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German Pages 255 Year 2000
PETER RASONYI
Promotoren und Prozesse institutionellen Wandels: Agrarreformen im Kanton Zürich im 18. Jahrhundert
Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte In Verbindung mit Rainer Fremdling, Carl-Ludwig Holtfrerich, Hartrnut Kaelble und Herbert Matis herausgegeben von Wolfram Fischer
Band 60
Promotoren und Prozesse institutionellen Wandels: Agrarreformen im Kanton Zürich im 18. Jahrhundert
Von
Peter Rasonyi
Duncker & Humblot . Berlin
Die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich hat diese Arbeit als Dissertation angenommen und zur Drucklegung freigegeben, ohne damit zu den darin angesprochenenen Anschauungen Stellung zu nehmen. Die Annahme der Dissertation erfolgte am 9. Dezember 1998 auf Antrag von Prof. Dr. Hansjörg Siegenthaler.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rasonyi, Peter: Promotoren und Prozesse institutionellen Wandels: Agrarreformen im Kanton Zürich im 18. Jahrhundert / von Peter Rasonyi. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Bd. 60) Zug!.: Zürich, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-10005-0
Alle Rechte vorbehalten
© 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0588 ISBN 3-428-10005-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist das Resultat der wissenschaftlichen Abenteuerreise eines Ökonomen durch ein klassisches Feld der Geschichtswissenschaften. Der eindrückliche Wandel der Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Kanton Zürich ist bisher stets von Historikern untersucht worden. An den von ihnen hinterlassenen wissenschaftlichen Literaturschatz lehnt sich dieses Buch eng an, ohne sich ganz darin einzufügen. Obwohl sich dessen Autor im Verlauf der Arbeit die grösste Mühe gegeben hatte, sich das Handwerkszeug und so viel als möglich vom immensen Wissen der Historikerzunft anzueignen, hat er die theoretische Brille des Ökonomen nie ganz abgelegt. Dies war ein sehr bewusster Entscheid. Ein Kapitel der Schweizer Agrargeschichte, das bisher als vergleichsweise gut untersucht galt, sollte nochmals unter neuen theoretischen Vorzeichen analysiert werden. Die Ergebnisse schliessen an die bekannten Interpretationen an und setzen sich mit ihnen intensiv auseinander. Sie werfen jedoch ein neues Licht auf einige bedeutende Zusammenhänge. Dies war beabsichtigt. Ich hoffe, durch diese Analyse interessierte Historiker zu einem erneuten Nachdenken über vermeintlich gesicherte Zusammenhänge anzuregen. Sie dürfte aber ebenso Ökonomen mit der kritischen Frage konfrontieren, wo die Grenzen ihrer Disziplin bei der Analyse langfristigen wirtschaftlichen und institutionellen Wandels liegen. Ohne enge interdisziplinäre Zusammenarbeit fällt es schwer, dabei plausible und mit der Empirie verträgliche Erklärungsmuster zu finden. Auf dieser wissenschaftlichen Reise durfte ich die Bekanntschaft mit einer anfänglich fremden Disziplin machen - und tiefen Respekt vor dem Universum der Historiker gewinnen. Dabei war ich glücklicherweise nicht immer auf mich alleine gestellt. Vielen fachkundigen Begleitern auf einzelnen Etappen schulde ich Dank für wertvolle Hinweise über die Fortsetzung meines Wegs. In erster Linie geht mein Dank an Prof. Hansjörg Siegenthaler. Er bot mir die unersetzliche Gelegenheit, als sein Mitarbeiter an der interdisziplinären Forschungsstelle für Wirtschaftsund Sozialgeschichte an der Universität Zürich von seinem wissenschaftlichen Ideenreichtum zu profitieren und mich vollzeitlich mit der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Geschichte auseinanderzusetzen. Hier habe ich auch die meisten Wegbegleiter angetroffen. Erich Wigger hat mich bei meinen ersten Gehversuchen auf dem historischen Parkett unterstützt und die Arbeit bis zum Schluss mit guten Ratschlägen begleitet. Andreas Suter hat meine Thesen und Interpretationen über die Landwirtschaft der frühen Neuzeit in unzähligen, intensiven Diskussionen hinterfragt und mich vor manchem Fehlschluss bewahrt. Bruno Z'Graggen hat sich die Mühe genommen, die ganze Arbeit zu lesen und kritisch zu prüfen. Mit Margrit
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Vorwort
Müller, Werner Fischer, Thomas Hildbrand, Philip Robinson, Marietta Meier, Barbara Koller, Fränzi Meister konnte ich einzelne Kapitel und viele Forschungsfragen diskutieren. Markus Bürgi gab mir manchen hilfreichen Hinweis in archivarischen oder biographischen Fragen. Prof. Bruno S. Frey und Prof. Ernst Fehr und ihren Teams verdanke ich fruchtbare Kritik. Thomas Rasonyi half bei der Schlussredaktion. Meine Frau Andrea hat mit mir viele Forschungsfragen diskutiert, die ganze Arbeit sehr genau gelesen und manchen unzulässigen Gedankensprung identifiziert. Ihnen allen danke ich herzlichst. Zürich, im Januar 2000
Peter Rasonyi
Inhaltsverzeichnis Einleitung ....... .. ......................... .. .........................................
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I. Theoretische Vorbemerkungen.......................................... .. ..... . .
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1. Institutionen und wirtschaftliche Entwicklung .................................
15
a) Zum Institutionenbegriff ...................................................
15
b) Dezentralisierung und Selbstregulierung von Gemeinschaften ..............
21
c) Die Pfadabhängigkeit des Institutionenwandels .............................
24
2. Evolutorische Ansätze des Institutionenwandels ...............................
28
3. Institutionenwandel: Ein Nachfrage-Angebots-Ansatz .........................
35
a) Die Nachfrage nach Institutionenwandel ...................................
36
b) Das Angebot von Institutionenwandel ......................................
37
c) Exogen induzierte Veränderungen der Nachfrage nach institutionellem Wandel.................. ................................ ........ ..........
41
d) Bildung von neuen Interessenorganisationen ...............................
42
e) Lernprozesse in Regierungskreisen und Interessenorganisationen ...........
43
4. Die soziale Konstruktion der Interessen .......................................
44
11. Die alte Agrarordnung der DreizeIgenwirtschaft .................................
50
1. Die DreizeIgenwirtschaft ............. .. . . . .. . .. . .. . .. . . .. . .. .. . .. . . . .. .. . . .. ..
50
a) Die Ackerzelgen und die Zelgwegrechte ...................................
51
b) Der gemeine Weidgang ............................................ .. ......
51
c) Die Allmenden. . . .. ... . . . . . . . . . . .. . .. . . ... . . . ... .. . .. . . . . ... . .. . . ... ... . . . .
53
d) Die Zehnten und Grundzinsen .......................................... . . . .
54
2. Die Verbreitung der DreizeIgenwirtschaft im Kanton Zürich ............ . . . . . . .
57
III. Die Naturforschende Gesellschaft, die "Ökonomen" und die Reform der DreizeIgenwirtschaft ....................................................................
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1. Die Naturforschende Gesellschaft, die Ökonomische Kommission und die "Ökonomen" .. . . .. . . . . . . . . .. . . . . .. . . . ... .. . . . ... . . . .. . . .. . .. . . . ... . . . . . .. . ... .
61
2. Das Reformprograrnrn der Zürcher Ökonomen im 18. Jahrhundert.............
66
3. Produktivitätsgewinne der Reforrnrnassnahmen im 18. Jahrhundert............
68
8
Inhaltsverzeichnis IV. Anreize und Restriktionen zur Reform der DreizeIgenwirtschaft
71
1. Wirtschaftliche, rechtliche und soziale Differenzierungen der bäuerlichen GeseHschaft .....................................................................
73
2. Die Gemeindeautonomie und der Staat ........................................
76
3. Anreize zur Abschaffung des gemeinen Weidgangs (Anbau der Brache, SommerstaHfütterung, Kunstwiesen) ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
a) Die Interessen der Grossbauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
b) Die Interessen der Tauner und der übrigen Landleute .......................
82
c) Die Interessen der Zehntherren ............................... . ....... . . . . . .
84
d) Die Interessen der Regierung .......................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
4. Anreize zur Aufhebung der AHmenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Die Interessen der Tauner ............................... . ..................
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b) Die Interessen der Grossbauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Die Interessen der Zehntherren und der Regierung..........................
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V. Innovationen und bäuerliche Handlungsspielräume vom 16. bis 18. Jahrhundert..
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1. Einhegungen und AHmendteilungen in Luzern vom 16. bis 18. Jahrhundert....
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2. Die Zelgeinhegungen in Basel im 18. Jahrhundert............ . ................ 102 3. Innovative Bauern - restriktive Herrschaften.................................. 107 VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung zur Modernisierung der Landwirtschaft .................................................................. 111 1. Forschungs- und Aufklärungsarbeit der Ökonomen. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . 112 a) Vorträge und Abhandlungen der Naturforschenden GeseHschaft ............ 114 b) Die Preisfragen und ,,Anleitungen" an die Landleute ....................... 116 c) Statistiken und Bauerngespräche ........................ . . . ... . . . . . ........ 120 d) Landwirtschaftliche Versuche und Expertisen .............................. 124 2. Reformmassnahmen der Regierung durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vermittlung in ländlichen Konflikten.......................................... 128 a) Die Ökonomen und die Regierung ......................................... 132 b) Massnahmen der Regierung zur Abschaffung des aHgemeinen Weidgangs .. 136 aa) Vermittlung in dörflichen Nutzungskonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 bb) Die Regelung der Zehntfrage .......................................... 142 cc) Mandate und Verordnungen zur Einschränkung des Weidgangs ........ 146 dd) Einhegungen im Kanton Zürich........................................ 148 c) Massnahmen der Regierung zur Verteilung der AHmenden .............. . .. 149 3. Zusammenfassung.............................. . ............................. 155
Inhaltsverzeichnis VII. Beweggründe der Ökonomen für ihr reformerisches Handeln
9 159
1. Landwirtschaftsmodernisierung als öffentliches Gut ................. . . . . . . . . . . 159 a) Keine "Hungerkrise" 1757/58 als auslösendes Ereignis ................. . .. 161 b) Offenheit der Problemwahrnehmung und Handlungskonsequenzen ......... 163 c) Die Ökonomen und die Zürcher Oberschicht ............................... 164 2. Selektive Anreize zur Mitarbeit in der Naturforschenden Gesellschaft......... 166 a) Wirtschaftliche Interessen .................................................. 166 b) Persönliche Weiterbildung, wissenschaftliche Interessen, Unterhaltung..... 171 c) Politische Karrieren ........................................................ 172 d) Gesellschaftliche Anerkennung und soziale Kontakte. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Der Diskurs der Landwirtschaftsmodernisierung .............................. 185 a) Der aufkommende Landwirtschaftsdiskurs in der Naturforschenden Gesellschaft, 1757-1762 ......................................................... 185 b) Die Naturforschende Gesellschaft im Kontext der Spätaufklärung in Europa
196
c) Reformdiskurs und politische Unruhen in Zürich in den 1760er Jahren ..... 202 aal Soziale und wirtschaftliche Dynamik in Zürich ........................ 202 bb) Patriotismus und Moral in Zürich...................................... 203 cc) Politische Unruhen 1762 -1767 .......... .. .. .. ...... .... .. .. .. .. .. .... 207 dd) Agrarreformen als vertrauenswürdige Zukunftsvision .................. 212 ee) Zusammenfassung ..................................................... 217 VIII. Zusammenfassung ............................................................... 220
Bibliographie .......................................................................... 230 Handschriftliche Quellen ............................................................ 230 Gedruckte Quellen .................................................................. 231 Darstellungen ....................................................................... 231
Sachwortverzeichnis ........ . . .. .. . . . . . . . . . .. . . .. .. . . . .. . .. . . . . .. . . .. . .. . . . .. . .. . . . . . .. 251
Einleitung Gesamtwirtschaftliche Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum sind das Resultat individueller Entscheidungen. Individuelle Entscheidungen lassen sich - wie dies in der Ökonomie üblich ist und in der vorliegenden Arbeit getan werden soll als Reaktionen von Akteuren auf bestehende Anreize interpretieren. Eben diese Handlungsanreize werden durch die sogenannten Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Entwicklung bestimmt. Ein zentraler Bestandteil der Rahmenbedingungen sind die Institutionen, das heisst das Geflecht von gesellschaftlichen Regeln, welche das Verhalten der Individuen anleiten und in Schranken weisen. Die aus wirtschaftlicher Sicht bedeutendste Institution sind die Eigentumsrechte, welche die Verfügbarkeit von Individuen und Kollektiven über die Güter dieser Welt regeln. Die Rahmenbedingungen - die Institutionen bzw. Eigentumsrechte - des individuellen Handeins sind in der Regel an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich. Daraus folgt, dass das Ergebnis, sozusagen die "Summe" aller individuellen Entscheidungen, keineswegs zwingend und überall zu einer gesellschaftlichen Entwicklung führen muss, welche anhaltendes, modemes Wirtschaftswachstum garantiert. Oder um es treffend mit den Worten Norths zu sagen: " ... they [institutions] define the choice set and therefore determine transaction and production costs and hence the profitability and feasibility of engaging in economic activity.... Institutions provide the incentive structure of an economy; as that structure evolves, it shapes the direction of economic change towards growth, stagnation, or decline."l Nun folgt natürlich unmittelbar aus einem solchen Standpunkt das Bedürfnis, die Kräfte und Bedingungen besser zu verstehen, welche zu einem Wandel gesellschaftlicher Anreizstrukturen führen können. Denn wenn dieselben massgebend verantwortlich sind für die wirtschaftliche Entwicklung einer Gesellschaft, dann liegt nur in ihrem Wandel die Hoffnung verborgen, dass sich das Blatt zum Aufschwung von weniger entwickelten Volkswirtschaften wenden könnte. Eben dieser Frage nach der Entstehung von wirtschaftlich erfolgreichen Institutionen ist die vorliegende Arbeit gewidmet. Die Frage nach dem Institutionenwandel soll exemplarisch untersucht werden anhand des tiefen, unumkehrbaren Wandels der Agrarstruktur im Kanton Zürich, welcher in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschleunigt vor sich ging. Anlass zur Wahl dieses Untersuchungsgegenstandes gaben neben einem grundsätzlichen persönlichen Interesse an der Wirtschafts- und Sozialgeschichte dieser Zeit vielfältige Überlegungen. Einerseits steht die zentrale Bedeutung des Agrarsektors I
North (1991: 97).
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Einleitung
und seiner Transformation für die weltweite Armutsbekämpfung und wirtschaftliche Entwicklung auch heute ausser Zweifel. Anderseits bietet die Zürcher Agrargeschichte eine geeignete Gelegenheit zu untersuchen, wie Wandel althergebrachter Institutionen zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Produktivkraft und letztlich des Wohlstands einer Gesellschaft zustande kommen konnte. Die Verfassung und Struktur der Agrarwirtschaft im Kanton Zürich, wie in anderen Gegenden der Schweiz und Europas natürlich auch, veränderte sich in der erwähnten Zeit dramatisch: Der mehrheitlich noch vorherrschende Flurzwang wurde an vielen Orten massgeblich eingeschränkt, die Felder wurden eingezäunt und selbständig bewirtschaftet, viele Allmenden privatisiert, neue Produktionstechniken eingesetzt und die Produktion teilweise auf neue Produkte umgestellt. Es ist dabei kaum möglich, die Anfange und das Ende dieser Umwälzung festzulegen, zu gross sind die regionalen Unterschiede der Entwicklung, zu offensichtlich das verblüffende Nebeneinander von Wandel und Stagnation, Fortschritt und Beharrungsvermögen in verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens und Wirtschaftens. Ich werde mich nicht auf das Unternehmen einlassen, eine umfassende Diskussion der politischen, sozialen und kulturellen Prozesse und Veränderungen in jener Zeit durchzuführen. Stattdessen werde ich lediglich einige Aspekte institutionellen Wandels exemplarisch herausgreifen, die sich zu einer Untersuchung der hier interessierenden Fragen besonders eignen. Hierbei wird die Auflösung der DreizeIgenwirtschaft im Vordergrund stehen. Die Dreize1genwirtschaft war seit dem Mittelalter die dominierende Wirtschaftsform in weiten Teilen Europas, so auch im schweizerischen Mittelland. Sie zeichnete sich durch einen verhältnismässig starren rechtlichen Rahmen - die Dreizeigenordnung - aus, durch welche der Ackerbau der bäuerlichen Dorfgemeinschaften genau reguliert und koordiniert wurde. Wenn die Dreizeigenordnung auch immer wieder kleinere Modifikationen erfuhr und regional unterschiedlich ausgestaltet sein konnte, so zeichnete sie sich in ihren Grundzügen doch über die Jahrhunderte hinweg durch eine bemerkenswerte Stabilität aus. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde diese alt bewährte Institution zunehmend als Hindernis für die wirtschaftliche Entfaltung der Landwirtschaft empfunden. Sie geriet von verschiedenen Seiten unter Druck und wurde im Verlauf mehrerer Jahrzehnte, mit grossen zeitlichen Unterschieden zwischen den einzelnen Regionen, allmählich abgeschafft. Der Auflösungsprozess der Dreizeigenordnung lässt sich anhand einzelner institutioneller Veränderungen historisch einigermassen deutlich sichtbar machen. Er nimmt einen zentralen Platz in der Gesamtheit der Veränderungen ein, welche schliesslich die Revolution der Landwirtschaft ausmachten. Die Abschaffung der Dreizeigenordnung stellt einerseits wegen ihrer bis dahin Jahrhunderte langen Bewährung, anderseits auf Grund der im 18. Jahrhundert noch absolut zentralen Bedeutung der Landwirtschaft für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik einen besonders spektakulären Untersuchungsgegenstand von institutionellem Wandel dar. So wird die Frage im Vordergrund stehen, wie es zu dieser aus der säkularen Perspektive dramatischen Entwicklung kommen konnte, wo
Einleitung
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die treibenden Kräfte und massgeblichen Widerstände zu lokalisieren sind. Bei diesem Unterfangen stütze ich mich so stark als möglich auf die einschlägige Literatur, die zu den Entwicklungen im späten 18. Jh. reichlich vorhanden ist - ergänzt durch sehr selektive Einblicke in einzelne Quellenbestände des Archivs der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich. Zunächst werden in einem theoretischen Kapitel einige Reflexionen angestellt, um die Fragestellung zu präzisieren und den Anschluss an den Forschungsstand der zeitgenössischen Literatur zu Fragen wirtschaftlicher Entwicklung und institutionellen Wandels herzustellen. Zudem werden die vorhandenen theoretischen Instrumente diskutiert und so zurechtgelegt, dass sie für die Analyse der historischen Prozesse geeignet scheinen. Die Überlegungen werden bewusst nur so weit vertieft, als sie für die durch die Quellenlage beschränkten Möglichkeiten der historischen Untersuchung von Nutzen sein können. Umgekehrt kann auch die historische Analyse nur eine Bereicherung der Theorie darstellen, wenn sie daran anschlussfähig bleibt (KapitelL). Auf die theoretische Diskussion folgt die historische Darstellung und Analyse. Zum Einstieg in dieses Unterfangen werden die wichtigsten historischen Begriffe geklärt und die wirtschaftliche und institutionelle Ausgangslage der Zürcher Landwirtschaft im 18. Jahrhundert beschrieben, deren Entwicklung ich dann ein Stück weit verfolgen möchte. Beginnen möchte ich mit einer idealtypischen Beschreibung der DreizeIgenwirtschaft und aller weiteren institutionellen Aspekte, die damit verbunden waren. Anschliessend werde ich die Verbreitung der DreizeIgenwirtschaft im Kantonsgebiet um die Mitte des 18. Jahrhunderts kurz darlegen. Regionale Differenzierungen werden notwendig und sinnvoll sein, um im folgenden die Dynamik und die Ursachen der Entwicklungen richtig einschätzen zu können. (Kapitel 11.). Anschliessend wird das Reformprogramm vorgestellt, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts zur Ablösung der alten DreizeIgenwirtschaft präsentiert wurde. Zusammen mit dem vorangehenden Kapitel wird damit gemäss der neueren Literatur ein guter Überblick über die Entwicklungen und Probleme der Zürcher Landwirtschaft im 18. Jahrhundert vermittelt (Kapitel III.). Im folgenden Kapitel werden zunächst die sozialen und politischen Verhältnisse auf der Zürcher Landschaft dargestellt. Darauf werden die aus der Literatur bekannten Angaben über die landwirtschaftlichen Zustände und Prozesse gesammelt und durch ein präzises ökonomische Instrumentarium analysiert und interpretiert. Dies führt zu neuen und wichtigen Erkenntnissen darüber, weIche Akteursgruppen unter weIchen Bedingungen an einer Abschaffung der DreizeIgenwirtschaft bzw. von Teilen davon interessiert waren - und wer sich mit guten Gründen dagegen wehrte (Kapitel IV.). Im fünften Kapitel folgt ein Exkurs in die schweizerische Agrargeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts, um im langfristigen Vergleich die stabilisierenden und innovativen Kräfte bzw. Akteure in Bezug auf die landwirtschaftlichen Institutionen klarer zu identifizieren. Darauf wird der Blick auf die Bedeutung und Rolle der Zürcher Regierung und einer Gruppe von städtischen Eliten gerichtet, den "Ökonomen", weIche sich als Mitglieder der privaten Naturfor-
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Einleitung
sehenden Gesellschaft von Zürich wie auch der Regierung für die Entwicklung der Landwirtschaft einsetzten. Es wird die Ansicht vertreten und begründet, dass sie durch ihren grossen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte eine wichtige Rolle bei der Reform der Dreizeigenwirtschaft spielten (Kapitel VI.). Am Schluss werden die Prozesse und Motive untersucht, welche zu dem erstaunlichen öffentlichen Engagement dieser Ökonomen führten. Dabei werden die Grenzen einer ökonomischen Analyse aufgezeigt und deren Rahmen durch die Berücksichtigung von individuellen und gesellschaftlichen Lernprozessen erweitert (Kapitel VII.).
J. Theoretische Vorbemerkungen 1. Institutionen und wirtschaftliche Entwicklung a) Zum Institutionenbegriff
Im Zentrum der in dieser Arbeit verfolgten Argumentation steht, wie in der Ökonomie üblich, das Handeln des Individuums. Ihm wird unterstellt, dass es sich unter Berücksichtigung seiner beschränkten kognitiven Fähigkeiten 1 und gemäss seinen gegebenen individuellen Präferenzen rational und eigennützig verhält. Das (beschränkt) rationale und eigennützige Individuum ist allerdings in seinem Handeln eingeschränkt durch Restriktionen bzw. angeleitet durch Anreize, die sich ihm aus seiner Umwelt bieten. Die Restriktionen bzw. Anreize seines individuellen Handeins werden durch Einflussfaktoren bestimmt, welche grundsätzlich zwei verschiedenen Kategorien zugeordnet werden können: den dem Individuum zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie den sein Handeln regulierenden Institutionen. Die einem Individuum zur Verfügung stehenden Ressourcen begrenzen dessen Handlungsraum im Sinne einer Budgetrestriktion. Sie können vom Individuum für ganz verschiedene Zwecke verwendet werden; beispielsweise kann es seine Ressource Arbeitskraft in die Akkumulation von Wissen durch Ausbildung (Bildung von Humankapital), in die Erzielung von Einkommen durch eine Erwerbstätigkeit, in die Leistung von unbezahlter Arbeit oder die Freizeitgestaltung (Konsumtätigkeit) stecken. Das Individuum entscheidet im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst, wie es seine Ressourcen verwendet. Diese Entscheidung wird - und das ist eines der Grundaxiome der Ökonomie, von denen hier ausgegangen wird - so getroffen, dass der subjektiv erwartete individuelle Nutzen aus der Ressourcenverwendung maximiert wird. Die Entscheidung ist aus der Perspektive der spezifischen Präferenzen und beschränkten kognitiven Fähigkeiten des Individuums betrachtet eine optimale Wahl zwischen den von ihm wahrgenommenen und bewerteten Handlungsalternativen. Die bestehenden Anreize zu individuellem Handeln werden neben der Budgetrestriktion immer auch - und damit kommen wir zur zweiten Grundkategorie von Einflussfaktoren - durch die formell oder informell geltenden Institutionen bzw. Regeln bestimmt, welche in allen Bereichen des menschlichen Handeins koordinierend und einschränkend wirksam sind. Wenn beispielsweise die gesellschaftlichen Institutionen so gestaltet sind, dass das Stehlen nicht verboten ist und nicht bestraft wird, mag es durchaus vernünftig scheinen, alle verfügbaren Ressourcen der Tatigkeit des Diebstahls und der Aneignung der dazu nötigen Kompetenzen zu-
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I. Theoretische Vorbemerkungen
zuwenden. Wenn das Stehlen aber bestraft und stattdessen beispielsweise eine produktive Tätigkeit erlaubt und mit moralischen oder steuerlichen Argumenten gefördert wird, dann mag es denselben Personen eher vorteilhaft erscheinen, sich als Unternehmer oder Arbeitnehmer zu betätigen. Das Verhalten der Personen hängt also ganz wesentlich von den geltenden Institutionen ab, da jene das Ausrnass der von den einzelnen Personen zu tragenden Konsequenzen bestimmen, die mit verschiedenen Tätigkeiten verbunden sind? Nun scheint es angezeigt, den hier verwendeten Begriff der Institutionen präziser zu definieren, bevor über deren Bedeutung und Entwicklung weiter diskutiert werden soll. Im Alltagsverständnis sowie in den einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen finden ganz unterschiedliche Gegenstände unter der Bezeichnung "Institutionen" einen Platz. In dieser Arbeit soll ein Institutionenbegriff verwendet werden, wie er in der sogenannten neuen Institutionenökonomie gebräuchlich ist. North 3 bezeichnet Institutionen kurz und bündig als " ... the rules of the game in society or, more formally, ... the humanly devised constraints that shape human interaction." Unter Institutionen werden also Regeln im weitesten Sinne verstanden, weIche das menschliche Verhalten in allen Lebenssituationen einschränken und in bestimmte Bahnen lenken können. Sie sind ein Produkt menschlicher bzw. gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse und können somit grundsätzlich immer einer Veränderung unterliegen. 4 Da Wirtschaft und Gesellschaft doch bedeutend komplexer als ein Fussballspiel sind, sollen die einzelnen Aspekte dieser "Spielregeln", die uns hier besonders interessieren, weiter ausgeführt werden. Siegenthaler5 versteht unter institutionellen Regeln "... alle internalisierten Zwänge, gesellschaftlich informell abgesicherten Begrenzungen der Handlungsspielräume und die von Staates wegen erlassenen und durchgesetzten Normen des positiven Rechts. Internalisierte Zwänge - den heranwachsenden Individuen durch vorbildliches Tun, durch Angewöhnung, durch bewusst gesteuerte erzieherische Massnahmen eingepflanzte Vorstellungen darüber, was man unbedingt zu tun und zu lassen hat - begrenzen individuelle Handlungsspielräume ... " Die gesellschaftlichen Spielregeln werden also in drei Kategorien unterteilt. Zu unterscheiden sind internalisierte Zwänge, informelle gesellschaftliche Normen und staatlich festgeschriebenes und durchgesetztes Recht. In der vorliegenden Arbeit wird aus Gründen, die noch darzulegen sind, vor allem die letzte Kategorie, insbesondere die Eigentumsrechte, im Vordergrund stehen. Damit soll aber keineswegs die Bedeutung der beiden anderen Kategorien gering geschätzt werden. Der gewählte InstitutioI Zu Fragen der Rationalität und der kognitiven Fähigkeiten des Akteurs siehe die Diskussion in Abschnitt 1.4. 2 Bromley (1989: 740), North (1990: 74). 3 North (1991: 3). 4 Es versteht sich von selbst, dass damit unveränderliche physikalische oder psychologische Gesetzmässigkeiten aus dem Institutionenbegriff ausgeschlosssen werden. Siehe Ostrom (1986: 5). 5 Siegenthaier (1993: 26).
1. Institutionen und wirtschaftliche Entwicklung
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nenbegriff ist gemäss der hier vertretenen Definition klar abzugrenzen gegenüber korporativen Gebilden jeglicher Art, die in anderen Zusammenhängen häufig ebenfalls als Institutionen bezeichnet werden. Organisationen wie beispielsweise die staatliche Verwaltung, Unternehmen, politische Parteien oder Verbände 6 sollen hier der Ebene der Akteure zugeordnet werden, die durch gesellschaftliche Regeln in ihrem Handeln eingeschränkt werden. Sie können zwar verändernd auf die bestehenden Regeln einwirken und selbst Regelsysteme schaffen, sie verkörpern aber die Regeln bzw. Institutionen nicht selbst. Seien Institutionen nun bezeichnet als "framework within which human interaction takes place,,7, als "sets of rights and obligations affecting people in their economic lives,,8 oder als "a role-system or status-system,,9, sie schränken stets den Handlungsspielraum ein, der den Akteuren zur Verfügung steht. Sie bestimmen, welche Handlungen erlaubt sind und welche nicht bzw. welche Handlungen mit bestimmten Sanktionen belegt werden. Damit bilden Institutionen eine wichtige Grundlage für die Einschätzung der Folgen (Kosten und Nutzen) der Handlungsentscheidungen der einzelnen Akteure. Doch nicht nur das. Durch die Institutionen wird nicht nur das eigene, sondern auch das Verhalten der anderen, das für einen Akteur relevant sein könnte, eingeschränkt und somit einigermassen abschätzbar gemacht, sofern die Institutionen auch den anderen bekannt und für sie bindend sind. Die Zukunft, das heisst der Raum aller möglichen und relevanten Zustände, erhält damit eine Strukturierung und möglicherweise für das Individuum abschätzbare Dimensionen. \0 Dadurch wird Unsicherheit reduziert und die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Entscheidungen einzelner Akteure rational sein können. In einer hypothetischen Situation ohne Institutionen wäre die Unsicherheit der Zukunft ll so fundamental, dass zukunftsorientiertes Handeln keinen Sinn machen könnte. Natürlich verbleibt auch in einer Welt mit Institutionen stets eine gewisse subjektive Unsicherheit über Nutzen und Kosten des eigenen Verhaltens, da wirtschaftliches Handeln immer in die mehr oder weniger ungewisse Zukunft verweist - eine Welt ohne Regeln wäre aber aus einer handlungstheoretischen Perspektive eine absurde Vorstellung. Nun stellt sich in der Tat nicht die Alternative von Zuständen mit oder ohne Institutionen, sondern von Zuständen mit verschiedenen Institutionen, die eben die Erwartungsbildung und das Verhalten der Personen in unterschiedlicher Art und Weise beeinflussen können. Diese überaus bedeutende, wenn auch wohl etwas abstrakt erscheinende Funktion der Institutionen soll am Beispiel der Eigentumsrechte verdeutlicht werden. Eigentumsrechte bzw. etwas allgemeiner ausgedrückt Handlungsrechte lassen sich Dietl (1993: 35) und North (1990: 4-5). North (1990:4). 8 Matthews (1986: 903-918). 9 Matthews (1986: 903-918). 10 Ruttan (1989: 1376). 11 Dietl (1993: 33) und Ostrom (1986: 5).
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2 R4sonyi
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I. Theoretische Vorbemerkungen
positiv fonnulieren als Rechte der Eigentümer über die Verwendung einer Ressource (bzw. als Recht zu einem bestimmten Verhalten) oder aber negativ als Verbot bestimmter Handlungen für alle anderen, welche das Eigentumsrecht an der Ressource bzw. das Handlungsrecht nicht besitzen. Damit wird deutlich, dass das Wesen der Eigentumsrechte darin besteht, dass sie das Handeln all jener Personen, die nicht Eigentümer sind, in einer ganz bestimmten Art und Weise einschränken. Sie tun dies, indem sie einerseits festschreiben, welche Handlungen bezüglich der Sache oder des Rechts eines Eigentümers nur diesem vorbehalten sind und keinem anderen. Anderseits setzen sie fest, welche Sanktionen bei einem Verstoss gegen diese Regeln zu erwarten sind. Damit wird eine wichtige Funktion der Eigentumsrechte deutlich: Eine Verletzung der Regeln ist für den zuwiderhandelnden Akteur mit der Erwartung verbunden, dass ihm aus diesem Verstoss gewisse Kosten mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit erwachsen werden; Deshalb ist er in der Lage abzuschätzen, ob ein Übergriff auf den durch Eigentumsrechte geschützten Besitz anderer sich für ihn zu lohnen verspricht oder nicht. Umgekehrt bietet das sanktionierbare Eigentumsrecht für den Besitzenden die Grundlage dafür, die beschränkte Gewissheit seines Besitzanspruches bzw. die zu erwartenden Kosten einzuschätzen, welche ihm durch dessen Verteidigung gegen die Interessen anderer erwachsen werden. Die Institution des Eigentumsrechts hilft also den Akteuren, die Ungewissheit der Zukunft in dem Sinne wesentlich einzuschränken, als sie sich über das Fortbestehen ihres Besitzes in der Zukunft bzw. über die Kosten, die zu seiner Verteidigung aufgewendet werden müssen, ein Bild machen können. Natürlich genügt diese die Unsicherheit reduzierende Funktion der Eigentumsrechte nicht allein, um deren herausragende Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung zu begründen. Eindeutig definierte und staatlich sanktionierte Eigentumsrechte lassen nicht nur eine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit über das Fortbestehen von Besitz in der Zukunft zu, sondern sie reduzieren die privaten Kosten der Besitzstandswahrung ganz wesentlich. Die wesentliche Frage des privaten Eigentums ist nicht eigentlich ein Problem des Habens oder nicht Habens, sondern in Tat und Wahrheit eine Frage der Kosten, die mit der nachhaltigen Behauptung des Besitzanspruches einer Sache verbunden sind. Was nützt mir der Besitz einer Sache, die mir im nächsten Augenblick entrissen werden kann, weil ich meinen Besitz nicht zu verteidigen imstande bin? Alle privaten Güter, die einen positiven Wert haben, sind knappe Güter, d. h. es herrscht Konkurrenz um ihren Besitz. Deshalb ist Eigentum keineswegs eine Selbstverständlichkeit; es muss vielmehr durch bestimmte Massnahmen gegen die Begehrlichkeiten anderer verteidigt werden; diese Massnahmen sind immer mit Kosten verbunden. Sind die Kosten der Besitzstandswahrung sehr hoch, wird der Wert des Besitzes in den Augen des Besitzenden geringer sein: zu unsicher bzw. zu kostspielig ist die Sicherung seiner Nutzung in der Zukunft. 12 Die Bedeutung der Eigentumsrechte für die Wertschätzung einer Sache 12 Präziser: Zu gering ist der Gegenwartswert aller erwarteten, durch die Nutzung des Besitzes in der Zukunft beziehbaren Nutzeneinheiten, da die subjektiv erwartete Wahrscheinlichkeit aller künftigen N utzungen sehr klein ist.
1. Institutionen und wirtschaftliche Entwicklung
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rallt besonders ins Gewicht, wenn sie über längere Zeit oder überhaupt erst in der Zukunft dem Besitzenden einen Nutzen abwirft. Hierbei ist natürlich in erster Linie an den Wert von Kapitalgütern aller Art zu denken. Die Anreize zur Akkumulation von längerfristig gebundenem Kapital durch Konsumverzicht in der Gegenwart in welcher Form auch immer - hängen entscheidend von der Frage ab, zu welchen Kosten die daraus in der Zukunft anfallenden Erträge gesichert werden können. Nur wenn diese Kosten tragbar scheinen, sind Investoren bereit, Ressourcen für eine produktive Verwendung in der Zukunft zu sparen bzw. zu investieren. Es sind aber nicht nur die Kosten der Sicherung von Besitzansprüchen, welche durch staatlich sanktionierte Institutionen wie Eigentumsrechte massiv reduziert werden können, sondern auch die Kosten des Tauschs von Besitzansprüchen. Bei wirtschaftlichen Interaktionen fallen stets sogenannte Transaktionskosten an, die bedeutende Ausrnasse annehmen können. North 13 weist darauf hin, dass diese Transaktionskosten im wesentlichen aus zwei Komponenten bestehen. Einerseits setzt jeglicher Tausch von Gütern oder Dienstleistungen bestimmte Informationen der Tauschpartner über die Eigenschaften der getauschten Güter voraus, die nicht kostenlos zu haben sind. Anderseits ist zu bedenken, dass mit dem Tausch wirtschaftlicher Güter und Dienstleistungen die künftigen Verfügungsrechte über jene Güter und Dienstleistungen getauscht werden. Diese Rechte müssen nicht nur präzise definiert, sie müssen nach Abschluss der Tauschvereinbarung auch durchsetzbar sein, damit jede Tauschpartei davon ausgehen kann, sie erhalte auch wirklich jene Leistung von ihrem Partner, welche sie mit ihm vereinbart hat - doch auch die garantierte Durchsetzung des Verfügungsrechts über die vereinbarte Leistung ist nicht kostenlos zu haben. Da wirtschaftliche Transaktionen das Kernstück jeglichen Wirtschaftens darstellen und bei zunehmender Interdependenz und Arbeitsteilung einer Volkswirtschaft immer zahlreicher und komplexer werden, muss ein grosses Bedürfnis danach bestehen, die Kosten der Transaktionen zu reduzieren. Durch die Wirksamkeit von Eigentumsrechten gelingt es, sowohl die für die Tauschpartner anfallenden Informationskosten als auch die Durchsetzungskosten der Transaktionen entscheidend zu senken; das macht viele Transaktionen überhaupt erst möglich. Es liegt auf der Hand, dass diese äusserst produktiven Funktionen nach staatlich festgeschriebenen Eigentumsrechten und einem staatlichen Durchsetzungsapparat rufen,14 da jene die Spezifizierung und die Durchsetzung von Eigentumsansprüchen der privaten Akt..!ure abschätzbar machen und ganz erheblich verbilligen können. Der Staat ist gegenüber einem (hypothetischen) Zustand, in dem diese Aufgaben von den einNorth (1981), North (1990: 27 -36), North (1989: 131 ff.). Die Durchsetzung muss keineswegs allein staatlich organisiert sein. Eigentümer tun gut daran, selbst zum Schutz ihres Eigentums durch geeignete Massnahmen beizutragen bzw. unter Umständen spezialisierte private Organisationen dazu einzusetzen. Aber auch private Schutzorganisationen stützen sich letztlich auf den ganzen staatlichen Justizapparat, indem sie sich auf drohende polizeiliche und strafrechtliche Massnahmen als Folge von unerlaubten Übergriffen auf das zu schützende Eigentum beziehen können. 13
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I. Theoretische Vorbemerkungen
zeinen Individuen selbst ohne mögliche Bezugnahme auf hoheitlich sanktionierbare Institutionen übernommen werden müssten, grundsätzlich an Effizienz und Effektivität massiv überlegen. Dort, wo der Staat diese Aufgaben nicht in genügendem Ausrnass wahrnimmt, kann dieses Defizit nach aller Erfahrung durch private Akteure nicht genügend ausgeglichen werden: die Kosten der Eigentumssicherung sind erheblich höher, die Kapitalakkumulation und damit das Wirtschaftswachstum wesentlich geringer. 15 Staatliche Institutionen, welche diese Funktionen übernehmen, sind in dem Sinne als öffentlicher Güter zu betrachten. 16 Worauf ist die wichtige Bedeutung staatlicher Institutionen bei der Reduktion von Transaktionskosten zurückzuführen? Diese Frage kann durch die Unterscheidung von formalen und informellen Institutionen genauer geklärt werden. Unter formalen Institutionen werden verbindliche Regeln verstanden, die in einer festen (meist schriftlichen) Form so festgehalten werden, dass sie für mehrere Personen transparent, nur nach einem genau festgeschriebenen Prozedere veränderlich und möglichst eindeutig interpretierbar sind. Die bedeutendste formale Institution stellt das staatlich kodifizierte Recht dar, das spätestens durch seine Kodifizierung wirksam und durch hoheitliche Machtausübung sanktionierbar wird - sofern es denn auch tatsächlich transparent gemacht und konsequent durchgesetzt wird. Es können aber auch private Verträge aller Art als formale Institutionen angesehen werden, sofern sie das Handeln von Personen in einer nachvollziehbaren, genau spezifizierten Art und Weise durch die Drohung irgendwelcher Sanktionen einschränken. Jene beziehen sich aber in der Regel wiederum auf staatliches Recht und staatliche Durchsetzungskraft, ohne die sie meist nicht durchsetzbar und damit bedeutungslos wären. Die Abgrenzung von formalen zu informellen Institutionen ist nicht grundsätzlicher Natur, sondern eine Frage der Form, die sich wahrscheinlich nicht in allen Fällen genau entscheiden lässt. Jedenfalls soll das entscheidende Abgrenzungskriterium nicht die Wirksamkeit oder Wichtigkeit von Institutionen sein, sondern deren Transparenz, Eindeutigkeit und auf ein formelles Vorgehen beschränkte Veränderlichkeit. Alle übrigen Institutionen, welche nicht diese Kriterien erfüllen, sollen im folgenden als informelle Institutionen bezeichnet werden. Wichtige Eigenschaften von formalen Institutionen sind, dass sie möglichst eindeutig und auch für Aussenstehende transparent formuliert werden können. 17 Dank ihrer vergleichsweise I~ North (1981, 1989, 1990, 1993) vertritt immer wieder die Position, dass die Senkung der Transaktionskosten durch die Entwicklung moderner rechtsstaatlicher Verhältnisse eine notwendige Bedingung für die Entstehung einer komplexen, arbeitsteiligen und leistungsfähigen Volkswirtschaft darstellt. Den Übergang zu modernem Wirtschaftswachstum in der westlichen Welt führt er direkt auf die Entstehung des modernen Rechtsstaates in den entsprechenden Ländern zurück. Siehe auch Morris I Adelmann (1988, 1989), de Soto (1992), Rosenberg, Birdzell (1986). 16 North (1981). 17 Natürlich bleibt wie bei jedem Text auch bei Gesetzestexten und Verträgen stets ein gewisser Interpretationsspielraum offen. Es liegt aber in der Intention von formalen Institutio-
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hohen Transparenz und Eindeutigkeit können formale Institutionen für grosse Personenkreise verbindlich gemacht werden, ohne dass zu viele Kosten zu ihrer Bekanntmachung und zur Klärung alternativer Interpretationen aufgewendet werden müssen. In Verbindung mit der glaubwürdigen Drohung von genau beschriebenen und angemessenen Sanktionen sind formale Institutionen ein mächtiges Instrument, um das Verhalten selbst einer grossen Zahl von Personen wirksam einzuschränken und in gewünschte Bahnen zu lenken. Zur Bedeutung von Institutionen für die wirtschaftliche Entwicklung soll noch eine letzte begriffliche Unterscheidung kurz angetönt werden. Institutionen, die überhaupt nicht mit der Erwartung von Sanktionen gegen Verstösse verbunden werden, sind als Restriktionen individuellen Verhaltens aus ökonomischer Sicht wirkungslos. Sie können jedoch unter Umständen einen gewissen Einfluss auf das Verhalten von Personen erhalten, wenn sie als blosse Gewohnheiten oder Routinen das individuelle Verhalten in einer bestimmten Art und Weise koordinieren. Ein Akteur ist meist gar nicht in der Lage, vor einer Handlung Kosten und Nutzen der möglichen Konsequenzen aller denkbaren Alternativen mit subjektiven Wahrscheinlichkeiten zu gewichten, auf einen Gegenwartswert abzudiskontieren und miteinander zu vergleichen. Die beschränkten kognitiven Fähigkeiten und die Höhe der Informationskosten setzen dem absoluten Nutzenmaximierungskalkül des Individuums Grenzen. Deshalb wird sich das Individuum häufig dankbar an erprobte Routinen und Regeln halten, ohne sich genauer Rechenschaft über alle möglichen Konsequenzen und Alternativen abzulegen. In vielen Situationen können so erhebliche Informations- und Entscheidungskosten gespart werden. Es dürfte aber schwerfallen, den Unterschied zwischen sanktionierbaren Normen und biossen Gewohnheiten oder Routinen in allen Fällen scharf zu ziehen. Zudem scheint diese Unterscheidung in vielen Fällen wenig bedeutend, geht die koordinierende Wirkung von sanktionierbaren Normen und nicht sanktionierbaren Routinen doch in den meisten Fällen in die gleiche Richtung, allerdings mit unterschiedlicher Stringenz. Deshalb mag man sich in der Frage nach der Abgrenzung zwischen Institutionen und Routinen mit der Anerkennung einer gewissen Unschärfe in der Begrifflichkeit vorerst zufrieden geben.
b) Dezentralisierung und Selbstregulierung von Gemeinschaften
In der bisherigen Argumentation wurde die Bedeutung formaler, rechtsstaatlicher Institutionen für die Regulierung des Wirtschaftens hervorgehoben. Es ist jedoch auch zu betonen, dass es keineswegs die formalen, letztlich durch hoheitliche Macht sanktionierten Institutionen allein sein können, welche die Transaktionskosten in Volkswirtschaften senken. Müssten alle relevanten Verhaltensregeln durch nen, diesen Spielraum möglichst eng zu belassen. Zudem muss eine Instanz (in der Regel ein Gericht) bezeichnet werden, welche für die definitiv verbindliche Interpretation des Textes verantwortlich ist.
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I. Theoretische Vorbemerkungen
drohende staatliche Sanktionen durchgesetzt werden, wäre es höchst zweifelhaft, ob damit die Transaktionskosten des Wirtschaftens tatsächlich gesenkt würden. Der Staat wäre schlicht durch diese Aufgabe hoffnungslos überlastet, bzw. es müssten so viele Ressourcen dafür eingesetzt werden, dass kaum mehr Mittel zu produktiven Tätigkeiten übrigblieben. Die vollkommene Koordination individuellen Handeins in der komplexen Gesellschaft und Wirtschaft allein durch staatliche Regeln und Sanktionen wäre schliesslich nicht nur aus ..technischen", sondern auch aus ethischen Gründen ein Unding. 18 Gelten Regeln nur für einen kleinen, überschaubaren Kreis von Beteiligten, so ist unter bestimmten Bedingungen deren Schaffung und Durchsetzung auf freiwilliger, privater Basis denkbar. Die Schaffung zahlreicher Institutionen liegt in der Hand von Akteuren, welche fähig sein müssen, gemeinsam zu handeln und sich auf gemeinsam verbindliche Regeln zu einigen. So unterliegen zum Beispiel die Regelung der gemeinschaftlichen Nutzung einer Allmend, das Ausarbeiten eines Gesamtarbeitsvertrages oder ein Joint Venture mehrerer Unternehmen allein privater Initiative und weitgehend freier Gestaltbarkeit. In vielen solchen Fällen kann eine Neudefinition der privaten Eigentumsrechte allen beteiligten Parteien Gewinne einbringen. 19 Wie private Akteure den vorhanden Spielraum ausnützen und sich zur Durchführung von Kontrakten oder institutionellen Innovationen entschliessen - ein öffentliches Gut aus der Sicht der beteiligten Personen - stellt ein Kooperationsproblem kollektiven Handeins dar.2° Personen müssen zusammenfinden und sich einigen auf gemeinsam verbindliche Regeln, an deren Zustandekommen alle interessiert sind, um deren Kosten sich jeder aber lieber drücken möchte. Dieses sogenannte Trittbrettfahren kann unter bestimmten Bedingungen überwunden werden, etwa wenn die ..Drückeberger" identifizierbar sind und mit Sanktionen für ihr Abseitsstehen belegt werden können. In vielen Fällen bestehen ausreichende selektive Anreize 21 , welche eine freiwillige Beteiligung an den Kosten lohnend machen. Auch zur Lösung solcher Dilemmasituationen 22 leisten die staatlich sanktionierbaren Eigentumsrechte einen wichtigen Beitrag. Kollektive Regelungen von privaten Kooperations- und Organisationsformen stützen sich meist auf staatliches Recht und staatlich institutionalisierte Durchsetzungsmechanismen, da damit die Transaktionskosten der Vertragsfindung und Vertragsdurchsetzung gesenkt werden können. Geeignete staatliche Institutionen sind jedoch weder eine hinreichende Hayek (1944). Siehe Ostrom (1990) und Ruttan I Hayami (1984). 20 Buchanan (1991: 54); siehe für einen Überblick Bardhan (1989, 1989a, I 989b, 1993). Damit befassen sich Vertreter der neuen politischen Ökonomie wie auch Spiel theoretiker, welche mögliche Fälle von Kooperation durch Variationen des klassischen Gefangenendilemmas modellieren. 21 Olson (1965). 22 Solche sogenannte Gefangenendilernrnasituationen bilden Gegenstand zahlreicher spieltheoretischer Modellierungen. 18 19
1. Institutionen und wirtschaftliche Entwicklung
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noch in allen Fällen eine notwendige Bedingung für die nichtstaatliche Schaffung entwicklungsträchtiger Institutionen. Bei vielen Transaktionen wird durch das Weglassen gewisser formaler Ansprüche (zum Beispiel schriftliche Verträge) auf die mögliche Inanspruchnahme staatlicher Sanktionierbarkeit bewusst verzichtet, weil dies nicht als nötig bzw. als zu kostspielig erachtet wird. Transaktionen bleiben dennoch möglich, wenn die Transaktionspartner von entsprechenden Erwartungen in bezug auf das Verhalten des anderen ausgehen - Erwartungen, die durch bestehende Routinen, soziale Normen und Mechanismen der sozialen Kontrolle gestützt werden. 23 An die Stelle einer vollkommenen Kontrolle der geltenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhaltensregeln durch staatliche Organisationen treten somit ergänzende, durch informelle soziale und internalisierte Zwänge sanktionierte Regeln. Viele staatliche Institutionen rechnen zu ihrer Durchsetzung explizit mit der unterstützenden Selbstverantwortung und Selbstkontrolle der Gemeinschaften und Individuen. Diese informellen Institutionen und Sanktionen sind - auch wenn sie nicht so gut sichtbar sind wie Gesetze, Bussen und Gefängnisstrafen - in vielen Lebensbereichen ständig wirksam. Sie erbringen wichtige Koordinationsleistungen, die komplementär zum Markt und zu formellen Institutionen wirken. Die Erklärung ihrer Entstehung stellt die Institutionenökonomie wie auch andere sozialwissenschaftliche Disziplinen vor besondere Rätsel - sehr zum Betrübnis ihrer Vertreter. 24 Deshalb bleibt in der Regel nicht viel übrig, als sie in ökonomischen Analysen einfach als gegeben hinzunehmen, um lediglich ihre Bedeutung und Wirkungsweise im wirtschaftlichen und institutionellen Entwicklungsprozess zu untersuchen. Sicherlich sind sie ein Produkt vielfältiger gesellschaftlicher Interaktion und Tradition, und bestimmt hat ihre Evolution jeweils eine komplexe Geschichte mit unvorhersehbaren Wendungen genommen. Gerade das macht es aber aus der Sicht der Ökonomen wenig aussichtsreich, allgemeine inhaltliche Aussagen zur Entstehung und zum Wandel von sozialen Normen, Routinen und Leitvorstellungen machen zu wollen. 25 Dieses Defizit der Theorie sollte aber nicht zur Folge haben, dass der grundsätzlich als bedeutsam erkannte Wandel von sozialen Normen und Vorstellungen aus der Analyse einfach ausgeblendet wird. In der vorliegenden Lepsius (1990). Deshalb hüten sich die meisten Ökonomen mit sehr guten Gründen davor, informellen und internalisierten Normen in ihren Untersuchungen Beachtung zu schenken. Diese Haltung wird aber wiederum von einigen unter ihnen mit dem Hinweis hinterfragt, dass die Ökonomie ohne Beachtung der Institutionen und des institutionellen Wandels eben wenig befriedigende Antworten auf Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung geben kann. Siehe North (1981, 1990: 140). 25 Siehe dazu die folgenden Ausftihrungen zur evolutorischen Ökonomie in Abschnitt 1.2 sowie Witt (1987) oder Schmidtchen (1990). Es sind zwar in der Spieltheorie einige Ansätze vorhanden, die Entstehung einfacher gesellschaftlicher Konventionen zu erklären, aber diese Versuche bleiben doch nur von beschränkter Erklärungskraft; siehe etwa Binmore, Samuelson (1994). Besonders beliebt sind Beispiele aus dem Strassenverkehr; siehe North (1990: 41) oder Brennan/Buchanan (1993: 6 ff.). 23
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1. Theoretische Vorbemerkungen
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Arbeit wird explizit der Versuch unternommen, diese Kategorien in einer ökonomischen Analyse ebenfalls gebührend zu berücksichtigen. Dies geschieht aber nicht oder nur am Rande auf der Ebene allgemeiner theoretischer Reflexionen, sondern ausführlich am konkreten historischen Fallbeispiel. Dort wird deutlich werden, wo die gebührende Berücksichtigung sozialen und kulturellen Wandels in der ökonomischen Analyse einen für das Verständnis der untersuchten Prozesse institutionellen Wandels und wirtschaftlicher Entwicklung bedeutenden Erkenntnisgewinn bringen wird.
c) Die Pfadabhängigkeit des Institutionenwandels
Aus der Anerkennung der Bedeutung von Institutionen für die wirtschaftliche Entwicklung folgt natürlich das Bedürfnis, die Entstehung dieser Bedingungen besser zu verstehen. Hier stösst der Forscher auf das grundsätzliche Problem, dass Institutionen immer aus Ausgangsbedingungen entstanden sind, die selbst wieder durch ein spezifisches Gefüge von Institutionen geprägt wurden. Damit lässt sich die Entstehung von bestimmten Institutionen grundsätzlich nicht durch ein allgemeines Modell erklären, da sie ja stets von spezifischen historischen Ausgangsbedingungen abhängig sind. North benennt dieses Problem mit dem Begriff der "Pfadabhängigkeit" institutioneller Entwicklung und meint damit, dass die Institutionen einer Gesellschaft immer eine Geschichte haben, während der sie sich aus bestimmten historischen Ausgangsbedingungen - wiederum Institutionen, Normen, Routinen, Denkmodelle, Information usw. - allmählich entwickelt haben und weiterentwickeln. 26 Die Triebfeder dieser Entwicklung liegt in den unaufhörlichen nutzenorientierten Anpassungsleistungen der Individuen an eine sich ständig irgendwie verändernde Umwelt27 , durch weiche die Institutionen entweder gezielt (etwa durch politische Massnahmen) oder auch beiläufig als nicht intendierte Handlungsfolge verändert werden. 28 Dass diese permanenten, allmählichen Modifikationen in eine Richtung gehen, weiche zu anhaltender gesamtwirtschaftlicher Entwicklung führt, ist keineswegs garantiert. 29 Die Richtung der Entwicklung ist abhängig von der Art der Anreize individuellen und kollektiven Handeins und damit immer auch von ihrer institutionellen Ausgangslage. Aber damit werden Institutionalisierungsprozesse wiederum mit vorangegangenen Institutionalisierungen erklärt! Es drängt sich somit die Frage auf, worin denn der (institutionelle) Ausgangspunkt einer institutionellen Entwicklung besteht, die 26
North (1981,1990).
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Letztlich wird die Quelle der Veränderung immer auf ein exogenes Ereignis zurückge-
führt. 28 Ähnlich argumentieren auch die Ansätze zur Erklärung von ,Jnduced Change" im Bereich des technischen Fortschritts. Siehe Binswanger, Ruttan (1978), Ruttan, Hayami (1984). 29 Hier stellt sich eben das Trittbrettfahrerproblem, wenn entwicklungsträchtige Institutionen als öffentliche Güter betrachet werden.
1. Institutionen und wirtschaftliche Entwicklung
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letztlich zu anhaltender wirtschaftlicher Prosperität führen kann. 3o Es fällt offensichtlich schwer, auf der Suche nach Antworten auf diese Frage einen festen Boden zu finden. Im Versuch, die Ursachen der wirtschaftlichen Prosperität der westlichen Welt zu erklären, kommen die meisten Interpretationen nicht umhin, um Jahrhunderte europäischer Geschichte zurückzublättem. So rückt beispielsweise Berman das Entstehen der westlichen Rechtstradition in den Vordergrund, deren entscheidende Ursprünge er in der sogenannten gregorianischen Revolution gegen Ende des 11. Jahrhunderts ortet 3 '. North lokalisiert die Quelle wirtschaftlichen Wachstums im Aufkommen institutioneller Rahmenbedingungen, welche die Durchsetzung privater Eigentumsrechte garantieren. Deren kontinuierliche Entwicklung verfolgt er bis in die Ur- und Frühzeit zurück. Als einen Meilenstein in dieser Entwicklung nennt er die Glorreiche Revolution in Enghmd von 1688. 32 Wer sich eingehend mit dem Stand der Forschung zur Institutionenökonomie befasst, mag leicht enttäuscht sein. 33 Die drängenden, grossen Fragen sind formuliert, die Richtung, in welche die Suche nach Antworten gehen könnte, skizziert, aber präzisere, empirisch gehaltvolle Aussagen blieben bisher weitgehend aus. Allzuviele Arbeiten erschöpfen sich in ihrem Schlusswort in der Formulierung von Hoffnungen und Beschwörungen der Erkenntnisse, zu denen die weitere Forschung unter Berücksichtigung interdisziplinärer Ansätze gelangen mag. 34 Eine wichtige Ursache für diese Diskrepanz zwischen der Einschätzung der eigenen Bedeutung und dem bisher Erreichten dürfte darin liegen, dass oft die Ziele einzelner theoretischer Arbeiten allzu hoch gesteckt werden. In einem Wurf wird der gesamte institutionelle Wandel auf allen Ebenen der Gesellschaft zusammengefasst, ohne dass gebührend Rechenschaft darüber abgelegt wird, dass damit eigentlich ganz unterschiedliche Dinge mit gleichen Ellen gemessen und verglichen werden sollen. Dies führt zwangsläufig zu der häufig zu beobachtenden Argumentation auf einer sehr hohen Abstraktionsebene, welche die Anwendung der theoretischen Reflexionen auf empirische Problemstellungen schwierig macht.
30 Ostrom (1990: 50-54) empfiehlt zur Lösung dieses Problems eine Unterscheidung des institutionellen Wandels in verschiedene Niveaus der Regeln: Sogenannte Operational rules, welche das Verhalten in Alltagssitutionen regeln, werden durch Collective-choice rules bestimmt und verändert; diese wiederum hängen vom dritten Niveau der Constitutional-choice rules ab. Eine Untersuchung des institutionellen Wandels muss demnach Veränderungen auf allen drei Niveaus bzw. deren indirekten Auswirkungen (über veränderte Handlungsanreize) auf die untergeordneten Institutionen berücksichtigen. Für die Untersuchung der Wirkungsweise nur einer bestimmten Institution sollten aber vorläufig alle andern (übergeordneten) Institutionen als exogen gegeben und konstant betrachtet werden, damit die Komplexität der Fragestellung nicht überbordet. In der Realität finden Veränderungen aber selbstverständlich häufig auf allen Ebenen gleichzeitig statt. 31 Bermann (1991: 161 ff.). 32 Alles aus North (1991). 33 Matthews (1986: 917), Ostrom (1990: 188 -192), Nelson (1995: 76-84). 34 Siehe Witt (1987), North (1981).
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I. Theoretische Vorbemerkungen
Zwar lassen sich die Überlegungen der Transaktionskostentheorie mit bestechender Überzeugungskraft und Präzision auf die Frage der wirtschaftlichen Bedeutung und Wirkungsweise sehr vieler verschiedener Kategorien von formalen und informellen Institutionen anwenden. 35 Wenn man aber den Wandel verschiedener Institutionen untersuchen möchte, muss man feststellen, dass zwar deren Wirkung auf den Wirtschaftsprozess sehr erfolgreich mit ein und demselben ökonomischen Ansatz untersucht werden kann, dass es sich aber um ganz unterschiedliche Phänomene handelt, die durch jeweils eigene Prozesse entstehen und sich verändern. 36 Entsprechend muss deren Wandel auch mit Theorien und Ansätzen untersucht werden, die den einzelnen Gegenständen angemessen sind - und diese können sich ganz grundlegend unterscheiden. So kann etwa mit dem theoretischen Instrumentarium der Institutionenökonomie gezeigt werden, dass sowohl die Gewährung des Rechts auf Zehntablösung durch die Zürcher Regierung als auch die Einigung der Dorfgemeinden auf den Bau von Feldwegen bedeutend waren für die Entwicklung der Zürcher Landwirtschaft im 19. Jahrhundert. Beide Massnahmen führten dazu, dass private Eigentumsrechte am Boden eindeutiger definiert und freier ausgeübt werden konnten und damit das Tor zu einer flexibleren und effizienteren Bewirtschaftung geöffnet wurde. Es ist aber klar, dass es sich um zwei ganz verschiedene institutionelle Reformen handelt, die übrigens auch keineswegs gleichzeitig zustande kamen. Die Erklärung ihres Zustandekommens muss die Verschiedenheit der Vorgänge - einerseits der gesetzgebende Prozess auf der staatlichen Ebene, anderseits ein Kooperations- und Investitionsentscheid der Bürgergemeinden - selbstverständlich berücksichtigen. Der Forscher muss sich sehr genau Rechenschaft über Fragestellung und Anspruch seiner Arbeit ablegen. Geht es um die Erklärung der wirtschaftlichen Prosperität einer Region oder Gesellschaft im Vergleich mit einer anderen oder früher bestehenden, kann die Institutionenökonomie bestechende Einsichten liefern über die zentrale Bedeutung von Institutionen. Soll aber weitergegangen und erklärt werden, wie es denn zu unterschiedlichen Institutionen in einzelnen Regionen oder zu verschiedenen Zeiten kam, handelt es sich um einen völlig andersartigen Untersuchungsgegenstand. Es muss zuerst einmal neu die Frage gestellt werden, welche theoretischen Konzepte dabei den grössten Erfolg versprechen. Wird auf dieser Ebene der Untersuchung weiterhin das Ziel verfolgt, die Gründe für die wirtschaftliche Prosperität zu suchen, muss man sich zudem damit abfinden, dass die Analyse zwangsweise sehr komplex, vielschichtig und dynamisch wird und es sehr unwahrscheinlich ist, dass man zur Erklärung aller Phänomene mit einheitlichen, einfachen theoretischen Konzepten auskommen kann. 35 Siehe zum Beispiel Hoff, Braverman, Stiglitz (1993), Stiglitz (1989), Otsuka, Chuma, Hayami (1992), Bardhan (1989, 1989a, I 989b). 36 Vanberg (1992: 116 - 117) unterscheidet anschaulich zwischen Institutionen, die individueller, privater kollektiver oder öffentlicher Innovation und Selektion unterliegen und demzufolge durch ganz unterschiedliche Mechanismen (Evolution - kollektives Handeln - Politik) zustande kommen.
I. Institutionen und wirtschaftliche Entwicklung
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Ein solch ehrgeiziges Projekt kann jedoch durchaus aufgeteilt werden. So scheint es sinnvoll, in einem ersten Schritt unter Anwendung des aus der Institutionenökonomie bekannten Instrumentariums herzuleiten, dass bestimmte Institutionen in einer konkreten historischen Situation bedeutend sind für die wirtschaftliche Entwicklung, um sich dann in einem zweiten Schritt der hauptsächlich interessierenden Frage zuzuwenden, wie es denn dazu kommen konnte. Natürlich wird es noch viele andere Dinge geben, die ebenfalls wichtig oder gar noch wichtiger sind, doch das tut der Rechtfertigung und Sinnhaftigkeit der ins Auge gefassten Fragestellung in keiner Weise Abbruch. Es geht ja lediglich um die Untersuchung eines Teilaspektes einer grossen Frage, die nicht abschliessend beurteilt werden kann. Im Rahmen dieser Arbeit werde ich in diesem Sinne vorgehen. Ich werde die Fragestellung stark verengen und zunächst lediglich die Bedeutung von sich verändernden rechtlichen Institutionen betreffend einer konkreten, wirtschaftshistorisch überaus relevanten Entwicklung untersuchen: dem Übergang von der DreizeIgenwirtschaft zu einer neuen, produktiveren Bewirtschaftungspraxis in der Landwirtschaft anhand eines konkreten Fallbeispiels, der Zürcher Landwirtschaftsgeschichte des späten 18. Jahrhunderts. Die Fokussierung auf die Entwicklung des Rechts ist durch die eminente Bedeutung der Eigentumsrechte für das wirtschaftliche Verhalten der Menschen, die oben dargelegt wurde, zu rechtfertigen. In einem zweiten Schritt wird die Frage gestellt, wie und weshalb es zu dem beobachteten Wandel der rechtlichen Institutionen gekommen ist. Dabei wird sich keineswegs überraschend - herausstellen, dass die Analyse der Gründe für den rechtlichen Wandel weitere gesellschaftliche Veränderungen im Bereich der Institutionen, des Denkens, des Wissensstandes, ganz allgemein der Kultur einbeziehen muss, um eine überzeugende Erklärung der Vorgänge zustande zu bringen. Diese sollen denn auch für die Erklärung des untersuchten rechtlichen Wandels ausgiebig berücksichtigt werden. Durch dieses Vorgehen soll - und dies kann nicht deutlich genug betont werden - auf keinen Fall der Eindruck entstehen, Gesellschaft und Kultur seien nach der Wirtschaft bloss sekundäre Triebkräfte des Wandels. Es wird jedoch die Auffassung vertreten, dass theoretisch leider nur unscharf fassbare soziale und kulturelle Faktoren durch die so weit als möglich durchgehaltene sachliche Beschränkung des Untersuchungsgegenstands und die (mitunter wohl auch etwas stur und befremdend wirkende) Konzentration auf klar eingrenzbare und durch die ökonomische Theorie vergleichsweise präzise und einfach modellierbare rechtliche Entwicklungen um so deutlicher erkennbar werden. Damit soll ein Beitrag zur Frage geleistet werden, wie soziale und kulturelle Faktoren von einem institutionenökonomischen Ansatz erfasst werden und damit zu einem besseren Verständnis wirtschaftlicher Entwicklung beitragen könnten. Darüber soll im folgenden durch weitere theoretische Überlegungen noch etwas länger nachgedacht werden, um dann möglichst bald anhand des konkreten historischen Beispiels die Relevanz und Überzeugungskraft solcher Bemühungen zu überprüfen.
I. Theoretische Vorbemerkungen
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2. Evolutorische Ansätze des Institutionenwandels Es liegt auf der Hand, dass eine Theorie des Institutionenwandels und der wirtschaftlichen Entwicklung eine dynamische Theorie sein muss; dynamisch in dem Sinne, als im Zentrum des Interesses der Wandel der Voraussetzungen individuellen Handeins über die Zeit steht. Im vorigen Abschnitt wurde zudem gezeigt, dass der Prozess des Institutionenwandels jederzeit selbst wieder beeinflusst wird durch gegebene institutionelle Bedingungen (Pfadabhängigkeit). Für die Erklärung des Wandels von Institutionen ist es deshalb stets notwendig, sich auf deren Vergangenheit zu beziehen; damit muss eine Theorie des Institutionenwandels eine historische Theorie sein. Sie kommt nicht umhin, die Entwicklung des zu erklärenden Phänomens zu jedem Zeitpunkt an einen bestimmten zeitlichen und örtlichen Kontext zu binden - an einen historischen Kontext eben. Nun kommt ein dritter Aspekt hinzu, welcher die historische Einmaligkeit von Institutionen noch deutlicher hervorhebt. Häufig wird zur Erklärung von wirtschaftlicher Entwicklung an erster Stelle auf den technischen Fortschritt verwiesen, welcher aus der beständigen Realisierung von technischen Neuerungen in Produktionsprozessen besteht. Aber nicht nur im Bereich der Technik prägen Neuerungen den wirtschaftlichen Entwicklungsprozess. Ebenso wichtig sind sie in Belangen der betrieblichen und gesellschaftlichen Institutionen (Organisationsstrukturen) wie auch bei der Entwicklung individueller und gesellschaftlicher Handlungs- und Denkroutinen im allgemeinen?7 Eine wichtige Eigenschaft von (tatsächlich neuen)38 Neuerungen ist, dass sie grundsätzlich nicht vorhersehbar sind. Wenn sie es wären, wüsste man ja schon vor ihrem Auftreten mehr oder weniger genau über sie Bescheid, womit sie viel von ihrem Neuerungscharakter verlören. 39 Die Quelle dieser Neuerungen im Bereich der Technik, der Organisation und der Institutionen - und damit letztendlich des Wirtschaftswachstums - liegt in der Kreativität des menschlichen Denkens und der Vorstellungskraft. 4o Man könnte in dem Sinne die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in ihrem Kern auch als gesellschaftlichen Lernprozess bezeichnen. Wie die kognitive Kreation neuer Vorstellungen geschieht, entzieht sich allerdings weitgehend unserer Kenntnis. Es gibt keine befriedigende Theorie, anhand Siegenthaler (1993), Müller (1994). Beim Auftreten von Neuerungen ist zu unterscheiden zwischen Innovations- und Diffusionsprozessen. Wahrend erstere einen tatsächlich zuvor noch nicht bestehenden Gegenstand hervorbringen, handelt es sich bei letzteren um die Verbreitung einer bereits vorhandenen Innovation in neuen Zusammenhängen. Diffusionsprozesse können durchaus planbar und voraussehbar sein. 39 Dietl (1993: 19). 40 Hesse (1992: 116): Geht man davon aus, dass die Menge der in jeglichen Produktionsprozess eingehenden natürlichen Elemente, Materie und Energie, nicht durch den Menschen vermehrbar, sondern nur in andere Formen umwandelbar ist, so beschränkt sich die eigentliche Kreativität des Menschen auf die Erzeugung von Wissen - Wissen u. a. darüber, wie solche Umwandlung geschehen kann. Siehe auch Vanberg (1992: 106). 37
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2. Evolutorische Ansätze des Institutionenwandels
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der sich die menschliche Kreativität modellieren liesse. Das mögliche Auftreten von Neuerungen führt deshalb dazu, dass die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft immer bis zu einem gewissen Grad offen und unbestimmbar bleibt. Die drei skizzierten Eigenschaften des institutionellen Wandels - Dynamik, Pfadabhängigkeit, Neuerungen - enthalten die drei Punkte, weIche nach Witt41 die Eigenschaften evolutorischer Theorien im weiteren Sinne ausmachen: Eine Theorie ist demnach dann eine evolutorische Theorie, wenn sie dynamisch ist, wenn ihr das Konzept der irreversiblen, historischen Zeit zu Grunde liegt und, drittens, die Theorie erklären möchte, wie es zu Neuerungen in den untersuchten Entwicklungen kommt. Sie erhebt also generell den Anspruch, "das zeitliche Verhalten von Systemen, in denen Neuerungen auftreten und sich ausbreiten", erklären zu wollen. 42 Aus diesem Grund soll an dieser Stelle auf das Theorieangebot evolutorischer Ansätze näher eingegangen werden. Die Prinzipien eines evolutorischen Ansatzes lassen sich auf viele verschiedene Fragestellungen anwenden; grundsätzlich immer dann, wenn es um die Erklärung der dynamischen Entwicklung eines Phänomens unter Einbezug des möglichen Auftretens von Neuerungen geht. An die Stelle von Genen und Populationen in den wohl bekanntesten Anwendungen darwinistischer Theorien im Bereich der Biologie können durchaus auch Untersuchungsgegenstände aus dem Bereich der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften treten. Obgleich evolutorische Ansätze in der Ökonomie eine reiche Tradition 43 haben, finden sie erst in den letzten Jahren wieder eine breitere Beachtung und Anwendung in Kreisen von Ökonomen, die sich mit Fragen der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung befassen. 44 Wie sich die Ursachen der wirtschaftlichen Entwicklung nicht auf eine einzige Dimension reduzieren lassen, so definieren die Vertreter der evolutorischen Ökonomie ihren Untersuchungsgegenstand auch sehr weit und unterschiedlich. In verschiedenen evolutorischen Ansätzen wird der Wandel und dessen Bedeutung für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung sowohl von Technologien, Organisationsstrukturen und Handlungsroutinen 45 untersucht wie auch von Handlungsregeln46 , Normen und Institutionen 47 . Die beiden Grundbausteine einer evolutorischen Theorie sind Modellvorstellungen eines Variations- und eines Selektionsprozesses. Durch einen Variationsprozess wird eine Vielzahl neuer Varianten eines zu untersuchenden Gegenstandes (Gene, Ideen, Technologien, Organisationsstrukturen, Institutionen usw.) erzeugt. Durch die Variation kann eine Palette von Möglichkeiten entstehen, aus der durch Witt (1987: 9). Witt (1987: 9). 43 Vanberg (1986: 80). 44 Für einen Überblick siehe Nelson (1995), Witt (1992), Witt (1992a) und Dosi, Nelson (1994). 45 Dosi, Nelson (1994: 155). 46 Schmid (1992). 47 Hesse (1992). 4\
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I. Theoretische Vorbemerkungen
einen nachgelagerten, nach bestimmten Prinzipien ablaufenden Selektionsprozess diejenige Alternative ausgewählt wird, welche bestimmte Selektionskriterien erfüllt. Oft steht hinter dem Selektionsprozess die Vorstellung eines wettbewerblichen Mechanismus, der über das Fortbestehen oder Ausscheiden konkurrierender Alternativen entscheidet. In darwinistischen Theorien in der Biologie48 entspricht die Modellierung des Variations prozesses den Mutationen von Erbmaterial, die zu verschiedenen Eigenschaften einzelner Lebewesen führen. Die Lebewesen werden dann einem natürlichen Selektionsprozess, dem alltäglichen kompetitiven Kampf um das Überleben und um die Fortpflanzung, ausgesetzt, welcher somit über die Überlebensfähigkeit der mutierten Erbinformation entscheidet. In dieser Arbeit interessiert natürlich von allen möglichen Anwendungen evolutorischer Ansätze die evolutorische Modellierung individuellen und kollektiven Handeins, worauf die Diskussion im weiteren beschränkt wird. Hesse49 definiert in seiner evolutorisch-ökonomischen Handlungstheorie den Variationsprozess als "kognitive Kreation" von gedachten oder wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten des Individuums. Die Kreativität bezieht sich dabei nicht nur auf die Erzeugung von neuen Gedanken, sondern auch auf die Art der Wahrnehmung und Interpretation der Umwelt, aus der sich Handlungsoptionen herleiten lassen. 5o Die Funktionsprinzipien dieser Kreativität sind nicht bekannt. Es kann deshalb nicht vorhergesagt werden, was für Varianten in diesem Prozess entstehen; von daher rührt die Offenheit der Theorie. Allerdings, und nun kommt der individuelle Selektionsprozess ins Spiel, ist das Individuum imstande, gemäss dem ihm unterstellten ökonomischen Rationalitätsprinzip zwischen den erdachten und wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten jene Option auszuwählen, welche ihm zur Erreichung seiner Ziele optimal erscheint. Der Entscheid für eine von vielen gedachten Möglichkeiten bestimmt schliesslich das Handeln des Individuums, das beobachtet werden kann und das letztlich über die "Leistung" des Handelnden in einem kompetitiven Umfeld entscheidet. Eine evolutorische Theorie könnte also nach dieser Auffassung die Ergebnisse des individuellen Entscheidungsprozesses und damit das beobachtbare Verhalten des Individuums nicht vorhersagen, da sie den kreativen Variationsprozess von kognitiven Einfällen nicht thematisieren kann. Sie kann aber durch bestimmte Annahmen bezüglich der Rationalitätsprinzipien, nach welchen die mentalen Einfälle und Wahrnehmungen durch das Individuum selegiert werden, Aussagen darüber machen, welche möglichen Optionen vom Individuum mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht angenommen werden. Die grundsätzliche Offenheit des kreativen VariaNelson (1995: 56-59). Hesse (1992: 116-117). 50 Allerdings sind hier der Kreativität Grenzen gesetzt durch die Notwendigkeit, dass Wahrnehmungen auch subjektiv vertrauenswürdig scheinen müssen, sollen sie handlungs\eitend werden. Dazu ist das Individuum auf Gesellschaft angewiesen: siehe Berger, Luckmann (1966), Luhmann (1973), Siegentha\er (1993). 48
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2. Evolutorische Ansätze des Institutionenwandels
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tionsprozesses wird also durch eine genaue Spezifizierung von Regeln eines nachgelagerten Selektionsprozesses (in diesem Fall durch Annahmen über die individuelle Rationalität) eingeschränkt. Genau darauf muss sich eine evolutorische ModelIierung generell konzentrieren: Nur durch die genaue theoretische Modellierung der Regeln des Selektionsprozesses können überhaupt Aussagen darüber gemacht werden, in weIche Richtung eine evolutorische Entwicklung gehen könnte handle es sich beispielsweise um die Regeln des wirtschaftlichen Wettbewerbs, des technischen Fortschritts, um Diskursregeln einer Kommunikationsgemeinschaft oder um die Regeln einer wissenschaftlichen Disziplin. 51 Evolutorische Theorien, weIche die Entwicklung von Unternehmen zu ihrem Thema machen, modellieren oft einen doppelten Selektionsprozess. So basiert nach Dosi und Nelson 52 eine evolutorische Theorie auf vier Bausteinen, weIche je nach ihrer konkreten Anwendung verschieden definiert und modelliert werden können. Als erster Theoriebaustein werden bestimmte Elemente des Unternehmens, z. Bsp. technische Problemlösungen im Produktionsprozess, ins Auge gefasst, die einem Variationsprozess unterworfen werden. Dieser Variationsprozess könnte etwa aus der Tätigkeit der Ingenieure in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung bestehen, welche sich alternative technische Lösungen für dasselbe Problem ausdenken. Dann wird, zweitens, durch einen Entscheidungsprozess im Management des Unternehmens einer der Lösungsvorschläge als der "beste" ausgewählt (erster Selektionsprozess). Drittens wird die ganze Unternehmung dem Markt als wettbewerblicher Instanz ausgesetzt (zweiter Variationsprozess), welche schliesslich über die Leistungsfähigkeit und das Fortbestehen der Unternehmung im Vergleich mit ihren Konkurrenten entscheidet (zweiter Selektionsprozess). Damit bewertet der Markt aber auch indirekt die Qualität der Variations- (gernäss unserem Beispiel die Kreativität der F&E-Abteilung) und der Selektionsprozesse (die Entscheidungen des Managements) innerhalb der Unternehmung, da deren Leistungsfähigkeit durch jene beeinflusst wird. In solchen Modellierungen steckt in der Regel die Vorstellung, dass die marktliche Selektion gesamthaft zu einer laufenden Verbesserung der Leistungsfähigkeit der (überlebenden) Marktteilnehmer und damit indirekt der technisch-organisatorischen Entwicklung führt, da die "schlechten" Unternehmen ausscheiden und die "guten" sich ständig verbessern. Technische und organisatorische Innovationen, die sich in Unternehmen und am Markt bewähren, werden sich demnach mit der Zeit gegenüber inferioren Lösungen durchsetzen und ausbreiten. Diese doppelte ModelIierung evolutorischer Theorien im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung ist aber nicht zwingend. Einerseits kann sich die Untersuchung eines Phänomens durchaus nur auf eine einzige Ebene seiner Entwicklung konzentrieren (z. Bsp. das Überleben der Unternehmen am Markt auf Grund ihrer Gewinnzahlen oder die Selektion verschiedener möglicher Technologien in einem Unter51 52
Nelson (1995: 66). Dosi. Nelson (1994: 155).
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I. Theoretische Vorbemerkungen
nehmen auf Grund ihrer vom Management eingeschätzten Leistungsfähigkeit). Anderseits ist auch die Modellierung eines mehr als zweistufigen Selektionsprozesses vorstellbar, je nach dem, auf wie viele vorgelagerten Entwicklungsebenen man bei der Untersuchung eines dem innovativen Wandel unterworfenen Phänomens zurückgehen möchte. Es dürfte kaum je gelingen, endgültige Grundeinheiten der Entwicklungsgeschichte eines Phänomens zu identifizieren, deren (evolutorische) Entwicklung nicht selbst wieder thematisiert werden könnte. Über die Wahl der sinnvollen Untersuchungstiefe muss angesichts einer präzisen Fragestellung von Fall zu Fall pragmatisch entschieden werden. Sicherlich ist aber darauf zu bestehen, dass erst durch die präzise Spezifizierung seiner Bausteine ein evolutorischer Ansatz zu einer für empirische Fragestellungen brauchbaren Theorie wird. 53 Die weitaus stärkste Verbreitung und Beachtung hat der evolutorische Ansatz für die Erklärung technischer und organisatorischer Innovationen und deren Bedeutung im Unternehmen und in ganzen Industriezweigen gefunden. 54 Hierbei kommen der Vorstellung des "Unternehmers" als Innovator und des Wettbewerbs als Selektionsmechanismus zentrale Rollen zu. Immer wieder wurden Ansätze unternommen, Analogieschlüsse aus diesem theoretisch und empirisch weit entwikkelten Forschungsprogramm auf den Bereich der Institutionenforschung zu übertragen. 55 Hayek 56 sieht in seiner "Theorie der kulturellen Evolution" offenbar keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Entdeckungsprozess technischer Lösungen ("technical tools"), die sich als standardisierte Lösungsroutinen für bestimmte wiederkehrende technische Problemstellungen durchsetzen und verbreiten, und der Entwicklung von "rules and institutions as social tools"57, welche 53 Dosi, Nelson (1994) weisen nun selbst darauf hin, dass, was in naturwissenschaftlichen Theorien oft relativ eindeutig zu definieren ist, in sozialwissenschaftlichen Anwendungen bei der konkreten Umsetzung Schwierigkeiten bereiten kann. So kann es sich bei den einer Variation und Selektion unterliegenden Untersuchungsgegenständen um komplexe, mehrdimensionale Gebilde handeln wie Technologien, Organisationen oder Institutionen. Was genau wird hier variiert und was unterliegt der Selektion? Welche sind die handelnden und entscheidenen Akteure? Nach welchen Regeln laufen die Selektionsmechanismen ab? Ein zweites Problem besteht darin, dass die Selektionskriterien oft mehrdimensional und nicht immer eindeutig bestimmt sind. Zudem können sie selbst dem gesellschaftlichen oder wirtschaf1lichen Wandel unterliegen. 54 Witt (1987: 31 ff.), Nelson (1995). 55 In den Pionierarbeiten (v.a. Schumpeter) der evolutorischen Ökonomik wird innovatives Verhalten mit "Unternehmerverhalten" schlechthin identifiziert. Dem Unternehmer werden die persönlichen Eigenschaften zugesprochen, die ihn zum "Innovator" machen: Motivation zur Verbesserung der eigenen Lage, Kreativität, Initiative, Risikobereitschaft usw. In späteren Arbeiten (Kirzner) werden diese Eigenschaften der ,.Findigkeit" von der schmalen Elite der Unternehmer auf alle Individuen übertragen. Es wird davon ausgegangen, dass grundsätzlich alle willens und fähig sind, Gelegenheiten zur Verbesserung ihrer Lage zu suchen und, sofern vorhanden, auch umzusetzen - dies ist nichts anderes als eine logische Konsequenz des ökonomischen Rationalprinzips individuellen Verhaltens. Siehe Witt (1987: 35 ff., 74 ff.). 56 Alles zitiert aus Vanberg (1992). 57 Vanberg (1992: 107).
2. Evolutorische Ansätze des Institutionenwandels
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durch Variation entstehen und durch eine "group selection,,58 auf effiziente Art und Weise ausgewählt werden, um irgendwelche wiederkehrende Probleme in der Gesellschaft zu meistem. Doch Vanberg 59 weist in seiner prägnanten Kritik darauf hin, dass diese Position Hayeks nicht haltbar ist, da sie in zentralen Punkten nicht genügend ausgeführt wird und zu vage bleibt. 60 Im Bereich der Unternehmen kann das von Hayek (und anderen) beschriebene Experimentieren mit Neuerungen in einem "trial-and-error"-Prozess durch eine grosse Zahl von Akteuren sowie das anschliessende Bewerten und Selegieren von Lösungen durch den Markt allenfalls noch plausibel gemacht werden. Die Akteure und ihre Motivation sowie die Selektionsprozesse und Bewertungskriterien in diesem Modell sind immerhin klar spezifiziert. Es scheint jedoch auch hier fraglich, ob die wettbewerblichen Selektions prozesse der Unternehmen und damit indirekt auch der technischen Problemlösungen durch die Märkte tatsächlich derart stringent ablaufen, dass es - vorausgesetzt, es kommt zu laufenden Variationen - zu kontinuierlichen Verbesserungen der Technologien kommt. Sicherlich wird der technische Fortschritt ganz wesentlich auch durch komplexe Prozesse in Wissenschaft, Politik, und Gesellschaft beeinflusst, was ihn hemmen oder auch in diskontinuierlichen Schüben vorantreiben kann. 61 Zudem ist immer wieder zu beobachten, dass es zu einem diskontinuierlichen Auf- und Abstieg ganzer Technologien, Wirtschaftszweige und Regionen kommt, da sich bestimmte historische Entwicklungspfade von Technologien nicht mehr als genügend verbesserungsfähig erweisen und durch andere verdrängt werden. Solche Übergänge werden häufig nicht einfach durch den Markt bestimmt, sondern ziehen tiefgreifende politische, soziale und kulturelle Implikationen mit sich. 62 Schliesslich könnte auch die scheinbar so scharf selegierende Funktion des Marktes selbst, hinter dem immer kommunizierende, kalkulierende und handelnde Individuen stehen, problematisiert werden. Das Modell des evolutorischen Wandels ist aber vor allem aus zwei anderen Gründen nicht übertragbar auf die Entwicklung von Institutionen. Erstens lässt sich mit Variationen gesellschaftlicher Regeln, Normen und Deutungsmuster keineswegs so flexibel experimentieren wie unter Umständen mit technischen Problemlösungen. Zweitens unterliegen Institutionen sicherlich nicht der Selektion durch so etwas wie einen Markt, auf dem Akteure mit ihren institutionellen Lösungen in einen Wettbewerb treten würden. Wenn man von der Vorstellung einer "Gruppenselektion" als einem dem Markt ähnlichen Auswahlprozess ausgehen will, der zum Nutzen einer Gruppe gereicht, wäre ein solcher Gruppen-Selektionsprozess genau und schlüssig zu beschreiben, denn er wäre keineswegs selbstverständlich mit einer individualistischen Handlungstheorie vereinbar. Die notwendige theoretische 58 59
60 61 62
3
Vanberg (1986: 81 ff.). Vanberg (1992: 107). Ähnlich kritisch äussern sich dazu auch Nelson (1995: 83) und Kley (1993). Nelson (1995: 64). Schumpeter (1950: 103 - 264).
R~sonyi
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I. Theoretische Vorbemerkungen
Präzisierung einer solchen Gruppenselektion ist in der einschlägigen Literatur weiterhin ausstehend, weshalb der Schluss naheliegt, dass die Bausteine einer Theorie des Institutionenwandels wohl mit Vorteil anders zu modellieren sind als jene einer Theorie des technisch-organisatorischen Fortschritts. Die Kritik an einer evolutorischen Entwicklungstheorie der Institutionen soll am Beispiel der Eigentumsrechte noch etwas weiter ausgeführt werden. Eigentumsrechte regeln das Handeln von Individuen und Kollektiven in gesellschaftlichen Handlungsräumen; die Mitglieder dieser Handlungsräume können sich der Geltungsmacht der Eigentumsrechte nicht bzw. nur unter bestimmten Kostenfolgen entziehen. Kurswechsel und Korrekturen in der Ausgestaltung der Eigentumsrechte können nur schon wegen der schieren Zahl der Betroffenen sehr weitreichende Wirkungen haben. Das Experimentieren mit Eigentumsrechten im Sinne eines evolutiven "Trial-and-error"-Verfahrens könnte deshalb höchstens zu sehr hohen wirtschaftlichen und sozialen Kosten durchgeführt werden. Ein evolutiver Variationsprozess rechtlicher Lösungen scheint deshalb nur schon aus Kostengründen sehr unplausibel. 63 Wegen ihrer eminenten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung werden Eigentumsrechte ausserdem nicht auf einem Markt angeboten, sondern durch politische Entscheidungsprozesse geschaffen und modifiziert. Demzufolge muss eine Erklärung ihrer Entwicklung auch durch eine wie auch immer geartete Theorie politischer Prozesse angestrebt werden. Eine blosse Analogie zu individualistischen Erklärungsmodellen technischen Wandels und marktlicher Selektion greift hier sicherlich zu kurz. 64 Politische Prozesse unterliegen ganz anderen Prinzipien und Kriterien als marktliche Selektionsprozesse. Es scheint grundsätzlich sehr fraglich, ob sie sich für eine evolutorische ModelIierung eignen, da ein stringenter Selektionsprozess und klare Selektionskriterien "guter" politischer Lösungen kaum plausibel angenommen werden können. 65 Dennoch wird in einem etwas anderen Zusammenhang häufig Vorstellungen von Offenheit und evolutivem Wettbewerb auch im Bereich der Politik bzw. politischer Institutionalisierungsprozesse eine grosse Bedeutung beigemessen. Dahinter steht der Gedanke, dass einzelne Gebietskörperschaften in Konkurrenz zueinander stehen können, welche sie letztlich zwingt, auf die (wirtschaftliche) Effizienz ihrer Institutionen zu achten. Ein (allzu deutliches) Abseitsstehen könnte Siegenthaler (1995). Für die Frage der Entstehung und des Wandels von Rechtsverhäitnissen hat Siegenthaler (1993: 30) den Eindruck, dass die Ökonomie damit "vorderhand ziemlich erfolglos" umgehe. ,,Die Ursache dieses Misserfolgs ist leicht zu erkennen. Rechtsverhältnisse werden unter dem Einfluss kollektiven Handeins gestaltet. Ihre konkrete Ausgestaltung und ihre Entwicklung lässt sich individuellem Optimierungsverhaiten dann zuschreiben, wenn und insofern sich kollektives Handeln auf individuelle Optimierungskalküle zurückführen lässt. Eine ökonomische Interpretation der Genesis von Eigentumsrechten teilt also die Stärken und Schwächen der ökonomischen Theorie kollektiven Handeins ... ". Siehe auch Schmid (1992: 200). 65 Siehe die grosse Skepsis von Nelson (1995: 66, 82) gegenüber evolutorischen Theorien der Rechtsentwicklung. 63
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3. Institutionenwandel: Ein Nachfrage-Angebots-Ansatz
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nämlich in verschiedener Hinsicht zur Bedrohung (in erster Linie für die Regierenden) werden - sei es durch einen Prestigeverlust der Regierung bei ihren Klienten (die Wähler, wichtige Interessengruppen), durch eine wirtschaftliche Benachteiligung durch stärkere Handelspartner, durch die Abwanderung von Teilen der Bevölkerung66 oder, im Extremfall, durch die militärische Eroberung durch andere Mächte. 67 In Standardwerken der Wirtschaftsgeschichte wird regelmässig auf die zentrale Bedeutung des Wettbewerbs und der Rivalität unter den europäischen Staaten für deren wirtschaftliche Entwicklung und Industrialisierung hingewiesen. 68 Dahinter steht der Grundgedanke, dass bei bestehendem Wettbewerb zwischen verschiedenen politischen Gebietskörperschaften der Druck auf die Politiker höher ist, effiziente Institutionalisierungen zu wählen. Eine solche politökonomische Theorie bewegt sich aber auf einer anderen Ebene und ist ungleich kohärenter als die bekannten evolutorischen Modelle institutioneller Entwicklung. Eine evolutorische Modellierung scheint aus den hier dargelegten Gründen für ein Verständnis des Wandels von Eigentumsrechten, auf welche in dieser Arbeit der Fokus gerichtet ist, kaum geeignet. 69 Eigentumsrechte werden durch bewusste politische Prozesse verändert. Deshalb soll im weiteren dem diskontinuierlichen, politischen Entscheidungsprozess über den Wandel von Eigentumsrechten nachgegangen werden.
3. Institutionenwandel: Ein Nachfrage-Angebots-Ansatz Ökonomen teilen die Untersuchung des Institutionenwandels häufig nach der in der Ökonomie geläufigen Betrachtungsweise in eine Nachfrage- und eine Angebotskomponente auCo Damit soll nicht unterstellt werden, Institutionenwandel werde auf so etwas wie einem ,,Markt für Institutionen" zu bestimmten Preisen feilgeboten und nachgefragt. Diese Unterscheidung soll lediglich erlauben, das komplexe Phänomen des Wandels so auf dem Schreibtisch des Wissenschafters auszubreiten, dass dem durch die Ökonomie geschulten Auge der Blick frei wird für einige Aspekte, welche für das Verständnis des Institutionenwandels hilfreich sein können. Ökonomen, die sich mit dem Wandel von Institutionen befassen, gehen dabei oft von Theorien aus, die für die Erklärung technischen Wandels entwikkelt wurden, und wenden diese auf Fragen des institutionellen Wandels an. 71 Hirschmann (1970). Nonh (1981). 68 Landes (1968); Nonh (1988: 29), Nonh (1991: 108). 69 Derselbe Schluss dürfte wohl auch für andere formale Institutionen gelten. Siehe dazu auch Nelson (1995: 82-84). 70 Siehe Binswanger, Ruttan (1978), Ruttan, Hayami (1984), Nonh (1981), Feeny (1988), Bates (1988), Hinweis bei Ostrom (1990: 42), Ostrom (1990), Feeny (1993). 71 Ruttan (1989: 1375), Ruttan, Hayami (1984). 66 67
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I. Theoretische Vorbemerkungen
Von einer gegebenen ,,Nachfrage" nach institutionellen Innovationen ist gemäss diesen Ansätzen dann auszugehen, wenn deren Zustandekommen einem Kreis von Akteuren offensichtlich Vorteile bringen würde. In der Regel bereitet die ModelIierung einer Nachfrageseite nach (zweckmässigen) Institutionen den Ökonomen vergleichsweise wenig Schwierigkeiten, lässt sich hierbei doch in gewohnten Nutzen- und Kostenkategorien argumentieren. Die Untersuchung der Angebotsseite macht jedoch sehr viel mehr Mühe, so dass die Vertreter dieses Ansatzes mitunter unumwunden eingestehen, dass sie dazu eigentlich mehr Fragen aufwerfen als sie Antworten geben können. 72 Unter "Angebot" sind die Bedingungen zu verstehen, welche politische und private Akteure dazu bringen, sich für die Schaffung und Wandlung von Institutionen erfolgreich einzusetzen. Die Schwierigkeiten bestehen hauptsächlich darin, dass dabei von den Autoren die Bedeutung von kulturellen und ideologischen Aspekten (gesellschaftliche Normen, kognitive Regeln, mentale Modelle) anerkannt wird, dass man sich aber nicht in der Lage sieht, diese in befriedigender Art und Weise in eine ökonomische Betrachtung zu integrieren. So sehen Ökonomen mitunter gerne von einer genaueren Untersuchung der ,,kulturellen" Aspekte des Angebots von vornherein ab und konzentrieren sich lediglich auf die Untersuchung von Nachfragefaktoren des Wandels. Doch auch die ,,Angebotsseite" des Institutionenwandels bietet viele fruchtbare Ansatzpunkte für ein vor allem der politischen Ökonomie entliehenes theoretisches Instrumentarium. Zuerst sollen aber einige Überlegungen zur Nachfrageseite angestellt werden. a) Die Nachfrage nach Institutionenwandel
Da die vorliegende Untersuchung aus dem Blickwinkel des methodologischen Individualismus durchgeführt wird, soll auch die Nachfrage nach institutionellem Wandel unter Rückgriff auf individuelle wirtschaftliche Anreize erklärt werden. Eine Nachfrage nach dem Gut Institutionenwandel entsteht demnach, wenn sich mindestens eine Person oder eine Gruppe von Personen einen privaten Nutzen aus dessen Bereitstellung verspricht. Es sind viele Gründe vorstellbar, warum Akteure sich einen Gewinn aus dem Wandel versprechen könnten. Es dürfte zum Beispiel für Personen mit einem hohen Einkommen interessant sein, sich bei einem Steuersystem mit einem progressiven Steuersatz für eine Senkung der Staatsquote auszusprechen oder die direkten zu Gunsten von indirekten Steuern reduzieren zu wollen, damit ihre Steuerbelastung im Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppen sinkt. Es ist, um ein zweites Beispiel zu nennen, ebenso plausibel anzunehmen, dass ein italienischer Kaufmann im Mittelalter an der Verbreitung und Durchsetzung des Wechsels als Zahlungsmittel interessiert war, da er damit bedeutende 72 North (1991: Hl): "The foregoing comparative sketch probably raises more Questions than it answers about institutions and the role they play in the performance of economies." Ähnlich Ruttan, Hayarni (1984: 213).
3. Institutionenwandel: Ein Nachfrage-Angebots-Ansatz
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Transaktionskosten seines täglichen Geschäfts sparen und sich neue Geschäftsmöglichkeiten erschliessen konnte. 73 Es ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Änderungen von Institutionen, welche eine blosse Umverteilung von Ressourcenbeständen bezwecken und solchen, welche insgesamt ein Wachstum bestehender Ressourcen ermöglichen. Für erstere Kategorie steht das obige Beispiel zur Um verteilung der Steuerlast, für letztere das zweite. Es ist durchaus denkbar, dass eine Nachfrage nach Institutionenwandel allein wegen pekuniären Verteilungsgewinnen zu Lasten anderer Personen entsteht und damit ohne Auswirkungen auf das gesamtwirtschaftliche Wachstum und die Effizienz bleibt. In der Regel dürften aber wegen der komplexen wirtschaftlichen Auswirkungen institutioneller Veränderungen immer externe Effekte auftreten, und zwar sowohl (positive oder negative) reale Wachstumseffekte als auch blosse Verteilungsgewinne und -verluste. Entscheidend für die Frage der wirtschaftlichen Entwicklung sind natürlich die gesamtwirtschaftlichen Wachstumseffekte, für die einzelnen Akteure aber lediglich die sie selbst betreffenden privaten Nutzenauswirkungen. Sofern ein gesamtwirtschaftlicher Wachstumseffekt - oder umgekehrt eine Schädigung der Wachstumsbedingungen einer Gesellschaft - aus den Aktivitäten einer am Wandel von Institutionen interessierten Gruppe hervorgeht, dürfte es sich in der Regel um nicht intendierte gesamtgesellschaftliche Folgen von deren eigennützigem Verhalten handeln. In der Tat werden nicht selten für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung bedeutende institutionelle Arrangements erst dadurch ermöglicht oder verhindert, dass tatkräftige Vertreter von EinzeIinteressen mit eigennützigen Zielen auf den Institutionenbildungsprozess Einfluss nehmen. 74 b) Das Angebot von Institutionenwandel
Besteht eine genügend grosse Nachfrage bzw. Zahlungsbereitschaft nach einem normalen Gut, so entsteht in einer Marktwirtschaft in der Regel auch ein Angebot, welches die vorhandene Nachfrage zu einem bestimmten Preis zu befriedigen sucht. Ein Interesse an Strukturen, welche ein nachhaltiges modemes Wirtschaftswachstum 75 ermöglichen, müsste in der Tat weit verbreitet und enorm gross sein. Dennoch bilden solche Strukturen in der Weltgeschichte die Ausnahme und nicht die Rege1. 76 Das liegt daran, dass wachstumsträchtige institutionelle Arrangements die theoretischen Eigenschaften öffentlicher Güter aufweisen 77: Ihre Nutzniessung North (1991: 105). North (1993: 7); Feeny (1982) zeigt, wie strategische Machtüberlegungen der führenden Elite Thailands zum Bau einer Eisenbahnlinie im 19. Jh. führten, obwohl dieselben öffentlichen Mittel in für das ganze Land viel produktiverer Weise als landwirtschaftliche Infrastrukturinvestionen hätten angelegt werden können. 75 Zum Begriff des Wirtschaftswachstums siehe Siegenthaler (1977). 76 Landes (1990). 77 Siehe Feeny (1988: 274), Olson (1965:14), Ostrom (1990: 137). 73
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I. Theoretische Vorbemerkungen
lässt sich in den meisten Fällen nicht auf die Personen beschränken, welche die Kosten ihres Angebots tragen (Nicht-Ausschliessbarkeit), und es besteht keine Rivalität um die Nutzniessung der Institutionen, da sie durch deren Nutzung nicht aufgebraucht werden. Aus der Theorie des kollektiven Handeins folgt, dass öffentliche Güter von privaten, nutzenorientierten Personen gar nicht oder nicht in einem pareto-optimalem Ausrnass angeboten werden, da jeder Nutzniesser sich als Trittbrettfahrer zu verhalten sucht: Er ist zwar an der Bereitstellung der gesellschaftlich nützlichen Institutionen interessiert, möchte dazu aber keinen Beitrag leisten. 78 Das Trittbrettfahrerproblem hat einschneidende Konsequenzen für den Institutionenwandel: Eine hohe gesellschaftliche Nachfrage nach entwicklungsträchtigen Institutionen ist deshalb keine hinreichende Bedingung dafür, dass diese auch entstehen können. Ein verbreiteter Lösungsansatz des Trittbreufahrerproblems ist es, das Angebot öffentlicher Güter dem Staat zu überlassen. Aus diesem Grund werden zentrale Institutionen wie das formale Recht vom Staat geschaffen und durchgesetzt. 79 Die politische Ökonomie lehrt jedoch überzeugend, dass es nicht plausibel ist anzunehmen, der Staat setze sich selbstverständlich und uneigennützig zum Wohl der Gemeinschaft für die Schaffung optimaler wirtschaftlicher Institutionen ein. Einerseits dürften die Staatsvertreter in Regierung, Parlament und Verwaltung in erster Linie ihre ganz persönlichen Interessen verfolgen. Anderseits ist davon auszugehen, dass sie dies nicht uneingeschränkt tun können. Je nach den vorherrschenden politischen Institutionen und der Verteilung von Ressourcen 8o werden die Repräsentanten des Staats mehr oder weniger stark unter dem Druck von organisierten Interessengruppen, Agenten und potentiellen Rivalen stehen, deren Ziele sie zu berücksichtigen haben. Mangelnde staatliche Leistungen bei der Schaffung und Durchsetzung wichtiger wirtschaftlicher Institutionen verweisen somit direkt auf Probleme des kollektiven Handeins und der Organisationsfahigkeit gesellschaftlicher Gruppen,81 aber auch auf die politischen Institutionen, die mediale Öffentlichkeit und die politische Kultur, welche den Zugang zu staatlicher Macht sowie die Transparenz und Kontrolle ihrer Träger regeln. Nicht alle Institutionen werden vom Staat bereitgestellt. Ständig werden informelle Institutionen wie Normen und Routinen geschaffen und verändert, wo Menschen in Gemeinschaften miteinander zu tun haben. Ostrom betont in ihrer auf zahlreiche Fallstudien bezogenen Analyse die eminente Bedeutung informeller Strukturen, welche das individuelle Verhalten in kommunalen und regionalen GeOlson (1965); siehe auch North (1981), Frey (1981), Olson (1982), Ruttan (1989). Hinzu kommen auch Transaktionskostenüberlegungen; siehe unten. 80 Natürlich spielen die institutionellen Ausgangsbedingungen für die Leistung des Staates eine entscheidende Rolle. In den Ansätzen der evolutorischen Oekonomie haben wir gesehen, dass die Struktur der Ausgangslage zwar einen Entwicklungspfad vorzeichnen, niemals aber die ganze Entwicklung bestimmen kann, da immer Spielräume für unvorhersehbare Entwicklungen vorhanden sind. 81 Ruttan (1989), Ruttan, Hayarni (1984). 78
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3. Institutionenwandel: Ein Nachfrage-Angebots-Ansatz
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meinschaften so koordinieren können, dass öffentliche Güter dennoch nachhaltig bereitgestellt werden. 82 Nun müssen solche offensichtlich dem Gemeinwohl dienenden kommunalen oder regionalen Strukturen ebenfalls als öffentliche Güter betrachtet werden. Wie konnte da das Trittbrettfahrerproblem überwunden werden? Die dem öffentlichen Wohl dienenden Strukturen sind nach Ostrom häufig das Resultat zahlreicher, sich allmählich ergebender Massnahmen einzelner Individuen und sozialer Kollektive, welche im einzelnen nicht viel kosten und in ihren Ergebnissen auch nicht immer intendiert sein müssen. In ihrer Gesamtheit können sie aber mit der Zeit Institutionen schaffen, welche zum Nutzen der Gemeinschaft nachhaltig wirksam werden - auch wenn jeder einzelne Beitrag zu ihrer Schaffung auf das eigennützige Kalkül der beteiligten Individuen zurückzuführen war. 83 Eine solch positive Entwicklung ist aber auf bestimmte Voraussetzungen angewiesen und keineswegs zwingend. Neben einem ganzen Katalog von möglicherweise relevanten Aspekten 84 sind hier auf Grund der theoretischen Überlegungen und der verfügbaren empirischen Studien in der Literatur besonders drei Faktoren hervorzuheben 85 : Erstens scheint das Vorhandensein rechtsstaatlicher Institutionen, welche die Fonnulierung und Durchsetzung kommunaler und regionaler Institutionen verbilligen sowie vor nicht kontrollierbaren externen Einflüssen schützen und damit die Unsicherheit der Erwartungsbildung reduzieren, ein wichtiger Katalysator zu sein. Zweitens ist eine dezentrale Organisation der Gesellschaft von besonderer Bedeutung, welche einerseits Freiräume bietet für institutionelle Differenzierungen 86 , und anderseits kleinräumig genug ausgerichtet ist, um eine an die spezifischen Gegebenheiten angepasste Entwicklung der Institutionen und eine wirksame soziale Kontrolle durch die betroffenen Mitglieder zu gewähren. Der dritte Faktor liegt in Kommunikationsstrukturen, welche eine bewusste und aktive Auseinandersetzung der Gemeinschaft miteinander ennöglichen, die Diskussion und Meinungsbildung über kollektive Probleme und Problemlösungen (öffentliche Güter!) ennöglichen und aufrecht erhalten sowie gleichzeitig durch die persönliche Interaktion Mechanismen der Identifikation und sozialen Kontrolle zur ÜberwinOstrom (\990: 139-142). Ostrom (1990: 139-142). 84 Die Wirkungszusarnmenhänge können laut Ostrom (\990: 183-184, 190-195) noch bei weitem nicht abschliessend und allgemein gültig verstanden werden. Es kann lediglich ein "frarnework" angeboten werden, welches empirische Untersuchungen auf die möglicherweise interessanten Fragen verweist. 85 Ostrom (1990: 89 - 102). 86 Lepsius (\ 990: 53 - 63) betont die Bedeutung von Freiräumen, die erst die Entstehung neuer Institutionen ermöglichen, welche von anderen abweichen können. Die ,,Dynamik der Moderne" ist nicht eine Folge von Interessenkonflikten. denn die gab es schon immer. sondern eine Folge der ständigen Konflikte zwischen einer Vielfalt differierender Institutionalisierungen mit jeweils eigenen Rationalisierungen. welche in enger Interaktion stehen. Diese Konflikte werden getragen von gesellschaftlichen Organisationen. welche rur die eigenen Institutionalisierungen und Rationalisierungen eintreten. 82 83
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I. Theoretische Vorbemerkungen
dung des Triubreufahrerproblems verstärken. 87 Mit dieser durch vielfache empirische Studien untermauerten Argumentation werden allerdings wirtschaftlich erfolgreiche kommunale und regionale Institutionen an Voraussetzungen gebunden, die ihrerseits wieder gesellschaftliche Institutionen - die staatliche Rechtsordnung, Strukturen sozialer Organisation und Kommunikation - darstellen: Das Dilemma der Institutionenökonomie wird hier sehr deutlich sichtbar.88 Es stellt sich nun unabhängig von den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen die Frage nach den Prozessen, durch welche Individuen und Organisationen bei gegebenen strukturellen Voraussetzungen dazu kommen können, die gesellschaftlichen Institutionen zu verändern. Im Interesse einer straffen und klaren Argumentation soll im folgenden der Institutionenbegriff auf die in dieser Arbeit im Zentrum stehenden Eigentumsrechte eingeschränkt werden. Die Argumente dürften aber grundsätzlich für einen grossen Bereich von formalen Institutionen zutreffen, welche das Verhalten von Gemeinschaften regeln. Zunächst soll das gedankliche Konstrukt des institutionellen Gleichgewichts eingeführt werden, um davon ausgehend zu überlegen, wie es zur Störung eines hypothetischen Gleichgewichts kommen kann. 89 Es sei einmal angenommen, es bestünde ein institutionelles Gleichgewicht (man könnte auch "Stabilität" oder "Stagnation" sagen) in einer Gesellschaft, wenn niemand sowohl ein Interesse als auch die notwendigen Ressourcen hat, die bestehenden Institutionen zu verändern. Also bleiben die Institutionen stabil - im Gleichgewicht eben. Wie kann es nun zu einer Veränderung und damit zu einer Verschiebung dieses Gleichgewichts kommen? Dazu sind zwei Bedingungen notwendig. 90 Zuerst einmal muss überhaupt eine Nachfrage nach Institutionenwandel bestehen, dass heisst es muss sich mindestens eine einzelne Person oder eine Gruppe von Personen einen positiven Nutzen aus dessen Bereitstellung versprechen. Die Entstehung einer Nachfrage nach institutioneller Veränderung ist aber nicht hinreichend zur Erklärung des institutionellen Wandels. Es muss zusätzlich gezeigt werden, wie auf die Nachfrage auch ein Angebot des Institutionenwandels folgt. Es sollen im folgenden drei Möglichkeiten präsentiert werden, welche zu einer Verschiebung des institutionellen Gleichgewichts führen können, indem gleichzeitig sowohl eine Nachfrage als auch das Angebot einer entsprechenden Anpassung der Institutionen besteht.
87 Die Bedeutung der menschlichen Interaktion bzw. der ihr zugrunde liegenden Strukturen bestimmt auch nach Witt (1987) die Ergebnisse sozialer bzw. wirtschaftlicher Lernprozesse entscheidend und müsste in einer evolutorischen Theorie des wirtschaftlichen Wandels einen zentralen Platz einnehmen. 88 Siehe die Ausführungen oben zur Pfadabhängigkeit des Institutionenwandels. 89 Sowohl die Entstehung neuer wie auch die Veränderung bestehender Institutionen können mit derselben Theorie untersucht werden. Jede neu entstandene Regel, welche die Nutzen-Kosten-Kalkül eines Individuums beeinflusst, kommt einerVeränderung des bestehenden Handlungsspielraums gleich. Siehe dazu Ostrom (1990: 140). 90 Siehe Binswanger, Ruttan (1978), Ruttan, Hayami (1984), North (1981, 1993), Feeny (1988,1982), Ruttan (1989).
3. Institutionenwandel: Ein Nachfrage-Angebots-Ansatz
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c) Exogen induzierte Veränderungen der Nachfrage nach institutionellem Wandel
Eine exogen bedingte Veränderung der Verhältnisse, zum Beispiel die Veränderung relativer Preise auf Güter- und Faktormärkten91 , das Auftreten technisch-organisatorischer Innovationen, Veränderungen in den Aussenbeziehungen eines Landes oder das Ansteigen der Bevölkerungszahl, kann für politische Akteure wie die Regierung, Interessenorganisationen oder einzelne Individuen Anreiz sein, sich für eine Anpassung der Rechtsordnung einzusetzen und damit das bestehende Gleichgewicht zu stören. Verfügen die interessierten Akteure über genügend Ressourcen, um Einfluss auf die staatlichen Institutionen zu nehmen, werden sie diese zu ihrem Nutzen verändern. Sie werden die Kosten, die ihnen aus den Verhandlungen und der Durchsetzung der neuen Regeln erwachsen, im voraus möglichst genau abschätzen und dem erwarteten eigenen Nutzen gegenüberstellen. Dabei kann es notwendig sein, mit anderen, rivalisierenden Gruppen Koalitionen einzugehen und Kompromisse auszuhandeln. In der Regel sind die politischen Akteure bestrebt, negative Verteilungs wirkungen des gewünschten Institutionenwandels auf weniger einflussreiche Gruppen abzuwälzen. Darin sind sie eingeschränkt durch bestehende, nicht modifizierbare Institutionen wie auch durch den zu erwartenden Widerstand der anderen Parteien. Die Anpassung von Eigentumsrechten an veränderte gesamtwirtschaftliche Knappheiten, die durch Verschiebungen der Preisverhältnisse sichtbar werden, ist ein häufig anzutreffendes Erklärungsmotiv für einen beobachtbaren institutionellen Wandel. Vielfach wird dabei lediglich die Nachfrageseite des Institutionenwandels thematisiert und das darauf folgende, effektive Angebot als selbstverständlich hingenommen. Verschiebungen von Preisverhältnissen können jedoch über Jahrzehnte sehr langsam vor sich gehen. Die sich allmählich verändernde Lage braucht nicht gleichzeitig als Wandel wahrgenommen oder dahingehend interpretiert zu werden, dass eine institutionelle Anpassung angezeigt wäre. Zudem können Kräfte wirksam sein, die eine gesamtwirtschaftlich nützliche Adaption der Eigentumsrechte gänzlich verhindern bzw. den entscheidenden Akteuren zu geringe Anreize dafür bieten. 92 Deshalb passen sich formale Institutionen wie Eigentumsrechte in der Regel nicht stetig an den Wandel an, sondern werden diskontinuierlich durch einzelne politische Prozesse modifiziert - oder erweisen sich gar zu einer Veränderung
91 North (1993: 5): " ... and it [the new institutional approach] sees changes in relative prices as a major force inducing change in institutions." Daneben nennt North (1990: 84) auch "changing preferences and tastes" als mögliche und wichtige Quellen des institutionellen Wandels. Wir wissen allerdings sowohl theoretisch als auch empirisch zuwenig über diese Veränderungen, um sie als gute Erklärungen herbeiziehen zu können. 92 Wenn sich die Institutionen immer in optimaler Weise an die Bedürfnisse der Gesellschaft und Wirtschaft anpassen würden, gäbe es wohl kaum die weit verbreiteten Probleme von wirtschaftlicher Unterentwicklung, sozialer Not und ökologischen Fehlentwicklungen. Siehe North (1981, 1989, 1993), Abramovitz (1993), Landes (1990).
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I. Theoretische Vorbemerkungen
unfahig. North 93 sieht im Bevölkerungswachstum eine treibende, aber nicht notwendig erfolgreiche Kraft in der historischen Entwicklung von komplexen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen, während Hesse 94 in der Bevölkerungsdichte einen massgeblichen Bestimmungsfaktor für den Wandel von Landnutzungssystemen sieht. Bei steigender Bevölkerungsdichte würden die Ressourcen Boden und Energie zunehmend knapp, worauf sich nach Hesse durch die "innovative Anpassung" an deswegen laufend veränderte relative Preise die Eigentumsrechte am Boden wie auch die Landnutzungssysteme in den letzten 10 000 Jahren der Menschheitsgeschichte entwickelt hätten. Andere Autoren95 weisen steigenden Arbeitskosten oder dem technischen Wandel die Rolle der treibenden Kräfte im säkularen Wandel zu. Feeny96 kommt in seinen Untersuchungen über süd- und südostasiatische Länder im 19. und 20. Jh. zum Schluss, dass ein Anstieg der Landpreise typischerweise zu häufigeren Auseinandersetzungen um Eigentumsrechte an Land führte. Diese sich verschärfenden Streitigkeiten deutet er als ein Anzeichen für eine gestiegene Nachfrage nach besseren institutionellen Regelungen, welche die Eigentumsrechte an Land klar festlegen würden. Regelmässig habe dies dann auch zu Bemühungen um bessere administrative Lösungen geführt. d) Bildung von neuen Interessenorganisationen
Das institutionelle Gleichgewicht kann gründlich gestört werden, wenn neue Akteure auf dem politischen Parkett auftreten und ihren Einfluss geltend zu machen beginnen. Dies ist besonders dann zu erwarten, wenn es gelingt, latente Interessengruppen zu organisieren und auf gemeinsame politische Ziele zu verpflichten. Es können schlagkräftige politische Mitspieler entstehen, wenn die neu organisierten Gruppen imstande sind, gros se Mitgliederzahlen und Ressourcenbestände zu mobilisieren. Es ist zu betonen, dass die Bildung von Interessenorganisationen und die Delegation politischer Lobbytätigkeit an professionelle Organisationseliten selbst eine bedeutende institutionelle Innovation der Geschichte ist. Dabei stellt sich natürlich das bekannte Problem kollektiven Handeins; für die erfolgreiche Organisation von Interessen muss das Trittbrettfahrerproblem überwunden werden können. 97
North (1981). Hesse (1993). 9S Ruttan (1989). 96 Feeny (1988). 97 Olson (1965). Für eine sehr gründliche Diskussion des Mobilisierungsproblems von Interessenorganisationen siehe auch Gerlach (1994). 93
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3. Institutionenwandel: Ein Nachfrage-Angebots-Ansatz
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e) Lernprozesse in Regierungskreisen und Interessenorganisationen Selbstverständlich wird die Entwicklung der gesellschaftlichen Regeln nicht nur durch die bestehenden Institutionen und die Interessenlagen der politischen Akteure, sondern immer auch durch das Aufkommen von Innovationen geprägt. Innovation soll hier definiert werden als neues Wissen, das vor seinem Auftreten noch nicht bekannt war und deshalb auch nicht vorhergesehen werden konnte. Das Auftreten und die Anwendung neuen Wissens, besonders im Bereich der Technik, der Wissenschaft und der wirtschaftlichen Organisation, gilt als eine der zentralen treibenden Kräfte der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung. 98 Neben der Kreation neuen Wissens ist aber auch denkbar, dass altes, schon verfügbares Wissen zwar nicht neu geschaffen, aber neu interpretiert und in neue Zusammenhängen gestellt wird. Schliesslich kann altes, vergessenes Wissen auch von neuen Personen entdeckt und aufgenommen werden. Damit kann das alte Wissen in einer neuen Art und Weise handlungs wirksam werden, so als handle es sich dabei selbst um etwas neues. Auf jeden Fall handelt es sich bei einer solchen Schaffung, Entdeckung oder Neuinterpretation von Wissen um einen Lernprozess. Wenn solche Lernprozesse ablaufen, ist es denkbar, dass Akteure dadurch - ohne dass sich "wirklich" etwas verändert hätte - zu einer teilweisen subjektiven Neueinschätzung ihrer Umwelt und damit auch der eigenen Interessenlage kommen können. 99 Falls Neuinterpretationen wichtiger Zusammenhänge innerhalb der Regierung, in regierungsnahen Kreisen oder in anderen einflussreichen Interessengruppen stattfinden, kann das dazu führen, dass sich namhafte politische Akteure für institutionelle Reformen einzusetzen beginnen, da sie ihre Nachfrage nach Reformen neu definieren und gleichzeitig über die dafür nötigen Mittel verfügen. Wie kann es zu einer Neuinterpretation verfügbaren Wissens kommen? In der Ökonomie wird die Interpretation von Information durch die Akteure kaum je problematisiert. Information und Wissen werden in ökonomischen Argumentationen als Ressourcen verwendet, welche zwar preisliche Umwertungen erleiden können, nicht aber Veränderungen in ihrer Substanz selbst. An dieser Stelle soll der übliche und vermeintlich unproblematische Umgang mit Information hinterfragt werden. Information wird immer erst durch die Wahrnehmungs- und Interpretationsleistung durch Subjekte zu Information gemacht. Dieser unumgängliche, beständige subjektive Produktionsprozess von Information braucht nicht immer gleich, und schon gar nicht "richtig" abzulaufen. Eine Modifikation des subjektiven Produktionsprozesses von Information, deren sich das Individuum vielleicht gar nicht bewusst ist, kann deshalb zu einer Veränderung in der individuellen Wahrnehmung der Welt, des Marktes, der Preise und der eigenen Interessen führen. Damit kann es auch zu einer Veränderung der Erwartungsbildung, auf welche das rationale Verhalten der Individuen angewiesen ist, kommen - und folglich natürlich des rationalen Verhal98 99
Siehe Nelson (1995), Rosenberg, Birdzell (1986). North (1990: 87), Denzau, North (1994).
44
I. Theoretische Vorbemerkungen
tens selbst, obwohl sich unter Umständen "in Wirklichkeit" gar nichts verändert hat. Da eine solche Dekonstruktion der vermeintlichen Selbstverständlichkeit von Information, Wissen und letztlich natürlich von Wirklichkeit in der Ökonomie ungewöhnlich ist, in der vorliegenden theoretischen Argumentation und in den Befunden der anschliessenden historischen Studie zum Institutionenwandel aber eine grosse Bedeutung einnimmt, soll auf diesen Aspekt im folgenden Abschnitt noch etwas vertiefter eingegangen werden.
4. Die soziale Konstruktion der Interessen
Durch wirtschaftliches Handeln wird stets über Ressourcenbestände verfügt, womit deren Verfügbarkeit nicht nur in der Gegenwart, sondern immer auch in der Zukunft tangiert wird. Deshalb sind grundsätzlich alle ökonomischen Entscheidungen zukunftsorientiert. 100 Und aus diesem Grund sind nicht nur Informationen über gegenwärtige Opportunitäten und relative Preise, sondern stets auch die implizit oder explizit gebildeten subjektiven Erwartungen über deren zukünftige Entwicklung handlungsleitend. Die Ökonomie geht davon aus, dass rationale Akteure durch ihre wirtschaftlichen Entscheidungen nicht (nur) ihren gegenwärtigen, sondern auch ihren erwarteten zukünftigen Nutzen optimieren. Erwartungen teilen sich aber nicht von selbst mit, sondern müssen gebildet werden. Die Erwartungsbildung ist ein konstruktiver Akt, der je nach Art der verfügbaren Informationen, der Komplexität der Zusammenhänge und der Länge des relevanten Zeithorizonts ausserordentlich anspruchsvoll sein kann. Es ist in vielen Fällen nicht unvernünftig, zur Vereinfachung von einer adaptiven Erwartungsbildung der Wirtschaftssubjekte auszugehen: Der Händler, der Äpfel auf dem Markt heute verkauft, hat in der Regel guten Grund davon auszugehen, dass, wenn die Preise für Äpfel seit längerer Zeit stabil waren, sie auch morgen nicht weit entfernt von den heutigen liegen werden. Eine komplexere Modellierung der Preisentwicklung für Äpfel würde die damit verbundenen höheren Informationskosten für den Händler in der Regel kaum lohnen. Geht man von der anspruchsvolleren Bildung von sogenannten rationalen Erwartungen aus, werden die damit verbundene Komplexität und die Schwierigkeiten, zu rationalen Entscheidungen zu kommen, aus drei Gründen sogleich augenfällig. Erstens kosten das Sammeln von Informationen und die Bildung rationaler Erwartungen Geld und Zeit, deren Aufwand sich stets nur bis zu einem bestimmten Ausrnass 10hnt. 101 Zweitens sind die menschlichen Fähigkeiten bekanntlich sehr DietI (1993), Siegenthaler (1993: 84). Streng genommen müssten eigentlich alle denkbaren künftigen Konsequenzen einer Entscheidung erkannt und bewertet, mit Wahrscheinlichkeiten gewichtet und zum Vergleich auf einen Gegenwartswert abdiskontiert werden, damit man wirklich ihren erwarteten Nutzen einschätzen kann. Aber das genügt noch nicht, denn derselbe Aufwand müsste ebenfalls für jede Alternative geleistet werden, um die Opportunitätskosten jeder Entscheidung abschätzen 100
101
3. Institutionenwandel: Ein Nachfrage-Angebots-Ansatz
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beschränkt, "wahre" Prognosen über zukünftige komplexe wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge zu erstellen. Die Akteure sind zur Bildung rationaler Erwartungen auf Theorien und Modelle über Zusammenhänge angewiesen, welchen sie auch für die Zukunft Relevanz beimessen können. 102 Die Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse wie auch das ständig zu beobachtende Auftreten nicht vorhersagbarer Neuerungen setzen jedoch der Prognosekraft von Theorien enge Grenzen. Wirtschaftliche Entscheidungen müssen deshalb immer unter einem mehr oder weniger grossen Mass von Unsicherheit getroffen werden. I03 Zutreffende Prognosen wären aber eigentlich eine notwendige Voraussetzung, um einen rationalen Entscheid zu treffen, der sich auch im nachhinein mit Sicherheit als ,,richtig" erweisen wird. Drittens ist, wie oben bereits dargelegt wurde, überhaupt schon die menschliche Wahrnehmungsmöglichkeit von Information ein Problem. Informationen sprechen nicht für sich selbst, sondern müssen vom Wahrnehmenden ausgewählt und interpretiert - zu Information gemacht - werden. Es gibt keine Wahrnehmung ohne gleichzeitige Selektion und Interpretation des Wahrgenommenen durch das wahrnehmende Subjekt. Dieser subjektive Produktionsprozess von Information ist auf vorhandene Theorien, Modelle und Regeln angewiesen, welche eine "richtige" oder nützliche Wahrnehmung von Information keineswegs garantieren. 104 In der Ökonomie ist die Annahme akzeptiert, bei der Rationalität des menschlichen HandeIns könne es sich nur um eine beschränkte Rationalität handeln - wobei sich die Begründung in der Regel nur auf die beiden erst genannten Probleme stützt. Wie gehen die Akteure mit der offensichtlichen Beschränktheit ihrer Rationalität um? Sie tun dies gemäss dem ökonomischen Rationalitätsmodell äusserst pragmatisch. Zuerst einmal entledigen sie sich vieler möglicher Entscheidungsprobleme einfach damit, dass sie Entscheidungen gar nicht zulassen. Sie halten sich an Gewohnheiten, Routinen, Normen und andere Institutionen, ohne weiter darüber nachzudenken, einfach damit sie nicht darüber nachdenken müssen. Somit lassen sich im Alltag etliche Handlungsprobleme mit einem minimalen Aufwand an Zeit und Kosten sehr erfolgreich bewältigen (Umgang mit dem ersten Problem). Bei als bedeutender eingeschätzten Entscheidungen formen die Akteure ihre Zukunftserwartungen anhand von Theorien, Modellen und Denkroutinen 105, die ihund so die Optionen gegeneinander abwägen zu können. Natürlich würde ein solches Vorgehen - obwohl von der Logik her prinzipiell gefordert - in aller Regel die Fähigkeiten jeder Person bei weitem überschreiten und vor allem die Zeit- und Informationskosten einer Entscheidung in schwindelerregende Höhen schrauben. 102 Buchanan (1991: 52), North (1981: 45-58), Siegenthaler (1997: 98-99). 103 Denzau, North (1994: 3), Siegenthaler (1993: 91-92). 104 Siegenthaler (1993: 10,33,45), Berger, Luckmann (1969: 49-98), Luhmann (1984: 22-27), Luhmann (1997: 190-202), von GlasersfeId (1992), von Foerster (1985). lOS North verwendet in seinen früheren Schriften (1981: 49) den Begriff der Ideologie, der später präzisiert und ersetzt wird durch den Begriff der ,,mental models" (Denzau, North 1994). Siegenthaler (1993: 104) verweist auf den Begriff der "pretty nice techniques" bei John Maynard Keynes. Siehe auch Buchanan (1991).
46
I. Theoretische Vorbemerkungen
nen eben gerade zur Verfügung stehen und von denen sie glauben, dass sie unter den gegebenen Bedingungen die am besten geeigneten und kostengünstigsten Verfahren sind (Umgang mit dem zweiten Rationalitätsproblem). Was bleibt ihnen auch besseres zu tun? In diese Theorien zur Erwartungsbildung, die natürlich keine Garantie für ihre Angemessenheit bieten, gehen Informationen über die Gegenwart und die Vergangenheit ein, aus denen zusammen mit den Theorien irgend wie auf die Zukunft geschlossen wird. Diese Informationen müssen vom handelnden Individuum aus der Welt gewonnen und interpretiert werden. Auch diese subjektive Wahrnehmungsleistung ist auf Regeln lO6 angewiesen, welche über die Selektion, Klassifikation und Interpretation von Information entscheiden. Normalerweise dürfte sich das Individuum keine tiefschürfenden Gedanken machen über die Regeln, nach welchen es Informationen aus der Umwelt gewinnt und interpretiert. Solange es Vertrauen in seine Fähigkeit besitzt, Information "richtig", das heisst in einer nützlichen Art und Weise wahrzunehmen, wird es diese Information pragmatisch für seine täglichen Handlungsentscheide verwenden (Umgang mit dem dritten Rationalitätsproblem). Theorien, Modelle, Regeln des Denkens und der Wahrnehmung sind Produkte gesellschaftlicher Konstruktions- und Kommunikationsprozesse. 107 In das Denken der Individuen gehen sehr viel Wissen und Theorien ein, welche zuerst entwickelt, getestet, gelernt, eingeübt und für relevant und vertrauenswürdig befunden werden mussten. Dazu ist das Individuum auf sich allein gestellt nicht fähig. Es muss und kann, je nach der Art seiner gesellschaftlichen Integration in unterschiedlicher Weise, an den Beständen von Wissen, Erfahrung, Theorien, Regeln, Routinen - an der Kultur - des sozialen Umfelds teilhaben, zu dem es gehört. 108 Das individuelle Denken und Bewusstsein ist geprägt und beschränkt durch Theorien, Erfahrungen und Vorstellungen, die das Individuum für wichtig hält. Es ist darauf angewiesen und daran interessiert, seine eigenen Wahrnehmungen und Vorstellungen für vertrauenswürdig halten zu können. Dazu ist es darauf angewiesen, immer wieder mit anderen Menschen zu kommunizieren und durch die Interaktion die eigenen, für richtig gehaltenen Theorien und Tatbestände auf deren Verständnis und Zustimmung hin zu überprüfen. 109 Zudem muss das Individuum, um zu gewissen Kommunikationsgemeinschaften zu gehören, sich an die Regeln halten, wie in diesen 106 Siegenthaler (1993) diskutiert diese Regeln unter dem Begriff der ,,kognitiven Regeln" ausführlich. 107 Berger, Luckmann (1969: 43 -47, 124), Siegenthaler (1993). 108 Berger, Luckmann (1 %9: 65) fassen das paradoxe Verhältnis der Entwicklung von Mensch und Gesellschaft in der prägnanten Fonnel zusammen: "Gesellschaft ist ein menschliches Produkt, Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftiches Produkt". Hier spielt die Schulbildung bestimmt eine herausragende Rolle, aber auch andere Lern- und Kommunikationschancen am Arbeitsplatz, in allen Arten von gesellschaftlichen Organisationen, durch die Medien und infonnelle Gespräche im privaten Umfeld (Berger, Luckmann, 1969: 139-147). 109 Siegenthaler (1993), Luhmann (1973), Berger, Luckmann (1%9: 37), Buchanari (1991: 61).
3. Institutionenwandel: Ein Nachfrage-Angebots-Ansatz
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Zirkeln kommuniziert wird. Diese Regeln können eine starke disziplinierende Wirkung auf das Verhalten der Individuen und sozialer Kollektive ausüben. 11O Natürlich führt dies nicht zu einer totalen Konditionierung des individuellen Denkens und Verhaltens. Die kulturellen Einflüsse der Gesellschaft auf die einzelnen Personen sind komplex, vielschichtig, dynamisch und lassen einer eigenen individuellen Entwicklung viel Raum. Dennoch sollte die Individualität und Unabhängigkeit des einzelnen in der Konstruktion von Wirklichkeit und Erwartungen nicht überschätzt werden. Die notwendige kulturelle Gebundenheit des handelnden Individuums an die Gesellschaft, in der es lebt, hat Konsequenzen für die Frage des Institutionenwande1s. Wenn das Denken und die Wahrnehmung der Individuen notwendig von den gesellschaftlichen Konstruktionen mentaler Grundlagen - handlungsleitender Theorien, Deutungsmuster, Denkmodelle, kognitiver Regeln und Normen - abhängig ist, so kann die Wahrnehmung, die Erwartungsbildung und schliesslich das (wirtschaftliche) Verhalten der Individuen durch eine Modifikation dieser gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse selbst verändert werden. Die Alltagserfahrung spricht dafür, dass durchaus ein kultureller Wandel stattfindet, der verbreitete Gewissheiten und Überzeugungen über die Welt von Zeit zu Zeit obsolet werden lässt und durch neue Ansichten, Theorien und Regeln ersetzt oder sie modifiziert, welche die subjektive Wahrnehmung und Erwartungsbildung wie auch gesellschaftliche Diskurse in einer neuen Art und Weise beeinflussen können. 111 Daran schliesst natürlich die Frage an, unter welchen Bedingungen dieser Wandel stattfindet und wie er die Wahrnehmung, die Erwartungsbildung und das individuelle Verhalten genau beeinflusst. Siegenthaler ll2 bietet eine Theorie des Wandels von Regeln des Denkens und der Wahrnehmung, sogenannter kognitiver Regeln, an. Demnach kann - um die wichtigsten Gedanken sehr verkürzt wiederzugeben - das subjektive Vertrauen in diese kognitiven Regeln durch einen individuellen Zustand fundamentaler Unsicherheit dermassen stark beeinträchtigt werden, dass die Bereitschaft zur Aufgabe ehemals vertrauter und handlungsweisender Regeln gross wird. In diesem Zustand, der am wahrscheinlichsten in einer Krisensituation auftritt, können Individuen ihre Handlungsfähigkeit einbüssen, da sie sich mangels vertrauenswürdiger Interpretationsleistungen nicht mehr orientieren können in der Welt. Aus dieser misslichen Lage kommen sie nur heraus, wenn sie das Vertrauen in neue oder alte Regeln wiederherstellen können. Dazu suchen sie das intensive Gespräch mit anderen Menschen, mit denen sie die Relevanz ihrer eigenen Erfahrungen an der Zustimmung der andern testen können. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass nicht nur 110 Foucault (1970, 1977) verwendet den Begriff der Diskursregeln und zeigt in seinem Werk, wie tiefgreifend die Macht dieser Regeln in spezifischen Diskursgemeinschaften die Kommunikation und das Verhalten der Beteiligten disziplinieren kann. 111 Berger, Luckmann (1969: 49-97), Beck (1995: 11-30). 112 Siehe vor allem Siegenthaler (1993).
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I. Theoretische Vorbemerkungen
alte Regeln wiederhergesteIlt werden, sondern dass auch neue Regeln und Theorien darüber, wie die Welt interpretiert werden muss und wie sie funktioniert, angenommen werden. So kann - in kurzer Zeit - ein fundamentaler und geseIlschaftlich sehr relevanter Wandel von verbreiteten Denk- und Wahrnehmungsregeln stattfinden, sofern zahlreiche meinungsbildende Individuen zur gleichen Zeit in eine Krisensituation geraten sind, aus der sie in Kommunikationsgemeinschaften lernend wieder herausfinden. Diese vorwiegend in Krisensituationen auftretenden fundamentalen Lernprozesse von Regeln der Wahrnehmung und des Denkens können theoretisch dazu führen, dass Personen dieselben Tatbestände neu interpretieren, aus Informationen andere Schlüsse ziehen und sich letztlich anders verhalten, auch wenn sich in ihrer Umwelt nichts verändert hat. Dies kann zu diskontinuierlichen Verhaltensänderungen führen, welche nicht durch Veränderungen in der Umwelt erklärt werden können. Die Anwendung dieses theoretischen Konzeptes in empirischen Arbeiten steIlt sehr hohe Anforderungen an die verfügbaren QueIlen, mit denen Diskurse in Kommunikationsgemeinschaften sehr exakt rekonstruiert werden müssten. Es müsste gelingen, in den QueIlen eine fundamentale Verunsicherung von Individuen und die anschliessende Rekonstruktion von vertrauenswürdigen kognitiven Regeln und mentalen ModeIlen durch Kommunikationsprozesse zu zeigen. Diese Voraussetzungen werden durch die für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit gegebene QueIlenlage keineswegs erfüIlt. Es scheint deshalb wenig hilfreich und entspricht nicht dem Ziel dieser Arbeit, auf dieser hohen Abstraktionsebene weitere und vertiefte theoretische Aussagen über die Bedingungen kultureIlen Wandels machen zu woIlen, zu allgemein und unüberprüfbar würden jene ausfallen. 113 Dennoch hat dieser Ansatz seine Bedeutung für die Interpretation des beobachtbaren diskontinuierlichen Wandels im Verhalten und in den (queIlenmässig leider zu spärlich belegten) Äusserungen historischer Akteure, die für die Entwicklung der institutioneIlen Ordnung der Zürcher Agrarwirtschaft im 18. Jahrhundert wichtig waren. Deren Verhalten und Motive, soweit sie rekonstruiert werden konnten, können mit der soeben skizzierten Theorie besser verstanden werden. Zweck der bisherigen theoretischen Argumentation war es in erster Linie, nach der DarsteIlung der Grundlagen der Institutionenökonomie und einem kurzen Exkurs in die nicht weiter verfolgten evolutorischen Ansätze, das Bewusstsein des Ökonomen zu schärfen für die Abhängigkeit individueIler Interessenwahrnehmung und wirtschaftlicher Entscheidungen von mentalen und damit weitgehend kultureIl und geseIlschaftlich mitbestimmten Faktoren. Daraus folgt, dass das individueIle Entscheidungsverhalten durch Veränderungen dieser kultureIlen Grundlagen modifiziert werden kann. Eine Veränderung der Art und Weise, wie Individuen ihre Interessen wahrnehmen und Mittel und Wege erkennen, um diese zu erreichen, kann 113 North (1990: 85): "Changing relative prices are filtered through preexisting mental constructs that shape our understanding of those price changes. Clearly ideas, and the way they take hold, playa role here. The exact mix of the two - price changes and ideas - is still far from c1ear." Siehe auch Siegenthaler (1993: 32).
3. Institutionenwandel: Ein Nachfrage-Angebots-Ansatz
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sich, um wieder zum Nachfrage-Angebots-Modell des Institutionenwandels zuriickzukehren, auf eine veränderte Nachfrage politischer Akteure nach bestimmten institutionellen Arrangements auswirken. Sofern diese auch über die notwendigen Ressourcen verfügen, kann es dadurch zu einem Wandel von Institutionen kommen - angesprochen sind hier in erster Linie Eigentumsrechte. Anstelle weiterer generalisierender Reflexionen scheint es nun interessanter, die theoretische Diskussion zu verlassen und sich einer konkreten wirtschaftshistorischen Problemstellung zuzuwenden. Dabei wird - ähnlich wie im vorliegenden Kapitel - so vorgegangen, dass zunächst eine traditionelle polit- bzw. institutionenökonomische Analyse der historischen Prozesse durchgeführt wird. Es werden kollektive und individuelle Akteure identifiziert und Interessenlagen - eine ,,Nachfrage" nach verschiedenen institutionellen Lösungen - rekonstruiert (Kapitel ll. bis Y.). Diese Strategie wird so lange durchgehalten, bis ein diskontinuierlicher historischer Wandel zentraler Institutionen der Landwirtschaft - eine Störung des "institutionellen Gleichgewichts" durch ein ,,Angebot" von neu definierten Eigentumsrechten - sichtbar wird, das durch Vertreter der Zürcher Eliten und der Zürcher Regierung nach der Mitte des 18. Jahrhunderts unterstützt und teilweise bewusst herbeigeführt wurde. Dabei handelte es sich um tiefgreifende strukturelle Veränderungen, welche die Produktivität der Landwirtschaft bedeutend und nachhaltig erhöhten (Kapitel VI.). Es wird schliesslich deutlich werden, dass diese Verhaltens änderung der Zürcher Eliten und Regierungsvertreter nicht mehr durch den bis an diesen Punkt streng angewendeten ökonomischen Ansatz erklärt werden kann. Deshalb wird der Fokus der Untersuchung erweitert und das Verständnis der nachweisbaren, markanten Verschiebung der Ansichten, der Ziele und des Verhaltens dieser wichtigen Akteure in der Beriicksichtigung von Veränderungen des kulturellen, kommunikativen und sozialen Umfelds der Akteure gesucht (Kapitel Vll.). Einige Elemente der soeben skizzierten theoretischen Interpretationsmöglichkeit des beobachteten Wandels können wiederentdeckt werden. Zu einer konsistenten und im Detail belegbaren Erklärung der Zusammenhänge zwischen den Veränderungen der kulturellen und sozialen Strukturen in jener Zeit und den neuartigen Entscheidungen der Zürcher Eliten und Regierenden reichen die verfügbaren Quellen leider nicht aus. Ein neuer, von vertrauten Interpretationsmustern abweichender Blick auf den ins Auge gefassten Abschnitt der Zürcher Agrargeschichte wird damit aber dennoch möglich.
4 Räsonyi
11. Die alte Agrarordnung der Dreizeigenwirtschaft Die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Verhältnisse in Zürich im 18. Jahrhundert waren, wie überall in der Schweiz, sehr vielfältig. Es ist deshalb grundsätzlich problematisch, allgemeine Aussagen über diese Verhältnisse zu machen, da solche Generalisierungen immer an den jeweils spezifischen Verhältnissen einzelner Regionen, Gemeinden oder Gemeinschaften scheitern müssen. Dennoch ist man darauf angewiesen, gewisse typisierende Verallgemeinerungen zu treffen, um überhaupt eine vernünftige Analyse durchführen zu können. Gleichzeitig ist man gut beraten, die Darstellungen auf möglichst enge Zusammenhänge zu beziehen, damit sie wegen der notwendigen Vereinfachungen und Verallgemeinerungen nicht von vornherein unzutreffend sein müssen. 1 Dies werde ich versuchen, indem ich mich einerseits auf den noch überschaubaren geographischen und politischen Raum des ehemaligen Standes und späteren Kantons Zürich beschränke und anderseits schwergewichtig die institutionelle Entwicklung bzw. Auflösung der alten Dreizeigenwirtschaft im Kantonsgebiet verfolge. Seitenblicke auf andere Regionen und besonders auf die Probleme und Entwicklungen anderer Bewirtschaftungssysteme werden jedoch notwendig sein, und sie werden auch vorgenommen, wo dies für das Verständnis der Fragestellung sinnvoll scheint.
1. Die Dreizeigenwirtschaft Ich konzentriere meine Arbeit auf die Auflösung der Dreizeigenwirtschaft im Kanton Zürich. Der idealtypische Begriff der Dreizeigenwirtschaft bezeichnet das dominierende Bewirtschaftungssystem im Ackerbaugebiet, das seit dem Mittelalter bis ins 19. Jh. im schweizerischen Mittelland wie auch in den meisten europäischen Ländern mit vergleichbaren topographischen Bedingungen vorherrschend wa? Dieses System zeichnete sich besonders durch die grosse Bedeutung von kollektivem Besitz und kollektiven Nutzungsrechten des Bodens sowie durch verschiedene Formen kommunaler Zusammenarbeit aus. Das System der DreizeIgenwirtschaft kann, vereinfacht und idealtypisch dargestellt, durch vier Hauptmerkmale charakterisiert werden: Siehe zu dieser Problematik auch Sigg (1985: 31). Für eine ausführliche Beschreibung der DreizeIgenwirtschaft siehe Wicki (1979: 133164), Braun (1984: 94-101), TIlUt/Pfister (1986), Brühwiler (1975), Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 2 (1997). 1
2
I. Die Dreizeigenwirtschaft
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a) Die Ackerzelgen und die Zelgwegrechte
Kernpunkt der dörflichen Landwirtschaft und Hauptlieferant der täglichen Nahrung war in den Dreizeigengebieten der Ackerbau. Die gesamte Ackerfläche eines Dorfes war in drei etwa gleich grosse Bereiche, die sogenannten Zeigen, eingeteilt. Diese waren durch Zäune sichtbar gegen aussen abgegrenzt. Jeder grundbesitzende Haushalt besass neben dem privaten Garten, der besonders in kleinbäuerlichen Haushalten ebenfalls einen wichtigen Teil zur Selbstversorgung beitrug, möglicherweise private Wiesen und mehrere Äcker, die sich gleichmässig auf die drei Zeigen verteilten. Von den drei Zeigen wurde in abwechselnder Folge jeweils eine mit Sommergetreide und die zweite mit Wintergetreide bebaut, während die dritte zur Erholung des Bodens brach lag. Häufig besass ein Hof mehrere kleinere Äcker pro Zeige, so dass eine extreme Zersplitterung der Ackerfläche resultieren konnte. Ein Haushalt besass nicht selten 20 - 30 Äcker, von denen ein einzelner oft nur aus einem wenige Meter breiten Streifen bestand. 3 Um angesichts dieser Zersplitterung wertvolles Ackerland zu sparen, wurde auf die Anlage von Zufahrts- und Fusswegen zu den einzelnen Äckern gänzlich verzichtet. Daraus folgte einerseits, dass die Landleute nicht zu ihren Feldern gelangen konnten, ohne über das Land der Nachbarn zu gehen bzw. zu fahren. Anderseits mussten sie das Betreten ihrer eigenen Äcker durch einzelne Nachbarn dulden, damit jene überhaupt zu ihren Feldern gelangen konnten. Die gegenseitigen Weg- und Überfahrtsrechte wurden deshalb auf bestimmte Zeiten beschränkt, die von der dörflichen Gemeinschaft festgelegt wurden - natürlich auf Termine, an denen auf den Feldern der Nachbarn kein Schaden entstehen würde.
b) Der gemeine Weidgang
Die einzelnen Äcker wurden in der Dreizeigenwirtschaft, so wie sie hier idealtypisch präsentiert wird, nicht eingezäunt. Das Einzäunen war einerseits nicht nötig, da die Äcker durch den Zaun geschützt wurden, der die ganze Zeige umfasste, anderseits war Zaunmaterial ausserordentlich teuer. Der wichtigste Grund liegt aber darin, dass in der reinen Dreizeigenordnung ein Einzäunen einzelner Äcker innerhalb einer Zeige gar nicht erwünscht bzw. erlaubt war. Es entsprach nämlich der genossenschaftlich geprägten Rechtsordnung der Dreizeigenwirtschaft, dass alle Äcker zu bestimmten Zeiten zur gemeinsamen Weide (auch gemeiner Weidgang genannt) des gesamten nutzungsberechtigten dörflichen Viehbestands zur Verfügung gestellt werden mussten. Das war einerseits der Fall, wenn eine 3 Diese Güterzersplitterung wurde ab dem 18. Jahrhundert vermehrt als Problem wahrgenommen. Sie konnte zwar teilweise intendiert sein, um das Risiko von lokalen Schäden wie Überschwemmungen, Eindringen von Wild oder Vieh auf möglichst viele Bauern zu verteilen sowie Qualitätsunterschiede des Bodens auszugleichen. Allerdings nahm sie mit dem starken Wachstum der Bevölkerung im 18. Jahrhundert an vielen Orten infolge von Erbteilungen des Grundbesitzes unkontrollierbare Ausrnasse an.
4'
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11. Die alte Agrarordnung der Dreizeigenwirtschaft
Zeige während eines Jahres brach lag (die sogenannte Brachweide), anderseits nach der Ernte der Feldfrüchte, wenn man die Stoppeln der Getreidehalme dem Vieh überliess (die sogenannte Stoppelweide oder auch Frühlings- bzw. Herbstweide). Damit war natürlich eine alternative, private Nutzung des Landes, insbesondere der Anbau von Nutzpflanzen während der Zeit des gemeinen Weidgangs, ausgeschlossen. So war es unmöglich, ausserhalb der offiziellen Weidezeiten das eigene Vieh auf dem eigenen Feld weiden zu lassen, da dann die Nachbarn ihre Felder mit Ackerfrüchten bepflanzt hatten, welche mangels Zäunen nicht geschützt werden konnten. Umgekehrt musste man auf das Bebauen der eigenen Äcker während der Zeit des gemeinen Weidgangs verzichten, da man sich ja nicht vor dem Eindringen des weidenden Dorfviehs auf das eigene Feld schützen konnte bzw. durfte. Wegen des Verzichts auf Zäune und auf ein feines Wegnetz innerhalb der Zeigen unterlag die Bewirtschaftung der Äcker einer zwingenden Ordnung, welche die individuelle Verfugungsgewalt über den Boden erheblich beschnitt. Diese Einschränkung drückte sich juristisch dadurch aus, dass jedes Grundstück mit zahlreichen Dienstbarkeiten (es wird gleichbedeutend auch der Begriff der Servituten verwendet) belastet war.4 Einerseits waren dies die Wegdienstbarkeiten, welche als gegenseitiges MiteigentumsrechtS der einzelnen Nachbarn am Land eines Eigentümers verstanden wurden. Dieses Miteigentumsrecht drückte sich durch den Anspruch aus, (nur) zu bestimmten, festgelegten Zeiten je nachdem zu Fuss, mit dem Karren oder mit bespanntem Wagen über das Land der Nachbarn zu fahren. Anderseits betrafen diese Miteigentumsrechte den gemeinen Weidgang, also das Recht der Inhaber von "Gerechtigkeiten,,6, ihr Vieh zu bestimmten Zeiten auf dem Land eines Eigentümers weiden zu lassen. Diese teilweise kollektive Nutzungsordnung stellte hohe Anforderungen an die Regulierung, Koordination und Durchsetzung der Miteigentumsverhältnisse. Um die notwendige Koordination zu gewähren und die unvermeidlichen Grenz- und Nutzungsstreitigkeiten zu vermindern, wurden die Termine für das Pflügen, Säen und Ernten an den regelmässig durchgeführten Gemeindeversammlungen verbindlich für alle festgelegt und durch die gewählten Gemeindevorgesetzten überwacht und durchgesetzt. Dazu verfügten diese über die Kompetenz, Bussen auszusprechen und schwerwiegende oder wiederholte Verstösse an die Oberbehörden zur gerichtlichen Verfolgung zu melden. Zusätzlich wurde die dörfliche Nutzungsordnung durch die Verordnungen der Regierung und durch die höhere Landschaftsverwaltung (Landvogteien) unterstützt und kontrolliert. Die einzelnen Gemeinden waren zur Durchsetzung der überlieferten Rechtsordnung verpflichtet. Sie konnten ihre Dorfverfassung aber innerhalb eines bestimmten Rahmens und nach festgelegten Verfahrensregeln modifizieren. Nutzungsstreitigkeiten wurden, wenn sie nicht einvernehmlich beigelegt werden konn4
5 6
Zum Begriff des ländlichen Eigentums im 18. Jahrhundert siehe TI1Ut, Pfister (1986: 11). BfÜhwiler(1975: 87-91). Zum Begriff der Gerechtigkeiten siehe unten und Kap. IV.I.
I. Die Dreizeigenwirtschaft
53
ten, an die von der Regierung eingesetzte und überwachte Gerichtsbarkeit übergeben.
c) Die Allmenden
Neben dem Ackerland verfügte die Dorfgemeinschaft in der Regef über ausgedehnte Landflächen, die Allmenden, die im kollektiven Besitz der Gemeindebürger standen. Dieses Land lag meist weiter vom Dorfkern entfernt, war oft von schlechterer Qualität und weniger zum Ackerbau geeignet. Es wurde von den Akkerzelgen durch einen Zaun abgegrenzt und diente während des Sommers der Weide des dorfeigenen Viehs. In der DreizeIgenwirtschaft musste neben allfälligem Kleinvieh eine bescheidene Zahl von Zugvieh (meist Kühe und Ochsen) für das Pflügen unterhalten werden; dazu wurde in der Regel eigens ein Dorfhirte angestellt. Da die Allmend im kollektiven Besitz stand, musste sie vor einer Übernutzung geschützt werden. Dazu wurde die maximal zulässige Zahl des zu weidenden Viehs beschränkt. In den meisten Gegenden wurde dies durch die Fixierung einer bestimmten Zahl von sogenannten Gerechtigkeiten erreicht. Ursprünglich war bei der Einführung dieser Nutzungsbeschränkungen wohl jedem nutzungsberechtigten Hof eine Gerechtigkeit zugesprochen worden. Diese konnte sodann ausser durch einen Gemeindebeschluss nicht vermehrt, sondern bloss geteilt werden. Sie konnte meistens in vier, mitunter acht 8 Teile geteilt und zusammen mit dem Grundbesitz veräussert oder vererbt werden. Die Dorfgenossen mussten im Besitz von ganzen oder geteilten Gerechtigkeiten sein, um eine diesen Anrechten entsprechende Anzahl Viehs auf die Weide schicken zu dürfen. Damit wurde das Ausrnass der Weidenutzung zum Schutz der Nachhaltigkeit beschränkt, denn die Gerechtigkeiten wurden langfristig gar nicht oder nur sehr zurückhaltend vermehrt. Die Gerechtigkeiten konnten in der Regel nicht vermietet oder unabhängig vom Grundbesitz verkauft werden, so dass verarmte Kleinbauern, die zwar über eine Teilgerechtigkeit verfügten, sich aber wegen ihres zu geringen Landbesitzes kaum Vieh leisten konnten, aus ihrem Weiderecht keinen Nutzen ziehen konnten. Neuzuzüger mussten entweder eine (Teil-)Gerechtigkeit erwerben, womit der frühere Besitzer sein Nutzungs- und Mitspracherecht verlor, oder sie mussten auf die Allmendnutzung verzichten. Es gab aber auch an einigen Orten alternative Regelungen, etwa das Knüpfen der Nutzungsrechte an den Landbesitz statt an eine fixe Zahl von Hofgerechtigkeiten. Zudem konnte das Nutzungsrecht auch bloss an das persönliche Gemeindebürgerrecht gebunden sein. 9 Letzteres hatte in der Regel zur Folge, dass zum Schutz 7 Es gab namentlich im Zürcher Unterland auch Gemeinden, die ausser dem Gemeindewaid über keine Allmenden verfügten. Dort konnte das Vieh nur auf den Zeigen oder auf privaten Wiesen und Weiden geweidet werden. S Z. Bsp. in Hausen-Heisch, siehe Kunz (1948: 99). 9 Wicki (1979: 41).
11. Die alte Agrarordnung der Dreizeigenwirtschaft
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der eingesessenen Bevölkerung die Erteilung des Bürgerrechts sehr restriktiv gehandhabt wurde. 1O Diese personalrechtliche Lösung war aber vergleichsweise wenig verbreitet. Die Art und Weise, wie die Nutzungsrechte genau unter die Gemeindebürger verteilt wurden, konnte also von Region zu Region und von Dorf zu Dorf unterschiedlich geregelt sein. Deshalb wird an dieser Stelle nicht genauer darauf eingegangenen. II Die Aussonderung und private Nutzung von Teilen der Allmend durch einzelne Dorfbewohner war zwar grundsätzlich verboten, wurde aber als Ausnahmeregelung auf einem Teil des Gemeindelandes an den meisten Orten zugelassen. Diese Ausnahmen wurden meist im Rahmen der ohnehin in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinden fallenden Arrnenfürsorge und in Notzeiten gewährt, indem den Gemeindearmen kleine Stücke der Allmend zur vorübergehenden oder bleibenden privaten Bewirtschaftung (nicht aber zu privatem Eigentum) überlassen wurden. Dazu mussten diese Subsistenz-Äcker durch einen Zaun eingehegt und von der übrigen Allmend abgetrennt werden. Neben den Weiden standen auch grosse Teile des Waldes in Gemeindebesitz. Der Wald war eine notorisch knappe Ressource, musste er doch vielfältige Nutzungsansprüche befriedigen (Brennholz, Bauholz, Weide, Landreserve für Urbarmachungen, in den Bergen Schutz vor Lawinen, Bodenerosion, Erdrutschen und Überschwemmungen). Die Sicherung einer nachhaltigen Nutzung des Waldes erforderte deshalb besondere Anstrengungen der Dorfgemeinschaften und Oberbehörden. Entsprechend zahlreich sind sowohl die obrigkeitlichen Mandate zur Regulierung der Waldnutzung wie auch die dörflichen Nutzungskonflikte und richterlichen Schiedssprüche über Verstösse gegen die Rechtsordnung. Ich werde im folgenden die Waldnutzung und ihre Regulierung gerade wegen ihrer Komplexität und eigenen Bedeutsamkeit konsequent aus meinen Untersuchungen ausklammern. Die Geschichte der Waldnutzung müsste in einer eigenen Arbeit untersucht werden.
d) Die Zehnten und Grundzinsen
Zu den Einschränkungen der individuellen Verfügungsgewalt über den landwirtschaftlichen Boden durch kollektive Nutzungsrechte kam die Belastung des landwirtschaftlichen Bodenertrags durch Abgaben hinzu, die aus der Feudalordnung des Ancien Regime (Zürcher Herrschaft bis 1798) folgten. Die Äcker waren - anstelle einer Vermögens- oder Einkommensbesteuerung - mit Feudalabgaben, dem Zehnten und den Grundzinsen, belastet. Diese machten zusammen je nach Region und Zehntherr etwa 15 - 20% des Bruttoertrages 12 aus. Viele Betriebe wirtschafteSiehe das Beispiel der Gemeinde Höngg bei Kunz (1948: 115). Siehe Braun (1984: 95 - 96) für einen Überblick über verschiedene Regelungen. Je nachdem wie der Zugang zur Allmend geregelt wurde, konnten ganz unterschiedliche Koalitionen von Dorfbewohnem an der Aufrechterhaltung oder Aufteilung der Allmend interressiert sein, mehr dazu unten. 12 Meyer (1989: 32). 10 11
I. Die Dreizeigenwirtschaft
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ten hart an der Subsistenzgrenze, damit wurden diese Abgaben natürlich zu einer besonders schmerzhaften Belastung. Zudem ist zu berücksichtigen, dass in der DreizeIgenwirtschaft ständig ein Drittel der Ackerfläche brach lag und etwa ein Sechstel des Bruttoertrags für das Saatgut beiseite gestellt werden musste. 13 Grundsätzlich konnten diese Abgaben - wie jede Ertragssteuer - die Anreize zu Investitionen in eine Ertragssteigerung schmälern. Allerdings ist die Wirkung dieser negativen Anreize nicht zu überschätzen. Die Grundzinsen waren auf eine fixe, nicht ertragsabhängige Summe festgelegt, und der Zehnten wurde proportional zum Ertrag erhoben. Somit ergab sich mit dem Zehnten allein eine proportionale und zusammen mit den Grundzinsen eine degressive Belastung der Bodenerträge bzw. eine konstante Grenzbelastung von, wie der Name schon sagt, rund einem Zehntel. 14 Gerade Subsistenzbetriebe dürften also kaum wegen dieser Grenzbelastung von möglichen ertragssteigernden Massnahmen abgesehen haben, viel eher hatten sie dazu in der Regel gar nicht die Möglichkeit. 15 Nach der weit verbreiteten Regel waren die Zehnten und Grundzinsen in Naturalabgaben zu entrichten. Es versteht sich von selbst, dass die Abgabenpflichtigen daran interessiert waren, ihre Abgaben möglichst tief zu halten. Daraus ergaben sich für die Zehnteigentümer grosse Schwierigkeiten bei der richtigen Einschätzung ihrer Ansprüche, des Einzugs der Naturalabgaben auf dem Land, der Kontrolle von Qualität und Menge, sowie des Transports und der Aufbewahrung. Beim damaligen Stand der Informationsübermittlung und Logistik war es grundsätzlich eine prekäre Angelegenheit, den Einzug der Feudalabgaben durchzusetzen. Nun gehört es zu den Charakteristika des Ancien Regime, dass die Zehntherren eng mit den obrigkeitlichen Machtträgern verbunden waren - in Zürich war der Staat selbst vor der Kirche, anderen öffentlichen Organisationen sowie Privatpersonen der grösste Zehntbezüger. Somit konnten sich die Zehnteigentümer auf herrschaftlich vorgeschriebene und sanktionierte Ordnungs- und Zwangsmittel stützen, um ihre Ansprüche durchzusetzen. Dennoch blieb der Einzug der Zehnten stets problematisch, und die Zehntverordnungen der Regierung mussten immer wieder erneuert werden. 16 Die bestehende DreizeIgenordnung kam den Zehntbesitzern entgegen, Meyer (1989: 32). Pfister (1984, Bd. 2: 66). 15 Siehe unten Kapitel IV. 16 In Zürich beispielsweise wurden mit dem "Mandat wegen der Frucht-, Zins- und Zehenden Lieferung Anno 1694" die Zehntpflicht bekräftigt und die Untertanen verwarnt, nachdem die Obrigkeit vernommen hätte, dass "so wol gegen Unsern Vögten und Amtleuten, als auch Privat-Personen. in Lieferung der Zins- und Zehend-Früchten nicht redlich verfahren. sondern [ ... ] allerley Gefahr, Untreu und Betrug unverantwortlicher Weise verübt werde." Ähnlich wurde das Zehntenmandat von 1717 begründet sowie die undatierte, höchst wahrscheinlich aus den 1780er Jahren stammende "Verordnung allerley gegen die Zehnten-Mandate lauffende Missbräuche betreffend" eingeleitet: "Nachdem Meine Gnädigen Herren die Rechen-Räthe missfällig erfahren und vernehmen müssen. dass von einichen Jahren her, [ ... ] in den Zehenden vielerley schädliche Missbräuche und Unordnungen eingeschlichen. und auf die Bahn gekommen [ ... ]" (Sammlung der Bürgerlichen und Policey-Geseze und Ordnungen, lobl. Stadt und Landschaft Zürich. mehrere Bände). I3
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indem sie eine einheitliche Bewirtschaftung der ZeIgen oder einzelner Zelgbezirke mit derselben Getreideart sicherstellte. Eine alternative Nutzung einzelner Äcker war wegen der Weidgangrechte und der fehlenden Zufahrten ausgeschlossen. Damit wurde den Zehntherren einerseits die logistische Koordination ihrer Zehntbezüge erleichtert, anderseits hatten sie die Garantie, dass die Landleute nicht durch Umstellung der Saaten den Zehnten auf einer minderwertigen Frucht abliefern würden. Deshalb stand den Zehntherren zur Wahrung ihrer Interessen an den meisten Orten ein Mitsprache- bzw. Vetorecht zu, wenn es um Änderungen der DreizeIgenordnung gingP Natürlich konnte durch diese Regel der Handlungsspielraum der Landleute enorm eingeschränkt werden, so dass agrarische Innovationen im Extremfall völlig verunmöglicht wurden. Allerdings ist zu betonen, dass gerade die Haltung der Zehntherren sehr unterschiedlich ausfallen konnte, worauf wir im vierten und fünften Kapitel noch ausführlich zu sprechen kommen werden. Eine restriktive Praxis war keineswegs in allen Regionen verbreitet. Der Einzug der Zehnten gestaltete sich unterschiedlich. Der direkte Einzug der Abgaben durch die Zehntbesitzer, etwa durch den Landvogt, war möglich, bildete aber die Ausnahme, weil dazu in der Regel das Personal fehlte. 18 Meist wurde der zu erwartende Zehnten in einem Zehntbezirk vor dem Erntetermin durch vereidigte Zehntschätzer geschätzt, welche die Felder besichtigten. Deren Angaben bildeten die Grundlage für eine öffentliche Versteigerung des Zehnten an den meistbietenden, den sogenannten Besteher. Besteher konnten grundsätzlich" alle ehrliche und unverleumdete Männer seyn, und keinem unter ihnen, der vorbestandenem Zehenden, die versprochene Summa nicht abgestattet, oder unsauber und unwährschafte Frucht geliefert, und also die Schuldigkeit nicht geleistet". 19 Zusätzlich mussten sie "zween ehrliche, habhafte, und der Bürgschaft bekanntliche Männer" als solidarische Bürgen für ihre eingegangene Verpflichtung angeben können. Der Besteher, der den Zehnten eines Bezirks ersteigert hatte, verpflichtete sich, eine bestimmte Summe der Ackerfrüchte fertig gedroschen und in einwandfreier Qualität den Zehntbesitzern zu einem bestimmten Termin abzuliefern. Dafür war er ermächtigt, "die Zehende Garb, sie sey gross oder klein" von den Feldern der Zehntpflichtigen einzuziehen. Neben dem Stroh, das der Besteher nach dem Dreschen behalten durfte, bestand sein Gewinn aus einem allfälligen Überschuss des eingezogenen Zehntens über die bei der Versteigerung den Zehntempfängern versprochene Menge. 17 Auch von dieser Regel gab es viele Ausnahmen. So bestand in den zürcherischen Vogteien Fraumünsteramt, Cappelerhof und Wädenswil gemäss Pfister (1984, Bd 2: 65 - 66) eine Bindung der Zehntpflicht an bestimmte Getreidesorten offenbar nicht. Dort ist denn auch eine stetige Verschiebung der angebauten und verzehnteten Sorten zu beobachten. 18 Pfister (1984, Bd. 2: 66). 19 Alle Zitate in diesem Absatz aus: Mandat, Saz und Ordnung Unserer Gnädigen Herren Burgermeister, und Rahts der Stadt Zürich zu getreuer Aufstellung, bedächtiglicher Empfangung und gewissenhafter Lieferung des Zehendens, in Druck verfertigt Anno 1717, in: Sammlung der Bürgerlichen und Policey-Geseze und Ordnungen, 10bl. Stadt und Landschaft Zürich, Dritter Band 1757, Seite 156 f.
2. Die Verbreitung der Dreizeigenwirtschaft im Kanton Zürich
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Dieses System des Zehnteinzugs "war in jahrhundertelanger Erfahrung ausgefeilt worden ".20 Es hatte den Vorteil, dass die Zehntbesitzer sich des administrativen Aufwandes des Zehnteinzugs weitgehend entledigen konnten. Dennoch war die Disziplinierung der Zehntschätzer, der Besteher und natürlich der Zehntpflichtigen keine unproblematische Angelegenheit, der Zehnteinzug blieb stets eine potentielle Konfliktquelle. So konnte es beispielsweise geschehen, dass die Besteher "sich mit Bieten dermassen verstiegen, dass sie das Versprochene nicht liefern können", dass sie "einen Theil des besten Korns unverantwortlicher Weise zu hinterhalten gesucht, und dann vorgegeben, dass sie an dem Zehenden zu kurz kommen seyen ,,21 , oder dass man die Fruchte vor ihrer Reife oder in minderer Qualität ablieferte. Ein besonderes Problem war die administrative und rechtliche Registrierung und Überwachung des zehntpflichtigen Landes und seiner Besitzer, gegen die man seine Anspruche geltend machen wollte. Dazu wurden sogenannte Urbare angelegt, eine Art Vorläufer von Grundbuchverzeichnissen, in denen die zehntpflichtigen Äcker aufgeführt wurden. Diese Urbare mussten wegen Handänderungen des abgabenpflichtigen Landes oder sonstigen Veränderungen in der Flur von Zeit zu Zeit erneuert werden, damit sich der Zugriff der Zehnteigentümer auf ein aktuelles Beweismittel stützen und so besser durchgesetzt werden konnte.
2. Die Verbreitung der Dreizeigenwirtschaft im Kanton Zürich In bezug auf die Verbreitung der DreizeIgenwirtschaft bestanden grosse regionale Unterschiede. Die Darstellung der Landwirtschaft· des Kantons Zürich muss deshalb etwas weiter differenziert werden. Dazu sind drei Anmerkungen zu machen: Erstens wurde im 18. Jahrhundert zwar hauptsächlich, aber nirgendwo ausschliesslich Ackerbau betrieben. Zusätzlich zum Ackerbau wurde in der Regel neben einem beschränkten Gartenbau (privater Obstgarten und Gemüsegarten zum Eigenbedarf) und allenfalls einer geringen Zug- und KJeinviehhaltung ein kleiner Teil der Bodenfläche meist unter intensivem Arbeitseinsatz mit marktgängigen Produkten bewirtschaftet, welche die Versorgung der Haushalte mit Geldmitteln gewährleisteten (Cash CropS).22 An erster Stelle diente zu diesem Zweck der Weinbau, aber auch die Obstwirtschaft, der Anbau von Hanf (in den "Pünten") oder die Vieh- und Schweinernast. In der unmittelbaren Gegend um die Städte Zürich und Winterthur wurde zudem intensive, marktorientierte Garten- und Milchwirtschaft betrieben, durch welche die Städter mit Lebensmitteln versorgt wurden. 23 Pfister (1984, Bd. 2: 67). Mandat, Saz und Ordnung Unserer Gnädigen Herren Burgerrneister, und Rahts der Stadt Zürich zu getreuer Aufstellung, bedächtiglicher Empfangung und gewissenhafter Lieferung des Zehendens, in Druck verfertigt Anno 1717, in: Sammlung der Bürgerlichen und PoliceyGeseze und Ordnungen, lob!. Stadt und Landschaft Zürich, Dritter Band 1757, S. 158 -159. 22 Pfister (1992: 443 - 448). 23 Schmidt (1932:80). 20
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Zweitens beschränkten sich die Zürcher Regionen, in denen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert die Dreizeigenwirtschaft betrieben wurde, auf die tiefer gelegenen Gegenden des heutigen Kantonsgebiets. Gemäss den Berechnungen von Pfister24 erstreckte sich das traditionelle Dreizeigengebiet auf das Zürcher Unterland und Limmattal (Anteil der Ackerfläche von 68% der nutzbaren Flur, neben 6% Reben und 26% Wiesen), das Weinland (Acker 69%, Reben 13%, Wiesen 16%), das Gebiet um Winterthur (Acker 70%, Reben 8%, Wiesen 20%) sowie das Greifenseegebiet (Ackerfläche 65%, Reben 0%, Wiesen 30%). Diese Befunde Pfisters, wonach die Dreizeigenwirtschaft in den genannten Kantonsgebieten im 18. Jahrhundert (und nicht selten noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) weit verbreitet war, werden durch zahlreiche Regional- und Lokalstudien 25 bestätigt. In der hügeligen Gegend des Zürcher Oberlands (Ackerfläche 22%, Reben 0%, Wiesen 31 %, Weiden 47%) und in den höher gelegenen Gebieten des Zürich seebeckens (Horgen und Wädenswil mit Hinterland: Ackerfläche 14%, Reben 4%, Wiesen 44%, Weiden 38%) wurde - wie überhaupt im schweizerischen Voralpengebiet - gar kein Ackerbau nach dem System der Dreizeigenwirtschaft betrieben. In diesen Gebieten war die sogenannte Feldgras- oder Egartenwirtschaft verbreitet. Dieses Bewirtschaftungssystem zeichnet sich durch das Fehlen von Zeigen und festen Flurgrenzen aus. Die Flur bestand hauptsächlich aus Weideflächen, von denen jedes Jahr ein kleiner Teil umgepflügt, gedüngt und mit Ackerfrüchten bestellt wurde. Im nächsten Jahr wurde dieser Acker zur Erholung wieder in eine Weide umgewandelt, während ein neues Stück aufgebrochen wurde, so dass dasselbe Land nur alle sechs bis neun Jahre im Ackerbau bewirtschaftet wurde. Die Feldgraswirtschaft hatte sich dort hauptsächlich aus topographischen und klimatischen Gründen entwickelt und korrespondiert mit der in diesen Gebieten besonders verbreiteten Streusiedlungsform. 26 Neben der Feldgraswirtschaft nahm in diesen voralpinen Hügelgebieten die international ausgerichtete, kommerzielle Milch- und Viehwirtschaft einen zunehmenden Raum ein. Einerseits wurde aus dem Gebiet um Wädenswil seit dem 16. Jahrhundert Vieh nach Italien exportiert, anderseits verbreitete sich in jener Gegend teilweise mit fachmännischer Unterstützung aus der Innerschweiz die Sennenwirtschaft mit ihrer lukrativen Käseherstellung. 27 Als 24 Die Ausführungen zu diesem Abschnitt gründen auf den Auswertungen der Tabellen der Naturforschenden Gesellschaft aus den Jahren 1760-1780 durch Pfister (1992: 395 ff.). 25 Meyer (1989) für Schöfflisdorf; Beereuter (1994) für Stadel; Ettinger (1995: 100-106) für das Äussere Amt; Kläui, Sigg (1983: 225) für Zell; Kläui, Mietlich (1970: 293 ff.) für Wiesendangen; Ott, Kläui, Sigg (1979: 410 ff.) für Neftenbach; Sigg (1985) für Binzikon; Sigg (1988: 158 ff.) für Ossingen; Larnprecht, König (1992: 346) zu Eglisau; Graf (1974: 70) für Rafz; StAZ B IX 96: Statistische Beschreibung des Oberamtes Regensberg im Jahre 1827 für das gesamte Oberamt Regensberg sowie Hedinger (1951: 242 f.) für die Gemeinde Regensberg; Brühwiler (1975: 165 und 220 ff.) für verschiedene Gemeinden; Bronhofer (1956: 151), und Weber (1971) ebenfalls für verschiedene Gemeinden in diesen Gebieten. 26 Pfister (1992: 409-411). 27 Hauser (1956: 79 - 85), Pfister (1992: 411).
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letzte Zürcher Region wurde das Knonauer Amt (der heutige Bezirk Affoltern) noch nicht erwähnt. Pfister28 gibt die Verteilung der bewirtschafteten Landflächen Ende des 18. Jahrhunderts mit 41 % Ackerland, 1% Rebland, 39% Wiesen und 19% Weiden an. Neben der Dreizeigenwirtschaft war in dieser abgelegenen Grenzregion hinter dem Albis auch die Feldgraswirtschaft anzutreffen, während vergleichsweise viel Aufmerksamkeit dem Obstbau und der Viehzucht gewidmet wurde. Bleibt drittens die Protoindustrialisierung zu erwähnen, welche im 18. Jahrhundert in einigen Gegenden der Zürcher Landschaft besonders stark verbreitet war. Neben dem Zürcher Oberland hatte sich die Heimindustrie hauptsächlich und schon seit dem 17. Jahrhundert in den verkehrsgünstig gelegenen Gemeinden des Zürichseebeckens festgesetzt und war zu einer wichtigen Erwerbsquelle vieler Arbeitskräfte geworden. Daneben verbreitete sie sich zunehmend in der Gegend um den Greifensee und im Knonauer Amt. Allerdings bedeutete dies nicht notwendig, dass die Landwirtschaft wegen der Konkurrenzierung auf dem Arbeitsmarkt durch die Heimindustrie aufgegeben oder vernachlässigt wurde. Der gegenseitige Einfluss von Protoindustrialisierung und Landwirtschaft ist komplex und vielschichtig. 29 Wahrend stellenweise im Greifenseegebiet und im Knonauer Amt eine Extensivierung der Landwirtschaft vorkam, wurde sie ganz im Gegenteil in einigen Gegenden des Oberlands (Feldgraswirtschaft ohne Flurzwang) und im Zürichseegebiet noch intensiviert. 3o Dies war nur wegen dem in diesen Gebieten ausgeprägten Bevölkerungswachstum und dem damit steigenden Arbeitskräfteangebot möglich. Viele Heimarbeiter-Haushalte bebauten neben der Beschäftigung in der Heimindustrie kleinere Landstücke, um ihr Einkommen zu verbessern und die Selbstversorgung zu gewährleisten. 3l Zudem boten besonders in den Gemeinden am unteren Seebecken die nahen Zürcher Verbrauchermärkte für Gemüse, Obst und Milchprodukte sowie die vergleichsweise tiefen .Transportkosten auf dem Wasserweg ausreichende Anreize, eine intensivierte, marktorientierte Landwirtschaft aufrecht zu erhalten. Dort wurde die alte Dreizeigenordnung häufig schon vergleichsweise früh aufgegeben bzw. eingeschränkt; an manchen Orten hatte sie gar nicht bestanden. Man ging vermehrt dazu über, kleinere Parzellen intensiv mit der Hacke statt mit dem Pflug zu bearbeiten (..Hackfruchtbau"), um Gemüse oder Kartoffeln für die Eigenversorgung oder den städtischen Markt anzupflanzen. Voraussetzung für diese flexible Reaktion der Landwirtschaft auf die wachsende Nachfrage auf den Arbeits- und Gütermärkten war aber eine entsprechende Anpassung der Agrarordnung in jenen Gebieten, auf die wir unten noch genauer zu sprechen kommen werden. Pfister (1992:395). Siehe die kurze Diskussion im dritten Kapitel. 30 Pfister (1992: 442-454), Braun (1984: 104), Braun (1979: 155-180). 31 Siehe Hess (1938: II ff., 44, 55 ff.) über die Seegemeinde Thalwil, Hauser (1956: 65 ff., 77 ff.) über Wädenswil. 28
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III. Die Naturforschende Gesellschaft, die "Ökonomen" und die Reform der Dreizeigenwirtschaft ,Jn diesen Fällen [der Dreizeigenwirtschaft ... ] seye denn, dass man zuerst auch alle Ursachen abgeschaft, die den Gütern Schaden zufügen [ ... ]. Dieses könnte nun auf zwey Arten geschehen. Einmal wenn man alle die Weidrechte auf Alimenten, Wiesen, Riedteren und besonder auch die Stoppel-Weid aufheben und abkennen würde [ ... ] [ ... ] so hat es auch sonst seine Richtigkeit, dass der Landbau dadurch ungemein viel leidet, wenn ganze Stücke Lands immer nur für Weidgänge Iiegn bleiben, wenn gute Felder, die durch eine fleissige Arbeit alle Jahre müssen brach liegen, und kein Landmann nicht einmal auf seinem Acker in einer Zeige etwas anbauen darf, weil es ihm die andern mit ihrem zu Weide gehenden Vieh verderbten. Es ist ebenso gewiss, dass es den Wiesen ein grosser Schaden ist, wenn das Vieh darauf zu Weide gehet, weil es seine Klauen in den Boden eindrückt, und die Wurzeln des Grases verderbe!. Da hingegen, wenn das Vieh in Ställen gehalten wird, man viel mehr Dünger von demselben bekommt, und also in den Stand gesetzt wird, die Felder und Wiesen besser anzubauen und fruchtbarer zu machen. [ ... ] Dieses sind Vorschläge, die von einer ganzen Gemeind oder von einem Dorf sollten verabredet und gutgeheissen werden; eine ganze Gemeind könnte es für einige Jahre versuchen, und sehen ob sie sich nicht besser dabey befände."
In diesem Text aus den frühen 1760er Jahren 1 wird die im 2. Kapitel geschilderte traditionelle Dreizeigenordnung massiv kritisiert. Der allgemeine Weidgang auf Allmenden und Stoppelfeldern wird als schädlich, die Brachzeige als nutzlos bezeichnet; zu der kollektiven Abschaffung dieser Institutionen wird explizit aufgerufen. Der Text stammt nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, aus der Feder eines radikalen Kritikers der damaligen Herrschaft, und auch nicht von einem aussenstehenden, geschützten Beobachter der Zürcher Verhältnisse. Geschrieben wurde er vielmehr von Leonhard Usteri (1741-1789), angesehener Professor der hebräischen Sprache und Canonicus am Zürcher unteren Collegium, Gründer der Zürcher Töchterschule im Jahre 1774 und Vater von Paul Usteri, des späteren liberalen Zürcher Bürgermeisters. 2 Dabei handelt es sich auch nicht um einen einmaligen Ausrutscher eines etwas unsoliden Autors. Im Gegenteil, das Zitat könnte problemlos durch eine ganze Reihe ähnlicher TextsteIlen aus der Hand wichtiger Zürcher Amtsträger jener Zeit ergänzt werden. Usteri war Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 3, die 1746 gegründet worden war und zu ihren I Anleitung für die Landleute in Absicht auf die Zäune, zusammengetragen von Leonhard Usteri, V.D.M., in: Abhandlungen der naturforschenden Gesellschaft in Zürich, Zweyter Band, Zürich 1764, Seite 367 - 371. Leider ist diese Anleitung nicht datiert, sie dürfte aber . aus den Jahren 1761 - 1764 stammen. 2 Im Hof, de Capitani (1983, Bd. 2: 140) und Rudio (1896: 220 - 222).
1. Die Naturforschende Gesellschaft und die "Ökonomen"
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zahlreichen Mitgliedern fast ausschliesslich Vertreter der sowohl politisch wie auch wirtschaftlich führenden Geschlechter Zürichs zählte. Später soll noch viel von dieser Gesellschaft die Rede sein, soviel sei an dieser Stelle aber erst einmal festgehalten: Die jahrhundertealte, bisher hoheitlich geschützte Dreizeigenordnung des Zürcher Korngebiets wurde zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts innert kürzester Zeit von jener Gesellschaft massiver Kritik ausgesetzt und als dringend refonnbedürftig bezeichnet; ja es wurde sogar deren weitgehende Abschaffung propagiert. Was war geschehen? Ziel dieser Arbeit ist es, den wirtschaftlichen sowie den politischen und kulturellen Hintergründen nachzugehen, welche zu diesem Wechsel in der offiziellen Beurteilung des hergebrachten ländlichen Bewirtschaftungssystems und letztlich zu dessen von der Regierung unterstützen Abschaffung geführt hatten. Zuvor muss aber zum besseren Verständnis der Zusammenhänge eine kurze Einführung in die Geschichte der Naturforschenden Gesellschaft gegeben werden (Kapitel III.I). Sodann ist es notwendig, die von den Mitgliedern der Naturforschenden Gesellschaft, welche häufig ..Patriotische Ökonomen" oder ..Ökonomische Patrioten" genannt wurden (ich werde im folgenden stets die kürzere Bezeichnung ..Ökonomen" verwenden), fonnulierte Kritik und das von ihnen geforderte Refonnprogramm in einer Übersicht von fünf Refonnmassnahmen genauer darzustellen (Kap. llI.2). Schliesslich werden die Refonnmassnahmen auf die daraus folgenden Produktivitätsfortschritte hin überprüft, damit eine Vergleich ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit mit dem früheren System möglich wird (III.3).
1. Die Naturforschende Gesellschaft, die Ökonomische Kommission und die "Ökonomen" Die Gründungsgeschichte der Naturforschenden Gesellschaft und der Ökonomischen Kommission ist in verschiedenen Darstellungen 4 ausführlich geschildert worden. Ich werde mich deshalb an dieser Stelle auf die wichtigsten Fakten der Gründung und Organisation der ersten Jahre der Gesellschaft beschränken. Dabei stütze ich mich hauptsächlich auf die infonnative Festschrift Rudios 5 zum ISO-jährigen Bestehen der Gesellschaft sowie auf die sehr aufschlussreichen neuesten Arbeiten über die Naturforschende Gesellschaft von Graber6 . Die Hintergründe und Motive, die zur agrarrefonnerischen Tätigkeit dieser Organisation führten, werden in Kapitel Vll. untersucht werden. Zum Verständnis der Gründung der Naturfor3 Ich werde im folgenden stets diese Bezeichnung der Gesellschaft verwenden, obwohl sie sich in der ersten Zeit nach ihrer Gründung "Physikalische Gesellschaft" nannte. 4 Siehe vor allem Rudio (1896), aber auch Schmidt (1932), Stiefel (1944), Rübel (1946), Walter (1951 und 1958), Erne (1988), Graber (1991 und 1993). s Rudio (1896). 6 Graber (1993) und Graber (1991).
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111. Die Naturforschende Gesellschaft, die ..Ökonomen"
schenden Gesellschaft ist es zunächst notwendig, einen Blick auf das Zürcher Bildungs wesen zur Mitte des 18. Jahrhunderts zu werfen. Bis zur grossen Schulreform von 1765 - 1773 bestand das höhere Schulwesen in Zürich fast ausschliesslich aus einem Lehrangebot in Philologie, Philosophie und Theologie. Nach dem Besuch von sechs Klassen in der Lateinschule stiegen die Zürcher Studenten in die siebente Klasse am Collegium Humanitatis (unteres Collegium) auf, um damit für den Besuch der höchsten Stufe qualifiziert zu sein. Diese bestand aus dem über drei Klassen laufenden, altehrwürdigen Collegium Carolinum (oberes Collegium), an dem schwergewichtig Theologie und Philologie gelehrt wurde - eine Universität besitzt Zürich erst seit 1833. An dem hauptsächlich auf die Ausbildung von angehenden Pfarrern zugeschnittenen Collegium Carolinum bestand seit 1558 auch eine Professur für Physik, Philosophie und Mathematik, weIche jeweils mit einem ausgebildeten Arzt besetzt wurde. Dieser Dozent sollte den Studenten Grundkenntnisse der Naturwissenschaften vermitteln sowie die angehenden Mediziner auf ihr Fachstudium an einer ausländischen Universität vorbereiten.? Seit 1733 hatte der damals sehr junge Dr. Johannes Gessner (1709 - 1790) diesen Lehrstuhl zur Hälfte, seit 1738 ganz inne, womit er zum Chorherrn und Verantwortlichen für die naturwissenschaftliche Ausbildung der Zürcher Jugend berufen worden war. Angesichts des steigenden Stellenwerts, den im Zeitalter der Aufklärung die Naturwissenschaften in den gebildeten Kreisen Europas genossen, scheint mit dem einzigen Lehrstuhl Gessners das diesbezügliche Aus- und Weiterbildungsangebot in der Stadt Zürich recht bescheiden. Offensichtlich wurde dieser Zustand von einigen jüngeren Stadtbürgern tatsächlich als Mangel empfunden, denn 1745 traten zwei von ihnen an Johannes Gessner mit dem Anliegen heran, zur Gründung einer naturwissenschaftlichen Sozietät Hand zu bieten. Nachdem Gessner sein Einverständnis gegeben und zur Vorbereitung in seinem Haus eine zweimal wöchentlich stattfindende Vorlesung in Experimental-Physik und Naturgeschichte für einen Kreis von 18 interessierten Herren abgehalten hatte, wurden der sich anbahnenden Gesellschaft im Sommer 1746 Formen verliehen. 8 Die Statuten der Naturforschenden Gesellschaft wurden vom damaligen Landschreiber und späteren Bürgermeister Hans Konrad Heidegger (1710 -1778) ausgearbeitet, nachdem jener sich mit Chorherr Johannes Gessner sowie mit einem der beiden Initianten der Gesellschaft von 1745, Dr. Johann Heinrich Rahn (1709-1786), und dem späteren Präsidenten der Ökonomischen Kommission, Jakob Ott (1715-1769), beraten hatte. Im Herbst konnten sich die Teilnehmer der physikalischen Vorlesung sowie weitere Interessenten als Mitglieder der Gesellschaft einschreiben; im Januar 1747 wurde unter dem Präsidium Gessners die erste ordentliche Sitzung abgehalten, worauf man sich nun bis 1753 alle vierzehn Tage9 traf. .. Die Absicht Rudio (1896: 9-10), Nabholz (1933: 55-57). Siehe StAZ B IX 207 (Erster Ursprung der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, [vermutlich aus dem Jahr 1776]) und Rudio (1896: 11 - 17). 9 Der Rhythmus der Treffen wurde in den folgenden Jahren mehrmals geändert (siehe Kapitel VII.). 7
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l. Die Naturforschende Gesellschaft und die "Ökonomen"
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der Societet ist die erkenntniss der Natur, insoweit dieselbe zur bequemlichkeit, nutzen und nothwendigkeit der menschlichen gesellschaft überhaupt, besonders aber unserers werthen Vaterlandes dienet", so wurde der Gesellschaftszweck in den Statuten verankert. 10 Die "Erkenntnis der Natur" sollte in erster Linie durch das Sammeln, Vortragen und Diskutieren der laufenden internationalen Publikationen aus den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen erlangt werden. Dass eigenständige, wissenschaftliche Forschungsarbeiten durch die Mitglieder - die fast ohne Ausnahme ganz andere berufliche Interessen verfolgten - kaum möglich waren, stand von Anfang an fest. Aus diesem Grund wurde die Mitgliedschaft in zwei Klassen aufgeteilt. Die Aktivmitglieder (membra ordinaria) leisteten einen hohen Arbeitseinsatz, indem sie sich verpflichteten, an den Sitzungen jeweils zu erscheinen, in regelmässigen Abständen wissenschaftliche Vorträge über ein Fachgebiet zu halten, internationale wissenschaftliche Zeitschriften zu lesen und zu rezensieren sowie Kontakte mit anderen wissenschaftlichen Gesellschaften in der Schweiz und im Ausland herzustellen. Sie bildeten den engeren Kreis der Naturforschenden Gesellschaft, wählten aus ihren Reihen den Vorstand und bestimmten die Geschicke der Gesellschaft massgeblich mit. Neben Gessner (Präsident 1746 - 1790) müssen zu den von Anfang an einflussreichsten Aktivmitgliedern sicherlich die bereits genannten Hans Konrad Heidegger (Sekretär 1746-1752) und Jakob Ott (Präsident der Ökonomischen Kommission 1759 - 1769) gerechnet werden sowie der Stadtarzt Hans Kaspar Hirzel (1725-1803; Eintritt 1747, 1752-1759 Sekretär, 1759-1790 Quästor und 1790-1803 Präsident der Naturforschenden Gesellschaft).l1 Die zahlreicheren Passivmitglieder (membra honoraria) waren eingeladen, aber nicht verpflichtet, an den Versammlungen und Diskussionen rege teilzunehmen. Mit der Realisierung des Gesellschaftszwecks wurde 1747 sogleich mit grossem Elan begonnen. Eines der wichtigsten Ziele der Gesellschaft war der Aufbau einer wissenschaftlichen Bibliothek, die allen Mitgliedern zugänglich war; daneben wurde eine naturhistorische Sammlung aufgebaut. Besonders in den ersten Jahren schaffte die Gesellschaft zahlreiche mathematische, physikalische und astronomische Instrumente an, die in erster Linie Demonstrationszwecken und Vorführungen der neuesten Experimente dienten; 1759 konnte ein Observatorium auf dem Dach des Zunfthauses zur Meise eingerichtet werden. Ein gesellschaftseigener botanischer Garten - das Lieblingsprojekt des passionierten Botanikers Gessner 12 - wurde unter der Leitung einer eigens ernannten ,,Botanischen Kommission" bereits 1748 auf einem gepachteten Grundstück in der Stadt angelegt. Die Vortragstätigkeit der ersten Jahre konzentrierte sich gemäss dem Gesellschaftszweck auf die beschreibenden Naturwissenschaften wie Botanik, Zoologie, Anatomie, Geologie 10
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Zit. in Rudio (1896: 18). Kurzbiographien der Gründungs- und Vorstandsmitglieder sind in Rudio (1896) enthal-
ten. 12
Boschung (1996).
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III. Die Naturforschende Gesellschaft, die "Ökonomen"
u. a., auf die beispielsweise im Jahre 1750 insgesamt 20 von 28 gehaltenen Vorträgen fielen. 13 Die Bildung einer privaten Gelehrtengesellschaft war in jener Zeit in Europa nichts Aussergewöhnliches; die Naturforschende Gesellschaft blickt auf eine grosse europäische Tradition von Gelehrtenzirkeln und wissenschaftlichen Akademien zurück. 14 Häufig hatten sich bei solchen Gründungen Studenten und ehemalige Schüler um ihre akademischen Lehrer gruppiert, um sich zum regelmässigen Austausch zu treffen. 15 Auch im Fall der Naturforschenden Gesellschaft hatte ein grosser Teil der jüngeren Gründungsmitglieder ihre naturwissenschaftlichen Studien bei Johannes Gessner absolviert. 16 Eine Besonderheit der Naturforschenden Gesellschaft war jedoch, dass sie von Anfang an aus dem engen Kreis einer privaten Gelehrtensozietät heraustrat und eine sehr breite Mitgliederbasis aus der Zürcher Oberschicht während mehrerer Jahrzehnte zu mobilisieren vermochte. Damit bildete die Gesellschaft, nicht ohne ausländische Vorbilder, ein erstes, wegweisendes Beispiel für eine neue Organisationsform in der Schweiz. Es hatten sich bis zur ersten Sitzung im Januar 1747 allein 79 Gründungsmitglieder (21 membra ordinaria und 58 honoraria) eingetragen; bis 1780 waren der Gesellschaft insgesamt 231 Mitglieder beigetreten. Der Mitgliederbestand lag während der ersten 30 Jahre jeweils zwischen 71 und 130 PersonenY Die Mitglieder rekrutierten sich vorwiegend aus den angesehensten und politisch einflussreichsten Zürcher Gelehrtenund Kaufmannsfamilien. 1770 waren der Grosse Rat zu 30% und der Kleine Rat gar zu 42% durch Mitglieder der Gesellschaft besetzt. 18 Den Stolz der Gesellschaft repräsentierte Hans Konrad Heidegger, welcher 1759 zum Säckelmeister und 1768 gar zum Bürgermeister, dem höchsten Zürcher Regierungsamt, gewählt wurde. Seine Nachfolge trat 1778 Hans Heinrich v. OreIIi (1715 - 1785) an, ebenfalls Gesellschaftsmitglied der ersten Stunde, allerdings bloss membrum honorarium. 19 Es ist somit klar, dass die Naturforschende Gesellschaft allein schon durch ihre prominenten Mitglieder engstens mit der Zürcher Regierung verknüpft war. Walter (1951: 82). Siehe unten Kapitel VII. 15 Erwähnt seien in Zürich die folgenden früheren Gründungen, die aber meist nur für kurze Zeit bestanden (nach Eme, 1988: 65 - 157): Das Collegium anatonicum um Johannes von Muralt (1645 -1733) im Jahre 1685 (Medizin), das Collegium insulanum um Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) im Jahr 1679 (Geisteswissenschaften und Medizin), die nur kurzlebige "Gesellschaft der Maler" 1720 (Literatur), die (erste) "Helvetische Gesellschaft" 1727 (Geschichte) sowie die "Wachsende Gesellschaft" 1740 (Literatur, Rhetorik, Politik), alle drei um Johann Jakob Bodmer (1698 - 1783), ebenfalls Professor am Collegium Carolinum. 16 Rudio (1896: 11-14). 17 Graber (1993: 30). 18 Graber (1993: 29-43); der Grosse und der Kleine Rat bestimmten die Amtsgeschäfte (Gesetzgebung, Steuerhoheit, Leitung der Verwaltung, Ämterbesetzung, Oberste Gerichtsbarkeit, Aussenbeziehungen) und wählten mit dem "Geheimen Rat" die Regierung (Wysling, 1983: 11). 19 Rudio (1896: 27). 13
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I. Die Naturforschende Gesellschaft und die "Ökonomen"
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Die Geschichte der Naturforschenden Gesellschaft der ersten Jahre macht den Eindruck einer sehr intensiven, begeisterten Tätigkeit. Viele Projekte wurden angepackt und durchgeführt. Die nachhaltige Finanzierung der Gesellschaft konnte durch eine sehr erfolgreiche Lotterie gesichert werden, die unter der Führung Hans Konrad Heideggers 1747 durchgeführt wurde. In der zweiten Hälfte der 1750er Jahre ist eine Neuorientierung in der sachlichen Ausrichtung der Tätigkeiten zu beobachten, mit weIchen sich die Gesellschaft künftig beschäftigte. Die Diskussionen und Vorträge zu landwirtschaftlichen Problemen nahmen gegenüber den ersten Jahren deutlich zu. 20 Ab 1757 artikulierte sich eine Gruppe von "Herren Liebhaber von Agricultur,,21 innerhalb der Gesellschaft, weIche ein starkes Interesse und praktisches Engagement für die Probleme der Landwirtschaft erkennen liessen. Diese Herren schlossen sich schliesslich auf den Beginn des Jahres 1759 in der sogenannten Ökonomischen Kommission zusammen, einer Sektion der Naturforschenden Gesellschaft, weIche sich regelmässig traf, ein eigenes Tagebuch führte und monatlich der Gesellschaft über ihre Aktivitäten Bericht erstattete. Diese Kommission "berahtschlaget, wie die Naturlehre zu practischem Nutzen des Landmanns angewendet werden könne, und macht Anstalten, dass das gut gefundene dem Landmann bekannt und von diesem ausgeübet werde ".22 Die Initiatoren dieser ökonomischen Wende innerhalb der Naturforschenden Gesellschaft waren der bereits mehrmals erwähnte Jakob Ott (1715- 1769, Präsident der Kommission bis 1769), Freyhauptmann Johannes Beyel (1706 - 1798), Quartierhauptmann Heinrich Schulthess (1707 - 1782), Dr. Jakob Gessner (1711 - 1787), Hans Heinrich Schinz (1727 - 1792, Sekretär der Kommission ab 1759) und Hans Kaspar Schinz (1697 -1766). Hinzu kommen natürlich die beiden prominentesten Protagonisten, die bereits erwähnten Hans Konrad Heidegger und Dr. Hans Kaspar Hirzel (Präsident ab 1769), weIche aber Anfang 1759 noch nicht als Mitglieder im Protokoll der Kommission aufgeführt wurden. 23 Diese Gruppe von Männem entfaltete besonders seit Beginn der 1760er Jahre eine ausserordentlich wirksame Tätigkeit im Zeichen einer Modemisierung der Landwirtschaft, weIche fortan das Bild der Naturforschenden Gesellschaft für aussenstehende Beobachter prägte und über die Landesgrenzen hinaus bekannt machte. 24 Am Schluss werden diese "Ökonomen" noch einmal ausführlicher präsentiert, und es wird versucht, den Beweggründen für ihr Engagement auf die Spur zu kommen?5 Doch nun zurück zur Landwirtschaft. Damit die Tätigkeit der Ökonomen besser verstanden werden kann, müssen Siehe Kap. VII. Tagebuch der physikalischen Gesellschaft, Band 2 (1758 -1759): 17. April 1758, S. 23 (StAZ B IX 180). 22 Gesetzessammlung von 1776, zit. in Rudio (1896: 129). 23 Diarium Commissionis Physico-Oeconomicae, erster Eintrag 1759 (undatiert; StAZ B IX 58). 24 Siehe Kapitel VI. 25 Siehe Kapitel VII. 20 2\
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III. Die Naturforschende Gesellschaft, die ..Ökonomen"
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die Inhalte und Bedingungen ihres reformerischen Tuns besser geklärt und dargestellt werden.
2. Das Reformprogramm der Zürcher Ökonomen im 18. Jahrhundert Das Reformprogramm, das die Zürcher Ökonomen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts formulierten, kann mit folgenden Punkten umschrieben werden: a) Die gemeine Viehweide auf den Ackerzeigen (Brach-, Frühlings- und Herbstweide ) muss abgeschafft werden. Statt der Weide soll das Vieh auch im Sommer in den Ställen gehalten und dort gefüttert werden (.. Sommerstallfütterung"). Mit der Durchführung dieser Forderung in einer Gemeinde wird ein Teil des Flurzwanges aufgehoben. Kulturen in den Zeigen können nicht mehr durch weidendes Vieh zerstört werden, was die Handlungsfreiheit der Landleute erhöht und den Anbau alternativer Feldfrüchte erleichtert. Der gemeinschaftliche Koordinationsbedarf wird aber nur begrenzt abgebaut, solange die Landleute mangels offener Wege nicht jederzeit auf ihre Äcker gelangen können. Der Zwang zur koordinierten Bewirtschaftung der Sommer- und Winterzeige, bleibt erhalten (abgesehen unter Umständen von den Randparzellen, sofern sie eingehegt werden). Die Sommerstallfütterung hat den grossen Vorteil, dass der wertvolle Mist effektiver gesammelt werden kann; Hugge1 26 rechnet aufgrund von zeitgenössischen Angaben 27 mit einer Verdoppelung der gewonnenen Mistmenge durch diese Massnahme. b) Die kollektive Viehweide auf den Allmenden kommt einer Verschwendung des Bodens gleich. Die Allmenden sollen aufgelöst und an die Gemeindebürger verteilt werden. Das dadurch gewonnene Privatland soll durch die Landleute nach deren freien Ermessen verwendet werden können, womit der Anbau von Getreide, Kartoffeln, Gemüse oder Kunstwiesen ermöglicht wird. Diese Forderung kommt in vielen Gemeinden einem markanten Wechsel in der bisherigen Herrschaftspraxis und einem massiven Eingriff in die überlieferte Rechtsordnung und realen Verhältnisse gleich. Neben den intendierten wirtschaftlichen Konsequenzen kann die Aufhebung der Allmenden wegen der damit einhergehenden Umverteilung von Ressourcen bedeutende Auswirkungen auf die sozialen und politischen Verhältnisse in den Gemeinden haben.
Huggel (1979: 154). Die Angaben stammen aus einer Abhandlung des Basler Pfarrers Faesch aus dem Jahr 1796. 26
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2. Das Reformprogramm der Zürcher Ökonomen im 18. Jahrhundert
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c) Die Braehzelge soll nicht mehr brach liegen, sondern mit Sommerfriichten (Bohnen, Erbsen, Kartoffeln u. a.) oder Futterpflanzen (verschiedene Kleearten, Lucerne, Esparsette) angebaut werden. Man war zur Überzeugung gelangt, dass dank den damals schon bekannten, die Fruchtbarkeit fördernden Wirkungen 28 des Klees und anderer Leguminosen (z. Bsp. Ackerbohnen) sowie durch eine intensivere Düngung die Produktivität des Bodens auch ohne Ruhezeit aufrechterhalten bzw. erhöht werden könne. Durch das Wegfallen der Brache konnte die Ausnützung der verfügbaren Bodenfläche bedeutend erhöht werden. Abgesehen von der Aufhebung der Brache blieb aber der Flurzwang erhalten, das heisst die zwei anderen ZeIgen wurden weiterhin jeweils eine mit Winter- und die andere mit Sommergetreide angebaut. Deshalb bot die ehemalige Brache - abgesehen von den privaten Gärten und allenfalls aufgeteilten Allmenden - an vielen Orten die einzige Möglichkeit, neue Nutzpflanzen wie die in jener Zeit aufkommenden Kartoffeln anzupflanzen. d) Die Viehbestände sind zu erhöhen, damit mehr Mist für den Getreidebau anfällt. Zur Fütterung des zusätzlichen Viehs ist eine Erhöhung der Wiesenfläehen notwendig. Deshalb sind Allmenden und Brachflächen in ertragreichere Kunstwiesen (Klee, Lucerne usw.) umzuwandeln. Die Getreideanbaufläche soll aber keineswegs durch Wiesen verkleinert werden. Kunstwiesen sind ertrag- und nährstoffreicher als Weiden. Zudem können mit der Fütterung im Stall die Nährstoffverluste, die durch die Fortbewegung des Viehs auf der Weide und auf den häufig langen Wegen zu den Allmenden anfallen, reduziert werden. Damit kann die Mi1chleistung pro Kuh erhöht und mit derselben Futtermenge eine grössere Anzahl Vieh ernährt werden. e) Die Düngung der Felder muss intensiviert werden. Dazu ist einerseits der in den Sommerställen anfallende Mist einzusammeln. Anderseits müssen neue Methoden der Düngergewinnung erforscht und angewendet werden. Den eigentlichen Engpass der traditionellen DreizeIgenwirtschaft stellte seit jeher der Düngermangel dar. Dies war den Zeitgenossen wohl bewusst. Neu aber war, dass man nun "den Miststock zum Statussymbol der neuen Landwirtschaft erhob,,29 und intensive Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen zur Düngergewinnung betrieb. 30
28 Kleearten gehören zu den Leguminosen und können als solche Stickstoff aus der Luft gewinnen und im Boden anreichern. Diese fruchtbarkeitsfördernde Wirkung war nach Pfister (1984, Bd. 2: 109) im 18. Jh. durch Beobachtungen bekannt, konnte aber bis Ende des 19. Jahrhunderts nicht erklärt werden. 29 Pfister (1984, Bd. 2: IIl). 30 Siehe den entsprechenden Abschnitt in Kapitel VI.
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III. Die Naturforschende Gesellschaft, die "Ökonomen"
3. Produktivitätsgewinne der Reformmassnahmen im 18. Jahrhundert Die einzelnen Punkte des Refonnprogramms der Ökonomen sind nicht als isolierte Massnahmen zu betrachten. Sie bedingten sich wegen ihrer engen institutionellen und agrartechnischen Verknüpfungen teilweise gegenseitig und bildeten in ihrer Gesamtheit neue Bewirtschaftungssysteme, die in zwei Ausprägungen unterschieden werden können: entweder als die sogenannte verbesserte DreizeIgenwirtschaft oder als die Fruchtwechselwirtschaft. 31 Bei ersterer blieben die ZeIgeneinteilung und der koordinierte Anbau von Getreide in der Sommer- und Winterzeige erhalten. Lediglich der Anbau der Brache, die Einschränkung bzw. vollständige Aufhebung des allgemeinen Weidgangs sowie die Aufhebung der Allmend (Übergang zur Sommerstallfütterung) unterscheiden sie von der herkömmlichen Dreizeigenwirtschaft. Die Fruchtwechselwirtschaft setzte dieselben Refonnen voraus, ging aber weiter. Sie ennöglichte den Bauern ein Abweichen vom koordinierten Getreideanbau, indem jene nach eigenem Ennessen abwechslungsweise Gras- oder Getreidebau auf ein- und demselben Acker betreiben konnten - das Zelgrecht wurde damit weitgehend aufgehoben. Die Fruchtwechselwirtschaft wurde vor allem bei Einhegungen in den Zeigen praktiziert, stiess aber wegen des Wegeproblems ebenfalls an Grenzen. Beide Systeme konnten nebeneinander betrieben werden, so etwa, wenn nur ein Teil der Zeigen eingehegt wurde. Kernpunkt beider neuen Systeme stellte die Intensivierung der Landnutzung durch die Bewirtschaftung der Brache und die Verteilung der Allmenden dar. Auf diesen Landflächen waren die Landleute vom Flurzwang befreit und konnten innovative Strategien anwenden, etwa den Anbau neuer Nutzpflanzen oder Versuche mit neuen Düngersorten. Die verbesserte Dreizeigenwirtschaft blieb neben der Fruchtwechselwirtschaft, nachdem sie sich in vielen Zürcher Gemeinden durchgesetzt hatte, bis weit ins 19. Jahrhundert erhalten. 32 Erst nach dem Bau von Flurwegen musste sie einer viel weiter gehenden Individualisierung der Landwirtschaft Platz machen. Die Literatur geht übereinstimmend davon aus, dass die Landwirtschaft mit diesen Refonnen, die sich teilweise in Holland und England schon seit dem 16. bzw. 17. Jahrhundert bewährt hatten, bedeutend produktiver und innovationsfähiger wurde. 33 Es soll hier aber nicht der Eindruck entstehen, die traditionelle DreizeIgenwirtschaft habe sich bis ins 18. Jahrhundert als völlig starr und statisch erwie31 Diese beiden Begriffe werden in der agrarhistorischen Literatur leider keinesweg einheitlich verwendet. So bleibt häufig unklar, weIche Reformmassnahmen dazu gezählt werden. Im folgenden wird deshalb stets versucht, an Stelle dieser unscharfen Bezeichnungen möglichst klare Umschreibungen der Zustände anzugeben. 32 Siehe Brühwiler (1975), Huber (1944), Lamprecht, König (1992), Olt, Kläui, Sigg (1979), Hedinger (1951), Kläui, Mietlich (1970), Beereuter (1994: 86). 33 Braun (1984: 101), Pfister (1984, Bd. 2), Pfister (1992: 455-456), Fritzsch, Lemmenmeier (1994: 20 - 26); zu den Einhegungen Ineichen (1996: 45 - 48).
3. Produktivitätsgewinne der Refonnmassnahmen im 18. Jahrhundert
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sen. Mattmüller34 und Suter35 weisen sehr überzeugend darauf hin, dass sich die Bevölkerung in der Schweiz von 1500 bis 1700 verdoppelt, im schweizerischen Mittelland (ein grösstenteils ausgesprochenes DreizeIgengebiet) gar verdreifacht hatte. Die DreizeIgenwirtschaft hatte sich offensichtlich fähig erwiesen, die Nahrungsmittelproduktion vor allem durch eine Intensivierung der Landnutzung 36 und durch innovative Anpassungsstrategien besonders in dem privat genutzten Teil der Flur (Gemüsegarten, Obstgarten, Reben, Pünten, Einschläge) massiv zu erhöhen sonst wäre ein dermassen starkes Bevölkerungswachstum unmöglich gewesen. Die verbesserte DreizeIgenwirtschaft stellte in dieser Perspektive einen weiteren, jedoch besonders wichtigen und einschneidenden Schritt in einer langen Reihe von marginalen Anpassungen und Verbesserungen des Landwirtschaft dar. Dieser Schritt war entscheidend, um die Ernährung der im 18. und 19. Jahrhundert weiter stark wachsenden Bevölkerung, besonders der Unterschichten auf dem Land, zu gewährleisten. Repräsentative Berechnungen der Produktivitätsgewinne in der Schweiz sind bisher, abgesehen von vereinzelten Fallstudien und zeitgenössischen Berichten, in der Literatur kaum vorhanden. Pfister ist überzeugt, dass der Wechsel zur verbesserten DreizeIgenwirtschaft bedeutende Produktivitätsgewinne des Landes bei einem geringen Investitionsbedarf hervorbrachte. 37 Nur so könne das deutliche Absinken der Mortalität im 18. Jahrhundert erklärt werden. Er berechnete beispielsweise den Zuwachs der Milchproduktion, der durch die Umwandlung einer Allmendweide in eine Kleewiese möglich ist, wenn gleichzeitig auf Sommerstallfütterung umgestellt wird. Dabei kommt er fast auf eine Verdreifachung der Erträge, welche auf den höheren Rächenertrag des Klees, dessen höheren Nährwert sowie die Vermeidung von Nährstoffverlusten durch die Weide zurückzuführen sind. 38 Huggel 39 verglich die Rentabilität (definiert als diskontierter, monetarisierter Gewinn im Verhältnis zum eingesetzten Betriebskapital und Landwert) des reinen Getreidebaus mit einer gemischten Strategie von 3 Jahren Kleebau und anschliessend 6 Jahren Getreidebau, die sich unter der Wechselwirtschaft als besonders produktiv erwiesen hatte. Dabei kam er auf eine Steigerung von 77% gegenüber dem reinen Getreidebau nach alter ZeIgenordnung. In der Basler Landschaft erfolgten im 18. Jahrhundert zahlreiche Einhegungen von Äckern in den ZeIgen (auch ,,Einschläge" genannt) die anschliessend unter dem System der Fruchtwechselwirtschaft in Wiesen umgewandelt wurden. Huggel stellte für die 1750er und Mattmüller (1991). Suter (1998). 36 Mit der Intensivierung wurde mehr Arbeitskraft pro Landeinheit eingesetzt (siehe dazu auch Sigg. 1974). 37 Pfister (1984: 113 - 116). 38 Dieser enorme Produktivitätsgewinn führte denn auch besonders im hügeligen Voralpengebiet zur grossen Verbreitung von Talkäsereien zu Beginn des 19. Jahrhunderts; siehe Lemmenmeier (1983: 207 - 234) und Fritzsche. Lemrnenmeier (1994: 33 - 35). 39 Huggel (1979: 279). 34
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III. Die Naturforschende Gesellschaft. die "Ökonomen"
1760er Jahre in zahlreich beobachteten Fällen einen Preisanstieg von eingehegtem Zelgland um das 2- bis 4-fache. ja bis zum (spekulativ bedingten) IO-fachen fest. 4o Diese Befunde werden in ihrer Grössenordnung durch die Arbeiten Ineichens bestätigt. 41 Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass erst durch die Einschränkung des allgemeinen Weidgangs der Anbau von Kartoffeln in den Zeigen möglich wurde. Die Kartoffeln entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 18. und besonders im 19. Jahrhundert zu einer tragenden Stütze der Volksernährung. 42 Pfister, um noch einen letzten Hinweis zu nennen, zitiert eine 1787 von der Zürcher Regierung angeordnete Nutzenberechnung der umstrittenen Allmendaufteilung von MönchaItorf im Jahr 1771. 43 Das Ergebnis lautet, dass der geldwerte Ertrag der verteilten Allmend um das dreifache gestiegen sei. Dieser Mehrertrag von jährlich 3434 fl. (Gulden) setzte sich zur Hälfte aus dem Ertrag der neuen Hanfbünten (1650 fl.), zur anderen Hälfte aus einem Mehrertrag an Kartoffeln (600 fl.), Heu und Emd (500 fl.), Streue (400 fl.) sowie Torf (250 fl.) zusammen. Verlässliche, breit abgestützte Ertragsberechnungen der Landwirtschaft stehen, wie gesagt, leider nicht zur Verfügung. Zusammenfassend kann auf Grund der bekannten, vereinzelten Angaben und Schätzungen nur etwa die Grössenordnung der Produktivitätsgewinne angegeben werden. Insgesamt ist wohl von rund einer Verdoppelung bis Verdreifachung der Erträge auszugehen, die mit der vorgeschlagenen Modernisierung der Landwirtschaft (Aufteilung der Allmenden, Aufhebung des allgemeinen Weidgangs, im günstigsten Fall Einführung der Wechselwirtschaft und Sommerstallfütterung) erreicht werden konnte - je nach lokalen Verhältnissen sicher mit grossen Abweichungen nach oben und unten. 44 Trotz dieser unbestrittenen Produktivitätsgewinne ist aber festzustellen, dass sich die Modernisierung der Zürcher Landwirtschaft keineswegs schnell und problemlos durchgesetzt hatte. Deshalb ist auf die wirtschaftlichen und institutionellen Bedingungen und Hemmnisse dieses Umstellungsprozesses in den folgenden beiden Kapiteln (IV. und Y.) näher einzugehen. Es muss dabei die Frage nach den Interessen und Anreizen der betroffenen Akteure im Vordergrund stehen, welche auf die Reformen einen fördernden oder hemmenden Einfluss ausüben konnten.
40 Huggel (1979: 340 - 345); diese massiven Preissteigerungen sind hauptsächlich mit dem erwarteten Mehrgewinn zu erklären. der sich durch die mögliche verbesserte Bewirtschaftung nach dem Wegfall des Flurzwangs ergab. Allerdings ist der Wertzuwachs aus dem biossen Übergang zur verbesserten Dreifelderwirtschaft (ohne Einhegungen) wohl geringer zu veranschlagen. da die private Verfügbarkeit des Boden stärker eingeschränkt war als bei Einschlägen. 41 Ineichen (1996: 114-120). 42 Peter (1996). 43 Pfister (1992: 455). 44 Wicki (1979: 187-2(0).
IV. Anreize und Restriktionen zur Reform der DreizeIgenwirtschaft Entsprechend den theoretischen Vocüberlegungen 1 sind die Kräfte des institutionellen Wandels nicht unmittelbar in den sozialgeschichtlichen Strukturen zu suchen, sondern bei den Akteuren, welche durch Strukturen in ihrem Handeln eingeschränkt werden. In diesem Kapitel wird die Frage nach den Anreizen gestellt, welche die beteiligten Akteure zur Formulierung und Durchsetzung des oben dargestellten Reformprogramms der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts motiviert haben könnten. Deren Interessenlagen gilt es aus der Beobachterperspektive zu rekonstruieren. Selbstverständlich prägten soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Strukturen den Verlauf der Reformen wie überhaupt jeder landwirtschaftlichen Tätigkeit ganz entscheidend. Sie werden hier als Restriktionen diskutiert, welche die Handlungsspielräume der Akteure einschränkten und somit deren Verhalten wie auch deren Denken in gewisse Bahnen lenkten. Zweifellos besteht zur Einschätzung der treibenden Kräfte und Restriktionen der Agrarreformen im 18. Jahrhundert noch beträchtlicher Forschungsbedarf? Wie sahen die Interessen der verschiedenen dörflichen Akteure an einer Reform der Agrarordnung aus? Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass die zeitgenössischen Akteure ihre Interessen unbedingt ..richtig" im Sinne unserer Beobachtersicht wahrnahmen, da jegliche Wahrnehmung stets an ihre eigenen historischen Bedingungen gebunden ist. Die Rationalität des HandeIns kann im Grunde genommen nur rekonstruiert werden, wenn bekannt ist, wie die historischen Akteure selbst ihre Interessen wahrnahmen. 3 Um diese Frage zu beantworten, müsste die tatsächliche, subjektive Wahrnehmung der Interessenlagen durch die einzelnen Akteure bekannt sein. Dazu wäre eine Quellenlage notwendig, in welcher sich die diesbezüglichen Überlegungen, Erwartungen und Befürchtungen der Bauern und Tauner äusserten. Leider - dies muss hier gleich vorweggenommen werden - verfügen wir praktisch über keine solchen Belege, aus denen das Nutzenkalkül der Landleute jener Zeit explizit herausgelesen werden könnte. Die einzigen Quellen aus bäuerlicher Hand, welche sich zu den Reformmassnahmen aussprechen, liegen in den Archiven der Naturforschenden Gesellschaft oder der Zürcher Staatsverwaltung. Sie können grob zwei Kategorien zugeordnet werden. Einerseits handelt es sich um Antwortschreiben oder aufgezeichnete Gespräche einzelner weniger Landleute auf explizite Anfragen der Naturforschenden Gesellschaft zu verschiedenen 1
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Siehe Kapitel 1.1. Siehe dazu auch Suter (1998) und Simon (1992). Siehe Kapitel 1.4.
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IV. Anreize zur Reform der Dreizeigenwirtschaft
agrarökonomischen Problemen. Die relativ wenigen Landleute, die hier zu Wort kamen, können in keiner Weise als repräsentativ für ihre Standesgenossen gelten. Häufig handelte es sich um besonders reformfreundliche Einzelgänger in ihren Dörfern 4 , und hinter vielen Antwortschreiben steht nachweislich der Dorflehrer oder der Pfarrer. 5 Die zweite Kategorie bäuerlicher Quellen stammt aus Nutzungskonflikten, die über die Frage institutioneller Änderungen der Agrarordnung innerhalb des Dorfes oder mit der Regierung ausgetragen wurden. Es handelt sich um Stellungnahmen, Rechtfertigungen und Forderungen, die stets in hoch strategischer Absicht an die Zürcher Regierung, obrigkeitliche Kommissionen oder die Naturforschende Gesellschaft gerichtet wurden. Deshalb können sie kaum als Beleg für die effektive Interessenwahrnehmung und Erwartungsbildung der Bauern und Tauner ausgelegt werden. Sofern bekannt und nützlich, müssen im folgenden dennoch hie und da ländliche Quellen bei der Kategorien zu Rate gezogen werden, da nichts besseres zur Verfügung steht. Sie werden aber stets mit grosser Zurückhaltung eingesetzt und können höchstens illustrativen Charakter beanspruchen. Trotzdem bleiben die dörfliche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts und ihre Interessen am Reformprogramm der Ökonomen nicht vollkommen unergründlich. Es lassen sich rein deduktiv, auf Grund der bekannten Ressourcenverteilung in den Dörfern, der institutionellen Bedingungen und technischen Möglichkeiten der Landwirtschaft hypothetische Interessenlagen von unterschiedlichen wirtschaftlichen Gruppen von Dorfbewohnern - Kleinbauern und Grossbauern mit jeweils verschiedenen Rechten und Ressourcen - herleiten. Dass diese unterstellten Interessenlagen tatsächlich die aus der Sicht der historischen Akteure handlungsleitenden, waren, kann nicht bewiesen werden. Es kann aber beurteilt werden, wie weit sie als mögliche Erklärungen des beobachteten Verhaltens der ländlichen Akteure plausibel erscheinen. Plausibilität wird angestrebt, indem die Argumentation dem einfachen ökonomischen Handlungsmodell folgt. Auf ergänzende, nur fallweise passende theoretische ad-hoc-Erklärungen soll verzichtet werden. Damit wird der Anspruch ausdrücklich ausgeschlossen, eine vollständige Erklärung des bäuerlichen Verhaltens konstruieren zu wollen. Wegen des oben genannten Quellenproblems müssen einige wichtige Fragen bezüglich des Verhaltens der ländlichen Akteure offen bleiben; sie werden im folgenden deutlich deklariert werden. Ich werde nun - eingedenk der nötigen Vorbehalte - versuchen, auf Grund einfacher ökonomischer Überlegungen Gruppen bäuerlicher Akteure bestimmte Interessenlagen in bezug auf die zwei wichtigsten institutionellen Reformmassnahmen zuzuschreiben. Diese werde ich exemplarisch mit den Ergebnissen neuerer Fallstudien konfrontieren. Zusätzlich werden jeweils die Interessenlagen der Zehntherren 4 Die bekanntesten dürften Kleinjogg Gujer von Wermatswil und Heinrich Bosshard sein. Ersterer gehörte zu den Aussenseitern in seinem Dorf. Später zog er sich nur zu gerne auf den Lehenhof Katzenrüti bei Rümlang zurück, wo er keine Rücksichten auf benachbarte Dorfgenossen nehmen musste (Pfister, 1985). Der schreibfreudige Bosshard ist in vielerlei Beziehung eine beeindruckende Sondererscheinung (Ettinger, 1995: 70 f.). 5 Euinger (1995).
I. Differenzierungen der bäuerlichen Gesellschaft
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und der Regierung an der Autbebung des allgemeinen Weidgangs sowie der Auflösung der Allmenden rekonstruiert und diskutiert (Kapitel IV3 und IVA). Zuvor müssen aber die wichtigsten strukturellen Differenzierungen der bäuerlichen Gesellschaft beschrieben und eine sinnvolle Einteilung in wirtschaftliche Gruppen vorgenommen werden (Kapitel lVI) Zudem ist es für die Analyse nützlich, das fest institutionalisierte Herrschaftsverhältnis zwischen den Gemeinden und der städtischen Obrigkeit zu skizzieren, welches die Handlungsspielräume der ländlichen Akteure eingrenzte (Kapitel IV2).
1. Wirtschaftliche, rechtliche und soziale Differenzierungen der bäuerlichen Gesellschaft Die wichtigsten Akteure in der Auseinandersetzung um die Agrarreformen des 18. Jahrhunderts waren die Einwohner der Landschaft, die sogenannten Landleute, welche nicht nur den weitaus grössten Anteil der gesamten Bevölkerung ausmachten, sondern auch fast ausnahmslos mehr oder weniger direkt und existentiell mit der Landwirtschaft verbunden waren. Ich werde an dieser Stelle meine Aufmerksamkeit hauptsächlich den Landleuten widmen, während die anderen wichtigen ,,Mitspieler", die Zehntherren, die Zürcher Regierung und Verwaltung sowie die Mitglieder der Naturforschenden Gesellschaft im sechsten und siebten Kapitel ausführlicher besprochen werden. Die bäuerliche Bevölkerung wird zu Zwecken der Analyse, aber auch in zeitgenössischen Äusserungen 6 , üblicherweise in zwei oder drei soziale Gruppen unterteilt, nämlich entweder in Bauern und Tauner oder in Vollbauern, Halbbauern und Tauner. Als wichtigstes Unterscheidungskriterium gilt dabei das Ausmass des Landbesitzes: Bauern bzw. Voll- und Halbbauern verfügten über einen ausreichenden Landbesitz, um durch die bäuerliche Tätigkeit eine in der Regel bescheidene Existenz ihrer Familie zu sichern. Die vermögendsten unter ihnen bildeten regelmässig die dörfliche Oberschicht, welche nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch über die Besetzung der wichtigsten Ämter den grössten Einfluss hatte. Die Tauner bildeten die ländliche Unterschicht. Sie verfügten über einen bescheidenen, manchmal über gar keinen Landbesitz, so dass sie zum Überleben auf zusätzliche Erwerbsquellen angewiesen waren. Diese konnten aus verschiedenen gewerblichen Nebenbeschäftigungen oder aus heimindustriellen Tätigkeiten bestehen, aber auch aus Taglohndiensten bei Grossbauern oder aus subalternen Gemeindeämtern. 7 Der Anteil der Tauner an der Dorfbevölkerung nahm mit 6 Nach dem Twinglibell von Grosswangen in Luzern aus dem Jahr 1677 galt als Bauer, wer 30 Jucharten Land oder mehr besass, als Halbbauer, wer 15 bis 30 Jucharten und als Tauner, wer weniger als 15 Jucharten besass (Wicki, 1979: 142). Bei der Basler Volkszählung von 1774 wurde die Landbevölkerung in die vier Kategorien Bauern, Tauner, Handwerker, Fabrikarbeiter eingeteilt. Als Bauer galt dabei, wer mit seinem Betrieb mindestens eine Familie unterhalten konnte. Häufig wurden aber in der deutschen Schweiz die ländliche Oberschicht als Bauern und die gesamte Unterschicht als Tauner bezeichnet (MaUmüller, 1983: 42). 7 Meyer (1989).
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IV. Anreize zur Reform der Dreizeigenwirtschaft
dem Bevölkerungswachstum im Laufe der Jahrhunderte stetig zu und erreichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den meisten Dörfern eine Mehrheit von 50 bis 90%.8 Eine zweite zentrale Unterscheidung muss in bezug auf die Bürgerrechte der Landleute gemacht werden. 9 So gab es erstens die Gruppe der Gemeindebürger oder Gemeindegenossen, weIche über das volle Bürgerrecht durch Abstammung oder Einkauf verfügten sowie im Besitz eines Wohnhauses und von (Teil-)Gerechtigkeiten waren. Sie verfügten an den Gemeindeversammlungen über die vollen Mitspracherechte zu allen Belangen, konnten in die Gemeindeämter gewählt werden, hatten im Umfang ihrer Gerechtigkeiten Anspruch auf die Allmendnutzung in Wald und Weide und mussten im Fall ihrer Verarmung durch die Gemeinde unterstützt werden. Zu dieser Gruppe gehörten hauptsächlich die Vollund Halbbauern, die somit an den Gemeindeversammlungen tonangebend waren. Zu den Bürgern gehörten aber auch jene Tauner, die neben dem Heimatrecht eine Teilgerechtigkeit und damit ein Nutzungsrecht an der Allmend hatten. Zuzüger, weIche sich in einer Gemeinde niederliessen und ein Haus mit Land und Gerechtigkeit erwarben, mussten sich zusätzlich noch durch das Einzugsgeld in die Bürgerrechte einkaufen, um in den Genuss der vollen Mitsprache- und Nutzungsrechte zu kommen. Zweitens ist die Gruppe der Hintersassen zu erwähnen. Sie waren in der Gemeinde fest niedergelassen und verfügten über das Heimatrecht, womit sie die Armenunterstützung der Gemeinde in Anspruch nehmen konnten. Sie unterschieden sich von den Gemeindebürgern dadurch, dass sie nicht im Besitz einer Teilgerechtigkeit waren. Damit waren sie auf jeden Fall vom Allmendnutzungsrecht ausgeschlossen und hatten an den Gemeindeversammlungen nur ein beschränktes, von Ort zu Ort unterschiedlich geregeltes Mitspracherecht (selbstverständlich fiel zumindest die Mitsprache in bezug auf die Allmendnutzung weg). Zuzüger mussten, um den Status eines Hintersassen zu erlangen, ein Einzugsgeld bezahlen und zusätzlich eine jährliche Hintersassensteuer. Drittens gab es die Beisassen, die häufig in den Quellen und in der Literatur nicht klar von den Hintersassen unterschieden werden. Sie waren in einer Gemeinde niedergelassen, besassen aber kein Heimatrecht, da sie den Einzug nicht geleistet hatten. Damit hatten sie weder auf die Allmendnutzung, die Arrnenunterstützung, noch auf irgend weIche Mitsprache Anrecht. Dennoch mussten sie eine jährliche Niederlassungssteuer bezahlen. Sie waren in einer Gemeinde bloss geduldet und konnten jederzeit weggeschickt werden. 1O Meistens gehörten Hintersassen und Beisassen zur landarmen oder landloMattmüller (1983: 43), Wicki (1979: 40). Siehe dazu hauptsächlich Wicki (1979: 40-45). 10 Ihr Zuzug ohne Handhabung der restriktiven Bestimmungen des Einzugsbriefes war in Zeiten guter Konjunktur von den Gemeinden, besonders in den protoindustrialisierten Gebieten, häufig geduldet worden. Besonders in der Notzeit zu Beginn der I 770er Jahre besannen sich die Gemeinden nicht selten eines anderen und begannen, zur Schonung ihrer Armengüter verarmte Beisassen wegzuschicken. Diese Praxis versuchte die Zürcher Regierung mit Man8
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1. Differenzierungen der bäuerlichen Gesellschaft
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sen Unterschicht. Allenfalls wurde ihnen als gütige Geste erlaubt, für eine befristete Zeit etwas (Klein-) Vieh auf die Weide zu lassen, oder es wurde ihnen ein kleines Landstück auf der Allmend zur privaten Bewirtschaftung überlassen. Einen rechtlichen Anspruch darauf konnten sie nicht erheben. Es gab aber auch Vermögende unter ihnen, die auf den häufig sehr kostspieligen Einkauf von Gerechtigkeiten bzw. des Einzugs verzichteten, weil sie dies nicht als lohnend erachteten. \1 Ich werde im folgenden bloss von der üblichen Unterscheidung zwischen Bauern und Taunern ausgehen, um die Analyse möglichst einfach zu halten. Diese Unterscheidung ist zwar nicht unproblematisch, da sie durch das komplexe soziale Gefüge der dörflichen Gemeinschaft eine letztlich willkürliche dichotomische Trennung zieht. Sie macht für unsere Frage aber dennoch Sinn: Meyer weist sicher zu Recht darauf hin, dass die Dorfgemeinschaft des 18. Jahrhunderts nicht als Interessengemeinschaft geschildert werden kann, welche die Dreizeigenwirtschaft zum Wohle der ganzen Dorfgenossenschaft ausgeübt hätte. 12 Viel zu gross waren die Unterschiede in der Ressourcenausstattung, als dass von einem gemeinsamen Interesse in der Ausübung der Dreizeigenwirtschaft die Rede sein könnte. So ist häufig - aber keineswegs ausschliesslich - zu beobachten, dass die sozialen Konfliktlinien um institutionelle Änderungen der Agrarverfassung zwischen den beiden Lagern der Bauern und Tauner veriiefen. 13 Eine Unterscheidung der Dorfbevölkerung (lediglich) nach dem Vermögens stand in die zwei Gruppen der Bauern und Taunern scheint deshalb für die Zwecke dieser Arbeit sinnvoll. In Ausübung klientelistischer Abhängigkeitsverhäitnisse l4 konnten sich die vermögenden Bauern in der Regel die wichtigen politischen Ämter sichern. Wichtigstes Druckmittel auf die Unterbauern waren im Ackerbaugebiet die Pflugdienste der Bauern, auf welche die Tauner angewiesen waren, da sie in der Regel kein eigenes Zugvieh und Geschirr besassen. 15 Dies erlaubte es den dörflichen Grossbaudaten von 1779 und 1781 zu bekämpfen, indem sie die Gemeinden in Härtefällen zu unentgeltlichen Einbürgerungen ihrer Niedergelassenen verpflichtete (Kunz, 1948: 108-114). 11 Kunz (1948: 115). 12 Meyer (1989: 10-12); eine solche Darstellung findet sich jedoch bei Brühwiler (1975: 76). 13 Siehe unten. 14 Pfister (1992: 459). Schmidt (1932, Bd. 1: 47 -48) schildert verschiedene Beispiele, wie Grossbauern die Tauner auf sehr unredliche Art und Weise in ihrem wirtschaftlichen Fortkommen behinderten: ..Die Bauern der Frühzeit bekämpften nicht nur aus Ehrfurcht vor der Überlieferung jedwede wirtschaftliche Neuerung, jeden Einbruch in den Ortsgebrauch, sondern auch aus Furcht vor einer möglichen Erschütterung ihrer Herrschaft über die Kleinbauern, Tauner, Hintersassen, aus Scheu vor einer denkbaren Gefährdung ihrer Geltung unter den Standesgenossen" . 15 Ein schönes Beispiel für das Abhängigkeitsverhältnis in den Gemeinden liefert die Auseinandersetzung um die Allmendaufhebung in Brütten im Jahr 1770. Mehrere Gemeindeversammlungen waren dazu abgehalten worden, an denen sich 23 Tauner, unterstützt vom Pfarrer und vom Landvogt, gegen die Grossbauern und Gemeindebeamten gestellt hatten. Bei der Abstimmung an einer weiteren Versammlung schrumpfte die Koalition der Tauner plötzlich
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IV. Anreize zur Reform der Dreizeigenwirtschaft
ern trotz ihrer zahlenmässigen Unterlegenheit häufig, ihre Interessen wirkungsvoll durchzusetzen. Meyer betont allerdings gleichzeitig, dass die Bedeutung der grossen Vermögensunterschiede zumindest für das DreizeIgengebiet trotz allem nicht überschätzt werden sollte, denn das Abhängigkeitsverhältnis war bis zu einem gewissen Grad gegenseitig. 16 Die Vollbauern waren in arbeitsintensiven Phasen der Landwirtschaft ihrerseits auf die tatkräftige Mitarbeit der Tauner angewiesen. I? Zudem war jede Gemeinde für die Armenfürsorge ihrer Bürger verantwortlich. Man konnte verarmte Tauner nicht einfach ausbeuten, ums sie dann irgendwie loszuwerden, sondern musste sich um eine für alle akzeptable Basis des Zusammenlebens bemühen. Im Extremfall musste die dörfliche Oberschicht nächtliche Sabotageakte an ihren Feldern und Häusern befürchten, gegen die sie sich kaum schützen konnte. 18 Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass das administrative Gebaren der Dorfbeamten mehr oder weniger genau durch die Zürcher Regierung überwacht wurde. Jedes Jahr musste vor einer Regierungskommission genau Rechnung über die Verwaltung der Gemeindegüter abgelegt werden. Missbräuche konnten von den Dorfbewohnern beim Landvogt und der Regierung angezeigt werden und wurden in schweren Fällen auch geahndet. Durch diese obrigkeitliche Kontrolle wurden die Rechte und Freiheiten der Tauner und Hintersassen in den Gemeinden bis zu einem gewissen Grad geschützt und garantiert. 19
2. Die Gemeindeautonomie und der Staat Das Verhältnis zwischen der Herrschaft in der Stadt Zürich und den einzelnen Gemeinden hatte sich historisch unterschiedlich entwickelt. Die Beziehungen waren deshalb nicht im ganzen Herrschaftsgebiet einheitlich und zentral geregelt. Jeauf 12, was vom Brüttener Pfarrer Kitt folgendermassen kommentiert wurde: .. 12 haben sich hiermit wider auf die Seite der Bauern geschlagen, ein Ursach ist leicht zu errathen, sie haben alle auch etwas Feld und sie werden geförchtet haben, wann sie die Bauern vor den Kopf stossen, so finden sie nienumd mehr, der Ihnen das Feld baue" (zitiert aus Kunz (1948: 97». Siehe auch Huggel (1979) und Braun (1984). 16 Meyer (1989: 42-48). 17 Aus der Gemeinde Schöfflisdorf ist im Archiv der Ascetischen Gesellschaft vermerkt: .. Jeder Taglöhner oder Arme, der nur wenig eigene Güter hat, ... hat seinen Baur, bey dem er in jedem Hauptwerk im Sommer und Winter in Arbeit stehet, der ihm meistens seinen Wein im Herbst abnihmt und ihm auf Abrechnung für Wein, Geldt, oder Frucht, vorstreckt, was er bedarf, und sein Feld - doch nicht unentgeltlich (mit dem Gespann, das nur der reiche Bauer zu kaufen und zu halten imstande war) bauet. Aber freylich, der Lohn der Arbeiter an Geldt ist gering. ", zit. aus Schmidt (1932, Bd. 2: 85*). 18 Meyer (1989: 42-48), Braun (1979: 120-121). 19 Allerdings musste die Regierung stets besondere Rücksicht auf die notwendige Zusammenarbeit mit den Gemeindebeamten nehmen, welche sich fast ausschliesslich aus dem Kreis der Vollbauern rekrutierten. So fällt häufig auf, dass sie sich gegenüber dieser Interessengruppe gerne allzu kompromissbereit verhielt. Siehe Kunz (1948: 85-92), Pfister (1992: 460464).
2. Die Gemeindeautonomie und der Staat
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de Gemeinde hatte mit der Zeit ein spezifisches Verhältnis zur Regierung entwikkelt, indem sie etwa Sonderrechte erfolgreich beantragen oder alte Rechte und Pflichten in Vergessenheit geraten lassen konnte. Dennoch lässt sich das Herrschaftsverhältnis zwischen den Gemeinden und der Stadtregierung grob umreissen. 20 Die Stadt sicherte den Stadtbürgern in ihrem paternalistischen Selbstverständnis die wichtigsten Privilegien in Politik, Staatsverwaltung, Justiz, Kirche, Militär und Schulwesen, indem die städtischen Räte, alle höheren Gerichts- und Verwaltungsstellen, die Pfarrämter, die höheren Offiziersgrade und die städtischen Bildungsstellen ausschliesslich durch Stadtbürger besetzt werden konnten. Die Handels- und Gewerbeordnung (Zunftwesen und Heimindustrie) sowie die Staatsfinanzierung durch Grundabgaben, Steuern und Gebühren waren so ausgelegt, dass die Landschaft gegenüber der Stadt aufs äusserste benachteiligt wurde. Schliesslich waren die städtischen Regierungsstellen erpicht, auch das soziale und kulturelle Leben in der Stadt wie auf dem Land durch rigide Polizeireglemente, Sittenmandate und eine straffe kirchliche Bevormundung zu kontrollieren?l Die Landschaft war in 23 Obervogteien ("Innere Vogteien") und 8 Landvogteien ("Äussere Vogteien") unterteilt, die jeweils von 2 Ratsmitgliedern von der Stadt aus bzw. von je einem Landvogt vor Ort verwaltet wurden. Diesen Ober- und Landvögten oblag in deren Territorien der Vollzug der obrigkeitlichen Gesetze, Mandate und Verordnungen, die Kontrolle über die Gemeindeverwaltungen und der Vorsitz über die höhere Gerichtsbarkeit. Zur Bewältigung dieser Aufgaben verfügten sie nur über einen sehr schmalen Verwaltungsapparat, so dass ihr effektiver Handlungsspielraum eng begrenzt war. Einerseits waren sie auf das disziplinierende Machtpotential aus der Stadt angewiesen, anderseits auf die Kooperation von seiten der Gemeindebehörden. Das bedingte eine weitgehende Selbstverwaltung der Gemeinden und die Rücksichtnahme auf deren Interessen. Diese Gemeindeautonomie hatte sich im Verlauf der Zeit überall eingespielt und wurde von den Bürgern und Gemeindebehörden immer wieder scharf verteidigt. Es war, wie wir noch sehen werden, für die Oberbehörden äusserst schwierig und aufwendig, in die Kompetenzen der Gemeindeverwaltung einzugreifen. Obrigkeitliche Eingriffe waren häufig dann legitim und akzeptiert, wenn die Regierung und Landschaftsverwaltung auf Ersuchen eines Teils der Dorfbewohner in harten internen Konflikten vermitteln sollte. Dann wurde vom Landvogt und vom Zürcher Rat erwartet, dass sie durch einen versöhnlichen Schiedsspruch die Interessen der Konliktparteien ausgleichen und die Wogen glätten würden. 22 Wie war die Selbstverwaltung der Zürcher Gemeinden institutionalisiert? Selbstverständlich gibt es auch hier wieder eine gros se Vielfalt unterschiedlicher RegeSiehe Dändliker (1912, Bd. 3: 15, 19,29-33) und Schmidt (1932: 25 - 32). Siehe als eindrückliche Beispiele für die einseitige, straffe Kontrolle der Regierung über die Landschaft das "Fabrick-Mandat" von 1772 sowie das "Gros se Mandat vor die Landschaft" von 1766 (in: Sammlung der Bürgerlichen und Policey-Geseze und Ordnungen, lob!. Stadt und Landschaft Zürich, fünfter Band 1779, S. 72 -73 bzw. S. 111 - 122). 22 Kunz (1948: 84,95 -116). 20
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IV. Anreize zur Reform der Dreizeigenwirtschaft
lungen. Dennoch sollen die wichtigsten Züge festgehalten werden. 23 Wichtigstes Organ in der Gemeinde war die Gemeindeversammlung, welche mindestens einmal jährlich ("Hauptgemeinde"), je nach Bedarf aber meist häufiger einberufen wurde. Die Teilnahme an der Gemeindeversammlung war obligatorisch. Das Mehrheitsprinzip war eine Selbstverständlichkeit. Stimmberechtigt waren die Gemeindebürger, das heisst die Inhaber des Bürgerrechts und von Gerechtigkeiten, im Ausmass ihrer Anteilsrechte. Die Rechte der Hintersassen waren unterschiedlich geregelt. In der Regel hatten sie ein Teilnahmerecht und ein beschränktes Mitspracherecht an der Versammlung. Ausgeschlossen vom Stimmrecht waren Falliten, Armengenössige und Heimatlose (Beisassen). Die Gemeindeversammlung wählte die Dorfbeamten und regelte die Rechte und Pflichten der Einwohner (Niederlassungsgebühren, Niederlassungsbewilligungen, Einbürgerungen, Frondienste, Brunnenordnung, Feuerwehr, Gemeindeverwaltung) und die Nutzungsbedingungen der Gemeindegüter (Weidgang, Allmend, Wald, Zeigenordnung). Am Schluss der Versammlung hatten die Bürger Gelegenheit, Voten abzugeben und Gesuche an die Gemeinde zu stellen. Die Gemeinden konnten ihre Gemeindeordnungen selbständig aufstellen, häufig waren jene nicht einmal schriftlich festgelegt. Allerdings war der Handlungsspielraum der Gemeinden in mehreren Beziehungen eingeschränkt. Meist war mit dem Landvogt oder dem Untervogt ein Vertreter der Regierung an der Hauptgemeinde anwesend. Somit war einigermassen garantiert, dass die Versammlung in einem geordneten Rahmen ablief. Zudem musste, wie schon erwähnt, über die Verwaltung der Gemeindegüter zu Handen der Oberbehörden genau Rechnung abgelegt werden. Zweitens konnte die Gemeinde keine Regelungen beschliessen, welche die Zehnterträge oder andere fiskalischen Interessen der Regierung tangieren könnten. Drittens wachte über das Schul- und Armenwesen, die Zivilstandsverwaltung sowie das sittliche und religiöse Leben in der Kirchgemeinde eine eigene Behörde, der sogenannte Stillstand. Dessen Mitglieder bestanden zwar fast ausnahmslos aus den gewählten Gemeindebeamten, präsidiert wurde der Stillstand aber vom Dorfpfarrer. Der Pfarrer war stets ein Bürger der Stadt Zürich und wurde auf Grund der engen Verbindung von Kirche und Staat als deren kirchlicher wie auch als herrschaftlicher Vertreter betrachtet. Er hatte von der Kanzel nicht nur religiöse Inhalte, sondern auch obrigkeitliche Mandate und Erlasse zu allen Lebensbereichen zu verlesen und für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu sorgen. Kraft seines Amtes hatte er weitgehende Kompetenzen und war damit ein wichtiges Bindeglied zwischen den Herrschaftsansprüchen der Stadt und dem Alltagsleben auf dem Land. 24
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Siehe Kunz (1948: 71-81). Siehe dazu Kunz (1948: 59-70) und insbesondere Gugerli (1988: 76-83).
3. Anreize zur Abschaffung des gemeinen Weidgangs
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3. Anreize zur Abschaffung des gemeinen Weidgangs (Anbau der Brache, Sommerstallfütterung, Kunstwiesen) Die Abschaffung des gemeinen Weidgangs ist zweifellos ein einschneidender Schritt auf dem Weg zur Auflösung der Dreizeigenwirtschaft. Erst wenn die allgemeinen Weiderechte auf einem Landstück ausgeschlossen sind, ist eine notwendige (aber noch nicht hinreichende) Bedingung für die freie Bewirtschaftung des Landes erfüllt. Da es sich beim Weidgang um ein fest institutionalisiertes, allgemeines Nutzungsrecht handelte, konnte er nur durch einen kollektiven Entscheid oder zumindest mit der impliziten, stillschweigenden Billigung durch die Nutzungsgemeinschaft aufgehoben werden. Zudem konnten auch die Interessen der Zehntherren von einer Aufhebung betroffen sein, so dass auch sie ein gewichtiges Wort mitreden mochten. Die Aufhebung des allgemeinen Weidgangs wird in der Literatur mitunter als eine einheitliche und einmalige Massnahme diskutiert, die früher oder später einfach durchgeführt werden musste. 25 Nun zeigt sich aber ein weitaus komplexeres und differenzierteres Bild, wenn man die effektiven wirtschaftlichen und agrartechnischen Anforderungen sowie die institutionellen Verhältnisse in den Dörfern genauer betrachtet. Die Aufhebung des Weidgangs konnte einerseits bedeuten, dass einzelne Ackerbesitzer ihr Zelgland einhegten und es damit dem Zugang des weidenden Viehs der Dorfgemeinschaft entzogen. Damit war keineswegs der allgemeine Weidgang aufgehoben, sondern bloss in seiner räumlichen Ausdehnung eingeschränkt. Auf den Vorgang der Einhegungen wird in den beiden nächsten Abschnitten noch genauer eingegangen. Neben den Einhegungen konnte sich die Aufhebung des Weidgangs bloss auf Teile dieses allgemeinen Nutzungsrechts beziehen. So konnte etwa allein der Weidgang auf den Allmenden oder Wiesen aufgehoben werden, auf den ZeIgen aber bestehen bleiben. Oder es kam vor, dass nur die Weide auf der Brache unterlassen wurde, nicht aber jene im Frühling und Herbst - natürlich sind hier verschiedene Kombinationen denkbar und auch beobachtbar. 26 Dieser Differenzierungsbedarf macht eine genaue Feststellung und Datierung der Weidgangaufhebung in den einzelnen Regionen und Gemeinden sehr schwierig. Häufig war es nicht ein einmaliger Paukenschlag, welcher die Institution abschaffte, sondern ein schrittweises Einschränken und Aufheben, das nicht selten nur für eine begrenzte Zeit auf Probe beschlossen wurde. Damit sind einerseits Berichte über angeblich vollständige Weidgangaufhebungen mit Vorsicht aufzunehGeschichte des Kantons Zürich, Bd. 3 (1994: 23, 26). In FeuerthaIen, Flurlingen und Langwiesen wurden 1768 als Kompromisslösung nur die Wälder und die Brachwiesen vom Weidgang befreit, in Ramsen 1782 angeblich nach Vermittlung durch die Zürcher Ökonomen nur die Frühlingsweide für sechs Jahre aufgehoben (Stiefel, 1944: 55, 57), in Os singen und Trüllikon 1767 ebenfalls unter Einwirkung der Ökonomen die Herbstweide für sechs Jahre (Schmidt, 1932, Bd. 2: 275*-258*). In Uhwiesen und Dachsen wurde 1769 bzw. 1770 die Weide auf Wiesen, im Wald und auf der Brache verboten (Wehrli-Keyser, 1932: 30). 2S
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IV. Anreize zur Refonn der Dreizeigenwirtschaft
men, anderseits bleiben solche Berichte häufig schlicht aus, weil die einzelnen Schritte dieses Prozesses in den Quellen keine Spuren hinterliessen. So sind in den regional- und lokalhistorischen Studien relativ wenig explizite Hinweise zu finden. Häufig kann nur indirekt und zeitlich unpräzise auf eine Autbebung geschlossen werden, etwa wenn festgestellt wird, dass keine Hirten mehr gewählt wurden, oder wenn die Brache offensichtlich mit Nutzpflanzen angebaut wurde. 27 Zudem bestand ja auch nach einer Autbebung weiterhin ein grosser Koordinationsbedarf der Pflug-, Saat- und Erntetermine, wenn - wie fast überall im 18. Jahrhundert - kein Wegenetz in den Zeigen bestand. Somit kann die fortbestehende (verbesserte) Dreizeigenwirtschaft weiterhin in den Quellen auftauchen, obwohl der Weidgang aufgehoben wurde. Einigermassen gut dokumentiert sind in der Regel nur diejenigen Versuche von Weidgangautbebungen, welche schwerwiegende Konflikte innerhalb der Gemeinde auslösten. Sie gingen dann in die Akten der Oberbehörden ein, welche zur Streitschlichtung und Beurteilung beigezogen wurden.
a) Die Interessen der Grossbauern
Welche Landleute konnten an einer Autbebung bzw. Einschränkung des allgemeinen Weidgangs interessiert sein? Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Regel des allgemeinen Weidgangs nur diejenigen Landleute begünstigte, welche das Nutzungsrecht zum Viehauftrieb und eigenes Vieh besassen.28 Hierzu sind die Grossbauern zu zählen, welche in aller Regel über eigenes Zugvieh und die vollen Gemeinderechte verfügten. Die Zustimmung zur Autbebung des Weidgangs bedingte aus der Sicht dieser Gruppe sicherlich, dass sie ihr Vieh auch auf eine andere Art und Weise ernähren konnte. Dies war dann gegeben, wenn die Grossbauern entweder über ausreichende Privatweiden verfügten, was selten war, oder zur Sommerstallfütterung übergingen. Im zweiten Fall musste man aber genügend private Futterwiesen besitzen, um sein Vieh im Stall zu ernähren. Aus dieser Notwendigkeit 27 Sigg (1988: 158-163) vennag für Ossingen keine Quellen für die Abschaffung des Weidgangs zu finden, obwohl dort ab 1859 von der "freien Bewirtschaftung" die Rede ist. Ähnlich Ott, Kläui, Sigg (1979: 410-429) für Neftenbach. Beereuter (1994: 85) muss die schrittweise Aufhebung des Weidgangs mangels genauer Hinweise im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ansiedeln: 1791 war an der Gemeindeversammlung noch ein Kuh- und Schweinehirte gewählt worden, später sind keine Wahlen mehr bekannt. Auch für zahlreiche Gemeinden des Knonauer Amtes ist aus den Quellen der 1810er und I 820er Jahre ersichtlich, dass der allgemeine Weidgang nicht mehr bestand, ohne dass der Zeitpunkt seiner Aufhebung bekannt wäre (StAZ 01.1; Huber, 1944: 11-15). Gemäss Bronhofer (1956: 154 ff.) wurde der Weidgang in den meisten Gemeinden des Kantons Aargau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgeschafft. Zum Problem der fehlenden Quellenhinweise siehe auch Brühwiler (1975: 249-250). 28 An den meisten Orten war das Nutzungsrecht für den allgemeinen Weidgang auf die Besitzer von Gerechtigkeiten beschränkt, die nur eine begrenzte Menge Viehs auf die Weide treiben durften. Häufig lag die Grenze bei jener Anzahl Viehs, welche mit eigenen Futtennittein überwintert werden konnte (Braun. 1984: 100).
3. Anreize zur Abschaffung des gemeinen Weidgangs
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konnte ein Interesse an einer Ausdehnung und Intensivierung der Graswirtschaft erwachsen. Eine intensive Graswirtschaft wiederum war durch eine vorübergehende oder bleibende Umwandlung von Zelgäckern oder Allmendweiden in Wiesen zu erreichen - eine Massnahme, welche die Einschränkung des allgemeinen Weidgangs bedingte?9 Für den Übergang zur Sommerstallfütterung waren vermutlich in den meisten Fällen gewisse Investitionen erforderlich: Falls der Weidgang durch Einhegungen eingeschränkt wurde, war Zaunmaterial notwendig, das wegen der notorischen Holzknappheit teuer war. Die Umwandlung von Weiden und Äkkern in Wiesen konnte Verbesserungen der Bodenqualität (Trockenlegung von Rieten, Bewässerungsanlagen von Wiesen, intensivierte Düngung) und die Anschaffung von hochwertigem Samenmaterial (vor allem verschiedenen Kleesorten) erforderlich machen. Schliesslich dürfte die durch diese Massnahmen angestrebte verstärkte Viehhaltung in manchen Fällen eine Erweiterung der Stallbauten verlangt haben. Die Gewichtung des Investitionsbedarfs für den Übergang zur Sommerstallfütterung ist hauptsächlich eine empirische Frage. Da zu wenige quantitative Indizien vorliegen, um diese Einschätzung fundiert vorzunehmen, kann diese Frage nicht abschliessend beurteilt werden?O Sicher scheint nur, dass, wenn überhaupt jemand diesen Investitionen aufbringen konnte, es am ehesten die Grossbauern vermochten. 3l Noch vor dem Investitionsproblem stellt sich aber die Frage, ob die Grossbauern den Übergang zur Sommerstallfütterung überhaupt als lohnend und sinnvoll erachteten. Die Grossbauern konnten in der Regel sowohl mit als auch ohne den allgemeinen Weidgang durchaus leben. Sie verfügten in der Regel über genügend Nutzungsrechte am allgemeinen Weidgang, um das notwendige Zugvieh mit der traditionellen Wirtschaftsweise ernähren zu können. Somit waren sie wohl für die Beibehaltung des Weidgangs, wenn sie - aus welchen Gründen auch immer - alles beim alten lassen wollten. 32 So konnten sie ihre gewohnte Wirtschaftsweise auf29 Der in den 1760er Jahren zum berühmten Musterbauer gewordene Kleinjogg Gujer von Wermatswil gehörte zweifellos schon vor seiner Entdeckung durch den Zürcher Ökonomen Hans Kaspar Hirzel zu den innovativen Grossbauern. Da in Wermatswil der allgemeine Weidgang noch bestand, stiessen Gujer und dessen Bruder immer wieder an die Grenzen der Zelgordnung. Sie zäunten von Zeit zu Zeit einzelne Äcker ein, um sie dem allgemeinen Weidgang zu entziehen. Deswegen mussten sie im Jahr 1762 eine Klage der Gemeinde Wermatswil vor dem Gericht der Landvogtei Kyburg gewärtigen. Zu ihrer Verteidigung behaupteten sie, sie hätten nichts anderes getan, als was in Wermatswil allgemeiner Übung entsprach (Pfister, 1985: 11 - 13). 30 Vgl. dazu auch Pfister (1992: 442). 3\ Huggel (1979: 434-436) hat festgestellt, dass die Verschuldung in der Basler Landschaft im Zuge der Einhegungen insgesamt geringer wurde, namentlich auch unter den Taunern. Er führt dies darauf zurück, dass die notwendigen Investitionen durch die gestiegene Produktivität des Bodens mehr als kompensiert wurden. 32 Meyer (1989: 65) weist nach, dass die traditionelle Dreizelgen-Gemeinde Schöfflisdorf ohne Weidgangaufhebung und Sommerstallfütterung in Normaljahren durchaus einen bescheidenen Getreideüberschuss erwirtschaften konnte, den sie an den Zürcher Kornmarkt lieferte. Die Überschüsse konnten ausschliesslich von den grossen und mittleren Bauern erwirt-
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recht erhalten und ausreichende Erträge erzielen. Strebten sie aber eine nachhaltige Steigerung der Erträge über das gewohnte Mass an, so mussten sie für die Aufhebung des Weidgangs sein und eine innovative, ertragssteigernde Strategie der Stallfütterung auch im Sommer und eine Intensivierung des Wiesenbaus und der Viehwirtschaft anstrebten. Die Interessen der Grossbauern am Weidgang waren also nicht hinreichend und eindeutig bestimmt durch die Frage des Grundbesitzes und der Nutzungsrechte. Entscheidend waren letztlich die Ertragsziele und subjektiven Erwartungen der Bauern bezüglich der Erträge, Kosten und Risiken der alternativen Bewirtschaftungssysteme. Über diese Erwartungen sind, wie anfangs dieses Kapitels dargestellt, leider kaum Quellenbelege bekannt. Über das Innovationsverhalten der Grossbauern können deshalb keine allgemeinen Aussagen gemacht werden.
b) Die Interessen der Tauner und der übrigen Landleute Wahrend die Interessenlagen der Grossbauern nicht einfach aus deren Besitzverhältnissen folgten, scheint die Interessenlage bei denjenigen Landleuten eindeutig, die kein privates Zelg- oder Wiesenland besassen, aber dennoch über etwas Kleinvieh sowie formale Nutzungsrechte am allgemeinen Weidgang (oder auch nur die Duldung im Rahmen der Annenunterstützung) verfügten. Jene landlosen Tauner konnten mangels privaten Landes durch eine Abschaffung des kollektiven Weidgangs nichts gewinnen, aber die einzige Möglichkeit zum Unterhalt ihres Viehs verlieren. Somit ist zu erwarten, dass sie sich gegen jegliche Versuche zu einer Aufhebung der Weiderechte stellten. 33 Schliesslich ist auch der umgekehrte Fall denkbar: Wenn jemand kein Vieh besass, aber Zelgland, dann dürfte er an der Aufhebung des allgemeinen Weidgangs interessiert gewesen sein, da er ohnehin keinen Nutzen daraus zog, aber die Ansprüche der anderen auf seinem Land dulden musste.
schaftet werden. Dieses positive Bild wird durch den Bericht des Landvogts Scheuchzer aus der Herrschaft Regensberg gestützt: "Diese ganze Landschaft bringt ihren Einwohnern alles dasjenige hervor, was zu ihrem Unterhalt notwendig ist.", zit. in Wehrli-Keyser (1932:34). 33 In der Tat gibt es dafür empirische Evidenzen: Das helvetische "Gesetz über die Loskäuflichkeit von Weiderechten auf urbarem Boden" vom 4. April 1800 ermöglichte jedem Bauern den Loskauf der Weiderechte von seinem Boden (Weber, 1971: 210-212). Am 25. September des gleichen Jahres wurde mit der "Abänderung des Gesetzes über die Loskäuflichkeit der Weiderechte" ein neues Gesetz erlassen, welches die Bestimmungen des ersten ausser Kraft setzte, wenn "dadurch die häuslichen Umstände der bisherigen Weiderechtsbesitzer zerrüttet" wurden. Diese Abänderung war gemäss Lernmenmeier (1983: 144) erlassen worden, weil man soziale Spannungen befürchtete. Auch die schrittweise gesetzliche Aufhebung der Weiderechte durch die Luzerner Mediationsregierung führte bis in die 1820er Jahre hinein zu erheblichen Konflikten mit den dörflichen Unterschichten (ebd: 145). Siehe auch die Auseinandersetzung in den Zürcher Gemeinden Flurlingen um 1769-71 (Stiefel, 1944: 55) und Binzikon 1780 (Sigg, 1985: 31 ff.).
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Nicht so klar ist die Interessenlage bezüglich des allgemeinen Weidgangs bei denjenigen Kleinbauern, welche einen kleinen Anteil am Zelgland sowie einiges Kleinvieh - allenfalls auch eine Kuh - besassen, aber mangels ausreichenden Grundbesitzes oder Investitionskapitals (Stallbau) nicht über die Möglichkeit der Sommerstallfütterung oder der privaten Weide verfügten. Sie waren zwar einerseits zum Unterhalt des Viehs auf die Weide angewiesen, anderseits ist denkbar, dass dieselben Kleinbauern gleichzeitig an einer intensiveren Bewirtschaftung ihres spärlichen Zelglandes interessiert waren. Das konnte nur durch den Anbau der Brache, allenfalls durch Sonderkulturen in den übrigen ZeIgen erreicht werden. In dem Fall müssten sich die Kleinbauern aber für die Abschaffung des allgemeinen Weidgangs eingesetzt haben. Eine Lösung dieses Widerspruchs konnte in der selektiven Einschränkung des Weidgangs gelegen haben, in erster Linie durch die Aufhebung bloss der Brachweide, so dass die BrachzeIge individuell angebaut werden konnte. Eben diese Entwicklung ist tatsächlich mit der zunehmend anerkannten Attraktivität des Kartoffelanbaus ab der Mitte des 18. Jahrhundert in vielen Gemeinden festzustellen. Besonders in den Gebieten mit einer starken Heimindustrie erkannten innovative Kleinbauern vergleichsweise früh ihr vitales Interesse an der Anpflanzung des ertragreichen Produkts in der Brachzeige. Dies konnten sie in einigen Regionen offensichtlich auch zunehmend durchsetzen. 34 Die Brachweide wurde möglicherweise durch einen formalen Gemeindebeschluss abgeschafft; über diesbezügliche Entscheidungen liegen jedoch kaum quellenmässige Belege vor. Häufiger scheinen Einhegungen in den Zeigen - besonders in der BrachzeIge - nach und nach von einzelnen Ackerbesitzern vorgenommen worden sein, um Kartoffeln anzupflanzen. Damit wurde der Geltungsbereich der Dreizeigenordnung schrittweise zurückgedrängt. Die neuen Forschungen von Peter zur Entwicklung des Kartoffelanbaus im Kanton Zürich ergeben dazu viele aufschlussreiche Hinweise. 3s Es geht deutlich daraus hervor, dass Einhegungen oft das einzige Mittel waren,um Kartoffeln in die Brache zu setzen. Allerdings konnten die Kosten für das Zaunholz ein schwere Last für die Tauner sein: "Und drittens ist noch die grösste Hindemiss und Ursache, dass viele Hunden Viertel, nur in einer Gemeind, weniger Erdapfel gestekt werden, das Elende Zelg-Recht, weil alles auf der Brach gepflanzte sollte eingezäumt werden, ungeachtet man doch vast allenthalben Mangel an Holz hat. Viele arme Leüthe seüJzen darüber".36 Über die Verbreitung von Einhegungen in den Zeigen erfahren wir einiges aus den Akten von Zehntkonflikten, die um die Zehntpflicht der Kartoffeln entbrannt sind. So wird deutlich, dass im Knonauer Amt und im Zürcher Oberland schon vor 1760 das Pflanzen von Kartoffeln in die BrachzeIge weit verbreitet war. 37 Später dehnten sich die eingehegten Kartoffeläcker gar allmählich in 34 Für den Kanton Luzem wird dieser Befund von Lemmenmeier (1985: 157) bestätigt. Massgebend für den Kanton Zürich ist die Untersuchung von Peter (1996); siehe dazu auch die Ausführungen in Kapitel 6. 35 Peter (1996: 149 -154). 36 Schreiben Kaspar Jenta von Ettenhausen von 1780, zit. aus Peter (1996: 154).
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IV. Anreize zur Reform der DreizeIgenwirtschaft
die Sommer- und Winterzeigen aus. 1774 beispielsweise teilte der Zürcher Rechenrat der Gemeinde Maschwanden mit, "dass es nemlich gar nicht MnGnHH [Meiner Gnädigen Hohen Herren] Willensmeynung seye, diejenigen sonst Zehendbaren Stük und Güter; so in Zeigen und anderstwo mit Erdapfeln bepflanzt werden, [ ... ] des Xdens [Zehntens] zu entlassen". 38 In einem Bericht zum Kartoffelmandat von 1795 schliesslich wird festgestellt, dass" in Kappei, al/wo weder die beträchtlich vielen Erdapfeln in der Brach, noch in den Einschlägen [Einhegungen], sondern nur al/ein die in der Fruchtzelg verzehndet werden ".39 Sogar aus der Gemeinde Wil im ausgesprochenen Dreizeigengebiet bei Rafz ist wegen eines Zehntstreits von 1786 bekannt, dass dort die Kartoffeln in die Sommerzeige gepflanzt wurden. 40 Besonders eindrücklich wird der Zerfall der ZeIgenordnung in einigen Gemeinden des Zürcher Oberlands sichtbar. So betonte 1762 der Zürcher Rechenrat, dass die Kartoffelpflanzer der Gemeinde Tann den Zehnten auf Kartoffeln in der Kom- und Haberzeige (Winter- bzw. Sommerzeige) entrichten müssten, womit diese offenbar ausgeübte Praxis implizit bestätigt wurde.41 Die Brachfelder der Gemeinden Tann, Ober- und Unterdümten - die ja nach der traditionellen ZeIgenordnung gar keine Frucht tragen sollten - wurden dagegen in den Jahren 1762 bzw.1768 explizit vom Zehnten befreit. In Tann war die Brachzeige schon lange vor 1760 mit Hülsenfrüchten und Kartoffeln bepflanzt worden, da genügend Weiden und Wiesen für das Vieh vorhanden waren. c) Die Interessen der Zehntherren
Wir gelangen zur Diskussion der Interessenlage der Zehntherren. Sie scheint bei genauer Betrachtung wie diejenige der Grossbauern nicht eindeutig. Die Zustimmung der Zehntbesitzer zur Aufhebung des allgemeinen Weidgangs, sei es durch Einhegungen oder durch einen kollektiven Aufhebungsbeschluss der Gemeinde auf den Zeigen, hing von den Erwartungen der Zehntherren über die (langfristigen) Folgen der Weidgangaufhebung ab. Je nach deren theoretischen Vorstellungen über die agrartechnischen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge konnten sie eine Steigerung oder eine Beeinträchtigung ihrer Zehnterträge erwarten. Falls sie selbst oder ihnen bekannte Zehntherren mit Weidgangaufhebungen bereits Erfahrungen gemacht hatten, bestand die Möglichkeit, ihre Vorstellungen auf Grund empirischer Daten zu überprüfen. Da über die Einnahmen in der Regel genau Buch geführt wurde, war man grundsätzlich in der Lage, die Folgen von bereits durch37 Kartoffelpflanzungen in zehntpflichtigen Wiesen und Äckern in den 1750er Jahren sind gemäss Peter (1996: 32-47) bezeugt in den Gemeinden Fischenthai (1750), Wald (1751), Wila und Sternenberg (1758), Rüti (1759) sowie im Amt KappeI (1755). 38 Peter (1996: 46). 39 Peter (1996: 46, 62). 40 Peter (1996: 67). 41 Peter (1996: 49-50).
3. Anreize zur Abschaffung des gemeinen Weidgangs
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geführten Weidgangautbebungen auf die Zehnteinkommen abzuschätzen - man brauchte bloss die entsprechenden Zahlen zusammenzusteHen. Heute wissen wir, dass der mit der Autbebung des Weidgangs mögliche Übergang zur Wechselwirtschaft oder zur verbesserten Dreizeigenwirtschaft durchaus zu einer Steigerung der Produktivität in der Getreidewirtschaft führte. 42 Damit müssten auch die Getreidezehnten gestiegen sein, womit natürlich die Zustimmung der Zehntherren zu erwarten wäre. AHerdings wurde es mit der Autbebung des allgemeinen Weidgangs eher möglich, dass die Landleute den Getreideanbau auf ihren Äckern durch andere Nutzpflanzen wie Kunstgras, Gemüse oder Kartoffeln ersetzten. Diese alternativen Nutzpflanzen unterstanden zwar ebenfalls der Zehntpflicht, die Abgaben wurden aber teilweise wegen grösserer Schwierigkeiten beim Transport und bei der Konservierung von den Zehntherren weniger geschätzt. Somit war trotz der Produktivitätsgewinne insgesamt ein wertmässiger Verlust an Zehnteinnahmen möglich; die Erwartungsbildung bezüglich des Nettoeffektes der Weidgangautbebung auf die wertmässigen Zehnteinnahmen erwies sich aber sicherlich als sehr komplex. Zu berücksichtigen waren die Fragen, in welchem Ausrnass die Bauern nach der Weidgangautbebung am Getreidebau festhalten würden, auf welche alternativen Produkte sie allenfalls umsteigen würden, und wie sich die Produktivität und die relativen Preise aller Produkte langfristig entwickeln würden. Wesentlich entschärft wird die Schwierigkeit dieses Prognoseproblems allerdings durch die Überlegung, dass die Interessen der Bauern und diejenigen der Zehntherren in der Tendenz gleichgerichtet waren: Beide Parteien zogen aus dem Anbau der produktivsten und wertvoHsten Produkte den höchsten Gewinn. Ein Blick in historische Untersuchungen zeigt, dass sich die Einnahmen des Zürcher Staates an Getreidezehnten von 1710 bis 1780 in einem leicht sinkenden Trend befanden, um dann bis zum Ende des Jahrhunderts zu stagnieren. Dafür nahmen im gleichen Zeitraum die Einnahmen an Ackerbohnen und später sicherlich auch an Kartoffeln markant ZU.43 Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass der Getreidebau in geringem Ausrnass durch alternative Produkte ersetzt wurde, welche für die Ernährung der Bevölkerung eine immer grössere Bedeutung einnahmen. Es kann aber auf Grund des vorliegenden Untersuchungsstandes nicht beurteilt werden, in welchem wertmässigen Verhältnis die Zunahme der Bohnen-, Kartoffel- und Heuzehnten unter Berücksichtigung der Einzugs-, Transport- und Aufbewahrungskosten zum Rückgang des Getreidezehntens standen. Zudem kann kaum abgeschätzt werden, wie sich die Getreidezehnten ohne eine Reform der Dreizeigenwirtschaft entwickelt hätten, da ihre tatsächlich leicht rückläufige Entwicklung sicherlich auch durch andere Einflüsse wie klimatische Veränderungen und die Zunahme der Heimindustrie beeinflusst wurde.
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Siehe Kapitel 111.3. Pfister (1984: 77 - 79).
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IV. Anreize zur Refonn der DreizeIgenwirtschaft
Entscheidend für die Zustimmung oder Ablehnung der Weidgangautbebung durch die Zehntbesitzer war also deren Erwartung, in weIchem Ausrnass die Bauern vom Getreideanbau auf andere Produkte umsteigen und ob diese Produkte zusammen mit den Produktivitätsgewinnen beim verbleibenden Getreideanbau den möglichen Verlust ausgleichen würden. Falls nach einer Weidgangautbebung ein Umsteigen der Bauern auf andere Nutzpflanzen nicht zu verhindern war, musste zumindest das Anliegen der Zehntherren im Vordergrund stehen, dass sie ihre Ansprüche auch auf diesen neuen Produkten durchsetzen konnten. Dazu waren sie auf die Unterstützung der Regierung angewiesen. In der Tat war auch dies mit verschiedenen Unsicherheiten verbunden, denn die Bauern versuchten immer wieder, sich mit verschiedenen Argumenten durch die Umstellung der Produkte aus der Zehntpflicht zu stehlen. 44 In diesem Fall waren aus der Sicht der Zehntbesitzer eine KlarsteIlung und die Durchsetzung der Rechtslage durch die Regierung notwendig, auf die nicht immer problemlos vertraut werden konnte. Auch wenn die Zehntpflicht an sich unbestritten war, konnte schliesslich die Frage des Zehnteinzugs Probleme aufwerfen. Mit der Aufgabe der einheitlichen ZeIgenordnung, besonders durch Einhegungen, wurde der Einzug der Abgaben grundsätzlich unübersichtlicher und aufwendiger. Unter Umständen mussten nun verschiedene Produkte, verstreut auf die Ackerflur, zu verschiedenen Zeiten eingezogen werden. Es ist zu erwarten, dass man deswegen mit vermehrten Betrügereien konfrontiert war und den Kontrollaufwand erhöhen musste. Huggel berichtet aus Basel, dass es Ende des 18. Jahrhunderts für kleinere Zehntherren tatsächlich schwieriger geworden war, ihre Zehnten zu verleihen, da das Einsammeln der Abgaben wegen der fortgeschrittenen Einhegungen höhere Kosten verursachte. 4s Dem entspricht die im Jahr 1792 in einem obrigkeitlichen Gutachten zum Kartoffelzehnten in den Zürcher Gemeinden Tann, Ober- und Unterdürnten geäusserte Klage, dass die Bewirtschaftung in den ZeIgen "auch durch Gemüss und Erdäpfel Pflanzungen in dieser und jener Zelg und in den Einschlägen selber vermischt ( ... ) so dass keine bestimmte Brachzelg mehr allda ausfündig zu machen ist - folglich auf die Einteilung der Zeigen, besonders in Bezug des Erdapfel Zehendens kein sicheres Fundament zu machen ist. ,,46 Insgesamt kann also festgehalten werden, dass die Entwicklung der Zehnteinnahmen nach der Weidgangautbebung nur mit erhöhten Unsicherheiten abgeschätzt werden konnte. Diesen Unsicherheiten standen jedoch ein zu erwartender Anstieg der Produktivität der Landwirtschaft und damit höhere Zehntsummen gegenüber. Die Befürwortung oder Ablehnung dieser Refonnmassnahme durch die Zehntbesitzer hing somit neben ihren in die Erwartungsbildung einfliessenden Theorien und Annahmen über die wirtschaftlichen Zusammenhänge auch von ihrer grundsätzlichen Bereitschaft zur Übernahme von Risiken ab. Wie sich die Zehntbesitzer schliesslich zu einer 44 Peter (1996) stellt zahlreiche Beispiele von solchen Zehntstreitigkeiten dar, die durch den Anbau der Kartoffel entstanden. Huggel (1979: 21). 46 Zitiert aus Peter (1996: 69).
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3. Anreize zur Abschaffung des gemeinen Weidgangs
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Weidgangaufhebung stellen würden, kann deshalb nicht eindeutig abgeleitet werden.
d) Die Interessen der Regierung Die Interessen der Zürcher Regierung an der Aufhebung des Weidgangs decken sich weitgehend mit ihren Interessen als grösste Zehntherrin im Kanton. Entscheidend waren somit ihre Risikobereitschaft sowie ihre Einschätzung der durch diese Massnahme zu erwartenden Produktivitätsgewinne, der Umstellungsbereitschaft der Bauern auf alternative Produkte, der Durchsetzbarkeit der Zehntpflicht auf diesen Produkten sowie ihrer subjektiven Wertschätzung von alternativen Zehntabgaben. Zusätzlich zu den Interessen als Zehntherrin dürfte die Regierung noch weitere Überlegungen in ihr Kalkül miteinbezogen haben. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts nahm die Heimindustrie, gefördert und getragen von den städtischen Eliten, immer grössere Ausrnasse an. 1787 arbeiteten rund 50 000 Heimarbeiter - das entsprach fast einem Drittel der Kantonsbevölkerung - als Spinner oder Weber in der Textilindustrie47 , die sich auf weite Teile der Zürcher Landschaft ausgebreitet hatte. Mit dieser Entwicklung einher ging ein starkes Wachstum der Bevölkerung von rund 115000 im Jahr 1700 auf 165 000 im Jahr 1762 und 177000 im Jahr 1792, deren Versorgung durch Nahrungsmittel sichergestellt werden musste. 48 Das war in Normaljahren möglich, da aus den ausgesprochenen Getreidegebieten des benachbarten süddeutschen Raumes gros se Mengen Getreide - SChätzungen49 belaufen sich auf bis zu 40% des jährlichen Bedarfs - importiert werden konnten. 1770/71 wurde die ganze Schweiz jedoch von einer verheerenden Versorgungskrise getroffen, welche durch eine hartnäckige Konjunkturschwäche der Textilindustrie sowie eine gleichzeitige Missernte, begleitet von einer vollständigen Kornsperre des Auslands, verursacht wurde. 5o Spätestens diese schmerzhafte Erfahrung machte deutlich, dass die Versorgungssicherheit der stark angewachsenen ländlichen Unterschichten prekär geworden war. Dieser Zustand konnte als eine Gefahr für die Stabilität der herrschaftlichen Ordnung im Staate angesehen werden. Zudem ist festzuhalten, dass die Armut unter der Landbevölkerung den patriarchalischen Staatsoberhäuptern nicht unbedingt gleichgültig war. Die Regierung musste also ein grosses Interesse daran haben, die inländische Nahrungsmittelproduktion durch eine gesamthafte Steigerung der Produktivität des nicht vermehrbaren Landes zu verbessern. Doch wie? Auch zu dieser Frage erhält die Einschätzung der möglichen Produktivitätsgewinne verschiedener Bewirtschaftungssysteme, diesDändliker (1912, Bd. 3: 59). Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 2 (1996: 87). Die Entwicklung der Bevölkerung erfolgte regional sehr unterschiedlich. Besonders stark wuchs sie in den protoindustrialisierten Gebieten um den Zürichsee und im Oberland sowie in der Nähe der Städte Zürich und Winterthur. 49 Pfister (1992: 414) und Pfister (1984: 58 f.). so Mattmüller (1982), Mattmüller (1983), Pfister (1984), Giger-Eschke (1985). 47
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IV. Anreize zur Refonn der DreizeIgenwirtschaft
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mal durch die Regierung, eine zentrale Bedeutung - und dazu war natürlich die Expertenmeinung der Zürcher Ökonomen gefragt. 51 Es ging dabei aber nicht nur um den engen Blick auf die Zehnteinnahmen, sondern auch um die Produktion von Nahrungsmitteln für die Versorgung der gesamten Bevölkerung. Es wird insgesamt deutlich, dass sich die Interessen der betroffenen Akteure für oder gegen die Aufhebung des Weidgangs keineswegs einheitlich ausbildeten. Eindeutig scheint die Situation lediglich für die sicher nicht grosse Gruppe derjenigen Landleute, welche zwar über Vieh und Nutzungsrechte, aber kein weidgangpflichtiges Acker- oder Wiesenland verfügten - sie mussten aus ökonomischem Kalkül gegen die Aufhebung sein. Allgemeine Aussagen über die Interessenlage aller übrigen Akteure können ohne präzise Kenntnis der von Fall zu Fall spezifischen Umstände und subjektiven Erwartungen nicht formuliert werden. Dieser Befund scheint mit den wenigen diesbezüglichen historischen Beobachtungen im Kanton Zürich kompatibel. Der Weidgang wurde einerseits erst zum Problem und möglichen Streitgegenstand, als sich einzelne Bauern und Tauner als innovativ erwiesen und aus der herkömmlichen Dreizeigenordnung ausbrechen wollten. In denjenigen Regionen und Gemeinden, wo sich die Überzeugung aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen bei den Entscheidungsträgern durchgesetzt hatte, dass innovative Strategien wie eine Intensivierung des Wiesenbaus und der Anbau der Brache vorteilhaft waren, ist er früher zu beobachten. 52 Anderseits wurde die Abschaffung des allgemeinen Weidgangs in der städtischen Gesellschaft erst zum Thema, als sich ein Kreis von Reformern - die Ökonomen - für die Frage landwirtschaftlicher Innovationen zu interessieren begann. Die Meinungsbildungsprozesse, die innerhalb der ländlichen Bevölkerung in der einen oder anderen Weise zu Antworten auf die hier gestellten Fragen geführt hatten, bleiben uns leider wegen der schlechten Quellenlage weitgehend verborgen. Rekonstruiert werden kann nur das tatsächliche Verhalten der Landleute - und auch das nur in den günstigsten Fällen. Die Erwartungsbildung innerhalb der Zürcher Regierung bzw. der Naturforschenden Gesellschaft, die zu einer Neueinschätzung der Lage geführt hatte, ist aber auf Grund der Quellenlage etwas besser zugänglich; sie wird im siebten Kapitel näher untersucht werden.
Siehe Kapitel VI. Die Gründe für frühe Weidgangabschaffungen lassen sich mitunter aus der Beobachterperspektive auf wirtschaftliche Anreize zurückführen, allerdings ohne dass diese wirklich quellenmässig belegt werden könnten. Wehrli-Keyser (1932: 15) berichtet beispielsweise, dass im Sihlfeld in unmittelbarer Nähe der Stadt Zürich die Brach- und Stoppelweide bereits im Jahr 1692 abgeschafft wurde. Dort dürfte die städtische Nachfrage das Anpflanzen alternativer Feldfrüchte in den ZeIgen, vor allem von Gemüse, attraktiv gemacht haben. Ebenso wurde der allgemeine Weidgang auf den ZeIgen schon sehr früh in einigen Oberländer Gemeinden abgeschafft oder durch Einhegungen eingeschränkt (Peter, 1996: 50). Dies ist wohl im Zusammenhang mit der dort sehr früh verbreiteten Heimindustrie zu sehen, die entsprechende Anpassungen der zunehmend im Nebenerwerb betriebenen Landwirtschaft lohnend machte. 51
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4. Anreize zur Autbebung der Allmenden
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4. Anreize zur Aufhebung der Allmenden Die Verteilung der Allmenden war neben der Aufhebung des allgemeinen Weidgangs der zweite grosse Eingriff in die überlieferte institutionelle Ordnung der DreizeIgenwirtschaft, den die Zürcher Ökonomen auf ihr Programm gesetzt hatten. Es ist grundsätzlich zwischen zwei Formen von Allmendaufteilungen zu unterscheiden. Erstens war spätestens seit dem 16. Jahrhundert ein Prozess im Gang, der zu einer schrittweisen Verkleinerung der Allmenden führte. 53 Im Rahmen der schon angesprochenen Armenfürsorge waren besonders in Notzeiten häufig kleinere Teile der Allmend Bedürftigen zur Nutzung überlassen worden. Diese Landstücke mussten zum Schutz vor dem weidenden Vieh eingehegt werden; sie konnten, da sie nicht in den ZeIgen lagen, frei vom Flurzwang bewirtschaftet werden. Häufig gingen solche ausschliesslich als Notmassnahmen gestatteten Sondernutzungen allmählich und unbemerkt in individuelles Eigentum über, so dass die ursprüngliche Allmend schrittweise verkleinert wurde. 54 Wahrend der grossen Versorgungskrise von 1770/71 wurde diese Variante der vorübergehenden und partiellen Allmendverteilung an Unterstützungsbedürftige von den Ökonomen energisch gefordert und durch die Regierung unterstützt. 55 Offensichtlich handelte es sich dabei nicht um eine besonders innovative Politik der Ökonomen, sondern bloss um die Wiederaufnahme einer bewährten Notstandsmassnahme. Davon abzugrenzen ist die zweite Form der Allmendteilungen, nämlich die formelle Aufhebung der ganzen Allmend oder von grösseren Teilen davon, um sie an die bisherigen Nutzungsberechtigten nach Massgabe ihrer durch die Gerechtigkeiten geregelten Ansprüche entweder zur vorübergehenden privaten Nutzung für einige Jahre oder, was eher selten vorkam, zu unbeschränktem privatem Eigentum zu verteilen. Dazu musste die Allmend vermessen, geschätzt, in gleichwertige Stücke aufgeteilt und - häufig durch das Los - den Nutzungsberechtigten zugeteilt werden. Auch diese Massnahme, und das ist neu in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wurde von den Ökonomen und der Regierung gefordert und tatkräftig unterstützt. 56 Die Überzeugung gehörte zu ihrem Reformprogramm, dass die Weide auf der Allmend einer Landverschwendung gleichkomme, da der Boden durch eine individuelle Nutzung intensiver und ertragreicher bewirtschaftet werden könnte. Diese zweite Form der Allmendaufhebung lässt sich historisch besser beleSigg (1974). Brühwiler (1975: 134), Pfister (1984: 50,99), Wicki (1979: 206). 55 Die Ökonomen verlangten von den hablichen Bauern auch, sie sollten Land, das sie nicht selbst bebauen konnten, den Armen zur vorübergehenden Bewirtschaftung überlassen (Sammlung der bürgerlichen Gesetze, 5. Bd., 1779, S. 231-36). Pfister (1992: 450 f.) ist der Meinung, dass es sich dabei häufig um marginale Böden handelte, die nur mit grossen Arbeitsaufwand ertragreich bewirtschaftet werden konnten, meist durch den Anbau von Kartoffeln. Nach der Versorgungskrise seien besonders in den stark protoindustrialisierten Gebieten viele von diesen so gewonnenen Äckern wieder aufgegeben worden. Diese Sicht wird durch einige Befunde Peters (1996) bestätigt. 56 Siehe Kapitel VI. 53
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IV. Anreize zur Refonn der Dreizeigenwirtschaft
gen als die erste, weil sich über diese Frage mitunter besonders heftige innerdörfliche Konflikte entwickelten, die in den Akten der Naturforschenden Gesellschaft verhältnismässig gut dokumentiert sind. Trotzdem muss betont werden, dass leider über diejenigen Allmendteilungen, welche nicht konfliktiv abgewickelt werden konnten, kaum etwas bekannt ist. Besonders am See und in den tiefer gelegenen Gebieten des Zürcher Oberlands dürfte es zu zahlreichen Teilungen gekommen sein, über die wir nichts wissen. Vermutlich hatte man sich dort einfach ohne grosses Aufhebens an der Gemeindeversammlung einigen können. 57 a) Die Interessen der Tauner Die ökonomische Interessenlage der verschiedenen dörflichen Gruppen ist hauptsächlich durch die effektive Möglichkeit der Allmendnutzung determiniert. Wenn jemand viel Vieh und die entsprechenden Gerechtigkeiten besass, konnte er durchaus einen Nutzen aus der Allmend ziehen. Wer ebenfalls über die entsprechenden Nutzungsrechte verfügte, jedoch kein Vieh besass, zog aus der Allmend praktisch keinen Vorteil. Dagegen war er auf Grund seines Gerechtigkeitsbesitzes zu gemeinschaftlichen Leistungen (Fronarbeit, verschiedene Unterhaltspflichten) verpflichtet - eine äusserst unattraktive Situation, die durch eine Verteilung der Allmend beseitigt werden konnte. Entscheidend ist also die Frage des Viehbesitzes und der Nutzungsrechte. Wer besass überhaupt Vieh, das er auf die Allmend treiben konnte? In den meisten Gemeinden war der Umfang des Allmendnutzungsrechts an den Besitz von Privatland gebunden: Ein nutzungsberechtigter Bürger durfte nur soviel Vieh im Sommer auf die Allmend lassen, als er mit auf dem eigenen Land gewonnenem Futter überwintern konnte. Durch diese Regel wurden eindeutig die Grossbauern bevorteilt, da viele Kleinbauern schlicht nicht genügend Land besassen, um damit eine Kuh überwintern zu können. Sie mussten auf ihr Allmendrecht faktisch verzichten, womit den Grossbauern ein um so grösserer Anteil zur Verfügung stand. Aber auch wenn diese Regelung nicht bestand, waren die Kleinbauern meist im Nachteil. Theoretisch konnte man zwar Vieh im Frühjahr kaufen, über den Sommer auf der Weide mästen und im Herbst wieder verkaufen. Doch dafür musste man über genügend Investitionskapital verfügen, um erstens überhaupt Vieh kaufen und zweitens das Risiko des Verlustes durch Krankheiten und Seuchen tragen zu können. Dieses Kapital be sassen die Tauner in der Regel nicht. Somit scheint klar, dass die nutzungsberechtigten Kleinbauern ohne Viehbesitz auf jeden Fall an einer Aufteilung der Allmenden zu Eigentum interessiert sein mussten. Wenn sie noch freie Arbeitskapazitäten hatten, konnten sie diese auf dem so vergrösserten Landbesitz ertragbringend einsetzen und somit ihren Wohlstand steigern. Falls sie durch die Bewirtschaftung ihres bisherigen Landes oder wegen einer protoindustriellen oder gewerblichen Nebenbeschäftigung schon voll ausgelastet waren, 57
Siehe Pfister (1992: 458) und Weber (1971: 199).
4. Anreize zur Aufhebung der Allmenden
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konnten sie das dazugewonnene Allmendland verkaufen oder verpachten. Deshalb verlangten sie auch meist eine Verteilung zu Eigentum und nicht nur zur individuellen Nutzung. 58 Es erstaunt somit nicht, dass die Kleinbauern regelmässig zu den Initiatoren und Befürwortern von Allmendaufteilungen im 18. Jahrhundert gehörten. 59
b) Die Interessen der Grossbauern Umgekehrt befinden sich die Grossbauern bei den bekannten Allmendkonflikten mehrheitlich auf der Seite der Gegner einer Verteilung. Diese Haltung scheint vorerst leicht erklärbar, da sie ja durch die Viehweide einen überdurchschnittlichen Nutzen aus den Allmenden ziehen konnten. Allerdings war die Weidenutzung auch für die Grossbauern nicht in jedem Fall die wirtschaftlich optimale Verwendung der Allmend. Es gehörte ja gerade zu den Kernpunkten des Reformprogramms der Zürcher Ökonomen, dass sie die Viehweide aufheben, das Vieh während des Sommers in den Ställen füttern und die Weiden in ertragreichere Kunstwiesen und Äcker verwandeln wollten. Somit bestand aus ihrer Sicht für alle Landleute eine bessere Verwendungsmöglichkeit der Allmenden. Innovative Grossbauern, welche die Sommerstallfütterung einführten, mussten somit an einer Aufteilung der Allmend zur Vergrösserung ihres Wiesenbestandes interessiert sein. Es kommt also wie schon bei der Aufhebung des allgemeinen Weidgangs für die Grossbauern darauf an, ob sie eine innovative oder eine traditionelle Strategie der Bewirtschaftung wählten je nachdem mussten sie zu den Befürwortern oder Gegnern der Allmendteilungen gehören. Diese Wahlmöglichkeit könnte eine Erklärung dafür liefern, dass offensichtlich in zahlreichen Gemeinden am See60 und im Oberland Allmendteilungen möglich waren, ohne dass grössere Konflikte aktenkundig wurden. Vielleicht hatten dort schon mehr Bauern auf die Sommerstallfütterung umgestellt, so dass sie nicht mehr auf die Allmendweide angewiesen waren und folglich auch nichts gegen eine Aufteilung einzuwenden hatten. Zudem könnten die dort besonders zahlreichen kleinbäuerlichen Heimarbeiter mit grösserer Kraft auf eine Verteilung gedrängt haben, um wenigstens ein kleines Stück Land als Nebenbeschäftigung bearbeiten zu können. Pfister verweist zudem auf den Umstand, dass in den besagten Gebieten die Allmenden eine geringere wirtschaftliche Bedeutung gehabt hätten und somit vermutlich auch weniger umstritten gewesen seien. 61 Leider finden sich aber aus Kunz (1948), Weber (1971: 188-238). Diese Konstellation wird durch zahlreiche bekannte Fälle immer wieder bestätigt: Siehe zum Beispiel die besonders gut untersuchten Konflikte in Hausen-Heisch 1770 (Pfister, 1992: 460 - 465), BrüUen 1770171, Affoltern 1771, Nänikon 1774 (Kunz, 1948: 97 - 107), Wiedikon 1798, Gossau 1798, Niederglatt-Nöschikon 1801 (Weber, 1971: 196-210), Binzikon 1794-98 (Sigg, 1985: 31), sowie in zahlreichen Luzerner Gemeinden (Lemmenmeier, 1985). 60 Bekannt, aber kaum dokumentiert sind die Allmendaufteilungen von Zollikon in den 1770er Jahren, Stäfa 1791, Zell 1770-1787. 61 Pfister (1992: 443). 58 59
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IV. Anreize zur Reform der Dreizeigenwirtschaft
den erwähnten Gründen keine Belege, mit denen diese Vermutungen überprüft werden könnten. In den Quellen sichtbar werden die Vorstellungen und Wünsche der Grossbauern und Tauner nur, wenn es zu schweren Konflikten kam. Die Argumentation für oder gegen die Allmendteilungen hing also für die Grossbauern zumindest vordergründig von der Frage ab, ob der Übergang zur Sommerstallfütterung die grundsätzlich überlegene Agrartechnik war oder nicht. Hätte dies zugetroffen, wäre die Allmendweide nur noch ein alter Zopf gewesen, der endlich abgeschnitten werden musste. Genau so argumentierten die Ökonomen, welche die gegensätzliche Meinung vieler Bauern schlicht und einfach als altbäuerliche Sturheit und überholten Traditionalismus abtaten. 62 So einfach war die Sache aber wohl doch nicht. Obwohl die ertragssteigernde Wirkung des Übergangs zur Sommerstallfütterung und generell der Privatisierung des Landeigentums aus heutiger Sicht unbestritten ist, dürfte die Allmendteilung in gewissen Fällen zumindest kurzfristig durchaus auch Verlierer hervorgebracht haben. Jedenfalls waren die Grossbauern zu weitreichenden Anpassungen ihrer Wirtschaft gezwungen, wenn die extensive Allmendweide wegfiel. So mussten sie auf ihrem nun vergrösserten Landbesitz intensiv bewirtschaftete Futterwiesen für ihr Vieh anlegen und evt. Anpassungen an den Stallbauten vornehmen. Dies erforderte ein bestimmtes Know-how, Risikobereitschaft, Investitionskapital und vermutlich auch zusätzliche Arbeitskapazität63 , die besonders in Gegenden mit einer starken Verbreitung der Heimindustrie nicht unbedingt problemlos zur Hand war. Diese Umstellungen mögen zwar längerfristig durchaus ertragsteigernd gewesen sein. Damit ist aber noch nicht garantiert, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Allmendteilung auch dem subjektiv empfundenen Interesse der Mehrzahl der Bauern entsprachen. Die Rolle des musterhaften Agrarpioniers war wohl nicht jedermanns Sache. Zudem ist zweifelhaft, ob sich die Allmend in allen Fällen für den Anbau von Futterwiesen und Äckern tatsächlich eignete. Falls eine Intensivierung aus agrartechnischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht lohnend oder möglich war, machte die Allmendteilung für die Grossbauern keinen Sinn. Schliesslich mag ein weiteres Kalkül der Grossbauern eine Rolle gespielt haben. Aufschlussreich ist ein Zitat von Salomon Landolt, der sich als Landvogt von Greifensee in den 1780er Jahren intensiv um die Allmendteilungen bemühte. Er beklagte den "vielen Widerstand in den Sitten eines Volks, [ ... } wo wenig reiche Bauren die armen Tauner drucken, und aus Neid solchen einen Zuwachs von Gütern durch Vertheilung der Gemeindgüter zu verwehren suchten, weil sie es für sich für einen Raub ansehen, dass sie in Verhältnis gegen die Tauner weniger Nutzen nach der Vertheilung bezogen, als sei bey dem Besitz des Weidganges hatten".64 Schmidt (1932: 71-72, 154). Der erhöhte Arbeitsaufwand wird in dem Memorial der Teilungsgegner von HausenHeisch zumindest implizit angesprochen (Pfister, 1992: 461). Ebenso beim Bauerngespräch mit Vertretern der Gemeinde Mönchaltorf im Jahr 1774 (Pfister, 1992: 454). 64 Zit. aus Pfister (1992: 455 - 456). 62 63
4. Anreize zur Aufhebung der Allmenden
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Was stand hinter dem ,,Neid" der Bauern gegenüber ihren verarmten Dorfgenossen? Der Tauner Rudolf Bereuter von Unter-Illnau gibt eine Erklärung in seinem Antwortschreiben an die Ökonomische Kommission von 1780. Er gehörte zu den Pionieren, die in seiner Gemeinde als erste Kartoffeln angepflanzt hatten, worauf er unliebsame Erfahrungen mit den Grossbauern machen musste: "... ich mus aber sagen, das ich so in einen Verhass gekommen bin von den Buren, das si mir immer Leid gethan, was si nur haten können, ich kan es nur nicht genug beschreiben, si sagen es seie in unser Gemeind Niemand die Schuld weder ich, dass so viele Erdöpfel gepjlanzet werden und das si müssen mit der Frucht auf den Märkt fahren si haben si können vordem in dem Haus verkauften. ,,65 Eine wirtschaftliche Stärkung der Tauner konnte nicht nur die klientelistische Vorzugsstellung der Grossbauern im Dorf gefahrden 66 , sondern verringerte unmittelbar die lokale Nachfrage nach deren Produkten. Das machte zusätzliche Verkaufsanstrengungen und höhere Transportkosten der Bauern erforderlich. Selbstverständlich folgte die Argumentation sowohl der Grossbauern wie auch der Tauner gegenüber der obrigkeitlichen Teilungskommission strategischen Überlegungen und muss deshalb mit der nötigen Vorsicht gelesen werden. Wie berechtigt die wirtschaftlichen Einwände der Grossbauern in den einzelnen Konfliktfällen waren, lässt sich heute nicht abschliessend beurteilen. Wichtig ist nur festzuhalten, dass deren durch die Refonnen zu erzielenden Gewinne kaum in allen Fällen von vornherein so klar und eindeutig waren, wie sie die Ökonomen gerne darstellten. 67 Wenn sich die Allmendteilungen und die Sommerstallfütterung nur langsam durchsetzten, ist dies am ehesten als Beleg dafür zu deuten, dass der gegenüber den zurückhaltenden Bauern geäusserte Vorwurf des dumpfen Traditionalismus wohl genauso daneben zielte wie die fixe Überzeugung der Ökonomen, das Heil der Landwirtschaft sei in jedem Fall in den vorgeschlagenen Refonnen zu suchen gewesen. Zentral für das Verhalten der Bauern war letztlich die wirtschaftliche Strategie, für die sie sich entschieden. Diese Entscheidung hing einerseits von der Ressourcenausstattung und den politischen und sozialen Handlungsspielräumen ab, anderseits aber von den Theorien und Erwartungen, welche sich die Bauern zur Wahrnehmung und Evaluation ihrer Optionen zurechtlegten. Offensichtlich waren für viele 65 Zit. aus Peter (1996: 144). Die Aussage Bereuters wird durch zwei weitere Tauner aus seinem Dorf, Hans Georg Morf und Melchior Steinbrüchel, bestätigt. 66 Schmidt (1932, 87). 67 Die Ökonomen bemühten sich zum Beispiel durch das Verfassen von Abhandlungen, die Bauern zur Trockenlegung von Riedern, welche nur als Allmendland zu nutzen waren, anzuregen. Häufig beklagten sie deren Verwahrlosung ... Gewiss ist dennoch immer, dass an den Gemeindegütern zu wenig gearbeitet wird, weswegen sie auch durch ihre Unfruchtbarkeit und traurigen Anblick jedem Vorbeigehnden, ohne dass er zujragen nöthig hätte, zeigen, dass sie Gemeindegüter sind" (Anleitung über die Austrocknung allzunasser Güter, 1776, S. 23, zit. in Stiefel, 1944: 66). Häufig dürfte aber eine Verbesserung des feuchten Landes aus der Sicht der Dorfleute die Arbeit schlicht nicht gelohnt haben. So schlug etwa der Pfarrer von Pfäffikon nach einer eingehenden Diskussion von Verbesserungsmöglichkeiten des dortigen Riedes 1772 vor, dasselbe vor allem als Weide zu benützen (ebd.).
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IV. Anreize zur Refonn der Dreizeigenwirtschaft
Bauern die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen noch lange sowohl mit der traditionellen wie auch mit der innovativen Strategie kompatibel, sonst hätte sich die Sommerstallfütterung schneller durchsetzen müssen.
c) Die Interessen der Zehntherren und der Regierung
Aus der Sicht der Zehntbesitzer scheint die Befürwortung der Allmendaufteilung eindeutig. Einerseits fiel die nicht zehntpflichtige Allmendweide nach der Verteilung generell unter die Zehntpflicht, sobald sie mit Feldfrüchten bebaut wurde. Anderseits mussten auch die Zehnterträge auf dem bisherigen Ackerland steigen, wenn nach der Allmendverteilung die Viehbestände und damit der Düngeranfall tatsächlich erhöht werden konnten. Dies wurde zwar von den Grossbauern den wichtigsten Zehntlieferanten - häufig bestritten, die ihre alten Weiderechte auf der Allmend verteidigen und die traditionelle Bewirtschaftungspraxis bewahren wollten. Von den Vorteilen der neuen Landwirtschaft waren jedoch die Zürcher Ökonomen mit guten Gründen überzeugt, und wenn die Zehntherren ihnen Glauben schenkten, sprach überhaupt nichts gegen die Allmendaufteilung. Doch auch wenn sie in bezug auf den zweiten Aspekt skeptisch gewesen sein sollten, dürfte der Zuwachs an zehntpflichtigem Land allein ein ausreichendes Argument für die Unterstützung der Verteilung gewesen sein. Damit war auch schon ein bedeutender Anreiz für die Unterstützung der Allmendteilungen durch die Zürcher Regierung gegeben, da sie ja die grösste Zehntherrin im Kanton war. Ein weiteres wichtiges Argument, das aus der Sicht der Regierung für die Aufteilung sprach, war das traditionelle Anliegen der Armenunterstützung. Es ist kaum zuflillig, dass fast alle bekannten (konfliktiven) Allmendteilungen auf die Jahre 1770/71 zurückgehen, die beiden schwersten Krisenjahre des 18. Jahrhunderts. 68 Während dieser Hungerkrise bot sich die Allmendteilung als Mittel zur Intensivierung des Landbaus geradezu an, um zugleich ökonomische, soziale und letztlich herrschaftssichernde Ziele der Regierung zu erreichen. 69 Die beiden eingangs scharf unterschiedenen Ziele und Praktiken der Allmendteilung fielen in dieser Zeit zusammen und lösten einen regelrechten Teilungsschub aus. Die Teilungsinitiativen der Unterschichten fanden unerwartete Unterstützung durch die Obrigkeit, welche sich ihrerseits die Begehren dieses breiten Bevölkerungsteils für ihr Anliegen der Agrarreform zu Nutze machte. 68 Pfister (1984). Vor 1770 sind kaum Allmendteilungen bekannt. Es ist aber nicht auszuschliessen, das dies zu einem guten Teil auf Quellenprobleme zurückzuführen ist. 69 Sehr schön wird dieses doppelte Nutzenkalkül durch ein Gutachten der Berner Landesökonomiekommission aus dem Jahr 1764 bestätigt: Die Allmendteilung sei für die Staatskasse nützlich, "nicht nur weil die Zehnden, die eine der beträchtlichsten Einkünften sind. sehr stark zunemmen, sondern auch weil die Aussgaben zu Verpflegung der Annen stark abnemmen wurden, auch dem Ankauff fremden Getreyds. das für Euwer Gnaden so kostbar und für das Land so Schädlich ist, könnte besser vorgebogen werden" (zit. aus Schmidt. 1932'. Bd. 2: 280*).
v. Innovationen und bäuerliche Handlungsspielräume vom 16. bis 18. Jahrhundert
Aus den Ausführungen zu den Weidgangaufhebungen, Einhegungen und Allmendteilungen wird deutlich, dass die Interessenlagen der Landleute, Zehntherren und Regierungen zum grössten Teil nicht eindeutig durch ihre Ressourcenausstattung bestimmt waren. Grossbauern, Zehntherren und Regierungen konnten grundsätzlich sowohl mit einer traditionellen wie auch mit einer innovativen landwirtschaftlichen Strategie gut leben. Entscheidend waren ihre Ziele und Erwartungen, die sie mit den verschiedenen Bewirtschaftungssystemen verbanden. Wie und wann kam es bei den bäuerlichen Akteuren zur Überzeugung, eine innovative Strategie sei der traditionellen Dreizeigenwirtschaft und der Allmendnutzung vorzuziehen? Die Zürcher Ökonomen wurden nicht müde in ihrem Bestreben, in dieser Frage der Erkenntnis der Bauern und Tauner nachzuhelfen. In vielen veröffentlichen Schriften behaupteten sie, die Landleute seien träge, traditionalistisch, innovationsscheu, störrisch, faul und widerspenstig. Die Bauern würden sich grundsätzlich jeder Neuerung widersetzen, weshalb es mit den landwirtschaftlichen Reformen nicht genügend schnell vorangehe: "Er [der Landmann} bleibt wie ein Lastvieh in dem gewohnten Geleise, folgt blind und verstockt der Weise seiner Witer, empört sich laut oder heimlich gegen alle Veifügungen und Unternehmungen, die auf seinen eigenen künftigen Vorteil zielen ... 1 Deshalb benötigten die Landleute aus der Sicht der Ökonomen dringend der Aufklärung und Erziehung durch die gebildeten Herren aus der Stadt. Der neue Bauer sollte als Voraussetzung geschaffen werden, damit die Reformen, die neue Landwirtschaft, die Sicherung der Zukunft entstehen konnten: Gefordert war der fleissige, aufgeschlossene, experimentierfreudige, bescheidene - und gehorsame - Untertan. An dieser Vision galt es hart zu arbeiten und nicht nachzulassen. So hatte man im 18. Jahrhundert die Gegenvorstellung des altbäuerlichen, dumpfen Traditionalismus konstruiert, der jeder Innovation und einem rationalem Nutzenkalkül verschlossen blieb. Als Gegensatz dazu konnten die Herrschaften sich selbst als fortschrittlich, vernünftig und verantwortungsvoll darstellen. Dieses Bauernbild beherrschte lange die historische Interpretation der landwirtschaftlichen Zustände in jener Zeit. "Diese mit dem Dorf, dem Tal, dem Amt verbundenen Eigenheiten der Wirtschaft [ ... } mochten im 18. Jahrhundert nicht selten erstarrt, durch die Rechtsordnung, die Überlieferung, den Aberglauben geheiI Pfarrer Oeri in Oetwil, zit. in Bollinger (1941: 11); siehe auch Schrnidt (1932) und in einem kritischen Sinne Suter (1998).
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V. Innovationen und bäuerliche Handlungsspie1räume
ligt erscheinen, so dass ein Geschlecht sie vom voraufgehenden übernahm, ohne ihren Sinn, ihre Berechtigung voll erfasst zu haben. " So umschreibt Schmidt2 die Ausgangsbedingungen der Agrarreformen, die erst durch einen tiefgehenden Mentalitätswandel der Landleute an die Voraussetzungen einer kapitalistischen Landwirtschaft hätten angepasst werden müssen. 3 Deshalb hätten die Ökonomen versucht "den Bauern der Frühzeit zu zivilisieren, die Landwirtschaft nach städtischem, bürgerlichem Vorbild umzugestalten".4 Selbst Brauns oder Wicki 6 , die eigentlich beide unzählige schlagende Argumente für eine gegenteilige Sicht präsentierten, konnten sich dem Einfluss der besonders durch Schmidt und letztlich durch die Schriften der Ökonomen des 18. Jahrhunderts geprägten historiographischen Tradition nicht ganz entziehen? Wie ist dieses Bauernbild zu beurteilen? Ist der moderne, nutzenorientierte und innovative Landmann in der Tat ein Produkt der Aufklärung, der Ökonomen des 18. Jahrhunderts? Musste zuerst der rationale Bauer erfunden werden, um zu einer "kapitalistischen" Landwirtschaft (Schmidt) voranschreiten zu können? In dieser Arbeit wird gemäss den einleitenden theoretischen Ausführungen 8 ein anderes Menschenbild vertreten. Es wird davon ausgegangen, dass die Annahme beschränkt rationalen individuellen Verhaltens auch ftir die bäuerliche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts Gültigkeit hat. Zur Klärung dieser Schmidt (1932, Bd. I: 37). Nach Ansicht von Schmidt (1932: 62-66, 70-75, 83-97,161-163) stellt ein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzender umfassender Mentalitätswandel unter den Bauern die unaufhaltsame verändernde Kraft der alten Ordnung dar. Zuerst verbreitete sich ausgehend von den Städten ein ,,Individualismus", der die überlieferten Strukturen der Familie, der Dorfgemeinschaft, der weltlichen und geistlichen Obrigkeit zerstörte (ebd.: 92). "So irrational die Vereinzelung der Bauern auch begründet sein mag: in ihrer Auswirkung auf die Güterbeschaffung [ ... ] entsprach sie vollkommen dem rationalen Wirtschaftsideal des Städters. Deshalb kommt ihr in wirtschaftsgeschichtlichem Zusammenhang als Voraussetzung und Antrieb der kapitalistischen Entwicklung des Bauerntums entscheidende Bedeutung zu" (ebd.: 84). Nach der Zerstörung musste laut Schmidt ein neuer, kapitalistischer ,,Erwerbswille" an die Stelle der Tradition treten, der zuerst gelernt sein musste: "Der Erwerbswille [ ... ] suchte auf den Trümmern, die der Individualismus hinterliess, neue Wirtschaftsforrnen zu errichten. Er setzte zu seiner Erfüllung planendes Denken und Kraft zur praktischen Verwirklichung voraus, die damals noch keine Schule lehrte. Deshalb erfasste er anfangs nur die Begabten, die besonders Tüchtigen. Gerade weil er positive Anforderungen an das Denken und an die Technik der Bauern stellte, konnte er sich häufig gegen die ortsgebundene Eigenart ihrer Wirtschaft nicht durchsetzen" (ebd.: 93). 4 Schmidt (1932: 93). 5 Braun (1979: 155), Braun (1984: 103). 6 Wicki (1979: 220-221). 7 So auch Pfister (1985: 21), Pfister (1984: 116), Custer (1942: 19), Bollinger (1941, 4647) und in neuester Zeit unter dem Einfluss der historischen Anthropologie Graber (1997: 143 - 146), der von einer "eigenen sozialen Logik" der vorrnodernen bäuerlichen Bevölkerung ausgeht, oder Hauptmeyer (1992: 200), welcher die "Diskrepanz zweier Mentalitäten, ... einer bäuerlichen ... und einer adlig-bürgerlich-aufgeklärten" als Ursache für bäuerliche Oppositionsbewegungen am Ende des 18. Jahrhunderts hervorhebt. 8 Siehe Kapitel I. 2
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grundlegenden Frage scheint es jedoch lohnend, an dieser Stelle je einen Exkurs in die Geschichte von Luzern und Basel zu unternehmen, da die frühneuzeitliche Agrargeschichte dieser beiden Regionen besonders gut und über einen längeren Zeitraum untersucht worden ist. Ein Blick zurück bis ins 16. Jahrhundert soll die Beurteilung der innovativen Kräfte und Bedingungen der landwirtschaftlichen Entwicklung im späten 18. Jahrhundert auf eine verlässlichere Basis stellen.
1. Einhegungen und Allmendteilungen in Luzern vom 16. bis 18. Jahrhundert Andreas Ineichen hat in seiner Dissertation den Wandel der Agrarordnung im Kanton Luzern für den Zeitraum von 1500-1797 systematisch untersucht. 9 Dabei hat er festgestellt, dass die Abschaffung des allgemeinen Weidgangs und die Verteilung der Allmend in einigen Gegenden und Gemeinden des Kantons schon sehr früh durchgeführt wurden. Die beiden Reformpunkte können unter dem Begriff der Einhegungen zusammengefasst werden. Die Einzäunung von Land war ein klarer Bruch der in jener Region bestehenden Dreizeigenordnung und deshalb grundsätzlich illegal, ausser man konnte dafür die Spezialbewilligung der Gemeindeversammlung, der Zehntherren und der Luzerner Obrigkeit erlangen. Da die stückweise Verteilung von Allmenden zu den bekannten Intensivierungsstrategien der frühneuzeitlichen Landwirtschaft gehörte, möchte ich mich hier auf die neuen Erkenntnisse Ineichens über die Einhegungen in den ZeIgen konzentrieren. Ineichen untersuchte anhand der Ratsprotokolle systematisch alle durch die Luzerner Regierung erlassenen Einhegungsbewilligungen in der Luzerner Landschaft im Zeitraum von 1500 bis 1800. Er konnte insgesamt 69 Fälle von bewilligten, kollektiven Zelgeinhegungen feststellen. Durch dieses Vorgehen wird die Entwicklung der Einhegungen ziemlich verlässlich nachgezeichnet, da die Regierung die Entwicklung auf dem Land ständig überwachte und bei Entdeckung illegaler Einhegungen deren Auflösung befahl und die Schuldigen büsste. Sogleich fallt auf, dass sich die aktenkundig gewordenen, bewilligten Einhegungen auf zwei relativ kurze Perioden konzentrieren: in der Zeit von 1583 - 1608 (32 Fälle) und von 1783 - 1797 (11 Fälle) häuften sich die Einhegungen dramatisch, während in den übrigen Jahrzehnten, insbesondere vor 1551 und zwischen 1651 und 1720 keine bewilligten Einhegungen festzustellen sind. 10 Die Tatsache der frühen Einhegungen und ihrer auffalligen Häufungen wirft natürlich Fragen der Interpretation auf. Erstens ist einmal festzustellen, dass das von den Ökonomen im 18. Jahrhundert verbreitete agrartechnische Wissen über alternative Bewirtschaftungssysteme offenbar bereits im 16. Jahrhundert in der Bauern9 Ineichen (1996). Diese Studie bietet das beste Datenmaterial einer langfristigen Untersuchung des institutionellen Wandels der Landwirtschaft in der Schweiz. 10 Ineichen (1996: 33 - 57).
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schaft selbstverständlich verfügbar war. In den meisten Gemeinden, wo Zelgeinhegungen vorgenommen wurden, ging man von der Dreizeigenwirtschaft zur Wechselwirtschaft über. Das eingehegte Ackerland wurde in Wiesenland umgewandelt und zeitweise wieder zum Getreidebau umgepflügt. Die Wiesen wurden häufig durch neu erstellte künstliche Bewässerungsanlagen ergänzt ("Wässerwiesen"). Diese neuen Bewirtschaftungsmethoden erwiesen sich, wie oben für das 18. Jahrhundert beschrieben, als weitaus produktiver als die herkömmliche DreizeIgenwirtschaft. Damit stieg auch der Wert des eingehegten Landes gegenüber dem immer noch der ZeIgenordnung unterliegenden Land markant. 11 Somit ist klar, dass die landbesitzenden grossen und mittleren Bauern bedeutende Anreize hatten, ihr Land einzuhegen. Ineichen stellt, zweitens, fest, dass es in den einzelnen Gemeinden jeweils die Gemeinschaft der Bauern war, welche die Initiative zum Wandel der Wirtschaftsweise ergriff, Bewilligungsgesuche einreichte und nicht selten auch kleinere illegale Einhegungen vornahm. 12 Damit bewiesen sie ihre Innovationsfähigkeit auf eindrückliche Weise - und 150 Jahre vor der vermeintlichen Aufklärung durch die ökonomischen Patrioten. Die Bauern wurden zwar während der zwei Jahrzehnte um 1600 von der Luzerner Regierung unterstützt, nicht aber direkt zu ihrem innovativem Verhalten angeregt. Die landarmen oder landlosen Kleinbauern konnten kaum von den Einhegungen profitieren, verloren dadurch aber ihre Weiderechte. Der Luzerner Rat setzte sich deshalb im Rahmen seiner Bewilligungspraxis dafür ein, dass sie durch die Einhegungen nicht übergangen wurden. So wurden sie in der Regel damit entschädigt, dass sie ein kleineres Stück der Allmend für sich einschlagen durften. Über Auseinandersetzungen in den Dörfern bei bewilligten Einhegungen ist deshalb vergleichsweise wenig bekannt. Es stellt sich, drittens, die Frage nach dem diskontinuierlichen Innovationsverhalten der Bauern. Sie verfügten offensichtlich in sehr vielen Gemeinden über das notwendige Wissen, die Ressourcen, die Fähigkeiten und die Unterstützung der Gemeinde, um Einhegungen durchzuführen. Weshalb hatten sie diese während so langer Zeit nicht nutzbringend umgesetzt? Eine Erklärung dieses Phänomens ist kaum bei den Bauern selbst zu suchen, sondern bei den Restriktionen, die sie in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit einschränkten. 13 Eine wichtige Restriktion lag bei den Zehntherren - in Luzern zum allergrössten Teil die Klöster und Kirchen. Ineichen 14 und Wicki IS stellen fest, dass sich die kirchlichen Zehntherren in der Regel energisch gegen die Einhegungen wehrten. So erklärt ersterer den Aufschwung der Einhegungen um 1600 zu einem wesentlichen Teil damit, dass zu jener Zeit die katholische Kirche infolge der Reformationswirren politisch geschwächt war und 11 Ineichen (1996: 190) stellt an einzelnen Orten Preissteigerungen des bewässerten und eingehegten Landes um das vier- bis fünffache innnert wenigen Jahren fest. Genaue und repräsentative Berechnungen der Produktivitätsgewinne des Landes sind aber kaum möglich. 12 Ineichen (1996: 166 - 173). 13 Siehe Kapitel 1.1. 14 Ineichen (1996: 146-151). 15 Wicki (1979: 209-219).
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sich nicht kräftig genug gegen den Neuerungswillen der Bauern und der Luzerner Regierung zur Wehr setzen konnte. Zu Beginn des 17. Jh. erstarkten die Klöster wieder und vermochten dank ihrer engen Beziehungen zu den Luzerner Herrschaften zunehmend Einfluss zu nehmen. Aus den Quellen der 1620er Jahre ist ersichtlich, wie es ihnen erneut gelang, sich zunehmend gegen die Einhegungspolitik der Obrigkeiten durchzusetzen. Die Einhegungsgesuche wurden wieder abgelehnt und entdeckte illegale Einhegungen mit hohen Bussen belegt - der bedeutende Modernisierungsschub der Luzerner Landwirtschaft blieb für die nächsten 150 Jahre unterbrochen. Weshalb wehrten sich die kirchlichen Zehntbesitzer so lange und vehement gegen die ertrags steigernden Einhegungen? Ineichen erklärt diese paradoxe Haltung mit einer "auf langfristige Sicherheit ausgerichteten Rentenbezügermentalität" der Zehntherren. 16 Wie oben dargelegt wurde l7 , war das Abweichen von der gewohnten Bewirtschaftungspraxis in der Tat mit gewissen Unsicherheiten verbunden. Die Zehntherren verloren mit den Einhegungen ein Stück weit die Kontrolle über ihre Zehnterträge, denn nach der Einhegung konnte der Bauer freier bestimmen, ob überhaupt und mit welchen Feldfrüchten er sein Land bebauen wollte. Falls ein Acker für immer in eine Weide oder Wiese umgewandelt wurde, ging dem Zehntbesitzer tatsächlich ein Teil der Zehnteinnahmen verloren, da der Heuzehnten weniger Wert hatte als der Getreidezehnten. Dennoch bleibt der hartnäckige Widerstand der kirchlichen Zehntherren schwer verständlich. Selbst wenn sie sich durch eine ausserordentliche Risikoscheu ausgezeichnet haben sollten, bleibt nämlich unklar, warum sie überhaupt die Risiken der Wechselwirtschaft höher einschätzten als jene der Dreizeigenwirtschaft. Es gibt in der Tat keinerlei Anzeichen dafür, dass der Zehntertrag unter den Einhegungen gelitten hätte. Ganz im Gegenteil ist unbestritten, dass sich die Getreide- und Zehnterträge in den betreffenden Ackerbaugebieten von Anfang des 16. Jahrhunderts bis Ende des 17. Jahrhunderts um das zwei- bis dreifache erhöhten. 18 Dank den Einhegungen waren die Zehntherren offenbar zu grossen Ertragssteigerungen gekommen, ohne selbst irgendwelche Investitionen tätigen zu müssen. Dieser Befund ist auch nicht erstaunlich, denn die Bauern hatten zu jener Zeit überhaupt keine Anreize, die Landwirtschaft zu extensivieren und die abgabenpflichtige Getreideproduktion zu reduzieren. Sie konnten sich angesichts des starken Bevölkerungswachstums einer ständig steigenden Nachfrage erfreuen. Die eingehegten Äcker wurden deshalb zum grössten Teil nicht in bleibende Wiesen verwandelt, sondern nach dem System der Wechselwirtschaft zur hoch produktiven Getreideproduktion verwendet. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen in einzelnen Regionen die Getreidezehnten zu sinken, was nach Pfister 19 16 17
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Ineichen (1996: 151). Siehe Kapitel IV.3 und IV.4. Ineichen (1996: 114 -118), Mattmüller (1991), Pfister (1984: 73 - 80), Suter (1998). Pfister (1984: 80).
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vennutlich dem Aufkommen des (ebenfalls zehntpflichtigen) Kartoffelanbaus zuzuschreiben ist. Und der schrittweise Übergang zur Talkäserei 'auf Kosten der Getreidewirtschaft begann in Luzern erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 20 Schliesslich mussten die steigenden Ernten und Zehnteinkommen während. der Einhegungswelle um 1600 in den Rechnungsbüchern der Zehntherren schwarz auf weiss sichtbar geworden sein. Wenigstens dann wäre ein Umdenken zu erwarten gewesen. Doch kaum etwas ist davon sichtbar. Noch im späten 18. Jahrhundert zeigten sich einzelne Luzerner Klöster äusserst skeptisch bis ablehnend gegenüber den Einhegungen. 21 Die Hintergründe dieser renitenten Verweigerungshaltung müssten genauer untersucht werden. Vennutlich spielte der durch die Aufhebung der ZeIgenordnung unübersichtlicher und aufwendiger werdende Zehnteinzug eine gewisse, kaum aber eine entscheidende Rolle. 22 Die zwei Einhegungswellen während der kurzen Zeitperiode um 1600 und dann erst wieder am Ende des 18. Jahrhunderts können durch eine vorübergehende, dramatische Verschiebung der für die Bauern gewöhnlich sehr restriktiven Regierungspolitik erklärt und in den Quellen nachgezeichnet werden: Die Luzerner Regierung hatte die Oberaufsicht über die Rechtsordnung auf dem Land inne und war für die Kontrolle und Durchsetzung der traditionellen Dreizeigenordnung zuständig. Ineichen kann zeigen, dass die beiden Einhegungswellen klar mit einem mehrfachen radikalen Wandel der obrigkeitlichen Bewilligungspraxis zu erklären sind. Im ganzen 15. Jh. und bis 1550 wurden alle Einhegungsgesuche verboten, entdeckte illegale Einhegungen wurden aufgehoben und die Delinquenten gebüsst. Nach einer Übergangsphase, in der neben Ablehnungen vereinzelte Bewilligungen ausgesprochen wurden, kam es 1573 zum Durchbruch und ab 1583 zum eigentlichen Boom, in dem die Obrigkeit praktisch alle Einhegungsgesuche aktiv unterstützte und in die Auseinandersetzungen mit den dörflichen Unterschichten und den renitenten Zehntherren vennittelnd eingriff. Diese Politik brach nach 1610 unvennittelt ab, um erst wieder gegen Ende des 18. Jh. aufgenommen zu werden. Damit konzentriert sich das Erklärungsproblem der diskontinuierlichen Refonntätigkeit auf die Hintergründe und Motive, welche die Politik der Regierung bewegt hatten. Ineichen verweist auf einen "allgemeinen Neuerungsgeist", der arn Lemmenmeier (1984). Wenn bisweilen doch Lernprozesse stattfanden, so konnte diese Lektion wieder in Vergessenheit geraten. Das Chorherrenstift Beromünster lehnte beispielsweise 1581 ein Einhegungsgesuch noch mit der Begründung ab, die Zehnterträge würde deswegen sinken. In den 1590er Jahren hatte es aber keine Einwände mehr gegen Zelgeinhegungen, offensichtlich hatte es gelernt, dass seine Bedenken unbegründet waren (Ineichen, 1996: 148). Doch 1770 lehnte das Chorherrenstift Beromünster wiederum ein Gesuch um Autbebung der ZeIgenverfassung in der Gemeinde Neudorf ab. Erst mit dem Wechsel des Probstes 1782 änderte sich die Politik des Klosters gegenüber den Agrarreformen wieder, so dass dieselbe Gemeinde 1795 die Zustimmung zur Weidgangautbebung erhielt. Das Kloster unterstützte das Begehren der Gemeinde mit einem Empfehlungsschreiben an die Regierung und äusserte den Wunsch, weitere Gemeinden würden dem Beispiel Neudorfs folgen (Wicki, 1979: 212). 22 Siehe dazu ausführlicher Kapitel IY.3. 20
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Ende des 16. Jahrhunderts in der Obrigkeit verbreitet war und in der Verwaltung, im Militärwesen, in der Wirtschafts- und Gewerbepolitik, im Annenwesen und im religiösen Bereich zu einer Häufung von institutionellen und organisatorischen Neuerungen und klaren Kehrtwendungen führte?3 Aus den Quellen ist ersichtlich, dass die Luzerner Obrigkeit seit Beginn der 1570er Jahre von der Nützlichkeit der Einhegungen überzeugt war und diese deshalb aktiv zu unterstützen begann. Zudem wiesen sich die Ratsherren durch eine zunehmend bessere Kenntnis über landwirtschaftliche Fragen aus, was sich zum Teil damit erklären lässt, dass sie begonnen hatten, in Anlehnung an Vorstellungen adeligen Lebensstils Herrschaftssitze und Güter auf dem Land zu erwerben. Es lassen sich zudem herausragende Persönlichkeiten unter den Luzerner Herrschaften identifizieren, welche sich ab 1570 als sachkundige Förderer der Einhegungsbewegung hervortaten. Warum dieser ,,Neuerungsgeist" plötzlich wieder abbrach, bleibt ebenso unklar wie die Frage, weshalb er überhaupt aufgetaucht war. Es liegt nahe, Lernprozesse unter den Regierenden zu vermuten, diese können aber vorläufig nicht nachgewiesen werden. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass ein Wandel in den Zielsetzungen und Strategien der Herrschaften - bei sonst wenig veränderten wirtschaftlichen Bedingungen - ein zentrales (wenn auch erst diffus erkennbares) Erklärungsmoment für die relativ kurze, aber für die Entwicklung der Landwirtschaft überaus bedeutende Reformperiode darstellt. Der zweite Einhegungsschub, der in den 1760er Jahren eher zaghaft einsetzte, weist viele Parallelen zum ersten auf. Natürlich hatten sich die Interessenlagen der Bauern und Tauner nicht grundsätzlich verändert. Durch das Aufkommen der Kartoffeln und der Kunstwiesen (Klee, Esparsette, Lucerne) war die Aufhebung des allgemeinen Weidgangs noch attraktiver geworden. Was die Zehntherren betrifft, ist von einer Verschärfung ihrer Risiken auszugehen. Die Durchsetzung der Zehntpflicht auf den sich neu verbreitenden Kartoffeln führte zu etlichen Rechtsunsicherheiten, und tatsächlich ist, wie erwähnt, in einigen Regionen ein Rückgang der Getreidezehnten festzustellen. 24 Da die Obrigkeit gewöhnlich auf der Seite der einflussreichen Zehntherren stand, wäre gerade in jener Zeit eine restriktive Politik zu erwarten gewesen. Dem war aber nicht so. Die Herrschaften begannen, zögerlich Einhegungsbewilligungen auszusprechen, und einige aufgeklärte Landpfarrer und andere städtische Agrarreformer traten gar als eifrige Befürworter einer Modernisierung auf, die sich wenig von derjenigen um 1600 unterschied. 2s Wieder ist nicht gründlich untersucht worden, weshalb es zu jenem Zeitpunkt und nicht schon viel früher zu einem solchen Umdenken gekommen ist. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die treibenden Kräfte der frühen Agrarmodemisierung in Luzem eindeutig die landbesitzenden Bauern waren, welche innovativ versuchten, durch neue lokale Institutionen und Bewirtschaf23 24
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Ineichen (1996: 154-163). Pfister (1984); Mattrnül1er (1983: 48). Wicki (1979: 200-219).
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tungsmethoden ihre Erträge zu steigern. Die Verhinderer einer fortschrittlichen Entwicklung waren die einflussreichen Zehntherren und die städtische Regierung, welche sich über die meiste Zeit erfolgreich durchsetzten. Die Motive für ihre äusserst restriktive und konservative Haltung scheinen allerdings nicht ganz klar. Entscheidend für die zwei nicht wieder rückgängig zu machenden Modernisierungsschübe der Agrarordnung war ein kurzfristiges Lockern der obrigkeitlichen Restriktionen, welche auf eine vorübergehende Neubeurteilung der Interessenlagen seitens der Herrschaften zurückzuführen sind. Wie und weshalb es dazu kommen konnte, bleibt unklar; diese zentrale Frage wird am Beispiel des Kantons Zürich weiter untersucht werden. 26
2. Die Zelgeinhegungen in Basel im 18. Jahrhundert Die umfassende Untersuchung der Einhegungen - auch Einschläge genannt - in der Basler Landschaft im 18. Jahrhundert von Huggel bestätigt in den Grundzügen die Beobachtungen der Entwicklungen in Luzern. 27 Auch in Basel hatten die Bauern aus eigener Initiative heraus damit begonnen, ihr Land ausserhalb und innerhalb der Zeigen einzuhegen und damit dem allgemeinen Weidgang zu entziehen. Einhegungen wurden schon im 17. und frühen 18. Jahrhundert häufig vorgenommen, und die Basler Regierung musste immer wieder Verordnungen erlassen, weiche die Bewilligungspflicht der Einhegungen in Erinnerung riefen. 1720 bemerkte der Basler Rat, dass "die Einschläge auf unserer Landschaft allzu gemein werden wollen",28 und die Obervögte mussten zahlreiche Bussen wegen unerlaubten Einschlägen aussprechen. Es war offensichtlich sehr schwierig, den Einhegungseifer der Basler Landleute unter Kontrolle zu halten. In den höher gelegenen Regionen wurde anfänglich vorwiegend Weideland ausserhalb der Zeigen eingeschlagen, um es in teilweise bewässerte Wiesen umzuwandeln oder bloss als Privatweiden29 zu nutzen. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts nahmen dann auch die Einhegungen in den Zeigen stark zu. Damit wurde ein allmählicher Übergang von der Getreidezur Viehwirtschaft (Wechselwirtschaft) möglich, welche weniger arbeitsintensiv, aber dennoch ertragreich war. Diese Entwicklung ist als eine Anpassung an die veränderten Opportunitätskosten der ländlichen Arbeit zu deuten, die mit der zunehmenden Verbreitung der Heimindustrie in den höheren Juratälern klar gestiegen Siehe Kapitel VII. Huggel (1979). 28 Huggel (1979: 15). 29 Sehr zum Ärger der Regierung wurde ein namhafter Teil der in den 1760er und 177Der Jahren bewilligten Einhegungen in den höheren Juratälern nicht einer Bodenverbesserung zugeführt und in Wiesen oder Getreideäcker verwandelt, sondern bloss als private Weiden genutzt, so im Homburger Amt und im Waldenburger Amt. Eine intensivere Nutzung konnte aber gegen die Interessen von seiten der Heimindustrie nicht erzwungen werden (Huggel, 1979: 64-65). 26
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2. Die Zelgeinhegungen in Basel im 18. Jahrhundert
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waren. Deshalb war das Waldenburger Amt als ausgesprochenes Heimarbeitergebiet mit den Einhegungen weitaus führend. 3o In diesen Heimarbeiterdörfern wurde die Landwirtschaft vom grössten Teil der Bevölkerung nur noch im Nebenerwerb betrieben, wozu sich eine Vieh- und Milchwirtschaft besser eignete als der arbeitsintensive Ackerbau - ein sicheres Zeichen dafür, dass die Arbeitskraft in NormaIjahren von der Heimindustrie lukrativer beschäftigt werden konnte. 31 Die noch verbliebenen Vollbauern gingen - dank dem ihnen zur Verfügung stehenden Instrument der Einhegungen - häufig zur produktiveren und besser an die topographischen und klimatischen Bedingungen angepassten Wechselwirtschaft über. 32 Die tieferen Lagen waren besser für den Ackerbau im Rahmen der herkömmlichen Dreizeigenwirtschaft geeignet, weshalb an den meisten Orten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein daran festgehalten wurde. Eine dramatische Reduktion des Getreideanbaus durch die Bauern war hier nicht angezeigt, da die Nachfrage des nahen städtischen Marktes befriedigt werden wollte und sich die Heimindustrie hier erst gegen Ende des 18. Jahrhundert ausbreitete. Allerdings erhöhten die Bauern durch die Einhegungen sukzessive den Anteil des Wiesenlandes an der Ackerflur, um die Viehbestände, den dringend nötigen Düngerertrag und damit die Produktivität des Ackerbaus zu steigern. Die Wiesen waren wegen der Dreizeigenordnung im Vergleich mit dem Ackerland knapp, was sich in einem enormen Preisanstieg von eingehegtem Land spiegelte. 33 Der Anbau der Brache durch Futterkräuter (Klee) fand erst in den 1780er Jahren und damit erstaunlich spät eine grössere Verbreitung. Vermutlich ist dies auf die bereits erfolgten Einhegungen zurückzufühHuggel (1979: 70-71) und Mattmüller (1983). Die Heimindustrie war von den städtischen Verlegern anfänglich bewusst in den höher gelegenen Juradörfern angesiedelt worden, die wegen ihrer vergleichsweise ungünstigen topografischen und klimatischen Lage zu den ärmsten Gemeinden des Kantons gehörten - und deswegen über die tiefsten Löhne verfügten. Diese Gemeinden litten unter chronischer, v. a. saisonaler Unterbeschäftigung, was auch die hohe Abwanderung belegt. Der Erfolg der Heimindustrie führte aber dazu, dass die Bevölkerung der Heimarbeiterdörfer von 16991798 dreimal so stark stieg als in den Bauerndörfern - vorwiegend wegen geringerer SterbIickeit, geringerer Abwanderung und leicht höherer Geburtenziffern. Nach 1771 wurde die Heimindustrie auf Grund der Krisenerfahrung verstärkt auch auf andere Gebiete des Kantons diversifiziert (Mattmüller, 1983: 50-52). 32 Huggel (1979: 412-415 und 63-66). Mattmüller (1983) bezeichet die Ausbreitung der Heimindustrie in den höher gelegenen Gebieten der Basler Landschaft als "Symbiose" mit der dortigen landwirtschaftlichen Verhältnissen. Er verweist auf die vergleichsweise grossen Weideflächen in den ausgesprochenen Heimarbeiterdörfern, welche günstig für die Kleinbauernbetriebe im Nebenerwerb waren: Dort konnte durch eine Ausdehnung der Kleinviehhaltung eine Landwirtschaft mit geringem Arbeitseinsatz (v.a. Ziegen) betrieben werden. Zusätzlich verbreiteten sich die Einhegungen in den ausgesprochenen Heimarbeiterdörfern (besonders im Amt Waldenburg) stärker, was zu einer Abnahme der Getreideproduktion um 13.5% von 1740/9 bis 1780/9 führte, während in den tiefer gelegenen, ausgesprochenen Bauerndörfern die Getreideproduktion leicht zunahm. Eine ähnliche Entwicklung dürfte im Zürcher Oberland im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts stattgefunden haben (Braun, 1979: 176-180). 33 Huggel (1979: 341-342). 30
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ren, die den dringendsten Bedarf an Viehfutter decken konnten. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde somit in den meisten tiefer gelegenen Bauerndörfern neben den Einschlägen weiterhin die herkömmliche DreizeIgenwirtschaft betrieben. 34 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts stiegen die bewilligten Einhegungen gemäss den Schätzungen Huggels von jährlich 19 Jucharten im Zeitraum 1720-1736 auf 25 Jucharten (1740), 68 Jucharten (1751-52), 300 Jucharten (1763) bzw. 140 Jucharten (1780).35 Der Höhepunkt der Einhegungswelle wurde in den 1760er Jahren erreicht. Mattmüller gibt den Anteil der Zelgeinhegungen an der gesamten Ackerfläehe im Jahr 1774 für seine Auswahl von 24 ,,Bauerndörfern" mit 29.5% und für 9 "Heimarbeiterdörfer" mit 45.1 % an. 36 Wieso konnten sich in Basel die Einhegungen im Laufe des 18. Jahrhunderts in so grossem Umfang durchsetzen? Es wird aus den Ausführungen Huggels deutlich, dass die Einhegungen wie auch in Luzern ein schon lange praktiziertes Mittel zur Ertragssteigerung des Bodens waren, das unter den Bauern bestens bekannt war und häufig angewendet wurde. 37 Die entscheidenden Unterschiede zur Entwicklung in Luzern sind kaum bei den besonders innovationsfreudigen Basler Bauern, sondern in Unterschieden bei den rechtlichen und politischen Restriktionen zu suchen. Während sich die Luzerner Regierung im 18. Jahrhundert besonders unter dem Einfluss der kirchlichen Zehntherren lange mit den Einhegungen äusserst schwertat, verfolgte die Basler Regierung sehr früh eine ausgesprochen innovationsfreundliche Politik. Sie versuchte zwar regulierend und ordnend in die Einhegungen einzugreifen, bekämpfte diese aber keineswegs grundsätzlich. Die Rechtslage war bis 1764 auch in Basel nicht einheitlich geregelt. Normalerweise musste sich ein Verband von Bauern, die ihr Land einhegen wollten, mit der Gemeinde über eine Entschädigung für die entgangenen Weiderechte einigen. Einige Gemeinden versuchten wohl, diese Entschädigungen hochzutreiben, hatten aber kein eigentliches Vetorecht. Die letzte Instanz lag bei der Basler Regierung. Wenn sie auch meist mit den Gemeinden einig wurde, konnte sie sich bisweilen auch über einzelne Gemeindeentscheide hinwegsetzen, indem sie eine Einschlagsbewilligung gegen deren Willen erteilte. Ganz anders als in Luzern war auch die Haltung der Mehrzahl der Zehntherren, die kaum Widerstand gegen die Einhegungen leisteten. 38 Die bedeutendsten Zehnt34 3S
Huggel (1979: 434-436, 415-419). Huggel (1979: 68).
36 Mattmüller (1983: 46). In den ,,Bauerndörfern" war noch die Landwirtschaft der Bauern und Tauner dominant, während sich die ,,Heimarbeiterdörfer" in den oberen, steilen Juratälern befanden sowie 1754 und 1786 über rund achtmal mehr Webstühle pro Einwohner verfügten. Dort war 1774 der Anteil der Allmenden inkl. Wald (44.3% gegenüber 26.5%) ungleich grösser, der Anteil der Äcker (26.2 % gegenüber 40.3 %) geringer als in den Bauerndörfern (Mattmüller, 1983: 45). 31 Huggel (1979: 13 - 29). 38 Dies obwohl die durchschnittlichen städtischen Zehnterträge gemäss Mattmüller (1983: 48) von 1740/9 bis 1780/9 um 13.3% abnahmen.
2. Die Zelgeinhegungen in Basel im 18. Jahrhundert
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herren wie das Spital und die Domprobstei Basel oder die Chorherren von RheinfeIden willigten in der Regel gerne in die Einhegungen ein. Wichtig war, dass die Ansprüche der Zehntherren auch nach der Einhegung durch die Regierung geregelt und garantiert wurden. Zur Erteilung einer obrigkeitlichen Bewilligung musste das Einverständnis des Zehntherren eingeholt werden. Darauf stand jenem eine jährliche fixe Summe zu, das sogenannte Einschlagsgeld, sofern das Land als Wiese benutzt wurde. Falls auf dem eingehegten Land Getreide angebaut wurde, hatte der Zehntherr weiterhin Anspruch auf den Getreidezehnten, anfänglich in den meisten Fällen zusätzlich zum Einschlagsgeld, ab den 1760er Jahren immer häufiger nur noch an Stelle desselben. 39 Die Frage der Zehntpflicht war somit klar geregelt. Die Attraktivität der Einhegungen aus der Sicht der Zehntherren war abhängig von der Höhe des Einschlagsgeldes, den Erwartungen über die künftige Entwicklung der zehntpflichtigen Getreideerträge und des Vertrauens in die Regierung, dass sie die Rechte der Zehntbesitzer auch in Zukunft garantieren würde. Die häufige Zustimmung zeigt, dass diese Bedingungen offenbar erfüllt waren. Die Politik der Basler Regierung hatte somit einen wichtigen Einfluss auf die breite Durchsetzung der Einhegungen in ihrem Staatsgebiet. Einerseits erteilte sie häufig, bisweilen sogar gegen den Willen der Gemeinden, Einschlagsbewilligungen. Anderseits förderte sie die Zustimmung der Zehntherren, indem sie mit ihrer aufgeklärten Einhegungspolitik deren Vertrauen erlangen konnte. 4o Mit ihrem aktiv in Anspruch genommenen Bewilligungsrecht verfügte die Regierung über ein Instrument, um den zahlreichen möglichen Interessenkonflikten einigennassen erfolgreich vorzubeugen. Sie senkte mit der Durchsetzung dieser Institution die privaten und sozialen Kosten der Einhegungen, was die Massnahme wohl häufig erst möglich machte. Es ist aber dennoch zu betonen, dass die Garantie von Recht und Ordnung in der Einhegungsfrage auch in Basel stets prekär war. Versuche illegaler Einhegungen, Zehnthinterziehungen und Konflikte unter den Dortbewohnern waren häufig, und die Disziplin unter den Beamten bis hinauf zu den Obervögten liess zu wünschen übrig.41 Die Durchsetzbarkeit der Verordnungen zu den Einhegungen war wegen des schwach ausgebauten Verwaltungsapparats beschränkt. Die aktive Steuerbarkeit der landwirtschaftlichen Verhältnisse durch die Regierung war vergleichsweise gering. Die Einhegungen führten deshalb zu schwerwiegenden Folgeproblemen und Konflikten mit der alten Agrarordnung, welche die Regierung nicht in den Griff bekommen konnte: Die Einschläge in den ZeIgen schlossen zwar den allgemeinen Weidgang aus, und ennöglichten eigentlich eine freie BewirtschafHuggel (1979: 413). ,,zudem hämmerte die [von der Obrigkeit eingesetzte] landwirtschaftliche Kommission den Zehntherren in der Zeit vor 1764 immer wieder ein, Einschläge vergrösserten die Dungmenge, was zu einer Ertragssteigerung auf den guten Äckern führen werde und folglich auch den Getreidezehnten erhöhe." Huggel (1979: 21) gibt zu dieser Aussage leider keinen Quellenbeleg an. 41 So mussten die Obervögte immer wieder ermahnt werden, ihren Kontrollpflichten nachzukommen (Huggel (1979: 23,26-27). 39
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tung der Felder, dadurch stellte sich aber das Problem der fehlenden Wege in den Zeigen in aller Schärfe. Die Eigentümer konnten nicht zu allen Zeiten auf ihre eingehegten Felder gelangen und mussten weiterhin ihren Zelgnachbarn Wegrechte gewähren, was ihre Dispositionsfreiheit enonn einschränkte. Man war gezwungen, sich mit seinen Nachbarn abzusprechen und gütliche Abkommen zu treffen, die häufig spätestens bei Handänderungen zu unklaren Rechtsverhältnissen und sehr zahlreichen Konflikten und Behinderungen führten. Die landwirtschaftliche Kommission der Basler Regierung konnte zwar Empfehlungen zum Bau von Feldwegen abgeben, verfügte aber nicht über die rechtlichen und politischen Mittel, um solche durchzusetzen. Es fehlte ein gesetzlich geregeltes Enteignungsrecht. Die fortschrittliche Einhegungspolitik warf somit bedeutende, nicht kontroIIierbare Folgeprobleme auf. Ihre Lösung hätte einen noch weitergehenden Wandel der Rechtsordnung bedingt, der offenbar im Rahmen des Ancien Regime nicht möglich war. Noch bis weit in das 19. Jahrhundert kämpfte die Landwirtschaft in den ehemaligen Dreizeigengebieten mit dem Wegeproblem. Trotz den eingeschränkten Möglichkeiten der Herrschaftsdurchsetzung gelang es der Basler Regierung offenbar, die Bedingungen der Einhegungen soweit zu regulieren, dass sie ohne allzu kostspielige Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Interessenvertretern, also zu genügend tiefen Transaktionskosten, durchgeführt werden konnten. Ein besonders wichtiger Schritt war das Mandat über die Einschläge vom 18. Januar 1764, eine eigentliche Einhegungsordnung, mit dem das BewiIIigungsverfahren, die Bewertungsgrundsätze der Entschädigungen und die zuständigen Instanzen genau bezeichnet wurden. Damit waren endlich eindeutige Verhältnisse geschaffen, und das BewiIIigungsverfahren verlief fortan bis zum Ende des Ancien Regime routinemässig. Die Hintergründe dieser vergleichsweise fortschrittlichen Regierungspolitik Basels werden von Huggel kaum beleuchtet. Er verweist lediglich auf das Kalkül, welches in der Basler Obrigkeit eine Selbstverständlichkeit gewesen sei, wonach sich die blühende Heimindustrie nur mit einer Steigerung der Nahrungsmittelproduktion durch die eigene Landwirtschaft nachhaltig und unabhängig entwickeln konnte. Dazu sei seit der Mitte des 18. Jahrhunderts der ländliche Verwaltungsapparat markant ausgebaut und die Durchsetzung des Mandates von 1764 erst ennöglicht worden. 42 Einen Hinweis auf die in Basler Regierungskreisen vorhandenen fortschrittlichen Ansichten finden wir dagegen in anderem Zusammenhang bei Mattmüller. 43 Erwähnt wird das eindrückliche Beispiel des Ratsschreibers Isaak Iselin, der sich durch seine prononcierten, aufgeklärt-liberalen Ansichten auszeichnete. 44 Iselin setzte sich 1761 für die Gründung Huggel (1979: 515-516, 28). Mattmüller (1982: 283 - 289). 44 IseHn plante anfangs der I 760er Jahre ohne Erfolg die Gründung einer Ökonomischen Gesellschaft in Basel. Er setzte sich mit den Schriften der Physiokraten auseinander und war intensiv mit dem kommunikativen Zirkel der schweizerischen ökonomischen Patrioten vernetzt. Er gehörte zu den massgeblichen Gründern der Helvetischen Gesellschaft im Jahre 1762 (Im Hof, de Capitani, 1983). Erst 1777 gelang ihm die Gründung der Gesellschaft zur 42 43
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der obrigkeitlichen landwirtschaftlichen Kommission ein, welche fortan für die Behandlung vieler Einhegungen zuständig sein sollte. 45 In seiner umfangreichen privaten Korrespondenz wandte er sich gegen die auch in Basel vorherrschende Doktrin, wonach der Reichtum des Landes zu einem erheblichen Teil aus der Bevölkerungsgrösse bestehe. So sprach er sich während der Krise 1770/71 für eine Liberalisierung der Auswanderung der arg gebeutelten Landbevölkerung aus. Zudem kämpfte er mit Gesinnungsgenossen erfolgreich für eine vollständige Liberalisierung des Getreidemarktes, die 1767 auch tatsächlich vorübergehend erreicht wurde. Man möge, "wo es der menschlichen Weisheit unmöglich sei, dem natürlichen Lauf der Dinge eine andere Richtung zu geben, sich lediglich der Vorsehung überlassen ".46 Dieser im Zusammenhang mit der Liberalisierung des Getreidehandels geäusserte Satz könnte wohl auch als liberaler Leitspruch für das Gewährenlassen der neuerungsbereiten Bauern und Tauner gegolten haben. 47
3. Innovative Bauern - restriktive Herrschaften Neben der Untersuchung des institutionellen Wandel in den DreizeIgengebieten ist es nützlich, die gleichzeitigen Entwicklungen in den Bergregionen nicht ganz auszublenden. Die Alpwirtschaft zeichnete sich nämlich in den meisten Regionen durch eine unerhörte Dynamik aus, die zu den eindrücklichsten Kapiteln der Agrargeschichte der frühen Neuzeit gehört. Eine hervorragende Darstellung der Entwicklungen ist bei Braun48 zu finden 49 , weshalb hier nur ganz kurz einige für unsere Thematik wichtige Aspekte herausgegriffen werden sollen. Die Alpwirtschaft zeichnete sich bereits im 17. Jahrhundert in vielen Regionen, besonders früh in den Berggebieten der Westschweiz und von Bern, durch eine erstaunliche Innovationsfähigkeit aus. In bezug auf die Kommerzialisierung, exportorientierte Spezialisierung und Arbeitsteilung war sie den Ackerbaugebieten im Mittelland weit voraus. Hervorzuheben ist besonders die Umstellung auf eine intensive Käsewirtschaft, die ihre begehrten Produkte wie Gruyere und Emmentaler nach ganz Europa exportieren konnte. Dazu gesellte sich besonders in den Ostschweizer Voralpengebieten sehr früh die Expansion der Heimindustrie, welche besonders im 18. Jahrhundert bedeutende Ausrnasse annahm. Erst im frühen 19. Jahrhundert begann die Alpenregion allmählich zur wirtschaftlichen Randregion abzusteigen, als mit dem Beförderung des Guten und Gemeinnützigen in Basel, welche im wesentlichen das Programm der Ökonomen verfolgte (Schmidt, 1932: 104, 112; Mattmüller, 1982: 271). 4S Schmidt (1932: 104). Diese Kommission hatte in den 1740er Jahren bereits unter der Bezeichung ,,Landkommission" bestanden und die Frage der Einhegungen studiert (Huggel, 1979: 24). 46 Zit. aus Mattmüller (1982: 286). 47 Siehe auch Kraus (1928: 52-64) sowie Im Hof, de Capitani (1983). 48 Braun (1984: 60-84). 49 Siehe auch Lemmenmeier (1984), Ramseyer (1991).
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V. Innovationen und bäuerliche Handlungsspielräume
Aufkommen der Talkäserei in den tieferen Gebieten das Erfolgsrezept der Berggebiete übernommen wurde. Dieser neuen Konkurrenz konnte die Alpwirtschaft auf die Dauer nicht standhalten. Wie ist das Nebeneinander von früh kommerzialisierter, arbeitsteiliger, hoch innovativer Alpwirtschaft und den über Jahrhunderte doch recht stabilen Verhältnissen in vielen Dreizeigengebieten zu erklären? Hierzu sind zwei Bemerkungen zu machen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Dynamik und der Erfolg der Alpwirtschaft mit aller Deutlichkeit die grundsätzlich vorhandene unternehmerische Offenheit und Findigkeit der agrarischen Bevölkerung des 17. und 18. Jahrhunderts belegt. 50 Keine Spur von einer altbäuerlichen, innovationsfeindlichen Mentalität ist hier auszumachen, welche aber immer wieder den Bauern im DreizeIgengebiet zugeschrieben wurde. 51 Es ist nicht sehr einsichtig, weshalb die ökonomische Rationalität der Bergbauern 200 Jahre weiter entwickelt gewesen sein soll als diejenige ihrer Standesgenossen im Tal. Ganz im Gegensatz zur traditionellen Sichtweise belegen die zitierten Forschungsarbeiten von Huggel, Ineichen, Wicki und anderen, dass auch im Dreizeigengebiet eine hohe Neuerungsbereitschaft und Innovationsfähigkeit der Bauern und Tauner vorausgesetzt werden muss. Diese Sicht wird durch Mattmüller in einem wichtigen Aufsatz weitgehend bestätigt. 52 Aus der Tatsache, dass sich die Bevölkerung in der Schweiz von 1500 bis 1700 verdoppelt 53 , im schweizerischen Dreizeigengebiet gar verdreifacht hat, folgert er lapidar, dass das Nahrungsmittelangebot in den Dreizeigengebieten im selben Ausmass zugenommen haben musste. Das war nur durch innovative Strategien zur Intensivierung der Landwirtschaft möglich. Allerdings attestiert Mattmüller lediglich den bäuerlichen Unterschichten eine entsprechende Innovationsfahigkeit, welche auf die privat bewirtschafteten Baum- und Gemüsegärten, Pünten, Weinberge und schliesslich auf die Einhegungen beschränkt blieb. Der Wille zur Innovation im Zeitraum bis 1700 wird auf die häufigen existentiellen Notlagen der Unterschichten zurückgeführt. Dagegen wird festgestellt: ,,Die Wirtschaftsweise der grossen Bauern war nicht innovativ, liess sich durch die Zwänge der Zehnt- und Zinsherren und die eigenen Interessen auf das bisherige Muster einer wenig ertragreichen Getreide50 Besonders eindrücklich ist das im 17. Jahrhundert im Emmental aufgekommene Küherwesen (Ramseyer, 1991). Die Küher besassen anfänglich kein eigenes Land, sondern mieteten während der Alpzeit sowohl Kühe von Talbauern als auch eine Alpweide. Mit der gemieteten Herde zogen sie auf die gepachtete Alp und stel1ten hauptSächlich Alpkäse her. Im Winter gingen die Kühe wieder an die Talbauem zurück, welche während des Sommers auf ihren Wiesen Futter hergestel1t hatten. Die Küher hofften, dass sie am Ende der Saison genügend Gewinn aus ihren Alpprodukten schlagen würden, dass nach Bezahlung der Pachten noch etwas übrig blieb. Es versteht sich von selbst, dass dieses Geschäft ausserordentlich riskant war. Es verhalf aber vielen Kühern zum sozialen Aufstieg, da die Gewinne besonders in der frühen Zeit hoch und die Anforderungen an das verfügbare Kapital relativ gering waren. 51 Siehe die Literaturhinweise oben. 52 Mattmül1er (1991). 53 Mattmül1er (1987: 4).
3. Innovative Bauern - restriktive Herrschaften
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produktion fixieren.,,54 Erst im 18. Jahrhundert hätten die Grossbauern mit den Einhegungen und dem Anbau der Brache neue Wege gesucht. Angesichts der Forschungsergebnisse Ineichens und Wickis, aber auch der Geschichte der Alpwirtschaft, kommt diese Einschränkung Mattmüllers wohl einer gewissen Unterschätzung des bäuerlichen Innovationspotentials gleich: Offensichtlich wurden schon im 16. und 17. Jahrhundert die Bauern zumindest in gewissen Gegenden auch dann innovativ, wenn der Hungertod nicht bereits vor der Türe stand. 55 Allerdings waren in den Dreizeigengebieten, und nun kommen wir zur zweiten Bemerkung, die institutionellen Voraussetzungen ganz anders als in den Alpen und Voralpen. Braun zeigt sehr überzeugend, dass sich die Alpwirtschaft innerhalb eines deutlich weiteren institutionellen Rahmens entwickeln konnte. 56 Die Belastung durch Naturalabgaben war geringer oder bereits abgelöst, der Bodenmarkt effizienter und, besonders wichtig, sowohl die Alp- als auch die Feldgraswirtschaft in den voralpinen Regionen boten den Landeigentümern eine weitgehende Verfügungsfreiheit über den Boden. Deshalb konnten die Landleute flexibler auf Bedrohungen und neue Chancen reagieren. Dies war besonders wichtig für die einsetzende Protoindustrialisierung, da in jenen Gebieten die Umstellung auf eine arbeits sparende (Nebenerwerbs-)Landwirtschaft problemlos möglich war. 57 Entsprechend den weitaus engeren Handlungsspielräumen in den Ackerbaugebieten des Mittellands - sei es in Luzern, Basel, Bern oder Zürich - war dort die Entscheidung der Regierungen von zentraler Bedeutung, ob sie zu einer teilweisen Deregulierung der Dreizeigenordnung Hand boten oder nicht. Aus den zitierten Untersuchungen zu Luzern und Basel geht hervor, dass eine liberalere Haltung der Regierung und der Zehntherren in der Tat die Spielräume für die innovationsbereiten Landleute öffnen konnte, welche jene sogleich produktiv auszunutzen wussten. Allerdings mussten die Landleute druckvoll auf diesen Wechsel drängen, und die lange Zurückhaltung der Gnädigen Herren scheint aus der Beobachterperspektive heraus nicht immer verständlich. Genauere quellennahe Untersuchungen über die Erwartungsbildung der Akteure wären zur Klärung dieser Frage notwendig. Schliesslich war es mit einer Deregulierung allein nicht getan, denn die komplizierten Verhältnisse und Interdependenzen zwischen den verschiedenen Akteuren mussten gleichzeitig neu ausgehandelt und geregelt werden. Die unvermeidlichen Interessenkonflikte und Auseinandersetzungen bedurften eines Ausgleichs, der Vermittlung und SchlichMattmüller (1991: 250). Siehe dazu weitere Belege für den Kanton Zürich bei Sigg (1974), Ott, Kläui, Sigg (1979: 296 - 297) und Peter (1996: 49). 56 Braun (1984: 61-62, 78). 57 Sehr eindrücklich ist der Vergleich mit einigen rückständigen alpinen Regionen wie den im 18. und 19 Jahrhundert völlig rückständigen Urner Markgenossenschaften oder einigen Walliser Autarkiegebieten. Da das wirtschaftliche, soziale und politische Leben dort durch die Nutzungsgemeinschaften stark reguliert und auf Selbstgenügsamkeit ausgerichtet war, bestand keinerlei Freiraum für Anpassungen an neue wirtschaftliche Anreize. Entsprechend gerieten die Regionen im Vergleich mit den angrenzenden Berggebieten zunehmend ins Hintertreffen (Braun, 1984: 75 - 80). 54
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V. Innovationen und bäuerliche Handlungsspielräume
tung. Diesen Ansprüchen waren die Regierungen und Verwaltungen nicht ganz gewachsen - obwohl im Interesse der herrschaftlichen Stabilität grundsätzlich durchaus darum bemüht. Den Gründen für die markanten Wechsel in der Regierungspolitik in Luzern und Basel konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter nachgegangen werden. Die referierten Studien zur langfristigen Entwicklung der Luzerner und der Basler Landwirtschaft haben aber gezeigt, dass für die bedeutenden landwirtschaftlichen Innovationen und institutionellen Verbesserungen nicht eine grundlegende Veränderung von seiten der Bauern und Tauner selbst, sondern eine Lockerung der engen institutionellen Handlungsspielräume durch die Regierungspolitik verantwortlich war. Analog zu Luzern und Basel ist ein solcher Wandel der Regierungspolitik auch in Zürich festzustellen. Diesen Wandel, der durch die Mitglieder der Zürcher Naturforschenden Gesellschaft - die Ökonomen - gefördert wurde, gilt es im folgenden darzustellen und dessen Bedeutung nachzuweisen. Dabei soll möglichst genau abgeklärt werden, ob überhaupt und auf welche Weise die Ökonomen einen relevanten Einfluss auf die technische und institutionelle Entwicklung der Zürcher Landwirtschaft im 18. Jahrhundert ausübten; das geschieht im folgenden Kapitel VI. Dann werde ich für den Fall Zürichs nachzuholen versuchen, was bisher auch für Basel und Luzern nicht in befriedigendem Ausrnass geleistet wurde. Es gilt, den Gründen für einen grundlegenden Wechsel in der Agrarpolitik der Regierung nachzugehen, indem ein Blick in die Quellen der Zürcher Ökonomen geworfen wird und auch die allgemeine kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung Zürichs in der Analyse mitberücksichtigt wird (Kapitel Vll.).
VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung zur Modernisierung der Landwirtschaft Auf Grund der Ausführungen im letzten Kapitel ist davon auszugehen, dass die Zürcher Bauern und Tauner in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus fähig und bereit für innovative Neuerungen in der Landwirtschaft waren, wenn sie von deren Nutzen überzeugt waren und über die nötigen Handlungsspielräume verfügten. In der Tat wussten sie recht gut Bescheid über die agrarwirtschaftlichen Zusammenhänge der Weidgangaufhebung, Einhegungen und Allmendteilungen, über die verschiedenen Wirtschaftstechniken, neue Nutzpflanzen, Düngerprobleme und die Schwierigkeiten der traditionellen Dreizeigenordnung. An vielen Orten trifft man auf innovative Bauern und Tauner, welche Experimente mit neuen Agrarprodukten, Düngertechniken und ganzen Bewirtschaftungssystemen machten und diese im Erfolgsfall anwendeten; da steht der berühmte Zürcher Bauer Kleinjogg Guyer keineswegs alleine da. 1 Übrigens war es nicht so, dass Guyer bei den aufgeklärten Ökonomen in die Lehre gegangen wäre. Er konnte seine innovativen Methoden auch kaum aus der zeitgenössischen europäischen Agronomen-Literatur gelernt haben, denn das Lesen lag im ganz und gar fern. 2 Zum viel gepriesenen Musterbauern wurde er erst, nachdem seine innovativen Bewirtschaftungsmethoden und Experimente vom Ökonomen Hans Jakob Hirzel entdeckt und zur ,,richtigen", mustergültigen Landwirtschaft erhoben wurden. Der öffentlich bekannt gewordene "Philosophische Bauer" Kleinjogg Guyer war zwar durchaus eine Erfindung der Zürcher Ökonomen, keineswegs aber die Sommerstallfütterung, die Einhegungen, die Allmendteilungen, der Kunstwiesenbau oder die neuen Düngertechniken, welche Kleinjogg schon vor seiner Entdeckung im Jahre 1759 praktiziert hatte. Nun möchten wir uns aber in diesem Kapitel vertiefter dem Wirken der Naturforschenden Gesellschaft und der Regierung von Zürich zuwenden und deren Einfluss auf die Modernisierung der Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts untersuchen. Es stellt sich die Frage, welche konkreten Massnahmen die Zürcher Herrschaft ergriff, um die produktivitätssteigernde und für sie nutzbringende Reform der Landwirtschaft gezielt und effektiv voranzutreiben. Wie bereits dargestellt wurde,3 waren die Mitglieder der Naturforschenden Gesellschaft als Teil der herrschenden Oberschicht eng verbunden mit der Zürcher Regierung, inI
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Pfister (1985: 18). Schenda (1980). Siehe Kapitel III.1., ausführlicher Kapitel VII. 1.
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
dem viele von ihnen hohe Ämter ausübten und einen namhaften Teil der Ratssitze besetzten. Trotzdem ist genau zu unterscheiden zwischen den Handlungen und Interessen der Naturforschenden Gesellschaft und jenen der Zürcher Regierung. Eine Gleichsetzung der beiden Gruppen von Akteuren, auch wenn sie sich in jener Zeit zu einem bedeutenden Teil überschnitten, würde wichtige Zusammenhänge verdecken und somit ein tieferes Verständnis der Vorgänge unnötig erschweren. 4 Es ist unbedingt zu betonen, dass die Naturforschende Gesellschaft trotz ihrer illustren Mitgliedschaft eine private Gesellschaft war, die weder über herrschaftliche Kompetenzen verfügte noch irgend welchen Pflichten zu einer Beschäftigung mit den Problemen der Landwirtschaft unterlag. Daraus folgte, dass die Gesellschaft nur über beschränkte Möglichkeiten verfügte, die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen auf dem Land zu beeinflussen. Natürlich hatte sie wegen des enormen Machtgefälles zwischen der Stadt und der Landschaft und wegen ihrer hochkarätigen Mitgliedschaft ein gros ses politisches Gewicht im Zürcher Staat. Es war ihr aber durchaus bewusst, dass gegen den Willen und das überkommene Recht der Landleute damit allein aber wenig auszurichten war. 5 So musste die Naturforschende Gesellschaft sich, falls sie Einfluss auf dem Land ausüben wollte, um das Verständnis und Einvernehmen der Landleute redlich bemühen. Sie tat dies - was sollte sie sonst tun? - in erster Linie durch wissenschaftliche, rhetorische und publizistische Anstrengungen. Dass die Naturforschende Gesellschaft sich unter diesen Voraussetzungen überhaupt für dieses Unterfangen interessierte, ist grundsätzlich erstaunlich und erklärungsbedürftig; diese Frage wird uns ausführlich in Kapitel VII. beschäftigen. Im folgenden Abschnitt werden die Anstrengungen der Naturforschenden Gesellschaft in Forschung und Lehre eingehend diskutiert und bewertet. Danach werden die Reformmassnahmen der Regierung untersucht.
1. Forschungs- und Aufklärungsarbeit der Ökonomen Forschung und Entwicklung von neuen Technologien und Bewirtschaftungssystemen in der Landwirtschaft können aus ökonomischer Sicht als Aufgabe der öf4 In der Literatur wird diese Unterscheidung leider häufig zu wenig genau gemacht; das Handeln der Ökonomen und jenes der Regierung wird über den Zeitraum von mehreren Jahrzehnten kaum auseinandergehalten; siehe Hesse (1945: 39), Wehrli-Keyser (1932: 30-41), Stiefel (1944: 55 - 57). S So äusserten sich einige Miglieder bereits kritisch über die ersten aufkommenden Vorschläge, die Naturforschende Gesellschaft solle sich für eine Verbesserung der institutionellen Bedingungen der Landwirtschaft einsetzten: Anbei wurde von verschiedenen Mitgliedern über den Vorwurf! dieser Abhandlung allerhand besondere Anmerkungen gemacht, deren die einten die Schwirigkeiten vorstellten. welche gemeinlich die Ausführung solcher Verbesserungen hindere, als da sind die Widerspenstigkeit und die Vorurtheile unsers Landvolks, ihre Armuth, der Mangel genugsamer Gewalt in einer Privat Gesellschaft &c. .. (Tagebuch der Physikalischen Gesellschaft, Band I, 14. Februar 1757, StAZ B IX 179).
1. Forschungs- und Aufklärungsarbeit der Ökonomen
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fentlichen Hand betrachtet werden. Dies lässt sich einfach mit der Tatsache begründen, dass sich in den meisten Ländern die spezielle Branchenstruktur der Landwirtschaft durch eine Vielzahl sehr kleiner Betriebe - häufig von Familienbetrieben - auszeichnet, welche eine relativ geringe Anzahl weitgehend homogener Produkte unter ähnlichen Bedingungen herstellen. Daraus folgen zwei Argumente, welche für eine öffentliche bzw. öffentlich finanzierte Forschung in der Landwirtschaft sprechen. Wenn, erstens, lediglich jeder einzelne Kleinbetrieb auf eigene Rechnung in die Erforschung neuer Technologien investieren würde, stünden für diese wichtige Tätigkeit naturgemäss nur sehr beschränkte Mittel zur Verfügung. Eine gross angelegte Grundlagenforschung wäre somit ausgeschlossen. Zweitens könnten wegen der ähnlichen Produktionsverhältnisse die durch Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten gewonnen Erkenntnisse gleichzeitig in einer sehr grossen Zahl von Betrieben umgesetzt werden, wenn sie veröffentlicht - zum öffentlichen Gut - würden. Tatsächlich ist weltweit zu beobachten, dass sich öffentlich getragene oder finanzierte Forschungsinstitute ausgesprochen stark im Bereich der Landwirtschaft engagieren. Wie verhielt es sich mit der landwirtschaftlichen Forschung im 18. Jahrhundert? Die Regierung in Zürich, wie auch in anderen Kantonen und Staaten, zeigte traditionsgemäss keinerlei Interesse für die Erforschung, Weiterentwicklung oder Verbreitung landwirtschaftlichen Grundlagenwissens, neuer Technologien oder Verfahren. Im Gegenteil, man war bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts der Ansicht, dass jegliches Abweichen von den hergebrachten landwirtschaftlichen Methoden unerwünscht sei. Es gab an den höheren Schulen in Zürich keinen Lehrstuhl und keinen Ausbildungsgang für Agrarökonomie. Bis 1773 beschränkte sich die hohe Ausbildung in Zürich auf das Collegium Carolinum, an dem die Studenten zu Theologen ausgebildet wurden. An diesem Collegium gab es zwar auch eine Professur für Mathematik und Physik (Naturwissenschaften), die von 1738 -1778 von Chorherr Johannes Gessner, dem Gründer der Naturforschenden Gesellschaft, besetzt wurde. Damit wurden den Schülern aber lediglich Grundkenntnisse der Naturwissenschaften vermittelt, um sie auf ein allfälliges Universitätsstudium in einer anderen Stadt vorzubereiten. Wer eine medizinisch / naturwissenschaftliche oder juristische Ausbildung anstrebte, musste diese im Ausland absolvieren; angehende Kaufleute wurden in ihren Betrieben sowie durch ausgedehnte Auslandpraktika ausgebildet. 6 Somit blieben Landwirtschaft und Ökonomie von der Forschung und Lehre an der Hochschule gänzlich ausgeschlossen. Genau diese agrarökonomische Lücke im Zürcher Forschungs- und Bildungsangebot hatte die Naturforschende Gesellschaft Ende der 1750er Jahre als Mangel bezeichnet und mit grossem Aufwand damit begonnen, sie auszufüllen. 7 Nun stellt sich die Frage, in welcher Form sich die Zürcher Ökonomen von jener Zeit an mit landwirtschaftlichen Fragestellungen beschäftigt hatten und inwiefern sie zur Forschung und Entwicklung in diesem Be6 Geschichte des Kantons Zürich (1996, Bd. 2: 425) und Boschung (1996: 16), Nabholz (1938); siehe auch Kapitel VII. 7 Siehe Kapitel III.1 und VII.3. 8
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
reich und zur öffentlichen Verbreitung und Nutzung des agrarökonomischen Wissens einen fruchtbaren Beitrag leisteten.
a) Vorträge und Abhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft Die landwirtschaftliche Forschungstätigkeit der Ökonomen konzentrierte sich auf das Verfassen eines Teils jener grösseren wissenschaftlichen Abhandlungen, die sie sich jeden ersten Montag des Monats vortrugen und diskutierten. Deren Inhalte widmeten sich ab 1757 zunehmend landwirtschaftlichen Themen. In jenem Jahr wurden schon drei von 12 Abhandlungen 8 über landwirtschaftliche Themen abgehalten, 1758 keine, dafür 1759 mit vier Abhandlungen 9 bereits ein Drittel des Hauptprogramms. Neben diesen Abhandlungen entsponnen sich zwischendurch auch spontane, engagierte Diskussionen "der Herren Liebhaber von Agricultur"lO, oder das Protokoll vermeldet mitunter knapp, "der grösste Theil der Zeit wurde von den Herren Ordninarii mit Oeconomischen und anderen nützlichen Berathschlagungen zugebracht"ll. Diese landwirtschaftlichen Abhandlungen und Diskussionen können jedoch zum grössten Teil kaum als eigenständige Forschungsarbeiten bezeichnet werden. Entsprechend dem in den Statuten vorgesehen hauptsächlichen Gesellschaftszweck referierten die aktiven Mitglieder in ihren Vorträgen die bekannten Fachpublikationen ihrer Zeit und fassten die neuesten Erkenntnisse und Auseinandersetzungen aus der internationalen agrarökonomischen Literatur zusammen. Ergänzend berichteten sie von ihren eigenen einschlägigen Beobachtungen, Gesprächen und Korrespondenzen, die sie auf Reisen gemacht oder mit Bekannten gehalten hatten. Damit wurde zwar kaum wissenschaftliche Forschung betrieben, aber dennoch wurden zwei wichtige Funktionen erfüllt: Einerseits wurden die (teilweise längst) bekannten landwirtschaftlichen Kenntnisse unter den zahlreichen und politisch einflussreichen Mitgliedern der Naturforschenden Gesellschaft verbreitet. Deren Bewusstsein für die praktischen Probleme der Landwirtschaft wurde geschärft, und 8 Rathsherr Heidegger: Von den Krankheiten der Räben und den Mitteln wie dieselben vor dem Reiffen zu verwahren seyen; Hr. Ott: Von dem Nutzen der Mergel-Erden in der Landökonomie; Dr. Gessner: Von der Ursach warum der Feldbau so sehr in Abnahme, und von der Errichtung eines Monti Pietati zu dem nuzen der Landlüth (Tagebuch der physikalischen Gesellschaft, Band I, Sitzung vom 17. Januar 1757, S. 2; StAZ B IX 179). 9 Dr. Gessner: Oeconomisch-practische Aufgaben nebst der Art wie dieselbe wahrscheinlicher Weise aufzulösen seien; Jacob Ott: Von dem Bau der Wiesen Kräuter; Quartierhptm Schulthess: Von der practischen Oeconomie. Betitelt politischer Theil der Agricultur Oeconomie; BibI. Schinz: Von der Aufbewahrung des Getreydes nach der alt und neu Methode (Tagebuch der physikalischen Gesellschaft, Band 2 (1758 - 1759). 10 Tagebuch der physikalischen Gesellschaft, Band 2 (1758-1759): 17. April 1758, S. 23 (StAZ B IX 180). 11 Tagebuch der physikalischen Gesellschaft, Band 2 (1758 -1759): 26. Juni 1758, S. 30 (StAZ B IX 180).
1. Forschungs- und Aufklärungsarbeit der Ökonomen
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mögliche Verbesserungen wurden bekannt gemacht. Anderseits entspann sich ein Diskurs über den Zweck und die Handlungsmöglichkeiten der Naturforschenden Gesellschaft selbst. Wie konnte sie" dem Nutzen, den unser Vaterland von der Naturforschenden Gesellschaft erwarten kann" 12, am besten dienen, wo bestand Handlungsbedarf? Diese Fragen wurden besonders in den Jahren 1757 und 1758 intensiv diskutiert und mit den Abhandlungen und Diskussionen über die Landwirtschaft auf eine Antwort hin gelenkt: Auf die Reform der Landwirtschaft. 1761, 1764 und 1766 kam es schliesslich zur ursprünglich nicht vorgesehenen Publikation einer Auswahl der Abhandlungen in drei Sammelbänden, womit die Naturforschende Gesellschaft erstmals vor ein öffentliches, wissenschaftliches Fachpublikum trat - obwohl sie ja eigentlich gar nicht den Anspruch hatte, in erster Linie wissenschaftliche Forschung zu betreiben. Mit entsprechend grosser Bescheidenheit gegenüber den "vielen Denkschriften der berühmten Königlichen Akademien in Engel/and, Frankreich, Deutschland" wurde folglich der erste Band eingeleitet, in dem sich mit sieben von 13 Abhandlungen mehr als die Hälfte der Landwirtschaft widmete: "Wir glaubten [ursprünglich}, dass wir ohne diesen Weg [der Publikation} durch unsere gemeinschaftliche Bemühungen dem Publico, besonders unseren lieben Mitburgern und uns selbst, nützlich seyn können; wir glaubten dass unsere Schriften der Welt nicht so gar wichtig vorkommen würden, da wir uns zwar auch die Entdeckung neuer Wahrheiten und Nützlichen vorgenommen hatten, aber doch meistens darauf bedacht waren, die Naturhistorie unserer Gegenden genau zu untersuchen, und das schon bekannte zu dem Nutzen unsers lieben Vaterlands anzuwenden"Y Nicht in erster Linie Forschung zu betreiben, sondern das schon Bekannte zum eigenen bzw. zum Nutzen des "Vaterlands" anzuwenden, genau dies hatten die Ökonomen seit 1757 in zunehmendem Masse praktiziert. Um die "Naturhistorie unserer Gegenden genau zu untersuchen", galt es in erster Linie, das eigene Wissen über die naturräumlichen und landwirtschaftlichen Verhältnisse im Kanton zu vermehren, um es einer Analyse mit den zeitgenössischen agrartechnischen Theorien zugänglich zu machen. Das liess sich nicht bequem von den Zürcher Amtsstuben und Sitzungssälen aus bewerkstelligen, ausser man fand geeignete Mittel, um die relevanten Informationen vom Land in die Stadt zu befördern. Zu diesem Zweck beschritt die Naturforschende Gesellschaft mehrere teils innovative Wege: Sie schrieb öffentliche Preisfragen zu landwirtschaftlichen Themen auf dem Land aus, sammelte mittels gedruckter Fragebogen statistische Daten von den Gemeinden und lud Bauerndelegationen zu Gesprächen in ihr Versammlungslokal ein.
12 Rede Hans Kaspar Hirzels zur Eröffnung des neuen Versammlungslokals im Zunfthaus zur Meise am 10. Januar 1957 (zit. in Rudio, 1896: 47). 13 Zit. in Rudio (1896: 147).
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
b) Die Preisfragen und "Anleitungen" an die Landleute Zuerst zu den Preisfragen. Ab 1762 bis 1804 schrieb die Naturforschende Gesellschaft jährlich eine (ausnahmsweise auch mehrere) Preisfragen aus. 14 Die Bauern wurden gegen ein geringes Preisgeld für die besten Antworten dazu aufgefordert, Stellung zu präzisen Teilfragen zu beziehen und damit Informationen über die landwirtschaftlichen Verhältnisse, Methoden, Probleme und Wünsche auf ihrem Hof und in ihrem Dorf an die Naturforschende Gesellschaft zu schicken. Mit dem Sammeln dieser Informationen allein wurde die Sache aber nicht belassen. Die eingegangenen Angaben wurden von den Ökonomen ausgewertet und teilweise in sogenannten Anleitungen zusammengefasst und kommentiert, welche gedruckt und unentgeltlich, meist über die Pfarrer und Lehrer, auf dem Land verteilt wurden. Mit den Preisfragen wurde somit eine doppelte Zielsetzung verfolgt: Einerseits wurden Informationen über die landwirtschaftlichen Verhältnisse im Kanton mit geringem Aufwand zentral gesammelt, anderseits konnten mit den darauf basierenden Anleitungen die "besten" Ideen und Methoden gleich wieder unter die Landleute verteilt werden. Mit dieser Doppelstrategie sollte eine breite Diffusion des sorgfältig ausgewählten agrartechnischen Wissens einzelner Bauern sowohl unter den interessierten städtischen Kreisen wie auch in der gesamten Landbevölkerung erreicht werden. Mit den Preisfragen wurden die aktuellen landwirtschaftlichen Probleme und Neuerungen der Zeit thematisiert, wie die Düngung der Felder und die Sommerstallfütterung (1769-71), der Anbau von Wiesen (1773-77), die Kartoffeln (1780- 81), der Obstbau (1782- 84) oder die Weinreben (1786- 88).15 Man wollte wissen, wo die neuen Ideen und Methoden auf den einzelnen Betrieben schon Anwendung fanden, was für Gründe dafür oder dagegen sprachen und welche Erfahrungen bisher damit gemacht worden waren. Die Antworten der Bauern und Tauner sollten die bereits vorhandenen theoretischen Vorstellungen der Ökonomen ergänzen und Aufschluss über den Stand und die Hindernisse der Agrarmodernisierung geben. Inwiefern die Ökonomen tatsächlich aus den Antworten der Bauern Lehren ziehen konnten, müsste genauer untersucht werden. Die wohl wichtigere Intention der Preisfragen und Anleitungen war aber die breite Diffusion des in der Bauernschaft vorhandenen Wissens unter die Landleute: "Die landwirtschaftliche engere Gesellschaft {die ökonomische Kommission], arbeitete unermüdet, { ... ] das Mangelnde durch Mittheilung ihrer Kenntnisse und mannigfaltige Ermunterungen zu verbessern; die Landleuthe durch Mitlandleuthe zu unterrichten; den eifrigsten und geschicktesten aus ihnen durch Preisfragen Gelegenheit zu geben, ihren Verrichtungen näher nachzudenken, den Grund derselbigen aufzusuchen, ihre Beobachtungskraft zu schärfen { ... j".16 In diesem Rückblick auf die Tätigkeit der Ökonomi14 Rudio (1896: 134-135). Schmidt (1932: 139) gibt das Jahr 1763 für das erste Preisausschreiben an, was falsch ist. I~ Wehrli-Keyser (1932: 1O-1I). 16 Zit in Rudio (1896: 132; Hirzel in der Gedenkrede auf Gessner, ohne nähere Angaben).
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schen Kommission hatte Hans Konrad Hirzel die didaktischen und erzieherischen Absichten der Kommissionsarbeit deutlich in den Vordergrund gerückt. Erklärtes Ziel der ganzen Kommissionsarbeit war es schliesslich. durch eine Umsetzung der neusten agrarökonomischen Erkenntnisse eine Erhöhung der Produktivität und der Eigenversorgung der Zürcher Landwirtschaft zu erreichen. Inwiefern wurde mit den Preisausschreiben und gedruckten Anleitungen dieses Ziel erreicht? Die neuere Literatur äussert sich durchweg skeptisch bezüglich der Wirksamkeit dieser Diffusionsstrategie der Ökonomen. Der wichtigste Vorbehalt bezieht sich auf den medialen Weg. den diese Diffusion eingeschlagen hatte: Sowohl die Lektüre der Preisausschreiben und Anleitungen wie auch das Verfassen der Antworten setzten einen selbstverständlichen Umgang mit der Schriftlichkeit voraus. der für den grössten Teil der ländlichen Bevölkerung nicht gegeben war. Zwar waren die meisten Landleute durch den zeitweisen Besuch der Landschulen zumindest rudimentär alphabetisiert. und es sind zahlreiche beeindruckende Biographien von gebildeten bäuerlichen Autodidakten bekannt. welche "nebst reiner Feldarbeit im Lesen unersättlich und in Bücheren die ganze Welt durchreiset" 17 hatten - als bekannteste seien lediglich Ulrich Bräker (1735 - 1798) sowie der Zürcher Tagebuchschreiber Heinrich Bosshard (1748-1815) erwähnt. Neben solchen Ausnahmeerscheinungen und dörflichen Randfiguren war. abgesehen von der Bibel. das Lesen unter der ländlichen Bevölkerung wenig verbreitet. Sogar der Zürcher Musterbauer Kleinjogg Guyer hielt nichts vom Lesen. wofür er von seinen städtischen Mentoren ausdrücklich gelobt wurde. 18 Das Lesen und Schreiben der Landbevölkerung wurde nämlich - Ironie der Aufklärung - von der gebildeten Obrigkeit gar nicht gefördert: "Sie [die Bauern] sollen Lesen und Studieren den Herren überlassen. deren Beruf es erheische. Für diese seyen die Bücher der Pflug. den sie nach Gottes Verordnung führen müssen. ,,19 Doch wenn die göttliche Ordnung den Bauern das Lesen vorenthielt. wie sollten sie dann die schriftlichen Preisaufgaben und Anleitungen der Naturforschenden Gesellschaft zur Kenntnis nehmen? Man war sich unter den Ökonomen dieses Widerspruchs durchaus bewusst und bemühte sich. die an die Bauern gerichteten Preisfragen und Anleitungen möglichst in einem einfachen. väterlichen Stil zu halten sowie die Vermittlung durch die Dorfpfarrer ausgiebig in Anspruch zu nehmen. "Gegenseitige vorurtheile hemmen die vertraulichkeit". stellte Hans Caspar Hirzel fest und zeigte sich gleichzeitig zuversichtlich. dass diese durch ein demonstratives Entgegenkommen der Her17 Johannes Thornmann aus Zollikon (1720-1805) in einern Schreiben an die Naturforschende Gesellschaft. zit. in Schärli (1985: 53). 18 Schenda (1984: 221-228) und Schärli (1985: 39). 19 Hans Caspar Hirzel. Auserlesene Schriften. Bd. 11. 252-254 (zit. in Schenda. 1984: 226). Schenda zeigt anhand einer kritischen Analyse der Schriften Hirzels. wie die Landbevölkerung vorn Lesen abgehalten wurde. um deren sozialen Aufstieg zu verhindern. Siehe dazu auch Bollinger (1941: 11 - 13). der den Pfarrer Irrninger von Henggart zitiert (1783): "Ich sehe es gern, wenn der Landmann gerade nur das ihm Nötigste weiss. .. Auf diesen Widerspruch zu den Ideen der Aufklärung weist auch schon Schrnidt (1932: 178) hin.
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ren überwunden werden könnten; man brauche nur recht "freundschaftlich, offenherzig, Wahrheitliebend mit Bescheidenheit und Anstand verbunden" zu den Bauern zu sprechen. 2o Ettinger21 untersuchte die gesamte Korrespondenz zwischen der Naturforschenden Gesellschaft und Landleuten aus den Jahren 1762 und 1784, welche durch die Preisaufgaben, Bauerngespräche und durch weitere Anlässe zustande gekommen war. Dabei zählte er 250 Personen, welche mindestens einmal, 40 Personen, die mehrmals in schriftlichen Kontakt mit der Gesellschaft getreten waren. 22 Auf die Preisfragen des Zeitraums von 1762 - 1780 hatten lediglich 106 verschiedene Personen - das sind im Durchschnitt nicht einmal sechs pro Jahr geantwortet, davon jedoch eine grössere Zahl von besonders engagierten ,,Musterbauern" mehrmals. Der Kreis der Antwortenden war von vornherein eng begrenzt, da nur wenige des Schreibens in genügender Qualität mächtig waren. Es erstaunt deshalb nicht, dass sich unter den Antwortenden sehr häufig Schulmeister und höhere Dorfbeamte befanden 23 - mitunter arbeitete sogar der Dorfpfarrer tatkräftig an einem Antwortschreiben mit. 24 Die gedruckten Anleitungen, wie schon die Preisfragen, gingen in der Regel an die Pfarrer; ihre weitere Verwendung und Verteilung hing somit stark von deren Engagement ab. Sie konnten die meist in einer geringen Stückzahl abgegebenen Anleitungen entweder einfach liegen lassen, an ausgewählte Bauern verteilen oder in der Kirche verlesen. Wurde einer der beiden ersten Wege gewählt, war die Breitenwirkung naturgemäss sehr beschränkt. Die dritte Möglichkeit dürfte zwar viele Landleute erreicht, bei den einzelnen Bauern aber nur eine geringe Wirkung gehabt haben. Einmal musste es auch beim besten Willen schwer gefallen sein, den Inhalt der verlesenen Anleitungen zu memorieren, dann dürfte es aber auch an eben diesem guten Willen häufig gefehlt haben. In der Kirche wurden gewöhnlich die unbeliebten Mandate und Verordnungen der Regierung verlesen, womit die Anleitungen unweigerlich in die Nähe dieser herrschaftlichen Anordnungen rückten. Letzteres dürfte dafür verantwortlich gewesen sein, dass Landleute, welche auf Preisfragen antworteten, mitunter mit dem Spott und Misstrauen ihrer Nachbarn rechnen mussten. 25 Zit. in Schmidt (1932: 227* und 123). Ettinger (1995). 22 Ettinger (1995: 60). Schärli (1985: 52) gibt die Zahl der mindestens einmal korrespondierenden Landleute mit 300 Personen an. 23 Peter (1996: 119) stellt unter den 15 Antwortenden auf die Preisfragen von 1780 und 1781, deren Beruf bekannt ist, sechs Schulmeister, einen alt-Hauptmann, einen Seckelmeister, einen alt-Ehegaumer, und einen Gerichtsvogt fest. 24 Ettinger (1995: 69) nennt ein Beispiel aus dem Jahr 1770, da Pfarrer Kitt von Brütten, selbst Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft, massgeblich am Antwortschreiben von fünf jungen Landwirten beteiligt war, indem er jene wöchentlich im Pfarrhaus versammelte und das Schreiben schliesslich selbst verfasste. 25 Me1chior Steinbrüchel begründete im Antwortschreiben von 1780 sein anfängliches Zögern mit der Befürchtung, "wurde sey [die Naturforschende Gesellschaft] mich nur bloss auslachen, und wurdens noch nicht allein bey ihnen Behallten, sonder meine Benachbahrten wurdens auch noch vernemmen, und dann wurden sey mich bloss daran auslachen [ ... ]" 20
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Die gleichgültige oder ablehnende Haltung der grossen Mehrzahl der Landleute ist aber nicht bloss auf ein generelles bäuerliches Misstrauen gegen alle herrschaftlichen Äusserungen zurückzuführen. Es ist noch einmal zu vergegenwärtigen, dass die Anleitungen der Naturforschenden Gesellschaft, gemessen an heutigen Massstäben universitärer Gutachten, nur eine geringe wissenschaftliche Autorität aufweisen konnten. Sie enthielten Ratschläge und Anregungen zu neuen landwirtschaftlichen Praktiken, deren Nützlichkeit lediglich durch die Angaben der Ökonomen oder durch zitierte Erfahrungsberichte und Beispiele von irgendwelchen unbekannten Bauern und Taunern, aus möglicherweise entlegenen Gegenden des Kantons belegt wurden. Bisher hatten sich die Vertreter der städtischen Oberschicht kaum als landwirtschaftliche Experten ausgewiesen. Warum sollten die Bauern und Tauner jetzt deren Angaben Vertrauen schenken? Mochte sich ein Vorschlag derselben im nachhinein auch als noch so richtig erwiesen haben, die zu erwartenden Kosten 26 und Risiken seiner Umsetzung trugen stets die Bauern und Tauner. So erstaunt es nicht, wenn in den Akten der Zürcher Ascetischen Gesellschaft aus jener Zeit selbstkritisch vermerkt wird: "Auch macht man sich bei den Bauern oft lächerlich, wenn man mit hübschen Theorien gegen ihre landäkonomischen vieljährigen Erfahrungen angezogen kommt"?? Insgesamt lässt sich die Wirkung der Preisaufgaben und Anleitungen auf das Verhalten der Landleute nicht abschliessend beurteilen. Die direkte Wahrnehmung und Umsetzung der technischen und betriebswirtschaftlichen Ideen, Anregungen und Forschungsergebnisse durch die Landleute war zwar sehr wahrscheinlich gering. Zudem ist grundsätzlich zweifelhaft, dass überhaupt ein bedeutender Mangel an agrartechnischem Wissen auf dem Land herrschte. 28 Inwiefern die Bauern aber trotzdem durch die Schriften der Ökonomen oder über das Vorbild von Musterbauern vermittelt, uneingestanden oder gar unbewusst zur Übernahme neuer, produktiverer Anwendungen und Methoden bewegt wurden, muss wegen der ungenügenden Quellenlage offen bleiben. 29 Es scheint jedoch eher unwahrscheinlich, dass solche, durch die Naturforschende Gesellschaft ausgelöste Vorbild-Effekte bedeutende Ausmasse angenommen hatten. Abschliessend soll zu dieser Frage lediglich der Bericht des Pfarrers von Schöfflisdorf zitiert werden, der recht ernüchternd
(Peter, 1996: 122). Ähnlich berichtet auch Heinrich Bosshard vom Spott der Dorfbewohner, nachdem er einen Preis gewonnen hatte: "Bey jedem Mandat, das nicht gefiel, hiess es: die verfluchten Schmeichler gebens den Herren so an [ ... ] und daher wurde ich angesehen, als ob ich ein Landesverräther wäre" (zit. in Ettinger, 1995: 70 f.). 26 Auch dieses Problems scheinen sich die Ökonomen teilweise bewusst gewesen zu sein. Wenn sie landwirtschafltiche Versuche im Auftragsverhältnis durch ausgewählte Bauern durchführen liessen, übernahmen sie einen Teil der Kosten und stellten das Saatgut zur Verfügung (siehe unten). 27 Zit. in BoIlinger (1941: 27). Siehe dazu auch Ettinger (1995: 63). 28 Siehe Kapitel V. 29 Auch Peter (1996: 209) muss diese Frage für den Fall des Kartoffelanbaus unbeantwortet lassen.
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klingt: "So finden z. B. die Preisfragen der Naturforschenden Gesellschaft, und derselben aus den eingegangenen Beantwortungen zusammengetragenen und herausgegebenen Anleitungen nicht den Beyfall, den eine so lobenswürdige Bemühungfinden sollte. Kaum sind einige [Landleute] dahin zu bringen, dass sie dieselben lesen. Sie - auf dem Land beym Feldbau erzogen - sind eingenommen gegen die Räthe, welche Herren aus der Stadt, die niemals damit umgegangen, über den Landbau ertheilen wollen. [ ... ] Und von denen Männern, an andern Orten, die Beantwortungen über ausgeschriebene Preisfragen einliefern, urtheilen sie: 'Solche arbeiten nicht: Möchten sie arbeiten, so wurden sie nicht Zeit nehmen zum Schreiben. Diess sey keine Sache für Bauern ".30 c) Statistiken und Bauemgespräche
Eine zweite Massnahme der Ökonomen zur Informationsbeschaffung war das Anlegen von Statistiken über die Bevölkerung und die landwirtschaftlichen Verhältnisse im Kanton durch die Naturforschende Gesellschaft. 3 ! Ab 1765 wurden vorgedruckte statistische Tabellen an die Pfarrer einzelner Dörfer geschickt, um von jenen neben demographischen Daten auch wirtschaftliche Angaben über die Struktur der Landwirtschaft und die Besitzverteilung von Äckern, Wiesen und Vieh in ihren Dörfern darin eintragen zu lassen. 32 Diese ökonomischen Tabellen, die bis in die 1780er Jahre hinein nach und nach angelegt wurden, bilden noch heute eine wichtige Grundlage für die Rekonstruktion der landwirtschaftlichen Verhältnisse jener Zeit im Kanton Zürich. 33 Die Tabellen dienten den Ökonomen jeweils zur Vorbereitung ihrer dritten kommunikativen Innovation, der "Bauerngespräche", welche ab Anfang 1763 veranstaltet wurden?4 Zu diesen Gesprächen lud die Naturforschende Gesellschaft durchschnittlich ein bis zweimal pro Jahr35 Delegationen aus einzelnen Dörfern zu sich nach Zürich ein, um jene über die wirtschaftlichen Verhältnisse in ihrer Gegend auszufragen. Auch mit den Bauerngesprächen wurde ein doppeltes Ziel angestrebt. Zunächst konnten so Informationen über die ländliche Wirtschaft gewonnen werden, ohne dass die Gnädigen Herren sich bemühen mussten, selbst auf das Land zu fahren und sich zu erkundigen. Möglicherweise hatten die anfallenden Informationen durchaus das agrarökonomische Wissen einiger städtischer Herren vergrössert; es Zit in Schmidt (1932: 267*f). Die Erfassung der sozialen und natürlichen Umwelt durch Statistiken war in zahlreichen Ländern Europas in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend zu beobachten; siehe Foucault (1975) und unten, Kapitel VII.3. 32 Schmidt (1932: 132 - 133). 33 Pfister (1992: 394, 525 - 529). 34 Graber (1993, 42) gibt das Jahr 1759 an, was offensichtlich falsch ist. 35 Gemäss Ettinger (1995: 76) wurden zwischen 1763 und 1779 22 Bauerngespräche durchgeführt. 30
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wäre aber sehr schwierig festzustellen, ob und in welcher Weise sie effektiv in systematische Forschungsarbeiten einflossen. Hauptzweck dieser "feierlichen Unterredungen ,,36 war jedoch nicht die Forschung. Im Vordergrund stand vielmehr die Absicht, die Bauern durch die spektakuläre Inszenierung der eigenen herrschaftlichen Grösse und patriarchalischen Güte nachhaltig zu beeindrucken. Einerseits sollte damit das Loyalitätsverhältnis der ländlichen Untertanen zur städtischen Herrschaft gefestigt werden, anderseits versuchte man, auf diese Art und Weise die Bauern von der Nützlichkeit neuer landwirtschaftlicher Methoden zu überzeugen. Man wollte sich selbst als mächtige, aber gütige und wohlmeinende Landesherren präsentieren, um überzeugend und disziplinierend auf die Bauern zu wirken. Diese zugleich repräsentative wie auch belehrend-erzieherische Zielsetzung mündete in die Doppelstrategie, dass sich die Gnädigen Herren einerseits durch den Tonfall ihrer Äusserungen und ihr demonstratives Interesse gegenüber den Landleuten ausgesprochen milde zeigten, gleichzeitig aber versuchten, durch ihr äusserliches Auftreten Grösse, Macht und ständische Distinktion zu demonstrieren. So wurden die Bauern stets im prächtigen Zunfthaus zur Meise empfangen. Zu den einzelnen Gesprächen waren jeweils alle Mitglieder der Naturforschenden Gesellschaft schriftlich aufgeboten worden, damit "die Gegenwart vieler Mitglieder, sonderbar von Uno gnd. Herrn die Handlung feyerlich und auf die Landleuth einen guten Eindruk mache ".37 Zu den Gesprächen wurden neben den Bauerndelegationen häufig Vertreter aus dem engen Kreis der Musterbauern38 eingeladen, um sie als Experten, Vermittler und Vorbilder den geladenen Gästen zu präsentieren. 39 Allenfalls dürfte die Loyalität und Motivation dieser Ausnahmeerscheinungen gefestigt worden sein, wenn Hirzel an einem Bauerngespräch erklärte, "Ja liebe Landleuthe glaubet es eurem aufrichtigen für euch von liebe ganz erfüllten Freunde. Wenn es eüch wohlgehen muss, so muss es der Stadt wohlgehen, und wenn es der Stadt wohlgehen soll, so müsst ihr glücklich seyn. ,,40 Ob mit einer solchen Formel über diesen engen Personenkreis hinaus die erwünschte Wirkung erzielt wurde, ist wohl eher zu bezweifeln. Schmidt möchte in den Bauerngesprächen eine "demokratische Wendung des Schmidt (1932: 138). Naturforschende Gesellschaft: Statutenentwurf, Aufsätze betr. Organisation, 17471850 (StAZ B IX 207). Siehe auch Ettinger (1995: 76 f.), der die Doppelstrategie der Ökonomen sehr schön herausarbeit. Leider kann er keine belegbaren Angaben darüber machen, in weIchem Sinne die "polyvalente Wirkung" der Bauemgespräche durch die eingeladenen Landleute interpretiert wurde. 38 Zu den Musterbauern gehörten eine Handvoll Landleute, weIche sich besonders durch eifriges Schreiben von Antworten auf die Preisfragen hervorgetan hatten. Für diesen Loyalitätsbeweis und ihr Sonderinteresse erhielten sie Anerkennung, indem sie speziell ,,mit neuen agrarökonomischen Ideen, Reformvorschlägen und auch Saatgut versorgt wurden". (Peter, 1996: 120). Auch Stiefel (1944: 58) fällt auf, dass häufig die gleichen Namen unter den bäuerlichen Verfassern von Antwortschreiben vorkommen. 39 Kleinjogg Guyer war fast immer anwesend. 40 Zit. in Ettinger (1995: 78). 36 37
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Ökonomischen Patriotismus" erkennen. 41 Nach seiner Ansicht fehlt vom patriarchalischen Argumentationsstil der Zürcher Herren "nur ein verschwindend kleiner Schritt bis zu der im demokratischen Rechtsstaat üblichen Rechtfertigung aller Politik mit den Vorteilen, die sie der Mehrheit der Staatsangehörigen bringen".42 Auch Stiefel übernimmt Schmidts Argumentation, indem ihr "der demokratische Anstrich" der Ökonomen auffällt. 43 Guyer rückt die Gespräche sogar in die Nähe von "Betriebsberatungen" im modemen Sinn44 , und auch in der jüngsten Kantonsgeschichte von 1996 heisst es zuversichtlich, die Teilnehmer an den Bauerngesprächen hätten die Ideen der modemen Landwirtschaft "in die Landschaft hinaus getragen und den Flor dieses Wirtschaftszweigs bewirkt,,45. Diese Einschätzungen scheinen angesichts der ganz klar antidemokratischen Haltung der Zürcher Regierenden kaum haltbar. Offensichtlich ist aus den Quellen zwar ein gewisser Begründungszwang der Herrschaften herauszulesen. Der daraus folgende freundlich-patriarchalische Ton der Ökonomen belegt jedoch keineswegs deren demokratische Gesinnung, sondern lediglich die Tatsache, dass sich die städtischen Herren ihrer schwachen Autorität am Ende des Ancien Regime durchaus bewusst waren. Er ist am ehesten als ein Ausdruck der eingeschränkten Handlungsspielräume der Ökonomen zu interpretieren. Man versuchte, die eigenen Ziele mit gut Zureden zu erreichen, weil man genau wusste, dass Befehle nicht hätten durchgesetzt werden können. Man war zwar bereit, diese Restriktionen zu anerkennen, von einer demokratischen Willensbildung kann aber keine Rede sein. 46 Das enorme, bewusst inszenierte Herrschaftsgefalle zwischen der Naturforschenden Gesellschaft und den Bauern an diesen Bauerngesprächen kann kaum als eine günstige Voraussetzung für vertiefte Lernprozesse oder "Betriebsberatungen" bezeichnet werden. Wohl gibt es vereinzelte Berichte über gewisse Veränderungen der Bewirtschaftungspraxis auf Grund solcher Bauerngespräche. Die Gemeinden Ossingen und Trüllikon verboten beispielsweise 1767 nach einem solchen Gespräch mit den Ökonomen die Herbstweide auf den Wiesen für sechs Jahre47 , und Schmidt (1932: 138). Schmidt (1932: 124, 126). 43 Stiefel (1944: 31). 44 Guyer (1972: 143). 4S Geschichte des Kantons Zürich (1996: 472). 46 Hesse (1945: 33) sieht in den Bauengesprächen lediglich ein Instrument zur Herrschaftssicherung, ähnlich Ettinger (1995: 79). Graber (1997: 138-145) anerkennt zwar die angebliche Bereitschaft der Zürcher Ökonomen, die Bauern in landwirtschaftlichen Fragen als gleichberechtigte Gesprächspartner zu akzeptieren (wobei auch dies wohl zu bezweifeln ist, siehe die unten zitierte satirische Beschreibung eines Bauerngesprächs durch Füssli), verweist aber auf das berechtigte Misstrauen der Unteranen vor den eigennützigen Bemühungen der Ökonomen um eine solche "limitierte Aufklärung". Siehe dazu vor allem auch die Diskussion in Kapitel VII. 47 Protocoll über die Verhandlungen der zur Vertheilung der Gemeind-Güter hochverordneten Ehren-Comrnission, 6. April 1778 (StAZ B IX 76a, S. 186). Siehe auch Schmidt (1932, Bd. 2: 275*0. 41
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in Uhwiesen und Dachsen soll ebenfalls als Folge von Bauerngesprächen 1769 bzw. 1770 die Weide auf Wiesen, im Wald und auf der Brache aufgehoben worden sein48 . Auch in Nänikon soll der führende Zürcher Ökonom Dr. Hans Caspar Hirzel Erfolg gehabt haben, als er angeblich an einem Bauerngespräch49 die anwesenden Bauern davon überzeugen konnte, die Allmenden zu verteilen und den Weidgang aufzuheben. Er habe dabei, wohl als notwendiges Kompromissangebot, empfohlen, auch den Armen ohne Grundbesitz ein Stück Land zur Anpflanzung von Gemüse zu geben. so Es sind aber auch Misserfolge bekannt. So litten beispielsweise in Rafz die landwirtschaftlichen Verhältnisse nach einem Bericht der Ökonomischen Kommission von 1763 erheblich unter ungenügenden Beständen an Wiesen, Vieh und Dünger. Versuche, mit der Anpflanzung von Esparsette die Situation zu verbessern, mussten allerdings auf die privaten Baumgärten einzelner innovativer Rafzer Bauern beschränkt bleiben, "weil ihnen in der Zelg [wohl vom weidenden Vieh] alles zu Grund gerichtet wurde,,;SI offensichtlich hatte sich in Rafz die Koalition der dörflichen Weidganggegner und der städtischen Agrarreformer nicht durchsetzen können. Insgesamt scheint es schwierig, die Wirkung der Bauerngespräche auf die bäuerliche Bewirtschaftungspraxis abzuschätzen. Berichte, wonach Landleute - abgesehen von den wenigen Musterbauern - tatsächlich handlungswirksame agrartechnische Informationen an den Gesprächen in Zürich gelernt hätten, stammen fast ausschliesslich aus den Federn der Naturforschenden Gesellschaft selbst und scheinen damit nicht sehr verlässlich. Gegen eine markante Wirkung der Gespräche spricht demgegenüber viel eher, dass der Gang nach Zürich unter den Bauern ausgesprochen unbeliebt gewesen zu sein scheint. 52 Und auch unter städtischen Zeitgenossen distanzierte man sich mitunter deutlich von .den Schauspielen, die im Zunfthaus zur Meise inszeniert wurden. So berichtet Johann Heinrich Füssli, ein Vertreter der kritischen Generation der 1760er Jahre 53 , in seinen fiktiven Briefen des Conte di Sant' Allessandro aus dem Jahr 1770 mit beissender Ironie vom angeblichen Besuch eines Bauerngesprächs: s4 "Herr Hirzel wandte sich also zu dem ersten Landmann und hies ihn seine Gedanken über die Frage eröffnen: Ob er nicht glaube, dass der Dünger des Landwirts beträchtlich vermehrt und sein Feld darbei gewinnen würde, wenn er sein Vieh auch durch den Sommer Wehrli-Keyser (1932: 30). Siehe unten Kapitel VI.2.b). 50 Wehrli-Keyser (1932: 37 - 38). SI Zit in: Wehrli-Keyser (1932: 31-33). 52 Die Landpfarrer oder Dorfvorgesetzten, welche in der Regel mit der Rekrutierung der Bauerndelegationen beauftragt wurden, hatten bisweilen Mühe, geeignete Personen zu delegieren; siehe Hauser (1955: 90) zur Gemeinde Wädenswil, Ettinger (1995: 76) zu Grüningen und Graber (1997: 144-145) zu Wald. 53 Siehe Kap. VI.3. Zur Biographie Füsslis siehe das Vorwort des Herausgebers der Briefe des Conte die Sant' Allessandro (Füssli, 1940: 5 - 45) sowie König (1959). 54 Füssli (1940: 72-74). 48
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im Stall behielte? Der Mann antwortete mit Ja, und unterstützte seine Meinung ungebeten mit etlichen Gründen. Hierauf fragte Herr Hirzel einen zweiten, weIcher die Frage ebenfalls bejahete, und einen guten Grund beyfügte, der für zehen galt. Ein dritter, weIcher befragt wurde, wollte ausgleiten und bejahete zwar die Frage, fing aber mit emporgereckter Hande, mit guter, aber etwas wild gewachsener Logik an, Nachtheile an den Fingern zu zählen, weIche den zugestandenen Vorteil des Behaltens des Viehs in den Ställen seiner Meinung nach überwägen würden. Als Herr Heidegger ihm in die Rede fiel und ihn bat, sich nicht zu übereilen, sondern dem Präsidenten des Gesprächs direkte und einzig auf die vorgelegte Frag zu anworten: 'Ich hab ja schon gesagt, erwiderte der Bauer mit einer Lebhaftigkeit, die ungemein bedeutend war, ,dass ich den Vorteil der Behaltung des Viehes in den Ställen zugebe.' Hier schwieg er und unterdrückte ein Aber, weIches dem guten Mann auf den Lippen schwebte. Ein vierter und fünfter bejaheten die vorgelegte Frage. Abermals ein sechster machte Einwendungen, die von dem Unvermögen der armen Bauersleute hergenommen und höchst wichtig waren. Hier, ich gestehe es, hätte ich gewünscht, dass die Schwierigkeit des guten Mannes auf die einzige mögliche Weise wäre gehoben worden. Ich glaube nämlich, dass Geld eine Hauptnerve der Verbesserung des Feldbaus, wenigstens ebenso gut als Nervus belli sei, und dass dasselbe den Fleiss und die Geschicklichkeit zwar keineswegs überflüssig machen, aber doch nähren muss. Ich erwartete also Spuren von einer Ame1iorationskasse zu vernehmen, weIche entweder der Staat oder die Gesellschaft darreichen würden. Allein ich fand mich betrogen [ ... ]"
d) Landwirtschaftliche Versuche und Expertisen
Neben diesen vielfachen kommunikativen Bemühungen zur Gewinnung von nutzbaren Informationen und statistischen Daten über die demographischen und ökonomischen Verhältnisse im Kanton führte die Naturforschende Gesellschaft auch praktische landwirtschaftliche Versuche in verschiedenen Formen durch. Diese Versuche entsprangen dem viel geäusserten Bedürfnis der bedeutendsten unter den Ökonomen, einerseits einen wissenschaftlichen Beitrag zur Erforschung der Landwirtschaft zu leisten und sich anderseits praktisch umsetzbare, "nützliche" Kenntnisse anzueignen, die zur Verbesserung der landwirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse eingesetzt werden könnten. Diese Verbindung von wissenschaftlichen und pragmatischen Ambitionen schien mit der Durchführung landwirtschaftlicher Versuche in idealer Weise zu gelingen. Schon 1757 waren von den gleichen Männem, die dann zwei Jahre später die berühmte Ökonomische Kommission repräsentieren sollten, das Projekt ausgearbeitet worden, einen landwirtschaftlichen Versuchsbetrieb der Naturforschenden Gesellschaft zu gründen. 55 Nachdem das Projekt wegen mangelnder finanzieller Unterstützung durch das städtische Publikum gescheitert war, geriet es etwas in Vergessenheit, bis ab 1767 mit dem neuen botanischen Garten auf dem Schimmelgut in Wiedikon endlich ein Gelände von ausreichender Grösse zur Verfügung stand. Dort konnten neben dessen eigentlichem Zweck, den botanischen Studien, auch noch Anbauversuche mit verschiedenen
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Siehe die detaillierte Darstellung in Kap. VII.
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Sorten von Klee, Getreide und Kartoffeln durchgeführt werden. 56 Zudem wurden hin und wieder ausgewählte Bauern durch ihre Dorfpfarrer und Mitglieder der Naturforschenden Gesellschaft beauftragt, bestimmte Versuche mit neuen landwirtschaftlichen Verfahren oder Produkten durchzuführen. Dafür wurde ihnen das Saatgut unentgeltlich zur Verfügung gestellt oder eine Entschädigung versprochen. 57 Nicht selten waren auch Bemühungen einzelner Ökonomen, Amtsherren und Pfarrer, weIche auf eigene Initiative und Rechnung agrarische Experimente und Beobachtungen auf ihren Landgütern anstellten. 58 Zu erwähnen sind hier nur einige wenige bekannte Exponenten, welche mit Experimenten versuchten, die Produktivität ihrer Landgüter zu verbessern. 59 Der Weininger Gerichtsherr Johann Ludwig Meyer von Knonau, zu dessen Schloss auch ein grösserer Landbesitz gehörte, soll schon um 1740 Versuche mit dem Anbau von Kartoffeln gemacht haben. Später setzte er sich für die Verbreitung des Kartoffelkonsums, der Kleewiesen und die Verteilung von Gemeindegütern in seiner Region ein. 60 Jakob Ott, der erste Präsident der Ökonomischen Kommission, führte auf seinem Landgut im Röthel in Wipkingen Versuche mit Futterkräutern und Kartoffeln durch, ebenso Amtmann Heinrich Escher (1734-1800).61 Die privaten Aktivitäten einzelner Ökonomen sind kaum von der Tätigkeit der Naturforschende Gesellschaft bzw. der Ökonomischen Kommission zu trennen. Die Gesellschaft und ihre Kommission dienten den Ökonomen dazu, Beobachtungen und Reflexionen auszutauschen, neue Anregungen aufzunehmen und die eigenen Ergebnisse zu präsentieren. Allein in diesen Kreisen konnte man sich immer wieder der Sinnhaftigkeit und Verdienste seiner eigenen Bemühungen versichern. Erst durch die Auseinandersetzungen mit den fachkundigen Mitgliedern wurde das eigene Interesse an den landwirt56 Später kamen noch weitere Versuchsbetriebe dazu, siehe Rübel (1947: 29), Boschung (1996: 119), Peter (1996: 186); so etwa der Versuchsbetrieb der Naturforschenden Gesellschaft bei der "Heuelschür" oberhalb Hottingen (Schärli, 1985: 49). 57 Ettinger (1995: 65) berichtet beispielsweise von einem Bauern, der vom Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft Pfr. Kitt in Rickenbach 10 fI dafür erhielt, dass er eine halbe Jucharte Ackerland drei Jahre lang mit Klee bepflanzte und ausschliesslich mit Gips düngte. 1778 wurden ausgewählten Bauern in Wiesendangen Setzlinge verteilt und Prämien versprochen, damit sie versuchsweise Wirz auf Moorland setzten. Der Erfolg des Versuchs war gering (Stiefel, 1944: 65). 58 Siehe Stiefel (1944, 59-60). 59 Auch unter den Bauern wurden selbständig landwirtschaftliche Versuche angestellt; Kleinjogg Guyer von Werrnatswil war keineswegs der einzige, weIcher Neuerungen auf seinem Hof ausprobierte (Pfister, 1985: 18). Schärli (1985: 52) weist darauf hin, dass im Archiv der Naturforschenden Gesellschaft teilweise noch unausgeschöpfte Quellen auf zahlreiche bisher nicht gebührend beachtete Biografien innovativer Bauern verweisen. 60 Siehe Gerold Meyer von Knonau (1884: 75 - 76). Zu den Versuchen mit dem Kartoffelanbau und Kartoffelkonsum (Mahlmaschinen, Rezepte für Kartoffelbrot) siehe Peter (1996: 101-102). 61 Rudio (1896: 135) und Schärli (1985: 49). Schmidt (1932: 135, Fussnote 616) nennt ohne genauere bibliographische Angaben weitere städtische Herren, welche private landwirtschaftliche Versuche durchführten, wie "Schulthess, Locher, Escher usr'.
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schaftlichen Fragen ständig neu herausgefordert und befruchtet. Schliesslich konnte man sich innerhalb des Kreises der aufgeklärten Ökonomen einen Namen machen und Ansehen gewinnen, wenn man am regen Austausch eigener oder vermittelter landwirtschaftlicher Erfahrungen teilnahm. Falls die Ergebnisse des privaten Versuchswesen gesellschaftlich überhaupt relevant wurden, dann nur durch die Präsentation auf dem Forum der Naturforschenden Gesellschaft. 62 Sicherlich förderten die landwirtschaftlichen Versuche das allgemeine Verständnis und spezifische Wissen über agrartechnische Zusammenhänge, neue Produkte und Produktionsweisen unter den Ökonomen und auch in einem weiteren Kreis von Mitgliedern der Naturforschenden Gesellschaft. Sie nährten den intensiven, aufklärerischen Diskurs zwischen den interessierten Herren immer wieder aufs neue und boten in der Selbstwahrnehmung den willkommenen Anlass, die Fortschrittsperspektive der Aufklärung nicht nur zu denken, sondern auch tatkräftig zu verwirklichen. Inwiefern sie tatsächlich originelle Beiträge zur internationalen agrarökonomischen Forschung darstellten, müsste durch eine wissenschaftsgeschichtliche Analyse gesondert untersucht werden. Walter stellt sich auf den Standpunkt, dass - abgesehen von den Leistungen in der Statistik - innerhalb der Naturforschenden Gesellschaft keine selbständige Grundlagenforschung erbracht worden sei.63 Wichtiger scheint an dieser Stelle jedoch die Frage, ob und in welcher Weise das landwirtschaftliche Versuchswesen der Ökonomen in praktischen Anwendungen und Verbesserungen durch eine signifikante Zahl von Betrieben seinen Niederschlag gefunden hatte. Auch zu dieser Frage, die natürlich im Zusammenhang mit den Bemühungen um die kommunikative Verbreitung der neuen Überzeugungen der städtischen Aufklärer auf dem Land diskutiert werden muss, liegen bisher ungenügende Erkenntnisse vor. Gesichertes Wissen auf dem Gebiet des Kartoffelanbaus verdanken wir einmal mehr lediglich der Arbeit von Peter64 , aus der einige Hinweise zitiert werden sollen. Daneben liegen nur vereinzelte, eher zufallige Hinweise auf die tatsächliche Nutzbarmachung von solchem, durch landwirtschaftliche Versuche experimentell gewonnenem Wissen vor. 65 Während der grossen Versorgungskrise der Jahre 1770/71 wurden die Methoden und Probleme der Kartoffelanpflanzung zu einem vordringlichen Thema der Ökonomen. Die erste grössere Abhandlung der Naturforschenden Gesellschaft über den Kartoffelanbau stammt aus dem Jahr 1770, und schon im Jahr darauf wurde beschlossen, eine Abhandlung des Pfarrers Johann Jakob Nägeli von Hütten in 1200 Exemplaren zu drucken, um sie den Gemeinden zukommen zu lassen. 66 In Siehe dazu auführlich Kapitel VII.2. Walter (1951: 80). 64 Peter (1996). 6S SO erwies sich beispielsweise der erste Auftrag an die Ökonomische Kommission im Jahr 1759, eine Korndörranlage zur besseren Aufbewahrung des Getreides zu entwickeln, als erfolgreich. Die Anlage wurde jahrelang verwendet (Giger-Eschke, 1985: 75). 66 Peter (1996: 105 - lll). 62 63
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dieser Schrift sind viele technische Anleitungen und Tips über die richtige Aussaat, Düngung und Pflege der Kartoffeln enthalten, welche durch die Lektüre der internationalen agrarökonomischen Literatur, durch private Korrespondenzen sowie die Beobachtung der Landleute gewonnen werden konnten. 1773 wurde die "Anweisung und Nachricht über den Erdapfelbau, sonderlich von denen in den Jahren 1771 und 1772 deshalb angestellten Versuchen und Erfahrungen" des international anerkannten Berner Ökonomen und Kartoffelspezialisten Samuel Engel publiziert, der in engem Kontakt mit den Königlichen Gesellschaften in Grossbritannien stand. 67 Ergänzt wurden diese technischen Abhandlungen durch eine aufschlussreiche Schrift von Stadtpräsident und Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft Heidegger aus dem Jahr 1775 über die ökonomischen und institutionellen Bedingungen des Kartoffelanbaus, die aber nicht gedruckt wurde. Somit ist klar, dass unter den Ökonomen Anfang der 1770er Jahre schon ein gros ses Wissen über den Kartoffelanbau verfügbar war, das durch den anhaltenden Diskurs über die Kartoffeln weiter angereichert wurde. Die angestrebte Verbreitung dieses Wissens unter den Landleuten war mit den oben diskutierten Schwierigkeiten verbunden. Daneben leisteten die Ökonomen den aus der Sicht Peters bedeutendsten Beitrag zur Verbreitung des Kartoffelanbaus, indem sie sich tatkräftig für den Import, den versuchsweisen Anbau und die Verbreitung neuer Kartoffelsorten durch die Verteilung von Saatgut einsetzten. 68 Besonders im Krisenjahr 1771 war es für die Bauern und Tauner schwierig, überhaupt an das dann sehr begehrte Saatgut heranzukommen. Die Ökonomische Kommission unternahm deshalb grosse Anstrengungen, jenes den Gemeinden über die Vermittlung durch die Pfarrherren unentgeltlich oder zu einem günstigen Preis zur Verfügung zu stellen. Besonders wichtig war die Einführung neuer Kartoffelsorten in den 1770er Jahren, die häufig durch die Vermittlung Samuel Engels aus England bzw. Amerika den Weg zur Ökonomischen Kommission fanden, welche sie dann unter die Bauern brachte. 69 Neue Kartoffelsorten erhöhten nicht nur die Anpassungsflihigkeit der Kartoffel an die unterschiedlichen Verhältnisse im Kantonsgebiet, sondern waren auch ein probates Mittel gegen die Verbreitung von Kartoffelkrankheiten. Ende der 1780er Jahre wurde der Kartoffelanbau erstmals in weiten Gebieten des Kantons durch die sogenannte Kräuselkrankheit betroffen, deren. Ursachen von der Ökonomischen Kommission analysiert und durch die Einfuhr neuen Saatguts erfolgreich bekämpft wurde?O Peter (1996: 189-201 und 222), Utz (1982). Peter (1996: 210). 69 Besonders eindrücklich ist die Darstellung Peters (1996: 222-233) über die Verbreitung der Yam Batates ab dem Jahr 1773 auf diesem Weg. 70 1788 hatte die Ökonomische Kommission den Auftrag von den Landvögten erhalten, "in unserem Land nachzuforschen welches die Ursache seyn könnte, warum seit einigen Jahren die rothen Erdapfel sowohl an Qualität als Quantität so stark abnehmen". Darauf wurde das bewährte kommunikative Netz der Naturforschenden Gesellschaft (bekannte Musterbauern, Pfarrer, Gemeindebeamten) eingeschaltet, um Erkundigungen aus der Landschaft über 67
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
2. Reformmassnahmen der Regierung durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vermittlung in ländlichen Konflikten Im Verlauf der bisherigen Argumentation wurde die Meinung vertreten und begründet, dass die Bauern und Tauner im 18. Jahrhundert grundsätzlich durchaus über das Interesse und die Fähigkeit verfügten, ertragssteigernde Innovationen in der Landwirtschaft durchzuführen. Damit es tatsächlich zu einem Wechsel der Wirtschaftsweise kam, mussten jedoch drei Bedingungen erfüllt sein. Erstens mussten die Landleute davon überzeugt sein, dass ihren Interessen mit einer innovativen Strategie tatsächlich am besten gedient sei. Diese Entscheidung war, wie im vierten Kapitel gezeigt wurde, nicht für alle Akteure und in allen Fällen apriori eindeutig. Zweitens mussten die Akteure über die notwendigen Ressourcen verfügen, um Innovationen durchzuführen. In der Regel erforderten die Anpassungen kein grosses Investitionskapital. Dennoch waren viele Akteure wohl auch durch geringe Anforderungen an einen Kapitaleinsatz schon überfordert. So dürfte häufig allein schon das Verlustrisiko, das aus der Anschaffung - sofern überhaupt die erforderlichen Mittel aufgebracht werden konnten - einer Kuh entstand, für einen Kleinbauern untragbar gewesen sein?! Für Einhegungen war Zaunmaterial notwendig, das wegen der notorischen Holzknappheit teuer war. 72 Schliesslich erforderten der Übergang zur Sommerstallfütterung und die geforderte Ausdehnung der Viehhaltung wohl in vielen Fällen gewisse Investitionen in Stallbauten und Bodenverbesserungen (Trockenlegung von Mooren und Rieten, Umwandlung von Allmendweiden in private Kunstwiesen, Zaunanlagen). Diese dürften zwar für die grossen und mittleren Bauern in der Regel tragbar gewesen sein, genauere Untersuchungen zu dieser Frage fehlen aber weitgehend. Drittens war eine Anpassung der institutionellen Rahmenbedingungen - insbesondere der Eigentumsrechte an den landwirtschaftlichen Produktionsfaktoren und Erträgen - an die neue Wirtschaftsweise notwendig, damit die individuellen Anreize und Kosten richtig verteilt wurden und getätigte Investitionen nachhaltig gesichert werden konnten. Die Interessen der Zehntbesitzer mussten dabei gesichert bleiben, damit deren Einwilligung in die Refonnen eingeholt werden konnte. Zudem waren die Regeln der dörflichen Wirtschaftsordnung sowie die Eigentumsrechte einzelner dörflicher Anspruchsgruppen neu zu definieren.
die Krankheit einzuziehen. Nach allerlei Mutmassungen und dem Studium ausländischer Abhandlungen und Korrespondenzen über die Ursachen der Krankheit wurde 1789 beschlossen, neues Saatgut aus England zu beziehen, womit die wirksamste Massnahme gegen die Viruserkrankung gefunden war (Peter, 1996: 238 - 251). 71 Deshalb ist in den Heimarbeitergebieten eine starke Ausdehnung der Kleinviehhaltung, vor allem von Ziegen, zu beobachten (Mattmüller, 1983). 72 Siehe Leonhard Usteri, Anleitung für die Landleute in Absicht auf die Zäune, in: Abhandlungen der naturforschenden Gesellschaft in Zürich, Zweyter Band, Seite 361-384, Zürich 1764 und Peter (1996: 154).
2. Reforrnmassnahmen der Regierung
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Die erste Bedingung wurde eingehend diskutiert. 73 Da die Interessenlagen wichtiger Akteursgruppen nicht immer eindeutig waren, ist denkbar, dass diese durch die Berücksichtigung neuer Informationen und Theorien in einer neuen Art und Weise geklärt werden konnten. Erst wenn die Grossbauern davon überzeugt waren, dass sich Investitionen in den Übergang zur Sommerstallfütterung lohnten, konnte ihnen auch die Abschaffung des Weidgangs und der Allmenden sinnvoll erscheinen. Die Möglichkeit zur Beeinflussung des bäuerlichen Verhaltens durch eine gezielte Informationsvermittlung war den Ökonomen sehr wohl bewusst. Deshalb setzten sie - mit eher geringem Erfolg - grosse Mittel zur Informations- bzw. Propagandatätigkeit ein, die im obigen Abschnitt dargestellt wurden. Massnahmen zur Erfüllung der zweiten Bedingung - etwa durch die Gewährung von Krediten oder Unterstützungsbeiträgen durch die Naturforschende Gesellschaft oder die Regierung - wurden nur sehr zaghaft untemommen. 74 Dies erstaunt einigermassen, hätten doch gerade wegen des geringen Investitionsbedarfs mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln markante Verbesserungen erzielt werden können. Doch nun zur dritten Bedingung. Die Dreizeigenwirtschaft gehörte in den Regionen ihrer Verbreitung zur überlieferten Rechtsordnung. 75 Diese Rechtsordnung wurde seit alters her durch die Gemeindebehörden sowie durch die übergeordnete Herrschaftsgewalt der Regierung und Landschaftsverwaltung geschützt. Nun gründete diese Rechtsordnung keineswegs auf einem einheitlichen Text, auf den sich Behörden, Gerichte und private Akteure stützen konnten. Bis 1853 gab es kein Zivilgesetzbuch für das Territorium des Kantons Zürich. Es waren auch keine allseits unbestrittenen Verfahren festgelegt, wonach die Rechtsordnung modifiziert werden konnte. Massgebend und legitim war die seit alters her ausgeübte Rechtspraxis. Die überlieferte Rechtspraxis wurde grundsätzlich durch die Gerichte und Behörden rekonstruiert und bestätigt, sobald eine Person oder ein Verbund von Personen über eine Verletzung ihrer auf diesem Recht basierenden Ansprüche in irgend einer Angelegenheit klagte. Dabei lag es in der Kompetenz der Gerichte und Verwaltungsbehörden, die häufig von ein und denselben Personen besetzt waren, beziehungsweise der Regierung als oberster Instanz, die gültige Rechtspraxis ,,richtig" zu interpretieren und damit auch immer wieder neu zu definieren. Wenn Rechtsverstösse und Konflikte in einer Angelegenheit häufig vorkamen, hielten es die städtischen Räte in der Regel für nützlich, der ihrer Ansicht nach gültigen, einschlägigen Rechtslage durch die Veröffentlichung einer Verordnung Nachdruck zu verschaffen. Darin teilten sie den Untertanen die "richtige" Auslegung des überlieferten Rechts mit und erinnerten jene an ihre Pflichten. Da kein konsistenter Verfassungstext vorlag, verfügten die Räte in der Formulierung ihrer Mandate und Verordnungen stets über einen bestimmten Spielraum, den sie sicherlich in ihrem jeweiligen Interesse auszunutzen wussten. 76 Siehe Kapitel IV. Siehe Schärli (1985) und die oben zitierten zeitgenössischen Bemerkungen des Conte di Sant' Alessandro. 75 Siehe Kapitel IV.I. und IY.2. 73 74
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
Noch komplizierter war die damalige (wie heutige) Rekonstruktion der Rechtslage dadurch geworden, dass sich mit der Zeit die Rechtsordnung in den einzelnen Verwaltungsbezirken und Gemeinden aus verschiedenen Gründen sehr unterschiedlich entwickelt haben konnte. Somit zeichnete sich die Rechtslage im Kantonsgebiet durch eine Vielzahl von unterschiedlichen, lokal und regional gültigen Regelungen aus, über die kaum jemand die Übersicht haben konnte. Es entsprach überhaupt nicht der al1gemeinen Auffassung, dass die Rechtslage im ganzen Territorium zentral geregelt werden müsste. Die Regierung musste sich deshalb in der Gesetzgebung zurückhalten und diese jeweils möglichst an die unterschiedlichen lokalen und regionalen Verhältnisse anpassen. 77 Es war klar, dass grössere Eingriffe in die lokalen Verhältnisse gegen den Widerstand wichtiger Teile der Landbevölkerung mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht durchgesetzt werden konnten. 78 Somit ging es in rechtlichen Konflikten zwischen zivilen Parteien - etwa in Grenzoder Nutzungsstreitigkeiten - nicht nur darum, die Tatbestände durch die Beweisführung zu rekonstruieren. Gleichzeitig musste die für jeden Fal1 gültige, lokale Rechtslage festgestellt werden. Entscheidend war stets die im lokalen Zusammenhang ausgeübte Rechtspraxis, und so bemühten sich beide Konfliktparteien um den Beweis, dass ihre Anliegen mit der bisherigen Rechtspraxis übereinstimmten. Ein wichtiges Mittel zu diesem Zweck war das Vorweisen von alten Schriften und Urkunden, welche die alten Rechte beweisen sollten. Diese konnten häufig Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte alt sein?9 Kunz 80 weist darauf hin, dass das Rechtssystem des Ancien Regime ein eminent konservatives Element beinhaltete. Die Dominanz des überlieferten Rechts habe die Weiterentwicklung der Rechtsordnung wesentlich behindert. So starr war die Rechtsordnung aber nicht. Die Rechtspraxis konnte sich stillschweigend weiterentwickeln, wenn kein ausreichend gewichtiger Kläger die Aufmerksamkeit der Gerichte auf Veränderungen der Rechtsverhältnisse lenkte. So konnte sich allmählich eine modifizierte Praxis einspielen, die mit der Zeit selbst zu neuem Recht wurde. Solange diese neue, faktische Rechtslage nicht zu gerichtlich-ausgetragenen Konflikten führte, fand sie möglicherweise nicht einmal Eingang in die Quellen und Suter (1995: 174-178), Hildbrand (1997). Kunz (1948: 85 - 92). 78 In den Protokollen der Naturforschenden Gesellschaft und der Landwirtschaftskornrnissionen, welche sich in den I 770er Jahren mit den agrarischen Nutzungskonflikten beschäftigten, wird deutlich, dass sich die Regierungsvertreter und die Ökonomen den Grenzen ihrer Einflussnahme absolut bewusst waren. Siehe zum Beispiel Diarium Cornrnissionis PhysicoOeconomicae, 5. Februar 1759 (StAZ B IX 58, S. 2) und Protocoll der landwirthschaftlichen Comission, 24. Juni 1785 (StAZ B III 155, S. 77 -79). 79 Kunz (1948: 85-93), Suter (1995: 174-178). Dieser Vorgang wird auch aus den obrigkeitlichen Verrniulungsversuchen in zahlreichen Nutzungsstreitigkeiten ersichtlich, welche von Pfister (1985: 22-24), Kunz (1948: 103-104), Peter (1996: 41-98) und Pfister (1992: 456-464) dargestellt wurden. Siehe auch ausführlichst das Protocoll der landwirthschaftlichen Comission vorn 28. April 1779 bis dem 24. April 1788 (StAZ B III 155). 80 Kunz (1948: 92). 76 77
2. Reformmassnahmen der Regierung
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blieb für die historische Forschung verborgen. Zudem verfügte die Regierung über eine enorme Konzentration formaler hoheitlicher Rechte zur Gestaltung und Aufrechterhaltung der rechtlichen Verhältnisse auf dem Land. Sie vereinte umfangreiche Kompetenzen in der Gesetzgebung, in der Rechtsprechung und in der Führung der Amtsgeschäfte auf sich, die nach modemen Massstäben demokratisch nur sehr ungenügend kontrolliert, verfassungsmässig unscharf definiert und kaum getrennt waren. Dazu verfügte sie vor allem über zwei Machtinstrumente. Durch die Ausübung ihrer gesetzgeberischen Funktion konnte sie, erstens, versuchen, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Landwirtschaft durch die Ausgabe von Mandaten und Verordnungen im gewünschten Sinne zu modifizieren (etwa die Regelung des Zehnteinzugs, die Zeigenordnung oder den Schutz der Gemeindegüter und der Rechte von Minderheiten, die Schaffung transparenter Eigentumsverhältnisse). Zweitens konnte die Regierung als letzte Gerichtsinstanz versuchen, mit ihren Urteilen in landwirtschaftlichen Nutzungsstreitigkeiten den Ermessensspielraum im gewünschten Sinne so weit als möglich auszunutzen. So war eine gezielte oder auch gar nicht intendierte Evolution des Rechts durch die Rechtspraxis, die Rechtsprechung oder durch die neue schriftliche Festlegung der Rechte durch hoheitliche Verordnungen grundsätzlich möglich. Einige Autoren bemängeln an der Politik der Zürcher Regierung, dass sie sich entgegen ihrer aufklärerischen Rhetorik erstaunlich passiv und inkonsequent verhalten habe, was die Unterstützung der Agrarreformen durch das Mittel der Gesetzgebung betraf. 81 Kraus 82 möchte gar beim Durchblättern der Mandate und Verordnungen des 18. Jahrhunderts ,,keinerlei Neuerungen auf diesem Gebiet" begegnet sein. Die Regierung habe durch ihre ausgesprochene Rücksichtnahme auf die Interessen der Zehntbesitzer und der Grossbauern den möglichen Fortschritt gebremst. Diese Feststellung ist nicht grundsätzlich falsch. Die Regierung hatte tatsächlich keine Vorschriften erlassen, welche die Aufhebung des allgemeinen Weidgangs, der Allmenden oder gar der Zehntrechte auf dem Zürcher Staatsgebiet verbindlich befohlen hätte. Zum besseren Verständnis des Verhaltens der Regierung ist es aber notwendig, die tatsächlichen Rechts- und Machtverhältnisse jener Zeit genauer zu berücksichtigen. Die Handlungsspielräume der Regierung waren mangels Ressourcen zur Herrschaftsdurchsetzung, wegen der traditionell ausgeprägten Gemeindeautonomie sowie durch ihre - gemessen sowohl an altrechtlichen Vorstellungen wie auch an den in jener Zeit an Bedeutung gewinnenden demokratischen und egalitären Gesichtspunkten - prekäre Legitimationsgrundlage beschränkt. 83 Sowohl die Zehntherren als auch die Grossbauern waren sehr bedeutende politische Akteure, auf deren Kooperation die Regierung angewiesen war. Aber auch die Inter-
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Peter (1992: 94-98), Stiefel-Bianca (1941), ähnlich für Basel Huggel (1979: 29 ff.). Kraus (1928: 69). Braun (1984: 239).
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
essen der Tauner konnten nicht einfach übergangen werden, weil ihre Zahl sehr gross geworden war. Die dörflichen Unterschichten traten zwar im 18. Jahrhundert nur in Ausnahmefallen als eine organisierte Interessengruppe oder soziale Bewegung auf, sie dürften aber in den Augen der städtischen Räte schlicht durch ihre grosse und immer noch wachsende Zahl ein nicht zu unterschätzendes politisches Gewicht gewonnen haben. Somit war die Regierung einerseits durch die verhältnismässig unflexible Rechtslage, anderseits durch die notwendige Rücksichtnahme auf verschiedenste Interessen in ihrem Handlungsspielraum stark eingeschränkt. Wie versuchte die Regierung - unter dem Einfluss der Ökonomen - ihren beschränkten Handlungsspielraum auszunützen? Dieser Frage wird nun für die beiden wichtigsten Reformen, die Abschaffung des allgemeinen Weidgangs und die Verteilung der Allmenden, nachgegangen. Zuvor scheint es aber noch wichtig, den Zusammenhang zwischen der Naturforschenden Gesellschaft und der Regierung genauer aufzuzeigen. Oben wurden die direkten Bemühungen der Ökonomen zur Verbreitung ihrer neuen agrarwirtschaftlichen Theorien und Methoden aufgezeigt und für wenig fruchtbar für die Steuerung des Verhaltens der eigentlichen Adressaten - der Bauern und Tauner - befunden. Deshalb waren die Ökonomen aber nicht unbedingt wirkungslos. Es bot sich ihnen die viel mächtigere Chance, ihre Theorien und Ansichten indirekt über ihren Einfluss auf die Regierungsgeschäfte zur Wirkung zu bringen. Dazu bedurften sie ausgezeichneter Einflusskanäle ins Zentrum der Macht im Zürcher Staat, welche zunächst näher betrachtet werden.
a) Die Ökonomen und die Regierung
Die Regierung war zweifellos die bedeutendste, aber keineswegs omnipotente städtische Kraft, welche eine Reform der landwirtschaftlichen Verhältnisse angehen konnte - wenn sie dies zu ihren Interessen und Zielen zählte. Genau an diesem Punkt - der neuen Definition der Regierungsinteressen - setzt der bedeutendste Einfluss der Ökonomen ein. Wahrend die Ökonomen vor allem in den 1760er Jahren tatkräftig, aber mit den beschränkten Möglichkeiten ihrer privaten Naturforschenden Gesellschaft einen Umbau der landwirtschaftlichen Institutionen angestrebt hatten, wurde ihr Bemühen in zunehmendem Masse indirekt wirksam, indem sie durch ihren gleichzeitigen politischen Aufstieg immer mehr Einfluss auf die Regierungsgeschäfte gewannen. Dies wirkte sich besonders in den drei Jahrzehnten ab etwa 1770 aus, als Ökonomen in den für die Gestaltung der Landwirtschaftspolitik entscheidenden Gremien Einsitz genommen hatten. Dieser Einfluss lässt sich über die blosse Vertretung in den Räten hinaus präziser nachweisen, indem die Mitgliedschaft in den einzelnen landwirtschaftlich relevanten Kommissionen und Sonderräten der Regierung betrachtet wird.
2. Reformrnassnahmen der Regierung
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Zu den bedeutendsten Gremien für die Gestaltung der Beziehungen zwischen der Stadt und der Landwirtschaft gehörte zweifellos der Rechenrat, welcher über den Einzug der Zehnten wachte. Von Amtes wegen sassen im Rechenrat die beiden Bürgenneister, die beiden Säckelmeister, ein Statthalter und der Obmann sowie neben dem Rechenschreiber je drei Mitglieder des Kleinen und des Grossen Rats. 84 Während die Rechenrats-Mitglieder der beiden Räte und der Statthalter fast jährlich wechselten, war durch die ständige Mitgliedschaft der höchsten Magistraten (Bürgenneister und Säckelmeister) eine gewisse Kontinuität der Rechenratspolitik gewährleistet,85 welche jenen wohl nicht nur auf Grund ihrer hohen Amtswürde, sondern auch durch einen Vorsprung an Sachwissen und Infonnation den grössten Einfluss garantierte. Damit war aber auch der wichtigste Einflusskanal der Naturforschenden Gesellschaft zum Rechenrat nachhaltig gewährleistet: Der bedeutende Ökonom Hans Konrad Heidegger konnte so von 1759 bis zu seinem Tode 1778 kraft seines Amtes als Säckelmeister bzw. ab 1768 als Bürgenneister die Entscheidungen im Rechenrat mitbestimmen. Mit ihm sass Hans Heinrich Orelli (17151785), passives Gründungsmitglied der Naturforschenden Gesellschaft, von 1760 bis 1778 als Säckelmeister und dann in der Nachfolge Heideggers als Bürgenneister bis 1785 im Rechenrat. Dessen Nachfolger als Säckelmeister 1778 bzw. als Bürgenneister 1785 war Johann Heinrich Kilchsberger (1726 - 1805), auch er membrum honorarium der Gründergeneration, womit die kontinuierliche Vertretung der Naturforschenden Gesellschaft im Rechenrat bis zum Ende des Ancien Regime aufrecht erhalten wurde. Die drei Herren wurden über mehrere Jahre begleitet von weiteren bedeutenden Mitgliedern der Gesellschaft und hohen Magistraten, wie Statthalter Hans Heinrich Escher (1713 - 1777), Statthalter Salomon Hirzel (1712-1783) sowie in einzelnen Jahren immer wieder von Ratsmitgliedern, die gleichzeitig auch Mitglieder der Naturforschenden Gesellschaft waren (wie etwa Dr. Hans Caspar Hirzel im Jahre 1766).86 Allein auf Grund der starken Vertretung der Ökonomen im Kleinen und Grossen Rat, wo sie 1770 nicht weniger als 30% bzw. 42% der Sitze belegten,87 dürften rein rechnerisch jedes Jahr etwa zwei der sechs den beiden Räten zustehenden Sitze im Rechenrat von weiteren Ökonomen besetzt worden sein; ob sie bei den Wahlen über- oder unterproportional berücksichtigt wurden, wurde nicht weiter untersucht. Auch in weiteren Kommissionen, die mit der Regelung landwirtschaftlicher Fragen betraut wurden, sassen die Ökonomen in Ausübung ihrer Amtspflichten zahlreich ein. So waren neben mehreren Mitgliedern des Grossen und Kleinen Rats stets die beiden Säckelmeister (darunter Heidegger bzw. Orelli oder Kilchsberger) und der jeweilige Statthalter (darunter Salomon Hirzel) in der "Holtz-Commissi-
Dänd1iker (1911: 12). Zimmermann (1983: 11). 86 Alle Angaben zu den Mitgliedern des Rechenrats gern. Rechenrath Memoralia, 17661780 (StAZ F 136-38) sowie Graber (1993: 246-255). 87 Graber (1993). 84
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
on"gg sowie in der "Grossen Waldungs-Commission" vertreten,89 während die ,,Engere Waldungs-Commission" von 1771 bis 1787 durch den führenden Ökonomen Dr. Hans Caspar Hirzel präsidiert wurde. 90 Viel bedeutender waren aber zwei in den 1770er Jahren neu gegründete Kommissionen, welche den Ökonomen hervorragende Instrumente zur gezielten Einflussnahme auf die Agrarinstitutionenboten. Zunächst wurde 1770 die ,,zur Vertheilung der Gemeind-Güter hochverordnete Ehren-Commission,,91 der beiden Räte gegründet. Schon der Name der Kommission verkörpert einen zentralen Punkt des Reformprogramms der Ökonomen, und so erstaunt es kaum, dass jene auch zahlreich in dieser Kommission Einsitz nahmen. Neben Säckelmeister Johann Heinrich Orelli waren unter ihren Mitgliedern der frühere Landvogt von Regensberg, Johann Caspar Scheuchzer (17191788)92, der ehemalige Stadtschreiber Salomon Hirzel (1727 -1818, der Bruder des Stadtarztes) und natürlich Stadtarzt Dr. Hans Caspar Hirzel selbst. Somit stellten die Ökonomen nicht weniger als vier der acht Mitglieder dieser Kommission, die, wie dem Protokoll zu entnehmen ist, sich sehr aktiv für ihre Aufgabe einsetzte. 93 Schliesslich wurde 1779 die ,,hochoberkeitlich verordnete landwirthschaftliche Commission,,94 durch die Räte gegründet, ein Projekt, das laut Hesse (1945: 39) besonders von Bürgermeister Hans Konrad Heidegger vorangetrieben worden war. 9.5 Mit dieser landwirtschaftlichen Kommission, die in erster Linie zum Zweck der Durchsetzung eines Rebenmandats der Regierung gegründet worden war, wurden endlich die Reformwünsche der Ökonomen zum offiziellen Regierungsprogramm erhoben. Die Kommission wurde mit umfassenden Zuständigkeiten ausgestattet, wie sie sich die Ökonomen nur wünschen konnten. So wurde in den Bestimmungen der Kommission festgelegt, sie solle sich .. zum Gegenstand ihrer Berathschlagungen den Umfang alles dessen machen, was beitragen kann zu beProtocoll der loblichen Holtz-Commission, 1763 bis 1779 (StAZ B III 163). Protocoll der Grossen Waldungs-Commission, 1760 bis 1783 (StAZ B III 162). 90 Protocoll der Engeren Waldungs-Commission, 1770 bis 1794 (StAZ B III 161). 91 Protocoll über die Verhandlungen der zur Vertheilung der Gemeind-Güter hochverordneten Ehren-Commission, 1770 bis 1779 (StAZ B IX 76a). Es ist nur ein Band des Protocolls (bis 1779) erhalten. Auf Grund entsprechender Hinweise des Archivars auf einen verschollenen zweiten Band nimmt Pfister (1992: 457 -458) an, dass die Kommission nach 1779 weiter bestanden hatte. Denkbar ist aber auch, dass sie 1779 durch die neu gegründete "Iandwirthschaftliche Kommission" abgelöst wurde, weIche sich im folgenden auch mit Allmendteilungen beschäftigte. 92 Scheuchzer war Gründungsmitglied der Naturforschenden Gesellschaft, Landvogt von Regensberg 1758-1765 und anschliessend Mitglied des Kleinen Rats (HBLS, Bd. VI: 167); siehe auch Rudio (1896: 122). 93 Siehe zur Tätigkeit der Kommission auch Pfister (1992: 459 - 464). 94 Protocoll der landwirthschaftlichen Commission, 1779 bis 1793 (StAZ B III 155 und 156). 9S Hesse veranschlagt die Gründung der Kommission allerdings fälschlicherweise auf das Jahr 1778. Sie wurde jedoch 1779 und somit erst nach dem Tod Heideggers gegründet. 88
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2. Reformmassnahmen der Regierung
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förderung Vervollkommnung der verschiedenen Theilen der Landwirthschaft. zu Erzielung der bestmöglichen Fruchtbarkeit der Güter und zu Abwendung aller Unordnungen. welche uns im Weg stehen können. Demzufolg sie aus sich selber auf alles was zur Beförderung des Endzwecks dienen mag. ihrer Aufmerksamkeit richten. Vorschläge und Gutachten darüber abfassen und diese nach beschaffenheit der Dinge vor Rath oder RechenRath bringen 96 Neben diesem allgemeinen Vorschlagsrecht für die Landwirtschaftspolitik der Räte wurde die Kommission explizit damit beauftragt, "auch bei entstandenen Streitigkeiten über die beste Bewerbung der Güter die Landleuthe zu gütlicher Auskonft zu leiten 97 Damit sollte sie die Durchsetzung der neuen, innovationsfördernden Landwirtschaftspolitik also auf dem Weg der Vermittlung in Konflikten selbst an die Hand zu nehmen. Neben dieser umfassenden Zuständigkeit für die Reformmassnahmen der Landwirtschaft wurde nicht vergessen, die Kommission auch mit den notwendigen hoheitlichen Kompetenzen auszustatten, sollte sie doch "zu Erfüllung aller dieser Absichten sich den auch die erforderliche Kenntnisse und Einsichten zu erwerben Mühe geben. gleichhin Ehr zu den Ende der Gewalt ertheilt wird. die nöthig findende Nachrichten aufjede dienlich erachtete Weise einzuziehen 98 Die Mitwirkung in dieser mächtigen Kommission liessen sich die Ökonomen natürlich nicht entgehen. Von den zwölf Kommissionsmitgliedern waren mindestens sechs99 Vertreter der Naturforschenden Gesellschaft, wobei - einmal mehr - mit Dr. Hans Caspar Hirzel und Statthalter Schinz (Sekretär der Naturforschenden Gesellschaft von 1757 - 1764) zwei der einflussreichsten Ökonomen nicht fehlten. Zudem gab die landwirtschaftliche Kommission verschiedentlich Aufträge an die Naturforschende Gesellschaft zur Ausarbeitung von Gutachten und Untersuchungen zu landwirtschaftlichen Fragen. H.
H.
H.
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155).
Protocoll der landwirthschaftIichen Commission, Band I, 11. März 1779 (StAZ B III
'J7 Protocoll der landwirthschaftlichen Commission, Band I, 11. März 1779 (StAZ B III 155). Mit dieser Aufgabe waren vor der Gründung der Landwirtschafts-Kommission jeweils von Fall zu Fall eigens bestellte Ratskommissionen betraut worden, die zu einem Augenschein vor Ort, zur Vermittlung zwischen den Konfliktparteien und zur anschliessenden Berichterstattung an den Rat abde1egiert wurden. Auch in diesen Delegationen sassen häufig Ökonomen ein, wie etwa im Herbst 1778, als die beiden Ökonomen Dr. Hirzel und Meyer von Knonau wegen einer Appelation zur Abklärung nach Ossingen geschickt wurden (RathsManual 1778, StAZ B 11 982, S. 93); auf eine systematische Untersuchung der Mitgliedschaft der verordneten Kommissionen in den 1760er und I 770er Jahren wurde aber im Rahmen dieser Arbeit verzichtet). 98 Protocoll der landwirthschaftIichen Commission, Band I, 11. März 1779 (StAZ B III 155). 99 Es waren dies Statthalter Schinz, Junker Blaarer, Junker Meiss, Dr. Hirzel, Direktor Schinz und Doktor Rahn; siehe Protocoll der landwirthschaftlichen Comrnission, Band I, 11. März 1779 (StAZ B III 155) und Rudio (1896: 109), Graber (1993: 246), Im Hof, de Capitani (1983, Bd. 2: 130, 136), HBLS (mehrere Bände). Leider lassen sich wegen der knappen Angaben im Protokoll nicht alle Kommissionsmitglieder einwandfrei identifizieren; evt. müssten noch ein oder zwei Ökonomen zu den sechs dazugezählt werden.
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
Leider ist es kaum möglich, die Prozesse zu erforschen, welche zur Gründung dieser bei den Kommissionen und zu den einzelnen agrarwirtschaftlich relevanten Entscheidungen in jenen Gremien wie auch im Rechenrat und im Kleinen und Grossen Rat geführt hatten. Die Protokolle halten in der Regel lediglich knapp die gefassten Beschlüsse fest, in einzelnen Glücksfällen werden in Streitfällen auf dem Land auch die ausführlichen Berichte von verordneten Delegationen und die Argumente verschiedener Interessengruppen wiedergegeben. Die Argumente und Entscheidungen einzelner Ratsmitglieder wurden aber kaum je festgehalten, so dass der politische Einsatz der Ökonomen in den Räten nicht präzise nachgewiesen werden kann. Es kann hier lediglich auf deren starke Vertretung in den entscheidenden Gremien und auf die markante Kongruenz ihrer seit den späten 1750er Jahren geäusserten Anliegen und Überzeugungen mit den zunehmend ab den 1770er Jahren zu beobachtenden Massnahmen der Regierung und ihrer Kommissionen hingewiesen werden - dies allerdings mit einer Vielzahl deutlicher Belege. Es wird somit die Auffassung vertreten, dass die Ökonomen anfänglich hauptsächlich mit den beschränkten Mitteln ihrer privaten Organisation, später aber über ihren bedeutenden Einfluss auf die Regierungspolitik die Modernisierung der Zürcher Landwirtschaft voranzutreiben suchten. Es wird nun im folgenden Abschnitt zu zeigen sein, inwiefern dieser indirekte Einfluss tatsächlich eine Veränderung der Regierungspolitik bewirkte und ob damit ein bedeutender Beitrag zur Modernisierung der Landwirtschaft geleistet wurde. Dazu werden die beiden wichtigsten Reformmassnahmen, die Abschaffung des Weidgangs und die Verteilung der Allmenden, genauer untersucht.
b) Massnahmen der Regierung zur Abschaffung des allgemeinen Weidgangs
aa) Vermittlung in dörflichen Nutzungskonflikten
Der allgemeine Weidgang war ein selbstverständlicher Teil der seit Jahrhunderten überlieferten dörflichen Rechtsordnung. Seine Abschaffung war deshalb ein grundsätzlich problematisches Unterfangen. Wenn sich eine gewichtige Gruppe im Dorf gegen diesen Eingriff stellte, konnte sie unter Berufung auf die seit jeher geübte Rechtspraxis auf ihren Weiderechten beharren. Von der Regierung wurde wie in allen anderen Konfliktfällen erwartet, dass sie grundsätzlich die bestehende Rechtspraxis schützte. Folglich musste sie die Weidgangaufhebung ablehnen und sich klar auf die Seite der konservativen Kräfte stellen. Wenn sich nun aber die Regierung auf Grund ihrer eigenen Überzeugung und Interessen auf die Seite der Progressiven stellte und die Weidgangaufhebung unterstützte, geriet sie in eine sehr problematische Situation. Sie musste sich aktiv für einen begrenzten, aber eindeutigen Bruch mit der hergebrachten Rechtsordnung aussprechen, was sie zwangsweise in einen Begründungsnotstand brachte. Warum sollten dann nicht auch andere Rechtsbereiche in Frage gestellt werden? Wieso konnte etwa das Zehntrecht
2. Refonnmassnahmen der Regierung
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nicht ebenfalls einfach abgeschafft werden? Ein allzu forsches Auftreten der Regierung bei der Frage der Weidgangaufhebung hätte zweifellos das ohnehin schwach legitimierte Rechtssystem gefährlich in Frage stellen können. Also musste sie sich vorsichtig verhalten, selbst als ihr der Nutzen der Massnahme von den Ökonomen vorgerechnet wurde. Dennoch blieb die Regierung nicht tatenlos. Im Wissen um die Risiken bzw. die Aussichtslosigkeit einer einheitlichen, durch eine Gesetzesvorlage zu erreichenden Neuregelung der Weiderechte bzw. der gesamten Dreizeigenordnung versuchte sie, durch eine subtilere, auf die spezifischen Verhältnisse der einzelnen Dörfer angepasste Politik ihre Interessen durchzusetzen. Eine solche Politik hatte die Naturforschende Gesellschaft schon in den 1760er Jahren durch die Aufnahme eines agrarwirtschaftlichen Dialogs mit den Bauern und die Einmischung in die innerdörflichen Angelegenheiten vorgespurt. Nun bot sich für die Regierung die ausgezeichnete Möglichkeit, sich in Ausübung ihrer legitimen Funktion als Richter und Vermittler in ländlichen Konflikten in die Neugestaltung der Weiderechte in den Dörfern einzumischen, sobald es an einem Ort zu ungelösten Nutzungskonflikten um jene Rechte und damit zu einer Appellation der strittigen Parteien an die Räte kam. Wegen der notwendigen Rücksichtnahme auf die Gemeindeautonomie konnte die Regierung bzw. die von ihr abgeordneten Kommissionen in solchen Fällen nicht einfach eine ihr beliebige Lösung dekretieren und diese Lösung wurde im späten 18. Jahrhundert unter dem Einfluss der Ökonomen in der Einschränkung des allgemeinen Weidgangs gesehen. Sie musste stattdessen versuchen, die Gegner durch aktive Vermittlungs- und Überzeugungsarbeit zum Einlenken zu bewegen. Die Regierungsvertreter übernahmen dabei die Rolle des leicht parteiischen Schiedsrichters, der zwar die Verfahrensregeln der Konsensfindung respektieren musste, der aber dennoch klar die ihm genehme Lösung favorisierte. Grundsätzlich lagen bei solchen Konfliktfällen verschiedene Kompromissregelungen auf der Hand, nach denen es nur zu einer teil weisen Einschränkung des Weidgangs kam (etwa nur der Brachweide oder der Stoppelweide auf den ZeIgen, oder der Weide nur auf einem Teil der ZeIgen oder der Wiesen), zur probeweisen Aufhebung für eine Frist von einigen Jahren oder mindestens zu einer gebührenden Entschädigung der Gegnerschaft. Da die Befürworter von Weidgangsaufhebungen ja mit einem Mehrertrag nach der Abschaffung des Weidgangs rechneten, waren sie grundsätzlich in der Lage, die Gegner für den Verlust ihrer Weiderechte zu entschädigen. Solche von den Regierungskommissionen vermittelte Kompromisse sind denn auch, wie unten dargelegt wird, häufig zu beobachten. Es scheint wahrscheinlich, dass es ab den 1760er Jahren häufiger zu solchen Appellationen gekommen war, da die Regierung bzw. die Ökonomen den Bauern ihre Befürwortung der Weidgangaufhebung klar signalisiert hatten. Damit musste die Aussicht der reformfreudigen dörflichen Parteien auf einen positiven Ausgang der obrigkeitlichen Vermittlung gestiegen sein, was in ihrer Erwartung einen solchen Schritt lohnender gemacht haben dürfte. Die Gründung der bei den landwirtschaft-
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
lichen Kommissionen von 1770 und 1779 kann einerseits als Reaktion der Verwaltung auf eine Häufung solcher Konfliktfälle und Appellationen interpretiert werden, anderseits aber auch auf das verstärkte Interesse der Regierung an einer kontrollierten Einflussnahme auf die institutionellen Verhältnisse in den Dörfern. Jedenfalls kamen solche Vermiulungsversuche in Weidgangstreitigkeiten durch die Regierung bzw. ihre dazu ernannten Kommissionen in den 1770er und 1780er Jahren häufig vor. 1OO In den Protokollen der landwirtschaftlichen Regierungskommission (1779 - 1793) sind solche Vermittlungen in Weidgangfragen in den Dörfern Adetswil, Altstetten, Äsch, Bäretschwil, Ebmatingen, Egg, Gossau, Hausen, Heisch, Maur, Mönchaltorf, Ramsen, Ringwil, Schwerzenbach, Stammheim und Vollenweid festgehalten. 101 Als Beispiel wird hier lediglich auf den zähen Konflikt in der Gemeinde Maur näher eingegangen. Im März 1785 war der Auftrag der landwirtschaftlichen Kommission an eine dreiköpfige Delegation ergangen, in den benachbarten Gemeinden Maur, Äsch und Ebmatingen zusammen mit dem zuständigen Landvogt Landolt von Greifensee einen Augenschein vorzunehmen und Bericht zu erstatten wegen einer Anfrage, ob nicht die Weidegerechtigkeiten auf den ZeIgen in jenen Gemeinden abgelöst werden könnten. 102 In dem darauf folgenden Bericht vom Juni 1785 wurden die Argumente der Gegner und Befürworter festgehalten und eine Lagebeurteilung vorgenommen: 103 Die Gegnerschaft wehrte sich mit den Argumenten, "der Weidgang auf den ZeIgen seye ihnen unentbehrlich nothwendig weil sie sonst keinen Gemeindweide auf Riedthern und Alimenten besizen H, und was die Bestellung eines Hirten zum Hüten des Viehs "eines jeden auf seinem Eigenthum betreffe, so seye dieser huten allzu unbequem wegen den in ihren Gegenden üblichen Fabrikarbeiten wozu auch minderjährige Kinder gute Dienste leisten können. Die Gegner gaben also an, sie verfügten nicht über genügend Weiderechte ausserhalb der ZeIgen, um ihr Vieh darauf weiden lassen zu können, und sie wollten sich auch nicht den Verzicht auf die Arbeitskraft eines Kindes leisten, das man zum Hüten des Viehs auf dem eigenen Land statt zur Arbeit in der Heimindustrie abordnen müsste. H
Die Befürworter einer Weidgangaufhebung bedienten sich der bekannten Argumente, wie sie auch von den Ökonomen stets vertreten wurden, denn "sie möchten ihren Antheil an den Zellgen ungehindert nach ihren besten Einsichten und Kräften so gut als möglich anbauen und ben uzen Und da sie darauf bestanden, "die Einzäunung der Einschlägen seye allzukostbar; indem der Holzmangel sich auch in ihH.
100 Eine Klärung dieser Frage durch einen langfristigen statistischen Vergleich der Häufigkeit von Appelationen in diesen Rechtsfragen wurde im Rahmen dieser Arbeit aber nicht vorgenommen. 101 Protocoll der landwirthschaftlichen Commission, 1779 bis 1793 (StAZ B III 155 und 156). Siehe dazu auch die leider sehr vagen Hinweise bei Stiefel (1944: 55, 57) zu Ramsen und Wehrli-Keyser (1932: 41) zur Region Greifensee (Äsch, Ebmatingen, Maur). 102 Protocoll der landwirthschaftlichen Commission, 8. März 1785 (StAZ BIll 155, S. 71). 103 Protocoll der landwirthschaftlichen Commission, 24. Juni 1785 (StAZ B III 155,
S.77-79).
2. Refonnmassnahmen der Regierung
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ren Revieren zeige ", blieb aus ihrer Sicht nichts anderes als die Weidgangaufhebung übrig. Obwohl die Delegation der landwirtschaftlichen Kommission keinen Hehl daraus machte, dass aus ihrer Sicht eine Weidgangaufhebung und damit die Ermöglichung des Kleeanbaus in den ZeIgen die beste Lösung wäre, musste sie feststellen, "dass zwar die gänzliche Aufhebung des Weidgangs wegen vielen sich äussernden Schwierigkeiten im gegenwärtigen Zeitpunkt unerhaltlich seye. " Ein Kompromiss sollte aber dennoch ausgearbeitet werden, wonach der allgemeine Weidgang beibehalten wurde, die Weide aber nur noch tagsüber und unter der Kontrolle eines Gemeindehirten zugelassen werden sollte, um unnötige Schäden in den Einschlägen zu vermeiden. Zudem sollten die drei benachbarten Gemeinden ihre Gemeindebezirke durch einen Zaun oder Graben klar voneinander abtrennen, damit die besonders komplexen gemeindeübergreifenden Nutzungskonflikte künftig vermieden werden könnten. Die Kommission hatte sich somit dem Widerstand der Gegner gebeugt, dennoch aber eine Lösung präsentiert, welche die Konfliktträchtigkeit der Interessengegensätze abbauen sollte. Während diese Lösung offenbar in Ebmatingen und Äsch gut funktionierte und den reibungslosen Anbau der BrachzeIge ermöglichte,l04 musste die Kommission zwei Jahre später feststellen, dass" in Mur die gehofte Ruhe nicht erzielet worden, sonder noch immer der gleiche Parthei-Eifer zwischen denen die gern in die Brache pflanzen möchten und denen die das Weiden von weit grösserem Nuzen glauben, hersche; und dass die in die Braache gepflanzten Gewächse vielem Unfall nicht nur von dem weidenden Vieh, sonder von offenbarer Bosheit der Menschen, ausgesezt seyen, welches schon viel Streit un verworren Rechtshändei nach sich gezogen. ,,105 Die hier angesprochene böswillige Schädigung von Brachpflanzen bezog sich gemäss Peter lO6 hauptsächlich auf den Kampf der Grossbauern gegen die aufkommende Pflanzung von Kartoffeln. 107 Während sich im Protokoll der landwirtschaftlichen Kommission keinerlei Hinweis auf die soziale Zusammensetzung der Interessengruppen finden lässt, deutet der Hinweis Peters darauf hin, dass die progressiven und von der Kommission unterstützten Kräfte eher aus Taunern und Kleinbauern bestanden, welche die Brache intensiver nutzen wollten. Die grösseren, Vieh besitzenden Bauern wollten offenbar eher an der reinen DreizeIgenwirtschaft festhalten und waren nicht an der fortschrittlicheren und intensiveren Kleepflanzung und Sommerstallfütterung interessiert. 104 Protocoll der landwirthschaftlichen Commission, 18. Februar 1788 (StAZ BIll 155, S. 140). lOS Protocoll der landwirthschaftlichen Commission, 14. Mai 1787 (StAZ B III ISS, S.137-140). 106 Peter (1996: 152). 107 Der Bericht Wehrli-Keysers (1932: 41), wonach in der Gegend um Greifensee der 1781-87 zuständige Landvogt Salomon Landolt angeblich "trotz grossen Widerstandes der Bevölkerung [ ... ] die Aufhebung des Weidganges veranlassen und die Stallfütterung einführen" konnte, scheint angesichts dieser Informationen eher zweifelhaft. Es konnte leider nicht eruiert werden, worauf sich diese Angabe stützt.
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
Wohl gerade deshalb appellierte die Kommission erneut in einem vom Landvogt der versammelten Gemeinde vorgelesenen Schreiben an das Verständnis der Bauern: "Weil aber der hochoberkeitlichen Landwirthschaftlichen Kommission, nach dem hohen Auftrag Ungnhherren und theuresten Landesvätter, nichts mehr angelegen seyn solle, als jede Gemeinde auf den grössten Wohlstand in dem Feldbau zu leiten - und hochdieselben überzeugt einsehen, dass bei den weitläufigen Acherzelgen, deren ein grosser Theil von dem Dorf entfernt und an einem ziemlich rauchen Berg liegt, unmöglich die Felder mit genugsamem Dung versehen werden können und also viele ungebaut liegen müssen, wenn nicht durch die Stallfütterung der Viestand vermehrt werden kann; dass also die Pflanzung der Kleearten, nemlich des Esper und den abgelegenen Ägerten, und des rothen Klees in der Braache, nach der beigelegten hohen Verordnung Ungnhherren der RechenRäthenm [gemeint ist die liberale" Verordnung wegen des Kleebaus" von 1787; siehe unten] - das einzige und nothwendige Mittel seye, die Landwirthschaft dieser Gemeinde in mehrern Aufnahm zu bringen [ ... ] So hat die hochgedachte Ehrenkommission für gut befunden, durch gegenwärtiges Befinden, der Gemeinde den bestgemeinten Landesväterlichen Vorschlag zu thun, auf eine Probe hin 6 Jahr lang, welche mit dem nächstkommenden Frühling J 788 anfangen sollten, der Gemeindweiden auf der Braach und Stoppelweide gänzlich aufzuheben und jedem Eigenthümer frei zu stellen, sein Feld nach seinen besten Einsichten zu bauen und zu benüzen [ ... ]"108 Allein, auch durch diesen Vorschlag konnte der Frieden in Maur nicht hergestellt werden. So wurde noch in einem letzten Vermittlungsversuch von Landvogt Hirzel von Greifensee vorgeschlagen, die BrachzeIge und die KornzeIge (!) zu teilen, um auf je einem Teil der beiden den Anbau von Klee zu ermöglichen, während der jeweils andere Teil der traditionellen Nutzung zur Weide bzw. zum Anbau von Getreide zur Verfügung stünde. Auch dieser Vorschlag wurde von der Gemeindemehrheit abgelehnt, da die "minderbemittelten Gemeindgenossen" eine übermässige Belastung ihres Landes in dem der Viehweide geöffneten Teil der BrachzeIge befürchteten. 109 Nach diesem letzten Misserfolg ging der Kommission im Februar 1788 offenbar die Geduld aus, denn sie verwies den Fall, unter Nennung derselben Gründe wie im Jahr zuvor, an die Regierung mit dem Begehren, die Autbebung der Stoppel- und Brachweide auf eine Probezeit von sechs Jahren anzuordnen eine seltene und massive Massnahme. 110 Damit dürfte sich die Kommission gegen den hartnäckigen Widerstand eines Teils der Bauern durchgesetzt haben, denn im folgenden findet sich in den Protokollen kein Vermerk mehr zu der Angelegenheit von Maur. 108 Protocoll der 1andwirthschaftlichen Commission, 14. Mai 1787 (StAZ B III 155, S. 137 -140). 109 Protocoll der 1andwirthschaftlichen Commission, 18. Februar 1788 (StAZ B III 155, S. 140-143). 110 Protocoll der 1andwirthschaftlichen Commission, 18. Februar 1788 (StAZ B in 155, S. 140-143).
2. Refonnrnassnahmen der Regierung
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Aus dem hier exemplarisch herausgegriffenen und geschilderten Fall wird deutlich, dass die landwirtschaftliche Kommission sich mit grossem Aufwand für eine einvernehmliche Lösung in ländlichen Konflikten einsetzte. Obwohl sie aus ihren eigenen Überzeugungen und Interessen keinen Hehl machte, akzeptierte sie lange den Widerstand der gegnerischen Interessengruppe und schreckte vor einer autoritär verordneten Lösung zurück. Gleichzeitig versuchte sie noch einmal mit wohl begründeten Argumenten, die Gegner von der von ihr bevorzugten Aufhebung des Weidgangs zu überzeugen. Ihre Argumentation entsprach dabei voll und ganz den Theorien und Vorschlägen, welche die Ökonomen bereits in den frühen 1760er Jahren formuliert hatten. 11 I Auch wenn die Argumente der Kommission in Maur nicht den gewünschten Erfolg brachten, war die Vermittlungstätigkeit, wie man in den anderen Gemeinden Äsch und Ebmatingen sieht, ökonomisch sinnvoll und nützlich. Sie zielte in erster Linie darauf ab, die Ursachen für die handfesten Konflikte in den Gemeinden durch eine klarere Trennung der Eigentumsrechte und eine Kompromisslösung zu entschärfen, im übrigen aber die Entscheidungen über die optimale Nutzung des Landes möglichst den einzelnen Eigentümern zu überlassen. Durch die obrigkeitliche Kontrolle und Vermittlung dieser liberalen Vereinbarung bezüglich der Weiderechte wurden die individuellen Rechte der Dorfbevölkerung erneut bestätigt und garantiert, so dass die Unsicherheiten über die künftige Nutzung des Eigentums abgebaut werden konnten. Damit konnten eine Eskalation von Gewalt in jenen Gemeinden verhindert und die Ressourcen der Dorfbevölkerung schnellst möglich wieder einer produktiven landwirtschaftlichen Tätigkeit zugeführt werden. Unzweifelhaft deutlich wird an diesem Beispiel zudem, dass die landwirtschaftliche Kommission sich gegenüber den Landleuten für einen Bruch mit der reinen DreizeIgenwirtschaft und für eine Eigentumsordnung und Bewirtschaftungsweise nach fortschrittlichen, liberaleren Prinzipien aussprach. Diese Prinzipien wurden - das muss hervorgehoben werden - auch gegen den Widerstand der Grossbauern, der bekanntlich wichtigsten Zehntzahler und mächtigsten Dorfmagnaten, vertreten und teilweise durchgesetzt. Es ist somit - entgegen den oben zitierten Standpunkten in der Literatur - festzuhalten, dass die Regierungspolitik in der Frage der Weidgangaufhebung weder konservativ, tatenlos noch einseitig zu Gunsten der Grossbauern ausgerichtet war. Sie verfolgte vielmehr im Rahmen ihrer Möglichkeiten und mit viel Pragmatismus das von den Ökonomen aufgestellte Konzept einer teilweisen Modernisierung und Privatisierung der Eigentumsrechte am Boden.
111 Siehe die sehr deutliche Übereinstimmung der protokollarisch festgehaltenen Vorschläge mit dem vermutlich Anfang der 1760er Jahre verfassten Text des Ökonomen Leonhard Usteri, Anleitung für die Landleute in Absicht auf die Zäune, in: Abhandlungen der naturforschenden Gesellschaft in Zürich, Zweyter Band, Seite 361 - 384, Zürich 1764.
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
bb) Die Regelung der Zehnt/rage Wie wir im fünften Kapitel gesehen haben, scheiterten die Einhegungen in Luzem im 17. und frühen 18. Jahrhundert an der Furcht der Zehntbesitzer vor negativen Auswirkungen auf ihre Einkünfte. Die Einschränkung des Weidgangs konnte legal nur stattfinden, wenn die Einwilligung der Zehntbesitzer eingeholt wurde. Hier war eine fortschrittliche Haltung der Zürcher Regierung gleich aus zwei Gründen notwendig. Erstens verfügte die Stadt über mehr als die Hälfte aller Zehntrechte im Staatsgebiet. Für deren Durchsetzung und Einzug war der Zürcher Rechenrat zuständig. Zweitens wachte die Stadtregierung über die Einhaltung der Rechtsverhältnisse im Staatsgebiet und damit natürlich auch über die Respektierung der Zehntrechte aller übrigen Zehntbesitzer. So oder so endeten deshalb Zehntkonflikte in aller Regel bei den Zürcher Räten, welche eine Entscheidung herbeiführen mussten. Über die Behandlung der Zehntfrage gibt es bisher mit Ausnahme der Arbeit von Peter l12 über das Aufkommen des Kartoffelanbaus kaum Forschungsergebnisse. Somit verfügen wir lediglich bezüglich des Kartoffelzehntens über genauere Erkenntnisse über das Verhalten der Regierung. Die Darstellung - nicht aber die Interpretation - des Regierungsverhaltens bezüglich der Regelung der Zehntrechte bei Weidgangaufhebungen folgt deshalb im wesentlichen diesem Werk. 113 Eine breitere Abstützung der Aussagen ist auf Grund des mageren Forschungsstandes leider nicht möglich. Die Zehntfrage wurde besonders wegen Änderungen der Bewirtschaftungsweise durch die schnelle Verbreitung des Kartoffelanbaus in einigen Regionen 114 ab der Mitte des 18. Jahrhunderts akut. In Folge von Einhegungen oder Aufhebungsbeschlüssen war in einigen Gemeinden der Weidgang in Weiden, Wiesen und Zeigen eingeschränkt worden. Damit wurde es möglich, Kartoffeln an Stelle von anderen zehntpflichtigen Produkten wie Heu oder Getreide zu pflanzen. Die Landleute bestritten häufig die Zehntpflicht auf den neu gepflanzten Kartoffeln, womit für die Zehntbesitzer die früheren Zehnteinnahmen verloren gingen, ohne dass sie einen Ersatz erhielten. Aus der Sicht der Zehntbesitzer gab es nur drei akzeptable Möglichkeiten: Erstens musste der Anbau der Kartoffeln entweder schlicht verboten werden oder die Entrichtung des Kartoffelzehntens war, zweitens, als Ersatz für die verlorenen Zehntabgaben sicherzustellen. Drittens war eine andere Fonn der Entschädigung für die verlorenen Zehnten denkbar, indem die bisherigen durchschnittlichen Abgaben weiterhin in natura oder in Geld entrichtet oder durch eine einmalige Geldzahlung abgelöst wurden. Die erste nachweisbare Klage über Verweigerungen des Kartoffelzehntens drang 1150 vom Pfarrer der Gemeinde Fischenthal aus dem Zürcher Oberland nach Zürich. 115 Der Pfrundzehnten, aus dem
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Peter (1996). Peter (1996: 32-44). Besonders im Zürcher Oberland. am See und im Knonauer Amt; siehe Kapitel III. Peter(1996: 32-44).
2. Refonnrnassnahmen der Regierung
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der Pfarrlohn und der Unterhalt der Pfarreien hauptsächlich bestritten wurden, hatte wegen des Kartoffelanbaus in Wiesen und Äckern empfindliche Einbussen erlitten. Eine einvernehmliche Einigung zwischen dem Pfarrer und der hartnäckigen Gemeinde war trotz der Vennittlung des zuständigen Landvogts nicht möglich gewesen. Wie reagierte die Regierung darauf? Am 12. November 1750 entschied eine eigens eingesetzte Untersuchungskommission, dass prinzipiell alle Kartoffelpflanzungen zehntpflichtig seien. Zehntfrei sollten als Ausnahme nur Kartoffelpflanzungen zum Eigengebrauch sein, die in die (ohnehin grundsätzlich zehntfreien) Gemüsegärten und in Wiesen bis zu einem halben Vierling Grösse (ca. 8 a) gesetzt wurden. Von letzteren musste aber als Ersatz das Heugeld bezahlt werden. Damit war ein wichtiger Grundsatzentscheid gefallt worden, welcher in der Folge massgebend für die Zürcher Zehntpolitik sein sollte. Zentral war die Tatsache, dass der Anbau von Kartoffeln auf zehntpflichtigern Land - offensichtlich auch auf Getreideäckern! - grundsätzlich gestattet wurde, sofern der Zehnten darauf geleistet wurde. Den protestierenden Landleuten von Fischenthal wurde - ein typischer Kompromissentscheid der Regierung - mit der Befreiung des Kartoffelzehntens auf Wiesen bis zu einem halben Vierling ein gewisses Entgegenkommen gewährt. Besonders für die armen Tauner, welche hauptsächlich Kartoffeln anbauten, dürfte diese Ausnahme nicht ohne Bedeutung gewesen sein. Der Zehntbesitzer (in diesem Fall der lokale Pfarrer) musste sich nolens volens mit dem Kartoffelzehnten als Ersatz zufrieden geben. Seine materiellen Ansprüche wurden zwar einigennassen zufriedengestellt, gleichzeitig wurde ihm aber die Möglichkeit genommen, künftig den fortschrittlichen Anbau von Kartoffeln in seiner Gemeinde zu verhindern. Dieser Entscheid hatte entsprechend dem damaligen Rechtssystem bloss für die Gemeinde Fischenthai Gültigkeit. Der Konflikt in dieser Gemeinde konnte damit beigelegt werden, so dass sich die Landleute wieder produktiveren Beschäftigungen widmen konnten. In den folgenden Jahren kam es aber, wenig überraschend, in weiteren Gemeinden des Oberlands 1l6 zu denselben harten Auseinandersetzungen und Zehntverweigerungen, bis der Fischenthaler Entscheid explizit auch auf sie angewendet wurde. Die Regelung der Zehntfrage drängte sich mit der zunehmenden Verbreitung des Kartoffelanbaus auch für andere Regionen auf. So wurde 1756 die Fischenthaler Regel auch auf den städtischen Zehntbezirk von Kappel (im Knonauer Amt) angewendet. Diese stets nur fallweise Behandlung der Zehntfrage als Reaktion auf Auseinandersetzungen in einzelnen Gemeinden musste aber mit der Zeit reichlich aufwendig erscheinen. So wurde 176J das erste für die städtischen Zehntbezirke allgemein verbindliche Kartoffelmandat veröffentlicht. Darin wurde unter anderem bestimmt, dass Kartoffeln, die in zehntpflichtiges Land, neue Aufbrüche und in die drei Zeigen (!) gepflanzt würden, zehntpflichtig (Grosser Zehnten) waren. Die bisher praktizierte Ausnahme, wonach ein halber Vierling Kartoffelland in Wiesen zehntfrei sei, wurde nicht bestätigt. Folglich konnten nur diejenigen Gemeinden 116
1751 und 1754 in Wald, 1758 in Sternenberg und Wila (Peter, 1996: 32 -44).
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
von dieser Vergünstigung profitieren, welche sich jenes Recht bis zu diesem Zeitpunkt erstritten hatten. Abgesehen davon bestätigte das Mandat von 1760 die bisherige Haltung der Zürcher Regierung zum Kartoffelzehnten. Es blieb bis 1779 in Kraft ll7 und stellte eine wichtige Marke auf dem Weg zu einer freiheitlicheren und fortschrittlicheren Agrarordnung dar. Erstmals wurde explizit in einem offiziellen Mandat die Existenz des Kartoffelanbaus in den drei Zeigen erwähnt. Die Regierung bestätigte und legalisierte damit bereits 1760 indirekt die Praxis, dass die Dreizeigenordnung (Brache bzw. reiner Getreideanbau) zu Gunsten des Anbaus von Kartoffeln verletzt werden konnte. Das bedeutete nichts anderes, als dass die dazu notwendigen Einhegungen bzw. andere Formen der Einschränkung des allgemeinen Weidgangs ebenfalls offiziell erlaubt wurden. Von Behinderungen dieser Massnahmen wegen befürchteter Einbussen der Getreidezehnten war also keine Spur. Ein wichtiger Schritt des Reformprogramms des 18. Jahrhunderts war damit durch den Zürcher Rechenrat, den grössten Zehntherrn im Kanton, legalisiert worden. Ganz im Gegensatz zu der hier vertretenen Sicht fallt das Urteil Peters 1l8 über dieses Mandat von 1760 ausgesprochen negativ aus, da er eine komplette Befreiung von der Zehntpflicht favorisiert hätte: "Damit wurde der Ausdehnung der Kartoffelkultur eine wesentliche Schranke auferlegt. Hier zeigt sich unter anderem, wie das Zehntensystem als eine Stütze der starren Dreifelderwirtschaft wirkte. [ ... ] Die Kultivierung neuer, bis anhin unbenutzter Böden wurde somit höchst unattraktiv. .. Doch diese Interpretation scheint wenig überzeugend. Die Grenzbelastung von rund 10% durch die Zehntabgaben hat die Attraktivität des Kartoffelanbaus gerade für arme Landleute kaum wesentlich geschmälert, da sie über keine besseren Alternativen verfügten. Durch die generelle Legalisierung wurde der Weg frei gemacht für den Anbau der Kartoffel auf der ganzen Flur. Die langwierigen, schweren Auseinandersetzungen mit den einflussreichen Zehntbesitzern bzw. mit dem Staat wurden beigelegt, womit für alle Parteien Kosten gespart werden konnten. Zudem wurde, besonders wichtig, die Unsicherheit über ein mögliches komplettes Verbot des Kartoffelanbaus bzw. der Aufhebung des allgemeinen Weidgangs ausgeräumt; die Landleute konnten inskünftig unbesorgt Kartoffeln pflanzen. Die vergleichsweise fortschrittliche Haltung der Regierung gegenüber dem Kartoffelanbau in Getreideäckern bzw. den notwendig daraus folgenden Weidgangbeschränkungen wurde durch spätere Zehntentscheide bestätigt. 1I9 Jene wurden immer als Reaktion auf örtliche Zehntverweigerungen und schwere Konflikte gefällt. Peter (1996: 47 -48). Peter (1996: 43, 48 -49). 119 1767/68 in Dürnten, 1770171 während der Hungerkrise, 1774 bei der Zehntverweigerung in Maschwanden, 1778 im Zehntenstreit von Uster, 1779 mit dem zweiten Kartoffelmandat, 1787 in der Gemeinde Wil (Rafz), 1792 bei der Zehntverweigerung von Tann und Dürnten, 1793 im Amt Küsnacht, 1795 mit dem dritten Kartoffelmandat, 1796/97 nach verschiedenen Zehntverweigerungen im Oberland (Peter, 1996: 49 - 95). 117 118
2. Refonnmassnahmen der Regierung
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Ohne einen solchen aktuellen Anlass wurde der Rechenrat nie aktiv. Die allgemeine Zehntpflicht auf Kartoffeln wurde durch die Entscheide jeweils bestätigt; in schweren Fällen wurde einzelnen Gemeinden oder Ämtern die Erleichterung von einem halben Viertel Kartoffelland oder von einem Sechzehntel des ganzen geschuldeten Betrags 120 gewährt. Der Anbau von Kartoffeln in allen drei Zeigen erscheint in den Quellen zunehmend als eine Selbstverständlichkeit, er blieb aber stets der Zehntpflicht unterstellt. Hartnäckiger Widerstand einer Gemeinde brachte - ein typisches Zeichen für die relative Schwäche der herrschaftlichen Autorität fast immer ein gewisses Entgegenkommen der Regierung ein. Das führte dazu, dass das Zehntrecht im Kanton zunehmend uneinheitlich und unübersichtlich wurde, was von einzelnen noch nicht begünstigten Gemeinden als Anlass zu Protesten und Forderungen genommen wurde. Aber auch die mit dem Zehnteinzug betrauten Personen klagten zunehmend über die kompliziert gewordene Situation. 121 Mit dem zweiten Kartoffelmandat von 1779 wurde deshalb der zehntfreie halbe Viertel auf Wiesen in allen Gemeinden der städtischen Zehntbezirke eingeführt. 1795 schliesslich wurden in denselben Gemeinden die Kartoffeln in der Brache, in Wiesen, Hanfbündten, Weiden, neuen Aufbrüchen, Rebbergen, Gärten und auf Gemeindeland gänzlich vom städtischen Zehnten befreit. Damit war in den Zehntbezirken der Stadt der Anreiz gegeben, Kartoffeln weiterhin zu pflanzen, aber nicht auf Kosten des Getreidebaus in den ZeIgen. Diese Bestimmung weckte in anderen Gemeinden an einigen Orten grossen Unmut, da deren Kartoffelzehnten, die dort an fremde bzw. private Zehntbesitzer gingen, weiterhin entrichtet werden mussten. Darauf wurde 1796 die partielle, städtische Zehntbefreiung auch auf die lokalen Pfrundzehnten ausgedehnt, worauf die Pfarrer jener Gemeinden für ihre verlorenen Einkünfte von der Zürcher Regierung entschädigt wurden. Die Regierung ging damit - kurz vor der Helvetischen Revolution - recht weit in der Förderung des Kartoffelanbaus. Es ist aber festzuhalten, dass ihre Zehntpolitik keineswegs einem von Anfang an durchdachten Entwurf entsprach. Sie ist eher als ein schrittweises Reagieren auf den anwachsenden Druck von seiten der Landleute zu bezeichnen - ein deutliches Zeichen für die relative Schwäche des Zürcher Staatswesens sowie für die Innovationsfähigkeit der Landleute. Auf jeden Fall hatte die Regierung aber ihren Grundsatzentscheid von 1750 nie aufgegeben, wonach der Kartoffelanbau zu dulden sei, auch wenn er auf Kosten des Getreides ging. Sie liess sich offensichtlich seit den ersten Konflikten in den 1750er Jahren von der Überzeugung leiten, dass "die Erdapfel, die für das Land erforderliche Einfuhr von fremden Getreide, ziemlich verminderten, und jede neüe Erleichterung oder Veranlassung zu haüffigerer Pflanzung derselben, selbige noch mehr vermindern wird. «122
120
73).
Gemeinden Egg, Guldenen und Schaubingen 1789, Wollikon 1793 (Peter, 1996: 72-
Peter (1996: 69, 74). Gutachten bete. des künftigen Bezugs des Kartoffelzehntens vom 18. 5. 1795 (zit. in Peter, 1996: 81). 121
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10 Rlisonyi
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VI. Der Beitrag der Zürcher Ökonomen und der Regierung
cc) Mandate und Verordnungen zur Einschränkung des Weidgangs
Nach der Erfahrung der Hungerkrise von 1770171 123 engagierte sich die Regierung auf der Ebene der Gesetzgebung prononcierter und direkter für die Aufhebung des allgemeinen Weidgangs. Im Mandat vom 22. Februar 1772 wurden die Landleute in freundlichem, aber ernsthaftem Ton aufgefordert, sie sollten .. von dem ungebauten Fruchtland so viel zurüsten und ansäen, als Zeit und Kräfte ihnen zustehen und erlauben würden ".124 Man befürchtete wegen der anhaltenden Kornsperre des benachbarten Auslands ein weiteres Krisenjahr, weshalb eine regelrechte Anbauschlacht ausgelöst werden sollte. Dabei wurde die "Aufbrechung" (Umwandlung in einen Acker) der Allmenden und Riete vorgeschlagen sowie die Überlassung von Gemeindeland an Arme zur individuellen Nutzung. Insbesondere wurde empfohlen, .. auf den sonst ungenutzten Plätzen mehr Erdäpfel zu pflanzen, als bishero geschehen, da diese eine nicht nur vor den Zufällen der Witterung gesicherte und ergiebige Feldfrucht, sondern auch eine, so wie überhaupt, also fürnehmlich dem mit strengen Arbeiten beschäftigten Landmann sehr gesunde Nahrung sind. ,,125 Die Einschränkung des Weidgangs sowie der Kartoffelanbau in den Zeigen wurde in diesem Mandat noch nicht explizit erwähnt. Es musste aber jedem Bauern und Tauner klar sein, dass der forcierte Anbau von Sommerfrüchten nur auf Land möglich war, das vom allgemeinen Weidgang ausgeschlossen wurde. Die Landleute wurden somit implizit zum Eingriff in die Zeigenordnung öffentlich ermuntert, als Notstandsmassnahme zwar, aber doch unmissverständlich mit obrigkeitlicher Unterstützung und Billigung. Über weitere Mandate und Verordnungen bezüglich der Weidgangaufhebungen ist nichts bekannt l26 , bis am 5. Juli 1787 die .. Verordnung wegen des Kleebaus,,127 durch den Zürcher Rechenrat erlassen wurde. Darin wurde festgestellt, dass .. Unsere Gnädige Herren beobachten mit landesväterlicher Zufriedenheit und Vergnügen, wie ihre lieben Landleute, je länger je mehr überzeugt, dass von Vermehrung des Futters die Aeufnung der Viehzucht und des ganzen Güterbaus einig und allein abhange, und darum theils auf Anlegung neuer Wiesen, theils auf das heilsame Anpflanzen verschiedener Gattung Klees immer eifriger bedacht seyen: welche lobwürdige Triebe Hochdieselben jederzeit mit Oberkeitlicher Begünstigung zu unterEs war die schwerste Krise des 18. Jahrhunderts (siehe Darstellung in Kapitel 111.). Wahrend letzterer Theuerung ergangene hoch-oberkeitliche Aufmunterung zu besserm Anbau des Landes, Anno 1772, in: Sammlung der Bürgerlichen und Policey-Geseze und Ordnungen, lob!. Stadt und Landschaft Zürich, fünfter Band, S. 230 - 236, 1779. 125 Sammlung der Bürgerlichen und Policey-Geseze und Ordnungen, lob!. Stadt und Landschaft Zürich, fünfter Band, S. 230-236,1779. 126 Sammlung der Bürgerlichen und Policey-Geseze und Ordnungen, lob!. Stadt und Landschaft Zürich, Band I - 6, 1757 - 1793 sowie Zürcherische Mandate: Mandatensammlung der Stadtkanzlei, 1. Serie, 18 Bände, Zürich 1525 -1871 und: Mandatensammlung der Stadtkanzlei, 2. Serie, 3 Bände, 1701-1778 (StAZ III AAb 1.1- 18 und III AAb 2.1- 3). 127 Sammlung der Bürgerlichen und Policey-Geseze und Ordnungen, lob!. Stadt und Landschaft Zürich, sechster Band, S. 207 - 209, 1793. 123
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2. Refonnrnassnahmen der Regierung
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stützen wol geneigt [ ... j". Nachdem also die Unterstützung des Kleeanbaus ausdrücklich zugesichert wurde, wurden auch die daraus folgenden Auswirkungen auf die Zehnteinnahmen für die städtischen Zehntbezirke eindeutig geklärt: Für Wiesen, die "in zehendbaren Aeckem, in und aussert den Zeigen" angelegt wurden, musste jährlich ein genau nach Qualitätsstufen des Landes festgelegter Zehntersatz "in Natur oder an Geld" geleistet werden. Mit diesem Mandat wurde der Anbau von Wiesen auch in den Zeigen, also auf Kosten des Getreideanbaus, offiziell bewilligt. Sogar das begehrte Recht wurde eingeräumt, Zehntersatz in Geld zu leisten. So konnten die Bauern und Tauner theoretisch ganz vom Getreidebau abrücken und die notwendigen Erträge für die Zehntschulden durch andere marktgängige Produkte erzielen - eine freie Bewirtschaftung des Zelglandes war mit diesem Schritt der Regierung ermöglicht worden. Die explizite Billigung des Kleeanbaus in den Zeigen bedeutete wiederum implizit, dass die Aufhebung des allgemeinen Weidgangs in und ausserhalb der Zeigen durch Einhegungen oder andere Massnahmen von der Regierung erlaubt, ja indirekt geradezu gewünscht wurde. Ein Interessent war lediglich "pflichtig, sein Vorhaben bey dem jeden Orts hierzu verordneten Unterbeamteten getreulich anzuzeigen, das Stuck Gut in eignen Kösten ausmessen zu lassen, und die Taxierung des Zehenden-Ersatzes von Seite des Zehenden-Herren zu gewärtigen". 128 Damit war die Umstellung der Dreizeigenwirtschaft auf eine verstärkte Gras- und Kleewirtschaft der Initiative der Bauern bzw. deren Durchsetzungsfähigkeit in der dörflichen Gemeinschaft freigestellt. 129 Zumindest in einem Teil des Knonauer Amtes scheint dieser Freiraum tatsächlich sogleich ausgenützt worden zu sein, wie ein Bericht des Pfarrers Irminger von Mettmenstetten aus dem Jahr 1789 zeigt: "Sie [die Bauern] lassen sehr angelegen seyn, ihre Einkünfte zu vermehren. Trachten, mehr und besseres Vieh zu halten, darzu dient ihnen der Kleebau. Kaum ist oberkeitlich erlaubt worden in die Zelgen zu sayen, so sind in einem Jahr etliche Centner Saamen ausgestreut worden, und sonst hatten sie die Wiesen so geäufnet, dass wo ein Hof oder Höflein vertheilt ward, der Besitzer des einen Stücks so viel Wiese hielte, als sonst der ganze Hof nähren mochte. Ihre Hauptmatten überdüngen sie fast jedes Jahr ganz. Einiche kaufen sich Gips und Torfasche an [ ... ] So ist der Landmann hier den Sommer durch unaufhörlich beschäftigt [ ... j".130
128 Sammlung der Bürgerlichen und Policey-Geseze und Ordnungen, lob!. Stadt und Landschaft Zürich, sechster Band, S. 207 - 209, 1793. 129 Kraus (1928: 71) vertritt über die Haltung der Regierung eine gegenteilige Position: ,,Die Obrigkeit zeigte sich diesen Bestrebungen [für die Abschaffung der Weidegerechtigkeitl gegenüber wenig entgegenkommend. Allein unter dem Drucke der Teuerungsjahre kam es gelegentlich zu schüchternen Versuchen, die alte Agrarverfassung zu lockern." Leider wird nicht nachvollziehbar, worauf sich diese Ansicht stützt. 130 Pfr. Jak. Irminger: Beschreibung des oberen Teils des Knonauer Amtes, besonders der Gemeinde Mettmenstetten, 1789 ( ZBZ Ms. Z IX 626, S. 3 f.).
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VI. Der Beitrag d