigter Verlauff, Von allem dem, Was bey des seeligen Herrn Grafen Ernst von Metternich Ohnlängst erfolgten Annehmung Der Catholischen Religion geschehen: Denen hin und wider ausgestreuten boßhafften und falschen Relationibus Entgegen gesetzt, Und zum Druck befördert, Stadt am Hof 1728. [Welmer, Johann], Arcanum Regium, Das ist / Ein Königlich Geheimniß Für einen regierenden Landes-Herrn:Darinnen ihm entdecket wird / wie er sich bey seinen / über die Religion zer theilten Unterthanen nach Gottes Willen zu verhalten habe / damit er eine Gott wohlgefällige Vereinigung bey seinem Volcke unvermerckt stiffte / und in kurtzer Zeit befördere […], Frankfurt a. O. 1703. Werenfels, Samuel, Allgemeine Gedancken über die Vereinigung der Evangelischen, so durch die Nahmen Lutherisch und Reformirt gemeiniglich unterschieden werden, o. O. [Regensburg] 1709. [Wrisberg, Rudolph Johann v.], Ursprung des so genannten Simultanei, Regensburg 1720. Zedler, Johann Heinrich, Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Halle / Leipzig 1731–1754. Zeumer, Karl (Bearb.), Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit (Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht 2), Tübingen 21913.
III. Literatur Adam, Renate, Pfalz-Zweibrücken im Pfälzer Religionsstreit 1719–1725. Konfessionskonflikte und Reichsverfassung im 18. Jahrhundert, in: Konersmann, Frank / Ammerich, Hans (Hg.), Regionalforschung im Aufbruch. Studien zur Geschichte des Herzogtums Pfalz-Zwei brücken anlässlich seines 600. Gründungsjubiläums (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 107), Speyer 2010, S. 299–318. Adam, Ulrich, The Political Economy of J. H. G. Justi, Bern u. a. 2006. Aretin, Karl Otmar v., Das Alte Reich 1648–1806. Bd. 2: Kaisertradition und österreichische Großmachtpolitik (1684–1745), Stuttgart 22005. Aretin, Karl Otmar v., Das Reich. Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht 1648–1806, Stuttgart 1986. Aretin, Karl Otmar v., Die Konfessionen als politische Kräfte am Ausgang des alten Reichs. Ein Beitrag zur Problematik der Reichsauflösung, in: Iserloh, Erwin / Manns, Peter (Hg.), Festgabe für Joseph Lortz, Baden-Baden 1957, S. 181–241. Arndt, Johannes, Der Große Kurfürst, ein Herrscher des Absolutismus? Über die Möglichkeiten und Grenzen monokratischer Herrschaft im 17. Jahrhundert, in: Asch, Ronald G./Duchhardt, Heinz (Hg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteldeuropa (ca. 1550–1700) (Münstersche historische Forschungen 9), Köln / Weimar / Wien 1996, S. 249–273.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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III. Literatur
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Sachverzeichnis Nicht in den Index aufgenommen wurden Begriffe, die aufgrund der Themenstellung der Arbeit sehr häufig genannt werden bzw. deren Verwendung anhand der Überschriften nachzuvollziehen ist. Dazu gehören etwa die folgenden Begriffe: Altes Reich / Heiliges Römisches Reich, Corpus Evangelicorum, Kaiser / Reichsoberhaupt / Kaisertum, Kloster, Kirchenpolitik / Konfessionspolitik / Religionspolitik, Kurfürsten, Lutheraner / Luthertum, Protestantismus, Reformierte, Reichshofrat, Reichsstand, Reichstag, Religions beschwerde / Religionsgravamina, Religionsstreit / Religionskonflikt, Westfälischer Friede. Ächtung s. Reichsacht 80, 82, 84, 285 Adel 109, 170, 178, 232, 233, 241, 321 aequalitas (exacta mutuaque) 134–136, 138, 228 Altranstädter Konvention 118 amicabilis compositio 75, 121, 144, 260, 303, 317, 319, 441, 442 Amtsträgerschaft 37, 42, 109, 113 Anglikanismus / Anglikanische Kirche / Church of England 107, 108, 112 Antikatholizismus 40, 238, 512 Appellation 135, 146, 149, 162, 199–202, 205, 206, 226–228, 233, 234, 322, 518 Appellationspivileg s. Privilegium de non appellando Augsburger Konfession / Confessio Augustana) 42, 188, 261, 266, 335, 399 Augsburger Religionsfrieden 32, 116, 266, 499, 516 Badischer Frieden 122, 125, 132, 136, 150, 190, 191, 196, 235, 237, 263, 330, 428 Berliner Allianz / Berliner Vertrag 9, 47, 323, 450–452, 453, 455–457, 458, 464, 496, 497 Bibel (Altes Testament, Neues Testament) 186, 228, 487, 515 Bischof / Bischofsamt 210, 211, 215, 217 Bürokratie s. Verwaltung Calvinismus / reformierte Konfession 12, 33, 34, 36, 42, 56, 58, 64, 85, 95, 102, 103, 107, 109, 110, 114, 116, 126, 266, 277, 317, 321, 341, 346, 461, 462, 512, 514, 521, 522
Collegium Charitativum / I renicum 105–107, 109, 337 Confessio Sigismundi 115, 342 Corpus Catholicorum 65, 72, 75, 120, 121, 126, 397, 443 defensor ecclesiae 241 Deutsches Reich / deutsches Kaiserreich 32 Diplomatie s. Gesandtschaftswesen Direktorialstreit s. Direktorium Direktorium (des Corpus Evangelicorum) 38, 71, 76, 124, 184, 263, 283, 284, 291, 346, 408, 412 Domkapitel / Domkapitular 8, 139, 140, 191, 192, 212, 226, 227–234, 238, 241, 304, 407 Dreißigjähriger Krieg 17, 25, 56, 173, 265, 313, 321, 500 Dualismus (preuß.-österreich.) 22, 30, 32, 39, 130, 508, 521, 523 Edikt von Nantes 111 Firmung 215 Fiskal / Reichsfiskal 182, 184–189, 199–201, 205, 206, 224, 237, 433, 482, 492, 493 Föderalismus 14, 16, 18, 20, 27, 129, 382, 501 forma imperii 40, 161, 238, 518 Formula Consensus Helvetica 111, 341 Fürst (Reichsfürst, Territorialherr, Potentiores, Mindermächtige [Reichsstände], Geistliche Reichsstände / Geistliche Fürs-
Sachverzeichnis ten) 14–17, 19, 35, 38–40, 42, 54, 66, 92– 94, 106, 138, 148, 156, 160, 162, 164, 176, 190, 211, 238, 260, 289, 290, 353, 367, 375, 383, 385, 397, 399, 424, 427, 428, 459, 465, 474, 501, 517 Gegenreformation 57, 260, 290, 322, 440, 450, 495, 510, 519 158, 169, 305, 384, Geheime Konferenz 458 Geheimer Rat 99, 137, 150, 152, 181, 217, 278, 286, 321, 350, 353, 426, 472, 481, 505 Geistliche Gerichtsbarkeit 26, 64, 82, 94, 212, 216–218, 219, 135, 228, 230, 240, 364 Geistliche Reichsstände / Geistliche Fürsten s. Fürst Geistlicher Rat 192 Gesandtschaft / Gesandtschaftswesen (Diplo matie) 16–18, 65, 68, 79, 89, 117, 122, 125, 148, 155, 160, 254–256, 265, 310, 311, 361, 372, 374, 420, 518, 519 Gewissensfreiheit s. Religionsfreiheit Glaubensbekenntnis 114–116, 127, 346, 508, 509–511, 520 Gnade 89, 93, 111, 153, 157, 162, 188, 201, 248, 339, 340, 342, 354
567
Irenik 34, 35, 37, 38, 43, 107, 109, 110, 112, 114, 115, 333–335 itio in partes 76, 114, 144, 441, 442, 498, 499 Judex s. Richteramt Jülich-klevisches Erbe / jülich-klevische Erbfolge / jülich-klevischer Erbfolgestreit 45– 47, 60, 81, 203, 244, 313, 321–324, 325, 392, 405, 414, 415, 422, 436, 437, 443, 450–452, 455, 457–460, 464–466, 468– 475, 482, 486, 495, 496, 504, 506 Juridifizierung s. Verrechtlichung Jurisdiktion s. Rechtsprechung Jus circa sacra 135, 185, 211, 228, 230, 365 Jus Gentium s. Völkerrecht Jus in sacris 135 Jus reformandi 14, 26, 70, 265–267, 273, 499 Justiznutzung 179, 204
Kabinett / Kabinettsminister / Kabinettsministerium 88, 472, 481, 491, 494 Kaiserwahl / Königswahl 15, 454 Kameralismus 228 Kammerzieler 174, 306, 363, 376 Kanzelpolemik 111, 333, 336, 340 Kirchenfrieden 108, 109, 127, 203, 336 Häresie 214 58, Kirchenrat (Heidelberger reformierter) Heerespolitik 191 60, 65, 71, 82–84, 99, 102, 119, 183, 260, Heiratspolitik 60, 474 263–265, 269, 270, 274, 277, 279, 282, Herrenhauser Allianz / Bündnis 8, 9, 323, 326, 332, 337, 446 397, 404, 405, 413–417, 422, 425, 426, Kirchenrecht 212, 218 ,223 Kirchenregiment (landesherrliches) 34, 209, 437, 439 211, 212 Höchstädt, Schlacht bei 79 Klientel / Patronage 12, 14, 36, 38, 43, 45, Homagialrezess 146, 193, 194, 205, 209, 210, 46, 53, 58, 59, 61, 68, 95, 97, 102, 103, 212, 227, 230 115, 116, 124, 132, 144, 166, 169, 190, honores regii 15–18,156,180 223, 238, 263, 269, 270, 274, 279, 281, 282, 345, 396, 427, 438, 461, 462, 465, Identität (konfessionelle) 85, 203, 512, 520 516 Immerwährender Reichstag 17, 25 Kommission, kaiserliche / ReichshofratskomIntegration 23, 24, 85, 145, 202, 204, mission 89, 90, 95, 139, 225, 286, 287, 207–209, 223, 239, 283, 462, 521 403, 409, 410, 412, 418, 451, 454 Investitur 230, 246, 285, 290, 351, 352, 357, Konfessionalisierung 35, 52, 109, 110, 144, 361, 371, 375, 376, 378, 418 236, 404 IPO (Instrumentum Pacis Osnabrugense) Konfessionsrecht (s. a. Religionsrecht) 25, 26, 25, 26, 62, 70, 72, 73, 113, 121, 135, 138, 45, 96, 97, 241, 264, 312, 313, 319, 325, 141, 142, 205, 221, 228, 294, 299, 399, 458, 515, 519 407, 515
568
Sachverzeichnis
Königskrone / Königswürde / Königtum 17, 19– 22, 52, 61, 97, 105, 154, 156, 158–160, 179, 219, 240, 241, 245, 259, 250, 255, 256, 264, 507 Konsistorium (Berliner) 88, 187, 336 Konversion 18, 34, 38, 71, 105, 111, 159, 214, 215, 254, 283, 285, 334, 401, 420, 448, 449, 498, 513, 521 Korruption 150 Kreisdirektor s. Reichskreis Krontraktat 19, 73, 74, 78, 79, 95, 96, 156, 158, 159, 162, 165–167, 177, 179, 246, 256, 306, 307, 360, 419, 452, 456, 457, 518 Kulturgeschichte 27 Kulturkampf 32, 291 Kurie (päpstliche) 41, 42, 87, 91, 159, 192, 198, 213–218, 220, 223–226, 240, 387, 499 Kurkolleg / kurfürstliche Kurie / Kurfürstenrat 16, 17, 80, 82, 83, 158, 192 Kurverein 16, 176 Landesherr s. Fürst Landesherrschaft (s. a. Landesherrschaft im Geistlichen) 14, 32, 33–35, 37, 39, 40, 45, 46, 117, 129, 138, 139, 163, 164, 185, 192, 208, 209, 211, 213, 222, 223, 230, 231, 233, 236, 241, 322, 367, 501 Landesherrschaft im Geistlichen (s. a. Summepiskopat, Summus episcopus) 42, 53, 211, 218, 226, 230, 365, 367, 368 Landeskirche 36, 56, 106, 114, 118, 342, 344, 348 Landstände / landständische Korporation 23, 24, 35, 39, 41, 53, 96, 146, 149, 153, 158, 178, 179, 191, 197, 202–204, 209, 210, 212, 229, 230, 232, 234, 241, 247, 304, 320, 348, 377, 378, 382, 409 Landstandschaft 24, 41, 203, 206, 231, 239, 463, 518 Lehen 138, 163, 164, 175, 232–234, 241, 247, 304, 377, 398, 407, 408, 412, 417, 432 Lehensverband 93, 476 Lehenswesen / Ständische Ordnung (Reich) 15, 20, 42, 73, 93, 133, 137, 148, 159, 168– 170, 176, 181, 191, 233, 249, 252–254, 257, 302, 306, 324, 360, 361, 377, 378, 382, 427, 438, 441, 464, 476, 501, 517 Liturgie 108, 112, 336, 342
Mandat, kaiserliches / Reichshofratsmandat 92, 154, 163, 164, 173, 172, 194, 218, 227, 233, 234, 248, 293, 298, 299, 300, 301, 417, 432, 463 Militär 23, 179, 250 Mindermächtige [Reichsstände] s. Fürst Moderne / Modernisierung 33, 34, 513 Mons Pietatis (Stiftung) 88, 114 Multikonfessionalität 26, 56, 135, 212, 217, 226 Nationalstaat 13, 21, 32 Naturrecht / natürliches Recht 34, 185, 186, 306, 479, 496 Nordischer Krieg 16, 17, 58, 80, 149, 163, 178, 246, 249, 285 Normaljahr 25, 26, 41, 53, 56, 66, 69–71, 81, 82, 99- 101, 124, 125, 141, 142, 194, 196, 209, 231, 264, 265, 274–276, 298, 299, 326, 328, 330, 348, 359, 461, 514, 517 Nuntius / Nuntiatur 87–89, 91, 94, 192, 193, 195, 197, 212, 213, 216, 219, 221, 224, 226 Nymwegen, Frieden von 120 133, 147, Oberappellationsgericht (Berlin) 153, 199–201, 205–207, 217 Oberkirchendirektorium (brandenburgisches) 88 Öffentlichkeit 19, 55, 101, 164, 169, 257, 397, 481, 495, 496 Orléanscher Krieg 44, 57, 60, 62 Orthodoxie (lutherische) 36, 37, 106–111, 114, 115, 251, 337, 339, 341, 344, 365, 461 Österreichische Erbfolge / Österreichischer Erbfolgekrieg 452, 497 Papst / Papsttum 41, 87, 89, 91, 94, 211, 215, 216, 218, 219, 223, 237, 240, 241, 447, 519 Parität 11, 15, 18, 20, 29, 75, 76, 116, 117, 124, 127, 139, 147, 148, 259, 336, 349, 358, 370, 399, 406, 408, 414, 427, 464, 516 Patriotismus 49, 154, 155, 157, 370, 423, 488, 504, 510, 513 Patronage s. Klientel Personalunion 27, 29, 63, 125, 229, 264, 285, 290, 405, 476 Peuplierung (Bevölkerungspolitik) 23, 56
Sachverzeichnis Pietismus 36, 37, 106, 108, 111, 112, 114, 185, 186, 336, 343, 344, 461, 462, 515 Potentiores s. Fürst Prädestination / Prädestinationslehre 108, 111, 114 principia evangelicorum 29, 31, 45, 70, 113, 131, 141, 270, 294, 326, 349, 363, 445 Prinzipalkommission / P rinzipalkommissar 17, 72, 75, 122, 124, 293, 359, 387, 400, 401, 403, 448, 449, 483, 485, 489–491 Privilegium de non appellando 75, 145–147, 149, 153, 189, 201, 208, 417, 456, 462, 517 27, 40, 55, Publizistik (Reichspublizistik) 69, 106, 112, 131, 183, 187, 277, 290, 338, 339, 341, 344, 348, 349, 369, 396, 401, 402, 443, 449, 472, 484, 485, 491, 498, 501, 522 Quadrupelallianz 287, 351 59, 120, 122, 125, 126, Rastatter Frieden 132, 191, 193, 196, 197, 262, 278, 287 Readmission (Böhmens) 17, 158 Rechtsprechung –– kaiserliche / Reichshofrat 30, 39, 145, 147, 152, 161–165, 168, 177, 180, 190, 191, 203, 226, 237, 238, 239, 288, 289, 388, 417, 430, 431, 457, 464, 518 –– landesherrliche 143, 224 –– Reichskammergericht 136, 164, 180, 364, 368 Reformation (s. a. Zweite Reformation) 45, 74, 211, 212, 244, 254, 335, 400, 401, 440 Reichsacht / Acht 80, 476, 498 Reichsdeputation / Deputation 75–79, 95, 120– 124, 127, 269, 349, 357, 358, 427, 441, 443 Reichsfürst s. Fürst Reichsgraf 62, 98, 166, 168, 172, 420, 440, 518 Reichshofratskommission s. Kommission Reichshofratsmandat s. Mandat Reichshofratsvotum 55, 93, 97, 172, 231, 234, 399 Reichskammergericht 24, 134–138, 145, 146, 147, 164, 172, 201, 203, 208, 212, 309, 363–365, 399
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Reichskreis (Kreis) 89, 90, 140, 141, 162, 166, 168, 171–174, 177, 183, 238, 340, 376, 408–410, 425, 426, 430, 438 Reichskrieg 65, 80, 93, 174 Reichsöffentlichkeit s. Öffentlichkeit Reichsrecht 44, 57, 69, 73, 86–88, 92, 97, 101, 138, 139, 146, 160, 162, 175, 176, 182, 185, 188, 190, 239, 266, 275, 306, 308, 313, 336, 348, 349, 361, 367, 376, 377, 383, 386, 406, 407, 416, 460, 462, 518 Reichsstaat 21 Reichsstadt 88, 89, 94, 483 Reichstreue / Reichspatriotismus 48, 49, 154– 157, 161, 392, 424, 425, 488, 510 Reichsunmittelbarkeit 172, 173, 177, 178, 283 Reichsverfassung / Reichssystem 11, 12, 14, 15, 17–19, 21, 27, 39, 54, 90, 116, 117, 129, 130, 137, 143, 160, 161, 166, 175, 176, 202, 289, 307, 381, 382, 398, 424, 456, 464, 497, 501, 515, 518–520 Rekonfessionalisierung 18, 30, 40, 46, 241, 289, 464, 498, 499 Religionsdeklaration 44, 51, 58, 81, 84, 95– 99, 103, 112, 118, 119, 122, 125, 126, 260, 263, 264, 270, 271, 273–279, 280, 298, 326, 328, 331 Religionsfreiheit 34, 56, 58, 66, 74, 82, 116, 488, 499, 519, 520 Religionsgespräch 35, 38, 106, 108, 333 Religionskonferenz 66, 313, 314 Religionskrieg 25, 495, 499, 519, 520 Religionsrecht (s. a. Konfessionsrecht) 11, 41, 43, 46, 85, 96, 118, 122, 137, 261 Religionsvergleich (jülich-bergischer) 82, 313 Repressionen 53, 62, 73, 78, 79, 81–89, 91–93, 95, 96, 140, 142, 193, 196–198, 203, 208, 209, 223, 236, 292–310, 313, 315, 317– 320, 322, 324, 325, 349–353, 355- 361, 368, 377, 378, 382, 385, 398, 404, 459, 463 Retorsionen s. Repressionen Richteramt (oberstes / höchstes Richteramt des Kaisers) 30, 73, 92, 158, 161, 165, 202, 238, 288, 389, 429, 450, 459, 475 Rijswijker Frieden 18, 44, 50, 57, 59, 63, 64, 105, 121, 122, 124, 357 Rijswijker Klausel 44, 51, 57, 64–69, 72, 74– 76, 78, 101, 102, 120–128, 132, 136, 137, 193, 196, 198, 265, 358, 514
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Sachverzeichnis
Säkularisierung 148, 176, 201, 205, 229, 244, 440, 474 Sattelzeit 513 Schiedsgerichtsbarkeit / Schiedsrichter s. Richteramt Schlesischer Krieg (Erster u. Zweiter) 496– 498 Schwäbisch-Hallischer Rezess 56, 57 Schwarzer Adler-Orden 88 Selbsthilferecht 19, 62, 142, 349, 360, 395, 463 Siebenjähriger Krieg 11, 38, 467, 468, 492, 494- 499, 506, 508–511, 513, 519–521, 523 Simultaneum 26, 58, 64- 66, 68, 69, 78, 82, 83, 98, 100, 110, 116, 260, 271, 327, 337, 342, 348, 358, 401 Simultankirche s. Simultaneum Souveränität 13, 14–16, 18- 20, 34, 53, 86, 92- 94, 97, 103, 130, 138, 154, 156, 157, 160, 161, 164, 178, 179, 181, 215, 218, 223, 234, 240, 252, 289, 302, 306, 312, 361, 362, 378, 382, 416, 420, 456, 463, 501, 507, 518, 520 Spanischer Erbfolgekrieg 47, 48, 51, 52, 58, 59, 79, 80, 87, 96, 105, 119, 128, 132, 146, 165, 168, 174, 176–180, 224, 226, 235, 246, 255, 256, 258, 263, 287, 425, 463, 503, 514 Staatsbildung / Staatswerdung 20, 21, 32, 33, 39, 85, 129, 130, 145, 202, 208, 239, 513, 520 Staatsräson 34, 228, 321 Staatssekretariat / Staatssekretär (Kirchenstaat) 87, 218, 224, 225 Ständekonflikt 132, 162, 287, 409- 412, 434 Ständische Ordnung s. Lehenswesen / Steuererhebung 158, 193–195, 198, Steuer 208, 209, 232, 233, 274, 306, 320, 376, 378 Summepiskopat / Summus episcopus (s. a. Landesherrschaft im Geistlichen) 42, 210–212, 240, 368 Tabakskollegium 48, 421, 423
Territorialherr s. Fürst Territorialherrschaft s. Landesherrschaft Territorialismus 138, 185, 211 Testament (politisches) 50, 110, 114, 266, 346, 500, 501, 502 Toleranz 34, 35, 37, 38, 51, 56, 102- 104, 108–117, 126, 127, 277, 334, 336, 345, 346, 488, 509, 510 Union (Kirchenunion) 28, 34, 37, 43, 51, 53, 104–109, 112, 114–117, 126, 215, 278, 332- 341, 343–347, 402, 461, 462, 466, 489, 499, 511, 512 Utrechter Frieden 44, 59, 98, 120, 122, 125, 126, 178, 211, 256, 278, 287 Vasall 15, 164, 249, 309, 361, 385 Verrechtlichung 25, 144 Verwaltung / Bürokratie 23, 54, 55, 58, 63–65, 82, 110, 166, 189, 208, 257, 359, 387, 432 Vicarius in spiritualibus 212- 214, 216- 220 Vikariat des Nordens / Vikar des Nordens 192, 210, 212–220, 222, 223, 240 Visitation (Reichskammergerichtsvisitation) 102, 133, 134, 135, 137, 147, 217, 268, 363, 365 Völkerrecht 15, 18, 51, 86, 87, 92, 93, 95, 160, 240, 361, 416, 420, 496, 497 Votum ad Imperatorem 90, 233, 377 Wahlkapitulation 15, 118, 121, 125, 147– 149, 189, 190, 194, 227, 231, 498 Wusterhausen, Vertrag von 47, 54, 323, 391, 392, 418, 419, 421–423, 429, 445, 446, 451, 454, 456, 457, 484 Zensur 185, 187, 190, 344 Zentralisierung 21, 53, 85, 208 Zeremoniell 15–17, 20, 52, 154–156, 158, 160, 177, 179, 249, 253, 255, 372–374, 416, 419–421, 456 Zusammengesetzte Staatlichkeit / Composite Monarchy 23, 202 Zweite Reformation 35, 60, 254, 514