Projektion Natur: Grüne Gentechnik im Fokus der Wissenschaften 9783666317156, 9783647317151, 9783525317150


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Projektion Natur: Grüne Gentechnik im Fokus der Wissenschaften
 9783666317156, 9783647317151, 9783525317150

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

Umwelt und Gesellschaft

Herausgegeben von Christof Mauch und Helmuth Trischler

Band 12

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

Projektion Natur Grüne Gentechnik im Fokus der Wissenschaften

Herausgegeben von Annette Meyer und Stephan Schleissing

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. Mit 5 Abbildungen und 1 Tabelle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-31715-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Luftbild von einer Gärtnerei © 2008 Klaus Leidorf – www.Leidorf.de

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

Inhalt Annette Meyer und Stephan Schleissing Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Bernhard Gill und Michael Schneider Die Grüne Gentechnik in den Fesseln der Chemischen Industrie. Oder: Ist ihr Einsatz im Rahmen einer holistischen Agrarwissenschaft möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Barbara Brandl Perfektes Match? Der Akademische Kapitalismus und die Privilegierung der molekularbiologischen Perspektive in der Pflanzenzüchtung . . . . . 33 Christoph Rehmann-Sutter und Georg Gusewski Ethik des Essens und die Biotechnologisierung der Landwirtschaft . . . 49 Jonas Kathage Grüne Gentechnik für Kleinbauern? Bt-Baumwolle in Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Martin Knoll »Wahr ist es, die Lage (…) ist traurig, allein die Natur ist da so reich, die Gegend so schön! (…)«. Zur neuzeitlichen Konzeption des sozio-naturalen Schauplatzes Landwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Julia Herzberg Lenken und Erziehen. Mensch und Natur in der Debatte um die sowjetische Genetik . . . . . . 106 Christian Dürnberger Utopia im Garten. Neues utopisches und dystopisches Denken in gegenwärtigen Debatten über Natur, Landwirtschaft und Nahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Birgit Lemmen Das Bild von »Natur« im Recht der Grünen Gentechnik . . . . . . . . . . 147 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Inhalt

Ino Augsberg Natur als Norm. Zum Problem der Bestimmung der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« als Schutzobjekt des Gentechnikgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Reinhard Pröls und Lena Bouman Über die Rolle von Naturbildern im Diskurs über die Grüne Gentechnik – ein Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

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Annette Meyer und Stephan Schleissing

Einleitung

Wer gegenwärtig zum Thema der »Grünen Gentechnik« Stellung nimmt, sieht sich einem erstaunlichen Befund ausgesetzt: Weltweit steigt zwar der Umfang der Flächen, auf denen gentechnisch veränderte (gv) Pflanzen angebaut werden, wobei sich die landwirtschaftliche Nutzung bis auf wenige Ausnahmen weithin auf die vier Kulturarten Soja, Mais, Baumwolle und Raps beschränkt. In Europa aber fristet die Nutzung von gentechnisch verändertem Mais – mit Ausnahme von Spanien – ein Schattendasein. In Deutschland, wo der Anbau seit der Einstellung der gv-Stärkekartoffel Amflora vollständig zum Erliegen gekommen ist, hat es seit 2013 nicht einmal mehr Freisetzungen von gv-Pflanzen zum Zwecke ihrer wissenschaftlichen Erforschung gegeben. Dazu passt, dass der weltgrößte Chemiekonzern BASF Anfang 2012 die Forschung auf dem Gebiet der Pflanzenbiotechnologie in Deutschland aufgegeben hat. Seitdem wird vor allem in den USA geforscht. Und so sind es insbesondere US-amerikanische Unter­nehmen, die gegenwärtig neue gv-Sorten auf den Markt bringen. Die aktuelle Debatte, die im Zuge der EU-Zulassung der Maissorte 1507 der Firma­ Dupont Pioneer entbrannt ist, zeigt, dass das Thema »Grüne Gentechnik« auch dann noch virulent ist, wenn in Deutschland keine gv-Pflanzen angebaut werden können. Deutschlands Felder sind »gentechnikfrei«1 und die Forschung findet hierzulande, wenn überhaupt, nur noch im Gewächshaus statt. Wozu sich dann noch Gedanken machen? Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes beschäftigen sich weder mit der Frage einer mutmaßlichen Renaissance dieser Technologie im Hinblick auf ihren landwirtschaftlichen Einsatz in Deutschland noch intendieren sie, gleich einer Grabrede, ihren Abgesang. Der Anstoß zu ihrer Veröffentlichung verdankt sich einem analytischen Interesse. Denn die Debatte um das Thema »Grüne Gentechnik«, die die Wahrnehmung moderner Pflanzenzüchtung vor allem in Deutschland seit gut 30 Jahren bestimmt, hat

1 Der Begriff wird verwendet, um Regionen und Lebensmittel zu bezeichnen, die frei von gentechnisch veränderten Organismen sein sollen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Annette Meyer und Stephan Schleissing

Spuren hinterlassen.2 Dabei zeigt sich ein ganzer Komplex an Erwartungen und Befürchtungen im Umgang mit Natur, dessen Prägekraft in dem Maße steigt, in dem »Grüne Gentechnik« zum Symbol, aber auch zum Fanal eines Irrwegs moderner Pflanzenforschung und Landwirtschaft erklärt worden ist. Diese gesellschaftliche Wahrnehmung ihrer eigenen Disziplin stößt bei vielen Biologen und anderen Experten, die in der Pflanzenbiotechnologie arbeiten, auf Unverständnis. Gleichwohl kann man den Vorwurf eines vermeintlichen Irrationalismus der gesellschaftlichen Diskussion auch als einen Kommentar dazu verstehen, dass angesichts der manifesten Symbolik dieses Themas der dabei zugrunde gelegte Begriff von Vernunft wesentlich weiter ausgelegt werden muss, als dies allein mithilfe einer (natur)wissenschaftlichen Methodik möglich ist. Psychologen sprechen von »Affektheuristik«, wenn sich Urteile aus emotionalen Prädispositionen bzw. festgefügten Weltbildern speisen.3 In der Debatte um die Grüne Gentechnik ist dieses Phänomen sowohl bei den Gegnern als auch bei den Befürwortern zu beobachten. Kritiker der Technologie korrelieren hohe Risiken mit geringem Nutzen, während Befürworter einen hohen Nutzen mit überschaubarem Risiko verbunden sehen. Des Weiteren werden neue wissenschaftliche Erkenntnisse nur dann anerkannt, wenn sie sich umstandslos in das bestehende Weltbild einfügen lassen. Sowohl Laien als auch Experten akzeptieren Forschungsergebnisse nur dann, wenn sie mit dem eigenen Idealbild von Natur und Umwelt kompatibel sind.4 Die Grüne Gentechnik ist von diesem Befund in besonderem Maße betroffen, da der Bereich von Lebensmitteln und ihrer Produktion die Menschen unmittelbar berührt und daher  – anders als andere Technologiebereiche – fundamentale Bedeutung für ihr Weltbild hat. Hier ist die Frage der Grenze zwischen Natur, Kultur und Technik berührt und damit nicht weniger als die Eigenverortung des Menschen in seiner Natur-Umwelt. 2 Vor 30 Jahren gelang es Wissenschaftlern in Köln und Gent erstmals, ein »fremdes« Gen in das Erbgut einer Pflanze einzuschleusen. Die gentechnisch veränderten Tabakpflanzen, die der belgische Molekularbiologe Jeff Schell, von 1978 bis 2000 Direktor am damaligen Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung in Köln, zusammen mit seinem Genter Kollegen Marc Van Montagu erzeugte, markieren so etwas wie die Geburtsstunde der Grünen Gentechnik. Zur gesellschaftlichen Diskussion über die Rote und Grüne Gentechnologie in der BRD seit den 1960er Jahren vgl. Samia Salem, Die öffentliche Wahrnehmung der Gentechnik in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren, (Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 47). Stuttgart 2013, 281 ff. 3 Paul Slovic, Ellen Peters, Risk Perception and Affect, in: Current Directions in Psychological Science 15, 2006, 322–325. 4 Vgl. dazu Sebastian Herrmann: Im Affekt. Die Debatte über Nutzen und Risiken der grünen Gentechnik ist besonders von Emotionen geprägt. Die Gefühle formen die Meinungen der Kontrahenten – erst danach beginnt die Suche nach Fakten und Argumenten, in: SZ 13.2.2014, Nr. 36, 18. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Einleitung

Mit dem Naturbegriff verbinden sich weitere, emotional besetzte Prädispositionen: Natur, Umwelt und Landschaft werden häufig ahistorisch gedacht; Kultur und damit Geschichte beginnt mit dem Eingriff des Menschen in einen prästabilisierten, harmonischen Naturzustand und mit diesem Eingriff geht in den Augen vieler Betrachter ein Vorgang der Modifikation (vom eigentlich Natürlichen) bzw. ein Prozess der Zerstörung einher. Der Fortschritt durch Wissenschaft und Technik beschleunigt dieser Auffassung nach den sukzessiven Zerstörungsvorgang der Natur. Viele dieser Vorstellungen basieren auf Emotionen, die wiederum kulturell tradiert werden.5 Die Grenze zwischen natürlich und unnatürlich verläuft parallel zur Grenze von gesund/ungesund bzw. risikofrei/ risikobehaftet. Seit langem ist die Ökologie darum bemüht, die Vorstellung der Natur als ahistorische, organische Einheit durch ein komplexeres Bild eines sich ohne und mit Zutun des Menschen ständig wandelnden Ganzen abzulösen. Die jüngere Umweltgeschichte versucht, den Prozess des Wandels nicht als »Kampf zwischen Gut und Böse« zu beschreiben, auf Werturteile zu verzichten und mit Rolf Peter Sieferle lediglich den »Übergang von einem Ordnungszustand in den anderen« zu charakterisieren.6 Nichtsdestotrotz kann das Bild der Natur nicht ex post objektiviert werden, sondern die Art und Weise, wie Natur verstanden wird, bleibt ein Phänomen, das seinerseits aus einem langen kulturgeschichtlichen Prozess hervorgegangen ist. »Die Natur« – sowohl als Lebens-, aber auch als Forschungsraum – ist Resultat einer Entwicklung, in der Ideen, Ideale oder Ideologien auf »die Natur« projiziert worden sind.7 Auch wissenschaftliche Debatten bleiben von der Persistenz bestimmter Naturbilder nicht unberührt, weshalb es beim Thema der Grünen Gentechnik um sehr viel mehr als nur eine natur­wissenschaftlich begrenzbare Risikodiskussion in der Pflanzenforschung geht. Dieser Befund war Anlass für die Einrichtung eines zweijährigen Forschungs­ schwerpunkts am Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität (CAS LMU) München, in dem fünf Nachwuchswissenschaftler aus den Disziplinen Biologie, Soziologie, Philosophie, Geschichts- und Rechts­ wissenschaften an der Erarbeitung eines interdisziplinären Verständnisses der Debatte um die Grüne Gentechnik zusammenarbeiteten. Die regelmäßigen Treffen der Projektgruppe sowie die Organisation von zwei Workshops und 5 Vgl. dazu Hansjörg Küster, Die Entdeckung der Landschaft. Einführung in eine neue Wissenschaft. München 2012, 8 f. 6 Zit. nach Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 22012, 33. 7 Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem: zur kulturbedingten Vieldeutigkeit ästhetischer, moralischer und theoretischer Naturauffassungen. Einleitender Überblick, in: Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl (Hrsg.); Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene, Bielefeld 2009, 15. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Annette Meyer und Stephan Schleissing

der abschließenden öffentlichen Plenumsdiskussion fanden in Kooperation mit dem Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften an der LMU (TTN) statt. Unterstützt wurde diese Zusammenarbeit durch einen engen Austausch mit Mitgliedern des Bayerischen Forschungsverbundes FORPLANTA, in dem Wissenschaftler der Universitäten Erlangen, Würzburg sowie der beiden Münchner Universitäten und der Hochschule für Philosophie München gemeinsam mit dem Sprecher des Verbundes Professor Jürgen Soll von der Fakultät für Biologie der LMU erstmals fächerübergreifend die gesellschaftliche Relevanz der molekularen Gen- und Genomforschung im Hinblick auf die Verbesserung der Stresstoleranz von Pflanzen untersuchten. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes entstammen alle der Zusammenarbeit dieses Forschungsschwerpunkts. Obwohl die Autoren die Gründe für eine Akzeptanz oder Ablehnung der grünen Biotechnologie persönlich durchaus unterschiedlich gewichten, geht es in ihren Beiträgen vor allem um das Verständnis der Hintergründe, die das Thema zu einer grundlegenden Debatte in der Verständigung über Natur, Umwelt und Landwirtschaft in der Bundesrepublik werden ließen.8 Es sind vor allem drei Theorieebenen, die die Zuordnung der Beiträge in diesem Band strukturieren: Mit den Auswirkungen der Grünen Gentechnik beschäftigen sich in den letzten Jahren vor allem Agrarsoziologen. Eine Lesart interpretiert die sozialen Auswirkungen dieser Technologie in einem engen Konnex mit der globalen Ausweitung des »agro-industriellen Komplexes« in der Landwirtschaft, in deren Folge die genetische Manipulation von Pflanzen im Chemielabor als »Fortsetzung der chemischen Industrie mit anderen Mitteln« verstanden wird (Gill/Schneider). Als ein zentraler Treiber einer solchen »Molekularisierung der Pflanzenzüchtung« fungiert dabei die biologische Forschung, deren verstärkte Ausrichtung an den ökonomischen Verwertungsinteressen zu einem Typus von Wissensproduktion tendiert, den man auch als »akademischen Kapitalismus« bezeichnen kann (Brandl). Gesellschaftlich realisiert sich eine solche industriell betriebene »Biotechnologisierung der Landwirtschaft« durchaus konflikthaft. Ihr gegenüber etabliert sich die Suche nach einer neuen »Kultur des Essens«, in der Natürlichkeit zum ethischen Narrativ eines Mensch, Tier und Pflanzen umfassenden Soziotops avanciert (Rehmann-Sutter/Gusewski). Demgegenüber finden regionalspezifische Studien, die einen positiven Nutzen des Anbaus zum Beispiel von gv-Baumwolle für Kleinbauern in Schwellenländern plausibel machen, zumindest in der Öffentlichkeit wenig Beobachtung (Kathage). Neben der exemplarischen Diskussion solcher Krisen- bzw. Transforma­ tionsphänomene moderner Landwirtschaftskultur versammelt der vorliegende Band auch historische Analysen, die die Genese einer solchen Perspektive auf 8 Hier ist der Vergleich mit der Diskussion um die Rote Gentechnik von Interesse, die in weiten Teilen der Öffentlichkeit Zustimmung findet. Vgl. dazu Salem, Die öffentliche Wahrnehmung der Gentechnik, 282. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Einleitung

Theorie und Praxis des Anbaus von Pflanzen mit einem Bild von Natur erklärt, das sich seit jeher einer einfachen Dichotomie von Natur versus Kultur bzw. Technik entzieht. Die Unterscheidung von Naturwelt und Sozialwelt fungiert gesellschaftlich keineswegs unvermittelt, was man an der frühneuzeitlichen Konzeption von Landwirtschaft als einem »sozio-naturalen Schauplatz« erkennen kann (Knoll). Aber auch naturwissenschaftliche Forschung ereignet sich nicht einfach kontextlos in von der Gesellschaft abgetrennten Laboren, sondern bleibt hinsichtlich ihrer Anerkennung auf gesellschaftlich geltende Normen des Zusammenlebens angewiesen, die man mit Hilfe des Konzepts einer »situierten Objektivität« nachzeichnen kann (Herzberg). Dass dabei Zukunftsentwürfe einer Versöhnung von Mensch und Natur bisweilen nur mehr das individuelle Unbehagen an der Moderne kontrastreich zu illustrieren vermögen, anstatt politisch wirksam zu werden, zeigt nicht zuletzt die Utopie-Forschung (Dürnberger). Inwieweit solche soziologischen und historischen Erkundungen ihren Wider­ hall auch im normativen Diskurs um die Zulassung bzw. Freisetzung von gvPflanzen finden, diskutieren schließlich zwei rechtswissenschaftliche Beiträge, die sich mit dem Verständnis von Natur als »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« im deutschen Gentechnikgesetz (GenTG) befassen. Dabei lässt sich das Bestreben beobachten, den Schutzumfang der Natur durch die Hinzunahme »ethischer Werte« zu erweitern, auch wenn dies nicht einfach als Absage an die Förderung der technischen Naturnutzung durch Gentechnik verstanden werden kann (Lemmen). Weil das Schutzobjekt des Gentechnikrechts kein empirisch fassbares Phänomen ist, das ausschließlich mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden messbar wäre, ist insofern der Einfluss der Umwelt des Rechts auf das Verfahren der Rechtsfindung unvermeidbar (Augsberg). Dies als Wertentscheidung auch ausdrücklich zu machen, könnte für einen vernünftigen Diskurs um die Grüne Gentechnik außerordentlich hilfreich sein. Denn in einer politischen Arena fungieren Symbole einer schützenswerten Natur ja nicht als Tabus, sondern sie kommunizieren die Auslegungsbedürftigkeit einer Vielfalt von ökonomisch, sozial und ethisch zu qualifizierenden Güter in einer Gesellschaft, die sich auch zu ihrem eigenen sozio-naturalen »Wirkungsgefüge« in ein verantwortbares Verhältnis zu setzen hat. Im Zentrum des CAS-Forschungsschwerpunkts »Grüne Gentechnik« stand das Bewusstsein, dass die divergierenden Naturbilder eine Verständigung über den eigentlichen Forschungsgegenstand erschweren, weshalb die Naturbilder selbst in die disziplinäre Matrix miteinbezogen werden sollten. Unter den Wissenschaftlern, die sich in der Kooperation zusammengefunden haben, hat dieser Perspektivenwechsel neue Einsichten in das Feld gegeben und bei manchen zumindest zu einer Modifikation der ursprünglichen Haltung beigetragen. Als exemplarisch für die Resonanz, die dieses interdisziplinäre Vermögen bei Biologen hervorrief, kann das Interview der Biologin Lena Bouman mit dem Bio© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Annette Meyer und Stephan Schleissing

logen Reinhard Pröls verstanden werden, das Einsichten aus der Zusammenarbeit im Forschungsschwerpunkt bündelt und auf diese Weise darauf abzielt, die Frage nach dem Stellenwert biotechnologischer Forschung in unserer Gesellschaft für gute Argumente offen zu halten. Das Zustandekommen eines ertragreichen interdisziplinären Dialogs über die scheinbar natürliche Grenze der »zwei Kulturen« (C. P. Snow) hinweg – Naturwissenschaften auf der einen Seite und Geistes- und Sozialwissenschaften auf der anderen – verdankt sich der Offenheit und Unvoreingenommenheit unter den Mitgliedern des Beirates: Prof. Dr. Hans-Georg Dederer (Lehrstuhl für Staats-und Verwaltungsrecht, Universität Passau), Prof. Dr. Bernhard Gill (Institut für Soziologie, LMU), Prof. Dr. Jürgen Soll (Lehrstuhl für Biochemie und Physiologie der Pflanzen, Biozentrum der LMU) und Prof. Dr. Christof Mauch (Rachel Carson Center der LMU). Die Vertiefung des Disziplinen übergreifenden Gesprächs fand allerdings insbesondere bei den Treffen der Nachwuchs­ wissenschaftler statt, die neben ihrer eigentlichen Forschungsarbeit viel Zeit und Energie in die Kooperation investierten. Auch in Zeiten, in denen Interdisziplinarität in der Forschung großgeschrieben wird, ist das nicht selbstverständlich und der große Brückenschlag bleibt ein Wagnis, weshalb wir den Mitgliedern des CAS-Forschungsschwerpunkts nochmals ausdrücklich dafür danken möchten, dass sie sich darauf eingelassen haben. Die Geduld der Naturwissenschaftler, die schnellere Publikationsfristen gewöhnt sind, wurde bei der Entstehung dieses Sammelbandes etwas auf die Probe gestellt; wir hoffen, dass das Resultat versöhnt. Unser Dank gilt auch Dr. Lena Bouman, Dr. Edith K ­ oller und Katja Grgur-Fleck, die die redaktionelle Bearbeitung der Beiträge übernommen haben. Nicht zuletzt sei den Direktoren des Rachel Carson Center for Environment and Society der LMU, Prof. Dr. Christof Mauch und Prof. Dr. Helmuth Trischler, für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Umwelt und Gesellschaft gedankt. Annette Meyer, Stephan Schleissing

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Bernhard Gill und Michael Schneider

Die Grüne Gentechnik in den Fesseln der Chemischen Industrie Oder: Ist ihr Einsatz im Rahmen einer holistischen Agrarwissenschaft möglich?

Grüne Gentechnik und industrialisierte Landwirtschaft werden in der öffentlichen Wahrnehmung oft in eins gesetzt, die Grüne Gentechnik dann entsprechend mit allen ökologischen, tierethischen, sozialen und ästhetischen Sünden maschineller und chemischer Zurichtung biologischer Wachstumsprozesse in Verbindung gebracht.1 Wir werden im Folgenden argumentieren, dass das durchaus zu Recht geschieht, weil die Grüne Gentechnik – unabhängig von den Intentionen ihrer Protagonisten – sich hier in einer strukturellen Bindung befindet, die nur schwer zu lösen ist. Die Grüne Gentechnik ist in ihrer gegenwärtigen Form strukturell auf die Absatzerfordernisse chemischer Großindustrie und die agronomischen Probleme industrieller Landwirtschaft zugeschnitten und findet darüber hinaus allenfalls zufällig Verwendung. Man kann insofern auch von einer Gefangenschaft in einem »agro-industriellen Komplex« sprechen: Dieser umfasst nicht nur die unmittelbare landwirtschaftliche Praxis der Bauern, sondern auch die Zulieferindustrien für Maschinen, Saatgut und Pestizide sowie die Weiterverarbeitung in der Nahrungsmittelindustrie und die Distribution durch große Handelskonzerne und Supermarktketten. Da die Zulieferer und die Abnehmer wirtschaftlich viel stärker konzentriert sind als die Landwirte, können sie diesen die Anbaubedingungen sehr weitgehend diktieren.2 1 Christian Dürnberger, Conflict cloud green genetic engineering. Structuring the­ controversy over biotechnology in agriculture, in: Thomas Potthast, Simon Meisch (Hrsg.), Climate Change and Sustainable Development: Ethical Perspectives on Land Use and Food Production. Wageningen 2012, 427–430; Jürgen Hampel, Ortwin Renn (Hrsg.), Gentechnik in der Öffentlichkeit. Wahrnehmung und Bewertung einer umstrittenen Technologie. Frankfurt 1999. 2 Kevin Morgan, Terry Marsden, Jonathan Murdoch, Worlds of Food. Place, Power, and the Food Chain. Oxford 2006. Douglas Allen, Dean Lueck, The nature of the farm, in: Journal of Law and Economics, 41, 1998, 343–386. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Bernhard Gill und Michael Schneider

Ein systematischer Einsatz der Grünen Gentechnik bei Kleinbauern oder in der ökologischen Landwirtschaft, so wie er von vielen akademischen Für­ sprechern der Gentechnik propagiert wird, ist nicht undenkbar und wäre unter Ausgleich von ökologischen, sozialen und ökonomischen Belangen wohl auch wünschenswert.3 Aber dazu müssten sowohl epistemische wie auch ökonomische Barrieren überwunden und die Denkweisen und Organisationserfordernisse einer holistischen Agrarwissenschaft anerkannt werden. Dabei soll Agrarwissenschaft als holistisch oder systemisch gelten, wenn sie Ackerbau und Viehzucht in ihren jeweiligen ökologischen, ökonomischen und sozialen Kontexten betrachtet und nicht umgekehrt Acker und Tierstall gleichsam wie ein Labor aus den gegebenen Bedingungen herauszulösen versucht, um überall die gleichen, standardisierten Methoden anzuwenden, wie dies in der industrialisierten Landwirtschaft erfolgt. Dieses Argument soll im Folgenden in vier Schritten entfaltet werden: (1) Zunächst werden wir beschreiben, wie der agro-industrielle Komplex in den 1960er Jahren entstanden ist und wie er sich seit den 1970er Jahren in den Industrieländern unter dem Druck von gesättigten und dem ideologischen Anspruch nach deregulierten Märkten verändert hat. Durch die Marktsättigung kam es zu einer verstärkten Beachtung ökologischer, tierethischer, landschaftsund nahrungsmittelästhetischer Belange. Gleichzeitig wurde eine verstärkte Kommerzialisierung von Wissenschaft und Forschung in Gang gesetzt, welche die Patentierung von gentechnischen Pflanzenzüchtungsmethoden und von einzelnen Genen erlaubt. (2) Vor diesem Hintergrund wollen wir zeigen, dass die Gentechnik noch weit davon entfernt ist, die biologische Selbststeuerung von höheren Organismen zu verstehen, um gezielt in sie eingreifen zu können. Vielmehr ist sie bisher weitgehend darauf beschränkt, im relativ blinden Massenscreening von Bakterien einfache chemische Effekte zu isolieren, die dann auf Pflanzen übertragen werden. Sie folgt damit einem technologischen Paradigma, das in der Pharma- und Pestizidindustrie zuvor schon zur Entdeckung von Wirkstoffen verwendet wurde. Dieses Paradigma ist daher – seiner inneren Logik nach – noch als »chemisch« zu bezeichnen und kann nach unserem Verständnis noch nicht als »biologisch« gelten, weil es der systemischen Komplexität belebter Materie, insbesondere von höheren Organismen, nicht gerecht wird. (3) Verbunden mit den kapitalintensiven und arbeitsaufwändigen Verfahren des Massenscreenings sind hohe Forschungs- und Entwicklungskosten, die sich kommerziell nur lohnen, wenn der entsprechende transgene Effekt mit 3 IAASTD  – International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development, Agriculture at a crossroads. Executive Summary of the ­Synthesis Report. Washington, D. C. 2009; Gaëtan Vanloqueren, Philippe V. Baret, How Agricultural Research Systems Shape  a Technological Regime that Develops Genetic Engineering but Locks Out Agroecological Innovations, in: Research Policy 38, 2009, 971–983. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

Die Grüne Gentechnik in den Fesseln der Chemischen Industrie 

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hohen Kosteneinsparungen bei den Landwirten verbunden ist und einen massenhaften Einsatz ermöglicht. Das ist im Allgemeinen nur unter den Bedingungen industrieller Landwirtschaft gegeben – das heißt bei einem sehr stark eingeschränkten Spektrum von Kulturarten, unter den ökonomischen Kalkulationsbedingungen großer landwirtschaftlicher Betriebe sowie bei einem Anbau, der auf Gunstlagen beschränkt bleibt. Unter Einsatz von Pestiziden, Dünger, Bewässerung und schweren landwirtschaftlichen Maschinen wird hier eine möglichst gleichförmige Umwelt hergestellt, in der die standardisierten Produkte gedeihen können. Zugespitzt formuliert: Die Produkte werden nicht an die landwirtschaftlichen Bedingungen, sondern die landwirtschaftlichen Bedingungen werden an die Produkte angepasst. Dies ist auch erforderlich, weil nur so entsprechend große Absatzmärkte geschaffen werden können. (4) Eine holistische und kontextsensible Agrarwissenschaft versucht demgegenüber, Ertragssteigerungen und Nahrungsmittelsicherheit durch bessere Anpassung der Kulturmethoden an heterogene ökologische und soziale Kontexte zu erreichen, also die Beschränkung auf landwirtschaftliche Großbetriebe, Monokulturen und Gunstlagen zu überwinden, sowie die Abhängigkeit von chemischen und energieaufwändigen mechanischen Stützleistungen zu reduzieren. Verbessertes Saatgut kann dabei sicher einen Beitrag leisten – unter welchen Bedingungen die Gentechnik hier zur Verbesserung beitragen kann, soll abschließend diskutiert werden. Unser Beitrag stützt sich einerseits auf die Auswertung und Diskussion wissenschafts- und agrarsoziologischer Literatur, andererseits auf Interviews mit Pflanzenbiotechnologen im Projekt FORPLANTA, an dem wir als sozialwissenschaftliche Begleitforscher teilnehmen.4 In diesem Projekt wird von Naturwissenschaftlern der beachtliche Versuch unternommen, die biologische Selbststeuerung von Pflanzen zu verstehen und sie mit dem Ziel einer erhöhten Stresstoleranz – gegen Hitze, Dürre und Krankheitserreger – zu verändern. Die Komplexität dieser Untersuchung macht die Größe des Schritts von der Chemie zur Biologie deutlich – und zeigt damit zugleich, wie weit die gegenwärtig auf dem Acker realisierte Fortsetzung der Chemie mit anderen Mitteln von einer Biotechnologie entfernt ist, die ihren Namen verdient.

4 http://www.bayfor.org/de/geschaeftsbereiche/forschungsverbuende/welt-des-lebens/ forplanta.html (zuletzt aufgerufen am 7.8.2013). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Bernhard Gill und Michael Schneider

1. Geschichte: Fordistischer Aufbau und neoliberaler Umbau des agro-industriellen Komplexes Die Agrarrevolution des 20. Jahrhunderts vollzog sich in Deutschland als eine »Umwälzung, die niemand vorausgesehen, geschweige denn geplant hatte und die binnen weniger Jahre eine schier unerbittliche Eigendynamik entfaltete«.5 Um 1960 fehlte in betriebswirtschaftlichen Handbüchern noch jeglicher Hinweis auf (hoch) spezialisierte landwirtschaftliche Großbetriebe  – stattdessen wurde das Ideal des »Ganzen Landwirts«6 und einer in Familienbetrieben organisierten, Viehwirtschaft und Ackerbau ausbalancierenden Produktionsweise beschrieben. Und laut dem Agrarhistoriker Uekötter war der »amerikanische Farmer« nicht nur das kulturelle »Gegenstück« zum »deutschen Bauern«, sondern sogar »eine erste Warnung« für die westdeutsche Landwirtschaft.7 Doch bereits ein paar Jahre später wurde der Abschied von der Tradition eingeläutet. In der agrarischen Publizistik wurde die noch vor Kurzem geschätzte traditionelle Vielfalt als »noch immer praktizierte[s] System des zoologischen Gartens auf dem Bauernhof« diskreditiert.8 Rationalisierung und Spezialisierung stiegen zu Leitprinzipien eines zeitgemäßen Agrarbetriebs auf, wenn es etwa hieß: »Im modernen Ackerbau ist man heute meist gezwungen, zur Verbesserung der Arbeitseinkommen das Betriebsgeschehen sinnvoll zu vereinfachen, sich bis zu einem gewissen Grade zu spezialisieren, um rationalisieren zu können. Dies bedeutet in vielen Fällen eine Einschränkung der Fruchtarten auf dem Acker«.9 Als Ursachen für den revolutionären Abschied vom »Ganzen Landwirt« benennt Uekötter10 vor allem das agrarpolitische Handeln staatlicher und privatwirtschaftlicher Akteure. So verfolgten die verarbeitende Industrie, Gewerkschaften oder der Staat zwar durchaus verschiedene, im Fall der Industrialisierung der Landwirtschaft aber vielfach konvergierende Interessen wie etwa niedrigere Lebensmittelpreise, Wirtschaftswachstum oder Zustrom von Arbeitskräften für den sekundären Sektor.11 5 Frank Uekötter, Die Wahrheit liegt auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft. Göttingen 2010, 386. 6 Ebd., 336. 7 Ebd. 8 G. Haerkötter, Dankbar für »modernes Zeugs«, in: Deutsche Landwirtschaftliche Presse 88, 1965, 53–54, zit. n. Uekötter, Wahrheit, 373. 9 Wilhelm Jahn-Deesbach, Aufgaben und Probleme der Gründüngung im modernen Ackerbau, in: Ruhr-Stickstoff AG (Hrsg.), Bodenfruchtbarkeit ohne Stallmist? Bochum 1965, 27–59, zit. n. Uekötter, Wahrheit, 373. 10 Uekötter, Wahrheit. 11 Matthias Sauer, Fordist Mordernization of German Agriculture and the Future of­ Familiy Farms, in: Sociologia Ruralis 30/3, 1990, 260–279. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Auch für Agrarsoziologen ist diese stille Facette der Industrialisierung der Landwirtschaft Gegenstand der Untersuchung. So fragen Morgan und Kollegen nach der »Widerspenstigkeit« des Agrarsektors, warum dessen Transformation in ein industriell-kapitalistisches System so schwierig gewesen sei und daher erst so spät erfolgte.12 Als Ursachen identifizieren sie neben natürlichen Faktoren, wie der Bodenbeschaffenheit, den klimatische Bedingungen oder der Saisona­lität der Ernten, vor allem den ganzheitlich orientierten Arbeitsprozess der bäuerlichen Familienbetriebe, der sich kapitalistischen Prinzipien wie Arbeitsteilung oder Lohnarbeit lange Zeit so erfolgreich in den Weg stellte. Erst in dem Maße, wie es durch Mechanisierung, Einsatz von Kunstdünger oder verbessertes Saatgut gelang, Natur und Arbeitskraft gleichermaßen den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen, geriet das tradierte Ideal unter Druck. Intensivierung und Rationalisierung bestimmten von nun an die Landwirtschaft. Flankiert wurde dieser Prozess von staatlichen Eingriffen, wie etwa Transfer­ zahlungen an die Bauern oder Investitionen in Forschung und Entwicklung.13 Als Ergebnis entstand ab den 1960er Jahren ein agro-industrieller Komplex: Die Rationalisierung der Landwirtschaft sorgte nicht nur für billige Lebensmittel – phasenweise sogar für Milchseen und Butterberge –, sondern setzte auch Arbeitskräfte für die Industrie frei und schuf umgekehrt Absatzmärkte für Industriegüter wie Traktoren, Pestizide etc.14 Neben Überproduktion verursachte das Steuerungsregime der Nachkriegszeit allerdings eine Reihe weiterer nichtintendierter Nebenfolgen: hohe gesundheitliche Kosten, negative Umweltauswirkungen und ineffizienten Energieeinsatz.15 Diese Nebenfolgen wurden aber zunächst nicht weiter thematisiert, sondern kamen erst mit der Marktsättigung und dem Erstarken der Ökologiebewegung in den 1970er Jahren zur Sprache. Stehen die 1960er Jahre für den stillen Abschied von der traditionellen Landwirtschaft und den fordistischen Aufbau des agro-industriellen Komplexes, so liegen die Wurzeln seines neoliberalen Umbaus in den 1970er Jahren. Der Fordismus16 zielte dabei auf die Produktion und den Absatz von möglichst großen 12 Kevin Morgan, Terry Marsden, Jonathan Murdoch (Hrsg.), The Regulatory World of Agri-Food: Politics, Power and Conventions, in: dies., Worlds of Food., 26–52; vgl. zusammenfassend Barbara Brandl, Saatgut als Ware. Die Aneignung und Kommodifizierung von Wissen durch Rechte des Geistigen Eigentums am Beispiel des Saatgutsektors, in: Herwig Grimm, Stephan Schleissing (Hrsg.), Grüne Gentechnik: Zwischen Forschungsfreiheit und Anwendungsrisiko. Baden-Baden 2012, 309–327. 13 Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Frankfurt, New York 1989. 14 Sauer, Fordist Mordernization. 15 IAASTD, Agriculture. 16 Vgl. zu diesen zentralen Begriffen der Regulationstheorie: Michel Aglietta, Ein neues Akkumulationsregime: Die Regulationstheorie auf dem Prüfstand. Hamburg 2000. Michael J. Piore, Charles F. Sabel, Das Ende der Massenproduktion; Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft. Berlin 1985. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Mengen an Standardgütern. Außerdem wurden damals staatliche Konjunktursteuerung, Verbesserungen der Arbeitnehmerrechte und sozialstaatliche Maßnahmen zur Anhebung der Massenkaufkraft politisch breit akzeptiert. Infolge der weltweiten wirtschaftlichen Krisenerscheinungen der 1970er Jahre fand aber – zunächst vor allem in den USA und Großbritannien – ein Umschwung zur Doktrin des Neoliberalismus statt. Der Staat sollte nur noch die Eigentumsrechte sichern und sich ansonsten des Eingriffs in die Wirtschaft enthalten; auch die privatwirtschaftlichen Unternehmen sollten entbürokratisiert und verschlankt werden.17 Angesichts zunehmender Marktsättigung wurde anstelle von Absatzhilfen nun verstärkt »Kundensouveränität« und »Konsumenten­ demokratie« gefordert.18 Entsprechend sind die Gründe für den neoliberalen Umbau der Landwirtschaft zum einen die ökonomischen und ökologischen Grenzen der industriellen Produktion. Selbst mithilfe des Einsatzes von mehr Herbiziden ließ sich nicht mehr Ertrag generieren, dafür erhöhten sich aber die Umweltschäden, und der Einsatz von »Chemiekeulen« war einem zunehmend kritisch eingestellten Publikum kaum mehr zu vermitteln. Zum anderen stiegen genau deshalb auch die Anreize für agrochemische Konzerne wie Monsanto oder Bayer, in die Saatgutbranche einzusteigen und die damals neu aufkommenden molekularbiologischen Methoden zur Entwicklung eines neuen Herbizidsystems zu nutzen.19 Die Beteiligung der Konzerne und die wachsenden Möglichkeiten der Molekularbiologie blieben für die Saatgutbranche nicht folgenlos: Sie wurde – ausgehend von den USA – immer stärker kommerzialisiert; insbesondere in Nordamerika wurden viele Züchter von großen Chemieunternehmen aufgekauft. Insofern hat sich eine starke Tendenz zur Monopolisierung vollzogen und weltweit trägt die ehedem stark handwerklich ausgerichtete Pflanzenzüchtung inzwischen Züge einer »science based industry«.20 Diese sogenannte Molekularisierung21 und Kommerzialisierung der Pflanzenzüchtung wurde von der Entscheidung erleichtert, dass gentechnische Verfahren sowie einzelne Gene, letztere ähnlich wie chemische Substanzen, patentiert werden können. Die Erweiterung und Erleichterung von Patentie 17 Marion Fourcade-Gourinchas, Sarah Babb, The Rebirth of the Liberal Creed: Paths to Neoliberalism in Four Countries, in: American Journal of Sociology, 107, 2002, 533–579. Armin Schäfer, Krisentheorien der Demokratie. Unregierbarkeit, Spätkapitalismus und Postdemokratie. MPIfG Discussion Paper 08/10, Köln 2008. 18 Nico Stehr, Die Moralisierung der Märkte; eine Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M. 2007. 19 Jos Bijman, AgrEvo: From Crop Protection to Crop Production, in: AgBioForum 4/1, 2004, 20–25. 20 Benjamin Coriat, Fabienne Orsi, Olivier Weinstein, Does Biotech Reflect  a New­ Science-based Innovation Regime?, in: Industry and Innovation 10/3, 2003, 231–253. 21 Vgl. den Aufsatz von Barbara Brandl in diesem Band. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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rungsmöglichkeiten in den USA – verzögert und abgeschwächt auch in Europa – war eine Reaktion auf die in den 1970er Jahren beginnende Wirtschaftskrise. Die neoliberale Krisenrhetorik sah die US-Wettbewerbsfähigkeit in einer globalen (Wissens-)Ökonomie massiv gefährdet: Während die USA in hohem Maße in die Forschung investierten, würden die daraus hervorgehenden Erfindungen größtenteils im Ausland, vor allem in Japan und China, hergestellt. Um den unkontrollierten Abfluss von Forschungsinvestitionen zu vermeiden, wurde die Möglichkeit der Patentierung bis tief in die Grundlagenforschung ausgedehnt und die Vergabe staatlicher Forschungsmitteln an Patentierungsauflagen und Kooperationsvereinbarungen mit heimischen Firmen geknüpft.22 Die Universitäten standen so vor der Aufgabe, ihre Forschung immer stärker an den industriellen Erfordernissen und der ökonomischen Verwertbarkeit von Wissen auszurichten – eine Entwicklung, die in der wissenschaftssoziologischen Fachliteratur als »Akademischer Kapitalismus« beschrieben wird.23 So formierte sich mit der Gentechnik und der Möglichkeit zur Patentierung einzelner Gene ein neues, bis heute keineswegs abgeschlossenes Kommerzialisierungsregime: Die Molekularisierung erlaubt es, nicht nur – wie ehedem – Pflanzensorten als Ganzes, sondern nun auch einzelne Gene unter den Schutz geistiger Eigentumsrechte zu stellen und auf dieser Grundlage sehr viel um­ fassender zu verwerten, als dies im fordistischen Regime der Nachkriegszeit möglich war.

2. Technologie: Pflanzen als Chemielabor – die Fortsetzung der chemischen Industrie mit anderen Mitteln Wenn man Presseberichten und populären Erläuterungen folgt, erlaubt es die Grüne Gentechnik anders als die konventionelle Züchtung, »Gene gezielt in neue Pflanzen einzubringen«24. Dieser Satz mag vielleicht für mittlerweile gut charakterisierte Mikroorganismen wie Escherichia coli, dem beliebtesten Labororganismus der Gentechnik, halbwegs stimmen, für vielzellige Organismen, etwa landwirtschaftlich relevante Kulturpflanzen wie Reis oder Weizen, ist er von der Realität, also der Anwendung auf dem Acker, weit entfernt. Der praktische Einsatz der Grünen Gentechnik beschränkt sich derzeit im Wesentlichen auf zwei transgene Eigenschaften, die Herbizidresistenz und die Insektenresistenz, die mit 85 % und 39 % den gegenwärtigen Anbau transgener 22 Susann Scotchmer, The Political Economy of Intellectual Property Treaties, in: NBER Working Paper Nr. 9114, Cambridge MA 2003. 23 Sheila Slaughter, Gary Rhoades, Academic Capitalism and the New Economy. Markets, State, and Higher Education. Baltimore 2004. 24 Z. B. http://de.wikipedia.org/wiki/Gentechnisch_veränderter_Organismus. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Pflanzen fast vollständig ausmachen.25 Diese beiden Eigenschaften stammen im Wesentlichen von übertragenen Genabschnitten aus Mikroorganismen, wie zum Beispiel Bakterien. Bakterien sind Einzeller, sie haben kleinere Genome als Pflanzen, einen schnellen Generationswechsel und einfache Kultivierungsbedingungen  – deswegen sind sie relativ leicht im Labor zu handhaben. Pioniere der Grünen Gentechnik wie Jeff Shell und Marc von Montagu kamen in erster Linie aus der Mikrobiologie und übertrugen von dort ihre Konzepte auf Pflanzen. Insofern war die Grüne Gentechnik in ihrer Gründungsphase nicht die Idee von Pflanzenphysiologen und Pflanzenökologen. Disziplinen, die sich mit den stofflichen und funktionalen Wechselwirkungen dieser höheren Organismen befassen, waren also zunächst nicht beteiligt.26 Entscheidend für unsere Betrachtung ist der Punkt, dass biochemisch relativ einfache Wirkmechanismen übertragen werden. Nehmen wir als Beispiel die Insektenresistenz:27 Man identifizierte im Bakterium Bacillus thuringiensis das Toxin, das den Verdauungsapparat von pflanzenfressenden Insekten auflöst, und übertrug das zugehörige Gen auf wichtige Nutzpflanzen. Der von den Pflanzen produzierte Stoff – das sogenannte Bt-toxin – zeichnet sich in allgemeiner Hinsicht durch zwei Eigenschaften aus: Es kommt erstens in Pflanzen natürlicherweise nicht vor, es ist insoweit auch nicht in die natürliche Regulation der Pflanze involviert. Bt-toxin wirkt zweitens durch Abwehr und Zerstörung von Antagonismen der Nutzpflanze (hier: das Insekt). In die sonstigen Stoffwechselbedingungen der Pflanze greift es nicht ein. Insofern ist die Wirkung linear und nicht komplex; das heißt, der transgene, von außen vermittelte Stoff hat nur eine Wirkung und er soll nach Möglichkeit auch nur diese eine Wirkung entfalten. Deshalb wollen wir im linearen Fall von Chemie, im komplexen Fall von Biologie reden, wohl wissend, dass natürlich alles Leben immer auch auf Chemie beruht. Allerdings ist die Chemie als Wissenschaft auf die Isolation und Beeinflussung von vergleichsweise wenig komplexen, gleichsam mechanischen Wirkungen ausgerichtet ist, während die Biologie mit einem erheblichen Komplexitätssprung konfrontiert ist, der – systemtheoretisch gesprochen – aus der Emergenz und evolutionären Selbstorganisation des Lebendigen resultiert.28 25 Genauer: 63 % Herbizidresistenz, 17 % Insektenresistenz, 22 % beide Eigenschaften, 1 % andere Eigenschaften wie Virusresistenz, vgl. Clive James, Global Status of C ­ ommercialized Biotech/GM Crops, in: ISAAA Brief No. 42, 2010. 26 Thomas Wieland, Von springenden Genen und lachsroten Petunien. Epistemische, soziale und politische Dimensionen der gentechnischen Transformation der Pflanzenzüchtung, in: Technikgeschichte, 78(3), 2011, 255–278. 27 Jeroen Van Rie, Stefan Jansens, Midgut, Transgenic Crops Expressing Bacillus Thurin­ giensis Cry Proteins, in: Wolfgang Krämer u. a. (Hrsg.), Modern Crop Protection Compounds, Vol III, Insectizides. Weinheim 2012, 1029–1050. 28 Einen guten Überblick über die erkenntnistheoretische Diskussion zur Emergenz gibt der Sammelband von Ulrich Krohs und Georg Toepfer »Philosophie der Biologie«, Frankfurt: Suhrkamp 2005. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Aufgrund dieser Komplexität war es der Biologie  – im Unterschied zur Physik und Chemie  – auch lange nicht möglich, »synthetisch« zu werden, das heißt, spezifisch in biologische Systeme einzugreifen.29 In diesem Sinne ist die Grüne Gentechnik allerdings bis heute nicht synthetisch geworden, weil sie sich bisher darauf beschränkt, Pflanzen in Chemiefabriken umzuwandeln, indem diese nun selbst die Pestizide und chemischen Stützmittel produzieren, die ihnen bis dato von außen zugeführt wurden. Erst in jüngerer Zeit werden pflanzeneigene Hormone, wie etwa die Abscisin-Säure30, untersucht, die zell­übergreifend mehrfache und untereinander rückgekoppelte, also komplexe Wirkungen und Funktionen besitzen. Diese Forschungen, wie sie etwa auch im­ FORPLANTA-Verbund vorgenommen werden, sind von der praktischen Anwendung aber noch sehr weit entfernt. Auch die Agrokonzerne selbst sind sich der Begrenzungen der bisherigen gentechnischen Methoden bewusst, wie zum Beispiel aus einer Patentschrift von Monsanto aus dem Jahr 2002 hervorgeht: »Nonetheless, the frequency of success of enhancing the transgenic plant is low due to a number of factors including the low predictability of the effects of  a specific gene on the plant’s growth, development and environmental response, the low frequency of […] transformation, the lack of highly predictable control of the gene once introduced into the genome, and other undesirable effects of the transformation event and tissue culture process.«31 Die (vermeintliche)  Pflanzenbiotechnologie beruht somit bis heute auf der Fortsetzung des chemischen Paradigmas mit nur leicht veränderten Mitteln. Dies verwundert nicht, ist sie doch nicht nur epistemologisch, sondern auch organisatorisch aus der Chemischen Industrie hervorgegangen, da die industrielle Pflanzenforschung mit Personal, Forschungsmethoden und Forschungsorganisation unmittelbar an die Arzneimittelforschung und die chemische Forschung anknüpft. Hier wie dort geht es darum, einzelne Stoffe zu finden, die eine diskrete und überschaubare Wirkung entfalten, an die die Pestizidforschung dann weiter ansetzen kann.32 Da man die Biologie in ihrer ganzen Komplexität nicht versteht, basiert die Forschungsmethode in allen drei Forschungsrichtungen hauptsächlich auf blindem Zufall, den man durch zunehmend stärker auto 29 Ernst-Ludwig Winnacker, Biologen als Designer: Der achte Tag der Schöpfung, in: Bild der Wissenschaft 24/2, 1987, 38–48. 30 Agepati S.  Raghavendra, Vijay K. Gonugunta, Alexander Christmann, Erwin Grill, ABA perception and signaling, in: Trends in Plant Science 15/7, 2012, 395–401. 31 Patent Nr. WO2004053055 A2, zu finden unter: http://www.google.it/patents/WO200 4053055A2?cl=en (zuletzt aufgerufen am 14.11.2013). 32 Frank Den Hond, On the Structuring of Variation in Innovation Processes: A Case of New Product Development in the Crop Protection Industry, in: Research Policy 27, 1998, 349–367; Surya Mahdi, Search strategy in product innovation process: theory and evidence from the evolution of agrochemical lead discovery process, in: Industrial and Corporate Change 12, 2003, 235–270. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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matisiertes Massenscreening und durch computerisierte Auswertung der entsprechenden Datenfluten zu bewältigen versucht  – man sucht also nach den erwünschten Wirkungen, indem man Tausende von Versuchen macht und Millionen von Proben auswertet.33 Wenn man eine erwünschte Wirkung entdeckt, wird sie entsprechend als »event« bezeichnet. Industrieforschung ist hier, wie andere Industriearbeit auch, nach dem Vorbild des Taylorismus34 hochgradig arbeitsteilig organisiert und automatisiert. Entsprechend bilden sich auch Skaleneffekte aus: Da die Fixkosten für Apparate, Installationen und Personal sehr hoch sind, werden die einzelnen Experimente mit zunehmender Zahl entsprechend im Durchschnitt immer billiger.35 Zur Folge hat dies allerdings einen ausgeprägten Strukturkonservativismus, der in der Industrieökonomik auch als Pfadabhängigkeit bezeichnet wird, da nun alle Forschungsfragen über die einmal etablierten und teuer investierten Leisten geschlagen werden. Nicht nur die Forschung, auch die Regulierung der Grünen Gentechnik erfolgt nach einem ähnlichen Muster wie bei Arzneimitteln und Pestiziden und teilweise durch dieselben staatlichen Behörden. Doch nicht nur die Regulierung von Nebenfolgen, auch die Rechte des Geistigen Eigentums sind den Strukturen der Stoffchemie gefolgt. Die Kontrollrechte in der Saatgutbranche wurden entsprechend an die Interessen der Chemischen Industrie angepasst, jedenfalls überall dort, wo die Grüne Gentechnik Einzug gehalten hat. In der Saatgutbranche galt und gilt nämlich zunächst das Sortenschutzrecht. Es vermittelt dem Anmelder einer Sorte zwar das exklusive Vermarktungsrecht für diese Sorte, aber nur ein beschränktes Eigentumsrecht, weil ein anderer Züchter diese Sorte im Rahmen seiner Züchtung vorbehaltlos weiter verwenden darf. Insofern trägt das Sortenschutzrecht der Situation Rechnung, dass eine Pflanze eine Vielzahl von Genen enthält (ca. 20.000 bis 60.000), die aus der Natur stammen und von vielen Generationen von Bauern und Züchtern weiter tradiert worden sind und insofern ein Kollektiverbe der Menschheit darstellen. Die Sorte wird dabei als ein systemisches Zusammenspiel dieser Gene aufgefasst, der Züchter der angemeldeten Sorte er-

33 Manju Gupta, Raghav Ram, Development of Genetically Modified Agronomic Crops, in: The GMO Handbook 2004, 219–242. 34 Der Begriff des »Scientific Management«, im Deutschen meistens als »Taylorismus« bezeichnet, geht auf Winston Taylor zurück, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA als Industriemanager arbeitete und vorschlug, Arbeitsprozesse möglichst weitgehend zu zerlegen und möglichst detailliert zu beschreiben, so dass sie auch von ungelernten und weniger intelligenten Arbeitskräften ausgeführt werden können. Die Kontrolle des Arbeitsprozesses sollte ganz auf das Management übergehen. Die Taylorisierung der Arbeit wurde dann oftmals zur Grundlage von Automatisierung: Die einfachen und repetitiven Arbeitsschritte können dann oft von Maschinen übernommen werden. 35 Paul Nightingale, Economies of Scale in Experimentation: Knowledge and Technology in Pharmaceutical R&D, in: Industrial and Corporate Change 9/2, 2000, 315–359. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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hält die exklusive Lizenz für dieses Zusammenspiel, aber nicht für die einzelnen Gene.36 Die Patentierung von Genen, so wie sie seit den 1980er Jahren möglich geworden ist, erlaubt es nun der Chemischen Industrie, die von ihr gefundenen »events«, ähnlich wie die Wirkstoffe von Arzneimitteln und Pestiziden, durch Patente zu schützen. Das Patent ist stärker als der Sortenschutz, weil es sich auf alle Sorten erstreckt, in die das betreffende Transgen eingekreuzt wird. Es handelt sich insofern um ein atomistisches Recht, das unabhängig vom sonstigen genetischen Kontext fortbesteht. Durch diese Patente gewinnt die Chemische Industrie die Kontrolle über die Saatgutbranche, die in den letzten drei Jahrzehnten von einem enormen Konzentrationsprozess gekennzeichnet ist.37 Dabei haben die Chemiekonzerne die vormals mittelständischen Saatgutzüchter aufgekauft und nicht umgekehrt. Auf der Ebene der Rechte des Geistigen Eigentums bedeutet das: Ein Transgen wird über viele Tausend andere Gene gestellt, starke Privatrechte der Patentierung obsiegen über abgestufte Kollektivrechte des Sortenschutzes. Auch hier hat sich also das chemische Paradigma durchgesetzt: Die epistemologische Vorherrschaft des chemischen Atomismus über den biologischen Holismus wird also auch auf die sozio-ökonomischen Kontrollrechte in der Saatgutbranche ausgedehnt.

3. Ökonomie: Der Zwang zur Homogenisierung und Vereinheitlichung im agro-industriellen Komplex Die Dominanz des chemischen Paradigmas mit seiner Option, einzelne Gene zu patentieren, schwächt also Kollektivrechte und stärkt industrielle Verwertungsinteressen – oder wie ein von uns interviewter Experte aus der chemischen Industrie formulierte: »Uns liegt natürlich am Herzen, primär ein Produkt zu entwickeln und dieses dann mit Patenten zu schützen, damit wir auch einen return on invest haben.«38 Tatsächlich erfordert die Entwicklung gentechnisch veränderter Pflanzen einen immensen zeitlichen und finanziellen Aufwand. So zeigen Analysen des Agrarökonomen Goure, seinerzeit Manager bei Monsanto, dass von jeweils 250 untersuchten Genen oder Pflanzeneigenschaften (sogenannten »traits« wie Herbizidtoleranz oder Insektenresistenz) schätzungsweise nur ein einziges interessantes Gen bzw. »trait« die Entwicklungs-Pipeline kommerziell erfolg 36 Enrico E. Bertacchini, Coase, Pigou and the potato: Whither farmers’ rights?, in: Ecological Economics 68/1–2, 2008, 183–193. 37 Piet Schenkelaars, Huib de Vriend, Nicholas Kalaizandonakes, Drivers of Consolidation in the Seed Industry and its Consequences for Innovation. COGEM 2011. 38 Interview Nr. 22. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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reich durchlaufen werde.39 Zudem beliefen sich die Kosten für die Entwicklung und Markteinführung transgener Kulturarten auf 50–300 Mio. US-Dollar, wobei mit einem Investitionszeitraum von etwa 6–12 Jahren zu rechnen sei. Damit sich diese Investitionskosten später auch amortisierten, müsse – nach Berechnungen des Autors – der Verkaufswert einer neuen transgenen Kulturart typischerweise 500 Mio. US-Dollar pro Jahr übersteigen und für den Technologieproduzenten dabei einen Preisaufschlag (gegenüber nicht-transgenen Kulturen) von 175–200 Mio. US-Dollar generieren. Dies könne aber nur dann realisiert werden, wenn die neuen transgenen Eigenschaften einen echten Mehrwert, wie Kosteneinsparungen oder höhere Erträge für die Landwirte, besäßen und als Absatzmärkte auch entsprechend große Anbauflächen bereit stünden. Höchste Wertschöpfungspotenziale (für Entwickler wie für Landwirte) seien künftig für einige neue Eigenschaften zu erwarten, beispielsweise für Pathogenresistenz, Ertragssteigerung oder Trockentoleranz. Diese Einschätzungen decken sich auch weitgehend mit Prognosen des EU-Instituts für Technolo­gische Zukunftsforschung, von BASF Plant Science und Context Network Database.40 So geht der deutsche Chemiekonzern BASF, der seit 2012 in den USA zusammen mit Monsanto schrittweise den weltweit ersten trockentoleranten Mais einführt, davon aus, dass die erfolgreiche Entwicklung eines einzigen Transgens rund 70–100 Mio. US-Dollar kosten wird. Noch nicht eingerechnet sind hierbei die Ausgaben für die in den USA vorgeschriebene aufwändige Umweltverträglichkeitsprüfung durch die staatliche Zulassungsbehörde.41 An der Entwicklung neuer Eigenschaften werden sich auch aufgrund des dafür notwendigen Zugangs zum technologischen Know-how sowie zu Patenten nur wenige multinationale Konzerne beteiligen können. Beispielsweise waren für die Entwicklung des »Goldenen Reis« Lizenzen für 70 Patente nötig, die schätzungsweise 30 verschiedenen Rechtspersönlichkeiten – größtenteils Konzernen – gehören.42 Mit Blick auf die Patente ist insgesamt festzustellen, dass

39 William F. Goure, Value Creation and Value Capture with Transgenic Plants, in: The GMO Handbook 2004, 263–296. 40 Alexander J. Stein, Emilio Rodríguez-Cerezo, International Trade and the Global Pipeline of New GM Crops, in: Nature Biotechnology 28/1, 2010, 23–25; Stefan Marcinowski, Grüne Gentechnik in der Praxis – eine Erfolgsgeschichte mit Potenzial, in: Bayer. Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Pflanzenzucht und Gentechnik in einer Welt mit Hungersnot und knappen Ressourcen. München 2012, 129–136; Context Network Database (www. contextnet.com), zit. n. Marcinowski, Grüne Gentechnik, 132. 41 BASF Kompakt, Zukunft gestalten, 2007, URL: http://www.basf.com/group/corporate/ de_DE/function/conversions:/publish/content/investor-relations/annual-meeting/2008/ images/BASF_Inbrief_2007.pdf (zuletzt aufgerufen am 5.8.2013); Marcinowski, Grüne Gentechnik, 133. 42 Goure, Value Creation, 290. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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sich drei von vier Patenten der US-Agro-Biotechnologie in Händen von wenigen multinationalen Konzernen befinden.43 Unter solchen Bedingungen werden selbst diese großen Konzerne nur Projekte mit großem Potenzial starten, d. h. sie werden sich auf wirtschaftlich attrak­tive Futterpflanzen und Getreide konzentrieren. Oder mit den Worten eines von uns befragten Experten: »Wenn ich sage, der Entwicklungsaufwand für diese Eigenschaften ist hoch, und dann kommen noch hohe Zulassungsvoraussetzungen dazu, dann wird das natürlich für so Nischen-Crops schwieriger, mit den Standardkulturen wie Mais, Weizen, Soja oder Reis mitzuhalten. Und ob Maniok und irgendetwas Lokales dann noch auf dieser Liste auftaucht, würde ich infrage stellen. Also, ich könnte mir schon vorstellen, dass große Kulturarten eine größere Bedeutung gewinnen, weil der Züchtungsfortschritt in den großen Kulturarten durch die großen Unternehmen mit den mehr Möglichkeiten größer ist. Ich weiß jetzt nicht, ob das politisch korrekt ist im Haus, aber ich sage das mal so.«44 Es ist folglich davon auszugehen, dass Konzerne ihre Forschungsanstrengungen auf die im Industriejargon so genannten »blockbuster crops« mit ökonomisch vielversprechenden Eigenschaften wie Dürretoleranz oder einzelne Pathogenresistenzen konzentrieren werden.45 Deren Einsatz ist in aller Regel aber nur unter den homogenen Bedingungen industrieller Landwirtschaft möglich, also unter den ökonomischen Kalkulationsbedingungen von Großbetrieben in Gunstlagen. Damit wird eine großflächige Landwirtschaft immer weiter befördert, die aufgrund chemischer und mechanischer Stützleistungen auf natürliche und lokale Regelungsmechanismen keine Rücksicht nehmen muss. Demgegenüber werden die Konzerne Sorten, die nur an ungünstigen Lagen wachsen, sowie Kulturpflanzen, die nur für Entwicklungsländer bedeutsam sind, vernachlässigen. Kooperationen, wie diejenige von Monsanto mit der African Agricultural Technology Foundation aus dem Jahr 2008, sind die Ausnahme: Mit Unterstützung der Bill und Melinda Gates Stiftung ist geplant, unmittelbar nach der kommerziellen Einführung trockentoleranter Maissorten in den USA die dabei entwickelten Technologien so schnell wie möglich auch Kleinbauern in Sub-Sahara-Afrika zugänglich zu machen.46 Sieht man allerdings davon ab, dass es die avisierten Produkte bis heute noch nirgends gibt, so merken Kritiker an, dass solche Kooperationen wohl eher das ramponierte Image der Konzerne aufpolieren und ihnen im Erfolgsfall neue Märkte in den 43 Gregory D. Graff, Gordon C. Rausser, Arthur A. Small, Agricultural Biotechnology’s Complementary Intellectual Assets, in: The Review of Economics and Statistics 85/2, 2003, 349–363. 44 Interview Nr. 25. 45 Natasha Gilbert, Food: Inside the Hothouses of Industry, in: Nature 466, 2010, ­548–551. 46 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Entwicklungsländern erschließen sollen.47 So stellt sich also die Frage, unter welchen Bedingungen die technologische wie ökonomische »Systemgefangenschaft« der Grünen Gentechnik im agro-industriellen Komplex aufgebrochen werden und gleichzeitig die Biotechnologie bei kleineren und ärmeren Bauern und im Rahmen einer multifunktionalen Landwirtschaft Nutzen stiften kann.

4. Holistische und kontextsensible Wissenskultur: Pflanzenkunde unter heterogenen geografischen und sozialen Bedingungen Bisher war also die Grüne Gentechnik auf agro-industrielle Anbaubedingungen angewiesen und sie treibt ihrerseits, durch die ihr inhärenten technologischen und ökonomischen Zwänge, die Verengung des Kulturartenspektrums, den Konzentrationsprozess in der Saatgutbranche sowie die Ausweitung der Betriebsgröße bei landwirtschaftlichen Betrieben weiter voran. Nun gibt es drei Gründe, warum die weitere Ausdehnung des agro-industriellen Komplexes absehbar an ihre Grenzen stoßen wird:48 (1) Von den ökologischen Grenzen war oben schon die Rede, sie wurden in der Öffentlichkeit auch bereits breit thematisiert. Mit steigenden Energiepreisen entstehen weitere Probleme für eine Landwirtschaft, die für den Betrieb ihres Geräteparks, für die Herstellung von Kunstdünger und Pestiziden per Saldo mehr fossile Energie verzehrt, als sie solare Energie in den Wirtschaftskreislauf einspeist.49 (2) Geografische Hindernisse resultieren aus landschaftlichen Gegebenheiten  – die industrielle Landwirtschaft kann nur auf ebenen Flächen betrieben werden, die den Einsatz von großen Landmaschinen erlauben und die ausreichend bewässert werden können. Große Landmaschinen sind nur in landwirtschaftlichen Großbetrieben rentabel, auf deren agronomische Bedürfnisse dann auch die Saatgutzüchtung, Pestizidforschung und Düngemittelherstellung ausgerichtet wird. Da die Anzahl dieser Gunstlagen jedoch beschränkt ist, wird man bei steigender Nahrungsnachfrage in Zukunft auch in Ungunstlagen (wieder) Landwirtschaft betreiben müssen. (3) Bedeutsam sind auch die sozialen Widersprüche, vor allem in den Entwicklungsländern: 60 % der Weltbevölkerung sind Kleinbauern. Wollte man ihre Betriebe nach dem Vorbild des agro-industriellen Komplexes rationalisieren, würden ihre Kleinbetriebe zu wenigen Großbetrieben zusammengeschlossen. Damit würden viele Bauern arbeitslos und würden in die Städte abwandern. Hier würden sie aber keine Arbeit finden, weil in vielen Län 47 Ebd. 48 Vgl. IAASTD, Agriculture. 49 Peter S. Sieferle, Fridolin Krausmann, Heinz Schandl, Verena Viniwarter, Das Ende der Fläche. Zum gesellschaftlichen Stoffwechsel der Industrialisierung. Weimar 2006. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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dern der Zweiten und Dritten Welt der wirtschaftliche Entwicklungsprozess im Industrie- und Dienstleistungssektor weitgehend blockiert ist50 oder seinerseits – wie zum Beispiel in China – an ökologische Grenzen stößt. Aber auch in den hoch entwickelten Ländern des Westens macht die weitere Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft keinen Sinn mehr. Bereits heute sind durch die starke Industrialisierung der Landwirtschaft Dörfer verwaist und das Landleben kulturell verödet.51 Deswegen muss eine Agrarwissenschaft, die tatsächlich den Hunger in der Welt und die absehbare Zuspitzung der Nahrungsmittelknappheit bekämpfen will, an den gegebenen sozialen und geografischen Bedingungen ansetzen und ihre Heterogenität berücksichtigen. Das bedeutet, dass man nicht mehr wie bisher den Acker und die gesamte Lebensmittelindustrie aufwändig nach dem Vorbild und den Maßgaben chemischer Industrialisierung umzugestalten versucht,52 sondern die Anbaubedingungen im Rahmen der Gegebenheiten zu verbessern anstrebt. Dass das möglich ist, zeigt beispielhaft die Intensivierung des Reisanbaus, wie sie in Madagaskar von Henri de Laulanié seit den 1980er Jahren entwickelt und seitdem vor allem von NGOs und engagierten Wissenschaftlern in aller Welt verbreitet wurde. Dabei werden jüngere Schösslinge verwendet, die in größerem Abstand gesetzt werden und weniger als üblich mit Wasser geflutet werden – dadurch können sich die Pflanzen und ihre Wurzeln kräftiger entwickeln, sie sind widerstandsfähiger gegen Sturm und Starkregen und bilden größere Ähren aus. Je nach Kontextbedingungen wird von Ertragssteigerungen von 50 bis 100 % berichtet, oft bei gleichzeitiger Einsparung von Pestiziden, Düngemitteln und Wasser sowie einer Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen wie Methan und Lachgas.53 Im Gegenzug scheint aber hierfür mehr Arbeitseinsatz als bei der konventionellen Anbaumethode erforderlich zu sein, vor allem für die Ausbringung von organischem Dünger und für die mechanische Unkrautkontrolle.54 Von Kritikern werden Vorteile hauptsächlich nur auf ertragsschwachen Böden und für ärmere Kleinbauern gesehen,55 teil-

50 Beispielhaft für Afrika: Theo Rauch, Fundamentals of African Agriculture, in: Quarterly Journal of International Agriculture 50/01, 2011, 9–27. 51 Morgan, Marsden, Murdoch, World. 52 Bruno Latour, The pasteurization of France. Cambridge MA 1988. 53 Sudeep Karki, System of Rice Intensification: An analysis of adoption and potential environmental benefits, Master’s thesis, Norwegian University of Life Sciences, 2010. http://brage.bibsys.no/umb/handle/URN:NBN:no-bibsys_brage_16091 (zuletzt aufgerufen am 7.8.2013). 54 Regassa E. Namara, Parakrama Weligamage, Randolph Barker, Prospects for Adopting System of Rice Intensification in Sri Lanka: A Socioeconomic Assessment. Research Report No. 75 from the International Water Management Institute, Colombo, Sri Lanka, 2003. 55 Achim Doberman, A Critical Assessment of the System of Rice Intensification (SRI), in: Agricultural Systems 79, 2004, 261–281. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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weise werden die Erfolge von der etablierten Agrarwissenschaft auch rundweg bestritten.56 Doch auch die Ertragssteigerungen durch die Grüne Gentechnik werden kontrovers diskutiert.57 Auf der Grundlage wechselhafter und widersprüchlicher Zahlen zeichnet sich für hochtechnologisierte wie für eher handwerkliche Anbaumethoden  – für die Grüne Gentechnik wie für die Reisintensivierung nach der Methode von Henri de Laulanié  – eine fundamentale Wahrheit ab: Es kommt auf den geografischen und sozialen Kontext an. Man muss sich von der Idee verabschieden, dass es eine einzige technologische Lösung geben kann (»the one best way«), die überall auf der Welt in gleicher Weise funktionieren wird. Stattdessen sollte man versuchen, die jeweils besten Passungsverhältnisse im Zusammenspiel von Saatgut, Kultivierungsmethode, geografischen Anbaubedingungen und sozialen Verhältnissen zu ermitteln. In diesem Sinne hat der Weltagrarrat, der von verschiedenen Organisationen der UNO – FAO, UNESCO, UNEP – sowie der Weltbank initiiert wurde, von 2002 bis 2008 einen wissenschaftlichen Bericht erarbeitet, wie die Welt auch im Jahr 2050 noch zu ernähren sein wird, ohne die biologische Vielfalt zu zerstören. An dem Bericht mit dem Titel »Agriculture at a Crossroads«58 haben neben UN-Organisationen 60 Regierungen und mehr als 400 Wissenschaftler aus aller Welt mitgearbeitet. Der Bericht ruft dazu auf, die Landwirtschaft grundsätzlich anders zu gestalten, um den Preisanstieg für Lebensmittel zu beenden und Hunger und negative Umweltfolgen zu minimieren. Die heute übliche industrielle Landwirtschaft braucht hohen Einsatz von Energie, Dünger und Pestiziden. Sie ist, dem Bericht zufolge, nicht mehr zeitgemäß.59 Vielmehr sind kleinbäuerliche und ökologische Anbaumethoden nötig. Entsprechend geht es dann auch nicht um die Steigerung der Arbeitsproduktivität – dem zentralen Ziel der agroindustriellen Entwicklung –, sondern um die Förderung einer multifunktionalen Landwirtschaft, die im Wesentlichen die Steigerung der Flächenerträge, die Sicherung von Beschäftigung im ländlichen Raum sowie den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zum Ziel hat. Korrespondierend mit diesen Zielen müsste aber auch ein Umdenken in der Agrarwissenschaft stattfinden.60 Die Grüne Gentechnik als Spitzentechnolo 56 John E. Sheehy, Shaobing Peng, Achim Dobermann, P. L. Mitchell, Anaida B. Ferrer, Jianchang Yang, Yingbin Zou, Xuhua Zhong, Jianliang Huang, Fantastic Yields in the System of Rice Intensification: Fact or Fallacy? in: Field Crops Research 88, 2004, 1–8. 57 Charles Benbrook, Economic and Environmental Impacts of First Generation Geneti­ cally Modified Crops: Lessons from the United States. 2002. www.iisd.org/pdf/2002/tkn_ gmo_imp_nov_02.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.7.2012). 58 IAASTD, Agriculture. 59 Anfangs waren an der Erstellung der Studie auch Vertreter der Chemischen Industrie beteiligt, die sich dann aber distanzierten, weil der Bericht die Grüne Gentechnik zwar nicht verdammte, aber sie auch nicht als Allheilmittel anpries. 60 Vanloqueren, Baret, Agricultural Research Systems. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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gie des agro-industriellen Komplexes konzentriert sich auf einige wenige Gene als »Magic Bullets«, mit dem alle Ernährungsprobleme der Welt, gleichsam wie mit einem Zentralschlüssel, zu lösen sein sollen. Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass eine Pflanze noch aus vielen tausend anderen Genen besteht und dass sie unter ganz verschiedenen geografischen und sozialen Kontextbedingungen kultiviert wird. Wenn man entsprechend das Gesamtensemble der Pflanzenkultur in den Blick nehmen will, ergeben sich ganz andere Bedingungen für die Organisation des landwirtschaftlichen Wissens: (1) Im Mittelpunkt steht der einzelne Bauer im Rahmen seiner ländlichen Gemeinschaft als Wissensträger und Manager des Pflanzenbaus (und der Tierhaltung). Dieser »ganzheitliche Landwirt« ist Experte für seinen Bereich, in den sich auch jede neue Technologie einfügen lassen muss, wenn sie sinnvoll wirken soll. Die ländliche Gemeinschaft ist Trägerin des tradierten Wissens über das Zusammenspiel von lokalen Faktoren wie Bodenbeschaffenheiten, Kulturarten, Klima, Bewässerung usw. Wo aber dieses Wissen beispielweise durch Bürgerkrieg, Vertreibung und Industrialisierung verloren gegangen ist, herrschen oft Hunger und Mangelernährung. Dort wo das handwerkliche Wissen jedoch erhalten geblieben oder neu entstanden ist, bringen traditionelle Gartenbau­ kulturen sehr hohe Flächenerträge hervor und sichern aufgrund ihrer hohen Arbeitsintensität Beschäftigung.61 (2) Ziel der Pflanzenzüchtung sollte nicht die abstrakte Ertragssteigerung sein, sondern die Ertragssteigerung in einem gegebenen oder sinnvoll anzu­ strebenden Kontext. 200 %ige Steigerungen des Flächenertrags im Rahmen der Grünen Revolution mögen magisch klingen, sind aber im Allgemeinen nur zu erzielen, wenn Kunstdünger, Bewässerung und Pestizide eingesetzt werden – also unter sehr aufwändigen und ausgesprochen künstlichen Bedingungen. Demgegenüber sollte die Pflanzenzüchtung der Zukunft stärker auf lokale Kontexte ausgerichtet werden. Entsprechend muss auch dem gegenwärtigen Konzentrations- und Zentralisierungsprozess entgegen gewirkt werden. Sortenzulassung und Sortenschutz sind entsprechend umzustrukturieren – denn in der Vergangenheit waren sie Instrumente zur Industrialisierung der Landwirtschaft.62 Transgene Pflanzen sollten nicht mehr patentiert werden dürfen, denn die langfristige Sicherung charakterisierter genetischer Ressourcen ist in der Hand von kleinen und mittelständischen Familienbetrieben sinnvoller aufgehoben als bei börsennotierten Chemiekonzernen mit kurzfristiger Profitorientierung.

61 Peter Rossett, The Multiple Functions and Benefits of Small Farm Agriculture in the Context of Global Trade Negotiations, in: Development 43/2, 2000, 77–82. 62 Jack R. Kloppenburg, First the Seed. The Political Economy of Plant Biotechnology. Cambridge 1988. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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(3) Einzelne chemische Stoffe und einzelne transgene Pflanzen lassen sich sehr gut kommerzialisieren, oder präziser ausgedrückt: kommodifizieren. Sie werden zentral abgepackt und vertrieben und sollen dann überall helfen, wo man sie anwendet. Das Wissen, zum Beispiel über Unkrautkontrolle, wandert dabei weitgehend in das kommodifizierte Gut. Im Falle eines Herbizids braucht der Anwender beispielsweise im Idealfall – bei Anbau einer Pflanze mit Herbizidresistenz kombiniert mit der Anwendung eines einigermaßen gesundheitsverträglichen Breitbandherbizids – fast nichts mehr zu wissen: Er kann das Herbizid einsetzen, wann immer und so viel er will, der Ertrag wird dadurch nicht beeinträchtigt. Geld ersetzt in diesem Szenario Wissen und Arbeit, die reichsten Bauern ernten nunmehr die dicksten Kartoffeln.63 Demgegenüber steht eine kontextorientierte, holistisch ausgerichtete Agrarwissenschaft, die auf Zusammenarbeit und Wissensverbreitung basiert. Beides wird durch kommerzielle Eigentumsrechte verhindert. Insofern muss hier die öffentliche Hand aktiv werden, um den Trend zur Privatisierung der Agrarforschung und Agrar­ beratung zurück zu drängen: Monsanto gibt jährlich 1,2 Milliarden US-Dollar für die Forschung an einigen wenigen transgenen Pflanzen aus, was mehr ist als das Budget der US-Bundesregierung für die gesamten Agrarwissenschaften zusammen.64

5. Fazit und Ausblick: Könnte die Gentechnik »bio« werden? Wir haben zu zeigen versucht, dass die Grüne Gentechnik in ihrer gegenwärtigen Form stark mit dem agro-industriellen Komplex verschränkt ist: Herbizidresistenzen sind in 85 % aller transgenen Pflanzen präsent – sie erlauben einen einfacheren Einsatz von Spritzmitteln, weil die (nunmehr transgenen) Nutzpflanzen selbst nun nicht mehr geschädigt werden. Insektenresistenzen mit einem Anteil von 39 % ermöglichen zwar den Verzicht auf Insektizide, durch die permanente Präsenz des Toxins in der Pflanze scheinen sich aber schon jetzt, nach wenigen Jahren ihres Einsatzes, Resistenzen gegen den Wirkstoff zu entwickeln, der damit auch für die ökologische Landwirtschaft unbrauchbar wird.65 Insektenresistente Baumwolle wird zwar bisher von Kleinbauern in China und Indien mit guten ökonomischen und ökologischen Ergebnissen genutzt, aber das ist bisher eher ein Nebenprodukt der industriell orientierten Entwicklung und wahrscheinlich angesichts der andernorts schon beobachteten Entwicklung von Resistenzen bei den Schadinsekten ein Segen, der eventuell 63 Uekötter, Wahrheit, 319 ff. 64 Gilbert, Hothouses, 548. 65 Aaron J. Gassmann, Jennifer L. Petzold-Maxwell, Ryan S. Keweshan, Mike W. Dunbar, Field-Evolved Resistance to Bt Maize by Western Corn Rootworm, in: PLoS ONE 6/7, 2011. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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nur von kurzer Dauer sein wird.66 Der lang angekündigte »Goldene Reis«, der mit Vitamin A angereichert ist, um Mangelkrankheiten vorzubeugen, ist bisher noch nicht zur Anwendung gekommen – seine universitär situierten »Väter« hatten die Schwierigkeiten der Entwicklung zur Praxisreife unterschätzt, für die sie nun die angeblich so strengen Zulassungsbedingungen verantwortlich machen.67 Zentral gibt es drei Ursachen für diese Ausrichtung der Grünen Gentechnik auf die Agroindustrie: Zum ersten sind die biologischen Zusammenhänge noch wenig verstanden, so dass die erwünschten Wirkungen noch nicht gezielt angesteuert werden können. Ergebnisse verdanken sich einem eher blinden Empirismus des Massenscreenings, wie es von den industrialisierten Forschungsapparaten der Chemischen Industrie durchgeführt wird. Zum zweiten ist die Entwicklung ausgesprochen teuer und beschränkt sich daher notwendigerweise auf wenige agronomische Ziele und auf eine beschränkte Anzahl an Pflanzenarten – sie leistet damit der ohnehin bestehenden Tendenz zur Monokultur weiteren Vorschub. Zum dritten ist es durch die Molekularisierung erstmals möglich geworden, einzelne Gene zu patentieren. Dadurch gewinnt die Chemische Industrie mit der Molekulargenetik ein Instrument, um weite Teile der Saatgutbranche zu kontrollieren. Kommerzialisierungs- und Konzentrationsprozesse, die mit der Hybridisierung von Saatgut schon früher angesetzt hatten, werden auf diese Weise deutlich ausgeweitet und verstärkt. Könnte die Grüne Gentechnik dennoch in Zukunft jenseits des agro-industriellen Komplexes Früchte tragen? Theoretisch ist das zu bejahen. Dazu müsste sie allerdings biologischer, billiger und im Modus des Open Access für jedermann verfügbar werden. Wie weit die Grüne Gentechnik noch von einem biologischen Verständnis entfernt ist, lässt sich nur erahnen. Gerade auch die Genomsequenzierung, von der man sich ursprünglich große Durchbrüche in technischer Hinsicht erhoffte, hat deutlich gemacht, wie komplex die Wechselwirkungen in der Zelle tatsächlich sind und wie vermessen die großartigen Versprechungen waren, die man in den 1980er und 1990er Jahren auf der Grundlage des »Zentralen Dogmas der Molekularbiologie« gemacht hat.68 Auch die 66 Ronald J. Herring, Stealth Seeds: Bioproperty, Biosafety, Biopolitics, in: Journal of Develop­ment Studies 43/1, 2007, 130–157. 67 Hier handelt es sich um ein für Entwicklungsländer wenig plausibles Argument: In Indien wurde die oben erwähnte transgene Baumwolle angebaut, noch ehe sie von der indischen Sicherheitsbehörde frei gegeben wurde. Sämtliche diesbezüglichen Anordnungen der Zentralregierung wurden von den betroffenen Provinzregierungen ignoriert; das Saatgut wurde und wird auf dem Schwarzmarkt weitergegeben (Herring, Stealth Seeds). Wenn der »Goldene Reis« in den Reisanbauländern wirklich als hilfreich angesehen würde, hätte man westlich inspirierte Sicherheitsauflagen längst missachtet. 68 Bernhard Gill, Visionen und Dämonen der Biotechnologie, in: Christian Kehrt, Peter Schüßler, Marc-Denis Weitze (Hrsg.), Neue Technologien in der Gesellschaft. Akteure, Erwartungen, Kontroversen und Konjunkturen. Bielefeld 2011, 217–229. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Rote Gentechnik – also die Anwendung biotechnologischer Methoden an Tieren und Menschen – ist längst nicht so weit vorangekommen, wie ursprünglich erhofft,69 auch wenn sie in der Öffentlichkeit auf eine positivere Resonanz stieß als die Grüne Gentechnik. Praktische Anwendungen der Grünen Gentechnik müssten sich in eine kontextsensible, das heißt kleinteilige, die gegebenen Umweltbedingungen und Sozialstrukturen respektierende Landwirtschaft einfügen lassen. Außerdem müsste sie sich dort in Konkurrenz zu anderen Methoden behaupten, die prinzipiell ebenfalls geeignet sind, den Flächenertrag beim Anbau von Nutz­pflanzen zu verbessern, aber bisher nicht so stark im Fokus der Forschungsförderung und der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Als Beispiel wären Präparate aus Mykorrhizae zu nennen. Das sind Pilze, die durch Symbiose mit den Wurzeln einer Pflanze dieser Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten, Hitze, Kälte, Salz und Trockenheit verleihen können. Die Protagonisten des Mykorrhizae-Einsatzes bei Nutzpflanzen sehen ihre jüngst entdeckte Methode als überlegen an: Um zum Beispiel eine Trockenheitstoleranz herbeizuführen, müsste die Gentechnik jeden dabei relevanten Stoffwechselpfad einzeln steuern – das sei teuer und langwierig. Die Mykorrhizapilze hingegen könnten diese Stoffwechselpfade alle auf einmal aktivieren, denn die hierfür zugrundliegende Symbiose zwischen Pilz und Pflanze sei in der Natur ko-evolutionär entstanden und könnte daher relativ leicht nutzbar gemacht werden.70 Der akademische Boom der Grünen Gentechnik resultierte  – jedenfalls in der Vergangenheit – nicht so sehr aus ihrer universalen technischen Überlegenheit, sondern mehr aus ihrer strukturellen Vereinbarkeit mit der industria­ lisierten Landwirtschaft, mit dem akademischen Kapitalismus und mit den Forschungsformen der chemischen Industrie. Die Finanzkrise, die Ökologische Krise und die Hungerkrise werden sehr wahrscheinlich die Hegemonie des Neoliberalismus brechen und neue Regulationsregimes schaffen, in denen die Grüne Gentechnik anderen Bedingungen der technologischen Evolution ausgesetzt ist: Ihr Überleben darin ist nicht unmöglich, aber sie wird sich wahrscheinlich mit kleinen Nischen – zum Beispiel mit ihrer Rolle bei der »marker­ assistierten Züchtung«71 – bescheiden müssen.

69 Michael M. Hopkins, Paul A. Martin, Paul Nightingale, Alison Kraft, Surya Mahdia, The Myth of the Biotech Revolution: An Assessment of Technological, Clinical and Organisational Change, in: Research Policy 36, 2007, 566–589. 70 Sara Reardon, Fungus-powered superplants may beat the heat, in: New Scientist 215/2875, 2012, 8–9. 71 Markerassistierte Züchtung bzw. »SMART breeding« ist ein Verfahren, bei dem die genetischen Eigenschaften der Kreuzungspartner mit gentechnischen Methoden vorab geprüft werden, aber keine transgenen Pflanzen entstehen. SMART steht für »Selection with Markers and Advanced Reproductive Technologies«. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Perfektes Match? Der Akademische Kapitalismus und die Privilegierung der molekularbiologischen Perspektive in der Pflanzenzüchtung*

1. Einleitung Die Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway beschäftigt sich in ihrem viel diskutierten Aufsatz: ›Situiertes Wissen‹ mit dem Objektivitätsanspruch der (Natur-) Wissenschaft und der daraus resultierenden Verantwortungslosigkeit gegenüber der Welt1. Haraway argumentiert, dass Objektivität, oder anders gesagt wissenschaftliche Erkenntnisse niemals neutral sind, sondern immer dem Ort ihrer Entstehung verpflichtet bleiben. Mit diesem Argument analysiert sie die wissenschaftliche Praxis als einen von gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen durchzogenen Prozess, darin äquivalent mit jeder anderen Form des sozialen Handelns. Dieser Zusammenhang wird für Haraway besonders im Hinblick auf Technologieentwicklung bedeutend. Für Haraway sind Technologien immer auch Visualisierungspraktiken und damit Ausdruck der diesen Techniken eingeschriebenen Machtverhältnisse,2 denn Technologien sind Antworten auf spezifische Problemstellungen und diese werden in einem durch die gesellschaftlichen Kräfte sowie durch die bereits existierenden Technologien vorstrukturierten Raum formuliert (oder es besteht eben keine Option für deren Artikulation). Die entwickelten Technologien entfalten dann ihrerseits eine Dynamik, die sich stabilisierend auf die Machtverhältnisse auswirkt. Die Perspektive Haraways ist jedoch keineswegs ablehnend gegenüber der Wissenschaft, im Gegenteil, Haraway betont das emanzipative Potential von Wissenschaft für unterprivilegierte Klassen und Gruppen, denn durch Wissenschaft wird es möglich, andere, al-



* Die Forschungsarbeiten zu diesem Artikel entstanden im Rahmen des Projekts FORPLANTA, welches vom Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und

Kunst gefördert wurde. 1 Donna Haraway, Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: Donna Haraway (Hrsg.), Die Neuerfindung der Natur. Frankfurt a. M. 1995, 73–97. 2 Ebd., 85. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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ternative Deutungsweisen der Welt zu etablieren. Sie plädiert dafür, dass in der wissenschaftlichen Praxis Standpunkte markiert werden und dass so (zumindest partiell) eine Demokratisierung von Technologieentwicklung ermöglicht wird. Durch die explizite Nennung des Standpunkts, aus dem heraus die Wissenschaftlerin3 die Welt (oder Teile dieser) betrachtet, wird Verantwortung in den Forschungsprozess integriert4, anstatt unter dem Siegel »wissenschaftlicher Neutralität« ausgeklammert zu werden. In meinem Beitrag will ich vor dem Hintergrund der theoretischen Argumentation Haraways herausarbeiten, in welchem gesellschaftlichen Kräfte­ verhältnis die Grüne Gentechnik entwickelt wurde, auf welche spezifischen Problemstellungen diese Technologie eine Antwort war und welche politischen und ökonomischen Akteure an der Entwicklung dieser Technologie Interesse hatten. Dabei werde ich auf verschiedenen Ebenen argumentieren. Dies ist zum einen die Ebene der Wissenschaft selbst. In meinem Fall ist dies vor allem die Disziplin der Biologie, welche durch die Erkenntnisse der Molekularbiologie grundlegenden Wandlungsprozessen unterworfen war. Dabei werde ich dar­legen, dass dieser Transformationsprozess keineswegs zwangsläufig aus der wissenschaftlichen Logik hervorging, sondern dass die zunehmende Dominanz der Molekularbiologie in den Lebenswissenschaften durch eine Wechsel­ wirkung mit dem politökonomischen Umfeld  – dem akademischen Kapitalismus  – begünstigt wurde. Des Weiteren muss die Etablierung der Grünen Gentechnik auch vor dem Kräfteverhältnis und der Dynamik innerhalb des landwirtschaftlichen Sektors verstanden werden.

2. Die Molekularisierung der Pflanzenzüchtung Die erste Perspektive, aus der ich die Etablierung der Grünen Gentechnik betrachten will, ist die epistemische Ebene – also die Prozesse und Erkenntnisse innerhalb der Wissenschaft selbst, welche die genetische Transformation von Pflanzen ermöglichen. Nun ist die Pflanzenzüchtung keine wissenschaftliche Disziplin an sich, sondern ein sehr anwendungsorientiertes Forschungsgebiet, das irgendwo zwischen den Disziplinen Biologie und Agrarwissenschaften angesiedelt ist. Welche disziplinäre Perspektive in der Pflanzenzüchtung dominant war, die stärker grundlagenorientierte Biologie oder die anwendungsnäheren Agrarwissenschaften, war innerhalb der Pflanzenzüchtung von Beginn an umkämpft.

3 Aus Gründen der Lesbarkeit verwende ich – jeweils wechselnd – nur eine Geschlechter­ bezeichnung. Es sind jedoch immer beide Geschlechter gemeint. 4 Ebd., 82. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Die aktuell als konventionelle Pflanzenzüchtung5 bezeichneten Techniken entwickelten sich mit dem beginnenden 20.  Jahrhundert. Die aufkommende Pflanzengenetik6 ermöglichte eine stärker wissensbasierte Pflanzenzüchtung7. Dabei bewegte sich die ›praktische‹ Pflanzenzüchtung, also die Züchtung von Nutzpflanzen für den landwirtschaftlichen Anbau, stets zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite stand die Überzeugung, dass es vorwiegend wissen­ schaftliche Erkenntnisse (vornehmlich aus dem Gebiet der Genetik) sind, die zu Züchtungserfolgen führen. Diese Position wurde meist von solchen Wissenschaftlerinnen bezogen, die selbst keinen landwirtschaftlichen Hintergrund hatten, sondern sich etwa mit Botanik beschäftigten. Anderseits waren einige Züchter – diese kamen vorwiegend aus den Agrarwissenschaften – der Überzeugung, dass der Erfolg der Pflanzenzüchtung vor allem auf handwerkliches Geschick und damit auf implizites Wissen, den so genannten Züchterblick, zurückzuführen sei.8 Zu Beginn der 1950er Jahre wurde durch eine ganze Reihe von bedeutenden wissenschaftlichen Erkenntnissen – wie die Entdeckung der doppelhelixförmigen Struktur der DNA oder die 1973 erstmals angewendete technische Möglichkeit, rekombinante DNA zu erzeugen – die Molekularbiologie zu einer Schlüsseldisziplin innerhalb der Biologie. Entsprechend gewannen auch innerhalb der Pflanzenzüchtung molekularbiologische Erkenntnisse und Methoden immer größere Bedeutung. Dies fand zunächst auf der Ebene der Grundlagenforschung statt. Um den Transfer von Erkenntnissen aus der Molekularbiologie in das Gebiet der Pflanzenzüchtung zu verdeutlichen, seien als Illustrationen die Karrieren der Biologen Jeff Schell und Marc van Montagu skizziert. Der Technikhistoriker Thomas Wieland argumentiert in seiner Studie über das Max Planck Institut (MPI) für Züchtungsforschung in Köln, dass besonders im Fall der Grünen Gentechnik durch die Untersuchung der Karrierewege einzelner Wissenschaftler, welche eng mit den Konjunkturen ihrer Forschungsfelder und Experimentalsysteme verknüpft sind, die Entwicklung technischer

5 Als konventionelle Züchtung bezeichne ich hier die klassischen Methoden der Pflanzenzüchtung, wie die Auslese- und Kombinationszüchtung. 6 Wegbereiter war hier vor allem die Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze um 1900 durch drei unabhängig voneinander forschende Botaniker. 7 Bis zu diesem Zeitpunkt war die Pflanzenzüchtung größtenteils in der Hand der Bäuerinnen. Diese wählten aus den in Gärten und Äckern angebauten Pflanzen diejenigen Pflanzen aus, welche die gewünschten Eigenschaften am stärksten ausgeprägt hatten, und brachten die Samen dieser Pflanzen wieder aus. Durch dieses Vorgehen entstanden im Laufe der Jahrhunderte viele unterschiedliche Landrassen, die durch das implizite und lokale Wissen der Bauern hervorgebracht wurden. 8 Hierzu ausführlich: Thomas Wieland, ›Wie beherrschen wir den pflanzlichen Organismus besser, …‹ Wissenschaftliche Pflanzenzüchtung in Deutschland 1889–1945. München 2004. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Pfade rekon­struiert werden kann.9 Es sei nachdrücklich darauf verwiesen, dass es Wissenschaftler aus anderen Disziplinen waren, welche Erkenntnisse aus der Molekularbiologie in die Pflanzenzüchtungsforschung einbrachten; so hatte Jeff Shell Zoologie studiert und Marc van Montagu war seiner Ausbildung nach Chemiker. Beide beschäftigten sich zunächst lange Jahre mit der Molekularbiologie von Bakterien, bis sie durch die Entdeckung des Ti-Plasmids10 den Schritt in die Pflanzenzüchtung vollzogen. Das natürlicherweise im Agrobakterium tumefaciens11 vorkommende Ti-Plasmid wird als Genvektor verwendet und ist die wichtigste Transformationsmethode,12 mit der transgene Pflanzen hergestellt werden können. Diese Schlüsselmethode13 der Grünen Gentechnik entwickelten Shell und Montagu in den frühen 1980er Jahren an der Universität

9 Thomas Wieland, Von springenden Genen und lachsroten Petunien. Epistemische, soziale und politische Dimensionen der gentechnischen Transformation der Pflanzenzüchtung, in: Technikgeschichte 78, 2011, 255–278. 10 Das Ti-Plasmid (Ti steht für tumor inducing) ist eine kleine zirkuläre DNA. Agro­ bakterien übertragen diese DNA in die Zelle ihrer Wirtspflanze, wo diese in das Pflanzengenom integriert wird. 11 Das Agrobakterium tumefaciens ist ein pflanzenpathogenes Bodenbakterium. 12 Transformationsmethoden sind Methoden, mit denen DNA in pflanzliche Zellen gebracht werden kann. Es gibt eine ganze Reihe von Transformationstechnologien; die wichtigsten außer Agrobakterium sind Biolistische Transformation und die Protoplastentransformation. 13 Für wie entscheidend die Transformationsmethode mit Agrobakterien von Unter­ nehmen gehalten wird, zeigt sich auch daran, dass zu dieser Technologie über 400 Patente existieren (Richard Jefferson, Science as Social Enterprise: The CAMBIA BiOS Initiative, in: Innovations 1, 2006, 13–44.) Juristisch wird hier von einem »Patentdickicht« gesprochen (Maximilian Haedicke, Innovationssteuerung durch Patente im Bereich der Biotechnologie, in: Otto Depenheuer (Hrsg.), Geistiges Eigentum: Schutzrecht oder Ausbeutungstitel? Zustand und Entwicklungen im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung. Berlin u. a. 2008, 111–120), also einer Situation, in der Firmen zu einem frühen Zeitpunkt sehr viele Patente anmelden, um später nicht von der Möglichkeit der weiteren Innovation ausgeschlossen zu sein. Die hohe Anmeldezahl von Patenten führt in der Folge dazu, dass für die Unternehmen hohe Transaktionskosten entstehen, z. B. im Zuge der oft langwierigen Verhandlungen mit anderen Firmen über die Nutzungslizenzen für einzelne Bausteine einer Technologie. Wie entscheidend diese Methode für die Möglichkeit der weiteren Innovation im Bereich der Pflanzenbiotechnologie war, zeigt das Beispiel Japans. Japanische Labors hatten aufgrund fehlender Rechte keinen Zugang zur Agrobakterium-Methode. Sie hatten zwar eine eigene Transformationstechnologie entwickelt, jedoch benötigten sie auch für diese Technologie bestimmte Promotoren und Markergene, auf die jedoch die Firma Monsanto Patente hielt. Diese war auch nach langwierigen Verhandlungen nicht bereit Lizenzierungen zur Verfü­ gung zu stellen. Dies führte neben anderen Gründen in der Folge dazu, dass Japan den Anschluss an die Innovation im Bereich Pflanzenbiotechnologie verlor (Carl Pray, Anwar Naseem, Intellectual Property Rights on Research Tools: Incentives or Barriers to Innovation? Case Studies of Rice Genomics and Plant Transformation Technologies, in: AgBioForum 8, 2005, 108–117). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Gent und dem MPI für Züchtungsforschung in Köln.14 Jeff Shell wurde während der Forschung am Ti-Plasmid 1978 zum Direktor des MPI für Züchtungsforschung in Köln berufen. Mit dieser Berufung vollzog sich nun auch institutionell die Einbindung der Molekularbiologie in die Züchtungsforschung. Das MPI hatte traditionell gute Beziehungen zu den deutschen Züchtungsunternehmen, allen voran zur traditionsreichen KWS Saat AG;15 diese verstärkten sich noch deutlich in den späten 1980er und 1990er Jahren, des Weiteren nimmt in dieser Zeit die Kooperation des MPI mit der chemischen Industrie (v. a. Bayer) ihren Anfang.16 Zwar bewegte sich die Pflanzenzüchtung immer zwischen den beiden Polen der Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen (v. a. aus dem Bereich der klassischen Genetik) auf der einen Seite und der handwerklichen Züchtung auf der anderen Seite. Damit bestand schon früh eine starke Verbindung zwischen Grundlagenforschung und Anwendung. Auch die reduktionistische oder atomistische Perspektive auf den pflanzlichen Organismus, im Gegensatz zu dem eher holistisch orientierten Prozess der handwerklichen Züchtung, hatte sich bereits in der klassischen Genetik angedeutet.17 Diese Entwicklungen radikalisierten sich jedoch mit dem Einzug molekularbiologischer Methoden in die Pflanzenzüchtung. Dies ist bemerkenswert, denn es waren Mikrobiologen, also Wissenschaftler, die an Bakterien forschten und deren Expertise weitab vom landwirtschaftlichen Kontext lag, welche den entscheidenden Innovationsimpuls in die Pflanzenzüchtung brachten.18 Durch die steigende Dominanz mikrobiologischer Methoden in der Pflanzenzüchtung mani­festierte sich die reduktionistische oder atomistische Perspektive auf den pflanzlichen Organismus. Mit den vorindustriellen Techniken der Pflanzenzüchtung wurde versucht, das Saatgut optimal an die regionalen Bedingungen wie Bodenbeschaffenheit, Klima oder Tageslängen anzupassen. Für dieses Vorgehen war eine holistische Perspektive auf den pflanzlichen Organismus unter Einbeziehung seiner Umwelt notwendig. Durch die Erkenntnisse der klassischen Genetik wurde ein Prozess angestoßen, in welchem die Pflanzenzüchtung zu ungeahnten Produkti 14 Paul Lurquin, The Green Phoenix. A History of Genetically Modified Plants. New York 2001. 15 Die KWS Saat AG ist das größte deutsche Saatgutunternehmen. Auch weltweit gehört die KWS zu den führenden Unternehmen. Gemessen am Nettoumsatz ist die KWS das fünftgrößte Unternehmen weltweit, mit einem Anteil von 2,2 % am globalen Saatguthandel. Die starke Stellung der KWS im globalen Saatguthandel bildete sich jedoch erst in den letzten Jahren heraus. Gehörte die KWS 1985 noch nicht einmal zu den 10 größten Saatgutkonzernen weltweit, war sie 1995 bereits das achtgrößte Saatgutunternehmen mit einem Anteil am Welthandel von 0,9 % (Piet Schenkelaars u. a., Drivers of Consolidation in the Seed Industry and its Consequences for Inovation, COGEM 2011). 16 Vgl. hierzu ausführlich Wieland, Von springenden Genen. 17 Ebd. 18 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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vitätssteigerungen in der landwirtschaftlichen Praxis beitrug. Paradigmatisch dafür steht die Entwicklung der so genannten Hochleistungssorten,19 mit denen der Ertrag in einigen Kulturarten bis über 200 % gesteigert werden konnte. Der Preis für diese enormen Ertragssteigerungen war jedoch denkbar hoch. Denn die neu entwickelten Sorten waren sehr viel anfälliger gegenüber Pathogenen oder anderen Stressfaktoren wie Trockenheit oder Kälte. Die fehlende Robustheit gegenüber Umwelteinflüssen, welche die neuen Pflanzen zeigten, musste in der Folge durch den Einsatz von zusätzlichen Inputfaktoren wie Düngemitteln, Herbiziden oder künstlicher Bewässerung ausgeglichen werden. War es in vorindustriellen Zeiten das vornehmliche Ziel der Pflanzen­züchtung, Pflanzen möglichst gut an die gegebenen Äcker und Kultivierungsbedingungen anzupassen, verkehrte sich dieses Ziel nun in sein Gegenteil. Nun galt es möglichst ertragreiche Pflanzen zu schaffen und dann die Felder und sonstigen Kontexte durch industrielle Inputfaktoren an diese Pflanzen zu adaptieren. In diesem Sinne veränderten sich die Anforderungen, die an die Pflanzenzüchtung in einem industriellen Kontext gestellt wurden. Die holistische Perspektive auf den pflanzlichen Organismus der handwerklichen Züchtung wurde durch die Verwissenschaftlichung der Züchtung zunehmend marginalisiert; diese Entwicklung radikalisierte sich mit dem Einzug der Molekularbiologie. Auch das »Match« zwischen industriell organisierten Unternehmen und der Pflanzenzüchtung konnte durch die Molekularisierung der Züchtung besser gestaltet werden. Durch die molekularbiologischen Methoden wurde es nicht nur möglich, transgene Pflanzen herzustellen, es wurde auch eine stärker auf ex­plizitem Wissen basierte Art der Züchtung hervorgebracht  – die markergestützte oder Präzisionszüchtung.20 Der Einsatz von molekularen Markern hatte auf den Züchtungsprozess folgenschwere Auswirkungen, denn der gesamte Prozess der Züchtung wurde nun deutlich komplexer. Sam Eathington 19 Hochleistungssorten oder Hochertragssorten sind Sorten, die von Züchtungs­betrieben über einen langen Zeitraum kontinuierlich weiterentwickelt wurden. Diese Sorten sind in der Regel besonders ertragreich, jedoch im Vergleich mit dem Wildtyp der Nutzpflanze nicht besonders widerstandsfähig. Die größten Ertragssteigerungen konnten mit sogenannten Hybrid­sorten erreicht werden. Hybridsorten sind Sorten, die durch die Kreuzung von zwei unterschiedlichen reinerbigen (homozygoten) Inzuchtlinien entstehen. Die erste Generation (F1) ist dann besonders ertragreich. Für alle folgenden Generationen (F2, F3, …) findet dann jedoch vielfach eine Aufspaltung der Merkmale statt. In einzelnen Fruchtarten wie beispielsweise Mais oder Reis liegt der Anteil an Hybridsorten bei über 80 %. 20 Diese Züchtungsverfahren werden auch Smart Breeding genannt. (SMART=Selection with Markers and Advanced Reproductive Technologies). Bei Smart Breeding Verfahren wird bei der Auswahl der Pflanzen auf Genmarker gesetzt. Mithilfe kurzer, künstlich hergestellter DNA-Schnipsel (Primer) kann die Pflanzenzüchterin schon in einem sehr frühen Stadium erkennen, ob im Genotyp einer Pflanze die gewünschte Genvariante vorhanden ist. Im Gegensatz zur traditionellen Züchtung sind Smart Breeding Verfahren daher sehr viel zeitsparender. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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u. a. zeigen in einer Studie über das Züchtungsprogramm von Monsanto, dass sich durch den Einsatz von molekularen Markern die Datenmenge im Züchtungsprozess um 700 % erhöhte,21 was in vielen Fällen zum Einsatz der Bioinformatik in der Pflanzenzüchtung führte. Die dramatische Erhöhung der Komplexität des Züchtungsprozesses hatte zum anderen auch zur Folge, dass der Züchtungsprozess innerhalb der Züchtungsbetriebe zunehmend arbeitsteiliger organisiert werden konnte. In der Konsequenz bedeutete dies für das Verhältnis von Forschung und Industrie, dass es durch die Explizierung des zur Pflanzenzüchtung nötigen Wissens gelang, den Züchtungsprozess besser an die Vorgaben von industriellen Kontexten (Arbeitsteilung, Spezialisierung, möglichst geringe Abhängigkeit von einzelnen Mitarbeitern) anzupassen.

3. Der Akademische Kapitalismus Die zweite analytische Ebene, auf der die Etablierung der Technologie der Grünen Gentechnik betrachtet werden kann, ist das institutionelle Gefüge, in welchem die Pflanzenzüchtungsforschung stattfindet; das sind zunächst v. a. Universitäten, staatliche Institutionen sowie die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der privaten Unternehmen; darüber hinaus sollten aber auch die institutionellen Verflechtungen beider Sphären untersucht werden. Im Sinne der Argumentation Haraways kann man nur durch die Analyse des Kräftefeldes, in dem Forschung stattfindet verstehen, was sie die »Vision von Technologieentwicklung« nennt. »Vision ist immer eine Frage der Fähigkeit zu sehen – und vielleicht eine Frage der unseren Visualisierungspraktiken impliziten Gewalt«22

Die Molekularisierung der Pflanzenzüchtung wurde begleitet (und beschleunigt?) vom Umbau des gesamten Systems der US-amerikanischen Universitäten.23 Für diesen Prozess führten die Soziologen Sheila Slaughter und Gary Rhoades den Begriff des »Akademischen Kapitalismus« ein. So kann man seit den 1980er Jahren in den USA beobachten, wie universitäre Wissenschaft24 im 21 Sam Eathington u. a., Molecular Markers in  a Commercial Breeding Program, in: Crop Sci 47, 2007, 154–163. 22 Haraway, Situiertes Wissen, 85. 23 Der Begriff »Akademischer Kapitalismus« bezieht sich zunächst nur auf das US-amerikanische System. Da die Grüne Gentechnik zunächst vor allem im US-amerikanischen Kontext Anwendung fand, ist die Reduktion an dieser Stelle vertretbar. Für einen Überblick über die Transformation des universitären Sektors in Deutschland vgl. beispielsweise­ Richard Münch, Akademischer Kapitalismus. Über die politische Ökonomie der Hochschul­ reform. Berlin 2011. 24 Die Beschreibung der akademischen Wissenschaft als zunehmend verwertungsorien­ tiert soll nicht implizieren, dass in fordistisch geprägten Gesellschaften die Wissenschaft in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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mer stärker einem Regime der Wettbewerbsfähigkeit unterworfen wurde.25 In den Mittelpunkt rückte eine neoliberale Rhetorik, welche die Wettbewerbsfähigkeit der USA in einer globalen (Wissens-)Ökonomie als bedroht ansah und dieses Problem mit Mitteln einer forcierten Ausweitung von Marktmechanismen lösen wollte. Auf der Ebene der Universitäten bedeutete dies, Forschung immer stärker an dem Kriterium der Verwertbarkeit von Wissen zu orientieren. So veränderte sich auch die Strukturierung von Forschung, zu beobachten an einer Abwendung von der zu Zeiten des Kalten Krieges dominanten Großforschung, hin zu einer stärker projektförmig organisierten Forschung. Diese Umstrukturierung der Wissenschaft begünstigte eine Kommodifizierung des Forschungsprozesses, im Sinne einer stärkeren Unterwerfung der Wissenschaft unter die Logiken des Marktes. Gesellschaftlich zeigten sich diese Transformationsprozesse durch die politische Durchsetzung entsprechender Gesetzgebungen wie beispielsweise dem ›Bayh Dole Act‹ von 1980. Dieser ermöglichte es Universitäten und anderen aus öffentlichen Geldern finanzierten Instituten, Ergebnisse der Grundlagenforschung zu patentieren.26 Diese Entwicklung kann als Durchsetzung eines Sets von Politiken und Praktiken des Geistigen Eigentums gedeutet werden, mit denen es gelang, Wissen systematisch zu verknappen und so in einen kommodifizierten Rohstoff für Produkte und Dienstleistungen zu verwandeln.27 Da die Unternehmen in der Folge sich den (exklusiven) Zugriff auf Ergebnisse der Grundlagenforschung sichern mussten, veränderten diese einerseits ihre eigenen F&E-Abteilungen, andererseits entstanden kleine und mittlere Unternehmen, die sich auf Grundlagenforschung spezialisierten sowie neue Formen der Kooperation von Universitäten und Unternehmen.28

einem Raum stattfand, der frei von industriellen Verwertungsinteressen gewesen wäre. Wie Slaughter und Rhoades am Bespiel der Rüstungsindustrie oder dem Gesundheitssektor zeigen, war das Gegenteil der Fall, vgl. Sheila Slaughter, Gary Rhoades, The Emergence of a Competitiveness Research and Development Policy Coalition and the Comercialization of Academic Science and Technoloy, in: Science, Technology, & Human Values 21, 1996, ­303–339. Was sich jedoch fundamental unter dem Regime des akademischen Kapitalismus ändert, ist die Art und Weise, in der Forschung auf den kapitalistische Verwertungszusammenhang bezogen ist. 25 Insbesondere: Slaughter, Rhoades, Emergence. 26 Ergänzt wurde dieses Gesetz durch die ›Diamond vs. Chakrabarty Decision‹, ein gerichtliches Urteil, durch welches es zum ersten Mal möglich wurde, Patente auf Lebewesen zu erhalten. Auf globaler Ebene wurde der verstärkte Schutz der Rechte des Geistigen Eigentums zehn Jahre später im ›Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights‹ (TRIPS) im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) durchgesetzt. 27 Sheila Slaughter, Gary Rhoades, Academic capitalism and the new economy. Markets, state, and higher education. Baltimore 2004. 28 Benjamin Coriat u. a., Does Biotech Reflect a New Science-based Innovation Regime?, in: Industry and Innovation 10, 2003, 231–253. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Die Umstrukturierung des Systems der Wissensproduktion im Sinne einer kapitalistischen Verwertungslogik förderte die Herausbildung des dominierenden molekularbiologischen Standpunkts innerhalb der Biologie. Denn mit der Option, die durch molekularbiologische Methoden gegeben war, einzelne Gene und deren Funktionen zu identifizieren, wurde es möglich, solche Bereiche der Natur zu kommodifizieren, die sich vorher dem kapitalistischen Verwertungs­ zusammenhang verschlossen.29 Das molekularbiologische Forschungsfeld weist klare Passungen zu den Anforderungen der Wissensproduktion im akade­ mischen Kapitalismus auf. Denn zum einen eröffnet die Molekularbiologie die Möglichkeit, stark arbeitsteilig an einzelnen Genen oder Funktionen von Genen zu forschen. Die holistische Perspektive auf das Genom und den Gesamt­ organismus in seiner Umwelt wird durch eine atomistische Sichtweise ersetzt, die hofft, durch die Identifizierung und Transformierung einzelner Gen­ sequenzen biologische Abläufe steuern zu können. Dies fügt sich einer Struktur kleinteilig organisierter Forschung, in der immer neuere Forschungsinteressen formuliert, Projektziele definiert, sowie Ergebnisse rasch produziert werden müssen. Zum anderen ergibt die neu geschaffene Möglichkeit, einzelne Gene oder Teile von Genen (wie etwa Promotoren30) zu patentieren, einen idealen Ansatzpunkt für kleinteilige Kommerzialisierung von Forschungs- und Entwicklungsprozessen, wie sie sich dann auch in Start Up-Unternehmen Bahn gebrochen haben. Auf der Seite der Wissenschaft ermöglicht das Patentrecht nun in einem sehr frühen Stadium der Technologieentwicklung, unternehmerisch tätig zu werden, was wiederum auf den Forschungsprozess zurückwirkt. Die bemerkenswerte Zahl universitärer Unternehmensausgründungen im Bereich der Biotechno­logie verdeutlicht diese Entwicklung31. Da die Grüne Gentechnik aktuell vor allem im US-amerikanischen Kontext Anwendung findet, soll nun das institutionelle Regime skizziert werden, auf welches die Pflanzenbiotechnologie traf und wie es diese veränderte. Die Tradition, in der die deutsche landwirtschaftliche Forschung steht32, unterscheidet sich zwar maßgeblich von der US-amerikanischen, ungeachtet dessen sind die grundlegenden Tendenzen der Entwicklungsprozesse vergleichbar. Die Pflanzenzüchtungsforschung fand traditionell an den Agrarfakultäten der Universitäten (den sog. »Land-grant universities«) statt. Diese von der öffentlichen Hand geförderten Institute waren aktiv in der Züchtungsforschung 29 Markus Wissen, Modernisierte Naturbeherrschung. Agrobiodiversität, Biotechnolo­ gie und die Krise der industriellen Landwirtschaft, in: PROKLA 35, 2005, 445–461. 30 Als Promotor wird in der Molekularbiologie eine Nukleotid-Sequenz der DNA be­ zeichnet, die die Aktivierung eines Gens ermöglicht. 31 Ulrich Dolata, Politische Ökonomie der Gentechnik. Konzernstrategien, Forschungsprogramme, Technologiewettläufe. Berlin 1996. 32 Frank Uekötter, Die Wahrheit liegt auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deut­ schen Landwirtschaft. Göttingen 2010. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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tätig, sie stellten den privaten Züchtern umsonst Saatgut zur Verfügung und schwächten so deren Position auf dem Markt.33 Die gesamten Produktionssteigerungen, die im Kontext der Grünen Revolution erreicht wurden, müssen vor dem Hintergrund der ›Big Science – Institutionen‹ des Kalten Kriegs verstanden werden34. Mit der Durchsetzung von Formen des Akademischen Kapitalismus an den Universitäten veränderte sich die Pflanzenzüchtungsforschung nachhaltig. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass die öffentlichen Ausgaben im Bereich der Pflanzenzüchtung reduziert wurden; so zeigt Frederik Biss, dass in den USA seit Mitte der 1980er Jahre die Zahl der Pflanzenzüchter an öffentlich geförderten Instituten oder Universitäten stark zurückging und – dazu korrespondierend – in privaten Unternehmen stetig anstieg.35 Das Verhältnis von öffentlicher und privater Forschung veränderte sich jedoch nicht nur in quantitativen Kategorien, sondern wie Rick Welsh und Glenna Leland36 zeigen, auch im Hinblick auf ihre Inhalte, da beide Bereiche demselben Regime der Wettbewerbsfähigkeit unterworfen wurden. So wurden die Grenzen von privater und öffentlicher Wissenschaft in der Pflanzenzüchtung unschärfer, die Forschungsprofile glichen sich zunehmend an. Die ›traditionelle‹ Arbeitsteilung zwischen öffentlichen und privaten Forschungsinstituten in der Pflanzenzüchtung bestand darin, dass Unternehmen an ausgesuchten kommerziell interessanten Pflanzen (z. B. Mais, Baumwolle, Raps, Soja oder Reis) forschten, wohingegen die öffentlich geförderten Institute an kommerziell weniger rentablen Pflanzen (v. a. Getreide) forschten. Dies änderte sich in den 1990er Jahren auf dramatische Weise, so dass auch die öffentlichen Institutionen ihre Forschung auf die kommerziell interessanten Kulturarten und Eigenschaften verlegten. Daraus resultierte eine Verengung der Forschung auf immer weniger Fruchtarten, die eine dauerhafte Einschränkung der Agrobiodiversität zur Folge haben könnte.

4. Struktur des landwirtschaftlichen Sektors Die dritte und letzte Ebene, die betrachtet werden muss, um die Struktur zu verstehen, aus der heraus sich die Grüne Gentechnik etablierte, ist das Feld, auf dem diese zum Einsatz kommt – der landwirtschaftliche Kontext. Der landwirtschaftliche Sektor zeichnete sich immer durch seine besondere Stellung in kapi 33 Jack Ralph Kloppenburg, First the Seed. The Political Economy of Plant Biotchnology. Cambridge 1988. 34 John H. Perkins, Geopolitics and the Green Revolution. Wheat, Genes, and the Cold War. Oxford 1997. 35 Fredrick Bliss, Education and Preperation of Plant Breeders for Careers in Global Crop Improvment, in: Crop Sci 47, 2007, 250–261. 36 Rick Welsh, Leland Glenna, Considering the Role of the University in Conducing­ Reaserch on Agri-biothechnologies, in: Social Studies of Science 36, 2006, 929–942. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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talistischen Ökonomien aus. Denn zum einen war die Integration der landwirtschaftlichen Produktion in den kapitalistischen Produktionsprozess sehr viel schwieriger und unwegsamer als die Eingliederung anderer Teilbereiche (z. B. des Handwerks).37 Andererseits war die Industrialisierung der Landwirtschaft der entscheidende Motor für die Etablierung von Industriegesellschaften38. Eine ganze Reihe von agrarsoziologischen Arbeiten hat den Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der Industrienationen und der Integration der Landwirtschaft in eine kapitalistische Logik herausgearbeitet.39 Theoretisch beschreibt Burkhard Lutz die Industrialisierung der Landwirtschaft als einen Prozess der Landnahme des Kapitalismus40. Die vorher vor allem auf Subsistenz oder Lehnsverhältnissen basierende Landwirtschaft wurde durch den Prozess der Industrialisierung zunehmend kommodifiziert  – der holistische Prozess der Landwirtschaft wurde in immer mehr Teilbereiche differenziert, welche dann leichter unter eine kapitalistische Logik subsumierbar waren. Anders gesagt, muss die industrielle Restrukturierung der Landwirtschaft vor allem als Entwicklung verstanden werden, die sich dadurch auszeichnet, dass in den Agrarsektor fremdes Kapital investiert und dann durch horizontale Desintegration, also durch die Ausgliederung von Teil­bereichen der Produktion (wie beispielsweise die Herstellung von Saatgut oder die Weiterverarbeitung von Milch) wieder entzogen wird. So gelang es dem industriellen Sektor zunehmend, sich die Wertschöpfung des landwirtschaftlichen Sektors anzueignen.41 Durch diesen Prozess etablierte sich das so genannte »Agrobusiness«, in dem grundlegend zwischen vorgelagerter Industrie (Düngemittel, Saatgut, Landmaschinen etc.) und nachgelagerter Industrie (lebensmittelverarbeitende Industrie, Einzelhandel etc.) unterschieden wird.42 Die industrielle Produktion von Saatgut muss ganz vor diesem Hintergrund verstanden werden: ein vormals der kapitalistischen Logik verschlossener Bereich wird nach und nach kompatibel mit kapitalistischen Verwertungsinteres-

37 Hans Pongratz, Bauern am Rand der Gesellschaft? Eine theoretische und empirische Analyse zu gesellschaftlichem Bewusstsein von Bauern, in: Soziale Welt 38, 1987, 524. 38 Matthias Sauer, Fordist Regulation of German Agriculture and the Future of Family Farms, in: Sociologia Ruralis 4, 1990, 260–279. 39 Z. B. Harriet Friedmann, Philip McMichael, Agriculture and the State System. The Rise and the Decline of National Agricultures, 1870 to the Present, in: Sociologia Ruralis 29, 1989, 93–117; Ben Fine, Towards a Political Economy of Food, in: Review of International Political Economy 1, 1994, 519–545. 40 Burkhard Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Frankfurt a. M. 1989. 41 Kevin Morgan, Terry Marsden u. Jonathan Murdoch, Worlds of Food. Place, Power, and the Food Chain. Oxford 2006. 42 Rolf G. Heinze, Verbandspolitik zwischen Partikularinteressen und Gemeinwohl. Der Deutsche Bauernverband. Gütersloh 1992. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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sen gemacht.43 Im Zuge der Industrialisierung der Landwirtschaft verlagerte sich die Pflanzenzüchtung zunächst von den landwirtschaftlichen Höfen und der bäuerlichen Züchtung auf staatliche Institutionen und Universitäten. Dies gilt für die Vereinigten Staaten mehr als für den bundesdeutschen Kontext.44 Ab den 1980er Jahren setzte dann – wie im letzten Punkt ausgeführt – ein Prozess ein, in dem die Pflanzenzüchtung und das dazugehörige Wissen immer stärker vom öffentlichen in den privaten Sektor transferiert wurde. Der Anreiz für die vormals vor allem im Pflanzenschutz aktiven Konzerne wie Monsanto oder Bayer, in den Saatgutsektor einzusteigen – welcher im Gegensatz zur Agrochemie von sehr viel kleineren Gewinnmargen gekennzeichnet ist – war im Wesentlichen durch das bald zu erwartende Ende des Herbizidsystems getrieben.45 So stieß der Einsatz von Herbiziden zum einen an ökonomische Grenzen; denn der Ertrag in der industriellen Landwirtschaft fiel trotz der ständig steigenden Menge an eingesetzten Herbiziden. Zum anderen wurden ökologische Grenzen sichtbar, und der (flächendeckende) Einsatz von chemischen Unkrautvernichtungsmitteln verlor an gesellschaftlicher Akzeptanz – nicht zuletzt wegen der stärker werdenden Umweltbewegung. Im Saatgutsektor fand dann neben der horizontalen Integration, also dem Aufkaufen von biotechnologischen Start Ups oder anderen chemischen Unternehmen,46 vor allem eine vertikale Integration statt. So war die Restruktu­ rierung des Saatgutsektors ab dem Ende der 1980er Jahre durch das Aufkaufen von kleinen Pflanzenzüchtungsbetrieben gekennzeichnet. Die agrochemische Industrie kaufte innerhalb weniger Jahre die meisten mittelständischen Pflanzenzüchter in den Vereinigten Staaten auf und bewirkte so eine enorme Konzentration des Saatgutmarktes47. Der Marktführer Monsanto investierte zwischen 43 Barbara Brandl, Saatgut als Ware. Die Aneignung und Kommodifizierung von Wissen durch Rechte des Geistigen Eingentums am Beispiel des Saatgutsektors, in: Herwig Grimm, Stephan Schleissing (Hrsg.), Grüne Gentechnik: Zwischen Forschungsfreiheit und Anwendungsrisiko. Baden-Baden 2011, 309–327. 44 In Deutschland hatten die Vereinigungen der Pflanzenzüchter schon in den 1930er Jahren erreicht, dass Marktregulationen für Saatgut (die Vorläufer des Sortenschutzgesetztes) erlassen wurden, die ihnen im Vergleich zu den Vereinigten Staaten eine etwas stärkere Stellung sicherte (Regine Barth u. a. (Hrsg.), Agrobiodiversität entwickeln! Handlungsstrategien für eine nachhaltige Tier- und Pflanzenzucht. Berlin 2004). 45 Jos Bijman, AgrEvo: From Crop Protection to Crop Production, in: AgBioForum  4, 2001, 20–25. 46 John King, David Schimmelpfennig, Mergers, Acquisitions, and Stocks of Agricultural Biotechnology intellectual Property, in: AgBioForum 8, 2005, 83–88; Nicholas Kalaizandonakes, Bruce Bjornson, Vertical and Horizontal Coordination in the Agro-biotechnolggy Industry. Evidence and Implications, in: Journal of Agriculture and Applied Economics  29, 1997, 129–139. 47 Philip Howard, Visualizing Consolidation in the Global Seed Industry: 1996–2008, in: Sustainability, 1, 2009, 1266–1287. Nicholas Kalaizandonakes, Alexandre Magnier, Douglas J. Miller, A Worrisome Crop? Is there a Market Power in the US Seed Industry?, in: Regula© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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1996 und 1999 – der für die Restrukturierung des Saatgutsektors weichenstellenden Phase  – 8 Milliarden Dollar, um Saatgutbetriebe und Biotechnologie­ unternehmen aufzukaufen.48 Aktuell ist die Saatgutbranche eine der am stärksten konzentrierten Branchen weltweit. Machten 1985 die zehn größten Saatgutkonzerne zusammen einen Anteil von unter 20 % am Markt für geschütztes Saatgut aus, waren es im Jahr 2007 bereits 67 %. Betrug der Anteil der drei größten Konzerne Monsanto, DuPont (beide USA) und Syngenta (Schweiz) 1985 noch un­ gefähr 7 %, war dieser bis zum Jahr 2007 auf 47 %49 angestiegen.50 Die Konzentrationstendenzen innerhalb des Saatgutsektors sind, neben den hohen Transaktionskosten, die in Verbindung mit der Komplementarität der benötigten Ressourcen bei der Entwicklung von transgenen Pflanzen auftreten,51 vor allem auf die im Gegensatz zur konventionellen Züchtung stark angestiegenen Kosten für die Entwicklung transgenen Saatguts zurückzu­führen.52 Die stark gestiegenen Kosten für Forschung und Entwicklung und der gleichzeitige Rückgang der öffentlichen Förderung der Pflanzenzüchtungsforschung tion 20, 2011. Jorge Fernandez-Cornejo, Richard E. Just, Researchability of Modern Agricultural Input Markets and Growing Concentration, in: American Journal of Agrar Economy 89, 2007, 1269–1275. 48 Schenkelaars u. a., Drivers, 27. 49 Wie hoch die tatsächliche Konzentration im Saatgutsektor ist, darüber gibt es widersprüchliche Zahlen. So geben etwa Schenkelaars u. a., Drivers weniger hohe Zahlen an: Besaßen 1985 die neun größten Konzerne einen Marktanteil von 12,7 % am weltweiten Saatgutmarkt, waren es 1996 schon 16,7 %. Bis 2009 verschärfte sich die Konzentration auf diesem Markt, so dass die drei größten Konzerne (Monsanto, DuPont, Syngenta) einen Marktanteil von 34 % besaßen. 50 Emmanuel Dalle Mulle, Violette Ruppanner, Exploring the Global Food Supply Chain. Markets, Companies, Systems. Companion Publication to Seeds of Hunger 2010. 51 Im Saatgutsektor sind die Schlüsselressourcen Plattformtechnologien (wie z. B. Transformationsmethoden), ertragsstarke Zuchtlinien sowie spezifische Transgene in hohem Maße komplementär zueinander. (Spezifische Transgene wie das Bt.-Gen sind umso mehr wert, über je mehr ertragsstarke Zuchtlinien ein Unternehmen zur Einkreuzung dieses Gens verfügt.) Nun kann jedoch der Zugang eines Unternehmens zu komplementären Technologien oder Ressourcen auf unterschiedliche Weisen ermöglicht werden. Die Möglichkeiten der Regulation erstrecken sich als Kontinuum zwischen dem Pol einer vollständigen Integration der Firma durch Kauf und dem der Nutzung der Technologie durch die Vergabe von nichtexklusiven Lizenzen (Gregory D. Graff, Gordon C. Rausser, Arthur A. Small, Agricultural Biotechnology’s Complementary Intellectual Assets, in: The Review of Economics and­ Statistics 85, 2003, 349–363, hier 351). Für welche Möglichkeit sich die jeweiligen Unternehmen entscheiden, hängt von Faktoren wie den institutionellen Rahmenbedingungen, der Regulierung des Patentsystems oder der Branchenstruktur ab. In der Pflanzenbiotechnologie ist zu beobachten, dass das starke geistige Eigentumsrecht zur Integration und Fusion von Firmen führt (Cédric Schneider, The battle for patent rights in plant biotechnology: evidence from opposition fillings, in: The Journal of Technology Transfer 36/5, 2011, 565–579). 52 William F. Goure, Value Creation and Capture With Transgenic Plants, in: Sarad R. Parekh (Hrsg.), The GMO Handbook: Genetically Modified Animals, Microbes, and Plants in Biotechnology. Totowa, New Jersey 2004, 263–296. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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brachten neben den höheren Preisen für Saatgut eine weitere Entwicklung mit sich: einen gestiegenen Anreiz, formal garantierte Rechte des geistigen Eigentums (wie etwa Patente oder Sortenschutz) auch praktisch durchzusetzen. Oder anders gesagt: die Notwendigkeit den Return on Investment sicherzustellen. Durch die Etablierung von Institutionen und Strukturen welche die Durchsetzung von geistigen Eigentumsrechten erleichterten, wie etwa der flächendeckende Einsatz von landwirtschaftlichen Beratern,53 entstanden dann in der Folge verstärkte Konzentrationstendenzen innerhalb des Saatgutmarkts.

5. Fazit – Ausblick? Zu Beginn des Beitrags habe ich – mit Bezug auf Donna Haraway – argumentiert, dass Technologie nicht als etwas Neutrales betrachtet werden kann, das den sozialen Verhältnissen vorgelagert wäre.54 Vielmehr findet Technologieentwicklung immer in einem bereits vorstrukturierten sozialen Raum statt und muss in diesem Sinne auch als Ausdruck von Machtverhältnissen ge­lesen und interpretiert werden. In diesem Sinne wurde im vorliegendem Beitrag dargelegt, vor welchem sozio-ökonomischen Hintergrund die Grüne Gentechnik entwickelt wurde. Dabei scheint entscheidend, dass die Privilegierung einer molekularbiologischen Perspektive innerhalb der Pflanzenzüchtung nicht nur der wissenschaftlichen Logik zuzurechnen ist, sondern auch als ökonomisches Produkt gesehen werden muss, das wiederum aus der Wechselbeziehung von Forschung und politökonomischen Strukturen hervorgegangen ist. In einem weiteren Schritt wurde darauf verwiesen, dass der landwirtschaftliche Anwendungskontext, für welchen die Grüne Gentechnologie entwickelt wurde, spezifische Dynamiken aufweist, die durch die fortschreitende Industrialisierung der Landwirtschaft und die damit zusammenhängende Verlagerung der Wertschöpfung vom landwirtschaftlichen in den industriellen Sektor gekennzeichnet ist. Abschließend möchte ich das zentrale Argument in Erinnerung rufen, dass die ›Wahl‹ eines Technologiepfads konstitutiv für seine spätere Anwendung und damit die Strukturiertheit der landwirtschaftlichen Produktion ist. Als für die Bewertung der Grünen Gentechnik instruktives Beispiel sei hier die Einführung des Hybridsaatguts genannt. Jack Kloppenburg55 zeigt in seiner wegwei 53 Johannes Schubert u. a., Having or Doing Intellectual Property Rights? Transgenic Seed on the Edge Between Refeudalisation and Napsterisation, in: European Journal of­ Sociology, 52, 2011, 1–17. 54 Vgl. auch Maria Mies, Vandana Shiva, Ökofeminismus. Beiträge zur Praxis und Theorie. Zürich 1995. 55 Jack Ralph Kloppenburg, First the Seed. The Political Economy of Plant Biotechnology. Cambridge 1988. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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senden Studie über die Entwicklung des Saatgutmarkts in den USA, dass diese Innovation die gesamte Pflanzenzüchtungsbranche fundamental veränderte. Zwar waren die Motive für die Entwicklung von Hybridsaatgut zunächst nicht rein kommerzieller Art. So gab es in den 1920er und 1930er Jahren Bestrebungen, die Hybridzüchtung nicht vom bäuerlichen Betrieb abzu­koppeln, sondern im Gegenteil die Bäuerinnen durch staatlich finanzierte Kurse in die Hybridzüchtung einzubeziehen, was jedoch aufgrund der Komplexität des Züchtungsprozesses schnell wieder eingestellt wurde. Die Eigenschaften von Hybridsaatgut waren  – wie sich bald zeigte  – sehr kompatibel mit einer kapitalistischen Logik. Denn das neue Saatgut brachte nicht nur einen eingebauten Kopierschutz mit sich, sondern durch den Einsatz dieser Pflanzen ließen sich parallel sehr einfach neue Märkte für industrielle Produkte erschließen (optimaler Einsatz von Landmaschinen durch die Uniformität der Pflanzen, verstärkte Nachfrage nach Herbiziden etc.). Durch die Einführung des Hybrid­saatguts konnte die landwirtschaftliche Produktion in ungeahntem Ausmaß nach den Vorgaben des industriellen Kontextes organisiert werden. Diese optimale Passung führte in der Folge zu einem Hybridbias in der Pflanzenzüchtung. Die Entwicklung von Liniensorten sowie die Forschung in Kulturarten, die nicht hybridisierbar sind (v. a. selbstbefruchtende Getreidearten), wurde vernachlässigt. Durch diese Entwicklung verkleinerte sich der Genpool beständig, ein Trend, der von der zunehmenden Ablösung der Pflanzenzüchtung von den staatlichen Institutionen noch beschleunigt wurde.56 Ähnlich wie das Hybridsaatgut ist auch die aktuelle Anwendung der Grünen Gentechnik stark kompatibel mit einer industrialisierten Form der Landwirtschaft. Diese Kompatibilität trug dazu bei, dass Saatgut  – wie beschrieben – seit Mitte der 1990er Jahre überwiegend nicht mehr in mittelständischen Züchtungsbetrieben, sondern in agrochemischen Unternehmen entwickelt wird. Eine Folge dieser ›chemischen Übernahme‹ war eine Radikalisierung der atomistischen Perspektive auf den pflanzlichen Organismus. So kamen die entscheidenden Impulse für die Pflanzenbiotechnologie aus der Mikrobiologie, also von Wissenschaftlern, die ihre Expertise im Bereich der Bakterien (also an im Vergleich zu Pflanzen weitaus weniger komplexen Organismen) erworben hatten. Entsprechend basieren die beiden kommerziell erfolgreichsten Produkte der Grünen Gentechnik, die Herbizidresistenz57 sowie die BtTechnologie58 auf der Einschleusung bakterieller DNA in den pflanzlichen Organismus. Das überaus komplexe und dynamische Genom der Pflanze bleibt weitgehend unverändert (und unverstanden?), in den pflanzlichen Stoffwechsel – der um ein vielfaches komplizierter ist als der von Menschen oder Tieren – 56 Vgl. ausführlich Kloppenburg, Seed, 130 ff. 57 Agrobacterium tumefaciens. 58 Bacillus thuringiensis. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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wird nicht eingegriffen, da die den Stoffwechsel regulierenden Mechanismen bei Pflanzen zu wenig verstanden bzw. sehr komplex sind und von mehr als nur einem Gen gesteuert werden. Eine Schlussfolgerung aus diesem Beitrag könnte sein, dass eine andere Art der Erforschung des pflanzlichen Organismus nötig wäre, um nachhaltigere Formen landwirtschaftlicher Produktion zu ermöglichen. Um dieses Argument zu verdeutlichen, ist es unter Umständen hilfreich, die Funktion der Pflanzenzüchtung für die industrielle Landwirtschaft noch einmal näher zu betrachten. Im vor-industriellen Pflanzenbau fanden vor allem so genannte Landsorten59 Anwendung, diese Sorten waren durch jahrhundertelange Selektion meist sehr gut an die Region ihrer Anwendung angepasst. Die Industrialisierung der landwirtschaftlichen Produktion veränderte jedoch die Anforderungen an die Pflanzenzüchtung radikal. So wurden die Steigerung des Ertrages und die Gleichförmigkeit der Pflanzen (die für den Einsatz von Landmaschinen nötig war) zu den wichtigsten Züchtungszielen. Die immense Steigerung des Ertrages, welche in vielen Fruchtarten realisiert werden konnte, wurde jedoch zu einem hohen Preis erkauft. Denn nun sollten sich nicht mehr die Pflanzen an ihre regionale Umwelt anpassen, sondern die Äcker und Felder wurden durch chemische Stützleistungen (wie etwa Herbizide oder Düngemittel) an die (ertragsstarken) Pflanzen angepasst. In diesem Sinne würde eine ›dritte Form‹ der Pflanzenforschung, also eine Art der Forschung, die vom Interesse getrieben ist, die Mechanismen im pflanzlichen Organismus in ihrem Kontext, also holistisch zu verstehen – und weniger vom Tunnelblick einer einzelstofflichen und schnell kommerzialisierbaren Anwendung getrieben ist – einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, ökologische Formen der Landwirtschaft zu etablieren, in welchen trotzdem hohe Erträge realisiert werden können.

59 Landsorten sind genotypisch und phänotypisch heterogene Formkreise in einer Kultur­a rt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

Christoph Rehmann-Sutter und Georg Gusewski

Ethik des Essens und die Biotechnologisierung der Landwirtschaft

Wenn wir essen, treten wir mit der Welt und anderen Menschen in eine viel­ fältige Beziehung. Äußeres wird zu Innerem und Eigenes verbindet sich mit Anderem: Das Essen ist ein Akt der Inkorporation und der Teilnahme.1 Es schafft und formt die leibliche Zugehörigkeit zu der Welt, aus der das Essen kommt. Essen differenziert sozial, weil nicht jede und jeder mit jeder und jedem alles isst. Insofern ist das Essen viel mehr als ein Zu-sich-Nehmen von Nährstoffen. Essen ist eine Stellungnahme zur Welt und zu Anderen: wir wählen etwas, was uns schmeckt und hoffentlich gut tut, gleichzeitig zeichnen wir dadurch eine Produktionsweise aus. Wir wählen etwas, das wir im geschmacklichen, ästhe­ tischen und moralischen Sinn für essbar halten; und wir zeigen uns anderen damit, was und wie wir essen. Wir verbinden uns mit anderen, wenn wir mit ihnen essen, usw. Eine phänomenologische Beschreibung des Essens würde deshalb nicht mit einer Liste von Ingredienzien und Informationen über Fett, Kalorien, Vitamine und Zusatzstoffen beginnen und auch nicht den wahrscheinlichen Effekt auf das Körpergewicht darstellen. Sie würde stattdessen bei den Details des Geschmacks, der Beschaffenheit, der Temperatur, der Farbe usw. beginnen, die Begierde und die Lust des Essens beschreiben. Und sie würde genau darauf achten, in welchen Sinnzusammenhängen das Essen erscheint, wie und von wem es produziert wurde, mit welchen moralischen und sozialen Normen es verbunden ist, wenn man es zubereitet, serviert, teilt und isst. Das Essen ist ein intersubjektives Phänomen.2 Wenn man über Biotechnologien in der Landwirtschaft diskutiert, stehen diese Aspekte des Essens nicht im Vordergrund. Man spricht dann eher über die ökologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Implikationen gentechnisch modifizierter Organismen, über Fragen der Umweltrisiken, Nachhaltigkeit und der sozialen Gerechtigkeit. Aber die verschiedenen Formen der 1 Vgl. Hans Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a. M. 1992. 2 Vgl. Bernd Jager, Eating as natural event and as intersubjective phenomenon: ­Towards a phenomenology of eating, in: Journal of Phenomenological Psychology 30, 2007, ­66–117. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Biotechnologisierung der Landwirtschaft behalten die Verbindung zur Phänomenologie des Essens trotzdem bei. Die Konflikte um die sogenannte Grüne Gentechnik könnten, so lautet unsere Arbeitshypothese, auch damit zu tun haben, dass die Menschen, die essen, zu sehr bloß als »Konsumenten« oder »Verbraucher« behandelt werden, die Kosten-Nutzen-Rechnungen anstellen und sich zu neuen Verfahren in der Produktionstechnik ökonomisch-rational (statt irrational-technikfeindlich) einstellen sollen. Denn dabei wird nicht wahrgenommen, dass Menschen Subjekte sind, die sich mit dem Essen in einer für sie existenziell wichtigen Weise in der Welt und zur Welt verhalten. Wenn das der Fall wäre, dann könnte die pauschale Ablehnung der Gentechnik in der Landwirtschaft, wie wir sie heute in Europa sehen, auch aus einer unter politisch aktiven Bürgerinnen und Bürgern verbreiteten Kränkung entstanden sein, nicht als Subjekte des Essens ernst genommen worden zu sein. Seit den ersten Debatten über die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in den 1980er und 1990er Jahren3 hat sich die Problemwahr­ nehmung der Gentechnik in der Landwirtschaft in vielerlei Hinsicht stark verändert. Zwar wurde die Landwirtschaft auch damals nicht mehr als »heile« Praxis angesehen; die ökologischen Probleme des Gebrauchs von Düngemitteln und Pestizi­den sowie Monokulturen und die Bedrohung der Biodiversität waren schon lange ein zu offensichtliches Thema der kritischen Auseinandersetzung mit der industriellen Nutzung der Agrarflächen – spätestens seit der Publikation von Rachel Carsons Silent Spring4 im Jahr 1962. Die Industrialisierung der Landwirtschaft war mit der sogenannten Grünen Revolution in vielen Gebieten der Erde bereits weit vorangeschritten. Essende Menschen wurden dabei in erster Linie als Konsumenten gesehen, die erstens genügend Nahrung brauchten, zweitens Nahrung, die ihren Präferenzen entsprach und die ihnen drittens keinen gesundheitlichen Schaden zufügte. Als Subjekte einer globalen Mitverantwortung blieben sie jedoch im Hintergrund. Man darf nicht vergessen, dass in den 1960er Jahren weder bekannt noch relevant war, dass die Vieh­ haltung ein Treiber für die Klimaerwärmung ist. Laut einem Bericht des World-

3 Vgl. Enquete-Kommission, Wolf-Michael Catenhusen, Hanna Neumesiter, Chancen und Risiken der Gentechnologie. Dokumentation des Berichts an den Deutschen Bundestag. München 1987. Christoph Rehmann-Sutter, Nature in the Laboratory – Nature as a Laboratory. Considerations About the Ethics of Release Experiments, in: Experientia 49, 1993, 190–200. Christoph Rehmann-Sutter, Adrian Vatter, Risk Communication and the Ethos of Democracy, in: Ad van Dommelen (Hrsg.), Coping with Deliberate Release. The Limits of Risk Assessment. Tilburg, Buenos Aires: International Centre for Human and Public Affairs, 1996, 207–226. Barbara Skorupinski, Gentechnik für die Schädlingsbekämpfung – eine ethische Bewertung der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in der Landwirtschaft. Stuttgart 1996. 4 Vgl. Rachel Louise Carson, Silent Spring. Boston 1962. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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watch Institute von 2009 trägt allein die Tierhaltung 51 % der gesamten Menge an Treibhausgasen bei,5 also weit mehr als der Boden- und Flugverkehr zusammengenommen. Es hängt natürlich davon ab, was man alles dazurechnet. Aber selbst wenn diese Zahl zu hoch wäre, bleibt die Tierhaltung nichtsdestotrotz einer der wesentlichen Klimafaktoren. Damit sind nicht nur Anbauweisen und Produktionsmethoden einer bestimmten Nahrungsart zum ethischen Problem geworden, sondern auch die Zusammensetzung des Speiseplans selbst. Die Konsumentinnen und Konsumenten haben heute eine viel stärkere moralische Rolle als politische Subjekte und Mit-Verantwortungsträger erhalten. Mit Essen ist Biopolitik verbunden.6 Es kommt nun nicht nur darauf an, ob ein Produkt umweltgerecht produziert ist, sondern auch darauf, wie viel tierische und wie viel pflanzliche Nahrung jemand zu sich nimmt, wie weit ein Produkt transportiert werden muss, wie es gelagert wird, welche Deklarationspflichten bestehen etc. Menschen sind allein durch den Umstand, dass und was sie essen, als ethische Subjekte ins Zentrum der Debatte gerückt. Als Gegenbewegung zur Industrielandwirtschaft hat sich in verschiedenen Ländern die Biolandwirtschaft entwickelt, die nach strengen, umweltschonenden Vorschriften produziert und einen wachsenden Marktanteil gewonnen hat. Konsumentinnen und Konsumenten haben die Wahl und die Verantwortung, einen teureren Preis zu bezahlen, um bewusster zu konsumieren. Diese Antwort, so wichtig sie ist, stößt zweifellos an Grenzen: Denn weder können es sich alle leisten daran teilzuhaben, noch ist das Bewusstsein für ökologische Fragen in allen gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen ausgeprägt.7 Vegetarianismus und Veganismus haben mit den Argumenten der Nachhaltigkeit und der Ökologie einen breiter zugänglichen moralischen Appell erhalten und sind stärker in den Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt.8 Sie beeinflussen heute zunehmend die Speisekarten von guten Restaurants. Aber die Entwicklungen laufen disparat. Gleichzeitig hat sich nämlich der Einsatz von Gentechnologie bei verschiedenen Pflanzensorten in der noch inten­ siver industrialisierten Landwirtschaft durchgesetzt,9 wenn auch einige Länder

5 Vgl. Robert Goodland, Jeff Anhang, Livestock and Climate Change. Washington 2009. 6 Vgl. Nikolas Rose, The Politics of Life Itself. Biomedicine, Power and Subjectivity in the Twenty First Century. Princeton 2006. 7 Vgl. Armin Grunwald, Ende einer Illusion: Warum ökologisch korrekter Konsum die Umwelt nicht retten kann. München 2012. 8 Vgl. Bernd-Udo Rinas, Veganismus  – ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen? Berlin 2012. 9 Transgene Tiere werden unseres Wissens in der Landwirtschaft noch nicht kommerziell eingesetzt. Allerdings steht in den USA die transgene Lachssorte Aquabounty, die viel schneller wächst als der Wildtyp, kurz vor der Zulassung. Vgl. z. B. Emily Anthes, Don’t Be Afraid of Genetic Modification, in: The New York Times, 9.3.2013. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Importverbote oder Moratorien aufrechterhalten.10 Die USA bauen heute z. B. fast nur noch gentechnisch veränderte Soja an.11 Nur 3 % der weltweiten Sojaernte landen jedoch auf den Tellern von Menschen; der Rest geht als Kraftfutter in die industrielle Tierproduktion.12 Ähnlich hohe Anteile haben in den USA heute gentechnisch veränderte Sorten bei Mais, Baumwolle und Zuckerrübe erreicht.13 In den 1990er Jahren wurden gentechnisch veränderte Organismen vor allem als riskante Objekte gesehen, die als landwirtschaftliche Nutzpflanzen in die Umwelt ausgesetzt wurden und deren ökologischen und gesundheitlichen Implikationen in einem negativen Sinn veränderten. Die Risiken wurden vor allem in den unabsehbaren Effekten auf die weiteren Ökosysteme (Verwilderung, Auskreuzung, horizontaler Gentransfer etc.), in einer Belastung der landwirtschaftlichen Produktionssysteme selbst (Resistenzentwicklung), in der Zerstörung der Kleinbauernschaft (Industrialisierung, Abhängigkeit, Monopolisierung durch Saatgut- und Chemiefirmen), in der Technisierung der Biota (Verletzung der Würde der Kreatur) und in der gesundheitlichen Gefährdung der Konsumenten vermutet. Diese Diskussionen laufen bis heute alle weiter, konnten aber die Entwicklungen in Richtung Gentechnik im weltweiten Maßstab nicht aufhalten. In manchen Ländern gibt es die Vorschrift, gentechnisch veränderte Anteile gegenüber den Konsumentinnen und Konsumenten zu deklarieren und damit einhergehend die Pflicht zur biologischen Trennung gentechnischer und gentechnikfreier Anbaufelder (deren Umsetzung heute zunehmend Schwierigkeiten bereitet).14 Die Industrie argumentierte unter anderem mit der Notwendigkeit, größere Mengen an Lebensmittel für eine wachsende Weltbevölkerung zu produzieren. Wir möchten in diesem Beitrag zu einer Refokussierung der Ethikdebatte um die Biotechnologie in der Landwirtschaft anregen und dazu die Perspektive des Essens stärker einbeziehen. Im ersten Teil berichten wir aus einer qualitativen Pilotstudie, die wir 2008 und 2009 in der Schweiz durchführen konnten. Sie war darauf angelegt, anhand von Interviews15 zu verstehen, welche Fragen 10 Vgl. Sarah Liebermann, Anthony R. Zito, Contested frames. Comparing EU versus US GMO policy, in: Michael Howlett, David Laycock (Hrsg.), Regulating Next Generation AgriFood Biotechnologies. London, New York 2012, 95–110. 11 Vgl. Markus Hofmann, Fast nur noch umweltfreundliche Soja bis 2014, in: Neue Zürcher Zeitung, 1.2.2011. 12 Dirk Asendorpf, Die Wunderbohne, in: NZZ Folio 253, August 2012, 18–21. 13 Transgen, USA 2012: 90 % Gentechnik-Anteil bei Soja, Mais, Baumwolle und Zuckerrüben. www.transgen.de/anbau/eu_international/189.doku.html; (zuletzt aufgerufen am: 4.8.2013). 14 Vgl. Sigrid Herbst, Saatguterzeugung am Scheideweg, in: Gen-ethischer Informationsdienst GiD 212, 2012, 8–12. 15 Die Interviews werteten wir mittels Grounded Theory aus: Vgl. Barney G. Glaser, Anselm L. Strauss, The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Konsumentinnen und Konsumenten an die Gentechnik in der Landwirtschaft stellen. Zwei Themen, die in den themenzentrierten Interviews und Diskus­ sionsgruppen (Fokusgruppen) im Vordergrund standen, möchten wir in theoretischer Hinsicht vertiefen: Erstens ist das Essen eine soziale Praxis, die sich in bestimmten Landwirtschafts- und Konsumformen manifestiert. Zweitens wird die Beziehungen zwischen Konsumenten und Produzenten im Kontext einer differenzierenden Governance16 wichtig.

1. Was liegt hinter der Skepsis gegenüber gentechnisch veränderten Pflanzen? In Europa lehnt gegenwärtig eine Mehrheit der Bevölkerung die Entwicklung und Anwendung von genetisch modifizierten Pflanzen (GMP) im Bereich der Landwirtschaft ab. Gemäß der europaweiten Repräsentativumfrage »Euro­ barometer« zur Biotechnologie von 2010, die differenzierte Fragen stellte und nach Ländern aufgelöst ist, halten 59 % der Europäerinnen und Europäer GMP für gesundheitsschädlich; 70 % halten genetisch verändertes Essen für »unnatürlich«; nur ein Drittel glaubt, dass GMP gut für die Wirtschaft sind; weniger als ein Viertel stimmt zu, dass GMP harmlos für die Umwelt sind.17 Verschiedene sozialwissenschaftliche Studien waren bemüht, die Gründe dieser Skepsis besser zu verstehen.18 Diese Studien zeigen u. a., dass sich Bürgerinnen und Bürger nicht einfach durch Expertenmeinungen leiten lassen, seien diese nun pro oder contra, sondern dass sie sich in diesem Bereich eine eigene differenzierte und kontextbezogene Meinung bilden.

Chicago 1967. Kathy Charmaz, Constructing Grounded Theory. A Practical Guide Through Qualitative Analysis. London 2006. 16 Unter Governance verstehen wir die Einführung von Regelungsstrukturen durch die Politik, in der staatliche und auch nichtstaatliche Akteure mit einbezogen bzw. berücksichtigt werden. Vgl. Catherine Lyall, Theo Papaioannou, James Smith, The Limits to Governance. The Challenge of Policy-making for the New Life Sciences. Surrey 2009. 17 Eurobarometer 73.1 »Biotechnology« (http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ ebs_341_en.pdf). 18 Vgl. Lone Bredahl, Consumers’ Cognitions with Regard to Genetically Modified Foods, in: Appetite 33, 1999, 343–360. Guy Cook, Elisa Pieri, Peter T. Robbins, The Scientists Think and the Public Feels: Expert Perceptions of the Discourse of GM Food, in: Discourse & Society 15/4, 2004. Claire Marris, Brian Wynne, Peter Simmons, Sue Weldon, Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe: Final Report of the PABE Research Project, Commission of European Communities. Brussels 2001. Alison Shaw, It Just Goes Against the Grain. Public Understandings of Genetically Modified (GM) Food in the UK, in: Public understanding of science 11/3, 2002, 273–91. Michel M. Zwick, Genetic Engineering: Risks and Hazards As Perceived by the German Public, in: New Genetics and Society 19/3, 2000, 269–281. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Wenn das aber so ist, dann müsste man mehr darüber lernen, wie diese Meinungsbildung vor sich geht, welche Erwägungen dabei wichtig sind und welche Gewichtungen vorgenommen werden. Das ist aber bisher erstaunlicherweise nur selten untersucht worden. Qualitative Sozialforschung bietet die Möglichkeit zu erkunden und zu erfahren, wie, d. h. mit welchen Maßstäben, aus welcher Perspektive oder in welchen Bedeutungsrahmen, Laien GMP differenziert bewerten, falls sie das tun, und wie sie ihre Differenzierungen wiederum für sich begründen. Eine hermeneutische Herangehensweise muss dazu eingenommen werden, um zu erfassen, wie Menschen GMP deuten und wie sie die in GMP ver­körperte Gentechnik innerhalb ihrer persönlich wahrgenommenen Praxiskontexte und moralischen Herausforderungen auslegen. In einem großen Teil der Literatur, die im Anschluss der Konferenz in Asilomar 1973 entstanden ist,19 wurden diese Deutungen einem engen Regime der Risikoabschätzung und -bewertung (risk assessment) untergeordnet oder undifferenziert als »Bedenken« der Bevölkerung behandelt, ohne näher auf deren subjektiven Gründe und auf die dahinterliegenden Anliegen einzugehen. Das Forschungsziel des Interviewprojekts (eine Pilotstudie20) war es, die Gründe pro und contra sowie die Entscheidungs- und Bewertungsprozesse von Konsumentinnen und Konsumenten besser zu verstehen, ohne sie zu werten oder im Bezug auf die Gültigkeit von Argumenten zu beurteilen. Wir haben dazu in der Schweiz zwei Fokusgruppendiskussionen organisiert und zehn semistrukturierte Interviews durchgeführt. Die Schweiz ist für das Thema in mehrerer Hinsicht besonders interessant:21 Als partizipative Demokratie mit relativ hohem Informations- und Bildungsstand verfügt die Schweiz zunächst über eine gut ausgebildete politische Öffentlichkeit mit verbreiteten Qualitätsmedien, ferner legitimiert ein vom Volk deutlich angenommenes Plebiszit ein befristetes Moratorium gegen jegliche Freisetzung von GMPs (bis 2017)22. Von Bedeutung sind zudem starke Kontraste zwischen traditioneller und industrieller Landwirtschaft, die zum Teil auf die geographischen Unterschiede zwischen Bergbauern der Alpenregionen und den Landwirten in einfacher 19 Vgl. Yann Devos et al, Coexistence of Genetically Modified (GM) and Non-Gm Crops in the European Union. A Review, in: Agronomy for Sustainable Development 29/1, 2008, ­11–30. 20 Es ist eine Pilotstudie geblieben, weil die Durchführung aller geplanten Fokus­gruppen und Interviews durch einen für uns unverständlichen, vorzeitigen Abbruch der Finanzierung von der Leitungsgruppe des Nationalen Forschungsprogramms 59 verunmöglicht wurde. Wir danken dem Schweizerischen Nationalfonds für die Teilförderung. 21 Zur Landwirtschaft in der Schweiz vgl. auch: Die Schweizer Landwirtschaft im Aufbruch, BLW, 2009. 22 Wie es ab 2018 weiter geht ist nicht klar und ruft schon heute neue Debatten hervor. Vgl. Breiter Widerstand gegen Änderung des Gentechnikgesetzes, in: Neue Zürcher Zeitung, 15.5.2013. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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zu bewirtschaftenden Gebieten zurückgehen. Die Schweiz prägen eine Multi­ kulturalität, bedingt durch die vier Landessprachen, und ein relativ hohes Durchschnittseinkommen. Schließlich ist in der Schweiz die Skepsis gegenüber der EU-Landwirtschaftspolitik weit verbreitet. Die Konsumentinnen und Konsumenten wurden deshalb als Bürgerinnen und Bürger angesprochen, die reflektieren und nicht bloß den ökonomischen Nutzen maximieren. In der offenen Gesprächsform der Fokusgruppen und in den semistrukturiert geführten Interviews wurde dem Betroffenenwissen ein eigener Raum gegeben, entgegen einem Vorurteil, das nur das wissenschaftliche Expertenwissen »richtiges« Wissen sei, während das Betroffenenwissen den wissenschaftlichen Rationalitäts­ standards nicht genügen könne. Ein »Defizitmodell« der Wissenschaftskommunikation geht davon aus, dass dem Publikum das eigentliche Wissen fehlt und die Technologie­konflikte auf den Wissensmangel der Laien zurückzu­ führen seien. Dieses Modell ist aber vorurteilsbelastet und gilt deshalb in den Science and Technology Studies als überholt.23 Es war Teil des Konzepts unserer Studie, dass Teilnehmende auch Schwerpunkte setzen und Sinnzusammenhänge schaffen können, die in den Medien nicht prominent vertreten werden. Die Interviews und Fokusgruppen bezogen deshalb konkrete, realistische Szenarien ein, die den meisten Teilnehmenden unbekannt waren und sie zu neuen Infragestellungen und Stellungnahmen anregen sollten: a) eine in den Chloroplasten rekombinante Tabakpflanze zur Gewinnung von pharmazeutischen Proteinen, die nur im Gewächshaus angebaut wird,24 b) einen Cisgen-Gala-Apfel, der durch gentechnische Einführung eines im (ungezüchteten) Wildtyp vorhandenen Resistenzgens gegen Apfelschorf erzeugt wurde,25 c) eine rekombinante Grünalge als Fischfutter in Fischzuchten, die einen für Menschen ungefährlichen Impfstoff für die Fische gegen haltungsbedingte bakterielle Krankheiten produziert, die sonst nur mit Antibiotika einzudämmen wären.26 Wir haben versucht, die Stichprobe der zehn Interviews so ausgewogen wie möglich zu gestalten. Es wurden fünf Frauen und sieben Männer (zwei davon Paare)  interviewt. Sie lebten teils mit oder ohne Familie, zwei lebten in einer Partnerschaft. Es wurden sowohl Gentechnikbefürworter als auch Kritiker 23 Matthew C. Nisbet, The Ethics of Framing Science, in: Brigitte Nerlich, Richard­ Elliott, Brendon Larson (Hrsg.), Communicating Biological Sciences. Aldershot 2009, 51–73. 24 Vgl. Gwendoline Rahim, Sylvain Bischof, Felix Kessler, Birgit Agne, In vivo interaction between atToc33 and atToc159 GTP-binding domains demonstrated in a plant split-ubiquitin system, in: Journal of Experimental Botany 60/1, 2009, 257–267. 25 Vgl. Thalia Vanblaere, Iris Szankowski, Jan Schaart, Henk Schouten, Henryk Flachowsky, Giovanni A. L. Broggini, Cesare Gessler, The development of a cisgenic apple plant, in: Journal of Biotechnology 154/4, 2011, 304–311. 26 Vgl. Laure Michelet, Linnka Lefebvre-Legendre, Sarah E. Burr, Jean-David Rochaix, Michel Goldschmidt-Clermont, Enhanced chloroplast transgene expression in a nuclear mutant of Chlamydomonas, in: Plant Biotechnology Journal 9, 2011, 565–574. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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ausgewählt. Das Alter der Interviewpartner variierte zwischen 26 und 62 Jahren (Durchschnitt: 38,6). Sechs Personen waren in der Stadt und sechs auf dem Land aufgewachsen oder wohnten noch immer dort (siehe Tabelle 1). Eine gewisse Verzerrung durch die Selbstselektion der Befragten war nicht zu vermeiden: Von 25 angefragten Personen waren 18 zu einem Interview bereit. Von den 18 wurden schließlich nur zwölf Personen interviewt, da sonst die Gruppe der Gentechnik ablehnenden Teilnehmer zu groß gewesen wäre. Denn die meisten Personen, die sich auf unsere Anfragen für ein Interview meldeten, betonten ihre Ablehnung von vornherein. Die Interviews dauerten zwischen 30 und 90 Minuten, die Gespräche in den Fokusgruppen zwischen 60 und 90 Minuten. Sie wurden jeweils auf Tonträger aufgenommen und vollständig transkribiert.27 Die Auswertung stützte sich auf Methoden der qualitativen Forschung28, besonders auf die interpretative phänomenologische Analyse von Johnathan Smith29. Für die Fokusgruppen wurde die Situationsanalyse nach Adele Clarke30 verwendet. Das Potenzial qualitativer Forschung besteht vor allem darin, unerwartete Aspekte zum Vorschein zu bringen. In der Auswertung der Interviews kristal­ lisierte sich eine Reihe von Themenbereichen heraus, die den Interviewten wichtig waren, aber vom Fragebogen nicht notwendig vorgegeben waren (sogenannte »emerging themes«). So dachten viele Teilnehmende darüber nach, was für sie natürlich ist und was nicht, warum sie ein natürliches Produkt einem unnatürlichen Produkt vorziehen würden etc. (Themenbereich: Natür­lichkeit/ Unnatürlichkeit). Im Kontext von Ernährung stand häufig der bewusste Umgang mit Nahrung im Mittelpunkt (Themenbereich: Ernährung als bewusste Handlung). Oft wurden Fragen der Gerechtigkeit angesprochen. Diese wurden insbesondere im politischen Zusammenhang diskutiert, z. B. im Kontext der Koexistenz von gentechnischer und gentechnikfreier Landwirtschaft, oder im Zusammenhang von Fragen des Patentrechts (Themenbereich: Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit). Die Aspekte Unsicherheit und Risiken im Umgang mit der Technik wurden erwähnt. Häufig stand dabei die Frage im Raum, wie mit einer Technik, deren Folgen so ungewiss sind, umgegangen werden soll (Themenbereich: Unsicherheit/Nichtwissen). Bei der Beurteilung, ob eine GMP 27 Alle Interviews wurden auf Schweizerdeutsch geführt. Für die Transkripte wurden sie ins Schriftdeutsche übersetzt. Um den Sprachgebrauch nicht zu sehr zu verfälschen, wurde teilweise Wortwahl und Satzstellung des Schweizerdeutschen beibehalten. 28 Vgl. Glaser, Strauss, Discovery. Charmaz, Constructing. 29 Vgl. Jonathan A. Smith, Interpretative phenomenological analysis, in: Jonathan A. Smith (Hrsg.), Qualitative Psychology. London 2003. Jonathan A. Smith, Paul Flowers, Michael Larkin, Interpretative phenomenological analysis: Theory, method and research. London 2009. 30 Vgl. Adele Clarke, Situational analysis: Grounded theory after the postmodern turn. London 2005. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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überhaupt eingesetzt werden soll, stand die Frage nach ihrer Nützlichkeit im Zentrum und wie sich Nützlichkeit konzeptualisieren lässt (Themenbereich: Nützlichkeit der Technik). Es war insgesamt überraschend, wie differenziert sich die Teilnehmenden zur Gentechnik äußerten. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie auf den Themenbereich Ernährung als bewusste Handlung fokussiert. Es war auffällig, dass die Teil­ nehmenden insgesamt deutlich häufiger von »Essen« gesprochen haben als von »Ernährung«. Diese beiden Begriffe haben unterschiedliche Bedeutungskontexte: Menschen tendieren dazu, mit dem Begriff Essen in erster Linie emotionale Erlebnisse zu beschreiben, während sie mit Ernährung eher kognitiv orientierte Inhalte, respektive ernährungswissenschaftliche Zusammenhänge erläutern.31 Die Befragten ordneten die Gentechnik nicht im Kontext der Ernährungswissenschaften ein, sondern in einen praktischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang.32 Hierdurch eröffnen sich zwei Aspekte, die wir im folgenden anhand verschiedener Interviewaussagen näher ausführen wollen: die kulturellen Aspekte des Essens und die konkreten Vorstellungen, die Menschen von der Herkunft ihrer Nahrungsmittel haben. Die Darstellung erfolgt anhand verschiedener Fallszenarien.

1.1 Der Apfel, ein heikles Thema Um zu fragen, ob und wann die Teilnehmenden ein genetisch verändertes Nahrungsmittel kaufen würden, benutzen wir den symbolträchtigen Apfel. Spielt die Vorstellung eines technischen Eingriffes eine Rolle? Sonja äußerte sich dazu so: »Wenn ich mir jetzt diesen Apfel vorstelle, dann frage ich mich, was ist realistisch und was nicht? Ich sehe dann irgendwelche Pipetten und weiss nicht was …(Sprechpause) und irgendwo hat es für mich etwas Unnatürliches und ist weit weg vom Produkt, in welches ich im Moment eigentlich hinein beißen möchte.«33

Sonja beschreibt eine künstliche, laborhafte Umgebung (»Pipetten«). Dadurch erhält dieser Apfel für sie etwas Unnatürliches. Mit Gentechnik assoziiert sie eine Laborsituation, die auf sie unnatürlich wirkt und ihr wortwörtlich den Appetit verdirbt. Interessant ist, dass sich diese Einstellung schon durch einen Verarbeitungsschritt verändern kann, wie dies von Rolf zu hören war: 31 Vgl. Joachim Westenhöfer, Volker Pudel, Einstellungen der Deutschen Bevölkerung zum Essen, in: Ernährungsumschau 37, 1990, 311–316. 32 Vgl. Hans Harbers, Annemarie Mol, Alice Stollmeyer, Food Matters: Arguments for an Ethnography of Daily Care, in: Theory, Culture & Society 19/5–6, 2002. 33 Interview 3, Seite 7, Zeile 21.  © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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»Ich hätte jetzt zum Beispiel weniger Probleme, wenn es irgendwie Apfelmus wäre oder irgendwie Apfel enthält. Aber gerade der Apfel ist für mich ein besonderes Symbol von gesunder Ernährung, bei dem ich eigentlich den Eingriff nicht wirklich befürworte.«34

Durch die Verarbeitung zu Apfelmus ändert sich für Rolf die Bewertungssituation. So ist der Apfel nicht mehr ein Frischprodukt und erscheint in veränderter Form. Er wird zu einem Bestandteil eines Produkts, dessen Form künstlich ist. Das Beispiel des Apfelmus ist vielleicht besonders interessant, weil Apfelmus zum Traditionsgut und Heimatgefühl gehört und in vielen Schweizer Küchen selbst hergestellt wird. Es ist gerade kein Symbol für industrielle Verarbeitung. Offenbar genügte schon das einfache Rüsten und Einkochen, um die Vorstellung des gesunden und naturnahen Apfels in den Hintergrund zu drängen.

1.2 Regenbogenforellen müssen schwimmen können Eine wichtige Rolle für die Bewertung spielten die Entstehungsbedingungen eines landwirtschaftlichen Produktes. Es war interessant festzustellen, dass gentechnisch veränderte Organismen kaum als Lösung für Probleme akzeptiert werden, die von den Produktionsbedingungen verursacht werden. Die Einschätzung von Tanja hinsichtlich der impfstoffproduzierenden Algen: »Bei den Fischen, also da habe ich ein Problem, dass ich grundsätzlich einfach nicht akzeptiere, dass die Fische so eng aufeinander leben müssen. Also was auch immer an Produktionsargumenten angegeben wird, wenn ein Fisch nicht so gehalten werden kann, dass er von sich aus auch gesund bleibt, dann soll man es bleiben lassen.«35

Für die meisten Interviewpartner war bei diesem Beispiel der Ansatz grundsätzlich falsch gewählt, da sie die Bedingungen der Fischzucht als das eigentliche Problem wahrnahmen. Dennoch wurde diese Anwendung auch differenziert betrachtet, nicht einfach nur pauschal abgelehnt. Bedenken wurden im Zusammenhang mit der Anwendung und deren Interaktionen mit der Umwelt geäußert: »Also ich habe irgendwie das Gefühl, was auf der Oberfläche, auf der Erde passiert, das kann man vielleicht noch kontrollieren. Aber was dann im Meer abgeht, das ist dann nicht mehr so einfach oder praktisch unmöglich, einen solchen negativen Effekt wieder rückgängig zu machen.«36

34 Interview 10, Seite 10, Zeile 32. 35 Interview 2, Seite 8, Zeile 13. 36 Interview 6, Seite 5, Zeile 29. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Arnold bewertete die Risiken einer Fischzucht auf dem Land und im Meer unterschiedlich. Beide Zitate führen aus, welche Gedanken sich Tanja und Arnold machen, um ein differenziertes Bild über das Produkt zu erhalten. Dies ist insofern interessant, als dass sie sich nicht bloß über die Nützlichkeit der Impfung nachdachten, sondern einen Schritt weiter gingen und nach den Ursachen fragten, warum diese Maßnahme der Impfung überhaupt benötigt wird.

1.3 Eine Tabakpflanze für die Medizin Ein moralisches Dilemma, also eine Situation, deren Lösung moralisch nicht eindeutig ist, zeigt sich noch deutlicher am Beispiel der pharmazeutischen Tabakpflanze. Hier spielt das Fürsorgeprinzip eine Rolle: »Ich denke, das ist für mich ein Kernkonflikt der ganzen Gentechnologie …(Sprechpause). In der Medizin, die für Leute eine Überlebensmöglichkeit bietet, und trotzdem eine Methode dahinter steht, welche ich sehr negativ empfinde […].«37

Für Sonja entsteht hier ein Konflikt. Während Nahrung nur sie selbst betrifft, betrifft die Bewertung von medizinischen Verfahren andere Menschen, denen ein Medikament helfen, sogar ihr Leben retten könnte. Dabei ist sich Sonja ihres ambivalenten Verhaltens durchaus bewusst und betont, dass die für das Interview gewählten Beispiele einerseits hypothetisch sind und dass andererseits ein solches Medikament eine ganz andere Bedeutung erhalten würde, wenn damit einer ihr nahestehenden Person geholfen werden könnte: »Wenn ich jetzt einen Partner habe, der HIV-positiv ist, und eine Behandlung hätte, die so etwas beinhalten würde, dann glaube ich, dass meine Entscheidung ganz anders ausfallen würde, als wenn es nur eine hypothethische Frage ist […].«38

In den meisten Interviews wurde die Tabakpflanze positiv bewertet. Zudem haben es die Befragten als sehr begrüßenswert beschrieben, dass sich die Wissenschaftler schon im Vorfeld der Studie Gedanken zur Risikominimierung gemacht haben.39 »Ich finde das erste Beispiel mit der Tabakpflanze noch gut überlegt, weil es wurden verschiedene Faktoren beachtet.«40 37 Interview 3, Seite 5, Zeile 22. 38 Interview 3, Seite 10, Zeile 7. 39 In diesem Zusammenhang konnten wir in unserer Stichprobe die Aussage von C. Marris u. a. (Marris, Wynne, Simmons, Weldon, Perceptions) nicht bestätigen, dass genetisch veränderte Pflanzen für medizinische Zwecke nicht besser akzeptiert würden, als diejenigen, die für die Nahrungsmittelproduktion verwendet werden sollen. 40 Interview 7, Seite 5, Zeile 9. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Mit diesen Faktoren waren Punkte wie die Gewächshauskultur, der Nutzen für die Menschen und nicht nur für die Industrie gemeint. Noch eindeutiger formulierte dies Arnold: »Da hätte ich wirklich keine Mühe damit, wenn das aus gentechnisch manipulierten Pflanzen käme. Weil, was wir da schlucken, kommt sowieso alles aus Labors und wurde industriell, ob jetzt moralisch vertretbar oder nicht, hergestellt.«41

Arnold bewertete den Einsatz der GMP im medizinischen Bereich nicht negativ. Auffällig ist aber, dass auch für ihn der Produktionsweg und die eigene Vorstellung von den Produktionsbedingungen eine Rolle spielen, indem er die Frage nach der moralischen Vertretbarkeit in diesem Fall bewusst ausklammerte.

1.4 Die kulturellen Aspekte des Essens Essen spielt im sozialen Leben im Alltag eine zentrale Rolle. Beim gemeinsamen Essen trifft man sich mit Freunden oder der Familie. Man tauscht sich nicht nur im Gespräch aus, sondern erlebt etwas Gemeinsames und teilt die Speisen. Das Essen beinhaltet eine leibliche, sinnliche und soziale Erfahrung. Das Essen ist nicht nur lebensnotwendige Nahrungsmittelzufuhr, sondern eine sinnhafte Praxis, die existenziell wichtig und Ausdruck einer Lebensform ist.42 Deshalb ist es für Menschen, die die Speisen zu sich nehmen, wichtig, wie diese hergestellt werden. Cornelia zum Beispiel sagte es so: »Nahrungsmittel sind aus meiner Sicht oberste Priorität. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Nahrungsmittel, das Mittel zum Nähren, respektive Lebensmittel, das Mittel zum Leben. […] Das ist das, was mich gesund [er]hält und was mich am Laufen hält und da bin ich egoistisch genug, [um] zu sagen: Das ist mir absolut überwichtig, dass das stimmt.«43

Mit diese Aussage erklärt Cornelia ihren Bezug zu Lebensmitteln. Nahrungsmittel sind nicht nur Nährstoffe, die der Körper braucht, sondern »Mittel zum Nähren« und »Mittel zum Leben«. Die Nahrungsmittel erhalten sie als gesunden Menschen »am Laufen«. Und dieses Laufen ist ihr Leben. Aus zwei Gründen hat dies für sie höchste Priorität. Erstens: Lebensmittel haben eine eigene, besondere Form von Instrumentalität, die sie von anderen Mitteln wie Heilmitteln, Transportmitteln oder elektronischen Geräten unterscheidet. Sie dienen nicht bestimmten Zielen, die sich im Leben stellen und auch anders gewählt 41 Interview 6, Seite 4, Zeile 18. 42 Vgl. Harald Lemke, Die Weisheit des Essens: Gastrosophische Feldforschungen. München 2008. 43 Interview 4, Seite 21, Zeile 6. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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werden könnten (man könnte anders leben und auf diese Transportmittel nicht angewiesen sein; man könnte andere Gewohnheiten haben und diese elektronischen Geräte nicht brauchen), sondern der Zweck ist das Leben selbst, ohne das es überhaupt keine Ziele geben könnte, die sich im Leben stellen. Dieses Leben will gut und gesund gelebt sein; Nahrungsmittel haben darauf einen Einfluss. Zweitens: Cornelia bezieht sich in ihrer Aussage über die Wichtigkeit der Nahrungsmittel auf sich selbst. Es ist »ihr« wichtig, die richtigen Nahrungsmittel zu wählen, weil es dabei um sie selbst geht. Dass dieser Selbstbezug eine moralische Seite hat (man kann gut für sich selbst sorgen oder schlecht), drückt sie mit den Worten »egoistisch genug« aus. Auch Sonja äußert sich dazu: »Ich denke, mir ist es wichtig, einen Bezug zu dem zu haben, von dem ich tagtäglich lebe.«44 In dem Ausdruck »einen Bezug haben« steckt nicht nur die instrumentelle Beziehung zu den Lebensmitteln, also dass man sie braucht und zu sich nimmt, sondern es wird hervorgehoben, dass es um eine reflektive Meta-Beziehung geht. »Ich habe einen Bezug dazu« wird nur dann verwendet, wenn man sich bewusst zu dem verhält, was man tut. Sonja sagte, sie finde es persönlich wichtig, dass sie sich bewusst zu dem verhalte, von dem sie tagtäglich lebt. Es geht nicht nur um ihren Körper, sondern um sie selbst als Person – sie selbst ist es, die lebt. Lebensmittel haben somit mit Identität zu tun, mit einer persönlichen Identifikation, mit einer bestimmten Lebensweise, mit einer Übereinstimmung zu einer Praxis, welche sie mit Lebensmitteln und mit Anderem verbindet: das Andere gesehen als die anderen Menschen, mit denen man die Praxis teilt oder mit denen man zusammen isst. Und das Andere gesehen als die Natur, mit der sich im Essen eine leibliche Beziehung manifestiert. Die Teilnehmenden an dieser Praxis möchten deshalb verstehen, wie die Nahrungsmittel entstanden sind, wie und wo sie produziert und auf welchen Wegen sie transportiert wurden. So gewendet wird es auch verständlicher, weshalb die Frage nach der Natürlichkeit eine Rolle spielt. Natürlichkeit ist aber vieldeutig und muss erklärt werden. Natürlichkeit beschrieb Samuel so: »Natürlich ist alles, was ich aus meiner Jugend und Sozialisation gelernt habe. Das ist also für mich sehr kontextgebunden.«45

Was jeder Einzelne als natürlich empfindet, bleibt demnach abhängig davon, was jemand in der Jugend gelernt hat und wie er oder sie sozialisiert ist. Das ist keine dogmatische Aussage darüber, was »natürlich« sei und was »unnatürlich«, sondern eine offene Erklärung, die aber hervorhebt, dass Erziehung, Jugend und Herkunft identitätsstiftende Bedeutung haben, deren Inhalte sich in dem Wort 44 Interview 3, Seite 13, Zeile 25. 45 Interview 8, Seite 6, Zeile 34. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Legend of Bt-toxin

Moratorium

Foreground issues

Background issues

Abb. 1: Situationelle Analyse der Fokusgruppe 1.

»natürlich« bündeln. In diesem Sinne kann man auch die Aussage von Simon verstehen. Für ihn ist der »gesunde Menschenverstand« die Instanz, an welcher er unklare Dinge misst. »[…] man kann immer auch gesunden Menschenverstand anwenden, das geht immer auch, wenn du nicht drauf kommst, um was es geht. Du musst dich immer fragen: Ist das jetzt nötig? Und bei den Forellen und bei den Äpfeln wäre es jetzt meiner Meinung nach nicht wirklich [nötig].«46

Dieses Zitat von Simon beschreibt, wie er sich, im Sinne der für ihn gültigen Inhalte des gesunden Menschenverstandes, überlegt, welche GMP er akzeptabel findet, selbst wenn ihm bewusst ist, nicht alle technischen Details zu verstehen. Simon orientiert sich daran, ob etwas nötig ist oder nicht, weil es dabei nicht um komplizierte naturwissenschaftliche Untersuchungen geht. Er entscheidet, welchen Nutzen ihm ein Cisgen-Apfel oder die den Fisch schützende Alge bringen. Erkennt er darin keinen Nutzen, sieht er auch keine Notwendigkeit in ihrer Herstellung. Für ihn sind somit diese GMP fragwürdig bzw. nicht notwendig.

46 Interview 7, Seite 14, Zeile 18. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Neben persönlichen Wertbildern wurden auch gesellschaftliche Werte beschrieben: »Das Daueressen zum Beispiel. Mahlzeiten nicht mehr einhalten, dass man meint, man müsse dauernd essen. Ist jetzt ein Beispiel. Da leidet auch das Gesellschaftliche, Soziale ein bisschen darunter. Weil eigentlich sollte man Mahlzeiten als Ritual und als gesellschaftliches Zusammenkommen noch erleben können.«47

Wenn Anna Mahlzeiten als ein zeitgebundenes Ritual beschreibt, ist dies eine deutliche gesellschaftlich-kulturelle Kontextualisierung. Das Essen wird dadurch in einer historischen Praxis kontextualisiert, die sich aus Sitten und Gebräuchen entwickelt hat. Betrachtet man die Gentechnik-Debatte aus dieser Perspektive, könnte die Ablehnung gegenüber gentechnisch veränderten Lebensmitteln die Bedeutung haben, das Essen als sozial strukturierte Zeit im Kontext der Ökonomisierung zu verteidigen. Deshalb sind Nahrungsmittel nicht bloß Energie liefernde Stoffe, wie man sie sich mit Power-Riegeln und functional food (funktionale Lebensmittel) grundsätzlich jederzeit verabreichen kann, sondern Mittel, einer kulturell und gesellschaftlich als sinnvoll erlebten Lebenspraxis.

1.5 Governance Die Analyse der Fokusgruppe 1 zeigte, dass die Teilnehmenden GMP spontan als Situation interpretierten, in der es auf politische Entscheidungsfindung ankam. Entscheidungen wurden auf mehreren Ebenen betrachtet: Erstens auf der Ebene der grundsätzlichen Zulässigkeit, der gesellschaftlichen Akzeptanz und der individuellen Entscheidungen hinsichtlich Kauf und Konsum. Zweitens in der Sphäre allgemeiner transnationaler oder weltpolitischer Szenarien wie Globalisierung oder Welthunger. Und drittens, speziell in Verbindung mit Entscheidungsprozessen, in Bezug auf das Schweizer Moratorium. Die Teilnehmenden entwarfen dabei ein Bild der Situation und ihrer wesentlichen Elemente. Abb. 1 stellt die Analyse der Situationskonstruktion in Fokusgruppe 1 dar. Vordergründig wahrgenommene Aspekte waren der medizinische Nutzen, das Vermischen von Spezies, die Betroffenheit von Konzeptionen des »Lebens selbst« durch Agrarsysteme, der Nutzen (mehr Ertrag, weniger Arbeit, mehr Profit). Als Hintergrundthemen tauchten auf: die Ernährungskrise, die ökologische Krise, mächtige multinationale Konzerne mit ihren Lobbys (wie Monsanto), die Geschichte des Bt-Toxins, Vorstellungen von Super-Unkräutern, die Geschichte eines Bauern in Kanada, der ungerecht behandelt wurde, die Legende der Grünen Revolution, die Geschichte des Wissensfortschritts. 47 Interview 9, Seite 8, Zeile 6. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Mehrere Beobachtungen mit Bezug auf Governance drängen sich auf: Erstens entscheiden Menschen nicht über GMP als solche, sondern darüber, was sie glauben, dass GMP sind. Das Bild der GMP ist hochgradig kontextuell und inkorporiert, wie das Beispiel in Abb. 1 zeigt, historische Erfahrungen und Narrative unterschiedlicher Art. Es ergibt sich damit nicht das Bild der GMP, das Wissenschaftler in ihren öffentlichen Stellungnahmen entwerfen. Das wissenschaftliche Bild scheint zwar ebenfalls gelegentlich auf, wird aber jeweils integriert in eine kontextuelle Wahrnehmung einer sozio-technologischen Entwicklung. Zweitens waren sowohl die Teilnehmenden in den Fokusgruppen als auch die Interviewpartner gegenüber den Unterschieden zwischen den verschiedenen diskutierten Fällen sensitiv. Sie konnten unterscheiden zwischen fall­bezogenen Fragen und allgemeinen Problemen. Das größte Gewicht lag in den Diskussionen zwar auf den allgemeinen, grundsätzlichen Fragen. Dennoch wurde immer wieder auf die vorgegebenen Fälle Bezug genommen, um das allgemeine Bild der GMP-bezogenen Problematik zu bereichern. Drittens war es interessant festzustellen, dass nicht nur verschiedene Arten von Wissen, sondern auch das Nichtwissen als relevant eingestuft wurde.48 Einige der Aussagen über das Nichtwissen können korreliert werden mit den drei Dimensionen der Bedeutung von Nichtwissen, wie sie Stefan Böschen herausgearbeitet hat: »Wissen (oder Bewusstsein) über das Nicht-Wissen«, »Absichtlichkeit des Nicht-Wissens«, »temporäre Stabilität (oder Reduzierbarkeit) des Nicht-Wissens«.49 Das Nichtwissen spielt in den Entscheidungsprozessen im Rahmen von Governance ebenso eine Rolle wie Wissen. Verschiedene Menschen reagieren unterschiedlich auf Nichtwissen, wie sie auch das Wissen in unterschiedliche Sinnkontexte integrieren. Ausgehend von den empirischen Beobachtungen ergibt sich ein differenzierteres Bild der möglichen Gründe für die allgemeine Skepsis gegenüber GMP. Es geht nicht nur um Sicherheitsfragen, allgemeine Technikfeindlichkeit oder um romantische Naturvorstellungen, sondern um die identitätsrelevante Praxis des Essens und um differenzierte Sinnfragen, die sich mit der Legitimität bestimmter Regulierungen und Entscheidungsverfahren in Bezug auf GMP verbinden. Diesen beiden Themen wenden wir uns nun etwas systematischer zu, um Fragen zu identifizieren, die sich in einer ethischen Perspektive stellen.

48 In Fokusgruppe 1 wird der Begriff neun Mal verwendet und in Interview I sechs Mal. 49 Stefan Böschen, Karen Kastenhofer, Luitgard Marschall, Ina Rust, Jens Soentgen, P ­ eter Wehling, Scientific Cultures of Non-Knowledge in the Controversy over Genetically Modified Organisms (GMO): The Cases of Molecular Biology and Ecology, in: GAIA 15/4, 2006, 297. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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2. Essen als kulturelle Praxis Was man wie und mit wem isst, ist ein Stellungnahme. Es drückt aus, als welche Art von Mensch wir uns gegenüber der Welt definieren. In der Frage, »was« man isst, liegt auch die Frage der Herkunft, der Herstellungsmethoden und der konkreten Umstände der Produktion. Harald Lemke formulierte diese Zusammenhänge so, dass das Essen eine Beziehung zwischen uns und der Welt herstellt, in der wir uns situieren: »Wie aber essen wir die Welt und unser Selbst als Essende? Auf welche Art und Weise leben wir die vielfältigen Selbst- und Weltbezüge unserer Ess-existenz?«.50 Wir sind selbst in das Essen involviert, das wir ausüben; es ist keine abtrennbare Praxis, die uns nur instrumentell zugeordnet wäre. Die Ernährung der Menschen wird als humane Aktivität nur dann vollständig wahrgenommen, wenn sie im Zusammenhang der sozialen Beziehungen dargestellt und analysiert wird, in denen sie sich vollzieht. Menschen, die essen, wollen als Subjekte ernst genommen werden, die sich im Essen als Personen sowohl ästhetisch als auch moralisch verhalten. Das bedeutet, platt gesagt: Essen ist nicht Gefüttert-Werden. Menschen, die Nahrung suchen, kaufen, zubereiten, teilen und zu sich nehmen, stehen in einer moralischen Beziehung zu den­ jenigen, die für die Produktion Verantwortung tragen. Dies führt zu einer erweiterten Problemdefinition für die Biotechnologie in der Landwirtschaft. Denn es geht nicht nur um Nahrungsmittelsicherheit, also um mögliche gesundheitsschädliche Effekte gentechnisch veränderter Sorten. Es geht auch nicht nur um Ernährungssicherheit, also um die Sicherstellung einer ausreichenden Produktion für die wachsenden Weltmärkte. Das bleiben weiterhin wichtige Anliegen. Es geht aber ganz wesentlich auch darum, die Sinnzusammenhänge ernst zu nehmen, die sich mit der Einführung bestimmter Techniken verändern. Wenn das Essen ein sinnhafter, leiblicher Akt ist, ist es wichtig, über die erweiterte Tischgemeinschaft zu diskutieren, die mit dem Essen eines bestimmten Essens entsteht und in der sich vieles entscheidet. Luzia Sutter Rehmann51 hat in einer Analyse der biblischen Geschichte von Judit und Holofernes herausgearbeitet, wie entscheidend die Tischgemeinschaft sein kann. Truppen von Holofernes belagerten die kleine Stadt Betulia. Die Kriegsheere aßen die Ernte weg, »wie die Heuschrecken« (Judit 2, 20), Felder wurden abgeräumt, die Herden vernichtet, Häuser geplündert. Schließlich wurde Betulia auch das Wasser abgegraben. Hunger und Durst breiteten 50 Harald Lemke, Die Kunst des Essens: Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks. Bielefeld 2007, 12. 51 Vgl. Luzia Sutter Rehmann, Abgelehnte Tischgemeinschaft in Tobit, Daniel, Ester, Judit. Ein Plädoyer für Differenzierung, in: Lectio Difficilior. European Electronic Journal for Feminist Exegesis, 2008. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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sich in der Stadt aus. Kinder verschmachteten, Frauen und Männer wurden vor Durst ohnmächtig. Da ließ sich die schöne Frau Judit zu Holofernes in sein Feld­ herrenzelt einladen. Diese Einladung wird in der Erzählung zur Schlüsselszene des Befreiungskampfes. Das reichhaltige Essen des Holofernes, das ihm selbstverständlich zur Verfügung stand, kontrastiert den Hunger der Bevölkerung Betulias. Holofernes ordnete an, dass Judit von seinen Köstlichkeiten vorgesetzt und von seinem Wein zu trinken gegeben werde. Judit aber sagte: »Ich werde nichts davon essen, dass es ja nicht zur Falle werde.« (12, 1–2) Sie nahm Proviant mit: eine Flasche mit Wein, einen Krug mit Öl, einen Sack mit geröstetem Korn, Feigenkuchen und kultfähiges Brot (10, 5). Dies aß sie am Tisch von Holofernes und machte damit ihren Standpunkt klar: Sie wollte sich nicht auf die Versuchungen einlassen und sie distanzierte sich gleichzeitig in der Annäherung. Sie nahm das Essen aus der Stadt mit und blieb damit in Verbindung mit den Belagerten. Es ging ihr offensichtlich dabei nicht nur um die Einhaltung der jüdischen Reinheitsgebote. Sie blieb durch ihre Aktion des kargen Essens mit ihren Leuten solidarisch. Wie die Geschichte dann weiterging, ist bekannt: Judit wartete bis Holofernes betrunken war und gab ihm Gelegenheit, sie sexuell erobern zu wollen. Sie aber überwältigte ihn und schnitt ihm den Kopf ab. Dieser Mord am feindlichen Feldherrn als Akt der letzten Notwehr führte zur Befreiung Betulias. Die Geschichte zeigt exemplarisch, wie Essen in Sinnbezügen stehen kann. Es war von Bedeutung, was Judit aß und woher dieses Essen kam. Und es kam darauf an, dass sie ihr mitgebrachtes / eigenes Essen am Tisch des Holofernes aß – und nicht das Essen, das er ihr vorsetzen ließ. Die Mahlzeit hatte eine Funktion in ihrem Handlungsplan, der aus Verzweiflung geboren war. Die Praxis des Essens war sozial vernetzt: die eigenen Leute, die am Verhungern und Verdursten waren, die Einladung zum Feind Holofernes, die heldenhafte Tat, mit der es Judit gelang, die tödliche Belagerung zu durchbrechen. Die Praxis des Essens war auch ökologisch vernetzt: Die Belagerer hatten die Felder abgeräumt, die Herden vernichtet und den Wasserzufluss gestoppt, damit die Bevölkerung ausgehungert werde. Dies war ökologische Kriegsführung. Wenn diese Sinnzusammenhänge, die sich im Essen als soziales Phänomen zeigen, wahrgenommen werden, wird deutlich, dass die Landwirtschaft nicht nur eine Technik zur Erzeugung von Nahrungsmitteln ist. Mit der Unterstellung, Landwirtschaft sei eine Ernährungstechnik, wäre nämlich nicht nur eine Instrumentalisierung der Praxis der Landwirtschaft vorgenommen, sondern auch eine Instrumentalisierung der Praxis des Essens. Damit würde das Essen als leiblich-sinnhafter Akt übersehen. Genau dies wird ausgeblendet, wenn es heute im Rahmen von Zulassungsverfahren um die sogenannte Produkt-Äquivalenz geht. Wie auch die Sprache nicht nur ein Mittel zur Informationsübertragung ist, sondern Gemeinschaft, Kommunikation und Sinn schafft, ist das Essen auch nicht nur Ernährung mit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Nahrungsmitteln, die sich durch Inhaltsstoffe definieren lassen. Wenn wir Essen kaufen, zubereiten, teilen und zu uns nehmen, sind wir nie mit uns selbst allein. Auch wenn wir alleine essen, stehen wir durch das Essen in einer Beziehung zu Produzenten, Händlern, zur Nahrungsmittelindustrie usw., mit allen, die an der Produzenten-Konsumenten-Beziehung teilnehmen: »Sharing a meal is in no way trivial.«52 Die erweiterte Tischgemeinschaft umfasst eine Handlungsgemeinschaft, die entsteht, wenn wir bestimmte Agrarprodukte auf den Tisch bringen. Sie beinhaltet mächtige und weniger mächtige Menschen, arme und reiche, aber auch Institutionen, Regeln, Abmachungen, Zölle, Handelsbeschränkungen, Subventionen etc. Um diese geht es im Konflikt um Nahrung und auch im Konflikt um die Biotechnologisierung der Landwirtschaft. Unsere These ist deshalb, dass es im Streit um Grüne Gentechnik nicht um die Akzeptanz oder die Ablehnung einer als illegitim empfundenen Techno­logie geht, wie oft behauptet wird.53 Die Grüne Gentechnik ist genauso symbolbeladen wie das Objekt ihrer Eingriffe, die DNA. Es geht um den Widerstand gegen Missstände und Unrecht, die in der Agroindustrie beobachtet werden. Die Gentechnik wird als der letzte Industrialisierungsschub gesehen, als Instrument zur ökonomischen Bemächtigung der Landwirtschaft durch die Groß­industrie, welche die Patente auf die gentechnisch veränderten Organismen besitzt. Es werden darin strukturelle Ungerechtigkeiten wahrgenommen oder vermutet, die sich in der kritischen Haltung zu dieser besonderen neuen Technologieform äußern, deswegen, weil sich hier eine Möglichkeit des Unterscheidens bietet.54 Unsere Vermutung ist, dass es vielen Menschen in ihrer Skepsis gegenüber der Grünen Gentechnik nicht darum geht, eine romantische Vorstellung einer heilen, bäuerlichen Kultur kontrafaktisch aufrechtzuerhalten, sondern dass es ihnen um eine Ethik der erweiterten Tischgemeinschaft geht. Diese beinhaltet moralische Integrität und Identität (gegenüber anderen Menschen und der Natur, auch gegenüber den zukünftigen Generationen), Autonomie (als Unab­ hängigkeit von den Diktaten des Agrobusiness), Protest (gegen empfundenes Unrecht und Gefährdung durch eine industriell zum Zweck der Profitmaximierung vereinnahmte Technologie) und Selbstsorge (für eine sinnvolle und gesunde Mahlzeit). Wir möchten damit an dieser Stelle nicht für oder gegen bestimmte Biotechnologien Stellung nehmen, sondern unser Argument, das wir auf der qualitativen Studie und der phänomenologischen Analyse aufbauen, richtet sich auf die Produzenten-Konsumenten-Beziehung. Eine Ethik der erweiterten Tischgemeinschaft wäre der Versuch aller Beteiligten – von der Landwirtschaft über 52 »Ein Mahl zu teilen ist auf keine Art und Weise trivial.«  – Sutter Rehmann, Tischgemeinschaft. 53 Ernst-Ludwig Winnacker, Verwirrspiel auf dem Acker, in: Die Zeit 46, 10.11.2011, 41. 54 Vgl. Iris Marion Young, Responsibility for Justice. New York 2011. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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die Lebensmittelherstellung bis hin zu den Konsumenten – die Anderen als Personen und Subjekte ernst zu nehmen.55

3. Anforderungen für eine Gentechnologie-Governance der zweiten Generation Wenn wir den heutigen Problemkontext der Landwirtschaft betrachten, gibt es Grund, den »genetischen Exzeptionalismus«56 hinter sich zu lassen. Damit ist die Auffassung gemeint, dass gentechnische Eingriffe von vorneherein anders zu bewerten sind als andere Manipulationen, weil sie eben die Gene verändern. Es ist aber nicht die Zuchtmethode selbst, die Grund zur Sorge bereitet, sondern die Möglichkeiten und die systemischen Implikationen, die mit ihr verbunden sind. Und diese betreffen auch andere, nicht-gentechnologische Formen der heutigen Landwirtschaft. Es stehen die konkreten Ziele zur Debatte, die durch die Technologie verfolgt werden, welche weitgehend industrie- und nicht konsumentenorientiert sind. Der AquaBounty Lachs, der in den USA vor der Zulassung steht, ist ein Beispiel dafür:57 Der Fisch wächst sechs Mal so schnell wie ein unveränderter Fisch. D. h. er ist dazu fähig, seine Nahrung sechs Mal so schnell in Fleisch umzuwandeln. Der Fisch wird nicht als ein Lebewesen mit einem eigenen, intrinsischen Lebensrecht betrachtet, sondern als eine Produktionsanlage für Fischfleisch, die entsprechend auf Effizienz optimiert wird. Das Fleisch ist gemäß seiner Züchter dennoch identisch mit dem des traditionellen Lachs, mit Ausnahme des Transgens. Es sei damit produkt-äquivalent; die Produktion, solange sie in geschlossenen Becken stattfindet, sei umweltneutral.58 Lachsfleisch könnte mit dieser Produktionsmethode  – so die Theorie  – erheblich billiger werden. Wenn diese Produzenten ihre Produkte auf den Markt bringen, werden sie – die Akzeptanz der Kunden vorausgesetzt – den Markt zu ihren Gunsten verändern. Dies ist ein typisches Beispiel für die Technologieselektion durch den freien Markt. Das einzige Konsumenteninteresse, das in dieser Gleichung vorkommt, ist der günstige Preis. 55 Diese ethische Haltung orientiert sich an der Formulierung Ricoeurs »Wunsch nach einem gelungenen Leben – mit und für die Anderen – in gerechten Institutionen.« Paul Ricoeur, Vom Text zur Person. Hamburg 2005, 229. 56 Dagmar Schmitz, Wider den genetischen Exzeptionalismus, in: Ethik in der Medizin 17, 2005, 316–321. 57 Vgl. David B. Resnik, Environmental Health Ethics. Cambridge 2012. Zum aktuellen Status der Zulassung siehe: www.aquabounty.com oder http://www.fda.gov/AnimalVeterinary /DevelopmentApprovalProcess/default.htm (zuletzt aufgerufen am 4.8.2013). 58 Vgl. Alison L. Van Eenennaam, William M. Muir, Transgenic salmon: a final leap to the grocery shelf?, in: Nature Biotechnology 29/8, 2011, 706–710. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Einige Interviewteilnehmer haben in ihren Reaktionen auf die vorgestellten Szenarien den Aspekt der Notwendigkeit ins Spiel gebracht. Wenn etwas nur produziert wird, um bestimmte Interessen der Industrie zu verfolgen, ist dies für sie in einem anderen Sinn notwendig, als wenn es darum ginge, ein als sinnvoll eingeschätztes Produkt herzustellen, das man ohne Gentechnik nicht herstellen könnte. Diese Interpretation von Notwendigkeit ließe sich vielleicht so erweitern, dass auch Pflanzensorten als notwendig angesehen und akzeptiert werden könnten, die mit weniger Bewässerung auskommen, weniger Düngemittel und Pestizide brauchen oder Ähnliches. Aber sie sollen nicht nur Probleme der Industrialisierung in der Landwirtschaft lösen, die aus einer bestimmten, selbst schon problematischen Produktionsweise entstehen, oder industriellen Akteuren Marktvorteile verschaffen. Man könnte diesen Appell an die Notwendigkeit auch so lesen, dass hiermit gefordert wird, die Technologie solle helfen, reale Probleme zu lösen, nicht aber innerhalb eines selbst als fragwürdig wahrgenommenen Systems eine Nische, einen Markt zu suchen. Denn dies verschafft bloß für Einzelne wirtschaftliche Vorteile. Für die Konzeption von gesellschaftlicher Steuerung (Governance)  ist es wichtig, die richtige Ebene zu finden, auf der die Debatten um Fairness und Legitimität geführt werden sollen.59 Wenn man von der Praxis des Essens her denkt, steht die erweiterte Tischgemeinschaft im Vordergrund, die sich vor allem in der Produzenten-Konsumenten-Beziehung manifestiert. Es gehört zur Aufgabe guter Governance der Biotechnologie in der Landwirtschaft, Fairness, Transparenz und Legitimität in der Produzenten-Konsumenten-Beziehung herzustellen. Dazu gehören die Aspekte der sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Nachhaltigkeit, es gehören dazu aber auch die Aspekte des Sinns von Essen in einer erweiterten Tischgemeinschaft. Es ist wichtig, die Biotechnologie nicht vom gentechnisch veränderten Organismus aus zu denken, sondern als System zu konzeptionalisieren, genauer als sozio-technisches System,60 in dem sich der Technikgebrauch realisiert. Teil dieses Systems sind auch die Konsumentinnen und Konsumenten in ihrer weltanschaulichen und kulturellen Vielfalt. Es gibt unter ihnen Idealisten und Realisten, Wenig-Kümmerer, Verdränger und Überbesorgte, Luxuskonsumenten und Nutzenmaximierer (und wohl noch viele weitere Gruppen). Einem signifikanten Anteil von Menschen in diesem System ist es aber wichtig, nicht als Konsumenten am Ende der Nahrungskette abgeschottet und vom System bevormundet zu werden, sondern die Möglichkeit zu haben, mit ihrem Essverhalten verantwortlich und zugleich lustvoll zu leben. Dazu gehören Transparenz, Wahlmöglichkeit, aber auch die Möglichkeit, Nahrungsmittel zu finden, mit 59 Vgl. Lyall, Papaioannou, Smith, Governance. 60 Vgl. Deborah G. Johnson, Ethics and Technology ›in the Making‹: An Essay on the Challenges of Nanoethics, in: Nanoethics 1, 2007, 21–30. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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denen man sich identifizieren kann. Auch in einer ökonomischen Welt gibt es einen Sinnanspruch, der über den Preis hinausreicht. Dafür hilft ein Modell der Konsumenten-Produzenten-Beziehung, welches die Natur mit einbezieht (Abb. 2). Nahrung hat nicht nur einen Bezug zum Menschen, der sich von ihr ernährt (1), sondern eine Geschichte der Produktion (5), die wiederum eine Beziehung mit Natur beinhaltet (4 und 6). Beide sind wiederum verbunden mit dem Menschen, der isst (2 und 3). Die instrumentelle Sicht auf Nahrung grenzt den Menschen, der isst, allerdings als »Konsumenten« von allen anderen Beziehungen, – abgesehen von der direkten Ernährungs­relation – aus (1). Gute Governance der Biotechnologie in der Landwirtschaft ist nicht nur opportunitätsgesteuert, sondern bedürfnisorientiert. Sie besorgt nicht nur eine vertrauenswürdige Gesundheits- und Risiko-Prüfung, sondern ist fokussiert auf ein gutes Leben aller Menschen, die an der Produzenten-Konsumenten-Beziehung beteiligt sind, in welchen Rollen auch immer. Sie garantiert nicht nur die Koexistenz gentechnischer und gentechnikfreier Landwirtschaft, soweit das gewünscht wird (und entsprechend die Wahlfreiheit des Konsumenten), sondern organisiert eine politische Öffentlichkeit, in der verantwortungsvolle, reflektierte Entscheidungen zustande kommen können. Sie etabliert nicht nur ein System, um wissenschaftlich-technologische Innovationen profitabel anwenden zu können (z. B. durch Patente), sondern sie nimmt Konsumentinnen und Konsumenten als ethische Subjekte wahr und erkennt sie als Partner in der Produzenten-Konsumenten-Beziehung an, die berechtigterweise an das Essen höhere Ansprüche stellen als ihren eigenen Gewinn zu maximieren.61 Der »Welthunger« als Bedarfsformel zur allumfassenden Legitimierung von Biotechnologie ist in einem solchen Governance-Konzept für die Grüne Biotechnologie der zweiten Generation offensichtlich zu unscharf. Die Unschärfe macht das Argument anfällig für Missbrauch. Es ist geeignet, undifferenzierten moralischen Druck zu erzeugen, der partikulare Interessen und alternative Wege verbirgt. Der Markt als Governance-Instrument ist ungenügend und kann in eine Richtung verlaufen, die aus gesellschaftlicher Sicht nicht wünschenswert ist. Die Biotechnologie erweist sich als eine Gelegenheit, die gesamte Landwirtschaft grundsätzlich zu überdenken und den Sinn des Essens als gesellschaftlichen und ökologischen Handlungszusammenhang zu reflektieren. Die Kritik an der Grünen Gentechnik meint oft den Esel, nämlich die ökologischen und sozialen Probleme der industriellen Landwirtschaft, schlägt aber den Sack, nämlich eine bestimmte Technologie, die als »extrem« wahrgenommen wird und angreifbar scheint. 61 Die Liste der Forderungen ist nicht abgeschlossen. Zur 2nd generation governance vgl. Christoph Rehmann-Sutter, Second generation governance for second generation GM, in: Michael Howlett, David Laycock (Hrsg.), Regulating Next Generation Agri-Food Biotechnologies. London 2012, 237–255. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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6 1

5

KonsumentIn

Nahrung

4 ProduzentIn

Natur

2 3 Abb. 2: Ein Modell der Konsumenten-Produzenten-Beziehung (vgl. Text).

Tab. 1: Übersicht über die Interviews Interview

Pro/ Contra

Interview I

Pro

Interview II

Alter

Stadt/ Land

Familie

Dauer

Markus

32

Stadt

ja

0:38:02

Contra

Tanja

40

Stadt



1:03:49

Interview III

Contra

Sonja

33

Land



0:52:23

Interview IV

Contra/ Contra

Cornelia und Mike

36/34

Stadt/ Land



1:19:47

Interview V

Contra

Niels

62

Land

ja

0:29:08

Interview VI

Pro

Arnold

32

Stadt

ja

0:50:05

Interview VII

Pro/ Contra

Regula und Simon

26/30

Land/ Land



1:05:34

Interview VIII

Pro

Samuel

37

Land



0:35:02

Interview IX

Contra

Anna

55

Stadt



0:43:02

Interview X

Pro

Rolf

47

Stadt

ja

0:55:11

Ø: 38.6

6/6

5/7

Frau/Mann*

5/7 (2 Paare)

* Alle Namen der Interviewpersonen wurden anonymisiert und mit neuen fiktiven Namen versehen.

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Jonas Kathage

Grüne Gentechnik für Kleinbauern? Bt-Baumwolle in Indien

1. Einleitung Die kleinbäuerliche Nutzung von gentechnisch verändertem Saatgut (gv-Saatgut) wird häufig kritisch hinterfragt. Eignen sich moderne Agrartechnologien wie die Grüne Gentechnik für die Landwirtschaft in Entwicklungsländern? Verfügen Kleinbauern über ausreichend Wissen und Kapital, um Zugang zu diesen Technologien zu erhalten? Können die Technologien in einer kleinbäuerlichen Anbaustruktur rentabel sein? Grüne Gentechnik hat seit den späten 1990er Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Gv-Saatgut wurde 1996 erstmals in den USA angebaut und 2011 bereits von mehr als 16 Millionen Landwirten in 29 Ländern ausgesät – auf 82 % der Baumwollfläche, 75 % der Sojabohnenfläche, 32 % der Maisfläche und 26 % der Rapsfläche.1 Keine andere Agrartechnologie in der Geschichte der Landwirtschaft hat sich so rasch verbreitet. Die neue Technologie wird bislang insbesondere zur Stärkung des Pflanzenschutzes genutzt. Dabei spielen bisher vor allem zwei herbeigeführte pflanzliche Eigenschaften eine Rolle: Herbizidtoleranz und Insektenresistenz. Herbizidtoleranz verschafft Pflanzen die Fähigkeit, Unkrautbekämpfung mit Breitbandherbiziden zu überstehen, bei der nichttolerante Unkräuter absterben. Die entwickelten insektenresistenten Pflanzen wiederum produzieren Proteine, die bestimmte Schadinsekten abtöten. Wenngleich die USA mit knapp 70 Millionen Hektar Anbaufläche für gvPflanzen führend sind, liegt mittlerweile die Hälfte der weltweiten Anbaufläche für gv-Pflanzen in Entwicklungsländern. Dort sind die landwirtschaftlichen Betriebe im Durchschnitt deutlich kleiner als in den USA – somit sind die Anwender der Grünen Gentechnik zu 90 % Kleinbauern in Entwicklungsländern. Der vorliegende Aufsatz untersucht die Eignung von gv-Saatgut für Kleinbauern am Fallbeispiel der Anwendung und Verbreitung insektenresistenter BtBaumwolle in Indien. Diese Wahl hat hauptsächlich drei Gründe: Erstens ist sie 1 Clive James, Global Status of Commercialized Biotech/GM Crops: 2011. ISAAA Brief No. 43. Ithaca 2011. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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aus sozioökonomischer Perspektive relevant: 2011 nutzten sieben Millionen indische Kleinbauern diese Technologie. Damit ist Indien das Land mit den meisten Anwendern von gv-Pflanzen. Zweitens ist der Forschungsgegenstand der meisten wissenschaftlichen Studien zum Anbau einer gv-Pflanze in einem Entwicklungsland die Bt-Baumwolle.2 Drittens wird Bt-Baumwolle in öffentlichen Diskursen seit Jahren als das Negativbeispiel gegen die Grüne Gentechnik angeführt.3 Der Aufsatz fokussiert auf die Auswertung von empirischen Untersuchungen zu den Folgen des Anbaus von Bt-Baumwolle für indische Kleinbauern. Der erste Teil gibt einen Überblick über die Grundlagen der Bt-Technologie und skizziert die Situation des Baumwollanbaus vor der Zulassung der Bt-Baumwolle in Indien. Im zweiten Teil folgt eine Zusammenfassung von Studien zu agronomischen, ökonomischen und gesundheitlichen Auswirkungen. Es stellt sich die Frage inwieweit Bt-Baumwolle positive Effekte für indische Klein­ bauern mit sich bringt.

2. Der Baumwollanbau in Indien Der indische Baumwollanbau ist auf neun Bundesstaaten konzentriert, die sich auf drei Zonen im Norden (Punjab, Haryana, Rajastan), im Zentrum (Madhya Pradesh, Gujarat, Maharashtra)  und im Süden (Andhra Pradesh, Karnataka, Tamil Nadu) verteilen. Mit Ausnahme einiger Großbetriebe im Norden erfolgt der Anbau vor allem in Betrieben mit einer durchschnittlichen Größe von weniger als vier Hektar und einem geringen Mechanisierungsgrad. Es werden vier Baumwollarten angebaut: Die beiden diploiden Arten Gossypium arboreum und G. herbaceum auch »Desi« genannt sowie die beiden tetraploiden Arten G. hirsutum und G. barbadense. Desi-Saatgut ist relativ preiswert aber ertragsschwach. Ende der 1990er Jahre machte es 25–30 % der Produktion aus, die beiden tetraploiden Arten 70–75 %.4 Das vorrangig aus G. hirsutum erzeugte Hybridsaatgut ist teurer aber dafür auch ertragsstärker als offen bestäubte Sorten. Hybridsaatgut wurde in den siebziger Jahren eingeführt, im Jahr 2000 wurde es auf über 60 % der Baumwoll­ fläche angebaut (hauptsächlich im Zentrum und im Süden).5 Hybridsaatgut 2 Francisco J. Areal, Laura Riesgo, Emilio Rodríguez-Cerezo, Economic and Agronomic Impact of Commercialized GM Crops: A Meta-analysis, in: Journal of Agricultural Science 151, 2013, 7–33. 3 Ronald J. Herring, Persistent Narratives: Why is the »Failure of Bt Cotton in India« Story Still with Us?, in: AgBioForum 12, 2009, 14–22. 4 Bhagirath Choudhary, Gaurav Laroia, Technological Developments and Cotton Production in India and China, in: Current Science 80, 2001, 925–932. 5 Milind Murugkar, Bharat Ramaswami, Mahesh Shelar, Competition and Monopoly in Indian Cotton Seed Market, in: Economic and Political Weekly 42, 2007, 3781–3789. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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wird durch die Kreuzung von zwei reinerbigen Inzuchtlinien erzeugt. Die so entstehende sogenannte F1-Generation weist eine höhere Vitalität auf (Heterosiseffekt). Die Nachkommen der F1-Hybriden verlieren diesen Ertragsvorteil allerdings innerhalb weniger Generationen. Der Ertragsvorteil6 von F1-Hybriden gegenüber Nichthybriden und die Abnahme dieses Vorteils bei Nachbau sind ein großer Anreiz für die Landwirte, bei möglichst jeder Aussaat F1-Hybriden zu verwenden. Die resultierende Nachfrage erleichtert es Saatgutunternehmen, F1-Saatgut gewinnbringend herzustellen. Während die ersten indischen Baumwollhybriden aus öffentlicher Forschung stammten, nahm in den folgenden Jahrzehnten und insbesondere in den 1990er Jahren der privatwirtschaftliche Marktanteil zu.7 Die indischen Flächenerträge lagen in den letzten Jahrzehnten stets deutlich unter den Erträgen in den anderen großen Erzeugerländern China und USA. So betrug der Durchschnittsertrag im Jahr 2000 in Indien 278 kg/ha, in China 1089 kg/ha und in den USA 708 kg/ha. Zudem konnte Indien seine Erträge zwischen 1960 und 2000 lediglich verdoppeln, während sich die chinesischen verfünffachten.8 Für die niedrigen Erträge gab es mehrere Gründe, etwa ungünstige klimatische Bedingungen und unzureichende Nährstoffversorgung der Pflanzen. Ein weitaus größeres Problem des indischen Baumwollanbaus Ende der 1990er Jahre waren jedoch Schädlinge. Zu den typischen Baumwollschädlingen zählen Sauginsekten (z. B. Blatt- und Schildläuse) und besonders die Raupen mehrerer Schmetterlingsarten (Kapselbohrer). Dem hohen Schadpotenzial begegneten indische Baumwollbauern mit einem hohen Einsatz chemischer Insektizide. In den 90er Jahren machten Insektizide gegen Baumwollschädlinge über die Hälfte des gesamten indischen Insektizideinsatzes aus.9 Dennoch konnten die Schädlinge nur unzureichend eingedämmt werden, da zum einen eine wirksame Behandlung nur im frühen Befallsstadium möglich ist und zum anderen Schadinsekten Resistenzen gegen die wichtigsten Insek­tizide entwickelten. Ein damit verbundenes Problem war eine große Zahl von insektizidbedingten Vergiftungsfällen unter Kleinbauern, da sie die Insektizide mit Handspritzen und ohne Schutzkleidung auf die Felder brachten. Zudem führte der hohe Insektizideinsatz zu einer Belastung von Gewässern und Böden.

6 »Ertrag« bezieht sich in diesem Text ausschließlich auf den üblicherweise in kg gemessenen Ernteertrag pro Landeinheit. 7 Murugkar, Ramaswami, Shelar, Competition 8 FAS, Production, Supply and Distribution Online. United States Department of Agriculture (Foreign Agricultural Service), 2012. URL: http://www.fas.usda.gov/psdonline/ (zuletzt aufgerufen am 23.10.2012). 9 Choudhary, Laroia, Technological Developments. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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3. Die Bt-Baumwolle Eine Alternative zum hohen Einsatz von Insektiziden könnte die gentechnisch veränderte Bt-Baumwolle sein. Bt-Pflanzen zeichnen sich durch Resistenzen gegen bestimmte Schädlinge aus. »Bt« steht dabei für das Bodenbakterium ­Bacillus thuringiensis und wurde erstmals 1901 von dem japanischen Wissen­ schaftler Ishiwata beschrieben. Das Bakterium Bt produziert Proteine, die für bestimmte Insekten toxisch sind, sobald sie diese fressen. Die Toxine werden während der Sporenbildung von Bacillus thuringiensis als Kristalle erzeugt und bestehen aus einem oder mehreren Proteinen, den sogenannten Cry- und CytToxinen. Diese Toxinfamilien sind generell nur bei Insekten wirksam und für Mensch, Wirbeltier sowie Pflanze harmlos. Mehrere hundert verschiedene CryProteine sind bekannt, die jeweils spezifisch bei Insektenarten der Ordnungen Schmetterlinge (Lepidoptera), Käfer (Coleoptera), Hautflügler (Hymenoptera) und Zweiflügler (Diptera)  sowie dem Stamm der Fadenwürmer (Nematoda) wirken. So ist beispielsweise Cry4Aa bei Stechmücken aus der Gattung Culex toxisch, Cry4Ba hingegen wirkungslos.10 Präparate aus Bt-Toxinen (in Pulveroder Flüssigform) werden in Land- und Forstwirtschaft als Pflanzenschutzmittel und zur Stechmückenbekämpfung eingesetzt. Das weltweit erste kommerzielle Bt-Präparat zur Bekämpfung von Raupen in der Landwirtschaft kam 1938 in Frankreich auf den Markt. Anwendung finden Bt-Präparate unter anderem auch in Kanada und den USA. Hier werden sie erfolgreich zur Kontrolle von Forstschädlingen genutzt und führten zu einem signifikanten Rückgang des Einsatzes chemischer Insektizide.11 In Westafrika werden seit 1983 Bt-Toxine zur Bekämpfung der Kriebelmücke, der Überträgerin der Flussblindheit, eingesetzt. Mittlerweile dominieren Bt-Präparate den Weltmarkt für biologische Schädlingsbekämpfungsmittel.12 Bt-Toxine werden in der Landwirtschaft deswegen benutzt, da sie einerseits den Umfang der chemischen Bekämpfung reduzieren und daher auch besonders attraktiv für die Ökologische Landwirtschaft sind. Überdies kann eine in manchen Fällen möglicherweise höhere Effektivität der Schädlingsbekämpfung mit Bt-Präparaten im Vergleich mit Insektiziden zu einer Ertragssteigerung führen. Schließlich senkt ein verringerter Einsatz von Insektiziden die Be-

10 Alejandra Bravo, Sarjeet S.  Gill, Mario Soberón, Mode of Action of Bacillus thuringiensis Cry and Cyt Toxins and their Potential for Insect Control, in: Toxicon 49, 2007, ­423–435. 11 Bravo, Gill, Soberón, Mode. 12 Noura Raddadi, Elena Crotti, Eleonora Rolli, Ramona Marasco, Fabio Fava, Daniele Daffonchio, The Most Important Bacillus Species in Biotechnology, in: Estibaliz Sansinenea (Hrsg.), Bacillus thuringiensis Biotechnology. Dordrecht u. a. 2012, 329–346. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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triebskosten für den Landwirt und schützt gleichzeitig Gesundheit, Gewässer und Boden. 1985 gelang es europäischen Wissenschaftlern erstmals, ein Gen des Bakteriums, das ein Bt-Toxin codiert, durch gentechnische Verfahren in das Genom der Tabakpflanze zu transferieren. So geschaffene Bt-Pflanzen können dadurch Bt-Toxine selbst herstellen und damit eine Reihe ihrer natürlichen Fressfeinde direkt abwehren. Gegenüber Bt-Präparaten haben Bt-Pflanzen mehrere Vorteile: Schadinsekten sind den Toxinen permanent (anstatt periodisch nach Anwendungen von Präparaten) und als Bestandteil ihrer Nahrung (anstatt nur auf der Oberfläche von mit Spritzmitteln benetzten Pflanzenteilen) ausgesetzt. Da Raupen lediglich im Jungstadium anfällig für Bt-Toxine sind, besteht mit Bt-Pflanzen nicht das Risiko einer verspäteten Anwendung; außerdem werden nicht nur beißende, sondern auch bohrende Schädlinge effektiv mit den Toxinen erreicht.13 Ein weiterer Vorteil ist, dass Toxine in Bt-Pflanzen besser vor degradierender UVStrahlung geschützt sind als Toxine in Bt-Präparaten. Bt-Pflanzen (vor allem Bt-Mais und Bt-Baumwolle)  verbreiteten sich seit der Erstzulassung 1996 in den USA sehr schnell und wurden 2011 auf einer Fläche von 66 Millionen Hektar in 13 Ländern angebaut.14 Der Umfang an Anbauflächen von gv-Mais und gv-Sojabohne liegt deutlich über dem der gv-Baumwolle, wenngleich im Relation zum Gesamtbaumwollanbau mehr gentechnisch veränderte Baumwolle angebaut wird (Flächenanteil 82 %). Weltweit setzen 16,7 Millionen Landwirten gentechnisch veränderte Pflanzen ein, davon sind 14 Millionen Kleinbauern in China und Indien, die jedoch hauptsächlich Bt-Baumwolle anbauen. In Indien begannen in den 1990er Jahren einige staatliche Forschungseinrichtungen und private Saatgutunternehmen in die Entwicklung von Bt-Baumwolle zu investieren. Den Firmen Maharashtra Hybrid Seeds Company (Mahyco) und Monsanto gelang es 1996 in einer unter dem Namen Monsanto Mahyco Biotech (MMB) etablierten Kooperation, das Gen für das Bt-Toxin Cry1Ac (Event MON 531, Vermarktungsname »Bollgard«) aus einer US-amerikanischen BtBaumwollsorte in indische Hybridsorten einzukreuzen. Im selben Jahr begannen Feldversuche und Untersuchungen, um die agronomischen Eigenschaften sowie Bio- und Lebensmittelsicherheit der Bt-Hybriden von MMB zu prüfen. Im März 2002 ließ das zuständige Genetic Engineering Approval Committee (GEAC) drei Bt-Hybriden von MMB mit den Namen MECH 12, MECH 162 und

13 Alejandra Bravo, Supaporn Likitvivatanavong, Sarjeet S. Gill, Mario Soberón, Bacillus thuringiensis: A story of a Successful Bioinsecticide, in: Insect Biochemistry and Molecular Biology 41, 2011, 423–431. 14 James, Global Status. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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MECH 184 zum Anbau in Zentral- und Südindien zu. Bt-Baumwolle wurde damit zur ersten gv-Pflanze, deren Anbau in Indien erlaubt war. Die gesellschaftlichen Reaktionen auf diese Entwicklung fielen jedoch gespalten aus. Während des Zulassungsprozesses wurde die Bt-Baumwolle von einigen indischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Intellektuellen in öffentlichen Debatten scharf angegriffen.15 Seitens internationalen NGOs wie Greenpeace und Via Campesina unterstützte Kampagnen versuchten, die Einführung der Technologie in Indien zu verhindern. Aktivitäten umfassten unter anderem kritische Publikationen, Demonstrationen, Zerstörungen von Feldversuchen und juristische Klagen. Kritiker veröffentlichten auch Negativdarstellungen über Bt-Baumwolle, die bis heute weltweit nachhallen, z. B. dass Bt-Baumwolle Landwirte in den Selbstmord treibe, da Bt-Saatgut monopolisiert und daher teuer und – entgegen anderslautender Industriepropaganda – nicht effektiv und aufgrund technischer (»Terminatortechnologie«) oder legaler (Patentierung) Beschränkungen nicht nachbaubar sei. Allerdings gab es Kleinbauern, die bereits Jahre vor der offiziellen Zulassung Bt-Baumwolle illegal anbauten.16 2001 wurde von Baumwollhybriden in ­Gujarat berichtet, die deutlich weniger anfällig gegenüber einem massiven Schädlingsbefall waren als andere Hybriden. Die Saatgutfirma Mahyco, die annahm, dass es sich um illegale Bt-Hybriden handeln müsse, reichte Beschwerde beim zuständigen GEAC ein. Tests ergaben, dass die fraglichen Hybriden tatsächlich das Gen für Cry1Ac enthielten. Das Saatgut wurde bereits seit mehreren Jahren illegal von der Firma Navbharat Seeds unter dem Namen des registrierten konventionellen Hybriden NB 151 verkauft. Vor dem starken Schädlingsbefall im Jahr 2001 waren sich jedoch weder Behörden noch Bauern der Bt-Eigenschaft bewusst. Als Reaktion auf den Befund ersuchte GEAC die Regierung von Gujarat im Oktober 2001, die nicht zugelassene Bt-Baumwolle zu verbrennen, jedoch ohne Erfolg. Verantwortliche Politiker auf nationaler und bundesstaatlicher Ebene stellten sich auf die Seite der Landwirte, die einen Nutzen in der Bt-Technologie für sich sahen. Der gentechnisch veränderte NB 151-Hybride blieb zwar verboten; dies änderte jedoch nichts daran, dass noch Jahre später viele Landwirte auch bewusst illegale Bt-Hybriden verwendeten. Diese wurden teilweise eigens nachgebaut und von Händlern deutlich unter den Preisen legaler Bt-Hybriden verkauft. Nach 2002 wuchs die Zahl der zugelassenen Bt-Hybriden  – erst langsam, später sehr schnell.17 Saatgutfirmen erwarben Lizenzen von MMB zur Ein 15 Ronald J. Herring, Why Did ›Operation Cremate Monsanto‹ Fail? Science and Class in India’s Great Terminator-Technology Hoax, in: Critical Asian Studies 38, 2006, 467–493. 16 Ronald J. Herring, Stealth Seeds: Bioproperty, Biosafety, Biopolitics, in: Journal of Development Studies 43, 2007, 130–157. 17 James, Global Status. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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kreuzung von MON 531 in ihre Hybridzüchtungen; außerdem erteilte GEAC weiteren Events mit teilweise anderen Bt-Genen die Zulassung. 2005 waren 20 Bt-Hybriden zugelassen, die von insgesamt vier Saatgutfirmen stammten. Darunter waren auch erste Zulassungen für die nördliche Anbauzone. Bereits 2006 kamen dutzende Bt-Hybriden von insgesamt elf Saatgutherstellern hinzu, die zu einem geringen Teil auch auf Genkonstrukten basierten, die erstmals im öffentlichen Sektor entwickelt wurden. 2011 lag die Zahl der zugelassenen BtHybriden bei über 880. Trotz dieser großen Zahl von Bt-Baumwollhybriden blieb Bt-Baumwolle bisher die einzige für den Anbau erlaubte gv-Pflanze in Indien, obwohl auch die Bt-Aubergine in der Zwischenzeit alle für eine Zulassung erforderlichen Auflagen erfüllt hatte, jedoch auf massiven politischen Widerstand stieß.18

4. Die Anwendung der Bt-Baumwolle durch Kleinbauern Bt-Baumwolle ist hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Situation indischer Kleinbauern umfangreich untersucht.19 Die gewonnenen Erkenntnisse basieren größten­teils auf Studien, in denen Agrarökonomen mithilfe standardisierter Befragungen die Praxiserfahrungen von Landwirten mit Bt-Baumwolle und konventioneller Baumwolle festgehalten haben. Je nach Ziel der Studie wurden detaillierte Daten zu Anbaupraktiken auf einzelnen Feldern, bis hin zu Merkmalen und Verhalten von Haushaltsmitgliedern, erfasst. Befragt wurden typischerweise mehrere hundert zufällig ausgewählte Haushalte, um repräsentative und statistisch valide Aussagen ableiten zu können. In den Analysen wurde mithilfe von Methoden wie multipler Regression häufig versucht, Störgrößen zu kontrollieren, um den Bt-Effekt (z. B. auf Ertrag oder Einkommen) zu isolieren.20 Mehrere Studien bieten einen quantitativen Überblick über zahlreiche publizierte Resultate bezüglich Insektizideinsatz, Erträgen und Profitabilität,21 andere untersuchen zusätzliche Aspekte, wie beispielsweise Einkommensvertei-

18 Anthony M. Shelton, Genetically Engineered Vegetables Expressing Proteins from Bacillus thuringiensis for Insect Resistance: Successes, Disappointments, Challenges and Ways to Move Forward, in: GM Crops and Food 3, 2012, 175–183. 19 Areal, Riesgo, Rodríguez-Cerezo, Impact. 20 Janet E. Carpenter, Peer-reviewed Surveys Indicate Positive Impact of Commercia­ lized GM Crops, in: Nature Biotechnology 28, 2010, 319–321. 21 Areal, Riesgo, Rodríguez-Cerezo, Impact. Carpenter, Surveys. Guillaume Gruère, Debdatta Sengupta, Bt Cotton and Farmer Suicides in India: An Evidence-based Assessment, in: Journal of Development Studies 47, 2011, 316–337. Robert Finger, Nadja El Benni, Timo Kaphengst, Clive Evans, Sophie Herbert, Bernard Lehmann, Stephen Morse, Nataliya Stupak, A Meta Analysis on Farm-Level Costs and Benefits of GM Crops, in: Sustainability 3, 2011, 743–762. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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lung und Auswirkungen auf die Gesundheit der Bauern.22 Im Folgenden werden einige der wichtigsten Studien eingehender vorgestellt.

4.1 Studien zum Erprobungsanbau Die ersten offiziellen Anbauversuche mit Bt-Baumwolle in Indien, denen mehrere Jahre experimenteller Feldstudien vorausgingen, fanden 2001 statt. 395  Landwirte in sieben Bundesstaaten nahmen unter behördlicher Aufsicht an der Testphase teil. Für die offizielle Studie wurden auf jedem beteiligtem Landwirtschaftsbetrieb drei gleich große Versuchsfelder angelegt, auf denen jeweils unterschiedliche Hybriden gepflanzt wurden. Im ersten Feld wurde einer der drei zu testenden Bt-Hybriden (MECH 12, MECH 162, MECH 184) gesät, im zweiten zur Kontrolle der jeweils gleiche Hybride ohne Bt-Gen und, zum Vergleich mit anderen Hybriden, im dritten ein regional verbreiteter Hybride. Agronomen der Firma Mahyco erhoben bei regelmäßigen Besuchen Daten zu Pflanzenwachstum und Schädlingsbefall. Auf Initiative des Agrarökonomen Matin Qaim wurden zusätzlich agronomische Details und Haushaltsdaten bei 157 zufällig ausgewählten Teilnehmern in den drei indischen Bundesstaaten Maharashtra, Madhya Pradesh und Tamil Nadu festgehalten.23 Die Analyse der Daten ergab zum einen, dass, im Vergleich zu konventionellen Hybriden, durchschnittlich weniger Insektizid eingesetzt und zum anderen zusätzlich höhere Erträge mit den Bt-Hybriden erzielt wurden. Bt-Baumwolle wurde während der Anbausaison im Durchschnitt weniger als einmal mit Insektiziden gegen Kapselbohrer behandelt, konventionelle Baumwolle dagegen mehr als dreimal. Der Insektizideinsatz gegen Sauginsekten, gegen die Bt-Toxine nicht wirken, entsprach bei Bt-Baumwolle mit etwa dreieinhalb Anwendungen pro Anbau­saison dem Einsatz bei konventioneller Baumwolle. Demzufolge war die Gesamt­insektizidmenge, die auf die Bt-Baumwollfelder ausgebracht wurde, geringer als auf den Kontrollfeldern. Außerdem verzeichneten Bt-Hybride 80 % bzw. 87 % höhere Erträge als die Kontrollhybriden gleicher Sorte ohne Bt-Gen sowie die regional verbreiteten konventionellen Hybriden. Für diesen hohen Ertragsunterschied war laut Qaim und Zilberman der massive Schädlingsdruck im Jahr 2001 verantwortlich, der auf den konventionellen Feldern durch che 22 Arjunan Subramanian, Matin Qaim, Village-wide Effects of Agricultural Biotechnology: The Case of Bt Cotton in India, in: World Development 37, 2009, 256–267. Shahzad Kouser, Matin Qaim, Impact of Bt Cotton on Pesticide Poisoning in Smallholder Agriculture: A Panel Data Analysis, in: Ecological Economics 70, 2011, 2105–2113. 23 Matin Qaim, David Zilberman, Yield Effects of Genetically Modified Crops in Developing Countries, in: Science 299, 2003, 900–902. Ausführlichere Darstellung: Matin Qaim, Bt Cotton in India: Field Trial Results and Economic Projections, in: World Development 31, 2003, 2115–2127. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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mische Insektizide nur unzureichend eingedämmt werden konnte. Gleiche Experimente in früheren Jahren, die an anderen Standorten durchgeführt wurden, ergaben jedoch ebenfalls Ertragsvorteile. In Jahren mit geringem Schädlingsdruck lagen diese bei 35–40 %. Die hohe ertragssteigernde Wirkung der BtBaumwolle wurde durch multiple Regressionsanalyse bestätigt, mit deren Hilfe Faktoren wie Dünger-, Arbeits- und Insektizideinsatz, Bodenqualität, Bildung und Alter der Landwirte sowie regionale Effekte herausgerechnet wurden.24 Die oben genannten agronomischen Vorteile der Bt-Baumwolle sagen allerdings zunächst noch nichts über die finanziellen Auswirkungen auf die Landwirte aus. Um die relative Profitabilität verschiedener Produktionsalternativen zu messen, nutzen Agrarökonomen die Kennzahl des sogenannten Deckungsbeitrags. Der Deckungsbeitrag ermittelt sich aus dem Erlös (Ertrag multipliziert mit dem Verkaufspreis) abzüglich der Kosten der für den betreffenden Betriebszweig aufgewendeten variablen Produktionsmittel (z. B. Saatgut, Dünger, Insektizide). Den am Erprobungsanbau teilnehmenden Landwirten wurde für die Versuchsfelder kostenloses Saatgut zur Verfügung gestellt. Für alle sonstigen Produktionskosten kamen sie selbst auf. Die Studie ergab nun, dass auf den Bt-Baumwollfeldern zwar geringere Insektizidkosten anfielen, diese Einsparung jedoch durch die höheren Arbeitskosten aufgrund der größeren Ernte wieder eingebüßt wurden. Da Bt-Baumwollsaatgut 2001 nicht kommerziell zu erwerben war, können, auf Basis des Preises aus dem Jahr 2002 (1.600 Rupien pro Paket), die Kosten für Bt-Baumwollsaatgut nur abgeschätzt werden. Sie lagen pro Feld drei- bis viermal über denen des konventionellen Baumwollanbaus.25 Insgesamt muss man von etwa 20 % höheren Gesamtkosten beim Anbau von Bt-Baumwolle ausgehen. Aufgrund der höheren Ernteerträge der Bt-Baumwolle jedoch stiegen die Deckungsbeiträge der Bt-Baumwollfelder auf das fünffache der konventionellen Felder. Weitere Studien mit ähnlichen Berechnungen aus den Jahren 1998–2001, in denen teilweise ein niedrigerer Schädlingsbefall verzeichnet wurde, der mit einem entsprechend geringerer Ertragsvorteil für den Bt-Baumwollanbau einherging, zeigten ebenfalls, dass die hypothetischen Deckungsbeiträge der Bt-Baumwolle stets deutlich über denen der konventio­nellen lagen.26

24 Qaim, Zilberman, Yield Effects. 25 Qaim, Bt Cotton. 26 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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4.2 Studien zum Kommerziellen Anbau Die Resultate des beaufsichtigten Erprobungsanbaus sind allerdings – nicht nur aufgrund des hohen Schädlingsdrucks 2001 – lediglich bedingt auf den kommerziellen Anbau der Folgejahre übertragbar. Dies zeigt eine Studie des Agrarökonomen Richard Bennett. Er untersuchte die möglichen Vorteile des regu­ lären Anbaus von Bt-Baumwolle in den Jahren 2002 und 2003 in drei Distrikten des Bundesstaates Maharashtras.27 Knapp 3.500 Landwirte, die insgesamt über 9.000 Baumwollfelder bewirtschafteten, nahmen an der Studie teil. Die Datenerhebung fand durch Mitarbeiter der Saatgutfirma Mahyco statt und wurde durch Mitarbeiter des GEAC und des Central Institute for Cotton Research unabhängig begutachtet.28 Die Befragungen ergaben, dass nahezu alle Landwirte sowohl Bt-Baumwolle als auch konventionelle Baumwolle auf ihren Feldern, aussäten. Im Vergleich zu Feldern, auf denen konventionelle Baumwolle angebaut wurde, war die durchschnittliche Zahl der Spritzmitteleinsätze gegen den Kapselbohrer auf Bt-Baumwollfeldern deutlich reduziert (2002: 1,4 bzw. 2003: 0,7; im Vergleich bei konventioneller Baumwolle: 2002: 3,8; 2003: 3,1). Hingegen unterschied sich der Spritzmitteleinsatz gegen Sauginsekten, gegen die Bt-Baumwolle nicht resistent ist, in ihrer Applikationshäufigkeit nur sehr wenig. Die Reduzierung des Spritzmitteleinsatzes gegen den Kapselbohrer spiegelte sich jedoch schon deutlich in den Einsparungen bei den Insektizidkosten wieder. Aufgrund der gestiegenen Saatgutkosten waren die Gesamtkosten, die beim Anbau von Bt-Baumwolle angefallen waren, um 15 % (2002) bzw. 2 % (2003) höher als beim Anbau konventioneller Baumwolle. Zugleich waren jedoch auch die Ernteerträge auf den Bt-Baumwollfeldern um 45 % bzw. 63 % höher. Damit ergaben sich um 49 % bzw. 74 % höhere Deckungsbeiträge als im konventionellen Anbau.29 Um den reinen Effekt der Bt-Baumwolle auf den Ertrag zu ermitteln, wurde dieser mit Hilfe multipler Regressionsmodelle von dem Einfluss anderer Faktoren, wie Betriebsgröße, Bodenqualität, Insektizideinsatz und Bewässerung statistisch isoliert. Daten zu Arbeits- und Düngemitteleinsatz wurden bei der Umfrage allerdings nicht berücksichtigt, was zu einer leichten Verzerrung der Ergebnisse führen kann. Die Berechnungen ergaben einen Bt-Ertragseffekt von 33 % für das Jahr 2002.30 Ein größerer Ertragsvorteil gegenüber dem Anbau 27 Richard Bennett, Yousouf Ismael, Uma Kambhampati, Stephen Morse, Economic Impact of Genetically Modified Cotton in India, in: AgBioForum 7, 2004, 96–100. 28 Richard Bennett, Uma Kambhampati, Stephen Morse, Yousouf Ismael, Farm-Level Economic Performance of Genetically Modified Cotton in Maharashtra, India, in: Review of Agricultural Economics 28, 2006, 59–71. 29 Ebd., 63. 30 Ebd., 62. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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konventioneller Baumwolle wurde für Landwirte ermittelt, die Bt-Baumwolle auf kleineren Betrieben anbauten, häufiger bewässerten und im Distrikt Khandesh lebten (Interaktionseffekte). In einer zweiten Berechnung flossen zusätzlich die erhobenen Daten von 2003 ein. Hierbei fehlten jedoch die Informationen über Bodenqualität und Bewässerung. Im Jahr 2003 lag der Ertragsvorteil des Anbaus von Bt-Baumwolle im Vergleich zur konventionellen Baumwolle im Durchschnitt bei 48 %.31

4.3 Studienergebnisse zu den Qualitätsunterschieden zwischen Hybriden In einer weiteren Studie von Qaim und Kollegen zum Anbau von Bt-Baumwolle wurden 341 Baumwollanbauer in den vier indischen Bundesstaaten Maharashtra, Karnataka, Andhra Pradesh und Tamil Nadu über die vorherige Anbausaison des Jahres 2002 befragt.32 Die Befragungen ergaben ähnliche Ergebnisse wie die Studie von Richard Bennett. Der Anbau von Bt-Baumwolle war mit Insektizideinsparungen von 50 % und mit um 17 % höheren Kosten verbunden. Durchschnittlich erbrachte der Anbau von Bt-Baumwolle den Land­w irten um 34 % höhere Erträge. Damit ergaben sich für den Bt-Baumwollanbau um 69 % höhere Deckungsbeiträge gegenüber dem konventionellen Anbau. In den vier Staaten fielen die Effekte jedoch unterschiedlich aus. Den größten Nutzen beim Anbau von Bt-Baumwolle hatten Landwirte in Tamil Nadu. Hier waren die Deckungsbeiträge der Bt-Baumwolle mehr als dreimal so hoch wie die der konventionellen Baumwolle. In Andhra Pradesh hingegen wurde kein signifikanter Unterschied bei den Ernteerträgen und auch nicht bei den Deckungsbeiträgen festgestellt. Die Autoren der Studie erklären dieses Ergebnis zum einen durch den im Jahr 2002 sehr geringen Schädlingsbefall der Baumwollfelder in Andhra Pradesh und der dieser Situation nicht angepassten, zu hoch dosierten Insektizidmenge. Diese hätte für die Bt-Baumwolle wesentlich stärker reduziert werden können. Zum anderen war es dort im Jahr 2002 relativ trocken. An diese Umweltbedingung sind die MECH-BtHybriden schlechter angepasst als regional verbreitete konventionelle Baumwollhybriden. Abgesehen von ihrer schlechten Anpassung an trockene Verhältnisse wiesen die MECH-Hybriden auch generelle Nachteile im Ertragspotential, die ebenfalls nichts mit dem Bt-Gen zu tun haben, gegenüber konventionellen Hybriden auf. Eine sehr ertragreiche Hybridsorte stellt Bunny dar. Dieser Hybride war maßgeblich für die Ertragsleistung konventioneller Baumwolle 31 Ebd., 65. 32 Matin Qaim, Arjunan Subramanian, Gopal Naik, David Zilberman, Adoption of Bt Cotton and Impact Variability: Insights from India, in: Review of Agricultural Economics 28, 2006, 48–58. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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verantwortlich. Rechnet man mit Hilfe einer Regressionsanalyse die durch die Hybridsorte Bunny entstandene Ertragssteigerung heraus, beträgt die Ertragssteigerung durch den Bt-Baumwollanbau 59 % statt der vorher berechneten 27 %.33 Ein weiterer möglicher Grund für eine Unterschätzung des Ertragseffektes der Bt-Baumwolle ist laut den Studienautoren Qaim und Kollegen der illegale Anbau von Bt-Saatgut geringerer Qualität, etwa des Hybriden NB 151, welcher die ermittelten Effekte des Bt-Baumwollanbaus negativ beeinflusst haben könnte. Insgesamt verdeutlicht diese Studie die Wichtigkeit einer Differenzierung zwischen den Ertragseffekten von Bt-Genen und den Hybriden, in die BtGene transferiert werden. Auf Qualitätsunterschiede zwischen verschiedenen Bt-Hybriden wurde auch in anderen Untersuchungen aufmerksam gemacht. So fanden Bennett und Kollegen in einer Studie, in der sie 622 zufällig ausgewählten Landwirte aus sechs Distrikten Gujarats bezogen auf das Jahr 2002 befragten, heraus, dass dort etwa die Hälfte der Landwirte die offiziell zugelassenen Bt-Hybriden MECH 12 und MECH 162 anbauten, etwa ein Viertel die illegale Bt-Hybridsorte NB 151 und der Rest konventionelle Baumwolle.34 Die Studie ergab, dass die MECH-BtHybriden zwar teurer waren, sich aber als deutlich ertragreicher und profitabler als konventionelle Baumwolle erwiesen.35 Die illegalen Bt-Hybriden wiederum waren nicht so ertragreich und profitabel wie die MECH-Bt-Hybriden, jedoch schnitten sie deutlich besser ab als konventionelle Baumwolle. Wurden die illegalen Bt-Hybriden jedoch nachgebaut, lag der Ertrag bei der nächsten Generation (F2) leicht unter dem der konventionellen Baumwollhybriden (im Deckungsbeitrag bestand allerdings immer noch ein Vorteil von 20 %). Rechnet man hingegen mit Regressionsmethoden andere Einflussfaktoren des Ertrags heraus, zeigt sich, dass sich die reinen Ertragseffekte der MECH-Bt-Hybriden und der illegalen Bt-Hybriden kaum unterschieden und beide jeweils deutlich über dem Ertragseffekt der konventionellen Baumwollhybriden lagen.

33 Qaim, Subramanian, Naik, Zilberman, Adoption. 34 Richard Bennett, Yousouf Ismael, Stephen Morse, Explaining Contradictory Evidence Regarding Impacts of Genetically Modified Crops in Developing Countries. Varietal performance of Transgenic Cotton in India, in: The Journal of Agricultural Science 143, 2005, ­35–41. 35 Beide offiziellen Bt-Hybriden waren um 24 % teurer, MECH 12 aber um 37 % ertragreicher und um 132 % profitabler, MECH 162 um 20 % ertragreicher und um 73 % profitabler als konventionelle Baumwolle. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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4.4 Studien zu Verteilungseffekten In einer weiteren Studie betrachtete das Team um Bennett die Auswirkungen des Bt-Baumwollanbaus auf die Einkommensverteilung unter den Landwirten.36 Kritiker hatten zuvor argumentiert, dass vor allem gebildete und wohlhabende Landwirte Zugang zu Bt-Saatgut haben würden, wodurch sich die soziale Ungleichheit erhöhe. Bennett und Kollegen analysierten die Anbauerfahrungen von Landwirten in den Jahren 2002 und 2003 im Distrikt J­ algaon (Maharashtra). Die Einkommensverhältnisse in der Gruppe von Landwirten, die ausschließlich konventionelle Baumwolle anbauten, differierten sehr stark, wohingegen in der Gruppe der Landwirte, die unter anderem oder nur BtBaumwolle anpflanzten, sehr ähnliche Einkommensverhältnisse zu finden waren (gemessen mit dem sog. Gini-Koeffizienten). Ebenso verhielt es sich mit den Deckungsbeiträgen. Die Deckungsbeträge von Feldern, auf denen Bt-Baumwolle angebaut wurde, unterschieden sich kaum voneinander, die von konventionell bewirtschafteten Feldern jedoch beträchtlich. Somit erscheint es möglich, dass durch den Anbau von Bt-Baumwolle zunächst eine größere soziale Ungleichheit zwischen Bt-anbauenden und konventionell wirtschaftenden Landwirten bestand, während die soziale Ungleichheit innerhalb der Gruppe der Bt-anbauenden Landwirte offenbar geringer war. Dies ist vermutlich damit zu erklären, dass eine auf Bt-Baumwolle basierende Schädlingsbekämpfungsstrategie weniger komplex ist und somit zu weniger variablen Ergebnissen führt als eine auf Insektiziden basierende. Das Resultat, übertragen auf die Situation zehn Jahre später, in der nicht, wie in den ersten beiden Anbaujahren, nur eine überschaubare Anzahl von Landwirten, sondern die überwältigende Mehrheit der Landwirte Bt-Baumwolle verwendet, legt nahe, dass die soziale Ungleichheit durch Bt-Baumwolle abgenommen hat. Weitere Studien zu diesem Thema untersuchten die Auswirkungen des Anbaus von Bt-Baumwolle auf die Einkommen von Haushalten aus verschiedenen Einkommensgruppen.37 Hierzu wurden alle 305 Haushalte eines Dorfs im Bundesstaat Maharashtra zu ihren wirtschaftlichen Aktivitäten, einschließlich des Baumwollanbaus, befragt, die im Zeitraum von April 2003 bis März 2004 lagen. 67 % der befragten Haushalte besaßen Land. 48 % der Haushalte waren arm (Konsumausgaben von weniger als 1,15 US$ pro Tag), 38 % armutsgefährdet (1,15–2,30 US$ pro Tag), und die restlichen Haushalte wohlhabend. 15 (5 %) 36 Stephen Morse, Richard Bennett, Yousouf Ismael, Inequality and GM Crops: A CaseStudy of Bt Cotton in India, in: AgBioForum 10, 2007, 44–50. 37 Subramanian, Qaim, Effects. Arjunan Subramanian, Matin Qaim, The Impact of Bt Cotton on Poor Households in Rural India, in: Journal of Development Studies 46, 2010, ­295–311. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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der Haushalte bauten im Jahr 2003 offiziell zugelassene Bt-Baumwollhybriden an. Eine Simulation auf Basis der erhobenen Daten zeigt, dass der Anbau von Bt-Baumwolle die durchschnittlichen Haushaltseinkommen im Dorf um 82 % im Vergleich zum Anbau von konventioneller Baumwolle auf derselben Fläche steigerte. Während landlose Haushalte nur wenig durch Bt-Baumwolle pro­ fitierten, stiegen die Einkommen von armen, armutsgefährdeten und wohlhabenden Landbesitzern deutlich an. Dass besonders auch die armen und armutsgefährdeten landbesitzenden Haushalte von Bt-Baumwolle profitierten, liegt zum großen Teil  daran, dass durch die steigende Erntemenge beim BtBaumwollanbau auch die Entlohnung der außerbetrieblichen Erntehelferinnen um 55 % stieg. Baumwolle wird in Indien per Hand und typischerweise von Frauen geerntet. Diese Erntehelferinnen stammen überwiegend aus der Gruppe der armen und armutsgefährdeten landbesitzenden Haushalte. Für arme und armutsgefährdete Haushalte bestand der Nutzen von Bt-Baumwolle somit hauptsächlich aus solchen indirekten Arbeitsmarkteffekten.

4.5 Panelstudien und die Frage der Nachhaltigkeit Um Selektionsverzerrungen auszuschließen, veröffentlichte 2007 eine Forschergruppe um Bennett eine Panelstudie auf Basis des Datensatzes der Jahre 2002 und 2003 aus dem Jalgaon Distrikt in Maharashtra.38 Selektionsverzer­rungen sind dann zu befürchten, wenn überdurchschnittlich fähige Landwirte eher Bt-Baumwolle verwenden als weniger fähige Landwirte und die fraglichen Fähigkeiten sich gleichzeitig auf den Ertrag auswirken, jedoch nicht gemessen werden. In der Folge kann der festgestellte Ertragsgewinn beim Anbau von BtBaumwolle überschätzt werden. Derartige Überschätzungen lassen sich durch Panelstudien vermeiden, in denen der Anbau von Bt-Baumwolle und konventioneller Baumwolle auf Feldern nicht verschiedener, sondern lediglich innerhalb derselben Betriebe miteinander verglichen werden. Die angesprochene Panelstudie von 2007 stellte jedoch fest, dass selbst Schätzungen, die Selek­ tionsverzerrungen auf diese Weise vermeiden, noch deutliche Ertragsvorteile der MECH-Bt-Baumwollhybriden gegenüber konventionellen Baumwollhybriden, darunter auch Bunny, ergaben. Panelstudien wurden auch von Qaims Forschungsgruppe durchgeführt, nachdem sie Daten mehrerer hundert Landwirte aus vier Bundesstaaten und vier Jahren (2002, 2004, 2006, 2008) erhoben hatten. Neben der Kontrolle von Selektionsverzerrungen erlauben diese Daten auch eine Analyse der länger­ 38 Benjamin Crost, Bhavani Shankar, Richard Bennett, Stephen Morse, Bias from Farmer Self-selection in Genetically Modified Crop Productivity Estimates: Evidence from Indian Data, in: Journal of Agricultural Economics 58, 2007, 24–36. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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fristigen Auswirkungen des Bt-Baumwollanbaus.39 Die positiven Effekte des Einsatzes der Technologie können beispielsweise durch sich herausbildende Resistenzen der Kapselbohrer gegen die Bt-Toxine gemindert werden. Ein weiteres Problem kann eine mögliche Ausbreitung von Sekundärschädlingen (z. B. Blattläusen) darstellen, da Bt-Toxine im Gegensatz zu Insektiziden gegen keine anderen Schädlinge als Kapselbohrer wirken. Die Verwendung neuerer BtHybriden mit der erst nach einigen Jahren zugelassenen Bt-Technologie »Bollgard II« kann hingegen die Resistenzentwicklung des Kapselbohrers verzögern, da diese Hybriden statt einem zwei Bt-Gene enthalten. Aus einer dieser Panelstudien wird deutlich, dass der Anbau von Bt-Baumwolle über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg im Durchschnitt höhere Ernteerträge und Deckungsbeiträge einbrachte als der Anbau konventioneller Baumwolle.40 Die Vorteile von Bt-Baumwolle nahmen dabei nicht ab und es zeigten sich sogar Hinweise, dass sie anstiegen. Das kann daran liegen, dass viele Baumwollhybriden mit verbesserter Anpassung an die ökologischen Bedingungen verschiedener Anbaustandorte sowie insgesamt höherem genetischen Potenzial von Saatgutunternehmen zusätzlich mit der Bt-Technologie ausgestattet und von den Behörden zugelassen wurden. Dadurch konnten Landwirte leistungsfähigere Bt-Hybriden verwenden. Die Studie zeigt außerdem, dass sich die Anbauvorteile auch positiv auf den Lebensstandard der Bt-Baumwolle anbauenden Landwirte auswirkten. Gemessenen am Haushaltskonsum verbesserte sich ihr Lebensstandard im Zeitraum von 2006 bis 2008 um 18 %. Eine weitere Panelstudie konnte zeigen, dass im gleichen Beobachtungs­ zeitraum die auf den Bt-Baumwollfeldern eingesetzte Insektizidmenge zurückging.41 Überraschenderweise wurde auch auf den konventionell bewirtschafteten Feldern weniger Insektizid versprüht. Diese Befunde können jedoch mit der allgemeinen Reduzierung der Kapselbohrerpopulation infolge des großflächigen Anbaus von Bt-Baumwolle erklärt werden. Aus den gewonnen Daten leiten die Autoren ab, dass der Anbau von Bt-Baumwolle allein im Jahr 2010 eine Einsparung von 35 Millionen Kilogramm Insektizidwirkstoff bewirkte, davon alleine 5 Millionen auf konventionellen Feldern. Der Schaden durch Sekundärschädlinge stieg auf Bt-Baumwollfeldern leicht an. Die daraus resultierenden gesteigerten Ausgaben für Insektizide gegen Sauginsekten lagen aber unter den (steigenden) Einsparungen bei Insektiziden gegen den Kapselbohrer.42

39 Jonas Kathage, Matin Qaim, Economic Impacts and Impact Dynamics of Bt (Bacillus thuringiensis) Cotton in India, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 109, 2012, 11652–11656. 40 Ebd. 41 Vijesh V. Krishna, Matin Qaim, Bt Cotton and Sustainability of Pesticide Reductions in India, in: Agricultural Systems 107, 2012, 47–55. 42 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Der reduzierte Insektizideinsatz hatte ebenfalls Auswirkungen auf den Gesundheitszustand indischer Kleinbauern.43 Das Verteilen großer Mengen von Insektizid mit Handspritzen und unzureichender Schutzkleidung kann akute und chronische Vergiftungen nach sich ziehen. Akute Vergiftungserscheinungen wie Haut- und Augenirritationen, Atemprobleme, Schwindel oder Übelkeit traten bei Landwirten, die konventionelle Baumwolle anbauten, im Zeitraum von 2002 bis 2008 durchschnittlich 1,6 Mal pro Saison auf, bei Landwirten hingegen, die Bt-Baumwolle anbauten, nur 0,2 Mal. Nach einiger Zeit klagten auch Landwirte, die konventionelle Baumwolle anbauten, über weniger Vergiftungserscheinungen, wohl aufgrund des angesprochenen, mit dem Bt-Baumwollanbaus in Verbindung gebrachten, generellen Rückgangs der Schädlings­ population und damit der geringeren Menge an ausgebrachten Insektiziden. So kann geschätzt werden, dass durch den Anbau von Bt-Baumwolle jedes Jahr mindestens 2,4 Millionen weniger Vergiftungsfälle in Indien auftreten. Dies impliziert auch signifikante Einsparungen bei Gesundheitskosten von mindestens 14 Millionen US$.

4.6 Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Anbau von Bt-Baumwolle und Selbstmorden von Kleinbauern? In zahlreichen öffentlichen Diskussionen wurde die zunehmende Verbreitung der Bt-Baumwolle in Zusammenhang mit überdurchschnittlich vielen Selbstmorden unter indischen Kleinbauern gebracht. Eine empirische Studie von Gruère und Sengupta untersucht diese Behauptung.44 Direkte Daten, ob sich die Selbstmordraten von Bt-Baumwolle anbauenden und konventionell wirtschaftenden Landwirten unterscheiden, existieren nicht. Dies kann nur mit Hilfe allgemeiner Statistiken zu den stattgefundenen Selbstmorden unter Landwirten sowie Studiendaten zum Bt-Baumwollanbau, zu Kosten, Erträgen und erzielten Einkommen ermittelt werden. Ein Punkt, der gegen den vermuteten Zusammenhang des Bt-Baumwollanbaus und Selbstmorden indischer Kleinbauern spricht, ist, dass nach den offiziellen Statistiken des indischen Innenministeriums die Zahl der Selbstmorde unter Landwirten im Zeitraum von 1997 bis 2007 bei knapp 20.000 pro Jahr konstant geblieben war. Da ein starker Zuwachs im Anbau von Bt-Baumwolle in diesen Zeitraum fällt, erscheint ein Zusammenhang mit Selbstmorden unwahrscheinlich. Zweitens sind die Selbstmordraten in den Bundesstaaten sehr unterschiedlich. So ist in den vier Bundesstaaten, in denen die meisten Selbstmorde von Bauern registriert wurden, während der Verbreitung des Anbaus von Bt-Baumwolle in zweien die 43 Kouser, Qaim, Impact. 44 Gruère, Sengupta, Bt Cotton. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Selbstmordrate unter Landwirten gestiegen (Maharashtra und Andhra Pradesh), in den beiden anderen hingegen gefallen (Karnataka und Madhya Pradesh). Auch ergibt ein Vergleich zwischen Bundesstaaten, Bt-Baumwollfläche und Selbstmordraten eher einen negativen Zusammenhang. Drittens konnte für alle untersuchten Bundesstaaten gezeigt werden, dass der Anbau von Bt-Baumwolle für die Bauern Vorteile gegenüber dem konventionellen Anbau erbrachte, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. Für die Selbstmorde unter Landwirten machen Gruère und Sengupta folglich nicht die Ausbreitung der Bt-Baumwolle verantwortlich, sondern davon unabhängige sozioökonomische, institutionelle und klimatische Umstände. Auch die Tatsache, dass Bt-Baumwolle aufgrund nicht standortoptimierter Bt-Hybriden zunächst in einzelnen Fällen der konventionellen Baumwolle nicht überlegen war, spielt wahrscheinlich eher eine untergeordnete Rolle.

5. Fazit Ist der Anbau von Bt-Baumwolle und somit die Grüne Gentechnik eine für Kleinbauern vorteilhafte Technologie? Skeptische Stimmen warnten zwischenzeitlich, dass diese Frage bisher kaum mit ausreichender Sicherheit bejaht werden könne.45 Wie in diesem Aufsatz dargelegt, wurden Forschungslücken wie Selektionsverzerrungen, Langzeiteffekte und über Insektizid- und Ertrags­ wirkungen hinausgehende Folgen jedoch nach und nach aufgegriffen. Die von Bennett und Qaim festgestellten positiven Auswirkungen der Bt-Baumwolle für Kleinbauern wurden auch in anderen Studien bestätigt und in mehreren jüngeren Übersichtsarbeiten zusammengefasst.46 Demnach muss davon ausgegangen werden, dass Bt-Baumwolle in Indien insbesondere den Insektizideinsatz deutlich verringert und die Erträge signifikant erhöht hat. Für den Landwirt ergeben sich auf der Kostenseite kaum Einsparungen, da die eingesparten Ausgaben für Insektizide mit höheren Kosten des Bt-Saatguts im Vergleich zum konventionellen Saatgut einhergehen. Auch steigen die Arbeitskosten mit den Mehr­erträgen der Bt-Baumwolle. Die Ertragsvorteile bringen jedoch starke Zuwächse bei den Einnahmen, wodurch Bauen insgesamt höhere Deckungsbeiträge erzielen. Die Zugewinne bei den Deckungsbeiträgen wiederum wirken sich positiv auf den Lebensstandard aus. 45 Dominic Glover, Is Bt Cotton  a Pro-Poor Technology? A Review and Critique of the Empirical Record, in: Journal of Agrarian Change 10, 2010, 482–509. Glenn D. Stone, Field versus Farm in Warangal: Bt Cotton, Higher Yields, and Larger Questions, in: World Develop­ment 39, 2011, 387–398. 46 Areal, Riesgo, Rodríguez-Cerezo, Impact. Carpenter, Surveys. Gruère, Sengupta, Bt Cotton. Finger, Benni, Kaphengst, Evans, Herbert, Lehmann, Morse, Stupak, Meta Analysis. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Diese betriebswirtschaftliche Betrachtung kann erklären, warum Bt-Baumwolle in Indien heute sehr stark verbreitet ist. Die Fakten widersprechen auch der häufig geäußerten Behauptung, Bt-Baumwolle würde indischen Bauern nicht nützen. Varianten dieser Kritik, wie Mutmaßungen, dass ausschließlich wohlhabendere Bauern Zugang zu Bt-Baumwolle haben würden oder dass, bedingt durch höhere Saatgutpreise und Missernten, die Verwendung von BtBaumwolle Landwirte in den Selbstmord treibe, fehlt ebenfalls die empirische Grundlage. Des Weiteren hat die Forschung gezeigt, dass die Verwendung von Bt-Baumwolle jährlich mehrere Millionen Vergiftungsfälle, die aus der ungeschützten Ausbringung von Insektiziden resultieren, vermeidet. Angesichts dieser Ergebnisse lassen sich zwei zentrale Schlussfolgerungen ziehen. Erstens bietet die Grüne Gentechnik die Chance, die Situation von Kleinbauern in Entwicklungsländern zu verbessern. Daher ist die Entwicklung gentechnisch veränderter Pflanzen, ob sie im öffentlichen oder privaten Sektor stattfindet, grundsätzlich zu begrüßen. Zweitens wird deutlich, dass politische Entscheidungen über die Anbauzulassungen von gv-Pflanzen bedeutende Folgen für Kleinbauern haben können. Solange die zuständigen Behörden marktreife Saatguttechnologien nicht zulassen, besteht das Risiko, dass Landwirten wichtige Optionen verwehrt bleiben, ihre Einkommensbasis zu stärken. Dieses Risiko gilt es in der Diskussion um die Regulierung gentechnisch veränderter Pflanzen zu berücksichtigen. Die Bt-Baumwolle ist keine Technologie, die im Alleingang Kleinbauern ein Leben in Wohlstand bescheren kann. Auch ist sie nicht ohne ernstzunehmende Herausforderungen. So könnten Kapselbohrer zukünftig Resistenzen gegen Bt-Toxine entwickeln, was wiederum mit der Entwicklung und Zulassung weiterer Genkonstrukte begegnet werden könnte. Indessen sollte die Erforschung neuer Technologien, etwa mithilfe der Gentechnik und anderer Methoden hergestellte Pflanzen mit neuen Eigenschaften, aber auch nichtzüchterische Schädlingsbekämpfungsstrategien (z. B. durch Nützlinge), unterstützt werden, denn keine bekannte Methode des Baumwollanbaus stellt ein Allheilmittel dar.47 Solange allerdings eine Innovation wie die Bt-Baumwolle weniger neue Probleme schafft als vorhandene löst, bedeutet sie Fortschritt im besten Sinne.

47 Gentechnisch veränderte Pflanzen mit direkten oder indirekten Schädlingsresistenzen und Ansätze des integrierten Pflanzenschutzes können einander ergänzen, vgl. Martine Kos, Joop J. A. van Loon, Marcel Dicke, Louise E. M. Vet, Transgenic Plants as Vital Com­ ponents of Integrated Pest Management, in: Trends in Biotechnology 27, 2009, 621–627; Yanhui Lu, Kongming Wu, Yuying Jiang, Yuyuan Guo, Nicolas Desneux, Widespread Adoption of Bt Cotton and Insecticide Decrease Promotes Biocontrol Services, in: Nature 487, 2012, 363–365. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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»Wahr ist es, die Lage (…) ist traurig, allein die Natur ist da so reich, die Gegend so schön! (…)« Zur neuzeitlichen Konzeption des sozio-naturalen Schauplatzes Landwirtschaft

Abb. 1: Werbung »Bahnland Bayern« (2011), Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bayerischen Eisenbahngesellschaft (BEG). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Im Februar 2011 hat die Bayerische Eisenbahngesellschaft, der staatliche Anbieter für Schienennahverkehr im Freistaat, mit dieser Kampagne geworben (Abb. 1). Die Grafik besteht aus zwei Hauptelementen. Das Motiv zeigt ein Kinderpaar lächelnd und in inniger Umarmung. Wiesen und Wälder des voralpinen Hügellandes und blauer Himmel mit sparsam dosiertem, dekorativem Gewölk bilden den Bildhintergrund. Die Figuren tragen Lederhosen und rot karierte Hemden – stilkritisch irgendwo im Populären zwischen »Tracht« und »Landhausmode« anzusiedeln. Das zweite Element ist ein stilisierter Fahrplan, der eine Abfahrts- und eine Ankunftszeit angibt, verbunden mit den Schlagworten »Stadtflucht« und »Landliebe«. Die Anzeige bildet einen medialen Verbund aus Text und Ikonografie. Ihre Wirkung kann sie nur deshalb entfalten, weil sowohl Text als auch Bild beim Betrachter an verschiedene vertraute Motive bzw. Narrative und normative Vorstellungen appellieren. Die Rhetorik der Anzeige setzt einen gewissen Konsens darüber voraus, vor welchen Qualitäten von »Stadt« es zu fliehen gilt und – bei aller Doppeldeutigkeit des Wortspiels – was das »Land« zur liebenswerten Gegenwelt macht. Die Anzeige arbeitet mit einem dichotomischen Verständnis vom Verhältnis zwischen Stadt und Hinterland, zwischen Urbanität und Natur. Sie inszeniert ferner – und damit kommt die Landwirtschaft ins Spiel – einen sozio-naturalen Schauplatz, der durch spezifische Landnutzungspraktiken, hier konkret die Grünlandwirtschaft, geformt ist. Auch und gerade in der Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte werden Konzepte des Verhältnisses von »Gesellschaft« und »Natur« verhandelt (Abb. 2). Das eine Beispiel einer Milchpackung bietet dem Verbraucher dabei eben jene Gegenwelt an, die schon die Eisenbahnwerbung inszenierte und in der viel vermeintliche »Natur« vorkommt. Ein urwüchsiger Almbewohner in traditioneller Kleidung lebt in Harmonie mit seinem Vieh und der Bergwelt, aus der die vermarktete Milch zu stammen vorgibt. Grün ist die dominierende Farbe des Gebindes. Die Verpackung verspricht natürlichen Geschmack  – wie immer sich dieser definieren mag – und den Verzicht auf Gen-Technik. Dass im Milchmarketing durchaus auch alternative Motive möglich sind, die Landwirtschaft nicht als »Natur«-nah inszenieren, zeigt das zweite Beispiel einer finnischen Milchpackung, der jegliches Grün fehlt. Die finnischen Nationalfarben weiß und blau dominieren die Gestaltung. Das Motiv, eine anthropomorphe, radfahrende Kuh, weckt eher urbane Assoziationen. Nicht einmal ein Rest von ›Wildheit‹, wie es ein Fahren ohne Helm implizieren könnte, ist gegeben. Milchproduktion wird hier zum urban-zivilisatorischen und zum sozio-technischen Event. Auch diese Packung macht Aussagen zum Produkt. Sie thematisiert chemische Eigenschaften, nämlich den Gehalt an Kalzium und Eiweiß. Ich habe – obwohl historische Quellen des 18. und 19. Jahrhunderts im Zentrum der Aufmerksamkeit dieses Beitrages stehen – diesen Ausflug in die Werbewelt des 21. Jahrhunderts unternommen, um zu illustrieren, wie sehr Agrar-, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Abb. 2: Milchpackungen, Fotos: M. Knoll, L. Rácz.

Tourismus- und Umweltdiskurse durch dichotomische Konzepte (Stadt – Land, Gesellschaft – Natur, Technik – Natur etc.) geprägt sind. Und dies gilt weit über den Bereich von Werbung und Populärkultur hinaus. Debatten in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik um Techniken und Praktiken gesellschaftlicher Landnutzung verirren sich nicht selten in einem »Bilderwald«1. Die Bilder wiederum, die wir uns von komplexen sozio-naturalen Schauplätzen machen, sind oft dichotomischer Natur. Dichotomische Konzepte werden aber, so die These meines Beitrages, der Komplexität des Verhältnisses von Gesellschaft, Technik und ›Natur‹ nicht gerecht. Dies gilt für die Landwirtschaft – und weit darüber hinaus. Dichotomisierung verspricht Vereinfachung in der Konzeption des Verhältnisses zwischen Menschen und dem Rest der ›Natur‹. Die sachliche Legitimität dieser Vereinfachung steht allerdings in Frage. Wenn man vereinfachen wollte, so könnte man dies legitimer Weise höchstens aus einer energiegeschichtlichen oder energiesoziologischen Perspektive heraus und im Sinne des Hinweises von Vaclav Smil tun, wonach fundamental physikalisch gedacht jeglicher Prozess – egal ob ›natürlich‹ oder ›gesellschaftlich‹  – eine Konversion von Energie darstellt und damit den thermodynamischen Gesetzen gehorchend tendenziell die 1 Roderich von Detten, Waldbau im Bilderwald. Zur Bedeutung des metaphorischen Sprachgebrauchs für das forstliche Handeln. Freiburg 2001. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Entropie steigert.2 Alles andere gilt es zu differenzieren und zu operationalisieren. Denn – um Bruno Latours Beispiel aufzugreifen: »Das Ozonloch ist zu sozial und zu narrativ, um wirklich Natur zu sein, die Strategie von Firmen und Staatschefs zu sehr angewiesen auf chemische Reaktionen, um allein auf Macht und Interessen reduziert werden zu können, der Diskurs der Ökosphäre zu real und zu sozial, um ganz in Bedeutungseffekten aufzugehen.«3 Bruno Latour und Niklas Luhmann eint übrigens bei aller Unterschiedlichkeit ihrer systemischen Gesellschaft-Natur-Konzeption die Diagnose, dass gerade die Trennung von Natur und Gesellschaft den Kern der ökologischen Krise der Moderne ausmache. Für ein Verständnis der ökologischen Problematik moderner Gesellschaften sei es, so Melanie Redding, für Latour wie für Luhmann entscheidend, Soziales und Natürliches gemeinsam zu betrachten.4 »Die Konstruktion einer Naturwelt einerseits und einer Sozialwelt andererseits hat zur Konsequenz, dass die moderne Gesellschaft nur in seltenen Fällen und nur beschränkt ökolo­ gische Probleme wahrnimmt und an ihrer Lösung arbeitet. Das Verhältnis zwischen Natürlichem und Sozialem ist deshalb sowohl für Latour als auch für Luhmann der Schlüssel zum Verständnis der ökologischen Problematik.«5 Entsprechend interessant erscheint es mir, wahrnehmungsgeschichtlich in diejenige Periode zurückzublicken, in der sich nach landläufigem Verständnis die für die westliche Moderne prägende veränderte Haltung zur ›Natur‹ ausgebildet hat,6 und die frühneuzeitlichen Wurzeln dichotomisch argumentierender Narrative und Normvorstellungen bzw. deren Alternativen zu diskutieren. Im Mittelpunkt steht dabei die Konzeption des sozio-naturalen Schauplatzes Landwirtschaft. Diesen setze ich in Beziehung zur landwirtschaftlichen Nutzung von Moorlandschaften, weil deren Erschließung und intensivierte Nutzung (»Melioration«) im agrarischen und ökonomischen Reformdiskurs des 18.  und 19.  Jahrhunderts mit ähnlichen Produktivitätsversprechen und -erwartungen verbunden war wie dies für die grüne Gentechnik der Gegenwart der Fall ist. Dass ich mich regional auf bayerische Beispiele konzentriere, ge 2 Vaclav Smil, Energy, in: McNeill, William (Hrsg.), Berkshire Encyclopedia of World History. Bd. 2. Great Barrington MA 2005, 646–654. 3 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 2009, 13–14. 4 Melanie Redding, Die Konstruktion von Naturwelt und Sozialwelt. Latours und Luhmanns ökologische Krisendiagnosen im Vergleich, in: Voss, Martin/Peuker, Birgit (Hrsg.), Verschwindet die Natur? Die Akteur-Netzwerk-Theorie in der umweltsoziologischen Diskussion. Bielefeld 2006, 129–147. 5 Ebd., 129. 6 Vgl. Keith Thomas, Man and the natural world. Changing attidudes in England, 1500– 1800. London 1983; zur disziplinär unterschiedlich akzentuierten Chronologie dieses Wandels mit frühen Wegmarken wie der Renaissancemalerei oder späten wie der »Industriellen Revolution« vgl. Manuel Schramm, Die Entstehung der modernen Landschaftswahrnehmung (1580–1730), in: Historische Zeitschrift 287, 2008, 37–59. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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schieht im Sinne einer Stichprobe und soll nicht über entsprechende zeitgenössische Praktiken und Diskurse andernorts hinwegtäuschen. Bekanntermaßen glaubte Friedrich II. von Preußen mit der Trockenlegung des Oderbruchs und der dadurch ermöglichten Transformation der Landnutzungspraktiken eine Provinz »im Frieden« erobert zu haben.7 Die Untersuchung des sozio-naturalen Schauplatzes Landwirtschaft ermöglicht es, andere Überlieferungsstränge in den Blick zu nehmen als diejenigen, welche gelehrte und belletristische Diskurse dokumentieren und auf deren Basis etwa Joachim Ritter seine Chronologie der Genese ästhetischer Natur- bzw. Landschaftswahrnehmung begründet.8 Ich will näher an diejenigen historischen Akteure herankommen, denen Ritter, alleine weil sie Natur nutzen, ästhetisches Naturempfinden abspricht.9 Als besonders aussagekräftige Quellengattung nehme ich dafür Landesbeschreibungen in den Blick, deren rhetorisches Formular sich zwar aus der Topik verschiedener Gattungstraditionen speist (Reiseliteratur, Städte­lob etc.),10 die aber mitunter vergleichsweise direkten Zugriff auf – um eine Kategorisierung Ursula Schludes zu verwenden – praxisnahe Aggregatszustände agrarischen Wissens bietet.11 Weitere untersuchte Texte entstammen der Publi 7 David Blackbourn, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. 1. Aufl. München 2007, 52–53; vgl. Bernd Herrmann, Martina Kaup, »Nun blüht es von End‹ zu End‹ all überall«. Die Eindeichung des Nieder-Oderbruches, 1747–1753. Umweltgeschichtliche Materialien zum Wandel eines Naturraums. Münster, New York 1997. 8 Vgl. Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. Münster 1963.; Joachim Ritter, Vorlesungen zur Philosophischen Ästhetik. Göttingen 2010. 9 Ritter unternimmt eine strikt subjektbezogene Definition von Landschaft: »Landschaft ist Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist: Nicht die Felder vor der Stadt, der Strom als ›Grenze‹, ›Handelsweg‹ und ›Problem für Brückenbauer‹, nicht die Gebirge und die Steppen für Hirten und Karawanen (oder Ölsucher) sind als solche schon ›Landschaft‹. Sie werden dies erst, wenn sich der Mensch ihnen ohne praktischen Zweck in ›freier‹ genießender Anschauung zuwendet, um als er selbst in der Natur zu sein.« (Ritter, Landschaft, 18). Ritter unterscheidet »menschliches Gelände« als durch menschliche Praxis assimilierte Natur von »Landschaft« als durch zweckfreie Betrachtung ästhetisierter Natur (Ritter, Vorlesungen, 35). Folgerichtig hält er Naturnutzer – wie etwa Landwirte – nicht der ästhetischen Landschaftswahrnehmung fähig. »Die Landschaft konstituiert sich im Anblick für den, der hinausgeht in die Natur selbst und in diesem Hinausgehen die genutzte Natur als die Natur hinter sich lässt, die in den Dienst der Notwendigkeit und der durch sie gesetzten Zwecke steht. In der Zugehörigkeit zu der freien Betrachtung ist das Hinausgehen und die empfindende, ästhetisch betrachtende Vergegenwärtigung für die Natur als Landschaft konstitutiv. Es gibt sie sachlich und geschichtlich so nicht für den Landmann und ebenso überhaupt nicht für den Zusammenhang, in welchem Natur praktisch gegenwärtig ist.« (Ritter, Vorlesungen, 137). 10 Vgl. Martin Knoll, Die Natur der menschlichen Welt. Siedlung, Territorium und Umwelt in der historisch-topografischen Literatur der Frühen Neuzeit. Bielefeld 2013, 31–60. 11 Vgl. Ursula Schlude, Naturwissen und Schriftlichkeit. Warum eine Fürstin des 16. Jahrhunderts nicht auf den Mont Ventoux steigt und die Natur exakter begreift als die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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zistik Johann Georg von Aretins (1771–1845),12 eines administrativen Praktikers der Moor-Erschließung, und Johann Andreas Schmellers (1785–1852),13 eines Lexikografen und kritischen Kommentatoren derselben. Diese Quellen beschreiben und kommentieren vormoderne Agrargesellschaften und -landschaften und entwerfen dabei normative Vorstellungen vom Verhältnis sozialer Praktiken und materieller Arrangements innerhalb einer »guten«  – gottgewollten  – Ordnung. Substrate solcher Ordnungsvorstellungen haben sich bis heute erhalten und spielen eine nicht unwichtige Rolle in der Diskussion um die Legitimität und Illegitimität bestimmter landwirtschaftlicher Praktiken und Techniken. Meine historische Analyse weiß sich dem praxistheoretischen Geschichtsverständnis des Technikphilosophen Theodore Schatzki und der Wiener Umwelthistoriker Verena Winiwarter und Martin Schmid verpflichtet, die Geschichte als Transformation sozio-naturaler Schauplätze verstehen.14 Sozio-naturale Schauplätze ihrerseits werden durch das Zusammenwirken gesellschaftlicher Praktiken und materieller Arrangements konstituiert. Mein wahrnehmungsgeschichtlicher Zugang fasst Umweltwahrnehmung, wie sie in historischen Quellen fassbar wird, als Repräsentation sozio-naturaler Schauplätze auf. Aus dem thematischen Zuschnitt dieser Repräsentationen, aus der Betonung bestimmter Informationen und der Unterdrückung anderer, können dann Schlüsse auf zugrundeliegende Programme gezogen werden.

1. Landwirtschaft in guter Ordnung: Notzing und das Große Moos Ich kann hier nur Probebohrungen vornehmen, die nicht mehr sein können und wollen als Diskussionsanstöße. In diesen Beispielen werden – wie schon angedeutet – Moore als prekäre Bestandteile agrarischer Schauplätze thematisiert. Mein erstes Beispiel entstammt der Historico topographica descriptio, einer in den Jahren 1696 bis 1726 entstandenen vierbändigen Landesbeschreibung Kur»philologischen« Landwirte, in: Ruppel, Sophie/Steinbrecher, Aline (Hrsg.), Die Natur ist überall bey uns. Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit. Basel 2009, 95–108. 12 Vgl. Karl Otmar Freiherr von Aretin, »Aretin, Johann Georg Freiherr von«, in: Neue Deutsche Biographie 1, 1953, 348–349 (Onlinefassung); URL: http://www.deutsche-biographie. de/pnd119522497.html [zuletzt aufgerufen am 24.8.2012] 13 Vgl. Anthony Rowley, »Schmeller, Johann Andreas«, in: Neue Deutsche Biographie 23, 2007, 126–128 (Onlinefassung); URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118608533. html (zuletzt aufgerufen am 24.8.2012). 14 Vgl. Theodore R. Schatzki, Nature and technology in history, in: History and Theory – Theme Issue 42, 2003, 82–93; Verena Winiwarter, Martin Schmid, Umweltgeschichte als Untersuchung sozionaturaler Schauplätze? Ein Versuch, Johannes Colers ›Oeconomia‹ umwelthistorisch zu interpretieren, in: Thomas Knopf (Hrsg.), Umweltverhalten in Geschichte und Gegenwart. Vergleichende Ansätze. Tübingen 2008, 158–173. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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bayerns.15 Sie war von Kurfürst und Ständen gemeinsam organisiert worden. Ein Grafiker bereiste das Land, um Ansichten von Städten, Dörfern, Schlössern und Klöstern zu erstellen. Topografische Information wurde mittels eines Fragebogens erhoben, der Daten zur geografischen Lage, zur Geomorphologie, zur Herrschafts-, Besitz- und Baugeschichte, sowie zur wirtschaftlichen, administrativen und kirchlichen Verfassung abfragte. Dieser Fragenkatalog war an alle Herrschaftsträger im Land verschickt worden. Besonders interessant erscheint mir die Beschreibung der Grundherrschaft Notzing am Rande des Erdinger Mooses und hier vor allem ein Vergleich der handschriftlichen Einsendung mit dem letztlich im Druck erschienenen Text.16 Die Einsendung ist zwar nicht unterzeichnet, dürfte aber von der Hofmarksherrin Maria Walburga Rauberin, Freiin zu Planckenstain und Carlstötten oder ihrem Verwalter angefertigt worden sein. Inhaltlich verantwortlich war letztlich die Hofmarksherrin. Die Beschreibung nimmt neben einer geografischen Verortung von Schloss und Hofmark eine sehr differenzierte Binnentopografie des Grundherrschaftsbezirks vor. Diese wird vom Fluss Dorfen in unterschiedliche geomorphologische Sektoren gegliedert: östlich des Flusses ebenes gutes Ackerland und eine ebenfalls fruchtbare Anhöhe, westlich des Flüsschens zunächst Wiesen und daran anschließend das im Text stets so genannte »große Moos«. Zwar nimmt der Text in seiner Beschreibung landwirtschaftlicher Prak­tiken eine soziale Differenzierung vor, indem er angibt, dass die Bauern Ackerbau, Vieh- und Pferdezucht betrieben, während sich Söldner, also landlose Angehörige der unterbäuerlichen Schicht, von Tagelöhnerei, Viehweide, Grasmahd und anderen Nutzungen im Moor ernährten. Vielsagend für die enorme Bedeutung des Moores im lokalen agrarischen Kosmos und über alle sozialen Hierarchien hinweg ist nun aber, dass nicht etwa landwirtschaftliche Praktiken und Arrangements auf den Gunstlagen im Fokus der Beschreibung stehen, sondern die vielfältigen Nutzungen des Niedermoorgebiets. Der Leser erfährt von der Weidenutzung mit Viehrassen, die durch ihr geringes Gewicht dem weichen Feucht 15 Michael Wening, Historico-topographica descriptio, das ist Beschreibung deß Churfürsten- und Hertzogthumbs Ober- und Nidern-Bayrn, welches in 4 Theil oder Renntämbter als Oberlandts München und Burgkhausen, Underlands aber in Landshuet und Straubing abgetheilt ist …. München 1701–1726 [ND München 1974–1977]; vgl. dazu: Martin Knoll, Ländliche Welt und zentraler Blick. Die Umwelt- und Selbstwahrnehmung kurbayerischer Hofmarksherren in Michael Wenings ›Historico Topographica Descriptio‹, in: Heike Düselder, Olga Weckenbrock, Siegrid Westphal (Hrsg.), Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit. Köln 2008, 51–77. und Rainer Schuster, Michael Wening und seine »Historico-topographica descriptio« Ober- und Niederbayerns. Voraussetzungen und Entstehungsgeschichte. (Schriftenreihe des Stadtarchivs München, 171). München 1999. 16 Michael Wening, Historico-topographica descriptio, das ist Beschreibung deß Churfürsten- und Hertzogthumbs Ober- und Nidern-Bayrn, welches in 4 Theil oder Renntämbter als Oberlandts München und Burgkhausen, Underlands aber in Landshuet und Straubing abgetheilt ist … Bd. 3. München 1723 [ND: München 1976], 14–15.; BayHStA München Stv 1049 fol. 152v-153r; das Folgende nach: Knoll, Natur, 345–351. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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boden angepasst waren. Die Heu- und Streuernte wird als mühevoller Prozess beschrieben. Bei der Mahd stehen die Söldner oft knietief im Morast. Erst im Winter bei Frost könne das Heu über den nun hartgefrorenen Boden abtransportiert werden. Verschiedene weitere Nutzungen wie die genau regulierte Holz­ ernte und das Fröschesammeln zur Belieferung der urbanen Märkte der Region mit dieser geschätzten Fastenspeise werden detailliert beschrieben. – Kurz: Der Text gewichtet den Schauplatz Niedermoor überproportional. Aus offensichtlicher Vertrautheit mit lokalen Landnutzungspraktiken heraus wird auch und gerade die Bewirtschaftung dieser in vieler Hinsicht prekären Flächen en detail gewürdigt. Dabei werden die mühseligen und sicher problematischen Praktiken weder idealisiert noch negativ bewertet. Sie bilden einen wichtigen Aspekt der dörflichen Subsistenz und erfahren entsprechende Wertschätzung. Sie sind in Ordnung. Im Text spiegeln sich mithin jene »Symbolwelten des Genug«, normative Vorstellungen der Selbstverortung und Selbstbegrenzung im Bezug zu ›Natur‹, wie sie Dieter Kramer vormodernen Subsistenzgesellschaften zuschreibt.17 Die redaktionelle Bearbeitung drehte nun die thematische Symmetrie der Repräsentation des Schauplatzes schlicht um. Das in der Vorlage so dominante große Niedermoor wird kaum sichtbar. Die umfangreiche Schilderung der darauf bezogenen Praktiken fehlt. Der Text rückt die Beschreibung von Schloss und Kirche in den Vordergrund, ganz ähnlich wie dies auch die Grafik tut. Mit der sozial differenzierten Aussage zur Subsistenzwirtschaft entfällt auch die Erwähnung der dörflichen Unterschichten. Übrig bleibt ein Dorf, das sich vom sehr produktiven Ackerbau und der Viehzucht ernährt. Das Niedermoor, dieser nur mühsam nutzbare Grenzboden, diese von Teilen der Bevölkerung als unheimlich empfundene Gegenwelt, hat in einer Topografie, die mit panegyri­ scher Rhetorik das Bild eines blühenden Landes kultiviert, keinen Platz. Dass auch dieses Bild sich als Repräsentation einer guten – gottgewollten – Ordnung versteht, tut der Umwertung keinen Abbruch.

2. Moorkultivierung und gesellschaftlicher Fortschritt: Das Donaumoos Rund einhundert Jahre später erschien die Landesbeschreibung des meinungsstarken bayerischen Aufklärers und Wirtschaftsliberalen Joseph von Hazzi (1768–1845).18 Er äußerte sich im 1802 erschienenen zweiten Band der »Statis 17 Dieter Kramer, Symbolwelten und Naturstoffwechsel, in: Rolf Wilhelm Brednich, Annette Schneider, Ute Werner (Hrsg.), Natur  – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. Münster, New York 2001, 155–166. 18 Vgl. Heinz Haushofer, »Hazzi, Joseph Ritter von«, in: Neue Deutsche Biographie 8, 1969, 158 f. [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd119357798.html [zuletzt aufgerufen am 16.4.2014]. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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tischen Aufschlüsse über das Herzogthum Baiern« unter anderem durchaus bemerkenswert über den Zustand der Stadt Ingolstadt nach der Verlagerung der Landesuniversität nach Landshut. Ingolstadt führe laute Klage darüber, die Stadt müsse »aus Mangel eines andern Erwerbes ohne Universität zu Grund gehen« und schicke »eine Deputazion um die andere ab«. Und weiter: »Wahr ist es, die Lage des armen Ingolstadts ist traurig, allein die Natur ist da so reich, die Gegend so schön! Laßt nur, ihr guten Ingolstädter eure Ideale fahren, und haltet euch an die Realitäten! […] holt die Schätze aus dem Schoose eurer wahren Mutter, der Natur, stürzt vollends die Ruinen der Wälle und Basteien um, füllt die ungesunden Gräben aus, und pflanzt darauf schöne Gärten! Theilt die Gemeinheiten ab, gebt euerer Landwirthschaft den wahren Schwung, und bald werdet ihr mit dem schönern Gewande der Gegend auch euern Wohlstand aufblühen sehen! Die erhöhte Produkzion wird bald euern Industrie- und Spekulazionsgeist aufwecken, die Donau und bestehende Kommerzfreiheit euch günstig jede Gelegenheit dazu darbieten, und was kann daraus anders hervorgehen, als mehr Lebhaftigkeit der Gegend, und mehr Glück für euch?«19 Wir haben es hier mit einer Ästhetisierung eines sozio-naturalen Schau­ platzes zu tun, die – durchaus zeittypisch – die nützliche, durch menschliches Wirken veredelte ›Natur‹ inszeniert. Vordergründig baut Hazzi hier eine starke Dichotomie zwischen städtischer Gesellschaft und ›wahrer Natur‹ auf, genau besehen dekonstruiert er Dichotomien, allen voran jene zwischen Stadt und Hinterland. Denn die mächtigen Festungsanlagen werden in seine optimistische Vision einer Transformation des sozio-naturalen Schauplatzes mit einbezogen. Hazzis Beschreibung des Ist-Zustandes kommt gleichermaßen als Defizitdiagnose und als Appell daher: Die Ingolstädter sollten ihre bislang ineffiziente, »wilde« und stark auf der Beweidung von Allmende beruhende Landwirtschaft aufgeben, um die »mächtigen Triebe der Natur, die alles wie aus einem Füllhorn ausschüttet«,20 zu nutzen. Dass die landwirtschaftliche Melio 19 Joseph von Hazzi, Statistische Aufschlüsse über das Herzogthum Baiern. Aus ächten Quellen geschöpft. Ein allgemeiner Beitrag zur Länder- und Menschenkunde, Bd. 2/1. Nürnberg 1802, 445–446. 20 »Landwirtschaft und Kultur [:] Obschon diese schöne Fläche jede Gelegenheit darbietet, die Landwirthschaft in vollen Schwung zu setzen, so darf man doch nur die Hälfte als kultivirt annehmen; das übrige ist Au oder Weidplatz, zwischen welchen Auen (Gesträuche und Inseln) und Weidplätzen selbst die Donau sich mühsam fortwälzen muß. Der ganze Feldbau liegt noch im rohen, ungeachtet der Boden, der zum Theil Sand, zum Theil wohlthätig von dem fetten Donauschlamm gemischt ist, bei all dem geringen Fleiß doch Weizen zu 8 bis 10 Saamen trägt. Mit etwas anderm, selbst mit den Futterkräutern und der Wiesenwirtschaft ist man kaum bekannt. Die Ingolstädter jagen beim frühen Schall der Hirtenhörner ihr Vieh aus der Stadt, und bekümmern sich bis Abends bei der Zurückkunft nichts weiter darum. Der Landwirthschaft ist auch schon dadurch ein Hinderniß in Weg gelegt, weil die Stadtthore erst um 6 Uhr früh geöfnet werden. Ausser einigen Gärten in der Stadt sucht man ausser den Mau© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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risation von Feuchtflächen einen zentralen Gegenstand von Hazzis Optimierungsoptimismus bildete, mag gerade am Standort Ingolstadt wenig verwundern. Die Trockenlegung des Donaumooses bei Neuburg und Ingolstadt war ein zentrales Projekt im Bayern des 18. und 19. Jahrhunderts. Landgewinnung und landwirtschaftliche Produktionssteigerung in Moorgebieten zogen Hazzi und andere Agrarreformer in ihren Bann.21 Nützlichkeit wird den Mooren in ihrer alten Verfassung abgesprochen. Allmenden und ertragsarme Feucht­f lächen sind die Hauptansatzpunkte für Reformkonzepte. Traditionelle amphibische Gesellschaften und ihre Subsistenzstrategien haben in Hazzis Programmatik ebenso wenig Platz wie in der Friedrichs II. von Preußen. Und diese Distanz zwischen traditionellen Nutzungspraktiken und der Programmatik ökonomischer und politischer Reformer mag ihren Teil zur Erklärung des ambivalenten Erfolgs dieser Großprojekte beitragen. Während Friedrich II. seine vermeintliche Eroberung einer Provinz ›im Frieden‹ schließlich unter Einsatz des Militärs durchsetzen musste, führten die Querelen um das Donaumoos-Projekt dazu, dass einer seiner zentralen Protagonisten, Johann Georg von Aretin, eine apologetische monografische Schrift über das Projekt publizierte. Aretins Argumentation deckt sich weitgehend mit der Hazzischen Programmatik. Da Aretin eine sehr detaillierte Beschreibung des status quo ante vorlegt, kommt er auch eingehend auf viele der Bedingungen und Praktiken zu sprechen, die uns aus der bereits zitierten älteren Schilderung der Moornutzung im Erdinger Moos bekannt sind. An der Defizienz dessen, was noch die Hofmarksherrschaft in Notzing als eine – wenngleich innerhalb enger Knappheitsgrenzen – funktionierende Ordnung vorgestellt hatte, lässt Aretin von Anfang an keinen Zweifel: »Zwar haben wenige Gegenden im Lande von Natur eine so vortheilhafte Lage zu dem blühendsten Acker- und Wiesenbaue, als eben diese, gleichwohl war nirgend Wiesenbau und Viehzucht in schlechterem Zustande, nirgend größerer Futtermangel und sichtbarerer Verfall der ganzen Landwirtschaft, als hier. Ein Beweis, daß die Kultur dieses Sumpfes vor allen andern in Baiern nothwendig war.«22 ern vergebens Blumen, und findet nirgends Früchte oder Schatten zur Labung. In den wilden Auen, wo nicht einmal noch das Eigenthum ausgeschieden, noch weniger etwas abgetheilt ist, entdeckt man wohl auf allen Seiten die mächtigen Triebe der Natur, die alles, wie aus einem Füllhorn ausschüttet, doch für diese so nachdrücklichen Winke der Natur war man bis jezt noch nicht empfänglich. Auf allen Seiten stimmen hier die schwärmerischen Nachtigallen ihre melancholischen Klaglieder an; diesen armen Thierchen geht man wohl zu Leibe, aber die Wüste läßt man Wüste; blos die Heerden ziehen in diesen Austrecken herum, und das Gesträuch wird zum Theil zum Verbrennen angewandt.« von Hazzi, Statistische 2/1, 430–431. 21 Vgl. Rainer Becks Studie zur Transformation von Landnutzung und Landschaft in der Region Ebersberg: Rainer Beck, Ebersberg oder das Ende der Wildnis. Eine Landschaftsgeschichte. München 2003. 22 Johann Georg von Aretin, Aktenmäßige Donaumoos-Kulturs-Geschichte. Mannheim 1795, 22. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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In drastischen Farben schildert Aretin den schlechten Zustand der Gemeindeweiden sowie Mühsal und Leid von Mensch und Tier. Geplagt und geschwächt von krankmachenden Dämpfen, von Insekten und Blutegeln, vom Futtermangel und vom Verzehr giftiger Kräuter und sauren Grases vegetiere das Vieh dahin.23 Die Schwierigkeiten der Mahd und der Trocknung beeinträchtigten den ohnehin geringen Heuertrag der bereits durch Viehtritt beschädigten Feuchtflächen. Der in der Notzing-Beschreibung ebenfalls erwähnte Einsatz angepasster kleiner und leichter Viehrassen erfährt eine grundlegend negative Neubewertung: »Die Viehzucht, jene Hauptstütze des Ackerbaues, war hier beinahe am schlechtesten im ganzen Lande bestellt. Das Vieh war klein gering, schwach und ungesund. Kein von andern blühenden Gegenden hieher gepflanztes Vieh konnte hier fortkommen, sonder wer sich eines anschaffen wollte, mußte es sich aus der Moosgegend nehmen, welches schon gleichsam im Schlamme und Moraste erwachsen war. »24

Das Donaumoos in seiner Verfassung vor den Meliorationen wird zur lebensfeindlichen Gegenwelt stilisiert, zur Heimstätte von Hagel und Wetterschaden und – ob seiner geringen Siedlungsdichte – zum Hindernis von Handel, Verkehr und Geldumlauf.25 Die Dünste verbreiteten »Schrecken und Tod«.26 So drastisch die Inszenierung des Donaumooses als Gegenwelt ausfällt, so zügellos die Idealisierung der Ergebnisse der Moorkultivierung: »Alle Produkte, womit man zur Zeit noch Versuche gemacht hat, gedeihen in der neuen Erde zum Erstaunen, und wo nur einiger Fleiß angewendet wird, besser, oder wenigstens eben so gut, als in längst kultivierten Gegenden. […] Der Geist der Kultur erwacht allmählig in der Gegend, und ist im Begriffe der ganzen dortigen Landwirthschaft ein blühendes Aussehen zu geben, und das Donaumoos ist, wo ich nicht irre, der Punkt, von wo aus ächte Kultur, und eine blühendere Landwirthschaft sich in goldenen Strömen über ganz Baiern ergiessen wird.«27

Die zeitgenössische diskursive Präsenz des Moorsujets weit über agrarische und ökonomische Fachdiskurse hinaus wird übrigens auch im Umstand deutlich, dass der Philologe Johann Adreas Schmeller sich im Artikel »Moos« seines Bayerischen Wörterbuches eingehend – und wohl weit nüchterner als Aretin – zur Meliorisation äußert: »Es gibt in Bayern solcher Möser (Moore, Brüche) einige von großem Umfang, z. B. das Donau-Moos, das »Dachauer Moos«, das »Freisinger oder Erdinger Moos«. Die zur Cultivirung des erstern verwendeten Summen scheinen verloren zu seyn, wenn 23 Ebd., 25–26. 24 Ebd., 35. 25 Ebd., 40. 26 Ebd., 42. 27 Ebd., 112. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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nicht neue Anstrengungen das Vorhandene erhalten. Besser mögen die Ansiedelungen zu München und Dachau gedeihen. Man sollte Möser erst in Waldgründe umzuwandeln suchen; diese würden sich von selbst eine Dammerde ziehen. Übrigens scheint die so schwierige Cultivierung der Möser noch kein wahres Bedürfniß, so lange man ungeheure Strecken besseren Bodens, wie z. B. zwischen München und Unterbruck, unbenutzt liegen läßt. Aus nichts wird nichts. Man sollte nicht gerade den geringsten Kräften die schwierigste Aufgabe zutheilen. Kapitalisten würden mehr ausrichten. Mit Patriotismus anfangende, könnten wol sie allein mit Vortheil enden. Bettler aber bleiben gewöhnlich auch als Colonisten Bettler.«28

Was war aus dem sozio-naturalen Schauplatz Niedermoor geworden zwischen der mit lokalen agrarischen Praktiken vertrauten Beschreibung des frühen 18.  Jahrhunderts und dem distanzierten Blick des Münchener Wörterbuchautors? Erstens: Das Moor hört schon in der topografischen Redaktion der Historico topographica descriptio auf, ein mit den übergeordneten Ordnungs­ vorstellungen harmonierender Schauplatz zu sein. Im Kultivierungsoptimismus des 18. Jahrhunderts wird er dann zu einem zu überwindenden Stadium. Im argumentativen Kontext einer dichotomisierenden Natursicht wird das Moor zunächst als Gegenwelt ausgegrenzt und die quasi Eroberung dieses ex-zentrischen Bereiches durch Kultivierung propagiert. Schmeller hegt dagegen Mitte des 19.  Jahrhunderts bereits Zweifel am Erfolg der großmaßstäblichen Transformation. Interessant ist dabei, dass sowohl im distanzierten Blick des spätaufklärerischen Reformers als auch in dem des Sprachwissenschaftlers die Defizienz der Bewohner mit der des Schauplatzes korreliert. Sind es jedoch bei Aretin die lokalen Bewohner vor der Trockenlegung, die ebenso arm wie faul ihr Leben fristen,29 so sind es bei Schmeller die Neusiedler. Der Schauplatz frisst seine Kinder.

3. Fazit Welche Schlüsse lassen sich aus der topografischen Repräsentation des sozionaturalen Schauplatzes Niedermoor ziehen? 1) Es gab  – und gibt  – konkurrierende normative Vorstellungen von guter  – sinnstiftender  – Ordnung, unabhängig von materiellen Rahmenbedingungen und unabhängig vom Grad der expliziten Sakralität oder Säkularität die 28 Johann Andreas Schmeller, Art. »Das Mos, plur. Möser«, in: Bayerisches Wörterbuch. München 1985, 1672–1674. 29 »In wenigen Gegenden Baierns ist der Bauer so muthlos, so ein Frötter, und bei aller Armuth doch so unthätig. Er meint Wunder, was gethan zu haben, wenn er auf die herkömmliche Art und zur gewöhnlichen Zeit säet, ärndet und mähet, und etwa ein Paar Schäffel Getreid auf den nächst gelegenen Fruchtmarkt führt; denn weiter erstrecket sich sein Fleiß selten.« von Aretin, Aktenmäßige, 41. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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ser Ordnungsentwürfe.30 Im oben diskutierten Beispiel der Hofmark Notzing und ihrer großen Niedermoorgründe entwarf die Hofmarksherrschaft in ihrem Bericht eine subsistenzwirtschaftliche Ordnung, eine »Symbolwelt des Genug«, die Selbstbeschränkung und Nutzung des Gegebenen – unter Einschluss prekärer Schauplätze – durch an den Schauplatz angepasste landwirtschaftliche Praktiken vorsah. Bereits zeitgenössisch kontrastierte dieser Ordnungsentwurf mit dem rhetorischen Programm der Landesbeschreibung, als deren Beitrag die Notzing-Beschreibung erschien. Prekäre Grenzflächen passten nicht in das panegyrische Programm einer Landesbeschreibung, die qua Idealisierung natürlicher Gunstsituationen, Ressourcenvorkommen und landwirtschaftlicher Ertragskraft das Land und damit letztlich das Herrscherhaus glorifizieren sollte. Beide Ordnungsentwürfe – ob unter Berücksichtigung oder Ausblendung prekärer Schauplätze – waren tendenziell statischer Natur, während die späteren Reforminitiativen eine dynamisierte und dichotomisierte Ordnung konzipierten. Die Ausgrenzung und Delegitimierung ertragsarmer Flächen, die es durch technische Eingriffe zu optimieren galt, entsprach einer Dichotomisierung; die Ablösung von Selbstbeschränkung und Anpassung an ›Natur‹-gegebene Umstände als leitende Ordnungsvorstellungen durch einen prinzipiellen Fortschritts- und Machbarkeitsoptimismus bedeutete eine Dynamisierung. Beide konkurrierenden Konzepte – Selbstbeschränkung und Anpassung vs. Fortschritt und Machbarkeit – stehen einander noch heute in gesellschaftlichen Debatten um die ökonomische Rolle, die technische Entwicklung und die ökologische Bilanz von Landwirtschaft, wenngleich nicht selten diffus formuliert, so doch im Kern letztlich unversöhnlich gegenüber. 30 Zur Relativierung des vor allem in der Wissenschaftsgeschichte lange überbetonten Zusammenhangs von Fortschrittsorientierung, Modernisierung und Säkularisierung vgl. u. a. Kaspar v. Greyerz, Religion und Kultur. Europa 1500–1800. Göttingen 2000, 31–32 und Matthias Pohlig, Ute Lotz-Heumann, Vera Isaiasz, Ruth Schilling, Heike Bock, Stefan Ehrenpreis, Einleitung: Säkularisierung, Religion, Repräsentation, in: Matthias Pohlig, Ute Lotz-Heumann, Vera Isaiasz, Ruth Schilling, Heike Bock, Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien. Berlin 2008, 9–20. Im agrarischen Kontext lässt sich hier etwa auf das von Roy Porter untersuchte englische Beispiel verweisen: Roy Porter, The Environment and the Enlightenment. The English experience, in: Lorraine Daston, Gianna Pomata (Hrsg.), The faces of nature in Enlightenment Europe. Berlin 2003, 17–38, hier v. a. 25–27. Der physikotheologische Kultivierungs- und Fortschrittsoptimismus sah gerade landwirtschaftliche Rationalisierung unter Einschluss der enclosures als gottgefällig an. Porter zitiert John Rays »The Wisdom Of God Manifested in the Works of Creation« aus dem Jahre 1691 mit den Worten: »I persuade myself that the bounti­f ul and gracious Author of Man’s Being […] is well pleased with the Industry of Man, in adorning the Earth with beautiful Cities and Castles; with pleasant Villages and Country-­ Houses; with regular Gardens and Orchards, and Plantations and all Sorts of Shrubs and Herbs, and Fruits, for Meat, Medicine, or Moderate Delight […] and what­ever differencth a civil and well-cultivated Region, from a barren and desolate Wilderness.« (zit. nach ebd., 25–26). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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2) Jede Transformation sozio-naturaler Schauplätze steht gegenüber bestehenden Ordnungsvorstellungen unter Rechtfertigungsdruck. Es genügt dabei nicht, nur mit einzelnen dieser Ordnungsvorstellungen zu harmonieren, sondern bedarf der Anschlussfähigkeit an ein nicht immer leicht zu greifendes normatives Ganzes. Im agrarischen Kontext lässt sich eine solche Gesamtheit von Ordnungsvorstellungen wohl  – wenn nicht präzise, so doch recht eingängig – mit dem Begriff der »Kultur der Landwirtschaft« beschreiben, den Ernst-Ludwig Winnacker im Zusammenhang mit der Diskussion um die grüne Gentechnik verwendet.31 Winnacker begründet seine Skepsis gegenüber Biopatenten mit der bemerkenswerten Argumentation, dass »ihre gelegentlich kompromisslose Durchsetzung nicht in die Kultur der Landwirtschaft passt.«32 Die Patentstrategien einiger Unternehmen, so Winnacker, hätten »zu einem beträchtlichen Vertrauensverlust und Imageschaden geführt. Grüne Gentechnik wird fälschlicherweise mit industrialisierter Landwirtschaft gleichgesetzt und als Gegensatz zu nachhaltigen Formen der Landwirtschaft gesehen.«33 Ordnungsvorstellungen haben viel mit der Ziehung von Grenzen zu tun, innerhalb derer als legitim erachtete Praktiken und Techniken angesiedelt werden. Andere Praktiken und Techniken stellen dagegen Grenzüberschreitungen dar, die diese delegitimieren. Die großmaßstäbliche Abkehr von Allmenden stellte in der ländlichen Welt des 18. und 19.  Jahrhunderts eine solche Grenzüberschreitung dar. Einen mindestens ebenso drastischen Bruch mit der »Kultur der Landwirtschaft« markiert wohl der technische Eingriff in das Genom von Nutzpflanzen. Im Übrigen besteht eine direkte Verbindung zwischen beiden Prozessen, da ja das Vordringen von Sortenschutz und Biopatenten ganz ähnlich wie die Überführung von Allmendflächen in Privateigentum mit der Zurückdrängung kollektiver Bewirtschaftung biophysischer Ressourcen einhergeht. Dass aber die Bewirtschaftung von commons nicht zwangsläufiger in einer sozialen und ökologischen Tragödie mündet34 als streng reglementierte Formen des Gemeineigentums, dürfte nicht erst seit der Verleihung des Wirtschafts-Nobelpreises an Elinor Ostrom auf breiteren Konsens stoßen.35 31 Ernst-Ludwig Winnacker, Verwirrspiel auf dem Acker. Monokulturen, gefährdete Vielfalt: An allem soll die grüne Gentechnik schuld sein. Warum die Landwirtschaft sie dringend braucht, in: Die Zeit, Nr. 46, 16.11.2011, 41. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Vgl. Garret Hardin, The Tragedy of Commons, in: Science 162, 1968, 1243–1248. 35 Vgl. Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg), Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, München 2009 [online: http://www.boell.de/downloads/ economysocial/Netzausgabe_Wem_gehoert_die_Welt.pdf, zuletzt aufgerufen am 1.10.2012]. In seiner empirisch gesättigten Mikrostudie zum westfälischen Kirchspiel Löhne im 18. und 19. Jahrhundert kommt Georg Fertig zu dem Schluss: »Die Gemeinheitsteilung erfolgte nicht, weil sie große Produktivitätssteigerungen möglich machte, sondern weil sie staat© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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3) Die Transformation sozio-naturaler Schauplätze ist selten eine klare Erfolgsoder Misserfolgsgeschichte. Vielmehr handelt es sich bei diesen Kategorien selbst bereits um dichotomische Konzepte die dem Facettenreichtum sozionaturaler Gefüge nicht gerecht werden. Das in meinem Beitrag referierte Beispiel der Ameliorationen des Donaumoores ist dafür sprechend. Die einseitige Idealisierung der Projektergebnisse durch Johann Georg Freiherr von Aretin begegnet einem schonungslosen Verdikt über dieselben Ergebnisse durch Johann Andreas Schmeller. Beide Positionen erzählen nicht die ganze Geschichte. Agrarische Innovationsprozesse bedingen sozio-naturale Transformationsprozesse. Gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber solchen Prozessen erreicht weder derjenige, der unreflektierte Heilsversprechen abgibt, noch derjenige, welcher in einem statischen Ideal sozio-naturaler Schauplätze jegliche Dynamik ablehnt. 4) Die sozial- und geschichtswissenschaftliche Analyse der Transformation sozio-naturaler Schauplätze tut gut daran, statt solcher dichotomischer Kategorien Parameter gesellschaftlicher Nachhaltigkeit in den Blick zu nehmen. Ich denke hier etwa an die Vulnerabilität und Resilienz von Gesellschaften oder an das analytische Konzept der Risikospirale (Abb.  3). Letzteres war 1996 von Rolf Peter Sieferle und Ulrich Müller-Herold geprägt worden.36 Danach lässt sich Landwirtschaft als co-evolutiver Prozess deuten, in dessen Rahmen Transformationen von Praktiken und Arrangements im Interesse der Überführung von Unsicherheiten in gesellschaftlich beherrschbare Risiken und deren Ausschaltung vorangetrieben, dabei aber durch unerwartete Nebeneffekte neue Unsicherheiten generiert werden. Die Landwirtschaft der Industriegesellschaft hat sich mit dem großmaßstäblichen Einsatz fossiler Treibstoffe, synthetischer Düngemittel und Pestizide37 nicht nur abhängig von fossilen Energieträgern gemacht. In ihrer monokulturellen Arbeitsweise, ihrer Sortenarmut und ihrer Vergessenheit bodenbiolich gewollt und für die einzelnen Interessenten von Vorteil war. Einen übergeordneten ökonomischen oder ökologischen Sinn müssen wir ihr nicht zuschreiben.« Georg Fertig, Gemeinheits­teilungen in Löhne. Eine Fallstudie zur Sozial- und Umweltgeschichte Westfalens im 19.  Jahrhundert, in: Karl Ditt, Rita Gudermann, Norwich Rüße (Hrsg.), Agrar­ modernisierung und ökologische Folgen. Westfalen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Paderborn 2001, 393–426, hier: 426. 36 Vgl. Ulrich P. Müller-Herold, Rolf Peter Sieferle, Überfluß und Überleben. Risiko, Ruin und Luxus in primitiven Gesellschaften, in: GAIA 5, 1996, 135–143, hier v. a. 141–142; Rolf Peter Sieferle, Die Risikospirale, in: Wissenschaft und Umwelt interdisziplinär, 2006, 157–166. 37 Vgl. Jürgen Büschenfeld, Agrargeschichte als Umweltgeschichte. Chemie in der Landwirtschaft. Zum Umgang mit Pestiziden in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Karl Ditt, Rita Gudermann, Norwich Rüße (Hrsg.), Agrarmodernisierung und ökologische Folgen. Westfalen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Paderborn 2001, 221–259. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

Zur neuzeitlichen Konzeption des Schauplatzes Landwirtschaft Risikoverminderung; Erhöhung der Erträge

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Neue Arten der Unsicherheit

Innovation

Innovation

Neue Arten der Unsicherheit Risikoverminderung; Erhöhung der Erträge

Innovation

RisikoNeue Arten verminderung; der Unsicherheit Erhöhung der Erträge

Abb. 3: Risikospirale, aus: Müller-Herold/Sieferle 1996, in: GAIA 5 (1996), 141.

logischer Zusammenhänge bewegt sie sich auch biotisch auf einem hohen Risikolevel.38 Je nach Lesart bietet grüne Gentechnik hier eine Chance, wie es Ernst-Ludwig Winnacker in seinem bereits zitierten Diskussionsbeitrag nahelegt, oder ist im Sinne Müller-Herolds und Sieferles nicht mehr als die nächste Umdrehung der Risikospirale. Es gibt in der jüngeren sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung ein wachsendes konzeptionelles Angebot, Landwirtschaft und landwirtschaftliche Nachhaltigkeit aus einer nicht dichotomischen Perspektive heraus zu analysieren. Ob etwa die Akteur-Netzwerk-Theorie, wie sie Cordula Kropp in experimenteller Absicht auf Produkt und Produktion von Bio-Milch angewendet hat,39 hier zielführend ist, bleibt zu diskutieren. Ein »Verschwinden der Natur« aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Landwirtschaft ist damit nicht zu befürchten. Vielmehr bleibt mittelfristig die Hoffnung, dass ein entdichotomisierter Fachdiskurs zu sozionaturalen Gefügen auch in der Lage sein wird, produktivere Naturkonzepte in populäre Agrardiskurse einzubringen als sie dort einstweilen noch vorherrschen.

38 Zur umweltsoziologischen Kritik am Risikobegriff vgl. Peter Wehling, Vom Risikokalkül zur Governance des Nichtwissens. Öffentliche Wahrnehmung und soziologische Deutung von Umweltgefährdungen, in: Matthias Groß (Hrsg.), Handbuch Umweltsoziologie. Wiesbaden 2011, 529–548. 39 Vgl. Cordula Kropp, »Enacting Milk«. Die Akteur-Netz-Werke von »Bio-Milch«, in: Martin Voss, Birgit Peuker (Hrsg.), Verschwindet die Natur? Die Akteur-Netzwerk-Theorie in der umweltsoziologischen Diskussion. Bielefeld 2006, 203–232. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Lenken und Erziehen Mensch und Natur in der Debatte um die sowjetische Genetik* Indem wir die Natur verändern, verändern wir uns selbst. Maksim Gor’kij

Das Gen ist ein »kultureller Begriff«1, an dem sich nicht erst in jüngster Zeit scharfe Kontroversen über die erwartete Zukunft, über Konstanz und Veränderung, entzündet haben. Dies zeigt sich aktuell an der Debatte um Grüne Gentechnik, in der vermeintlich über Risiken gestritten wird, letztendlich aber widerstreitende Zukunftsvorstellungen sowie Natur- und Menschenbilder aufeinandertreffen. Schon in der frühen Sowjetunion war das Gen ein Politikum.2 Der Konflikt entbrannte an Fragen der Vererbung zwischen den sogenannten »klassischen« oder »formalen« Genetikern und jenen Agrarpraktikern, die lamarckistischen Theorien folgten. Schon damals stand die Frage im Mittelpunkt, wie Leben weitergegeben wird und werden soll. In dieser Debatte ragen vor allem zwei Akteure heraus: Nikolaj Vavilov und Trofim Lysenko. Sie stehen für die beiden wissenschaftlichen Lager, die sich seit den 1930er Jahren in Fragen der Vererbung unversöhnlich gegenüberstanden. In ihren Biographien personalisieren sich die verschiedenen Theorien; der Erfolg des einen war des anderen Niedergang. Nikolaj Vavilov ging gemäß der Theorien von Gregor Mendel, Thomas Hunt Morgan und August Weismann davon aus, dass die Vererbung von Eigenschaften bei Pflanzen über Gene erfolgte.3 Den Biologen ist er vor allem durch sein 1920 formuliertes »Gesetz der homologen Reihen« bekannt. Als Lysenko Ende der 1920er Jahre erstmalig Aufmerksamkeit erhielt, war Vavilov schon ein etablierter Wissenschaftler, der 1926 sogar den prestigereichen Lenin-Preis erhalten hatte. Vavilov, Sohn eines reichen Kaufmanns, sprach mehrere Sprachen. Er hatte zwischen 1924 und 1932 die Welt bereist und Samen gesammelt, die den * Ich danke Jan Arend, Bianca Hoenig und Andreas Renner für Anmerkungen und Kritik. 1 Igor J. Polianski, Das »Lied vom Anderswerden«. Der Lysenkoismus und die politische Semantik der Vererbung, in: Osteuropa 59, 2009, 69–88, hier 69. 2 Ebd., 69; Ludger Weß, Einleitung, in: Ludger Weß (Hrsg.), Die Träume der Genetik. Gentechnische Utopien von sozialem Fortschritt. Nördlingen 1989, 9 f. 3 Erst 1900 waren die Arbeiten Gregor Mendels wiederentdeckt worden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Grundstock seines Instituts für Pflanzenzüchtung in St. Petersburg bildeten.4 Er war gut in der internationalen scientific community vernetzt; der internationale Weltkongress der Genetiker wählte ihn 1937 zu seinem Präsidenten. Dass dieser Kongress nicht mehr wie geplant in Moskau stattfinden konnte und Vavilov als gewählter Präsident für den Siebenten Internationalen Genetiker-Kongress in Edinburgh keine Ausreisegenehmigung mehr erhielt, zeigt, wie prekär seine Situation in der zweiten Hälfte der 1930er geworden war; rapide büßte Vavilov im eigenen Land seine Reputation als Wissenschaftler ein, während er im Westen weiterhin gefeiert wurde.5 1940 verlor er all seine Posten und verhungerte wahrscheinlich 1943 in einem Gefängnis in Saratov, in das er als vermeintlicher »Schädling« der sozialistischen Ordnung gebracht worden war.6 Bis zur Perestrojka durfte öffentlich nicht über sein Schicksal gesprochen werden, auch wenn seit den 1960er Jahren seine Schriften wieder publiziert werden konnten. Die Biographie, die der Dissident Mark Popovskij über Vavilov verfasst hatte, kursierte als Kopie nur in wenigen intellektuellen Zirkeln.7 Trofim Lysenko hatte hingegen seine Karriere als Pflanzenzüchter begonnen. Am Anfang seines spektakulären Aufstiegs hatten seine Überlegungen zur Kälte gestanden. 1929 verkündete er, einen künstlichen Winter erzeugt zu haben. Er brachte Saatgut, das überwintern musste, durch Anfeuchten zum Keimen, lagerte es einige Zeit in kühlen Scheunen und säte es schließlich wie Sommersaat aus. Durch diese Methode, so Lysenko, sei es ihm gelungen, langsam reifenden Winterweizen in rasch reifenden Sommerweizen zu verwandeln und die Erträge um 40 % zu steigern. Mit seiner Person und der Theorie der »Jaro­ wisierung«8, wie er das Verfahren nannte, entsprach er den Sehnsüchten der sowjetischen Gesellschaft und auch Stalins nach reichen Ernten. 1927/1928 war die Ukraine von einem strengen Winter heimgesucht worden, der zu Frost­schäden und einem Einbruch der Ernteerträge geführt hatte. Dieser Umstand trug dazu bei, dass seine Behandlung des Saatguts als Sensation beklatscht wurde.9 Lysenko stellte zu einem Zeitpunkt, an dem sich die sowjetische Landwirtschaft durch die Kollektivierung am Rande des Ruins befand, schnelle, anstren­ gungslose Ernteerträge in Aussicht. Zudem besaß er als Sohn eines »armen Bauern« die richtige Klassenherkunft und erfüllte damit das zentrale Kriterium, das an einen »sowjetischen Helden« gestellt wurde: In den folgenden Jahren 4 Mark Popovsky, The Vavilov Affair. Hamden CT 2004, 67. 5 Weß, Einleitung, 68. 6 Popovsky, Vavilov, 150, 190. 7 Ebd., 10. 8 Abgeleitet von dem altkirchenslavischen Wort jara für »Frühling«. In der Mythodo­ logie der Ostlaven ist Jarilo der Gott der Fruchtbarkeit. Jarilo, in: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, Bd. 30. Moskva 1978, 551. 9 Žores A. Medvedev, Der Fall Lysenko. Eine Wissenschaft kapituliert. Hamburg 1971, 30; Popovsky, Vavilov, 76. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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wurden dem ukrainischen Bauernsohn Denkmäler gesetzt, die Zeitungen waren voll von landwirtschaftlichen Erfolgsmeldungen, die man ihm zu verdanken habe. Schon zu Lebzeiten erhielt er den Beinamen »der Große«, der in der russischen Geschichte bis dahin vor allem Herrschern wie Peter I. und K ­ atharina II. vorbehalten war. Im Repertoire des sowjetischen Staatschors gab es eine Hymne auf Lysenko. Auch in Volksliedern wurde der »ewige Ruhm des Akademikers Lysenko« besungen.10 Gestützt auf seine auch vom Kreml gefeierten Erfolge präsentierte Lysenko 1935 sein Konzept einer »aktiv umgestaltenden Biologie«, die aus seiner Sicht vermochte, die lebende Natur planmäßig zu lenken und zu beherrschen. Der »schöpferische Darwinismus«, den Lysenko vertrat, ist dem Neolamarckismus zuzuordnen, einer im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auch außerhalb der Sowjetunion verbreiteten Richtung der Biologie. Jean-Baptiste de Lamarck hatte den Formenwandel des Lebendigen als »Vervollkommnungstrieb« der Natur erklärt, durch den das »Unvollkommene« zum »Vollkommenen« werde.11 Lysenko bezog sich nur selten auf den Franzosen als den Urvater seiner Ge­ danken, sondern bezeichnete sich in erster Linie als Schüler des Pflanzenzüchters Ivan Mičurin. Dieser hatte zahlreiche Experimente durchgeführt, mithilfe derer südliche Obstsorten in winterfeste Pflanzen umgewandelt werden sollten, um so die Früchte des Südens auch in den nördlichen Gefilden Russlands ernten zu können.12 Lysenko bezeichnete sich selbst als »Mičurinist« und seine Biologie als »Mičurin-Biologie«. Er wurde nicht müde zu betonen, dass es die Sowjetunion sei, die dieser im Zarenreich verkannten Richtung zum Durchbruch verhelfe.13 Am Ende der 1930er Jahre war der Bezug auf Mičurin so positiv konnotiert, dass Wissenschaftler, die als »Anti-Mičurinisten« bezeichnet wurden, die Fama des Staatsverrats traf. Semantisch fanden sie sich in den Reihen der Trotzkisten wieder.14 Für Lysenko war die Vererbung erworbener Eigenschaften die Möglichkeit, die »schicksalhafte Macht« der Erbanlage zu brechen. Theorien, die von einer umweltautonomen Erbsubstanz ausgehen, so Lysenkos Einschätzung, seien unfähig, die Evolution, die auf Veränderung beruhe, zu erklären. Zudem widersprächen sie der Lehre des dialektischen Materialismus. Anhand der Debatte um die sowjetische Genetik werde ich zeigen, wie im Sprechen über Pflanzen und Vererbung verschiedene Natur- und Gesellschaftsbilder kollidierten. Der Konflikt zwischen den Lysenkoisten und den Gene­ tikern verdeutlicht, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht isoliert analysiert werden kann von den Sehnsüchten und Ängsten einer Gesellschaft. 10 Medvedev, Fall, 148–152. 11 Polianski, Lied, 73. 12 Ivan Vladimirovič Mičurin (1855–1935), russischer Botaniker und Pflanzenzüchter. 13 Lyssenko, I. W. Mitschurin – der geniale Genetiker und Züchter, in: I. W. Mitschurin, Ausgewählte Schriften. Berlin 1951, 19–25, hier 24 f. 14 Popovsky, Vavilov, 41. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Zudem soll durch die Analyse der Natur- und Gesellschaftsbilder sowie der Vorstellungen, die die Akteure als Wissenschaftler von sich hatten, ein neuer Blick auf die Lysenko-Biologie geworfen werden. Noch immer ist die Vielzahl der bisherigen Studien zu Lysenko der Totalitarismustheorie verpflichtet. In ihnen erscheint seine Person als Chiffre für die Pervertierung von Wissenschaft durch Politik und Ideologie.15 Häufig wird die biologische Richtung, die Lysenko vertrat, in einem Atemzug mit der nationalsozialistischen Rassenpolitik und Eugenik genannt.16 Der Umstand, dass der Kalte Krieg auch auf dem Feld der Wissenschaften, vor allem der Biologie, ausgetragen wurde, führt immer noch dazu, dass mit dem Verweis auf die Lysenko-Debatte die Unterschiede zwischen »Ost« und »West« zementiert werden. Dabei wird gern vergessen, dass auch in Ländern wie Frankreich lamarckistische Theorien bis in die 1960er Jahre hinein ihre Anhänger fanden. Statt den Erfolg, den Lysenko in der Sowjetunion hatte, als irrationale Verblendung hinzustellen, die angeblich nur in totalitären Staaten möglich sei, möchte ich die Bedeutung von Natur- und Menschenbildern, aber auch von Zukunftsvorstellungen bei der »Erzeugung wissenschaftlicher Tatsachen« aufzeigen.17 Warum kam es zu dieser Zuspitzung in den Diskussionen? Welche Rolle spielten die Vorstellungen, die die historischen Akteure von Natur, Gesellschaft und von sich als Wissenschaftlern hatten, in den Debatten um Vererbung? Wie trugen diese Vorstellungen dazu bei, dass der Disput solche Brisanz gewann? Die historiographischen Deutungen sollen damit zu einem Zeitpunkt hinterfragt werden, an dem sich das Bild Lysenkos in der Biologie differenziert. Dass bei Pflanzen durch Umweltinduzierung vererbbare Veränderungen erzeugt werden können, ist mittlerweile weitgehend anerkannt. Der Beitrag ist in drei Abschnitte gegliedert. In ihnen soll auf drei verschiedenen Ebenen dem Spannungsfeld zwischen Mensch und Natur nachgegangen werden. Im ersten Abschnitt stehen die widerstreitenden Naturvorstellungen im Mittelpunkt, die in der Diskussion um die Genetik in der Sowjetunion aufeinander trafen. Es wird gezeigt, wie Natur zum Objekt bolschewistischer Erziehungsutopien wurde. Danach werden jene Vorstellungen von Gesellschaft untersucht, die mit den beiden Richtungen in der Biologie verbunden waren. 15 Dies ist auch in neueren Arbeiten der Fall. Nils Roll-Hansen, The Lysenko Effect. The Politics of Science. Amherst, New York 2005. Siehe auch das Vorwort von Michael Lerner zu Medvedevs Buch über Lysenko: Medvedev, Fall, 11. 16 Dominique Lecourt setzt sich wohltuend von dieser Lesart ab. Dominique Lecourt, Proletarische Wissenschaft? Der »Fall Lyssenko« und der Lyssenkismus. Berlin 1976. Igor Polianski und Boris Gasparov gehören zu den wenigen Autoren, die Kritik an der bisherigen Wissenschaftsgeschichte zu Lysenko üben. Polianski, Lied, 69 f.; Boris Gasparov, Development or Rebuilding. Views of Academician T. D. Lysenko in the Context of the Late AvantGarde, in: John E. Bowlt, Olga Matich (Hrsg.), Laboratory of Dreams. The Russian Avantgarde and Cultural Experiment, Stanford 1999, 133–150, hier 134. 17 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a. M. 20066. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Dabei wird besonderer Wert auf die Imaginationen gelegt, die den Bauern als Produzenten betrafen. Es wird deutlich, dass der technologische Fortschritt, der mit der Lysenko-Biologie erreicht werden sollte, auch eine Zivilisierungs- und Disziplinierungsmaßnahme war, mit der die Bauern zu »neuen Menschen« umerzogen werden sollten. Im dritten Teil stehen dann jene Selbstbilder im Mittelpunkt, die die Anhänger der »klassischen« Genetik sowie die Mitstreiter Lysenkos von sich als Wissenschaftler hatten. Die verschiedenen Verständnisse von wissenschaftlicher Arbeit und von dem Eingebundensein in eine wissenschaftliche internationale Gemeinschaft verweisen auf die Anfänge des Kalten Krieges, als nach dem Zweiten Weltkrieg die Anti-Hitler-Koalition aufbrach und die Gegensätze zwischen der Sowjetunion und den USA an Dynamik gewannen. Der beginnende Kalte Krieg bot den Lysenkoisten neue Möglichkeiten, ihre Verbundenheit mit dem Regime zu demonstrieren. Es gelang ihnen, den international vernetzten Genetikern in der Sowjetunion das Etikett »unerziehbar« anzuheften und sie damit für fast zwanzig Jahre auf das wissenschaftliche und gesellschaftliche Abstellgleis zu stellen. Besonderes Augenmerk wird auf die Narrationen, Semantiken, Analogien und Metaphern gelegt, die als Evidenz erzeugende Mittel gebraucht wurden, um eine Antwort auf die Frage zu geben, nach welchen Gesetzmäßigkeiten Leben weitergegeben wird. In den Abhandlungen zur Wissenschaftsgeschichte der Biologie in der Sowjetunion spielt die Untersuchung der sprachlichen Ebene keine große Rolle, obgleich der vermeintlich totale Widerspruch zwischen beiden Richtungen sprachlich konstruiert wurde. Gerade dank dieser Mittel konnte über Dinge gesprochen werden, die mit naturwissenschaftlichen Notationssystemen nicht greifbar waren. Durch sie wurde Gemeinschaft hergestellt und Kommunikationsräume voneinander abgetrennt. Sie schufen – wie Bernhard Gill es prägnant in einem Aufsatz zur Metapherverwendung in der Gentechnik formuliert hat  – gemeinsame Bezugs- und Reibungspunkte.18 Selbst das Hauptargument der Lysenkoisten, dass die »klassische« Genetik nicht mit der Lehre des dialektischen Materialismus vereinbar sei, ist auf den ersten Blick nicht evident, sondern musste immer wieder sprachlich evoziert werden. Die Genetikdebatte zeigt damit auch, mit welchen sprachlichen Mitteln Ideologie erzeugt, »biologisiert« sowie benutzt wurde. Der Aufstieg Lysenkos begann im Jahr 1928 mit der Machtübernahme Stalins, der in einer »Revolution von oben« die forcierte Industrialisierung der Sowjet­union und den Umbau der Landwirtschaft einleitete. Stalin sah in Lysenko einen Garanten, die Zwangskollektivierung auch durch höhere Ernteer-

18 Bernhard Gill, Kettenmoleküle und Assoziationsketten. Metaphern in der Gentechnologie und Genomanalyse, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 22, 1992, 413–433, hier 413. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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träge zu legitimieren.19 Das Hauptaugenmerk dieses Beitrags liegt auf der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als es Lysenko und seinen Anhängern gelang, sich gegen die »klassischen« Genetiker durchzusetzen. Der Krieg hatte den Genetikern eine Atempause verschafft, auch wenn er Nikolaj Vavilov nicht zu retten vermochte. Als wichtigste Quelle dient der stenographische Bericht der Augusttagung an der Lenin-Akademie der Landwirtschaftswissenschaften 1948.20 Auf dieser Tagung hielt Lysenko das Hauptreferat, in der Diskussion nahmen Anhänger und Gegner Stellung zu seinen Thesen. Bei diesem Symposium kamen die Anhänger der »klassischen« Genetik letztmalig öffentlich zu Wort, bis sie für fast zwanzig Jahre fast vollkommen verstummten. Erst am Ende der Tagung konnten die Lysen­koisten den »Sieg« der »Lysenko-Biologie« verkünden. An den Wortmeldungen der Gegner und Anhänger Lysenkos lässt sich darstellen, wie die Biologie, die nie eine Kernwissenschaft der marxistischen Philosophie gewesen war, zu einer der entscheidenden Forschungsrichtungen werden konnte.21 Die Augusttagung 1948 zeigt damit auch, wie die Geistes- und Wirtschafts­ wissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg an Erklärungskraft einbüßten und ihren Einfluss an die Naturwissenschaften verloren. In Absetzung von früheren, der Totalitarismustheorie verpflichteten Aufsätzen, die einseitig vom Ergebnis her denken und den Ausgang der Tagung von dem Moment als klar ansehen, als Lysenkos Bericht die Zustimmung des Politbüros und Stalins erhalten hatte, wird die Tagung in ihrer Prozesshaftigkeit untersucht. Der Ausgang der Tagung war weniger eindeutig, als es im Nachhinein erscheint. Dies lässt sich an den unlauteren Mitteln zeigen, die die Lysenkoisten anwandten, um die Vorbereitung der Genetiker zu torpedieren: Sie luden jene Wissenschaftler, deren Widerspruch sie fürchteten, erst spät zur Tagung ein. Genetiker und Biologen wie Boris Zavadovskij und Iosif Rapoport, die sich selbst als Schüler Nikolaj Vavilovs verstanden und internationales Ansehen genossen, erhielten vor der Tagung keinen Einblick in die Thesen Lysenkos, um ihnen keine Zeit zu geben, sich für das Streitgespräch wappnen zu können.22

19 Roll-Hansen, Lysenko, 16 f. 20 Jürgen Kuczynski, Wolfgang Steinitz (Hrsg.), Die Situation in der biologischen Wissenschaft von T. D. Lyssenko. Vortrag und Diskussion. Stenographischer Bericht von der Tagung der W. I. Lenin-Akademie der Landwirtschafts-Wissenschaften der Sowjetunion vom 31.7. bis 7.8.1948. Berlin 1948. 21 David Joravsky, Soviet Marxism and Natural Science, 1917–1932. London 1961, 296. 22 Kuczynski, Steinitz, Situation, 229–230. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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1. Planbare Natur wider die Macht des Zufalls Der endgültige Niedergang der »klassischen« Genetik und der Aufstieg der Lysenko-Biologie fallen in eine Zeit der Planungseuphorie, in der das »Neue« greifbar schien und dem »Alten« endgültig der Garaus gemacht werden sollte. Radikale Veränderungen, ja sogar der Sieg des Kommunismus, schienen trotz des beschwerlichen Alltags nach dem gewonnenen Zweiten Weltkrieg möglicher als je zuvor. Und dieser Wandel sollte nun nicht mehr nur die Gesellschaft betreffen, sondern die gesamte Natur – Pflanzen, Landschaft, Tiere und Klima − mit einbeziehen. Hatten bis zum Zweiten Weltkrieg vor allem der gesellschaftliche Umbau und die Vernichtung der »Klassenfeinde« im Mittelpunkt gestanden, wurde nach dem Krieg der Schwerpunkt auf Natur- und Landschaftsveränderungen gelegt, ohne jedoch den »neuen Menschen« und die noch zu schaffende Gesellschaft aus den Augen zu verlieren. 1948, im gleichen Jahr, in dem sich das Schicksal der »klassischen« Genetik entschied, wurde der Stalinsche großartige Plan der Umgestaltung der Natur formuliert.23 Dieser Plan sah gewaltige Natur- und Landschaftsveränderungen vor: Steppen, die schon mehrere Jahrhunderte keine Wälder kannten, sollten aufgeforstet werden: »Der Diktator spielte Gott. Das Buch Genesis wurde in Ukasform gebracht.«24 Lysenko und die sogenannten Mičurinisten spielten bei der Entwicklung dieses Plans eine entscheidende Rolle. Sie schalteten jene Konkurrenten aus, die schon in den 1930er Jahren Aufforstungspläne entwickelt hatten, durch die eine idealisierte, waldreiche »russische« Landschaft bewahrt und wiederhergestellt werden sollte. Bescheiden waren die Ziele nicht, die hinter diesen Anstrengungen standen: Innerhalb von fünfzehn Jahren sollte ein Klimaaustausch zwischen dem kalten Norden und den südlichen Steppen erreicht werden.25 Radikale Klimaveränderungen hatten in den früheren Plänen noch keine Rolle gespielt, erst durch Lysenko fanden sie Eingang in den Stalinschen großartigen Plan der Umgestaltung der Natur. Mit diesem »Generalangriff der sowjetischen Wissenschaft und Technik« sollten die Naturgewalten nicht nur gezähmt, sondern endgültig bezwungen werden: Im Verbund mit den 23 Der am 20.10.1948 im Ministerrat und im Zentralkomitee verabschiedete Plan wurde am 24.10.1924 in der Pravda veröffentlicht. O plane polezaščitnych lesonasaždenij, ­v nedrenija travopol’nych sevooborotov, stroitel’stva prudov i vodoemovdlja obespečenija vysokich i ustojčivych urožaev v stepnych i lesostepnych rajonach evropejskoj časti SSSR, in: Pravda, 24.10.1948, 1 f. 24 Karl Schlögel, Landschaft nach der Schlacht, in: Ders., Promenade in Jalta und andere Städtebilder, München 2001, 297–310, hier 303–304; T. D. Lyssenko, J. W. Stalin und die mitschurinsche Agrobiologie, in: Höppner (Hrsg.), Agrobiologie, 625–633, hier 633. 25 Stephen Brain, The Great Stalin Plan for the Transformation of Nature, in: Environmental History 15, 2010, 670–700, hier 680. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Stalinschen Großbauten des Kommunismus war der Stalinplan ein »monströses Erschließungsprojekt«, durch das der Süden der Sowjetunion von der Krim bis nach Mittelasien angeeignet werden sollte.26 Die durch den Krieg verwüsteten Landstriche und die klimatischen Ungunstgegenden – so die Hoffnung – würden sich in blühende Landschaften verwandeln. Und zu blühen hatten die Pflanzen, die gleichfalls zum zentralen Bestandteil der Veränderungsutopien wurden.27 Lysenko wurde nicht müde, auf die Bedeutung von Pflanzenzüchtung und Feldanbau hinzuweisen, um die hochgesteckten Ziele zu erreichen. An L ­ ysenkos Vorstellungen von der Beschaffenheit der Pflanzen lässt sich exemplarisch zeigen, wie groß nach dem Zweiten Weltkrieg die Furcht vor Zufällen war, vor Spontaneität und damit auch vor erneuten Katastrophen, Ohnmacht und verlustreichen Siegen. Die Hoffnung, Wege zu finden, Zukunft vorherzusehen, lenken und gestalten zu können, verschafften nach dem Zweiten Weltkrieg Lysen­ kos Konzept einer »schöpferischen Biologie« abermals Auftrieb, nachdem sich die Begeisterung für Lysenkos Theorien Anfang der 1940er abgeschwächt hatte. Erneut spielte der Umstand eine Rolle, dass 1946 durch eine Dürre Nahrungsmittel knapp geworden waren und die Bedrohung durch Hunger wieder allgegenwärtig war.28 In einer Zeit, in der die Menschen in der Sowjetunion versuchten, die Leiden und Schrecken des Zweiten Weltkriegs hinter sich zu lassen, wurden mit dem Sprechen über das Wesen der Pflanzen nicht nur Natur­ vorstellungen verhandelt, sondern auch diskutiert, was die Antriebskräfte historischen Wandels seien und inwieweit Zukunft planbar und gestaltbar sei. Die Prämisse, dass mit der Natur auch die Zukunft kontrollierbar sei, ließ landwirtschaftliche Probleme wie Frostschäden, Missernten und Hungersnöte als Phänomene des Übergangs erscheinen, die in naher Zukunft überwunden werden könnten. Zugleich lassen sich diese Sprech- und Schreibweisen als Selbstermächtigungsstrategie verstehen, mit der das Leid und die Ohnmachtserfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit überschrieben werden sollten. 26 Klaus Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technikund Umweltgeschichte, 1948–1967. München 2010, 22 f.; Werner Leimbach, Der DawydowPlan der Sowjetunion, in: Zeitschrift für Raumforschung 1950, 1/2, 57–61. 27 Brain beleuchtet in seinem Aufsatz, der erstmalig einen Blick auf die Vorgeschichte des Stalinplans wirft, wie Lysenko und seine Anhänger die Planungen übernahmen und ihre Konkurrenten ausschalteten: Brain, Stalin Plan; Klaus Stern, Die Umleitung eines Teils des Abflusses nördlicher europäischer und sibirischer Flüsse in der Sowjetunion und mögliche Auswirkungen auf die Umwelt. Berlin 1986; Gestwa, Großbauten, 22 f. 28 John R. McNeill, Corinna R. Unger. The Big Picture, in: Dies. (Hrsg.), Environmental Histories of the Cold War. Washington, DC, Cambridge 2010, 1–18, hier 6; John R. McNeill, The Biosphere and the Cold War, in: Melvyn P. Leffler, Odd Arne Westad (Hrsg.), Endings. The Cambridge History of the Cold War. Cambridge, New York 2010, 422–444, hier 431; Brain, Stalin Plan, 679. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Zweifel an der Beherrschbarkeit des eigenen Lebens – dies zeigt die Debatte um die Vererbung – wurden immer häufiger als Schwäche ausgelegt. Dies war auch einer der Gründe, warum der Disput zwischen Lysenkoisten und »klassischen« Genetikern auf der Augusttagung 1948 an Schärfe gewann: Es wurde nicht nur über Vererbung und das Wesen der Pflanzen gesprochen, sondern die gesamte Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur auf den Prüfstand gestellt. Die Kraft der Natur, die sich in Sommerfrösten, Überschwemmungen und Dürren zeigte, sollte nicht nur abgeschwächt, sondern durch die Handlungsfähigkeit des Menschen ersetzt werden: Der homo sovieticus hatte der fehlerhaften, allzu oft blind wütenden Natur, die ihrem lamarckistischen »Vervollkommnungstrieb« allzu zögerlich folgte, mit schwerem Gerät, neuen Technologien und großen Visionen auf die Sprünge zu helfen.

1.1 Lesbarkeit der Natur Die Lysenkoisten vertraten mit Karl Marx die Auffassung, dass Natur eindeutig lesbar und damit auch veränderbar sei. Auf der Augusttagung 1948 zeigt sich deutlich, wie eng die Sehnsucht nach der Lesbarkeit der Natur mit dem Streben nach Eindeutigkeit und Kontrolle verbunden war. Die Lysenkoisten sprachen den »klassischen« Genetikern ab, die Kausalitätsbeziehungen innerhalb der Natur erkennen zu wollen und warfen ihnen vor, durch ihr Beharren auf einer Erbsubstanz und den unbestimmten Charakter ihrer Veränderlichkeit idealistischen und mystischen Vorstellungen anzuhängen. Damit würden sie sich dem Auftrag verweigern, den die Biologie als Wissenschaft habe: Natur im Dienste der Landwirtschaft vorausschauend zu planen.29 Lysenko präsentierte sich und seine Mitstreiter als Wissenschaftler, die mit ihren Methoden das Wesen der Pflanzen und damit der Natur planmäßig verändern könnten, während die »klassischen« Genetiker mit ihrem Bezug auf eine nur durch zufällige Mutationen zu verändernde Erbsubstanz übereilt vor den Kräften der Natur kapitulieren würden. Für sie vollziehe sich Entwicklung »im Kreis«, »nicht in der Spirale«.30 Das nicht sichtbare Gen wurde zum Schlüsselbegriff, an den die Lysenkoisten das ihrer Meinung nach irrige Weltbild und die falschen Naturvorstellungen attackierten. Was nicht sichtbar sei, könne nicht sein. Geschickt stellten Lysenko und seine Anhänger eine Verbindung zwischen dem verfemten religiösen Glauben und der Vorstellung, dass »unsichtbare« Gene die Vererbung bestimmen: 29 T. D. Lyssenko, Die Situation in der biologischen Wissenschaft, in: Kuczynski, Steinitz, Situation, 6–34, hier 17. 30 T. D. Lyssenko, Mitschurins Lehre auf der Landwirtschaftlichen Ausstellung der Sowjetunion, in: Höppner (Hrsg.), Agrobiologie, 265–277, hier 272. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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»Niemanden verwirren die falschen Analogien der Morganisten zwischen dem unsichtbaren Atom und dem unsichtbaren Gen. Eine viel zutreffendere Analogie wäre die zwischen dem unsichtbaren Gen und dem unsichtbaren Geist.«31 Die Teilnehmer der Tagung 1948 diskutierten den Zusammenhang zwischen Sein und fehlender Sichtbarkeit kontrovers. Dabei wurden auch Bezüge zu früheren wissenschaftlichen Theorien gezogen, die sich nicht hatten halten können. Die Biologin Ksenija Kostrjukova, die Lysenkos Ansichten teilte, bot eine rationale Erklärung, warum die Genetiker das Gen in den Mittelpunkt ihrer Forschung stellten, indem sie es mit Phlogiston verglich. Georg Ernst Stahl, der 1697 die Phlogistontheorie entwickelt hatte, ging davon aus, dass P ­ hlogiston in allen brennbaren Substanzen enthalten sei. Im 18.  Jahrhundert wurde es immer schwieriger, diese Theorie konsequent anzuwenden, da ihr immer öfter die Erfahrungen im Labor widersprachen.32 Kostrjukova bezeichnete das Gen als eine »ausgedachte Substanz«, wie es das Phlogiston gewesen war.33 Solche Substanzen seien von vielen Wissenschaften in ihren Anfängen erdacht worden, um Erscheinungen zu erklären, die noch nicht durchschaut waren. Auch wenn die Genetiker behaupteten, dass das Gen ein »materielles Teilchen« sei, so werde es doch »reine Fiktion« bleiben: »Das Elektronenmikroskop«, so ­Kostrjukova, »wird sie [die ›klassischen‹ Genetiker, J. H.] nicht retten.«34 Wie zentral der Aspekt der Lesbarkeit der Natur für die Lysenkoisten war, zeigt sich an dem Grußwort, das die Tagungsteilnehmer gegen Ende der Tagung an Stalin sandten. Sie empfahlen sich Stalin als Beherrscher der Natur, die diese lesen, kontrollieren und lenken können: »Die fortschrittliche Biologie bestreitet und entlarvt die schädliche Idee von der Unmöglichkeit, die Natur der Organismen mit Hilfe der unter der Kontrolle des Menschen stehenden Lebens­ bedingungen der Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen zu beherrschen.«35

1.2 Zwischen Erziehung und Kampf Den Lysenkoisten gelang es, die mit bescheidenen Mitteln durchgeführten Expe­rimente des Obstzüchters Ivan Mičurin zur Legitimationsgrundlage großer Veränderungen zu machen. Es sei vor allem seine Lehre, die »Methoden 31 Kuczynski, Steinitz, Situation, 422. 32 Thomas Kuhn nutzte die Phlogistontheorie als Beispiel für Paradigmenwechsel in den Wissenschaften. Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 19762, 82–85. 33 Sie schloss damit an Lysenko an, der die Erbsubstanz gleichfalls als »ausgedacht« bezeichnet hatte: T. D. Lyssenko, Die innersortliche Kreuzung und das mendelsche Spaltungs»Gesetz«, in: Höppner (Hrsg.), Agrobiologie, 217–228, hier 218. 34 Kuczynski, Steinitz, Situation, 222. 35 An Genossen J. W. Stalin, in: Kuczynski, Steinitz (Hrsg.), Situation, 438–440, hier 439. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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zur Umgestaltung der Natur der Pflanzen und Tiere, der Natur der Böden, der hydro­logischen und klimatischen Verhältnisse« anbiete.36 Sein Bonmot, dass »der Mensch von der Natur keine Gnadengeschenke erwarten« dürfe, sondern sie ihr zu entreißen habe, wurde nicht nur auf Pflanzenzüchtung angewandt.37 Unter dieser Losung errichteten Komsomolzen riesige Staudämme und durchzogen Gulag-Häftlinge die Landschaft mit neuen Kanälen. Schon im ausgehenden Zarenreich hatte Ivan Mičurin empfohlen, Obst­ sämlinge einer »spartanischen Erziehung« zu unterwerfen, um sie gegen die strengen russischen Winter abzuhärten. Lysenko bezog sich nicht nur auf Mičurins Akklimatisationsversuche, sondern knüpfte wie dieser an die Sagbarkeiten der intelligencija des ausgehenden Zarenreiches an, die ihre Attraktivität in der Sowjetunion keineswegs verloren hatten.38 Der Motor historischen Wandels sei demnach die Erziehung. Damit schloss Lysenko an die Schlüsselwörter des Stalinismus an; auch er verabscheute den status quo, auch er sprach über Veränderungen – auch gewaltsame – als Belehrungsprojekt. Indem er die Erziehungs- und Züchtigungsphantasien nicht nur auf bäuerliche Lebenswelten oder die Gesellschaft beschränkte, sondern die gesamte Natur mit einbezog, gelang es ihm, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, aber auch Stalins zu er­ringen. Die Natur wurde als das Fremde gezeichnet, das zuerst zu unterweisen und bei andauerndem Widerstand wie der Klassenfeind oder ein militärischer Gegner zu unterwerfen sei. Die Analogien zu Krieg und Bedrohung bezogen sich nicht nur auf die Natur als potentiellem Feind. Auch die Gewinne, die im Kampf mit der Natur zu erringen waren, glichen dem Siegpreis nach einer erfolgreich geschlagenen Schlacht. Wer die Natur besiege, könne neue Gebiete in seinen Besitz bringen und die Zivilisierungsmission von Fortschritt und Sozialismus in die kalten und kulturlosen Gegenden tragen. Anders als die als untätig verfemten »klassischen« Genetiker benutzten die Lysenkoisten offensiv militärisches V ­ okabular wie Unterwerfung (pokorenie) und Eroberung (zavoevanie), sobald sie über Natur sprachen. Auch durch ihre Arbeit sollte »feindliches« Land »ange­eignet« werden. Mit diesen Sagbarkeiten schrieben sich die Lysenkoisten in die sowjetische Planwirtschaft ein: Die »Aneignung des Raumes« (osvoenie prostranstva) war seit 1928 ein zentrales Element der sowjetischen Fünfjahrpläne, welches das Eindringen in fremde Lebenswelten begründete.39 Zudem trugen diese Sprechweisen die erfolgreiche Mobilisierung der Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg in die Nachkriegszeit hinein. Sie erinnerten immer wieder an den hart erkämpf-

36 Kuczynski, Steinitz, Situation, 379. 37 Zit. nach: F. D. Skaskin, R. I. Lerman, T. D. Lyssenko. Leben und Werk. Berlin 1952, 16. 38 Regelmann, Geschichte, 18–23, hier 18. 39 Gestwa, Großbauten, 306–307, 325–326. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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ten Triumph, ohne dabei der Opfer, der Pyrrhussiege und Niederlagen ge­denken zu müssen. Neu und genuin sowjetisch waren diese Sprechweisen keineswegs, auch wenn das Kriegsgerassel an Vehemenz zunahm. Lysenko und seine Anhänger konnten sich nicht nur auf aufklärerische Vorstellungen, sondern auch auf die marxistische Philosophie berufen, der zufolge die Natur zum Nutzen des Menschen da sei. Wie Karl Marx ging auch Lysenko über die Naturvorstellungen der Aufklärung hinaus: Natur existiere erst in dem Moment, in dem der Mensch sie sich durch Veränderung und Umgestaltung angeeignet habe. Und es waren neue Technologien, die – so Marx und Lysenko – Wandel und Umgestaltung er­ möglichen sollten.40 Die Unberührtheit der Natur spielte für die marxistische Philosophie und auch für Lysenko keine Rolle. Stattdessen hatte sich die formbare Natur den jeweiligen Bedürfnissen des Menschen anzupassen.

1.3 Einheit des Organismus Eine weitere wichtige Prämisse von Lysenkos Konzeption war der »Grundsatz der Einheit«. Diese Einheit bestand zwischen dem Organismus und seiner Umwelt, wobei die Umwelt den Organismus »restlos durchdringt und formt«. Zugleich war der organische Körper selbst eine Einheit.41 Diese Einheit, die in den 1940er Jahren zum Kern der sowjetischen Biologie wurde, sah Lysenko durch die »Weismannisten« bedroht. Die Anhänger des deutschen Biologen August Weismann  – so Lysenko  – versuchten das Lebendige in eine sterbliche Hülle und umweltunabhängige unsterbliche Keime aufzuspalten. Nach Lysenko sei es der zentrale Fehler der »klassischen« Genetik, zu behaupten, »dass in den Chromosomen eine besondere ›Vererbungssubstanz‹ enthalten sei, die im Körper des Organismus wie in einem Futteral stecke und unabhängig von der qualitativen Spezifität des Körpers und seiner Lebensbedingungen auf die nachfolgenden Generationen übertragen werde.«42 In seinem Eingangsreferat versuchte Lysenko diese Theorie als unwahr darzustellen, indem er eine Analogie zur Familie als Vererbungsinstitution zog. Nach Lysenko seien die Theorien der sogenannten »Mendelisten-Morganisten« falsch, da in ihnen Zeugung und Zeitlichkeit keine Rolle spiele: Die Mendelisten-Morganisten gehen wie Weismann davon aus, dass die Eltern genetisch nicht die Eltern ihrer Kinder sind. Eltern und Kinder sind ihrer Lehre nach Brüder und Schwestern. 40 Victor Ferkiss, Nature, Technology, and Society. Cultural Roots of the Current Environmental Crisis. New York 1993, 106–107. 41 Polianski, Lied, 73. 42 Zit. nach: Lecourt, Wissenschaft, 32. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Mehr noch, die ersten (d. h. die Eltern) und die zweiten (d. h. die Kinder) sind überhaupt nicht sie selbst. Sie sind nur Nebenprodukte des unerschöpflichen und unsterblichen Keimplasmas. Dieses ist im Bezug auf seine Veränderlichkeit vollkommen unabhängig von seinem Nebenprodukt, d. h. vom Körper des Organismus.43

Durch die Analogie zur Familie gelang es ihm, die Theorie der »MendelistenMorganisten« in den Verdacht von Inzucht und damit von verkehrter Welt zu rücken. Zugleich betonten Lysenko und seine Anhänger, die einzig gültige Sicht auf die Wirklichkeit zu haben. Ihre Theorie füge sich perfekt in die Lehre vom dialektischen Materialismus ein, die keine Zufälle, wie die von Vavilov und der westlichen Biologie gelehrten spontanen Mutationen als Ursache von Wandel, anerkenne. Die Mičurin-Biologie sei gerade deshalb materialistisch, weil sie die Erbanlagen nicht vom lebenden Körper und seinen Lebensbedingungen abtrenne. Aus der Prämisse der Einheit folge, dass die Natur der Lebewesen plastisch und nicht durch ein unhintergehbares Programm in ihrem Kern festgelegt sei. Gerade in Bezug auf Konstanz und Veränderung fühlten sich die »klas­ sischen« Genetiker missverstanden. Forscher wie Sos Alichanjan plädierten in der Mitte der Tagung für eine differenzierte Betrachtungsweise, in der zwischen Erbübertragung eines Merkmals und Ausbildung des Merkmals zu unterscheiden sei. Dem Gen komme die entscheidende Rolle bei der Erbübertragung zu, während hingegen bei der Ausbildung des Merkmals die Umweltbedingungen zum Tragen kämen. Nur schwer – so Alichanjan – lasse sich abschließend be­urteilen, ob in »diesem verwickelten System« Gen oder Umwelt ausschlaggebend seien. Alichanjan, der am Ende der Tagung versuchte, zu den Lysen­koisten zu konvertieren, präsentierte in der Mitte der Tagung einen Kompromiss, ohne von der Bedeutung des Gens abzugehen. Sobald der Mensch versuche, die Entwicklung des Gens zu lenken, dann sei die Umwelt entscheidend: »Diese Umwelt unterstützt den Menschen bei der Umgestaltung und der Veränderung der Erbgrundlagen des Organismus.«44 Letztendlich blieb dieses Kompromissangebot ungehört, da in seiner Argumentation die Einfluss­ möglichkeiten des Menschen beschränkt waren. Der Sieg des Menschen über die Natur – auch seine eigene – konnte nur errungen werden, wenn es Zufall und Fügung auch in der Theorie nicht mehr gab.

43 Lyssenko, Situation, 13. 44 Kuczynski, Steinitz, Situation, 295. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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2. Erziehungsobjekte: Bäuerinnen und Bauern im Stalinismus Lysenkos Aufstieg ist eng mit der Kollektivierung der Landwirtschaft ver­ bunden. Er fand in den 1930er Jahren Gehör, weil er seine Ansichten über Pflanzen und Natur mit dem Ziel verband, mit einer neuen Landwirtschaft auch eine neue Gesellschaft zu errichten. Biopolitische Utopien, die die Beherrschung der Natur durch einen neuen Menschen ersehnten, waren in Russland nicht neu.45 Doch einen solch starken und systematischen Einbezug der Landwirtschaft in die Zukunftsentwürfe hat es bis Lysenko nicht gegeben. Die Maßnahmen, die er vorschlug, lassen sich als Versuch lesen, durch neue landwirtschaftliche Praktiken die Kollektivierung als Zivilisierungs- und Disziplinierungsmission durchzusetzen. Neben Ernteerfolgen und der Ausdehnung der Ackerflächen nach Norden und Osten versprachen Lysenkos Maßnahmen, die Strukturen der Dorfgemeinschaft und ihren traditionellen Arbeitszyklus zu brechen.46 Der Blick auf die gesellschaftlichen Utopien, die hinter seinen Vorstellungen von der Welt des Lebendigen standen, kann zeigen, wie wenig historiographische Wertungen aussagen, die Lysenkos Experimente und Konzeptionen als irrationale Gedankenspiele eines ungebildeten, aber machthungrigen Bauerntölpels bezeichnen. Im Folgenden soll deutlich werden, welche Rationalität hinter den Konzeptionen Lysenkos stand und warum er gerade in den 1930er Jahren und nach dem Zweiten Weltkrieg große Erfolge feierte. Die Kollektivierung als bloße Veränderung oder als Modernisierung der Landwirtschaft zu bezeichnen, charakterisiert die Ereignisse seit 1928 nur unzureichend. Sie nahm den Bauern nicht nur ihre Felder und ihr Vieh, sondern beschädigte ihr Selbstverständnis als eigenverantwortliche Landwirte und entwertete die traditionelle Zeitstruktur, die auf dem Rhythmus der Jahreszeiten und der religiösen Feiertage basierte. Besonders jene Bauern und Bäuerinnen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg und der Revolution 1917 gewirtschaftet hatten, standen den Erziehungs- und Erneuerungsexperimenten skeptisch gegenüber. Nicht selten empfanden sie die Kollektivierung als »zweite Leibeigenschaft«.47 Wie Ivan Rassychaev aus Ust’-Kulom klagten viele Bauern in ihren Tagebüchern über die Einführung der »Zwangsarbeit«, die ihnen als Untergang ihrer vertrauten Welt erschien: 45 Boris Grojs, Michael Hagemeister, Die neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2005. 46 Weß, Einleitung, 67. 47 Eva Maeder, »Proletarisierung« der Bauern oder »zweite Leibeigenschaft«? Kollektivierung und Kolchossystem, in: Dies., Christina Lohm (Hrsg.), Utopie und Terror. Josef Stalin und seine Zeit. Zürich 2003, 85–101. Siehe auch meine Dissertation: Julia Herzberg, Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion, Bielefeld 2013. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Jedoch das Leben wurde ungewollt bitter, kummervoll, zwanghaft, unfreiwillig, aussichtslos. Der ganze häusliche Besitz ist verloren, die neuen Äcker und Heuwiesen sind verloren, alle kirchlichen Feiertage, feierlichen Messen und Vergnügungen sind verloren, für immer und unwiderruflich. Geblieben ist auswegslose Zwangsarbeit, für die es keine Ausreden gibt […]. Die Befehlenden behandeln uns grob, doch es ist klar, dass es ohne die Kolchose keinen anderen Weg gibt, ja sogar, dass ein Ausweg aus der Kolchose nicht existiert. Für eine Stunde hat der Verstand gefehlt, für ewig bin ich nun den Dummköpfen verfallen.48

Lysenko, dieses Bild vermitteln jedenfalls seine Artikel und Reden, sah die Kosten der Kollektivierung nicht. Stattdessen zeichnete er sie in hellen Farben und schwang sich zu ihrem Verfechter auf. Die Kollektivierung sei die Mutter der »richtigen« Biologie, erst sie habe die Biologie als »reine« Wissenschaft und dem Fortschritt verpflichtete Disziplin hervorgebracht.49 Die landwirtschaftlichen Maßnahmen, die Lysenko im Sinne dieser »neuen« Biologie empfahl, ließen sich nicht auf kleinen Höfen und kümmerlichen Äckern umsetzen, sondern sie benötigten größere Kollektive, weitläufige Anbauflächen und den Einsatz von Traktoren. Die vorgeschlagenen Maßnahmen legitimierten damit nicht nur die Mechanisierung der Landwirtschaft, sondern machten sie wie die Kollektivierung praktisch notwendig. Lysenko konstatierte ohne Unterlass, dass die Kollektivierung als Schulterschluss von Theorie und Praxis das Leben der Bauern und Bäuerinnen stark verbessert habe. Er sah in der Kollektivierung die einzigartige Chance, aus passi­ven Bauern und Bäuerinnen, die dazu verdammt waren, auf »gutes Wetter zu warten«, aktive »Bezwinger der Natur« zu machen.50 Jene, die seinen Enthu­ siasmus nicht teilten oder die Wirksamkeit seiner Methoden bezweifelten, fanden sich in seinen Ausführungen schnell auf der Seite des Klassenfeindes wieder: Erzählt mir, Genossen, habt ihr nicht selbst an der Jarowisationsfront den Klassenkampf erlebt? Auf den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gab es Kulaken und ihre Helfershelfer – (und sie waren nicht die einzigen, jeder Klassenfeind tat es ihnen gleich) –, die nicht aufhörten, die Bauern zu beschwatzen: »Weicht die Saat nicht ein, es wird sie verderben.« So war es, das war die Flüsterpropaganda. Anstatt den Kollektivbauern zu helfen, hintertrieben Kulaken und Saboteure die offiziellen Anordnungen […].51 48 Ivan S.  Rassychaev, »Dnevnye zapiski« ust’-kulomskogo krestjanina I. Rassychaeva. 1902–1953 gody. Moskva 1997, 70. 49 T. D. Lyssenko, Die Arbeitsergebnisse der Lenin-Akademie und die Aufgaben der Agrarwissenschaft, in: Höppner (Hrsg.), Agrobiologie, 602–624, hier 624. 50 Skaskin, Lerman, Lyssenko, 11–12. 51 Stalin rief begeistert »Bravo, Genosse Lysenko, bravo!«, als er 1935 die Rede des damals noch kaum Bekannten auf dem Zweiten Kongress der Stoßarbeiter vernahm. Popovsky,­ Vavilov, 65–66. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Es waren aber nicht nur Drohung und Zwang, mit denen Bäuerinnen und Bauern für eine neue Form der Landwirtschaft gewonnen werden sollten. In seinen landwirtschaftlichen Methoden sah Lysenko eine Möglichkeit, die bäuerliche Bevölkerung in das Streben nach einer planbaren Landwirtschaft zu integrieren und »rückständige Bauern« zu »klassenbewussten Proletariern« zu erziehen. Während die »klassischen« Genetiker in ihren wissenschaftlichen Abhandlungen Bauern und Bäuerinnen als Produzenten von Nahrungsmitteln kein großes Gewicht beimaßen, betonten Lysenko und seine Anhänger die Bedeutung, die die Kolchosbauern für die Entwicklung der Landwirtschaft, der Gesellschaft und der Wissenschaft hätten. Lysenko und seine Anhänger konzipierten die »schöpferische Biologie« und die mit ihr verbundene Landwirtschaft als »Mitmachwissenschaft«. Auch Kolchosbauern könnten und sollten sich in diese einbringen. In seinen Reden und Artikeln unterstrich Lysenko die enge Verbindung, die die »sozialistische Landwirtschaft« zwischen »biologischer Theorie«, Züchtern und den Kolchosbauern schuf: »Nur in der Kolchos-Sowchos-Wirtschaft«, so Lysenko, sei »eine wirkliche Einheit zwischen landwirtschaftlicher Wissenschaft und Praxis möglich.«52 Nur in der kollektivierten Landwirtschaft gebe es keine Grenze mehr zwischen körperlicher und geistiger Arbeit.53 Es waren vor allem die Kolchoslaboratorien, die Lysenko als Berührungspunkte geistiger und körperlicher Arbeit konzipierte. Ein Netz von Kolchoslaboratorien sollte entstehen, das auch in jene Ecken des Landes vorzudringen vermochte, wo es keine wissenschaftlichen Forschungsstationen und landwirtschaftlichen Institute gebe. Lysenko wies den Kolchoslaboratorien die Aufgabe zu, die erarbeiteten landwirtschaftlichen Verfahren zu bewerten und neue, auf die Verhältnisse vor Ort zugeschnittene Verfahren zu entwickeln. Die Kolchosbauern hatten Fragebögen auszufüllen und Notizbücher zu führen, in denen sie Rechenschaft über ihre Maßnahmen und ihre Erfolge ablegten. Diese Notizen waren an Lysenko zu senden, der aufgrund dieser Berichte für seine Maßnahmen warb. Dass die Bauern etwaige Misserfolge aus Furcht verschwiegen, als Saboteure verdächtigt zu werden, thematisierten Lysenko und seine Anhänger nicht. Lysenko stellte die Leistungen der Kolchosbauern heraus und propagierte damit nicht nur die angeblichen Erfolge der Kollektivierung. Er gab vor – und seine eigene bäuerliche Herkunft unterstrich die Glaubwürdigkeit seiner Aussage –, von der Arbeit der Kolchoslaboratorien auch wissenschaftlich zu profitieren: »Man kann sich schwerlich des Gedankens erwehren, dass wir bei unserer wissenschaftlichen Massenarbeit die Kolchosbauern nicht so viel belehren, 52 Lyssenko, Mitschurin, 19; Zitat: T. D. Lyssenko, Der Mentor als wirksames Mittel der Züchtung, in: Höppner (Hrsg.), Agrobiologie, 229–237, hier 229. 53 Lyssenko, Mentor, 229; T. D. Lyssenko, Die Kolchoslaboratorien und die Agrarwissenschaft, in: Höppner (Hrsg.), Agrobiologie, 196–216, hier 197. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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wie sie uns.«54 Das Lob, mit dem Lysenko die Kolchosbauern immer wieder bedachte, bot den kolchozniki eine positive Identifikationsebene mit der kollektivierten Landwirtschaft und damit auch mit dem sozialistischen Staat. Es gab Bauern, die dieses Angebot annahmen. Dies zeigt sich beispielhaft an der 1950 veröffentlichten Autobiographie Michail Efremovs, der als Kolchosbauer ein Kolchoslaboratorium leitete. Efremov beschreibt in seinem als Mein Leben betitelten Text, wie er die Vorschläge Lysenkos in seiner Kolchose umsetzte. Die Behandlung des Saatguts habe – so Efremov – zu ausgezeichneten Ernteerträgen geführt. Dank der neuen Anbaumethoden konnte er die Ernteerträge seiner Kolchose dermaßen steigern, dass er nicht nur lokale Berühmtheit erlangte, sondern auch zum Achten Außerplanmäßigen Sowjetkongress und zur Allrussischen Landwirtschaftsausstellung nach Moskau delegiert wurde. Hier traf er mit Lysenko und dem Bodenkundler Vasilij Vil’jams zusammen, die ihn beide für seine Arbeit lobten. In der Timirjazev-Akademie für Landwirtschaft durfte er einen Vortrag halten und erlebte den für ihn »glücklichsten Tag« seines Lebens, als er Stalin sah und hörte. Das Bild, das Efremov am Ende gebraucht, bildet die Quintessenz seines autobiographischen Textes. Der Einzelne sei demzufolge nur als Teil  des Ganzen und in seiner Arbeit für das gesamte Land wichtig: »Aus Quellen fließen kleine Bächlein, aus den Bächlein bilden sich wasserreiche Flüsse. Wie die Bächlein in einen mächtigen Strom münden, so mündet unsere Arbeit, die Arbeit einzelner Menschen, in die allgemeine Arbeit des Millionen umfassenden Sowjetvolkes.«55 Lysenkos landwirtschaftliche Maßnahmen boten eine Möglichkeit, die sonst nur punktuell wirkenden Mobilisierungskampagnen wie den Bau der Metro, von Kanälen oder Staudämmen breitenwirksam in die entferntesten Winkel des Landes zu tragen. Sie mobilisierten die Bauern im Namen der Wissenschaft, des Fortschritts und einer neuen Gesellschaft. Nicht nur Stalin war begeistert, als er von der Armee von 8.000 Kolchos­bauern hörte, die mit Pinzetten bewaffnet im Auftrag der Kreuzbestäubung über die Felder streifte.56 Auch in den Schulen wurde für die Methoden Lysenkos geworben. So sah der Biologieunterricht Experimente vor, in denen Maßnahmen wie die Jarowisierung erprobt werden konnten. Andere Formen der Landwirtschaft, wie sie bis in die 1930er Jahre hinein in Russland und der Sowjetunion üblich gewesen waren, wurden von diesen neuen Praktiken abgelöst. Doch es ging Lysenko nicht allein darum, neue landwirtschaftliche Maßnahmen zu vermitteln, sondern der Biologie-

54 Lyssenko, Kolchoslaboratorien, 208. 55 Efremovs Autobiographie wandte sich an andere Kolchosbauern. Sie bot nicht nur eine Aufstiegsgeschichte, sondern vermittelte auch eingängig agrarwissenschaftliche Erkenntnisse. M. E. Efremov, Moja žizn’. Barnaul 1950, 98. 56 Popovsky, Vavilov, 79. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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unterricht sollte zeigen, dass Natur und Gesellschaft nach den Gesetzen des dialektischen Materialismus aufgebaut sei.57 Lysenko konzipierte die Landwirtschaft, die nach seinen Maßgaben funktionierte, als ein Unternehmen, das nicht nur in einem theoretischen Raum verblieb, sondern praktisch – in den Kolchosen, ihren Laboratorien, aber auch in Schulen – erlebt werden konnte. Damit schuf er auch neue Erfahrungsräume der sozialistischen Gemeinschaft. Die Kolchoslaboratorien waren Orte, wo die Kolchosbauern Partizipation einfordern und Verantwortung ausüben konnten. Sie gewährten damit – wie beschränkt auch immer – Möglichkeiten der Mitsprache und des Aufstiegs. Vor allem jüngeren Bauern, die weniger stark in der vorrevolutionären Landwirtschaft verwurzelt waren, gelang es, durch ihren Einsatz für die Kollektivierung und die Maßnahmen Lysenkos Karriere zu machen.58 Sie sahen in den Mobilisierungskampagnen eine Möglichkeit, sich in den jungen Staat einzubringen. Ältere Bauern, die schon vor 1917 Landwirtschaft betrieben hatten, lehnten hingegen die Disziplinierungsbemühungen häufig ab. In ihren privaten Aufzeichnungen entwarfen sie Gegenwelten zur sowjetischen Wirklichkeit, auch wenn sie sich den gesellschaftlichen und landwirtschaftlichen Erneuerungsexperimenten nicht entziehen konnten, ohne zu rechtlosen Außenseitern zu werden. Die Sorge, ihre Einstellungen mit Lager, Tod oder Verfolgung der Familie bezahlen zu müssen, bewegte auch die »klassischen« Genetiker auf der August­ tagung 1948. Einige versuchten, sich durch die Preisgabe ihrer Überzeugungen zu retten. Alichanjan, ein ehemaliger Schüler Vavilovs, gab am Ende der Tagung vor, seine früheren Ansichten zu bereuen. Er präsentierte sich als »umerzogenes« Subjekt und versprach, sich für die Verbreitung einer als »Erziehungsprojekt« von Pflanzen und Menschen konzipierten Biologie einzusetzen: »Vom morgigen Tage an werde ich nicht nur damit beginnen, meine eigene wissenschaftliche Tätigkeit von den alten reaktionären, weismannistisch-morganis­tischen Anschauungen zu befreien, sondern auch alle meine Schüler und Freunde werde ich ändern und umerziehen.«59 Dabei knüpften diese öffentlich vollzogenen »Läuterungen« an ein neues Verständnis als Wissenschaftler an.

57 Skaskin, Lerman, Lyssenko, 93, Zitat: 26–27. 58 Efremov, Moja žizn’; A. I. Železnjakov, Dnevnik A. I. Železnjakova. 1933–1936 gg. v grjazoveckj derevne, in: Vologda. Istoriko-kraevedčeskij al’manach. Vologda 1994, 454–521. 59 Lyssenko, Schlußwort, 435. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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3. Von Praktikern und Fruchtfliegen Mit Stalins Machtantritt 1928 veränderten sich nicht nur die bäuerlichen Lebenswelten. Der beschleunigte Wandel ergriff auch Fabriken und Universitäten. Experten und Wissenschaftler, die ihre Karriere im Zarenreich begonnen hatten, gerieten mit Stalins Aufstieg unter Druck. Als Auftakt des Feldzuges gegen die »bürgerlichen« Experten gilt der sogenannten Šachty-Prozess im Jahr 1928, in dem vor allem Ingenieure angeklagt wurden, den neuen Staat durch Sabotage vernichten zu wollen. Auch die Universitäten blieben von der Suche nach »Schädlingen« und »Saboteuren« nicht verschont. An ihr nahmen vor allem jene jüngeren Wissenschaftler teil, die hofften, die Positionen der etablierten Wissenschaftler einnehmen zu können. Mit welchen Mitteln es Lysenko und seinen Anhängern gelang, die »klassischen« Genetiker auszuschalten, wird der folgende Abschnitt zeigen. Dabei wird besonderes Gewicht auf die Vorstellungen gelegt, die die beteiligten Akteure von sich als Wissenschaftler hatten.

3.1 Spontaneität versus Bewusstsein Lysenko und seine Anhänger vertieften den Gegensatz zwischen sich und den »klassischen« Genetikern, indem sie im Sprechen über Natur und Vererbung an die Dichotomie zwischen Spontaneität und Bewusstsein und damit an den Masterplot des Marxismus-Leninismus anschlossen.60 In diesem dialektischen Modell steht »Bewusstsein« für kontrollierte Handlungen durch rational denkende Individuen, während »Spontaneität« negativ konnotiert ist und anarchi­ sche, chaotische und unreflektierte Handlungen nach sich zieht. Die Dialektik von Spontaneität und Bewusstsein nahm seit den 1890er Jahren einen wichtigen Platz in den Debatten russischer Marxisten ein. Über diese Begriffe wurde die Frage nach den Antriebskräften historischen Wandels verhandelt: Sind Veränderungen Folge bewussten Handelns? Oder geschehen sie vielmehr »spontan«, ausgelöst durch die Kraft des Zufalls?61 Die beliebte Dichotomie diente auch dazu, einzelnen Personengruppen bestimmte Charakteristika zuzuweisen und sie beispielsweise als »rückständig« zu deklassieren. Sie war schon im Zarenreich ein beliebtes Mittel gewesen, um Zivilisierungsmissionen wie beispielsweise den 1874 von revolutionär gesinnten Studenten initiierten »Gang ins Volk« zu begründen. So galten den russischen Marxisten beispielsweise Bauern 60 Entscheidend war Lenins Schrift »Was tun?«, in der Spontanität und Bewusstsein als dialektische Antriebskräfte historischen Wandels gezeichnet werden. W. I. Lenin, Was tun? (1902), in: Iring Fetscher (Hrsg.), Lenin Studienausgabe. Frankfurt a. M 1970, 37–179, hier 52. 61 Katerina Clark, The Soviet Novel. History as Ritual. Chicago 1981, 15–17. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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als »spontan« und chaotisch handelnd. Es sei daher zentrale Aufgabe der intel­ ligencija, sie zu »bewussten« Menschen zu erziehen. Lysenko und seine Anhänger nutzten die Dialektik von Spontaneität und Bewusstsein, um die »klassischen« Genetiker zu verunglimpfen. Dabei über­trugen sie die Ergebnisse, die die Genetiker gewonnen hatten, auf sie als Personen und ihre Eigenschaften als Wissenschaftler zurück. Die zentrale These der Genetiker, dass Veränderungen am Erbgut der Organismen nur durch zufällige Mutationen erzeugt werden können, verwandten Lysenko und seine Anhänger, um die Genetiker als »spontan« und »chaotisch« zu diskreditieren. Ihr Handeln sei nicht Folge bewusster Entscheidungen, sondern baue auf Zufall. Indem Lysenko und sein Gefolge die Dichotomie von Spontaneität und Bewusstsein in ihrem Sprechen über die Genetik und ihre Vertreter benutzten, gelang es ihnen, Fragen der Vererbung und damit die Ausrichtung der Biologie zu einer der Grundfragen der sowjetischen Ideologie zu machen: »Indem wir den Mendelismus-Morganismus-Weismannismus aus unserer Wissenschaft ausscheiden, beseitigen wir auch den Zufall aus der Biologie.«62 Die Koexistenz beider Richtungen verlor in den Diskussionen im Jahr 1948 ihre Bedeutung als denk- und sagbare Alternative. Dieser Prozess wurde durch die Kriegsmetaphorik verstärkt, derer sich die Anhänger Lysenkos bedienten. Der Beitrag Dmitrij Kislovskijs auf der Tagung 1948 zeigt deutlich, mit welchen sprachlichen Mitteln die Gegensätze zwischen den beiden Richtungen der Biologie zementiert wurden. Laut Kislovskij befanden sich die Biologen auch mit andersdenkenden Kollegen in einem Krieg, in dem es nur Sieg oder Niederlage gebe: Der Kampf an der theoretischen, wissenschaftlichen Front wird noch fortgesetzt. Man muss ihn mit unverminderter Leidenschaft und Grundsätzlichkeit weiterführen. Wir müssen uns darüber Rechenschaft geben, dass es nicht um Einzelfragen, sondern um die Grundfragen der sowjetischen Ideologie geht. Die noch nicht be­ seitigten Überreste der reaktionären Ideologie in der Biologie müssen endgültig ausgerottet werden.63

Einige Genetiker versuchten auf der Tagung, die Frontstellung aufzubrechen. Sie betonten, dass ihre Schlüsse mit den Ergebnissen der Lysenkoisten vereinbar seien. Man müsse nur anerkennen, dass die verschiedenen Richtungen verschiedene Aspekte betrachteten. Das Akademiemitglied Boris Zavadovskij warnte in seinem Redebeitrag davor, die wissenschaftlichen Ansichten in der Biologie so stark zu verkürzen, dass sie sich auf zwei beschränken ließen: »Und alle diejenigen, welche anders denken und die Kühnheit besitzen, mit Lyssenko nicht einer

62 Kuczynski, Steinitz, Situation, 431. 63 Ebd., 360. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Meinung zu sein, werden von den Anhängern Lyssenkos grundlos in die odiöse Kategorie der »formalen Genetiker« eingetragen.«64 Immer wieder thematisierten jene Wissenschaftler, die von den Anhängern Lysenkos als »Mendelisten-Morganisten« bezeichnet wurden, wie sehr mittlerweile die Möglichkeiten des Sagbaren eingeschränkt seien. Die Wissenschaft würde durch diese Denk- und Sprechverbote Schaden nehmen: Trofim Denissowitsch! Sie gebrauchen nie den Terminus »Mutation«, Sie erkennen ihn nicht an. Aber wir erkennen dies an. Und die Natur versieht die organische Welt fast unbegrenzt mit Mutationen. Was ruft die Mutation hervor? Hier stehe ich vollständig auf ihrer Positionen, Akademiemitglied Lyssenko: Die Umwelt, die Außen­ bedingungen rufen Mutationen hervor. Sie bezeichnen dies mit Erziehung. Aber darin besteht doch die Sache gar nicht. Sie wollen nicht zugeben, dass diese Mutation durch seine Veränderung der Chromosomen hervorgerufen worden sind. Darin liegt unsere Meinungsverschiedenheit. Es ist soweit gekommen, dass, wenn man nur das Wort »Mutation« oder »Chromosom« ausspricht, dies schon sehr viele erschreckt. Ich besinne mich nicht, wer es war, auf dessen Bild ein Mädchen dargestellt ist, das beim Anblick eines gebratenen Kapauns errötet. Sowie man das Wort »Chromosom« sagt, dann erröten auch einige Leute.65

Doch diese Strategie der Annäherung scheiterte; sie fand unter den Lysenkoisten kein Gehör. Mehr Erfolg versprach der bereits erwähnte Versuch, den Bio­ logen wie Alichanjan und Petr Žukovskij am Ende der Tagung unternahmen. Sie gaben an, sich in das große Erziehungsprojekt von Natur und Gesellschaft einzuschreiben und versprachen, »lernen zu wollen«.66 Doch die Kriegsmetaphorik und das Streben nach Eindeutigkeit verhinderten, dass die Lysenkoisten diese Beteuerung als aufrichtig anerkennen konnten. Sie sprachen den Genetikern ihre Erziehbarkeit ab. Damit übernahmen sie die Sprechweisen von der Unveränderlichkeit der Eigenschaften, die sie gerade kritisiert hatten. Erneut wurden die »klassischen« Genetiker mit ihren Erkenntnissen gleichgesetzt. Weil sie für die Unveränderlichkeit der Erbanlagen eingetreten waren, galt ihr Versprechen der Umerziehung als wertlos. Sie blieben in den Aussagen der Lysenkoisten auf die »antiutopische Repräsentanz« des »ewig Gestrigen« festgelegt, als die man sie zugleich angriff.67

64 Ebd., 232. 65 Ebd., 321. 66 Ebd., 323. 67 Polianski, Lied, 69. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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3.2 Praktiker und Experten Mit dem Vorwurf, allein auf die Kraft des Zufalls zu bauen, war die Anklage verbunden, die erkennbaren Zusammenhänge in der Natur zu ignorieren. Eine solche Wissenschaft könne keine exakte, reine Wissenschaft sein. Eine derartige Wissenschaft verurteile darüber hinaus zum »untätigen Abwarten« und stehe damit allen landwirtschaftlichen Planungsbemühungen feindlich gegenüber. Sie sei damit geeignet, die gesamte sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu unterminieren.68 Lysenko und seine Anhänger sprachen den »klassischen« Genetikern ab, verwertbare Ergebnisse für die Landwirtschaft bereitstellen zu können. Sich selbst hingegen präsentierten die Lysenkoisten in erster Linie als Praktiker, die nicht nur eng mit den Kolchosen und den Kolchosbauern zusammen arbeiteten, sondern die ihre gesamte Forschung auf die Praxis ausrichteten. Sie verhöhnten die Genetiker als idealistische »Fliegenzüchter«, die sich weigerten, Gesellschaft, Natur und Welt verändern zu wollen. Auf der Augusttagung 1948 avancierte Nikolaj Dubinin zur zentralen Spottfigur, nachdem Lysenko ihn in seinem Eingangsreferat als typischen Vertreter eines »Morganisten« und damit als »Pseudowissenschaftler« vorgeführt hatte. Dubinin hatte während des Krieges Vererbungsprozesse an Fliegen studiert.69 Den Sinn von Experimenten mit der Fruchtfliege Drosophila, die in der Genetik als Modellorganismus dient, konnten oder wollten die Lysenkoisten nicht erkennen. Sie nutzten Dubinin als Exempel, um die gesamte Zunft der Genetikern zu Verrätern zu stempeln, die die Sowjetunion während des Krieges im Stich gelassen hätten und sich nun dem Wiederaufbau verweigerten: I. W. Jakuschkin: In einer Zeit, als die wahren Söhne des Sowjetvolkes einen siegreichen Kampf für die Ehre, Freiheit und Unabhängigkeit unserer Heimat führten, fanden sich Forscher, die damit begannen, den Einfluß des Krieges auf Fliegen zu studieren. Zwischenruf: Fliegenzüchter! I. W. Jakuschkin: Mir scheint, dass solche Extreme nur zeigen, wie weit sich kein Gelehrter vom Leben des Sowjetstaates lostrennen kann und darf.70

Hier zeigt sich ein Wandel in den Exklusionsstrategien der Lysenkoisten. In den 1930er Jahren hatten die Lysenkoisten versucht, Einfluss und Deutungsmacht 68 E. Sankewitsch, Die Arbeitsmethoden der Mitschurinschen Pflanzenzüchtung. Eine kritische Darstellung der Methoden und Anschauungen von I. W. Mitschurin und T. D. Lysenko. Stuttgart 1950, 103. 69 Kuczynski, Steinitz (Hrsg.), Situation, 72–73, 156; Lyssenko, Situation, 22. 70 Kuczynski, Steinitz (Hrsg.), Situation, 52. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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zu gewinnen, indem sie die »klassischen« Genetiker als »Saboteure« und damit als »Feinde von innen« bezeichneten. Die Genetiker wurden vor dem Krieg als Sündenböcke benutzt, denen man die Ernteeinbrüche nach der Kollektivierung anlasten konnte. Nach dem Krieg veränderten sich die Sprechweisen: Nun wurden die Genetiker in eine Reihe mit den äußeren Feinden gestellt. Zum einen betonten die Lysenkoisten auf der Augusttagung 1948 die Nähe der Genetik zu rassistischen Theorien und zur Eugenik. Dadurch erschienen die Genetiker als Handlanger der Nationalsozialisten. Um diese vermeintliche Verbindung zu den Nationalsozialisten sichtbar zu machen, titulierten Lysenkos Gefolgs­ männer die Genetiker als »Weismannisten«. Sie ignorierten, dass die ideologische Übernahme von August Weismanns deterministischer Vererbungslehre in die Rassevorstellungen der Nationalsozialisten nicht durch Weismann selbst geschehen war.71 Zum anderen nutzten die Lysenkoisten den aufbrechenden Gegensatz zwischen den Westmächten und der Sowjetunion, um die Genetiker auf die Seite des Feindes zu stellen. So wie Weismann benutzt wurde, um die Nähe der Genetiker zu den rassistischen Anschauungen der Nationalsozialisten zu belegen, diente Thomas Hunt Morgan, den die Anhänger Lysenkos pejorativ als »amerikanischer« Wissenschaftler bezeichneten, vor allem dazu, den Gegensatz zwischen der Sowjetunion und den USA zu vertiefen. Dies wirkte auf den Alltag der Wissenschaftler zurück: Fremdsprachenkenntnisse – Lysenko besaß keine – wurden gefährlich.72 Die vordem prestigereichen Publikationen in ausländischen Fachzeitschriften wurden nun misstrauisch beäugt. Kooperationen mit ausländischen, »reaktionären Gelehrten« gerieten unter Verdacht, mit dem Feind zu paktieren.73 Die Diskussionen auf der Augusttagung zeigten nicht nur, dass der beginnende Kalte Krieg in innerwissenschaftlichen Debatten genutzt wurde, um sich missliebiger Konkurrenten zu entledigen. Vielmehr lässt sich an den Sprechweisen auch darstellen, wie der Kalte Krieg in seiner Entstehungsphase sowohl innerhalb als auch außerhalb der Sowjetunion zu einer wahrnehmbaren Tatsache wurde und in der sowjetischen Gesellschaft neue Exklusionsmechanismen auslöste. Die ritualisierte Ausgrenzung vermeintlicher Gegner diente – wie in McCarthys Amerika zur gleichen Zeit  – dazu, die erschütterte und ver­ unsicherte Gesellschaft zu stabilisieren.74

71 Lecourt, Wissenschaft, 22, 91. 72 Ausführlicher zu den xenophobischen Tendenzen der Jahre 1948–49: Vladimir Pechat­ nov, The Soviet Union and the World, 1944–1953, in: Melvyn Leffler, Odd Westad (Hrsg.), Origins. Cambridge 2010, 90–111, hier 107. 73 Kuczynski, Steinitz (Hrsg.), Situation, 72–73, 125–126. 74 Einen Überblick über bisherige Studien zu den Auswirkungen des McCarthyismus in den USA auf Wissenschafts- und Universitätskultur bei: Corinna R. Unger, Cold War­ © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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4. Resümee Lysenko gelang es nur zeitweise, seine Gegner auszuschalten. Seinem vorläufigen Sieg folgte ein langsamer Niedergang, bei dem er innerhalb von zwölf Jahren peu à peu seinen Einfluss verlor. Da war zum einen der Aufstiegs­w illen seiner Epigonen, die drei Jahre nach seinem Sieg über die Genetiker begannen, an seinem Stuhl zu sägen. 1952 veröffentlichten Nikolaj Turbin und N. D. Ivanov in der Botanischen Zeitschrift zwei Artikel, in denen sie Lysenko vorwarfen, vom Darwinismus und der Lehre Mičurins abzugehen. Sie kritisierten vor allem seine Theorie der sprunghaften Artveränderung durch Umwelteinflüsse. Lysenko sei ein Betrüger, denn die Verwandlung von Kiefern in Rottannen und von Weizen in Gerste oder Hafer seien »klare Fälschungen«.75 Das nächste Ereignis, das Lysenko die Treppe des Erfolgs hinabsteigen ließ, waren die Beschlüsse des Ministerrats und des Zentralkomitees im Juni 1963. Nach der Entschlüsselung des genetischen Codes und der Entdeckung des Mechanismus der Proteinsynthese und der Selbstproduktion der für die Vererbung verantwortlicher Makromoleküle, erschien es dem Zentralkomitee und dem Ministerrat geboten, die »klassische« Genetik wieder zuzulassen und zu der Koexistenz beider biologischen Richtungen zurückzukehren, wie sie vor 1948 bestanden hatte.76 Vor allem aber stolperte Lysenko über seine vollmundigen Versprechungen von blühenden Landschaften, reichen Ernten und anpassungsfähigen Pflanzen, die Frost, Wind, Dürre und Nässe trotzen könnten. Die Ernten 1963 und 1964 waren – vor allem in Sibirien und den Neuland-Gebieten – schlecht aus­ gefallen. Erstmals in der Geschichte der Sowjetunion mussten große Mengen an Getreide aus Kanada, Australien und der Bundesrepublik Deutschland importiert werden.77 Sein Versprechen, mit neuen Agrarmethoden den Kreislauf wiederkehrender Nahrungsengpässe und Hungersnöte zu durchbrechen, konnte Lysenko nicht halten. Die schlechten Ernten, die 1928 und 1946 seinen Aufstieg beförderten hatten, beschleunigten 1964 seinen Niedergang. Auch der Kalte Krieg wurde von einem Trumpf in Lysenkos Hand zu einem Hindernis: Der Kampf um Loyalität war nur mit gefüllten Mägen zu gewinnen. Die Sowjetunion konnte sich in diesem Bereich  – sowohl aus Prestigegründen, als auch aus Sicherheitsüberlegungen heraus  – keine Schwächen leisten. Letztendlich Science. Wissenschaft, Politik und Ideologie im Kalten Krieg, in: Neue Politische Literatur 51, 2006, 49–68, hier 52. 75 Medvedev, Fall, 150. Der Niedergang Lysenkos wurde auch in der westlichen Presse thematisiert. Siehe: Die Lenkung der Natur, in: Spiegel, 1.9.1954, 24–28, hier 28; Wanda Bronska-Pampuch, Aufstieg und Fall des Wunderbiologen, in: Die Zeit, 18.6.1971, 1–5. 76 Lecourt, Wissenschaft, 147. 77 Medvedev, Fall, 236. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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fraß auch der Kalte Krieg seine eigenen Kinder, die seinen Beginn genutzt hatten, um Konkurrenten auszuschalten und Einfluss zu gewinnen. Beschleunigt wurde Lysenkos Abstieg durch Chruščevs Sturz im Oktober 1964. Mit ­Nikita Chruščev, der Lysenko seit Stalins Tod unterstützt hatte, hatte Lysenko seine landwirtschaftlichen Utopien geteilt. Die ausgebliebenen Rekordernten waren ein wesentlicher Grund dafür, dass Chruščev die Unterstützung der Partei verlor. 1965 wurde auch Lysenko als Direktor des Instituts für Genetik entlassen. Seine Arbeit auf dem Versuchsgut Gorki Leninskie konnte er behalten, auch blieb er Mitglied der drei wichtigsten sowjetischen Akademien. Dass Lysenko aber seinen Einfluss verloren hatte, zeigte sich ihm und der sowjetischen Öffentlichkeit am hundertsten Jahrestag der Mendelschen Abhandlungen. Zu der 1965 im tschechoslowakischen Brno stattfindenden Jubiläumsfeier reiste eine große sowjetische Delegation. Die meisten der Reiseteilnehmer waren Gegner Lysenkos, die 1948 vergeblich versucht hatten, ihre Position zu verteidigen.78 Lysenkos Bedeutungsverlust ging mit einer Abnahme des militärischen Voka­ bulars beim Sprechen über die natürliche Umwelt einher. Die Natur wandelte sich – wie Klaus Gestwa gezeigt hat – in den 1950er Jahren vom »Klassenfeind zur Ressource«, die zwar mit Hilfe neuer Technologien intensiv genutzt, jedoch nicht unbedingt gnadenlos unterworfen werden sollte.79 Die radikalen Umgestaltungsutopien, wie sie im Stalinplan oder im Davydov-Plan entworfen worden waren, waren allzu häufig an der Wirklichkeit, den materiellen, ökologischen und kulturellen Kosten gescheitert. Die enttäuschten Erwar­tungen setzten einen Sensibilisierungsprozess für die komplizierte Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur und die Grenzen menschlichen Einflusses in Gang. Letztendlich läuteten Lysenkos Sturz und der Bedeutungsverlust, den die Mičurin-Biologie in den 1960er Jahren hinnehmen musste, auch das Ende einer allzu vereinfachten Biologisierung des dialektischen Materialismus ein: Wenn die Natur der materialistischen Weltsicht nicht untergeordnet werden konnte, wurde es schwierig, den dialektischen Materialismus als »natürlich« zu be­ zeichnen. Diese Veränderung bedeutete auch das Ende der landwirtschaftlichen Utopien in der Sowjetunion. Erfolg, der auf der Erde und in der Landwirtschaft nicht zu erreichen war, wurde nun im Weltraum, in der Tiefsee und an den Polkappen gesucht. Die Raumfahrtforschung, Ozeanographie, Polarforschung, aber auch die Atomphysik machten der Biologie und der Agrarwissenschaft seit den 1950er Jahren immer erfolgreicher den Platz in den Journalen und Gazetten streitig. Die neuen Zukunftsräume, die mit diesen aufblühenden Wissenschaftsrichtungen verbunden waren, waren vom Alltag losgelöst: Schlechtes Wetter, Missernten aber auch Eintönigkeit und Wiederholung im Rhythmus der 78 Lecourt, Wissenschaft, 147. 79 Gestwa, Großbauten, 503–509. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Jahreszeiten konnten diese Träume, im Kalten Krieg immer einen Schritt voraus zu sein, nicht so einfach stören. Die Debatte um die Vererbung in der Sowjetunion zeigt, wie die Biologie einerseits zu einer Disziplin werden konnte, an deren Beispiel Wissenschaftsfragen sowie Natur- und Gesellschaftsvorstellungen diskutiert werden konnten. Dabei spielte die Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfahrung eine entscheidende Rolle. Sowohl die »klassischen« Genetiker um Nikolaj Vavilov als auch die sowjetischen »Lamarckisten« um Trofim Lysenko konnten Versuche vorweisen, die ihre Annahmen über Fragen der Vererbung bestätigten. In diesem Punkt zeigt sich auch eine Parallele zur heutigen Debatte um Grüne Gentechnik, die aufgrund mangelnder Gewissheit über ihre ökologischen und sozialen Folgen zur Arena übergreifender Auseinandersetzungen über die Mensch-Natur-Beziehung geworden ist. Andererseits verdeutlicht der Disput zwischen Lysenkoisten und klassischen Genetikern aber auch, wie die Biologie ihre Bedeutung als populären Austragungs­ort gesellschaftlicher Debatten verlor, an dem sich über soziale Ordnung und historischen Wandel verständigt werden konnte. Dabei fällt auf, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse, wie die Entschlüsselung des genetischen Codes im Jahr 1956, nur ein Faktor unter vielen waren, der zu einem Wandel in der Debatte und zu dem Aufbrechen des unüberbückbaren Konflikts führte. Lysenkos Einfluss litt in erster Linie unter der Veränderung der sozialen und politischen Kontexte. Der Wandel im wissenschaftlichen Feld waren nur ein Mosaikstein, der zur Rehabilitierung der Genetik führte. Wissenschaftliche Erkenntnisse waren in der Sowjetunion und sind es auch in der Debatte um Grüne Gentechnik in Deutschland »situierte Objektivitäten«,80 die in sozialen Beziehungen, an bestimmten Orten und in bestimmten Institutionen vor allem sprachlich hervorgebracht und mit Gültigkeit versehen werden.81

80 Achim Landwehr, Einleitung: Geschichte(n) der Wirklichkeit, in: Ders. (Hrsg.), Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens. Augsburg 2002, 9–27, hier 17. 81 Fleck, Entstehung, 54, 59, 70, 185–189. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Utopia im Garten Neues utopisches und dystopisches Denken in gegenwärtigen Debatten über Natur, Landwirtschaft und Nahrung*

1. Erzählen von der Alternative und vom Ende Die Gegenwart ist tief geprägt von Kontroversen, die an der Schnittstelle zwischen Mensch und Natur anzusiedeln sind. In diesen Debatten rund um Nahrung, Landwirtschaft, Klimawandel und Umweltzerstörung geht es dabei nicht nur um das etwaige Ergreifen von Einzelmaßnahmen; vielmehr wird auch die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit einer anderen Gesellschaft und eines anderen Lebens aufgeworfen. Die Diskussionen kreisen demnach nicht nur um den Einsatz oder die Zurückweisung bestimmter technischer Eingriffe und Umgestaltungen von Natur, sondern sind Ausdruck der grundlegenden Frage, in welcher Welt wir leben wollen. Gerade angesichts technologischer Innovationen, die das Potential besitzen, tief in die Zukunft reichende Folgen zu zeitigen, stellt sich die Frage, in welchem Szenario gegenwärtige Tendenzen und Dynamiken einst enden werden – und ob dieses Szenario wünschenswert ist. Insofern präzise Prognosen hinsichtlich der langfristigen Auswirkungen von eingeschlagenen Entwicklungspfaden nicht möglich sind und die Frage nach einem alternativen Leben stets auch eine narrative1 Antwort verlangt, wird der entsprechende gesellschaftliche Diskurs * Vorliegender Artikel entstand im Rahmen des Gesprächskreises Landwirtschaft zwischen Idyll und Dystopie, ein Teilprojekt des Bayerischen Forschungsverbundes ForPlanta, gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Aus Gründen der Lesbarkeit wird nur eine Geschlechterbezeichnung verwendet. 1 Die Frage nach dem ganzen Leben bzw. einer guten Gestalt der Welt drängt stets auch über das philosophische Denken hinaus in die Erzählung. Des Weiteren, so hält Schwonke in Bezug auf Utopien fest, müssen wissenschaftliche Erkenntnisse und Extrapolationen, sofern sie als Basis für derartige Überlegungen dienlich sind und in diesem Kontext gesellschaftlichen Niederschlag finden wollen, erst in »bildhafte, plastische, ›durchfühlbare‹ Vorstellungen« (Martin Schwonke, Vom Staatsroman zur Science Fiction. Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlich-technischen Utopie. Stuttgart 1957, 105) übersetzt werden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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nicht zuletzt im Rückgriff auf ein traditionelles kulturelles Handwerkszeug des Menschen geführt: durch das Erzählen von Utopien und Dystopien. Der Text folgt der These, dass sich gerade Dispute rund um Natur, Landwirtschaft und Nahrung stets auch hinsichtlich ihres utopischen wie dystopischen Gehalts lesen lassen. Erzählungen von der guten Alternative und vom drohenden Ende schimmern durch die Rhetorik dieser Kontroversen durch.2 Es gilt daher, die Denkfigur der Utopie und ihres Pendants, der Dystopie historisch auszuleuchten und ihren Ort in gegenwärtigen Auseinandersetzungen zu den skizzierten Themen neu zu bestimmen. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, inwieweit sich hierbei nicht nur das »klassische« utopische Denken artikuliert, welches durch den Entwurf eines alternativen Sozialmodells auf Fehlentwicklungen der Gegenwart aufmerksam machen möchte; oder ob sich in diesen Disputen nicht auch ein neues utopisches Denken Raum verschafft, das weniger eine neue Gesellschaftsordnung anvisiert, denn eine Utopie im »kleinen« Rahmen des eigenen Lebensentwurfs (gewissermaßen eine Utopie en miniature) versucht.

2. Über die Utopie und ihr vermeintliches Ende Wer von Utopie spricht, hat sich mit ihrem vielfach besungenen Ende ausein­ anderzusetzen. Der Begriff leitet sich aus dem Altgriechischen ab und bedeutet in etwa Ohne Ort oder Nicht-Ort. Gemeint ist eine – oftmals literarische – Skizze einer fiktiven idealen Gesellschaft. Utopien spielen mit der Frage, welche alternativen Formen menschlichen Zusammenlebens denkbar wären: In Kontrast zu den tatsächlich herrschenden Verhältnissen wird ein Alternativmodell einer besseren, ja nahezu vollkommenen Gesellschaftsform gezeichnet, welches Defizite und Fehlentwicklungen des Ist-Zustandes benennt. Utopisches Denken entwirft also – ausgehend von einer Kritik am Bestehenden – Gegenwelten, wie sie (noch) nicht existieren, aber grundsätzlich denkmöglich und – aus Sicht des Autors – wünschenswert sind.

2 Die These versteht sich dabei im Anschluss an jene Ergebnisse in der Soziologie, die in den letzten Jahren zeigen konnten, dass Technik- und Umweltkonflikte vor dem Hintergrund umfassenderer Wertüberzeugungen und kultureller Leitbilder stattfinden. Vgl. exemplarisch zur Debatte um die Grüne Gentechnik: Michael Zwick, Wertorientierungen und Technikeinstellungen im Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung. Stuttgart 1998. Jürgen Hampel, Ortwin Renn, Gentechnik in der Öffentlichkeit. Wahrnehmung und Bewertung einer umstrittenen Technologie. Frankfurt, New York 1999. Bernhard Gill, Streitfall Natur. Weltbilder in Technik- und Umweltkonflikten. Wiesbaden 2003. Magdalena Sawicka, Naturvorstellungen und Grüne Gentechnik, in: Roger Busch, Gernot Prütz (Hrsg.), Biotechnologie in gesellschaftlicher Deutung. München 2008, 169–184. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Utopische Entwürfe lassen sich dabei durch die gesamte Ideengeschichte hindurch identifizieren. Wer einem breiten Verständnis des Begriffs folgt, der entdeckt beispielsweise in den Erzählungen eines verloren gegangenen Paradieses, wie im Bericht über die Vertreibung aus dem Garten Eden im Buch Genesis oder in der Darstellung der vier Weltzeitalter in Ovids Metamorphosen, durchaus (rückwärtsgewandten) utopischen Gehalt.3 Die kanonische Darstellung der Utopiegeschichte geht von einer engeren Definition des Begriffs aus und nennt in der Regel Platon als ersten Markstein utopischen Denkens: Der Schüler des Sokrates schilderte in seinem Werk Politeia (um 370 v. Chr.) detailliert die Grundstruktur (s)eines idealen Staates und gilt als Wegbereiter der Utopietradition, die ihre Blütezeit in der frühen Neuzeit erlebte. Drei Autoren sind hier allen voran zu nennen: Thomas Morus’ wirkmächtige Erzählung über die Insel Utopia (1516) gilt als Namensgeberin des Genres. Der italienische Dominikaner Tommaso Campanella legte in seinem Sonnenstaat (1602) eine visionäre Gesellschaftsordnung ohne Privateigentum vor, in der er das irdische Abbild der göttlichen Ordnung verwirklicht sah. Der englische Gelehrte Francis Bacon beschrieb 1627 unter dem Titel Nova Atlantis sein Wunschbild einer idealen Gesellschaft, welche – in Übereinstimmung mit Bacons Lebensprojekt  – maßgeblich auf naturwissenschaftlichem Fortschritt aufbaute. Wer von einer Blütezeit spricht, weiß auch von einer Phase des Verblühens zu berichten: Die Utopie, so heißt es seit geraumer Zeit, ist uns fremd ge­worden. Jürgen Habermas diagnostizierte bereits Mitte der 1980er eine »Erschöpfung der utopischen Energien«.4 Die Epochenwende rund um den Zusammenbruch des Realsozialismus  – eines Realisierungsversuches einer großangelegten Sozial­ utopie – ließ schließlich vom endgültigen Ende des utopischen Zeitalters sprechen.5 Ihr gegenwärtiger Ort ist denn auch weniger in sozialphilosophischen Abhandlungen als in der Science-Fiction-Literatur zu finden. Dabei ist es nicht nur der gescheiterte Praxistest, der dem utopischen Denken seine Kraft entzog. Utopien, die uns von der besten aller möglichen Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens vorschwärmen, haben aus mehreren Gründen ihre Schlagkraft verloren: (1) Spätestens seit Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde aus dem Jahr 1945 werden utopische Entwürfe kritisch hinsichtlich ihres totalitären Ge 3 Dieser utopische Gehalt wird in der chiliastischen Hoffnung auf die Wiederkehr des Paradieses am Ende der Zeiten explizit. Vgl. Ferdinand Seibt, Utopie als Funktion abend­ ländischen Denkens, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Frankfurt 1985, 273. 4 Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V. Frankfurt 1985, 141. 5 Vgl. exemplarisch: Joachim Fest, Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters. Berlin 1991. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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halts diskutiert. Popper legte u. a. exemplarisch anhand Platons Utopie eines mächtigen Staatsapparats, der das Leben der Untertanen bis ins kleinste Detail reglementiert, dar, inwieweit diese die Begründung eines totalitären Systems beinhaltet.6 Ein derartiger Vorrang des Kollektivs gegenüber dem Individuum mutet antiindividualistisch und freiheitsberaubend an. (2) Utopien werden als nicht realisierbare Konzepte kritisiert. Der Historiker Lucian Hölscher zeigt, wie sich der Sprachgebrauch des Begriffes im Laufe der Zeit vor allem hinsichtlich eines größeren Erwartungsdrucks veränderte: Las man derartige Erzählungen früher noch aus der Perspektive eines zu erwartenden pädagogischen Nutzens, hatten sich Utopien ab dem 19.  Jahrhundert hinsichtlich ihrer konkreten Umsetzbarkeit zu rechtfertigen.7 »Das ist utopisch« nahm langsam jenen Zungenschlag an, der uns heute aus der Alltagssprache vertraut ist, wenn über ein unrealisierbares Unterfangen die Rede ist. Sind ­Utopien nun per definitionem nicht zu verwirklichen? Eine Antwort hierauf muss in der Schwebe bleiben. Zwar empfehlen Philosophen wie etwa Herbert Marcuse den Begriff der Utopie nur für Projekte zu verwenden, die nicht nur unrealistisch, sondern schlicht unrealisierbar sind;8 und doch weisen Utopien stets einen Zug zur Realisierung auf: Einerseits als konkrete Versuche, die Utopie Praxis werden zu lassen. Hierfür finden sich etwa im 19. Jahrhundert zahlreiche Beispiele wie Robert Owens Kolonie New Harmony, die Kommunen auf Basis der Utopie von Charles Fourier oder auch die Bewegung der Ikarier, die auf dem utopischen Roman Reise nach Ikarien (1840) von Étienne Cabet basierte.9 Auch in der Gegenwart lassen sich derartige Versuche diagnostizieren, zu nennen wäre hier beispielsweise die Bewegung des Equilibrismus.10 Andererseits versuchen Utopien stets als »regulatives Prinzip«11 auf das Beste-

6 Vgl. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Der Zauber Platons. Tübingen 1992. 7 Vgl. Lucian Hölscher, Der Begriff der Utopie als historische Kategorie, in: Voßkamp (Hrsg): Utopieforschung, 404 ff. 8 »Wenn ein Projekt der gesellschaftlichen Umwandlung wirklichen Naturgesetzen widerspricht. Nur ein solches Projekt ist in striktem Sinne utopisch…«, Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie. Frankfurt 1980, 11. 9 Vgl. Richard Saage, Utopische Profile. Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert. München 2002, 345–370. 10 Der so genannte Equilibrismus, ein sozioökologisches Wirtschaftsmodell, folgt dem drei Phasen-Modell From concept through fiction to reality, sprich: Nach der theoretischen Grundlegung ihrer politischen Utopie (vgl. Volker Freystedt, Eric Bihl, Equilibrismus. Neue Konzepte statt Reformen für eine Welt im Gleichgewicht. Wien 2009) und einer literarischen Schilderung ihrer Vision (vgl. Dirk C. Fleck, Das Tahiti-Projekt. München 2009) wollen die Equilibristen die Grundzüge ihres Entwurfs nun auf einer kleinen Südseeinsel für einen Zeitraum von zehn Jahren in die Praxis umsetzen. Für Interessierte sei auf die Website des Projektes verwiesen: www.equilibrismus.de. 11 Saage, Utopische Profile, 345. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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hende einzuwirken.12 Mit Jörn Rüsen kann festgehalten werden: Utopien sind stets »durch Hoffnungen konstituiert, die über den Bereich des hier und jetzt Machbaren hinausgehen, ohne daß sie freilich die Erfüllbarkeit dieser Hoffnung grundsätzlich in Frage stellten.«13 (3) Zuletzt sei auf einen Aspekt hingewiesen, der in derartigen Aufzählun­gen in der Regel ausgeblendet wird, jedoch – ob der Nähe von Utopie und Kunst – durchaus Beachtung verdient: Utopien erscheinen dramaturgisch unattraktiv. Zwar fallen derartige subjektive Beurteilungen schwer, der Anstieg an dystopischen Entwürfen gerade im 20.  Jahrhundert ist jedoch bemerkenswert. Künstlerische Arbeiten zu etwaigen Zukünften des Menschseins wählen weniger ideale Wunschbilder denn Dystopien (abgeleitet vom Altgriechischen dys – miss, übel) als Ausdrucksform. Von Jewgeni Samjatins Wir (1920) über Aldous Huxleys Schöne neue Welt (1932) und George Orwells 1984 (1949) bis hin zu Margaret Atwoods Der Report der Magd (1985) werden Gesellschaftsformen der Zukunft und die bereits in der Gegenwart angelegten Fehlentwicklungen als – dramaturgisch ergiebigere – Schattenbilder gezeichnet. Zusammenfassend wirken utopische Skizzen eines idealen menschlichen Zusammenlebens aus demokratiepolitischer Perspektive verdächtig, aus prak­ tischer Sicht realitätsfern und aus dramaturgischer Warte blass. Ist die Rede vom Ende der Utopie damit besiegelt? Richard Saage, einer der bedeutendsten Utopieforscher der jüngeren Vergangenheit, widerspricht dieser Diagnose. Er wendet sich gegen die gedankliche Engführung, Utopien stets mit autoritäretatistischen Universalentwürfen eines idealen Staatswesens zu assoziieren. In diesem Sinne hält er Popper entgegen, dass sich seine Kritik nur auf eine bestimmte Form der Utopie konzentriere, die Mannigfaltigkeit an utopischen Erzählungen jedoch nicht in den Blick bekomme.14 Ein Verzicht auf utopisches Denken, so Saage weiter, wäre nicht nur eine kulturelle Verarmung, Utopien weisen auch immer noch Orientierungspotential auf: »Gewiß, wer die Zukunft lediglich mit einer Verlängerung der Gegenwart gleichsetzt, benötigt keine Utopie. Wer sie aber durch offene Horizonte charakterisiert sieht, muß sagen, wie die Welt, in der wir morgen leben wollen, aussehen soll. Wie kann diese Frage anders beantwortet werden als durch eine utopische Fiktion?«15

12 In diesem Zusammenhang ist auch Ernst Bloch zu nennen, der mit seiner Begriffsbildung der »Konkreten Utopie« den Gedanken verteidigte, dass der fassbaren Vorstellung eines verbesserten Gesellschaftszustandes folgend durchaus gesellschaftliche Veränderungen möglich sind. Vgl. Ernst Bloch, Geist der Utopie. Frankfurt 1980. 13 Jörn Rüsen, Utopie und Geschichte, in: Voßkamp (Hrsg), Utopieforschung, 358. 14 Vgl. Richard Saage, Vermessungen des Nirgendwo. Begriffe, Wirkungsgeschichte und Lernprozesse der neuzeitlichen Utopien. Darmstadt 1995, 76 ff. 15 Saage, Vermessungen, 99. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Das Erzählen vom Gegenentwurf zum bestehenden System mag dabei gerade dann einen besonderen Reiz aufweisen, wenn der Topos der Alternativlosigkeit die Runde macht.16 Auch in der Gegenwart vermag die Utopie – in kritischer Distanz zu totalitär verdächtigen Idealbildern  – demnach einen Ort zur Verfügung zu stellen, um über das Bestehende und etwaige Alternativen im großen Stil zu diskutieren. Gerade in einer von technischer Dynamik und entsprechender stetigen Veränderung geprägten Zeit braucht es Möglichkeiten, erhoffte und befürchtete Zukunftsszenarien zu äußern.

3. Gegenwärtige Kontroversen im Licht utopischen und dystopischen Denkens Im Folgenden sollen vier Denkbewegungen nachgezeichnet werden, die zeigen, inwieweit sich gegenwärtige Debatten zu Natur, Landwirtschaft und Nahrung vor dem Hintergrund utopischen und dystopischen Denkens besser verstehen lassen: (1) In Umwelt- und Technikkonflikten werden utopische wie dystopische Skizzen stets mitverhandelt. Diese Skizzen sind dabei in der Tradition des utopischen Genres zu lesen, wie nicht zuletzt mit einem Blick auf (2) den Wandel der Rolle der Technik sowie auf (3) die Mensch-Natur-Beziehung als zentrales neues Motiv deutlich wird. Schließlich (4) ist gerade im Kontext der Themen Natur, Landwirtschaft und Nahrung die Frage nach einer neuen Form der Utopie en miniature zu stellen.

3.1 Von der statistischen Prognose zur Erzählung Schon Ende der 1950er hielt Schwonke fest, dass utopische wie dystopische Vorstellungen über die Zukunft der wissenschaftlich-technischen Gesellschaft nicht nur in der Science-Fiction-Literatur, sondern auch in zahllosen gesellschaftspolitischen Diskussionen rund um Energie, Technik und Alltag wiederzufinden sind.17 Sie tauchen dabei auch an Orten auf, an denen man sie auf den ersten Blick eventuell nicht vermuten würde. So zeigen Birnbacher und Schicha beispielsweise, inwieweit sich im Disput, welche Forderungen mit dem Konzept der Nachhaltigkeit verbunden sind, zwei konträre Zukunftsbilder wieder 16 In Ergänzung kann auf die nahezu kathartische Funktion der Utopie hingewiesen werden wie etwa Rüsen sie betont: »Utopien gehören […] zu den Träumen, die die Menschheit mit der ganzen Anstrengung ihres Geistes träumen muß, um es im nüchternen Zustand erfahrungsgeleiteter Lebensfristung mit sich selbst und ihrer Welt aushalten zu können.«, Rüsen, Utopie und Geschichte, 359. 17 Vgl. Schwonke, Staatsroman, III. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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finden:18 Im optimistischen Paradigma sind zukünftige Generationen ob des Fortschrittsprozesses grundsätzlich besser gestellt als die gegenwärtige Generation. Die mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit einhergehende Verantwortung liegt demnach im grundsätzlichen Erhalt dieses Prozesses. Im pessimistischen Paradigma braucht es darüber hinausgehende Forderungen an die Gegenwart, deren Nichterfüllung zukünftige Generationen in eine schlechtere Ausgangsposition brächte. Birnbacher und Schicha diagnostizieren, dass in gegenwärtigen zukunftsethischen Ansätzen zumeist von der pessimistischen Variante ausgegangen wird. Auch beim exemplarischen Blick auf die Debatte um die Grüne Gentechnik zeigen sich utopische wie dystopische Vorstellungen innerhalb der Kontroverse: Die Befürworter zeichnen eine Utopie mit ideal auf unsere Bedürfnisse zugeschnittenen Pflanzen, die einen Beitrag zur Welternährung leisten; die technologischen Mittel werden kontrolliert eingesetzt und verbessern die sozialen Bedingungen. Die Kritiker setzen in der Kommunikation ihres Anliegens hingegen maßgeblich auf dystopische Zukunftsbilder. Der Einsatz biotechnologischer Verfahren für die Nahrungsmittelproduktion wird von Kritikerseite als letzter Baustein eines Prozesses dargestellt, der in eine düstere Zukunftsvision führt: Abhängigkeit von einzelnen Saatgutkonzernen, Superunkräuter, das Ende kleinbäuerlicher Strukturen, die vollständige Umwandlung von Natur in Kultur, etc. Wenn Jeremy Rifkin in seinem populärwissenschaftlichen Bestseller Das biotechnische Zeitalter beispielsweise die Zukunft der Landwirtschaft im Sog der neuen Biotechnologien skizziert, so mutet seine Schilderung wohl für nicht wenige Menschen wie eine dystopische Zeichnung an: Die Landwirtschaft der Zukunft, so Rifkin, könnte möglicherweise »Nahrungsmittel und Rohstoffe in Gewebekultur, in riesigen Bakterientanks«19 produzieren.20 In der Debatte um Biotechnologie in der Landwirtschaft geht es demnach nicht nur – wie man meinen könnte – um den Einsatz bestimmter technischer Verfahren, vielmehr bestimmen Zukunftsbilder die Diskussion wesentlich mit: »Die Befürworter der Biotechnologie versprechen das Paradies, während die Gegner die Hölle prophezeien.«21 Im Versuch zu überzeugen werden statistische 18 Vgl. Dieter Birnbacher, Christian Schicha, Vorsorge statt Nachhaltigkeit  – ethische Grundlagen der Zukunftsverantwortung, in: Dieter Birnbacher, Gerd Brudermüller (Hrsg.), Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität. München 2001, 19 f. 19 Jeremy Rifkin, Das biotechnische Zeitalter. Die Geschäfte mit der Gentechnik. München 2000, 24. 20 Eine derartige Darstellung von Landwirtschaft widerspricht den Vorstellungswelten von Nahrungsmittelproduktion, wie sie etwa in gängigen Strategien des Agrarmarketings deutlich werden: Landwirtschaft als idyllische, beschauliche, technikferne Tätigkeit. Vgl. Christian Dürnberger, Der Mythos der Ursprünglichkeit. Landwirtschaftliche Idylle und ihre Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung, in: Forum TTN 19. München 2008, 45–52. 21 Michiel Korthals, Grüne Gentechnik, in: Marcus Düwell, Klaus Steigleder (Hrsg.), Bioethik. Eine Einführung. Frankfurt 2003, 354–362. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Prognosen mit lebhaften, einprägsamen Erzählungen ausgeschmückt. Mal hoffnungsfroh, mal sorgend erzählt man sich, wo das Alles einst enden wird. Dabei entsteht der Eindruck, dass die utopischen wie dystopischen Skizzen nicht nur als Bestandteil einer bewussten Kommunikationsstrategie auftauchen; sie scheinen Kontroversen um Technologien, deren langfristige Auswirkungen kaum zu prognostizieren sind, vielmehr notwendig innezuwohnen. Es stellt sich die Frage nach der Unvermeidlichkeit der Utopie in Zukunftsbezügen.22

3.2 Von Bacon zu Orwell: der Blick auf Technik Die Themen Wissenschaft und Technik sind das Epizentrum der modernen Utopie. Das zukünftige Glück der Menschen wird nicht mehr in der besten Staatsform gesucht, wie etwa noch bei Platon; vielmehr haben Utopien an zentraler Stelle darüber Auskunft zu geben, wie sie es denn mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und der technischen Dynamik halten.23 Als früher Wegweiser hat hierbei Francis Bacon zu gelten: In seinem Nova Atlantis stoßen Schiffsreisende nach einem Sturm auf eine bisher unentdeckte Insel, auf der sie von einem Reiseführer in die (ideale)  Gesellschaft der dort Lebenden eingeführt werden. Das gütliche Zusammenleben auf Nova Atlantis beruht dabei maßgeblich auf dem Erfolg der Wissenschaften. Das so genannte Haus Salomon ist nicht nur das zentrale Wissenschaftsinstitut, es ist vielmehr das eigentliche Zentrum der Gemeinschaft und gilt den Bewohnern als »Laterne unseres Landes«24. Seine Funktion entspricht dabei dem Baconschen Projekt, Wissenschaft von der kontemplativen Betrachtung zu einem verändernden Tätigwerden zu transformieren. Zwar heißt es auch bei Bacon noch, das Haus Salomons sei der »Betrachtung und Erforschung der Werke und Geschöpfe Gottes geweiht«25, die Erläuterung dieser Losung zeigt aber deutlich ein modernes Verständnis: Zweck der Wissenschaft auf Nova Atlantis ist es, »die Ursachen des Naturgeschehens zu ergründen, die geheimen Bewegungen in den Dingen und die inneren Kräfte der Natur zu erforschen und die Grenzen der menschlichen Macht so weit auszudehnen, um alle möglichen Dinge zu bewirken.«26

22 Womit sich auch die Frage des adäquaten Umgangs mit utopischen wie dystopischen Aspekten innerhalb dieser Diskussionen stellt. Vgl. hierzu Kapitel 4 des vorliegenden Textes. 23 Dieser neue naturwissenschaftlich-technische Fokus, so Schwonke, leitet dabei einen Wandel des gesamten Genres ein: Utopisches Denken bewegt sich weg vom Staatsroman und lässt sich vermehrt in der Science-Fiction-Literatur nieder. Vgl. Schwonke, Staatsroman, 42 ff. 24 Francis Bacon, Neu-Atlantis. Stuttgart 2007, 27. 25 Ebd. 26 Ebd., 43. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Die Erfolge können sich sehen lassen; so beschreibt der Reiseführer beispielsweise die Errungenschaften im Bereich der Pflanzenzüchtung auf der Insel wie folgt: »Wir erreichen auch auf künstlichem Wege, daß sich in diesen Obst­ plantagen und Gärten Früchte und Blüten früher oder später als zur natürlichen Zeit bilden, ferner, daß die Pflanzen und Bäume in kürzerer Zeit keimen, knospen und Früchte tragen, als ihrer Natur entspricht. Wir können auch Bäume und Pflanzen höher werden lassen, als sie es normalerweise sind, wir können bewirken, daß ihre Früchte größer und süßer werden, und daß sie ihren Geschmack und Geruch, ihre Farbe und Gestalt gegenüber der ursprünglichen Form verändern. […] Ferner erzeugen wir neue Pflanzen, die von den gewöhnlichen verschieden sind, und können Pflanzen einer Art in andere verwandeln.«27 In anderen Worten: Auf Nova Atlantis würde wohl jene Akzeptanz, ja Eupho­rie der Grünen Gentechnik gegenüber herrschen, wie sie sich manche Molekularbiologen und Unternehmen in Deutschland nicht einmal mehr in ihren kühnsten Träumen zu erhoffen wagen. Seit Bacon ist Technik als Hoffnungsträger ein zentraler Topos des Utopiegenres. Dina Brandt zeigt beispielsweise, inwieweit insbesondere in den deutschen »Zukunftsromanen« der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts ein starker Technikoptimismus zu finden war.28 Gegenwärtigen Autoren steht dieser Topos jedoch nicht mehr in dieser Ausprägung zur Verfügung ohne als euphorieblind kritisiert zu werden. Im Gegenteil, die Literatur des vergangenen Jahrhunderts brachte zahlreiche Dystopien hervor, in denen gerade die Macht moderner Technologie das negative Schattenbild der Zukunft ausmacht: Im Staat von Jewgeni Samjatins Wir erlaubt es die moderne Medizintechnik, das Fantasiezentrum im Gehirn der Untertanen auszuschalten, in Aldous Huxleys Schöne neue Welt entlarvt sich das dystopische Potential moderner Fortpflanzungsmedizin und in George Orwells 1984 führt die Kommunikationstechnologie zur totalen Überwachung des Einzelnen.29 Das Genre der Utopie ist in dieser Perspektive ein Abbild des viel zitierten Endes des Technikoptimismus.30 Auch in Umwelt- und Technikkonflikten of 27 Ebd., 46. 28 Vgl. Dina Brandt, Der deutsche Zukunftsroman 1918–1945: Gattungstypologie und sozialgeschichtliche Verortung. Tübingen 2007. 29 Als Urtext der Technikdystopie kann im Übrigen der hierzulande eher unbekannte Roman Le Monde tel qu’il sera (1846) von Emile Souvestre genannt werden, in dem ein Paar in das Jahr 3000 reist und auf eine technologisch nahezu omnipotente Gesellschaft trifft. Alles ist machbar – und doch wirken die Errungenschaften auf die Zeitreisenden abschreckend: Die Erziehung der Kinder haben Maschinen übernommen, die Natur ist durch eine künstliche Welt ersetzt worden und um gewünschte Eigenschaften zu erhalten, werden Menschen gezielt gezüchtet. Vgl. Schwonke, Staatsroman, 59 ff. 30 Wobei umstritten zu bleiben hat, inwieweit es einen bedingungslosen Technikoptimismus tatsächlich jemals gegeben hat. Historische Analysen können jedoch zeigen, dass Strömungen früherer Epochen zumindest tendenziell gerade technische Umgestaltungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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fenbart sich ein Zug zur dystopischen Deutung einzelner Technologien. In der Debatte um Biotechnologie in der Landwirtschaft finden sich etwa zahlreiche Topoi dieser Tradition: Grüne Gentechnik als ein Schritt zur vollkommenen Technisierung des Lebens, als eine Technologie, die in naher oder ferner Zukunft der menschlichen Kontrolle entgleiten wird und die nicht zuletzt vor allem multinationalen Konzernen offensteht.

3.3 Von Bogdanow zu Callenbach: der Blick auf Natur Die moderne Utopie kennt ein Motiv, das der klassischen Tradition des Genres unbekannt war: die ökologische Aussöhnung. Dies ist der qualitativ neuen Situation geschuldet, in der sich der Mensch der Gegenwart befindet. Ab dem 20. Jahrhundert existieren technische Möglichkeiten und Dynamiken, die die Natur und alles Lebendige in ihrer Gesamtheit bedrohen.31 Entsprechend sind unsere Vorstellungen über die Natur maßgeblich durch ihre Fragilität und Schonungsbedürftigkeit geprägt.32 Dieser Wandel schlägt sich auch prominent in utopischem und dystopischem Denken nieder: In den klassischen Utopien der frühen Neuzeit beruht die ideale Gesellschaft maßgeblich auf der Herrschaft über die Natur. Saage macht dabei einen beachtenswerten Gedanken stark: Jene antiindividualistische Bevorzugung des Kollektivs, wie sie zahlreiche (frühneuzeitliche) Utopien aufweisen, ist nur vor dem Hintergrund jenes gemeinsamen Kampfes gegen die Natur zu verstehen.33 Morus, Campanella und Bacon eint denn auch das Programm, diesen Kampf aufzunehmen. der Natur positiver bewerteten als gegenwärtig der Fall. Vgl. exemplarisch David Blackbourn, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. München 2008. Hans-Liudger Dienel, Herrschaft über die Natur? Naturvorstellungen deutscher Ingenieure im 19. und 20. Jahrhundert, in: Lothar Schäfer, Lothar, Elisabeth Ströker (Hrsg.), Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Technik. Band III. Aufklärung und späte Neuzeit. Freiburg, München 1995, 121–148. Der Widerstand gegen einzelne Technologien wie etwa die Grüne Gentechnik darf dabei jedoch nicht als Resultat einer allgemeinen Wissenschaftsoder Technikfeindlichkeit missverstanden werden; die gegenwärtige Grundhaltung gegenüber wissenschaftlich-technischen Innovationen ist vielmehr als eine differenziert-kritische zu beschreiben. Vgl. hierzu Ortwin Renn, Technikakzeptanz: Lehren und Rückschlüsse der Akzeptanzforschung für die Bewältigung des technischen Wandels, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis Nr. 3, 14. Jg. Karlsruhe 2005, 29–37. Bernhard Gill, Streitfall Natur. 31 Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technolo­ gische Zivilisation. Frankfurt 1984, 15 ff. 32 Vgl. Lothar Schäfer, Die Idee der zu schonenden Natur, in: Lothar Schäfer, Elisabeth Ströker (Hrsg.), Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Technik. Band IV. Gegenwart. Freiburg, München 1996, 199–226. 33 Vgl. Saage, Vermessungen, 239 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Explizit wird dieser Gedanke etwa beim russischen Philosophen und Schriftsteller Alexander Alexandrowitsch Bogdanow (1873–1928). Er erzählt in seinem Roman Der rote Planet (1908) von einer utopischen Zivilisation auf dem Mars. Dort heißt es: »Bei uns herrscht Frieden unter den Menschen, das ist wahr, aber kein Frieden mit der elementaren Natur. Den kann es nicht geben. Die Natur ist unser Feind, der immer wieder von neuem besiegt werden muß.«34 Mit der Erfahrung der Zerbrechlichkeit der Natur ändert sich diese Perspektive radikal: Wer ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der utopischen Gesellschaft berichtet, erzählt in der Regel vom Frieden zwischen Mensch und Natur. Die wohl wirkmächtigste derartige ökologische Utopie ist der Roman Ökotopia (1975) des amerikanischen Schriftstellers Ernest Callenbach ­(1929–2012): Nach dem Zusammenbruch des bisherigen Systems bildet sich an der Westküste der früheren USA der Staat Ökotopia. Jahrzehnte nach der selbstauferlegten Isolation erhält der Journalist William Weston Einreiseerlaubnis und schildert – zu Beginn skeptisch, im Lauf der Reise mit wachsender Begeisterung – eine Gemeinschaft, die alle Lebensbereiche an der Nachhaltigkeitsidee orientiert. Ökotopia ist dabei nicht technikfeindlich, erzählt also nicht von einer ökoromantischen Rückkehr zur Ursprünglichkeit, die eingesetzten Technologien werden jedoch sehr bedacht mit Blick auf Auswirkung auf die Umwelt und auf die Bedürfnisse der Menschen ausgewählt.35 Die ökologische Aussöhnung ist dabei auch ein Motiv von praktisch er­ probten Utopien. Ein frühes Beispiel, in dessen Zentrum nicht zuletzt die Idee der Selbstversorgung mit Nahrung stand, lässt sich etwa im deutschen Kaiser­ reich finden: Ende des 19.  Jahrhunderts wurde von so genannten Lebens­ reformern vor den Toren Berlins die vegetarische Obstbaukolonie Eden gegründet. Ziel war es, eine neue Lebensform abseits des zivilisatorischen Verdrusses zu finden. Zu den Anliegen der Edener gehörten der Vegetarismus, neue schulische Konzepte, gesunde, selbst angebaute Nahrung und ein einfaches Leben in und mit der Natur.36 Häufiger als die utopische Bezugnahme auf das Mensch-Natur-Verhältnis ist jedoch ihr Pendant: Apokalyptische37 Vorstellungen gehören zur kulturellen Grundausstattung des Menschen; die Gegenwart ist dabei reich an Erzäh 34 Alexander Bogdanow, Der rote Planet. Berlin 1989, 77. 35 Vgl. Ernest Callenbach, Ecotopia: The Notebooks and Reports of William Weston. Stuttgart 1996. 36 Vgl. Irisch Radisch, Das Paradies auf Erden – Was ist von der Lebensreform geblieben? Zu Besuch in der einstigen Gartenkolonie Eden, in: Zeit Geschichte Magazin. Das deutsche Kaiserreich, 4/2010, 72–80. 37 Wenn hier das Wort »Apokalypse« Verwendung findet, geschieht dies in Orientierung am gegenwärtigen Sprachgebrauch, der auf »Weltuntergang« fokussiert – wohl wissend, dass der Begriff in früheren theologischen Kontexten einen Moment des Neuanfangs und der Erlösung aufwies. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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lungen über die ökologische Katastrophe als menschengemachte Apokalypse.38 Gerade in der Naturschutzbewegung lässt sich spätestens ab Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein »Bilderwechsel hin zur Apokalypse«39 bemerken. Bis heute »prägt der Topos der Apokalypse die ökolo­gische Debatte«40 – ein Wesenszug, der gerade in jüngerer Vergangenheit kritisch diskutiert wird.41 Die Debatte um die Grüne Gentechnik ist dabei keine Ausnahme und wird ebenso wie die allgemeine Umweltdebatte von dystopischen Entwürfen mitbestimmt: Befürchtet, so herrscht der Eindruck vor, wird u. a. eine vollständige Überführung der Natur in die Welt der Artefakte. Eine ihrer Eigenständigkeit beraubten und der menschlichen Willkür ausgesetzten Natur erscheint als Verlust. Wenn Bernhard Gill zeigt, inwieweit eine – wie er es nennt – alteritätsorientierte Deutung von Natur als das Andere der Kultur eine ideale Projektionsfläche für Träume, auch für Träume einer besseren Gesellschaft darstellt,42 so ist daher zu ergänzen: Natur ist nicht nur eine ideale Projektionsfläche für Träume, sondern auch für Alpträume.

3.4 Vom idealen Staat zur Lebensführung als utopischer Möglichkeitsraum Die dargelegten Denkbewegungen bleiben im Fahrwasser der Utopietradition. Zwar werden neue Themen aufgegriffen  – wie etwa die ökologische Aussöhnung –, die Denkfigur folgt aber jener von Morus: In der Schilderung idealer oder abzulehnender alternativer Gesellschaftsmodelle wird an Tendenzen der Gegenwart Kritik geübt. Die Verteidigung der Utopie gegen ihren Abgesang wurde nun nicht zuletzt mit dem Hinweis auf die Mannigfaltigkeit utopischen Denkens vorgenommen. Dies ernst zu nehmen bedeutet auch nach utopischem Denken abseits dieser klassischen Tradition zu fragen. Hierfür bieten sich ge 38 Beliebter Topos der Literatur ist hierbei nicht nur der Zusammenbruch der Zivilisation als Resultat der Erschöpfung der Natur, sondern auch das Motiv einer »Rache« der ausgebeuteten Natur. Im Science-Fiction-Klassiker The Day Of The Triffids (1951) vom englischen Schrifsteller John Wyndham sind es beispielsweise hochgezüchtete Pflanzen, die in einer postapokalyptischen Welt Rache am Menschen nehmen. 39 Anna-Katharina Wöbse, Zur visuellen Geschichte der Naturschutz- und Umweltbewegung. Eine Skizze, in: Franz-Josef Brüggemeier, Jens Ivo Engels (Hrsg.), Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen. Frankfurt a. M. 2005, 246. 40 Peter Brimblecombe, Apokalypse im Nebel. Der Londoner Smog im späten 19. Jahrhundert, in: Frank Uekötter, Jens Hohensee (Hrsg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme. Wiesbaden, Stuttgart 2004, 50. 41 So fragt etwa Radkau: »Braucht die Öko-Bewegung wirklich die Angst vor dem Weltuntergang? Die historische Erfahrung scheint zu zeigen, daß eine praktische Ethik den Glauben an die Hölle nicht nötig hat.« Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2002, 305. 42 Vgl. Gill, Streitfall Natur, 75 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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rade Debatten um Natur, Landwirtschaft und Nahrung an, denn: Derartige Diskussionen drehen sich wesentlich um eine angestrebte ideale Mensch-NaturBeziehung und weisen damit einen Aspekt auf, der der traditionellen Sozialutopie, in der es um das ideale gesellschaftliche Zusammenleben geht, nicht offensteht. Ihr Ideal kann nicht nur durch die perfekte Verfassung, sondern auch durch den »apolitischen« Weg des Rückzugs aus dem System erreicht werden. Die ideal gezeichnete Begegnung des Menschen mit der Natur – ein nachhaltiger, bewusster, wertschätzender Umgang – steht denn auch dem Einzelnen offen, ja gelingt möglicherweise sogar eher als in den gesellschaftlichen Verflechtungen einer komplexen Welt. Utopisches Denken würde in diesem Zusammenhang nicht einen Entwurf der neuen großen Gesellschaftsordnung als Alternative zum bestehenden System versuchen, sondern eine »private« Utopie wagen. Die Gegenwelt wird nicht als Universalentwurf einer Verfassung konzipiert, sondern – nahezu im Sinne von L’utopie c’est moi – als alternatives Gegenleben zum kritisierten System konkret zu leben versucht. Gerade die Umweltbewegung ist seit jeher vom (diesem Gedanken nahestehenden) Typus des Aussteigers geprägt, der sich seine eigene Utopie im Kleinen schafft: Zu nennen ist hier zweifelsfrei Henry David ­Thoreau (1817–1862), amerikanischer Schriftsteller, Philosoph und Ikone der Umweltschutzbewegung, der sich für zwei Jahre in eine selbst errichtete Blockhütte zurückzog, um dem »eigentlichen, wirklichen Leben« auf die Spur zu kommen.43 Der Aussteiger ist hierbei nur die Speerspitze einer breiten Bewegung, die gerade bei Fragen der Nahrung und des Naturumgangs Rückzugstendenzen aus dem bestehenden System aufweist: Zahlreiche, ihre Experimente auf Blogs dokumentierende Selbstversorger versuchen nur zu verzehren, was sie mit eigenen Händen angebaut haben; Bücher zum Thema Selbstversorgung erleben entsprechend einen Boom. Bei Community-supported agriculture Projekten schließen sich kleinere Gruppen zu Landwirtschafts-Gemeinschaftshöfen zusammen, bei denen ein Bauernhof eine Gruppe von Verbrauchern mit Nahrungsmitteln versorgt; in diesem Zusammenhang wäre auch das gegenwärtig diagnostizierbare Phänomen des Urban Gardening zu nennen, bei dem im urbanen Raum kleinste Flächen bebaut und beackert werden  – und dies nicht nur aus einer Schrebergartenlust heraus, sondern durchaus unter der Flagge idealistischer Überzeugungen: Selbstversorgung statt Landwirtschaftsindustrie, Gärten als Orte der Begegnung, städtische Nutzflächen als Möglichkeit, Einkommensschwache mit gesunden Lebensmitteln zu versorgen, energiesparende und klimaschonende Nahrungsmittelherstellung, etc.44 Das Ziel ist stets eine bedürfnisorien-

43 Vgl. Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Köln 2009. 44 Vgl. Christa Müller, Urban Gardening – Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München 2011. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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tierte, autarke und lokale Produktion und Ernährung in einer überschaubaren Gemeinschaft.45 Derartige Versuche sind nicht zuletzt hinsichtlich ihres utopischen Gehalts zu interpretieren: Ausgehend von einer Kritik am bestehenden System zeigt man Alternativen auf; allerdings nicht durch den Entwurf einer neuen Staatsund Gesellschaftsordnung, vielmehr dient die eigene Lebensführung als utopischer Möglichkeitsraum. Wenn weiter oben diese Art der »privaten« Utopie als »apolitisch« bezeichnet wurde, ist zu ergänzen: Wenngleich dieses neue utopische Denken keine übergroßen Erzählungen alternativer Gesellschaftsmodelle mehr liefert, sondern Realisierungsversuche kleiner, individueller Wunschbilder einer alternativen Gegenwelt, besitzt es dabei durchaus das Potential und den Willen, das große System kritisch anzufragen und zu verändern. Der Aufbruch in eine neue Gesellschaft bleibt als utopisches Ziel erhalten.

4. Fazit und Ausblick Fazit und Ausblick haben zweigeteilt auszufallen. Mit Blick auf Technik- und Umweltkonflikte ist zu attestieren, dass derartige Debatten nicht nur um gegenwärtige Chancen und Risiken kreisen, sondern von utopischem und dystopischem Gehalt geprägt sind. Kontroversen um Natur, Landwirtschaft und Nahrung sind demnach auch als Fragen nach der Möglichkeit eines anderen Lebens und einer anderen Gesellschaft zu verstehen. So ist die Naturschutzdebatte allgemein wie auch die Diskussion um Biotechnologie in der Pflanzenzüchtung maßgeblich von utopischen wie dystopischen Narrationen über zukünftige Landwirtschaft und Natur geprägt. Grundsätzlich ist dies nicht negativ zu beurteilen, allerdings ist derartigen Narrationen ihr angemessener Ort zuzuweisen: Utopien und Dystopien bieten die Möglichkeit, Bestehendes und gegenwärtige Tendenzen im großen Stil zu transzendieren. Sie können dabei auch einen Raum schaffen, in dem Ängste und Sorgen aber auch Hoffnungen geäußert werden dürfen.46 Dieser Punkt ist gerade für emotional aufgeladene Debatten es 45 Mit dem frühen Foucault könnte gefragt werden, inwieweit es sich – etwa bei den skizzierten Selbstversorgungsversuchen – um Heterotopien handelt. Unter Heterotopien verstand Foucault in seiner Frühphase »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in der Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien«. Michel Foucault, Andere Räume, in: Karlheinz Barck (Hrsg.), Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. Leipzig 1993, 39. 46 Die Kraft der Erzählung wird gerade auch für die Ethik in jüngerer Vergangenheit immer wieder betont. Als eine Stimme kann Ricoeur zitiert werden: »Die Gedankenexperimente, die wir im großen Laboratorium der Einbildung durchführen, sind auch Forschungsreisen durch das Reich des Guten und des Bösen.« Paul Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer. München 1996, 201. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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sentiell. Allerdings sollte dies nicht – wie bisher oft der Fall – unter der Hand geschehen, sondern explizit.47 Das Erzählen von Utopien und Dystopien  – so wichtig es ist – muss denn auch strikt von einer Prognose wie von einer ethischen Beurteilung unterschieden werden. Als anschauliches Beispiel kann in diesem Zusammenhang das so genannte Slippery Slope Argument oder Dammbruchargument genannt werden: Diese argumentative Figur behauptet, viele kleine Entscheidungen der Gegenwart führten zu einem zukünftigen Zustand, der moralisch nicht akzeptabel ist.48 Aus ethischer Perspektive sind hierbei zwei kritische Rückfragen zu stellen: Führen die Entscheidungsschritte der Gegenwart tatsächlich notwendigerweise zu jenem skizzierten Endzustand oder artikuliert sich im vorgebrachten Argument nicht »nur« ein Mangel an Vertrauen in politische Regulierung? Und: Ist der Endzustand tatsächlich moralisch in­ akzeptabel und wenn ja, aus welchen Gründen? Als Fazit für die Utopieforschung ist zu unterstreichen, dass utopisches Denken an kein Ende gelangt ist: Nicht nur weisen Utopien neue zentrale Themen auf, allem voran die ökologische Aussöhnung. Utopische wie dystopische Skizzen prägen darüber hinaus auch Kontroversen rund um Umwelt- und Technik­ fragen maßgeblich mit. Gerade mit Blick auf Debatten zur Mensch-NaturBeziehung stellt sich dabei die Frage, inwieweit sich utopisches Denken gegenwärtig weniger im Entwerfen von idealen Gesellschaftsformen, dafür verstärkt bei Lebensführungsfragen des Einzelnen vollzieht. Mit Schwonke und über ihn hinausgehend ließe sich sagen: Utopisches Denken entfernte sich vom Staatsroman hin zur Science-Fiction-Literatur;49 dies ist aber keineswegs der einzige Ort, wo utopisches Denken in der Gegenwart anzutreffen ist, vielmehr scheinen Debatten und Lebensführungsfragen rund um Natur, Landwirtschaft und Nahrung ein ideales Biotop für Denkbewegungen zu sein, die sich als Utopien en miniature beschreiben ließen. Dies würde bedeuten: Die viel zitierte Erschöpfung der Utopie ist eine Erschöpfung der traditionellen Sozialutopie. Das utopische Denken selbst hingegen ist nicht ermattet, es hat sich unter anderem zurückgezogen. In den eigenen Garten.

47 Dieser Appell bedarf freilich einer Operationalisierung. Eine adäquate Institutionalisierung und Berücksichtigung von utopischen und dystopischen Skizzen innerhalb gesellschaftlicher wie politischer Diskussionen ist kein triviales Unterfangen. 48 Beispielsweise: Die Zulassung einer cisgenen Sorte  – auch wenn diese an sich möglicherweise nicht moralisch problematisch ist  – führe über kurz oder lang zu immer stärker gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln, zu einer Abhängigkeit von einigen, wenigen großen Saatgutkonzernen, zum Ende der Landwirtschaft, wie wir sie kennen, etc. Sprich: Wenn man erst einmal den ersten Schritt zulässt, ist der Damm bald gebrochen. Zur Diskussion des Dammbrucharguments in ethischen Debatten: Vgl. Barbara Bleisch, Markus Huppen­bauer, Ethische Entscheidungsfindung. Ein Handbuch für die Praxis. Zürich 2011, 138. 49 Vgl. Schwonke, Staatsroman. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

Birgit Lemmen

Das Bild von »Natur« im Recht der Grünen Gentechnik

Einleitung Am 14. April 2009 wurde von der Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse ­Aigner ein Verbot für den Anbau von MON810 Mais verhängt mit dem Hinweis auf neue wissenschaftliche Informationen, die belegten, dass dessen Anbau eine Gefahr für die Umwelt darstelle.1 Diese Maissorte, die durch gentechnische Veränderung gegen den Maiszünsler resistent ist, war bis dato der erste und einzige kommerziell angebaute gentechnisch veränderte Organismus (GVO) in Deutschland. Danach konnte neben Freisetzungen, also Feldanbauten zu Forschungszwecken, nur noch der Anbau der gentechnisch veränderten Kartoffel Amflora2 genehmigt werden. Aber jedes Ausbringen von GVO wird in Zukunft praktisch durch das sog. »Honig-Urteil« des Europäischen Gerichtshofes vom 6. September 20113 erschwert. Denn das Gericht kam zu dem Schluss, dass Honig, der Pollen aus gentechnisch veränderten Pflanzen enthält, der Kennzeichnungspflicht unterliegt. Als Konsequenz dessen könnte eine Schadensersatzpflicht des Freisetzers bzw. Anbauers gegenüber dem Imker bestehen, weil der Honig mangels Akzeptanz bei den Verbrauchern keine Käufer findet. Diese restriktive rechtliche Ausrichtung und die ablehnende Haltung in der Bevölkerung in Bezug auf die Grüne Gentechnik hatten zur Folge, dass der Chemiekonzern BASF Anfang 2012 bekannt gab, den Anbau der Amflora-Kartoffel einzustellen und den Forschungsschwerpunkt Pflanzenbiotechnologie in die USA zu verlagern und damit Deutschland und letztlich auch Europa den Rücken zu kehren.4 1 http://www.bmelv.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/2009/063-AI-Mon810.html; zuletzt aufgerufen am 22.4.2014. 2 Die Kommission hatte der BASF Plant Science GmbH im März 2010 die Inverkehrbringensgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 erteilt (Beschluss der Kommission vom 2. März 2010, ABl. L 53 vom 4.3.2010, 15–18 (2010/136/EU)). Die Kartoffel zeichnet sich durch einen überdurchschnittlichen Stärkegehalt aus, was für die Papierherstellung von Nutzen ist. 3 Rs. C-442/09. 4 BASF konzentriert Pflanzenbiotechnologie-Aktivitäten auf Hauptmärkte in Nordund Südamerika, Pressemitteilung vom 16.1.2012 (abrufbar unter: http://www.basf.com/; zuletzt aufgerufen am 22.4.2014). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Prof. Gerhard Wenzel, vormals Inhaber des Lehrstuhls für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung an der Technischen Universität München, folgerte daraus im Rahmen einer Podiumsdiskussion am Center for Advanced Studies der LudwigMaximilians-Universität München, dass durch diese Abwanderung die Gentechnik in Deutschland »faktisch tot« sei.5 Dieser »faktische Tod« wurde unter anderem auch durch die Debatte um die Abschätzung der Risiken, die MON810 Mais auf die Umwelt haben könnte, verursacht, wobei betont werden muss, dass eine verantwortungsbewusst eingesetzte Technikfolgenabschätzung auf dem Stand der Technik und nach menschlichem Erkenntnisvermögen an sich ihre Berechtigung hat. Vom üblichen Blickwinkel des Risikos auf die Grüne Gentechnik will sich die folgende Analyse allerdings lösen und vielmehr das Naturbild des Gesetzgebers, das hinter seiner Auseinandersetzung mit der Grünen Gentechnik steht, untersuchen. Gerade im Rahmen der anhaltenden Diskussion um die Einführung von sozioökonomischen Kriterien bei der Zulassung bzw. dem Anbau von GVO wird die Erkenntnis bedeutsam sein, wie die Legislative das Verhältnis von Natur und Grüner Gentechnik betrachtet und damit letztlich eine Wertentscheidung vornimmt.

1. Das Naturbild im Gentechnikgesetz in der Fassung vom 20. Juni 1990 1.1 Vom rechtlichen Erfassen der Gentechnik bis zur Entstehung des § 1 GenTG a. F. Die ersten normativen Annäherungen an die Gentechnik als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhundert fanden bereits Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts statt. Am 15. Februar 1978 veröffentlichte der Bundesminister für Forschung und Technik mit Zustimmung der Bundesregierung die »Richtlinien zum Schutz vor Gefahren durch in-­v itro neukombinierte Nukleinsäuren«6, welche die Festlegung von Sicherheitsanforderungen für gentechnische Experimente und Produktionsabläufe zum Gegenstand hatten.7 Diese beinhalteten auch 5 Podiumsdiskussion vom 9.5.2012 zum Thema »Grüne Gentechnik bewerten und regulieren. Zur Rolle sozioökonomischer Kriterien bei Beschränkungen oder Verboten des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen«. 6 BAnz. Nr. 56 vom 21.3.1978. Diese Richtlinien ergingen in Anlehnung an die 1976 vom amerikanischen National Institute of Health erlassenen »Guidelines« für die noch an den Anfängen stehende Gentechnikforschung. 7 Die Rechtsverbindlichkeit der Richtlinien erstreckte sich auf unmittelbar vom Bund geförderte Projekte. Andere Forschungsbereiche (Hochschulen, Industrie) unterwarfen sich den Richtlinien durch eine freiwillige Selbstverpflichtung. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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eine Zweckbestimmung: In Absatz 1 war neben dem Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen auch der von Tieren und Pflanzen vor Gefahren, »die von neukombinierten Nukleinsäuren sowie von Spender- und Empfängerorganismen ausgehen können«, geregelt. In Absatz 2 war der Förderzweck normiert: Es sollten die Erforschung, Entwicklung und Nutzung der neuen Methode gefördert werden. Erst in der fünften und letzten Fassung der Richtlinien8, d. h. im Jahr 1986, wurde dann das Schutzgut »Umwelt« in den Abs.  1 aufgenommen. Abs. 2 wurde dahingehend modifiziert, dass vor der »Förderung« der Methode deren »Ermöglichung« stehen sollte. Bereits in der ersten normativen Annährung an diese bis dahin unbekannte Technik wird deutlich, dass sowohl der Schutz- als auch der Förder- bzw. Ermöglichungswille beim Richtliniengeber angelegt waren. Dabei wurde der Gefahrenschutz schließlich auch auf die »Umwelt« als selbständiges Rechtsgut ausgedehnt. Dieses Vorgehen stellt sich rückblickend als wegweisend dar. Am 22. Juni 1978 und 19. Juli 1979 wurden erste Entwürfe eines »Gesetzes zum Schutz vor Gefahren der Gentechnologie«9 vom Bundesministerium für Forschung und Technik vorgelegt. Wie zu erwarten, wurde im Gleichklang mit den ministeriellen Richtlinien in § 1 eine Zweckbestimmung vorgeschlagen, die sich in Nr. 1 auf den Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen, Tiere und Pflanzen beschränkte. Nr. 2 und Nr. 3 hatten, parallel zu den Richtlinien, den Förderzweck der Gentechnologie zum Gegenstand. Letztlich scheiterte die Gesetzesinitiative.10 Dennoch zeigt das Vorhaben, dass der Schutz der Umwelt, also der Schutz des ökologischen Gesamtgefüges, vor Gefahren, die von einer gentechnologischen Forschung ausgehen, noch nicht in das Bewusstsein der Entwurfsverfasser vorgedrungen war. Ein Grund hierfür war, dass die frühe Phase der Gentechnikforschung im geschlossenen System durchgeführt wurde; eine Freisetzung von GVO stand zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Rede. Am 29. Juni 1984 beschloss der Deutsche Bundestag die Einsetzung der Enquête-Kommission »Chancen und Risiken der Gentechnologie«. »Die Kommission hat die Aufgabe, gentechnologische […] Forschungen in ihrer sich zur Zeit abzeichnenden Anwendung, vor allem in den Bereichen Gesundheit […] und Umweltschutz in ihren Chancen und Risiken darzustellen. […]«11 Drei Jahre später legte die Kommission ihren über 400 Seiten umfassenden Bericht vor, der fast 200 Empfehlungen an den Deutschen Bundestag bezüglich des weiteren Vorgehens auf dem Gebiet der Gentechnologie beinhaltete. Trotz seines informellen Charakters hat er den Inhalt der späteren Zweckbestimmung des Gen 8 BAnz. Nr. 109 vom 10.6.1986. 9 Abgedruckt in Anhang I bei Rudolf Lukes, Rupert Scholz (Hrsg.) Rechtsfragen der Gentechnologie. Köln 1986, 142 ff. 10 Zu den Gründen siehe BT-Drs. 9/684, 4 f. 11 Bericht der Enquête-Kommission »Chancen und Risiken der Gentechnologie« des 10. Bundestages, BT-Drs. 10/6775, 1. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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technikgesetzes speziell in Bezug auf das Schutzgut »Umwelt« geprägt. Denn im Rahmen der Auseinandersetzung der Kommission mit der Arbeitssicherheit bei biotechnologischen Produktionsverfahren mit GVO und Viren12 kommt sie zu dem Ergebnis, dass biotechnologische Verfahren unter Verwendung von GVO Gefahren bergen, »die einer Risikoabschätzung bedürfen, um rechtzeitig alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen zu können, damit eine Gefährdung von Menschen innerhalb und außerhalb von biotechnologischer Produktionsstätten sowie der Umwelt in ihrer Gesamtheit verhindert bzw. das Restrisiko minimiert wird.«13 In Bezug darauf sprach sie die Empfehlung an den Deutschen Bundestag aus, »zum Schutz von Mensch, Tier und Umwelt Sicherheits-Richtlinien für Einrichtungen der Genforschung und entsprechender Produktionsstätten allgemein rechtsverbindlich zu machen.«14 Der Rat der Kommission ist damit auf den Erlass einer normativen Regelung gerichtet, die eine umfassendere Geltung besitzen muss als die zu diesem Zeitpunkt geltenden Richtlinien. Ferner wird deutlich, dass die Schutzfunktion eines potentiellen Gesetzes Tiere und die Umwelt allgemein einschließen muss und nicht ausschließlich auf die Gefahren für den Menschen ausgerichtet sein darf. Das wird zudem in der Auseinandersetzung der Kommission mit den »Auswirkungen der Verwendung von GVO in Landwirtschaft und Umwelt (Freisetzung)«15 erkennbar. Sie stellt ihren »Bewertungen und Empfehlungen« die Erkenntnis voran, dass der Mensch durch die Biotechnologie eine Möglichkeit geschaffen habe, die natürliche Evolution über die Artgrenzen hinweg mit einer bis dahin nie dagewesenen Geschwindigkeit zu beeinflussen. Damit trage der Mensch aber auch »eine besondere Verantwortung«, die ökologische Verträglichkeit einer Freisetzung von GVO rechtzeitig abzuschätzen16, also das Ökosystem in seiner Gesamtheit umfassend zu schützen, zumal die Kommission ein Restrisiko im Umgang mit GVO nicht ausgeschlossen hat. Mit der Veröffentlichung des Enquête-Berichts gewann auch das Thema Gentechnik in der Öffentlichkeit an Bedeutung. In Gesellschaft und Politik wurde insbesondere über die Gefahren dieser Technik diskutiert. Der Staat wurde aufgefordert, die Bevölkerung durch entsprechende Gesetze ausreichend zu schützen.17 In Folge des wachsenden politischen Drucks und in Kenntnis des Kommissionsberichts, des sog. Eckwerte-Beschlusses des Bundesministeriums für Jugend,

12 BT-Drs. 10/6775, 204–213. 13 BT-Drs. 10/6775, 210. 14 BT-Drs. 10/6775, 210. 15 BT-Drs. 10/6775, 214–238. 16 BT-Drs. 10/6775, 229. 17 Barbara Waldkirch, Der Gesetzgeber und die Gentechnik – Das Spannungsverhältnis von Interessen. Wiesbaden 2004, 119. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Familie, Frauen und Gesundheit (BMJFFG)18 sowie zweier Referentenentwürfe des BMJFFG19 verabschiedete das Bundeskabinett am 12. Juli 1989 den Entwurf eines Gentechnikgesetzes (EGenTG).20 Nach § 1 war der Zweck des EGenTG gem. Nr. 1 der Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen, Tieren, Pflanzen und Sachgütern sowie der sonstigen Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge vor Gefahren genetischer Verfahren und Produkte und die Vorbeugung vor solchen Gefahren. Nach Nr. 2 sollte der rechtliche Rahmen für die Erforschung, Entwicklung und Nutzung der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der Gentechnik geschaffen werden. Damit hat die »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« als eigenständiges Schutz- und Vorsorgegut Eingang in die Zweckbestimmung des Gesetzesentwurfs gefunden. Allerdings ist zu konstatieren, dass sie nur nachrangig genannt ist. In § 1 Nr. 2 EGenTG kommt die positive Grundhaltung zur Gentechnik zum Ausdruck, ohne den »Förderzweck« explizit aufzunehmen. Er wird lediglich in der amtlichen Begründung erwähnt. Dieses Vorgehen wurde in Wirtschaft, Politik21 und Wissenschaft22 heftig diskutiert. Das führte letztlich dazu, dass der vom Deutschen Bundestag mit dem Gesetzesentwurf betraute Ausschuss für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit für die Vorbereitung der Ausschusssitzungen den Unterausschuss »Gentechnikgesetz« einsetzte. Dort brachten die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zwei wesentliche Änderungsanträge die Zweckbestimmung betreffend ein: Es sollte die Reihenfolge in § 1 Nr. 1 EGenTG dahingehend geändert werden, dass die »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« den »Sachgütern« vorgehe.23 Damit sollte der Vorrang des Menschen und der Umwelt vor den Sachgütern verdeutlicht und zudem klargestellt werden, dass Sachgüter nicht einen Teilbereich der Umwelt darstellen.24 Der zweite Antrag zielte auf die Aufnahme der »För-

18 BT-Drs. 11/3908. Darin wurden vom Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit allgemeine Ziele eines möglichen Gesetzes dargelegt. Es wurde festgestellt, dass die Gentechnik im Interesse von Mensch und Umwelt zu fördern sei. Dennoch wurde auch hervorgehoben, dass eine normative Regelung gerade die Gesundheit der mit GVO Arbeitenden, die der Bevölkerung insgesamt sowie die Umwelt, insbesondere die Tierwelt und Pflanzen, unter Schutz gestellt und Vorsorge getroffen werden müsse. 19 Beide unveröffentlicht. 20 BT-Drs. 11/5622. 21 Vgl. nur BR-Drs. 387/89; zusammenfassend Stephan Kraatz, Die Zweckambivalenz des Gentechnikgesetzes  – Der Schutz und Förderzweck in § 1 GenTG. Baden-Baden 1993, 99–115. 22 Wolfgang Graf Vitzthum, Tatjana Geddert-Steinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht – Zur Schutz- und Förderfunktion von Umwelt- und Technikgesetzen. Berlin 1990, 44, heben hervor, dass die ausdrückliche Aufnahme eines »Förderzwecks« in ein GenTG kommunikations- und akzeptanzfördernd wirken würde. Rückblickend muss allerdings festgestellt werden, dass sich diese These nicht bestätigt hat. 23 BT-Drs. 11/6778, 51. 24 BT-Drs. 11/6778, 36. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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derung« in § 1 Nr.  2 EGenTG.25 Es wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass eine Gefährdung der Umwelt und der menschlichen Lebensbedingungen gerade dadurch entstehe, wenn die Gentechnik nicht zur Anwendung komme.26 Diese Änderungen wurden vom Unterausschuss angenommen. Der federführende Ausschuss beschloss das Gesetz in dieser überarbeiteten Fassung und der Deutsche Bundestag verabschiedete das neugefasste Gesetz, dem der Bundesrat zustimmte. Am 1. Juli 1990 trat das Gentechnikgesetz dann mit folgendem § 1 in Kraft: »Zweck dieses Gesetzes ist, 1. Leben und Gesundheit von Menschen, Tiere und Pflanzen sowie die sonstige Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge und Sachgüter vor schädlichen Auswirkungen gentechnischer Verfahren und Produkte zu schützen und dem Entstehen solcher Gefahren vorzubeugen, 2. den rechtlichen Rahmen für die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der Gentechnik zu schaffen.«27

In der amtlichen Begründung des Gesetzes werden unter »Entwicklung und grundsätzliche Bedeutung der Gentechnik« zum einen die Risiken und der damit einhergehende Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen sowie der Umwelt vor potentiellen Gefahren der Gentechnik dargelegt. Zum anderen werden aber auch die Chancen der Technologie und die Notwendigkeit der Schaffung einer normativen Grundlage für die weitere Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der Gentechnik hervorgehoben. Letztlich bezeichnet der Gesetzgeber die Gentechnik als ein vielversprechendes Instrument zur Lösung drängender Gegenwarts- und Zukunftsprobleme (»[…] ist im Interesse der Allgemeinheit ein genereller Verzicht auf die Gentechnik ausgeschlossen.«28).29 Dogmatisch betrachtet, fixiert die Zweckbestimmung die »Leitvorstellungen des Gesetzgebers«30 zum Erlass des Gentechnikgesetzes in rechtsverbindlicher Weise. Sie ist maßgeblich für die Auslegung des Gesetzes, ohne unmittelbare Rechte und Pflichten zu begründen.31 So verweisen einzelne Normen 25 BT-Drs. 11/6778, 51. 26 BT-Drs. 11/6778, 36. Zur Stichhaltigkeit des Arguments Kraatz, Zweckambivalenz, 109 f. 27 BGBl. I 1080 vom 23.6.1990. 28 Amtliche Begründung, zit. nach Wolfram Eberbach, Peter Lange, Michael Ronellenfitsch, Recht der Gentechnik und Biomedizin (GenTR/BioMedR), Kommentar und Materialien. Bd. 1, Heidelberg 200756, vor § 1 GenTG, Rn. 19. 29 Amtliche Begründung, zit. nach ebd., vor § 1 GenTG, Rn. 18 f. 30 Herdegen in: Eberbach, Lange, Ronellenfitsch, Recht, § 1 GenTG, Rn. 6. 31 Günter Hirsch, Andrea Schmidt-Didczuhn, Gentechnikgesetz mit Erläuterungen. München 1991, § 1, Rn. 25. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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ausdrücklich auf § 1 Nr. 1 GenTG, beispielsweise die §§ 16 Abs. 1 Nr. 3, 16 Abs. 2, 16a Abs. 1 Satz 1, 26 Abs. 3, 4 und 5 GenTG. Die Zweckbestimmung ist auch heranzuziehen, wenn es um die Konkretisierung einzelner Normen oder unbestimmter Rechtsbegriffe (wie »Stand von Wissenschaft und Technik«) geht. Die Ausübung des Einzelfallermessens und die Umsetzung der Verordnungsermächtigung müssen sich am Zweck der jeweiligen Norm orientieren, der wiederum am Zweck des Gesetzes ausgerichtet ist.32 Vor dem Hintergrund des § 1 Nr. 1 GenTG a. F. wurden die Sicherheitsstufen für gentechnische Arbeiten in § 7 Abs. 1 GenTG nach der Höhe des Risikos für »die menschliche Gesundheit und die Umwelt« eingeteilt. Auch im Rahmen der Haftung wird die Beeinträchtigung der »Natur oder Landschaft« thematisiert. Allerdings werden Natur bzw. Umwelt nicht uneingeschränkt zu Schutzgütern erklärt, deren Verletzung eine Schadensersatzpflicht auslöst. Vielmehr orientiert sich auch das GenTG an der zivilrechtlichen Schadensdogmatik, die an einen individualisierbaren Schaden am Rechtsgut einer Person anknüpft. Deshalb stellt § 32 Abs. 7 GenTG für den Fall, dass die Beschädigung einer Sache mit der Beeinträchtigung der »Natur oder Landschaft« einhergeht, klar, dass Schadensersatz in Form von Naturalrestitution zu leisten ist. Zusätzlich wird § 251 Abs. 2 BGB dahingehend modifiziert, dass die Aufwendungen für die Herstellung des vorherigen Zustands nicht allein deshalb unverhältnismäßig sind, weil sie den Wert der Sache erheblich übersteigen. Damit betont der Gesetzgeber den absoluten Vorrang der Naturalrestitution gerade bei Sachen mit geringem merkantilem Wert, aber erheblicher Bedeutung für die Umwelt.33

1.2 Analyse des Naturbildes Durch die Aufnahme der »sonstigen Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« in die Zweckbestimmung des GenTG hat der Gesetzgeber der Umwelt einen besonderen, neuen Stellenwert verliehen. Erstmalig ist sie als eigenständiges Rechtsgut neben »Leben und Gesundheit von Menschen« in der Zweckbestimmung eines Gesetzes genannt.34 Wird sogar von einer Gleichrangigkeit der Schutz 32 Herdegen in: Eberbach, Lange, Ronellenfitsch, Recht, § 1 GenTG, Rn. 6 f. 33 Hirsch, Schmidt-Didczuhn, Gentechnikgesetz, § 32, Rn. 53. 34 Ebd., § 1, Rn.  17; Herdegen in: Eberbach, Lange, Ronellenfitsch, Recht, § 1 GenTG, Rn. 6. Beispielweise waren als Schutzgüter in § 1 Nr. 2 Atomgesetz (AtG) – in der Fassung der Neubekanntmachung vom 15.7.1985 (BGBl. I vom 31.7.1985, 1565) – ausschließlich Leben, Gesundheit und Sachgüter aufgeführt, so dass Natur und Umwelt im Rang der Sachgüter angesiedelt werden mussten. Kraatz, Zweckambivalenz, 142, Fn. 450, führt das auf die in den 1950er Jahren, zur Zeit der Beratung über die ursprüngliche Fassung des Gesetzes, herrschende Diskussion im Rahmen der Technikfolgenabschätzung zurück, die sich wegen der existenziellen Folgen der Kernenergie primär auf die Schutzgüter Leben und Gesundheit beschränkte. Selbst in den Anfang der 1980er Jahre durchgeführten Beratungen zur Neube© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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ziele, Lebens- und Gesundheitsschutz des Menschen einerseits und Umweltschutz andererseits, ausgegangen,35 wird das normative Aufrücken der »Umwelt« im GenTG besonders deutlich. Ausgelöst wurde diese Erstreckung der Schutzgüter, wie die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zeigt, maßgeblich durch den Bericht der Enquête-Kommission, der die möglichen Langzeit­folgen der neuen Technologie betonte. Die maßgebliche und neue Gewichtung der Schutzgüter war letztlich durch den eingebrachten Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und der FDP erreicht worden. Trotz dieser normativen Aufwertung der »Umwelt« sah der Gesetzgeber davon ab, die »Natur« als Rechtsbegriff in § 1 Nr.  1 GenTG a. F. zu verwenden. Der Grund dafür erschließt sich nach einer rechtssystematischen Analyse des Umwelt- und Naturschutzrechts sowie nach einer ethischen Betrachtung der Rechtsbegriffe »Umwelt« und »Natur«, die zudem das Verhältnis der beiden zueinander verdeutlicht. Der Gesetzgeber hat den Rechtsbegriff »Umwelt« weder im GenTG noch einheitlich rechtsgebietsübergreifend definiert. In der juristischen Sprache wird aber ganz überwiegend der restriktive Umweltbegriff verwendet, der die­ Umwelt auf eine sogenannte natürliche Umwelt begrenzt. Danach umfasst »Umwelt« die elementaren Lebensgrundlagen des Menschen, namentlich die Umweltmedien Boden, Luft und Wasser, die Biosphäre und deren Beziehungen untereinander sowie zum Menschen.36 Weil eine vom Menschen im Urzustand belassene Natur nicht mehr existiert, wird unter »natürlicher Umwelt« vorrangig der vom Menschen gestaltete Lebensraum verstanden.37 Als Folge der Umweltbelastungen, die aus der technischen Zivilisation resultieren,38 umfasst der Umweltschutz die Gesamtheit der Maßnahmen, die dazu dienen, den von Menschen gestalteten Lebensraum vor schädlichen Auswirkungen dieser Zivilisakanntmachung des Gesetzes wurde davon nicht abgewichen. Außerdem ist als bemerkenswerter Unterschied zu § 1 GenTG a. F. hervorzuheben, dass die Gefahrenabwehr im AtG erst nachrangig genannt wird. Die Förderung der Nukleartechnik stand an erster Stelle des Gesetzeszweckes. Hintergrund ist der unbedingte Wille des Gesetzgebers, mit Hilfe der Kernenergie industriellen Fortschritt im Nachkriegsdeutschland zu erreichen (BT-Drs. 2/3026, 19). Mangels Umweltschutzbewegung Anfang der 1950er Jahre konnte dieser diskussionslos umgesetzt werden. 35 So etwa Hirsch, Schmidt-Didczuhn, Gentechnikgesetz, § 1, Rn. 17 a. A. Herdegen in: Eberbach, Lange, Ronellenfitsch, Recht, § 1 GenTG, Rn. 13, der darauf verweist, dass im Falle einer Güterkollision die anthropozentrische Werteordnung des Grundgesetzes die Abwägung steuert. 36 Michael Kloepfer, Umweltrecht. München 2004, § 1, Rn. 16. 37 Ebd., § 1, Rn. 18; Werner Hoppe, Martin Beckmann, Petra Kauch, Umweltrecht. München 2000, § 1, Rn. 4; Wilfried Erbguth, Sabine Schlacke, Umweltrecht. Baden-Baden 2010, § 1, Rn. 3. 38 Umfassende Darstellung der Umweltgefahren und -schäden bei Hoppe, Beckmann, Kauch, Umweltrecht, § 1, Rn. 9 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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tion zu schützen.39 Eine Handlungsebene des Umweltschutzes ist das Umweltrecht. Es umfasst alle Rechtssätze, die dem Umweltschutz gewidmet sind.40 Weil es in erster Linie auf eine spezifisch umweltschützende Aufgabe ausgelegt ist, wird insbesondere auch das Naturschutzrecht im Kernbereich des Umweltrechtes angesiedelt.41 Das maßgebliche nationale Gesetz im Naturschutzrecht ist das Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG)42, das durch die Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV)43 ergänzt wird. Als Ziel des Gesetzes wird in § 1 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG der Schutz von »Natur und Landschaft« ausgewiesen. Unter diesem Begriffspaar wird im Naturschutzrecht die Erdoberfläche einschließlich der Wasser- und Eisflächen mit ihren Pflanzen und Tieren sowie den darunterliegenden Erdschichten und dem unmittelbar darüber liegenden Luftraum verstanden. Nicht davon erfasst werden tiefer gelegene Bodenschätze und Gesteinsschichten sowie der das Wetter und das Klima nicht beeinflussende Teil  der Atmosphäre.44 Vor diesem Hintergrund enthält das BNatSchG im Kern »nur« Bestimmungen zum Flächen- einschließlich Habitatschutz (§§ 20–26 BNatSchG), zum Artenschutz wild lebender Tiere und Pflanzen (§§ 27–55 BNatSchG) sowie zum Meeresnaturschutz (§§ 56–58 BNatSchG). Aus dieser rechtssystematischen Darstellung erschließt sich, dass die »Natur« lediglich einen Teilaspekt der »Umwelt« erfasst. Ethisch betrachtet, steht »Natur« bzw. »Natürlichkeit« im Gegensatz zu »Künstlichkeit«. Der Gesetzgeber des Gentechnikgesetzes hat diese Gegenüberstellung aufgegriffen. Das lässt sich an Hand der Definition des GVO in § 3 Nr. 3 GenTG verdeutlichen, die auf Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2001/18/EG basiert. Danach ist ein GVO, »ein Organismus, mit Ausnahme des Menschen, dessen genetisches Material in einer Weise verändert worden ist, wie sie unter natürlichen Bedingungen durch Kreuzen oder natürliche Rekombination nicht vorkommt«, also ein vom Menschen künstlich kreierter Organismus, der unter den im Freiland herrschenden Bedingungen nicht entstehen wird.45 Demzufolge gilt die Gentechnik als »unnatürlich«. Ein GVO erscheint so als »unnatürliche«, »künstliche« Komponente der »Umwelt« – gleichwie ein chemischer Schadstoff. Um die Kompatibilität eines GVO mit der »Umwelt« zu gewähr 39 Kloepfer, Umweltrecht, § 1, Rn. 23; Hoppe, Beckmann, Kauch, Umweltrecht, § 1, Rn. 55. 40 Hoppe, Beckmann Krauch, Umweltrecht, § 1, Rn. 102. 41 Ebd.,§ 1, Rn. 105. 42 Vom 29.7.2009 (BGBl. I 2542 vom 6.8.2009), zul. geänd. durch Art. 4 Abs. 100 des Gesetzes vom 7.8.2013 (BGBl. I 3154). 43 Vom 16.2.2005 (BGBl. I 258, 896 vom 24.2. und 29.3.2005), zul. geänd. durch Art. 10 des Gesetzes vom 21.1.2013 (BGBl. I 95). 44 Hoppe, Beckmann, Kauch, Umweltrecht, § 14, Rn. 1. 45 Zur Verdeutlichung kann wieder auf den MON810 Mais verwiesen werden. In das Genom der Pflanze wurden Gene des Bodenbakteriums Bacillus thuringiensis eingeschleust, wodurch der Mais Proteine produziert, die nach ihrer Aufnahme auf die Larven des Maiszünslers tödlich wirken. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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leisten, muss z. B. der Antrag auf Freisetzung eines GVO eine Risikobewertung gem. § 15 Abs. 1 Nr. 4 GenTG i. V. m. § 6 Abs. 1 Satz 1 GenTG beinhalten, die in der Sache eine Umweltverträglichkeitsprüfung i. S. d. Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2001/18/EG ist. Das heißt, es muss insbesondere eine Bewertung der direkten und indirekten, sofortigen und späteren Risiken für die Umwelt unter Einschluss naturschutzfachlicher Aspekte, die mit der Freisetzung verbunden sein können, durch den Antragsteller durchgeführt worden sein. Einer Aufnahme des engeren Rechtsbegriffs »Natur« in die Zweckbestimmung des § 1 GenTG bedurfte es nicht. Durch die Wahl des Begriffes »Umwelt« wird deutlich, dass ein umfassender Schutz für die den Menschen umgebende Welt unter Einschluss der »Natur« gewollt war. Allerdings wird die »Umwelt« in § 1 Nr. 1 GenTG a. F. nicht isoliert genannt, sondern durch den Zusatz »in ihrem Wirkungsgefüge« ergänzt. Damit rückt die stetige Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Umweltgütern unterein­ ander und dem Menschen in den Vordergrund.46 Der Wille des Gesetzgebers zielt damit auf die Erhaltung eines dauerhaft funktionstüchtigen und entwicklungsfähigen Ökosystems. Dadurch bringt er zugleich zum Ausdruck, dass die »Natur« nach seiner Vorstellung in ihrem jetzigen Zustand47 letztlich über einen intakten »Naturhaushalt« verfügt, der sich auch auf lange Sicht in einer Balance befindet. Ob sich diese Sichtweise eines als relativ stabil gedachten Gleichgewichtszustands angesichts der Dynamik der natürlichen, evolutiven Prozesse halten lässt, erscheint sehr fraglich. Jedenfalls nimmt der Gesetzgeber eine umfassende Inwertsetzung der »Umwelt« und insoweit auch der »Natur« vor, und zwar noch bevor seinerzeit (1990) eine Staatszielbestimmung Umweltschutz Eingang in die Verfassung gefunden hatte. Zugleich wird auch »die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förde­ rung« der Gentechnik zum Zweck des Gesetzes erkoren. Damit spricht sich der Gesetzgeber explizit und gezielt für diese Technologie und deren Förderwürdigkeit aus.48 Wie sich aus der Amtlichen Begründung entnehmen lässt, hat der Gesetzgeber neben den Risiken der Gentechnik gerade auch deren Chancen gesehen. Um das Potential der Gentechnik verantwortungsvoll ausschöpfen zu können, das heißt die Risiken beherrschbar zu machen, soll die Erfor 46 Hirsch, Schmidt-Didczuhn, Gentechnikgesetz, § 1, Rn. 19. 47 Umfassend zu den erheblichen tatsächlichen Schwierigkeiten bei der Erfassung des geschützten »Ist-Zustandes« der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« und demnach auch bei der Feststellung der negativen Abweichung vgl. den Beitrag von Ino Augsberg im vorliegenden Band. 48 Günter Hirsch, Andrea Schmidt-Didczuhn, Herausforderung Gentechnik: Verrechtlichung einer Technologie, in: NVwZ 1990, 713–717, a. A. Bernd Bender, Reinhard Spar­ wasser, Rüdiger Engel, Umweltrecht. Heidelberg 2003, § 6, Rn. 395, die in § 1 Nr. 3 GenTG n. F. keinen Förderauftrag oder gar Förderwürdigkeit der Gentechnik sehen sondern eine Förderermächtigung an den Haushaltsgesetzgeber. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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schung, Entwicklung und Nutzung an ein entsprechendes Regelwerk gebunden sein. Das verbleibende Restrisiko ist von ihm ebenfalls erkannt und als tragbar hingenommen worden.49 Der Gesetzgeber selbst fördert die Gentechnik dann durch die Schaffung des GenTG, das letztlich die Forschung und Nutzung erst praktisch durch Rechtssicherheit ermöglicht.50 Von der Normierung konkreter Förderprogramme hat er aber abgesehen. Dieser Förderwille kam bereits in allen fünf Gen-Richtlinien in Abs. 2 der jeweiligen Zweckbestimmung zum Ausdruck. In § 1 Nr. 2 EGenTG war »die Förderung« zwar zunächst nicht enthalten, um nicht den Eindruck eines bedingungslosen »Gentechnik-Förderungsgesetzes« zu erwecken51, was aber durch den zweiten Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP korrigiert wurde, um den wahren Willen des Gesetzgebers Ausdruck zu verleihen.52 Der Wille des Gesetzgebers zur Förderung einer Technik, mittels derer eine gezielte Neukombination von genetischem Material von Lebewesen über Artgrenzen hinweg möglich ist, lässt erkennen, dass er es befürwortet, sämtliche Organismen in der Umwelt als Genpool zu betrachten, den es verantwortungsbewusst zu nutzen gilt. Im Idealfall, so die Amtliche Begründung, soll die Gentechnik zur Herstellung neuer Nahrungs- und Futtermittel dienen, die Qualität verbessern, eine Ertragssteigerung bei der Erzeugung von pflanzlichen und tierischen Produkten bewirken sowie die Entwicklung energiesparender und umweltfreundlicher Produktionsverfahren für die landwirtschaftliche Erzeugung in Gang setzen.53 Letztlich kann die Hoffnung des Gesetzgebers dahingehend zusammengefasst werden, dass eine im Vergleich zur konventionellen Nutzpflanze verbesserte, »künstliche« Nutzpflanze kreiert wird, etwa eine Pflanze, die beispielsweise eine Herbizid- oder Insektenresistenz oder Trockenheits­ toleranzen aufweist, damit zum einen die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln gesichert ist54 und zum anderen der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduziert werden kann. 49 Amtliche Begründung, zit. nach Eberbach, Lange, Ronellenfitsch, Recht, vor § 1 GenTG, Rn. 18 f. 50 Die in Art 5 Abs. 3 Satz 1 GG festgeschriebene Forschungsfreiheit bildet die verfassungsrechtliche Grundlage für die Förderung der Gentechnik mittels eines Gesetzes. 51 BT-Drs. 11/5622, 22. 52 Anderenfalls wäre § 1 Nr. 2 GenTG a. F. auch überflüssig gewesen, da sich der Inhalt der Bestimmung auf die Aussage beschränkt hätte, dass das Gesetz Normen für den Bereich Erforschung, Entwicklung, Nutzung enthält. 53 Amtliche Begründung zit. nach Eberbach, Lange, Ronellenfitsch, Recht, vor § 1 GentG, Rn. 19. 54 Seit 1990 stagniert der Ernteertrag bei Weizen und allen anderen Selbstbefruchtern. Nur durch die Gentechnik ist ein Zuwachs bei der Pflanzenproduktion zu erreichen. Schließlich wird in den nächsten Jahren auch ein Mehrertrag von 60 % nötig sein, um die Grund­ versorgung der Bevölkerung zu sichern (Prof. Gerhard Wenzel, Kurzvortrag, Weihenstephan 17.5.2011). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Mit der Zweckbestimmung des § 1 GenTG a. F. wird das Bild des Gesetzgebers von »Natur« im Rahmen der Grünen Gentechnik deutlich. Durch die im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens gewachsene »Inwertsetzung« der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« dringt das Verständnis von der Mehrdimensionalität des Naturhaushalts zu Tage. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass die rein anthropozentrische Zweckbestimmung des § 1 Nr. 1 EGenTG aufgegeben und durch ökozentrische Aspekte ergänzt worden ist, um die erkannte Gleichrangigkeit von Mensch, Natur und Umwelt auch in der Gesetzesformulierung zu verdeutlichen.55 Diese Wertentscheidung des Gesetzgebers wird nicht dadurch relativiert, dass er eine Technologie für förderwürdig erklärt, die darin angelegt ist, die »Natur« als unerschöpfliche Gen-Ressource zu nutzen. Denn die Anwendung der Gentechnik im Rahmen des Gesetzes zwingt zu einem Umgang mit der »Natur«, der auf Nachhaltigkeit angelegt ist. Schließlich geht der Nachweltschutz, also die Erhaltung der Lebensgrundlage für zukünftige Generationen, im Schutzgut »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« auf.56 Das verbleibende, einer neuen Technologie immer anhaftende Restrisiko ist sozialadäquat und damit hinnehmbar; seine Existenz mindert darum aber nicht den der »Natur« zugesprochene Eigenwert, sondern ist dem technischen Fortschritt immanent. Vielmehr verschärft der Gesetzgeber mit der Stärkung der ökozen­ trischen Perspektive in der Zweckbestimmung des GenTG den Gegensatz zwischen »künstlicher« Gentechnik und Mensch, Natur und Umwelt.

2. Ein Wandel des Naturbildes durch die Novellierung des GenTG? 2.1 Die Änderung des GenTG in den Jahren 1993 und 2004 Bereits am 28.05.1993 brachte die Bundesregierung den Gesetzentwurf des Ersten Gesetzes zur Änderung des GenTG in den Bundestag ein. Dieser hatte das Ziel, »das Gentechnikgesetz dem heutigen Erkenntnisstand anzupassen und zugleich Wettbewerbsnachteile der […] deutschen Forschung und Industrie zu 55 Micheal Kloepfer, Anthropozentrik versus Ökozentrik als Verfassungsproblem, in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Anthropozentrik, Freiheit und Umweltschutz in rechtlicher Sicht. Bonn 1995, 1–28,26 weist zu Recht daraufhin, dass der theoretische Gegensatz von Anthro­ pozentrik und Ökozentrik im Umweltrecht an praktischer Bedeutung verliert. Maßgeblich dafür seien das Verständnis für die komplexen Zusammenhänge des Naturhaushaltes und der mit dem Umweltrecht auch und gerade bezweckte Schutz künftiger Generationen. 56 Hirsch, Schmidt-Didczuhn, Gentechnik, § 1, Rn. 19. Wache in: Georg Erbs, Max Kohlhaas, Friedrich Ambs, Strafrechtliche Nebengesetze. Bd.  2, München 2012190, § 1 GenTG, Rn.  3. Damit kommt es letztlich zu einer Übereinstimmung von »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« mit dem erst 1994 in Art. 20a GG festgeschrieben Schutz der »natürlichen Lebensgrundlagen« »in Verantwortung für die künftigen Generationen«. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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vermeiden.«57 Schon durch diese Zielsetzung wird deutlich, dass dem Wunsch von Wissenschaft und Wirtschaft nach einer Deregulierung Rechnung getragen wurde. Die Diskussion hatte sich von der umweltpolitischen auf die wirtschaftspolitische Ebene verlagert. Der Aspekt der Gefahrenvorsorge trat in den Hintergrund, die Sicherung des Technikstandorts Deutschland in den Vordergrund.58 Mit der Konsequenz, dass neben der Modifikation der Verwaltungsverfahren, gerichtet auf eine Verfahrensstraffung, auch § 1 Nr. 2 GenTG a. F. geändert werden sollte. Die Förderung der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der Gentechnik erhielt die Ergänzung um die »wirtschaftlichen Möglichkeiten«.59 Zur Erläuterung führte die Regierung aus: »Durch die Ergänzung wird der Zweck des Gesetzes, sowohl den höchstmöglichen Schutz von Mensch und Umwelt zu gewährleisten als auch die Gentechnik zu fördern, verdeutlicht. Die Gesetzesnovelle trägt diesem Doppelzweck Rechnung, indem sie unnötige Hemmnisse beseitigt.«60 Die neue Formulierung der Zweckbestimmung wurde im Gesetzgebungsverfahren vom Bundesrat abgelehnt. In seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf weist er auf die Missverständlichkeit des § 1 Nr. 2 EGenTG hin. Er äußerte die Befürchtung, dass die Betreiber in Zukunft mit Subventionsansprüchen an den Staat herantreten werden. Außerdem könnte der geänderte Wortlaut »zu Konflikten mit dem bislang vorrangigen Schutzzweck des [Gesetzes] führen«61. Dem Widersprach die Bundesregierung und betonte die Vorrangigkeit des Schutzes von Mensch und Umwelt.62 Erst nach Einberufung eines Vermittlungsausschusses konnte eine Einigung zwischen Bundestag und Bundesrat erzielt werden. In der Beschlussfassung des Vermittlungsausschusses vom 23.11.1993, die vom Bundestag mit Mehrheit angenommen wurde, fanden sich die von der Bundesregierung vorgeschlagene Zweckbestimmung sowie einige Verfahrensvereinfachungen, die allerdings Detailfragen betrafen, wieder.63 Dem dann auf der Grundlage der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom Bundestag verabschiedeten Gesetzesbeschluss stimmte der Bundesrat zu.64 Schließlich trat das Erste Gesetz zur Änderung des GenTG am 22.12.1993 in Kraft.65 Mit dem Inkrafttreten des Gentechnikneuordnungsgesetzes am 4. Februar 200566 erfuhr das Gentechnikgesetz eine weitere maßgebliche Änderung, die 57 BT-Drs. 12/5145, 1.  58 Barbara Waldkirch, Der Gesetzgeber und die Gentechnik, 171. 59 BT-Drs. 12/5145, 3. 60 BT-Drs. 12/5145, 11. 61 BT-Drs. 12/5614, 6. 62 BT-Drs. 12/5614, 17. 63 BT-Drs. 12/6200. 64 BR-Drs. 864/93. 65 BGBl. I 2059 vom 21.12.1993. 66 BGBl. I 186 vom 3.2.2005. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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auf einem von der Bundesregierung am 5. Mai 2004 in den Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf beruhte. Ziel des Gesetzes war die Umsetzung der Richtlinie 2001/18/EG, wobei mit Blick auf Art.  26a der Freisetzungsrichtlinie die Gewährleistung der Koexistenz den Schwerpunkt der Änderung bildete.67 Darauf basierend wurde auch die Zweckbestimmung des § 1 GenTG a. F. ergänzt: Der Aufzählung der Schutzgüter in Nr.  1 wird die Formulierung »unter Berücksichtigung ethischer Werte« vorgelagert.68 Damit wollte die Bundesregierung an den Erwägungsgrund 9 der Richtlinie 2001/18/EG69 anknüpfen und in der Sache das in Deutschland geltende Tierschutzrecht betonen. Außerdem wurde der Begriff des Vorbeugens durch den der Vorsorge ersetzt, was allerdings nur der Klarstellung und der Umsetzung des Vorsorgeprinzips der Freisetzungsrichtlinie70 dienen sollte.71 Ferner wurde die Reihenfolge der Nennung der Schutzgüter geändert. Die »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« schließt sich nun unmittelbar an die Schutzgüter »Leben und Gesundheit von Menschen« an. § 1 Nr. 2 EGenTG wurde um die Belange der Koexistenz, also das Nebeneinander von konventioneller, ökologischer und mit Hilfe der Gentechnik betriebener Landwirtschaft, erweitert, um die Wahlfreiheit der Produzenten und Konsumenten zu gewährleisten und um zur »gesellschaftlichen Befriedung« beizutragen.72 Der Förderzweck sollte in Nr.  3 des § 1 EGenTG und in Nr. 4 der deklaratorische Hinweis auf die Durchführungs- und Umsetzungspflicht von Gemeinschaftsrecht im Bereich der Gentechnik verortet werden. Die Gewährleistung der Koexistenz erfolgte nach dem Gesetzentwurf über Bestimmungen über ein Standortregister (§ 16a EGenTG), den Umgang mit in Verkehr gebrachten Produkten (§ 16c EGenTG  – die sog. gute fachliche Praxis) und über die Ansprüche bei Nutzungsbeeinträchtigungen (§ 36a EGentG). Die Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft strich den § 1 Nr.  4 EGenTG und zustimmungspflichtige Teile aus der Gesetzesvorlage,73 damit das Gesetz mit den materiellen Regelungen zügig verabschiedet werden konnte. Schließlich wurde das Gesetz in der Ausschussfassung vom Bundestag angenommen.74 Gegen das 67 BT-Drs. 15/3088, 19. 68 BT-Drs. 15/3088, 6. 69 Dieser lautet: »(9) Es ist besonders wichtig, dass die in einem Mitgliedstaat anerkannten ethischen Grundsätze beachtet werden. Die Mitgliedstaaten können ethische Aspekte berücksichtigen, wenn GVO absichtlich freigesetzt oder als Produkte oder in Produkten in den Verkehr gebracht werden.« 70 So lautet Erwägungsgrund 8 der Richtlinie 2001/18/EG: »Der Grundsatz der Vorsorge wurde bei der Ausarbeitung der Richtlinie berücksichtigt und muss bei ihrer Umsetzung berücksichtigt werden.« 71 BT-Drs. 15/3088, 21. 72 BT-Drs. 15/3088, 21. 73 BT-Drs. 15/3344, insbes. 5. 74 Plenarprotokoll 15/115, 10517 B. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Gesetz legte der Bundesrat Einspruch ein mit der Begründung, dass wesentliche Teile seiner Stellungnahme nicht berücksichtigt wurden.75 Der Bundesrat machte beispielsweise deutlich, dass »unter Berücksichtigung ethischer Werte« aus § 1 Nr. 1 EGenTG wegen seines rein deklaratorischen Charakters zu streichen sei. Außerdem könne der Eindruck entstehen, dass ethische Werte bisher im Gentechnikrecht bedeutungslos gewesen seien.76 Diesen Einspruch wies der Bundestag zurück, so dass das Gesetz am 21. Dezember 2004 mit folgendem § 1 GenTG ausgefertigt wurde: »Zweck dieses Gesetzes ist, 1. unter Berücksichtigung ethischer Werte, Leben und Gesundheit von Menschen, die Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge, Tiere, Pflanzen und Sachgüter vor schädlichen Auswirkungen gentechnischer Verfahren und Produkte zu schützen und Vorsorge gegen das Entstehen solcher Gefahren zu treffen, 2. die Möglichkeit zu gewährleisten, das Produkte, insbesondere Lebens- und Futtermittel, konventionell, ökologisch oder unter Einsatz gentechnisch veränderter Organismen erzeugt und in Verkehr gebracht werden können, 3. den rechtlichen Rahmen für die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gentechnik zu schaffen.«77

2.2 Analyse des Naturbildes Die Novellierungen des GenTG zeigen, dass auch das »Naturbild« des Gesetzgebers einem Wandel unterliegt, was durch das Gentechnikneuordnungsgesetz aus dem Jahr 2004 zum Ausdruck kommt. Denn die Erweiterung des Förderzwecks auch auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gentechnik im Jahr 1993 erfolgte vor dem Hintergrund des nachhaltigen Umgangs mit der Umwelt. Das erkannte Potential dieser Technologie auch für die deutsche Wirtschaft minderte nicht den Wert der »Natur«, im Gegenteil: Die Wertigkeit der »Natur« wurde dadurch erst vollständig erfasst. Die Ergänzungen des § 1 Nr. 1 GenTG a. F. durch die Gesetzesänderung im Jahr 2004, basierend auf der Richtlinie 2001/18/EG, lassen zunächst keinen veränderten Blick des Gesetzgebers auf die Umwelt erkennen. Der ethische Tierschutz, der über die Formulierung der »ethischen Werte« Eingang in das GenTG finden soll, war bereits über das Schutzgut »Tiere« Gegenstand des Gesetzes.78 Die veränderte Reihenfolge, in der die Schutzgüter nun genannt werden, ist als rein redaktionelle Änderung 75 BT-Drs. 15/4159. 76 BR-Drs. 131/04, 1. 77 BGBl. I 186 vom 3.2.2005. 78 BR-Drs. 131/04, 1; Hirsch, Schmidt-Didczuhn, Gentechnikgesetz, § 1, Rn. 18. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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zu bewerten, nicht aber als eine Änderung der Schutzintensität oder -qualität. Die Formulierung verdeutlicht nur die ohnehin bestehende Gleichrangigkeit der Schutzgüter »Leben und Gesundheit von Menschen« und »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge«. Auch die Erhebung der Koexistenz zum Gesetzeszweck (§ 1 Nr. 2 GenTG) erscheint, isoliert betrachtet, noch nicht als Ausfluss einer neuartigen Wertentscheidung des Gesetzgebers in Bezug auf die »Natur« in ihrer Gesamtheit. Es wird lediglich allen drei Landwirtschaftsformen gleichermaßen ihre Berechtigung zugesprochen. Dass tatsächlich eine einschneidende neue Wertentscheidung getroffen wurde, wird an der Umsetzung des Koexistenzziels deutlich, insbesondere indem in § 36a GenTG eine verschuldensunabhängige Haftung des GVO anbauenden Landwirtes normiert wird. Infolge dieser Haftungs­regelung riet der Deutsche Bauernverband, wie erwartet, von der Anpflanzung von GVO ab, weil ein unkalkulierbares und nicht versicherbares Risiko bestehe.79 Die Haftungsregelung bevorzugt – durchaus gewollt80– die konventionelle und ökologische Landwirtschaft.81 Beide Landwirtschaftsformen erscheinen dem Gesetzgeber »natürlicher« als die »künstliche« gentechnische Landwirtschaft. Dieses Bild von »Natur« und »Natürlichkeit« ist in der ursprünglichen Fassung des GenTG so nicht zu erkennen.

3. Ergebnis Im GenTG wird die »Umwelt« und mit ihr, d. h. in sie eingeschlossen, die »Natur« erstmals in der Zweckbestimmung eines Gesetzes als gleichrangiges Schutzgut neben dem Leben und der Gesundheit von Menschen genannt. Ausgelöst durch die Gentechnik fließt das gewachsene ökologische Bewusstsein des Gesetzgebers in ein Gesetz ein, wovon auch im Rahmen von Novellierungen nicht abgewichen wird. Die Funktionstüchtigkeit des Naturhaushaltes wird als schützenswert erachtet. Wie langwierig und wenig selbstverständlich dies war, zeigt das Gesetzgebungsverfahren bis zum Inkrafttreten der ursprünglichen Fassung des GenTG. 79 Bundesverfassungsgericht bestätigt Regelungen des Gentechnikgesetzes – DBV: Verschuldensunabhängige Haftungsregelung bleibt unkalkulierbar und nicht versicherbar, Pressemitteilung vom 25.11.2010 (abrufbar unter: http://www.bauernverband.de/bundesverfassungsgericht-bestaetigt-regelungen-gentechnikgesetzes; zuletzt aufgerufen am 22.4.2014). 80 Siehe nur die einseitige Darstellung des Gesetzgebers in BT-Drs. 15/3088, 30 »Eigentumsbeeinträchtigungen und damit verbundene Vermögensschäden sind etwa durch Einkreuzungen gentechnisch veränderter Pflanzen in ansonsten nicht gentechnisch veränderte Pflanzen dadurch gegeben, wenn für die Erzeugnisse – gegebenenfalls auch zukünftig – nur ein geringerer Verkaufserlöserzielt werden kann.« 81 Zur Verfassungsmäßigkeit der Haftungsregelung, BVerfG, Urteil vom 24.11.2010, AZ 1 Bvf 2/05, Rn. 253 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Dabei verdeutlicht das GenTG eine »neo-utilitaristische« Haltung des Gesetzgebers zur »Natur«.82 Der Aspekt der »Naturnutzung« durch eine Technik, die sich der Natur bedient, um Ertragssteigerungen bei konventionellen Kulturpflanzen zu erzielen, war der Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Diese einseitige Haltung wurde aber gleichzeitig dadurch aufgebrochen, dass der Gesetzgeber der »Natur« in ihrem »Ist-Zustand« einen Wert beigemessen hat, den es zu beachten gilt. Dazu merkt Herdegen an, dass die Zuerkennung der Schutz­ würdigkeit »der Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« »nicht nur um ihrer dienenden Funktion für den Menschen willen«83 erfolgt ist. Über den betrachteten zeitlichen Horizont hinweg konnte aber auch festgestellt werden, dass der Schwerpunkt im »Naturbild« des Gesetzgebers variierte. Durch die Novelle im Jahr 1993 wurde der wirtschaftliche Nutzen der Gentechnik in den Blick gerückt, indem Verfahrenserleichterungen zugunsten der »künstlichen« Gentechnik eingeführt wurden. Mit der 3. Änderung des GenTG im Jahr 2004 trat dagegen der Schutz der Natur umso deutlicher in den Vordergrund. Insbesondere bildet die Haftungsregelung des § 36a GenTG ein tatsächliches Anbauerschwernis wenn nicht sogar faktisches Anbauhindernis für GVO. Ob sich mit der Einführung von sozioökonomischen Kriterien bei der Anbau- bzw. Inverkehrbringensgenehmigung ein weiterer Wandel des »Naturbildes« des Gesetzgers vollzieht, bleibt abzuwarten.

82 Zum Naturbild in der aktuellen Umweltdiskussion s. Bernhard Gill, Streitfall Natur – Weltbild in Technik- und Umweltkonflikten. Wiesbaden 2003, 90 ff. 83 Herdegen in: Eberbach, Lange, Ronellenfitsch, Recht, § 1 GenTG, Rn. 13. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Natur als Norm Zum Problem der Bestimmung der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« als Schutzobjekt des Gentechnikgesetzes

Der Versuch einer genaueren Bestimmung der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge«, die eines der Schutzobjekte des Gentechnikgesetzes bildet, stößt auf charakteristische Schwierigkeiten. Gemeinsam ist allen (letztlich scheiternden) Versuchen zur Begriffskonkretisierung ein Grundproblem: Sie konzipieren Natur zu statisch als Gegenüber zu Mensch und Kultur und damit auch als Gegenüber zum Recht. Eine solch ontologische Herangehensweise wird dem Problem nicht gerecht: Statt die »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« anhand von außerrechtlichen Maßstäben bestimmen zu wollen, kommt es vielmehr darauf an, den genuin juristischen Charakter der Begriffsbestimmung herauszuarbeiten. Die scheinbar bloße Wissensproblematik – »Was ist Natur?« – zeigt sich mit Blick auf ihren Kontext im Gentechnikrecht als eine bereits normativ geprägte: »Was wollen wir schützen, wenn wir von ›Natur‹ sprechen?« Die Antwort auf diese Frage verweist zurück auf den normativen Charakter des Geschehens: Das Schutzobjekt des Gentechnikrechts ist kein empirisch fassbares, mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden messbares Phänomen, sondern das Ergebnis einer Wertentscheidung, die nicht von anderen Wissenschaften vorgegeben werden kann.

1. Einleitung Welche Schwierigkeiten können daraus entstehen, wenn der Gesetzgeber die ›Natur als Norm‹ in dem Sinne ansetzt, dass er auf sie als Regelungsgegenstand zurückgreift? Was geschieht, wenn ein Gesetz die Natur zum Schutzobjekt bestimmt und damit ihre Integrität zum Prüfmaßstab unzulässiger Verletzungshandlungen erhebt? Diese Frage soll im Folgenden anhand des im Gentechnikrecht verwandten Begriffs der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« erläutert werden. Auf den ersten Blick wirft dieser Begriff keine besonderen Probleme für den Rechtsanwender auf. Eine genauere Analyse zeigt allerdings, dass mit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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der Konkretisierung des Terminus doch eigenartige Schwierigkeiten verbunden sind (2.). Diese kurz skizzierte Problematik lässt sich an unterschiedlichen Modellbildungen, die jeweils versuchen, den unbestimmten Rechtsbegriff der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« näher zu konkretisieren und damit justiziabel zu machen, näher studieren (3.). Das grundsätzliche Problem aber kann keines der Modelle wirklich lösen; jedes Modell perpetuiert es vielmehr nur jeweils auf unterschiedlichen Ebenen. Daher stellt sich daran anschließend die Frage, ob nicht allen Modellbildungen eine bestimmte Perspektive auf das Recht einer- und den scheinbar extrajuridischen Regelungsbereich des Rechts andererseits gemeinsam ist, die dem komplexen Verhältnis zwischen Faktischem und Rechtlichem nicht gerecht wird (4.). Vor diesem Hintergrund schlägt der Beitrag eine Perspektivverschiebung vor, mit der das genannte Problem zwar ebenfalls nicht einfach gelöst und damit beseitigt, aber zumindest genauer erklärt und damit für die weitere juristische Behandlung besser operationalisierbar wird (5.). Ein kurzes Fazit fasst das Ergebnis der Untersuchung noch einmal zusammen (6.).

2. Problembestimmung Gemäß § 1 Nr. 1 Gentechnikgesetz (GenTG) ist es der Zweck dieses Gesetzes, »unter Berücksichtigung ethischer Werte, Leben und Gesundheit von Menschen, die Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge, Tiere, Pflanzen und Sachgüter vor schädlichen Auswirkungen gentechnischer Verfahren und Produkte zu schützen und Vorsorge gegen das Entstehen solcher Gefahren zu treffen.«1 Auf die damit benannten grundlegenden Schutzgüter nehmen die nachfolgenden Regelungen des Gesetzes vielfach Bezug, so etwa § 16 Abs. 1 Nr. 3 GenTG, dem gemäß die Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) – das heißt ihr Ausbringen in die Umwelt ohne besondere Schutzmaßnahmen – zu genehmigen ist, wenn »nach dem Stand der Wissenschaft im Verhältnis zum Zweck der Freisetzung unvertretbare schädliche Auswirkungen auf die in § 1 Nr. 1 bezeichneten Rechtsgüter nicht zu erwarten sind.«

1 Vgl. allg. zur rechtlichen Regelung der Gentechnik etwa Martin Schulte, David Apel, Recht der Umwelt- und Humangentechnik, in: Martin Schulte, Rainer Schröder (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts. Allgemeine Grundlagen – Umweltrecht – Gentechnikrecht – Energierecht – Telekommunikations- und Medienrecht – Patentrecht – Computerrecht. Heidelberg u. a., 20112, 505–600; mit Blick auf wichtige jüngere Gerichtsentscheidungen Thomas Schwabenbauer, Einführung in das Recht der grünen Gentechnik – unter Berücksichtigung aktueller Rechtsprechung, in: Natur und Recht 33, 2011, 694–702. Speziell zur Zwecksetzung Wolfgang Graf Vitzthum, Tatjana Geddert-Steinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht. Zur Schutz- und Förderfunktion von Umwelt- und Technikgesetzen. Berlin 1990. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Für den Rechtsanwender folgt daraus die Aufgabe, im Rahmen seiner Auslegungsarbeit in einem ersten Schritt die in § 1 Nr. 1 GenTG genannten unterschiedlichen Schutzobjekte näher zu bestimmen. Mit Blick auf den zentralen Begriff der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge«2 geht es somit darum, diesen Gesetzesbegriff durch Definition so weit zu spezifizieren, dass den auf diese Weise gewonnenen einzelnen Tatbestandsmerkmalen konkrete Sachverhaltselemente subsumiert werden können. Das heißt: Die den Normtext konstituierenden einzelnen Begriffe müssen hinreichend deutlich bestimmt werden, damit ihnen jeweils ein bestimmter Ausschnitt aus dem zu beurteilenden tatsächlichen Geschehen zugeordnet werden kann. Ausgehend von dieser Schutzgutbestimmung ist dann in einem zweiten Schritt die etwaige Gefahr einer Schädigung des Rechtsguts zu ermessen. Das festgestellte Ausmaß dieser Gefahr entscheidet dann schließlich über die Genehmigungsfähigkeit der beantragten Freisetzung.3 Auf den ersten Blick handelt es sich damit um eine ganz typische juristische  – präziser: polizei-, das heißt gefahrenabwehrrechtliche4  – Aufgabe. Die Abweichung gegenüber der klassischen unmittelbaren Gefahrenabwehr liegt scheinbar nur in der Vorverlagerung der entscheidenden Prüfung: Statt den zuständigen Behörden lediglich die angemessenen Mittel zur Verfügung zu stellen, um eine etwaig auftretende akute Gefahr abzuwehren, soll durch das Präventivzwecken dienende Genehmigungsverfahren bereits die Entstehung einer derartigen Gefahr verhindert werden. Üblich ist insofern auch die Rede von einer ›Risikovorsorge‹, die gegenüber der Gefahrenabwehr im engeren Sinne nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich vorgelagert ist, weil sie bereits das Entstehen der Gefahr verhindern soll.5 Aus verwaltungsprozessualer­ Perspektive ist ferner die Besonderheit zu beachten, dass das genannte Schutzgut keinen subjektivrechtlichen Charakter aufweisen, also nicht dem Schutz 2 Die Umwelt wurde als Schutzgegenstand auf die Gentechnik bezogener Regelungen erstmals mit der 5. Überarbeitung der »Richtlinien zum Schutz vor Gefahren durch invitro neukombinierte Nukleinsäuren« vom 5.5.1986 aufgenommen. Diese Richtlinien bildeten die Vorgängerregelung zum Gentechnikgesetz; es handelte sich dabei allerdings noch nicht um eine mit Außenwirkung versehene »echte« Rechtsnorm, sondern um eine bloße Verwaltungsvorschrift (vgl. zur Rechtsqualität etwa Gerd Winter, Gentechnik als Rechts­ problem, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1986, 585–596, hier 590). 3 Vgl. für ein komplexeres Modell, das weitere detaillierte Schrittfolgen beinhaltet, Caroline von Kries, Gerd Winter, Komplexität und Zergliederung. Die Struktur der Risikobewertung für die Ausbringung gentechnisch veränderter Organismen, in: Zeitschrift für Umweltrecht 2011, 227–240. 4 Vgl. etwa Friedrich Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Eberhard Schmidt-Aßmann, ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht. Berlin, 200814, Rn. 1. 5 Vgl. Volkhard Wache, in: Georg Erbs, Max Kohlhaas, Friedrich Ambs (Hrsg.), Strafrechtliche Nebengesetze, § 1 GenTG Rn. 4. Allg. zur Differenzierung von Risiko und Gefahr etwa Burkard Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren. Tübingen 2009, 62 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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eigener Rechte einzelner Betroffener, sondern Belangen der Allgemeinheit dienen soll.6 Prozess­rechtlich hat das die Konsequenz, dass bei einer Berufung allein auf die mögliche Beeinträchtigung der Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge die Klagebefugnis im Sinne der möglichen Verletzung eigener Rechte ausscheidet.7 Mangels einer im Gentechnikgesetz  – wie etwa im Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG)8  – ausdrücklich geregelten Verbandsklage,9 die eine Klage auch ohne Selbstbetroffenheit ermöglichte,10 ist damit eine gegen die Erteilung einer Genehmigung an einen Dritten gerichtete Anfechtungsklage bereits unzulässig.11 Ein gleichwohl angerufenes Gericht wird sich demnach gar nicht erst mit der Entscheidung in der Sache beschäftigen, sondern die Klage aus formalen Gründen durch Prozessurteil abweisen. Ein genauerer zweiter Blick auf die hier interessierende Begriffsbestimmung zeigt jedoch, dass mit dem entsprechenden Definitionsversuch hinsichtlich des Umweltbegriffs offenbar ein grundsätzliches Problem verbunden ist, also bereits der erste Schritt innerhalb des skizzierten Vorgehens auf Hindernisse stößt.12 Auf dieses Problem deutet etwa ein Statement des US-amerikanischen Politologen Lynton Caldwell hin, dem zufolge »environment« ein Begriff sei, »that everyone understands and no one is able to define«13. An Caldwells Be 6 Vgl. Matthias Herdegen, in: Wolfram Eberbach, Peter Lange, Michael Ronellenfitsch (Hrsg.), Recht der Gentechnik und Biomedizin. München 2009, § 1 GenTG Rn. 18. 7 Vgl. etwa VG Braunschweig, Urt. v. 23.4.2009, Az. 2 A 93/08, Rn. 18 f. (Natur und Recht 2010, 143–145, hier 143 f.). 8 Vgl. § 61 BNatSchG; dazu etwa Christian Calliess, Die umweltrechtliche Verbandsklage nach der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes. Tendenzen zu einer »Privatisie­ rung des Gemeinwohls« im Verwaltungsrecht?, in: Neue Juristische Wochenschrift 2003, 97–102; zur daran anknüpfenden Diskussion ferner Lothar Michael, Fordert § 61 Bundesnaturschutzgesetz eine neue Dogmatik der Verbandsklagen?, in: Die Verwaltung 37, 2004, 35–49. 9 Vgl. allg. etwa Johann Bizer, Thomas Ormond, Ulrike Riedel, Die Verbandsklage im Naturschutzrecht. Taunusstein 1990, speziell zum Gentechnikrecht 90 f.; ausführlich Sabine Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz. Phänomenologie und Systematik überindividueller Klagebefugnisse im Verwaltungs- und Gemeinschaftsrecht, insbesondere am Beispiel des Umweltrechts. Tübingen 2008, 161 ff. 10 Nämlich nicht nur dann, wenn ein eigenes subjektives Recht des jeweiligen Verbands betroffen ist, sondern auch hinsichtlich objektiver Rechtsverstöße, die durch den Verband geltend gemacht werden. Vgl. zu dem entsprechenden Procedere im allgemeinen Naturschutzrecht allg. auch Lothar Harings, Die Stellung der anerkannten Naturschutzverbände im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1997, ­538–542. § 2 Umwelt-Rechtsbehelfgesetz (UmwRG) erweitert die entsprechenden Mitwirkungsmöglichkeiten jetzt auf Fälle, in denen eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen ist; dazu näher Marcus Karge, Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz im System des deutschen Verwaltungsprozessrechts. Baden-Baden 2010. 11 So etwa VG Braunschweig, Urt. v. 23.4.2009, Az. 2 A 93/08, Rn. 18 f. (Natur und Recht 2010, 143–145, hier 143 f.). 12 Vgl. aus allgemeiner Perspektive zum Naturbegriff Hans-Jörg Rheinberger, Iterationen. Berlin 2005, 30 ff. 13 Lynton K. Caldwell, International Environmental Policy and Law, Durham 1980, 170. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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fund anknüpfend ziehen die britischen Umweltrechtler Birnie und Boyle den Schluss, dass »any definition of ›the environment‹ will have the Alice-in-Wonderland-quality of meaning what we want it to mean«14. Worin genau jedoch liegen die in diesen Zitaten erst angedeuteten, aber noch nicht erklärten Schwierigkeiten begründet? Negativ formuliert lässt sich zunächst sagen, dass sie nicht etwa hinsichtlich der abstrakten Festlegung dessen bestehen, was zum allgemeinen Bestand der Umwelt gezählt werden kann. Insofern besteht vielmehr weitgehend Einigkeit, dass hierunter »das funktionelle Zusammenwirken aller natürlichen Faktoren wie Boden, Wasser, Klima, Tier- und Pflanzenwelt« zu verstehen ist.15 Die »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« gemäß § 1 Nr. 1 GenTG deckt sich in diesem Sinne weitgehend mit dem verfassungsrechtlich durch Art.  20a GG garantierten Schutz der »natürlichen Lebensgrundlagen«.16 Die Bestimmungsschwierigkeiten werden jedoch durch den dynamischen Charakter des Regelungsgegenstandes ›Umwelt‹ verursacht.17 Wo die juristische Aufgabe in der Schadensverhütung für ein geschütztes Rechtsgut besteht, muss der klassisch polizeirechtlichen Logik zufolge ein ›Normalzustand‹ dieses Schutzguts ausgemacht werden. Dieser markiert als solcher den Anknüpfungspunkt für die weitergehenden juristischen Bewertungen, indem ihm gegenüber erfolgende Devianzphänomene (also negative Abweichungen von einem als prinzipiell gesollt gesetzten Standard) als rechtlich noch hinnehmbar oder sanktionswürdig zu bestimmen sind.18 Die Feststellung eines (drohenden) Schadens an einem geschützten Rechtsgut setzt die Feststellung einer Ausgangslage voraus, von der in negativer Weise abgewichen wird.19 In diesem Sinne bildet der scheinbar bloß faktische Normalzustand zugleich ein normatives Kriterium. Normalität – hier verstärkt im Sinne von Naturalität – und Normativität werden miteinander verschaltet.20

14 Patricia W. Birnie, Alan E. Boyle, Catherine Redgwell, International Law and the Environ­ment. Oxford 20093, 6. 15 Vgl. Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 100 f., Fn. 187. 16 Vgl. zur Übereinstimmung des verfassungsrechtlichen Begriffs mit dem umweltrechtlichen Umweltkonzept etwa Dietrich Murswiek, Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG) – Bedeutung für Rechtsetzung und Rechtsanwendung, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1996, 222–230, hier 224. 17 Vgl. Karl-Heinz Ladeur, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge bei der Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen nach dem Gentechnikgesetz, Natur und Recht 1992, 254–262, hier 254 f. 18 Vgl. zur Struktur Karl-Heinz Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft. Von der Gefahrenabwehr zum Risikomanagement. Berlin 1995, 9 ff. 19 Vgl. etwa Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 84 ff. 20 Vgl. zu dieser Verschaltung allg. Bernhard Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt a. M. 1987, 71 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Eben diese Normalität ist bei einem Schutzobjekt wie der Umwelt, das sich selbst in einem Zustand kontinuierlicher Fortentwicklung befindet, aber schwierig feststellbar.21 Das Problem der Schadensbestimmung beruht daher nicht primär darauf, dass die Aufgabe der Gefahrenabwehr sich hier auf einen Bereich im Umfeld der allgemeinen Herausforderung, mit Hilfe des Rechts auf technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt zu reagieren,22 bezieht. Natürlich trifft es zu, dass die fraglichen Gefahren in diesem Problemzusammenhang selbst nichts ›natürlich‹ Gegebenes mehr, sondern anthropogener Art sind und in diesem Sinne als ›Risiko‹ auf menschliche Entscheidungen zugerechnet werden können.23 Eigentlich problematisch ist jedoch die Feststellung der Ausgangslage24: Weil die ständige Veränderung selbst den Normalfall bildet, kommt es hier offenbar darauf an, welche Form von Veränderung noch als ›natürlich‹ und welche als ›widernatürlich‹ zu qualifizieren ist. Problemverschärfend treten entsprechende Schwierigkeiten auch bei der Feststellung von Kausalzusammenhängen hinzu: »ökologische Probleme sind viel zu komplex, zu interdependent, zu sehr jeweils zustandsabhängig, zu unprognostizierbar, zu sehr durch ›dissipative Strukturen‹ thermodynamisch offener Systeme, durch abrupte Stabilitätsumsetzungen (›Katastrophen‹) und ähnliche Form­ veränderungen bestimmt«25, um einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge erkennbar werden zu lassen. Damit zeigt sich an dieser Stelle, dass mit Blick auf das dynamische Schutzobjekt der Umwelt »der herkömmliche Verweisungszusammenhang von rechtlichem Gefahrenbegriff, Erfahrungswissen und punktuellem, auf Erhaltung oder Wiederherstellung eines ›Bestandes‹ zielender Gefahrenabwehr mindestens teilweise zerbrochen ist.«26 In einer Weiterentwicklung der klassischen polizei­rechtlichen Sicht muss demnach die Dynamik selbst als normative Nor 21 Vgl. Ladeur, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, 254 f.; zum Parallelproblem hinsichtlich des Schutzes des »Naturhaushalts« ders., Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 196 ff. 22 Vgl. zu den anderen rechtlichen Reaktionsmustern auf diese Herausforderung – n ­ eben der Schadensprävention vor allem die Sicherung der wirtschaftlichen Verwertbarkeit entsprechender Innovationen durch das Recht des geistigen Eigentums, ferner individuelle haftungsrechtliche Verantwortung für mögliche Schadensereignisse sowie schließlich die Einrichtung kollektiver Haftungssysteme für Schadensfälle, die jenseits individueller Zurechenbarkeit liegen – Fritz Nicklisch, Das Recht im Umgang mit dem Ungewissen in Wissenschaft und Technik, in: Neue Juristische Wochenschrift 1986, 2287–2291, hier 2287. 23 Vgl. zu der entsprechenden Differenzierung zwischen Gefahr und Risiko als systemexternem resp. auf systeminterner Entscheidung beruhendem Ereignis Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos. Berlin, New York 1991, passim, deutlich etwa 30 f. 24 Vgl. Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 114. 25 Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen 19903, 144 f. 26 Ladeur, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, 255. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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malität etabliert werden,27 um davon ausgehend den möglichen Schadenseintritt ermessen zu können.

3. Lösungsversuche Das leitet über zu den unterschiedlichen Versuchen, der Definitionsschwierig­ keiten mittels bestimmter Modellannahmen Herr zu werden.28 Den gängigen Debatten lassen sich – mindestens – sechs unterschiedliche Modelle entnehmen, die jeweils darauf abzielen, den Begriff der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« so zu operationalisieren, dass eine mögliche Schädigung dieses Schutzobjekts durch gentechnisch veränderte Organismen eindeutig festgestellt werden kann. 3.1. Das erste dieser sechs Modelle lässt sich als »Modell der natürlichen Integrität« bezeichnen.29 Dieses Modell etabliert einen umfassenden Integritätsschutz, indem es eine schädliche Einwirkung auf die Umwelt bereits dann konstatiert, wenn der gentechnisch veränderte Organismus  – zumindest für eine gewisse Dauer – überlebens- und fortpflanzungsfähig ist.30 Damit wird ein hartes Kriterium etabliert, das von der Dynamik der Umwelt und ihrer spe­zifischen Veränderungen weitgehend abstrahieren kann, indem es primär auf den GVO fokussiert. In dieser Fokussierung liegt jedoch zugleich das Problem dieses Ansatzes. Der durch die nahezu ausschließliche Konzentration auf den GVO charakterisierte Ansatz läuft auf ein faktisches Totalverbot der Gentechnik hinaus, denn jeder erfolgreiche – nämlich lebensfähige – GVO würde dadurch untersagt. Damit setzt sich dieses Modell in Widerspruch zur Grundkonzeption des GenTG, das lediglich – in Entsprechung zu den Regelungen auf der Ebene der Europäischen Union – mit der Gentechnik verbundene Risiken verhindern, in

27 Vgl. zum Problem aus der Perspektive des Sicherheitsrechts auch Steffen Augsberg, »Denken vom Ausnahmezustand her«  – Über die Unzulässigkeit der anormalen Kon­ struktion und Destruktion des Normativen, in: Felix Arndt u. a. (Hrsg.), Freiheit – Sicherheit – Öffentlichkeit. Baden-Baden 2009, 17–39, hier 34 ff. 28 Ich folge in diesem Abschnitt weitgehend, auch in der Terminologie, der sehr klaren Darstellung der Diskussion bei Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 101 ff. Vgl. zu einer ähnlichen Einteilung der Modelle ferner bereits Andreas Fisahn, Beschleunigung und der Schadensbegriff im Gentechnikrecht, in: Natur und Recht 2004, 145–150, hier 147 ff. 29 Vgl. Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 101. 30 Vgl. Fisahn, Beschleunigung und der Schadensbegriff im Gentechnikrecht, 147, mit Verweis auf Broder Breckling, Wiebke Züghart, Die Etablierung einer ökologischen Langzeitbeobachtung beim großflächigen Anbau transgener Nutzpflanzen, in: Umweltbundesamt (Hrsg.), Gentechnikrecht und Umwelt. Düsseldorf 1991, 37 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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diesen Grenzen grundsätzlich aber gentechnische Forschung zulassen will.31 Ausdrücklich stellt das Gesetz dem Schutzgedanken des § 1 Nr. 1 GenTG den weiteren Zweck gegenüber, »den rechtlichen Rahmen für die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gentechnik zu schaffen«. Mit der Annahme des Integritätskriteriums könnte dieser Zweck nicht mehr erreicht werden. Das Modell ist aber nicht nur normativ, sondern auch hinsichtlich seiner kognitiven Prämissen problematisch. Es operiert mit der Annahme einer evolutionär gegenüber der menschlichen Modifikation autarken Natur. Diese Annahme wird jedoch den tatsächlichen Gegebenheiten nicht gerecht.32 Der anthro­ pogene Eingriff in die Evolution ist vielmehr gerade im Bereich der Landwirtschaft durch Züchtung und Ausbringung nichtheimischer Arten manifest.33 Die Orientierung an der ›natürlichen Integrität‹ hat demnach zwar den Vorteil, klar erkennbare Abgrenzungskriterien zu liefern. Das entsprechende Verfahren setzt sich damit aber zugleich in Widerspruch sowohl zur bestehenden rechtlichen Gesamtregelung wie auch zu dem im übrigen Bereich der Landwirtschaft anerkannten Naturbegriff. Dass die »Umwelt« gemäß § 1 Nr.  1 GenTG auch »die von Menschen geschaffene Kulturlandschaft« umfasst,34 würde damit weitgehend ausgeschlossen. 3.2. Das zweite Modell basiert auf der Idee der »Familiarität« der Organismen.35 Es vergleicht die möglichen Auswirkungen, die der Einsatz gentechnisch veränderter Organismen haben kann, mit den möglichen praktischen Folgen, die bereits aufgrund der ›natürlich‹ bestehenden Eigenschaften nicht gentechnisch manipulierter Organismen entstehen können. Damit wird der Begriff der Schädlichkeit von vorneherein in der verengten Perspektive einer Relation zum herkömmlichen Organismus gefasst. Das Modell zielt also darauf ab, »gentechnikspezifische« Risiken in einem komparativen Verfahren zu bestimmen. Dieser Fokus auf gentechnikspezifische Risiken kann indes dazu führen, unerwartete, aus der Vergleichsperspektive nicht zu erkennende Risiken zu über 31 Vgl. zu dieser doppelten Zwecksetzung des GenTG allg. Graf Vitzthum, GeddertSteinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht. 32 Vgl. Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 101 f. 33 Vgl. Fisahn, Beschleunigung und der Schadensbegriff im Gentechnikrecht, 148 f. 34 So dagegen etwa Wache, in: Erbs, Kohlhaas, Ambs (Hrsg.), Strafrechtliche Nebengesetze, § 1 GenTG Rn. 3. 35 Vgl. Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 102, mit Verweis auf die Darstellung bei Verena Brand, Gerd Winter, Rechtliche Maßstäbe der Risikobewertung und des Risikomanagements in der Bundesrepublik Deutschland, in: Broder Breckling u. a. (Hrsg.), Fortschreibung des Konzepts zur Bewertung von Risiken bei Freisetzungen und dem InVerkehr-Bringen gentechnisch veränderter Organismen, Berichte UBA 3/04. Berlin 2004, 212–279, hier 246. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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sehen. In Frage gestellt wird zudem, ob die Schädlichkeit von GVO bereits deswegen verneint werden kann, weil entsprechende Schäden auch durch die als Referenzgrundlage fungierenden Organismen hervorgerufen werden können.36 Hinreichend klare Konturen für eine Schadensprognose lassen sich demnach mit diesem Modell nicht gewinnen. 3.3. Entsprechende Bedenken lassen sich auch gegenüber einem ähnlich strukturierten dritten Modell geltend machen, das auf einen Vergleich der Folgen konventioneller und gentechnischer Landwirtschaft setzt.37 Die Problematik dieses Verfahrens reicht jedoch noch weiter: Insofern dieses Vergleichskonzept den Einsatz chemischer Pestizide etc. mit dem Einsatz gentechnisch veränderter Organismen parallelisiert, verkennt es grundlegend die Eigendynamik lebender Organismen, die als solche spezielle Schwierigkeiten aufweisen und deswegen nicht einfach mit in die Landwirtschaft ausgebrachten chemischen Stoffen verglichen werden können.38 Damit konzipiert dieses Modell die Natur und ihre Wirkmechanismen im Allgemeinen und die GVO im Besonderen zu statisch. Das spezifische Gefährdungspotential der GVO wird nicht zureichend verarbeitet. 3.4. Das vierte Modell lässt sich als »Modell des Selektionsvorteils« charakte­ risieren.39 Damit wird angezeigt, dass von einer negativen Auswirkung des gentechnisch veränderten Mechanismus dann auszugehen sei, wenn der modifizierte Organismus einen Selektionsvorteil zeigt, der ihn in die Lage versetzt, seine Artgenossen zu verdrängen.40 Dieses Modell hat den Vorteil, dass es einem normativ vorgegebenen Ziel, nämlich dem Erhalt der Biodiversität, die auf der Ebene des Internationalen Rechts durch die Konvention über die Biologische Vielfalt garantiert wird, verpflichtet ist.41 Das Problem des Modells liegt aber darin, dass die Referenz auf die Selektionsvorteile eine prognostische Komponente beinhaltet, die die Entscheidung mit Ungewissheit belastet. Nimmt man die Einführung nicht­ heimischer Arten als Vergleichsmaßstab, wird deutlich, dass entsprechende Vorteile nicht unmittelbar ersichtlich sein müssen; sie können sich vielmehr unter Umständen erst Jahrzehnte nach der ersten Ausbringung deutlich zeigen.42 36 Vgl. Brand, Winter, Rechtliche Maßstäbe der Risikobewertung, 246. 37 Vgl. dazu Fisahn, Beschleunigung und der Schadensbegriff im Gentechnikrecht, 148. 38 Vgl. Fisahn, Beschleunigung und der Schadensbegriff im Gentechnikrecht, 149. 39 Vgl. Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 102. 40 Vgl. Fisahn, Beschleunigung und der Schadensbegriff im Gentechnikrecht, 147. 41 Vgl. dazu etwa Julia Friedland, Ursula Prall, Schutz der Biodiversität: Erhaltung und nachhaltige Nutzung in der Konvention über die Biologische Vielfalt, in: Zeitschrift für Umweltrecht 2004, 193–202. 42 Vgl. Fisahn, Beschleunigung und der Schadensbegriff im Gentechnikrecht, 149. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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3.5. Das fünfte Modell operiert mit der Vorstellung einer »natürlichen Schwankungsbreite« im natürlichen Umweltgeschehen.43 Es trägt der Dynamik des Regelungsbereichs Rechnung, indem es von vorneherein die zu beobachtende Normalität als flexibles Phänomen voraussetzt. Nicht jede Verdrängung, so wäre der Ansatz in Abgrenzung zum Selektionsvorteilsmodell zu charakterisieren, bedeutet auch gleich einen ökologischen Schaden. »Denn ökologische Systeme sind nicht starr und auch innerhalb dieser Systeme gibt es natürliche Schwankungen in der Zusammensetzung des Systems.«44 Von einer schädlichen Einwirkung auf die Umwelt soll man dementsprechend erst dann sprechen können, wenn durch die Einbringung der GVO der Bereich der natürlichen Schwankungsbreite verlassen wird. Auch hier bildet jedoch die Ungewissheit der zu treffenden Feststellungen das Problem. Sie bezieht sich nunmehr nicht allein auf die eventuellen evolu­ tionären Vorteile des GVO. Ungewiss ist vielmehr auch die Bestimmung dessen, was als noch ›natürliche‹ Schwankungsbreite gelten kann. In Frage steht insofern etwa, ob bei dieser Bestimmung offensichtlich exzeptionelle Ereignisse in der Natur, für die aber keine anthropogene Ursache ersichtlich ist – bspw. das große Robbensterben in den 1980er Jahren – beachtet werden können oder sogar müssen oder nicht.45 In dem Maße, in dem klare Kriterien für die Beachtlichkeit oder Unbeachtlichkeit derartiger Phänomene fehlen, also unklar ist, ob man sich mit diesen Phänomenen überhaupt auseinandersetzen muss, hebt das Modell damit die Unsicherheit der Bestimmung des Begriffs »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« i. S. v. § 1 Nr. 1 GenTG nur auf eine neue Ebene. 3.6. Das sechste Modell schließlich legt der Feststellung einer Schädigung der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« die Idee des Einbaus von »zeitlichen Abstandhaltern«46 zugrunde. Prägend ist die Beobachtung, dass die gentechnische Manipulation sich von dem ›natürlichen‹ Mutationsprozess und dessen gezielter Nutzung im Wege der Züchtung vor allem durch den Zeitfaktor unterscheidet.47 Veränderungen, die durch Züchtung und Selektion nur langsam und schrittweise zu erreichen sind, können mit Hilfe der Gentechnik sehr viel schneller prozessiert werden. Argumentiert wird insofern, dass gerade diesem »abstrakttechnologischen Beschleunigungspotential […] die Gefahr inne[wohnt], nachteilige Wirkungen für die Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge auszulösen.«48 Die Perspektive wird dabei umgestellt von einer Fixierung des einzelnen GVO auf eine Vielzahl zeitgleich erfolgender Veränderungen: »Wenn […] neue Or 43 Vgl. Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 103 f. 44 Fisahn, Beschleunigung und der Schadensbegriff im Gentechnikrecht, 147. 45 Vgl. ebd., 149. 46 Vgl. ebd., 149 f. 47 So der eigene Konzeptvorschlag bei ebd. 48 Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 105. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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ganismen oder neue Genkombinationen in beinahe beliebiger Geschwindigkeit produziert werden und diese sich in der Umwelt ansiedeln können, besteht die Möglichkeit, Ökosysteme in ihrer Zusammensetzung grundlegend zu verändern, auch wenn kein einziger der GVO für sich betrachtet einen Selektionsvorteil hat. Es sind dann eben eine Fülle von neuartigen genveränderten Organismen in der Umwelt zu finden, die durch ihre Quantität Einfluss auf die biologische Vielfalt nehmen. Quantität schlägt in Qualität um.«49 Damit wird ein Problem der Wirkungen von GVO zweifellos zutreffend beschrieben. Problematisch an diesem Modell ist jedoch die aus der Beschreibung gezogene Konsequenz: Das Modell liefert nicht nur einen genaueren Begriff der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« als Bestandteil des bestehenden gentechnischen Regelungswerks. Es fordert zudem einen neuartigen Regelungsmechanismus in Gestalt sog. »zeitlicher Abstandshalter«, die in die rechtlichen Zulassungsverfahren eingebaut werden sollen.50 Danach dürfen »in einem bestimmten Zeitraum und einem abgrenzbaren Gebiet nur eine gewisse Zahl von verschiedenen GVO freigesetzt werden.«51 Der Vorschlag ist daher im Wesentlichen rechtspolitischer, nicht auf das geltende Recht bezogener rechtsdogmatischer Art. Indem es für die Frage der genaueren Bestimmung von etwaigen Grenzwerten und Referenzflächen wiederum auf den interdisziplinären Diskurs zwischen Biologie und Rechtswissenschaft verweist,52 bleibt das Modell zudem äußerst vage.53

4. Gründe für das Scheitern der Lösungsmodelle Keinem der geschilderten Modelle gelingt es demnach, die Schwierigkeiten der näheren Konkretisierung und Bestimmung des Umweltbegriffs tatsächlich aufzulösen. Jedes hat auf seine Weise entweder mit fortbestehender, nur verlagerter Unbestimmtheit zu kämpfen oder beseitigt diese nur um den Preis, sich von der gesetzlichen Intention, die zumindest grundsätzlich die Erprobung von GVO zulassen will, zu lösen. Das führt uns zurück zur eingangs erwähnten Alicein-Wonderland-Qualität der juristischen Definitionsversuche: Offenbar ist hier tatsächlich ein Punkt erreicht, an dem die juristische Definitionskunst an Grenzen stößt. Der Vergleich mit Alice lässt aber noch eine andere Wendung zu. Möglicherweise wird die juristische Bedeutungsstiftung im Sinne von »meaning what we 49 Fisahn, Beschleunigung und der Schadensbegriff im Gentechnikrecht, 149. 50 Vgl. ebd., 149 f. 51 Ebd., 150. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 105. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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want it to mean« zu sehr als Teil des Problems und nicht zumindest ebenso sehr als Teil seiner Lösung, also nicht affirmativ genug gefasst. Allen Modellen gemein ist eine Schwierigkeit: Sie konzipieren die Umwelt noch zu stark als ein grundsätzlich dem menschlichen Einfluss gegenüber fremdes Gebiet, stellen also nicht hinreichend in Rechnung, dass »die Natur aufgrund der vielfältigen historischen Verwobenheit mit der technisch-wirtschaftlichen Kultur kein abgeschlossenes, auf Selbsterhaltung angelegtes System mehr ist«54, sondern »heute, jedenfalls in unseren Breitengraden, selbst längst die Dimensionen eines technologischen Netzes von Dingen angenommen [hat], ein verzweigtes und in kaum einem seiner Elemente mehr unberührtes, ein hybrides Wesen.«55 Indem sie diesen hybriden Charakter des Phänomens56 weitgehend ausblenden, setzen die skizzierten Ansätze nicht nur negativ die traditionelle, letztlich theologisch begründete Vorstellung des Menschen als besonders ausgezeichnetes Gegenüber zur Schöpfung fort. Sie versuchen vielmehr zugleich, den normativen Gehalt an der als Faktum unterstellten Normalität abzulesen, statt die normative Konstruktionsleistung bereits bei der Wahrnehmung des ›Normalzustands‹57 hervorzuheben. Obwohl sie bereits als »Destillat« interdisziplinärer Diskurse zwischen Biologie und Jurisprudenz bezeichnet werden,58 suggerieren alle Modelle doch, es gebe immer noch eine hinreichend stabile Differenz zwischen dem Bereich des rein Faktischen und damit kognitiv Zugänglichen und dem des rein Normativen; und auf dieser klaren Differenzierung – Sachverhaltsfeststellung hüben, Norminterpretation drüben – beruhe der Prozess der Rechtsanwendung. Die Modelle fragen damit nicht präzise genug: »Für wen ist was Natur?«59 Sie achten nicht hinreichend darauf, dass auch die Scheidung zwischen Kultur und Natur selbst ein »kulturelles Artefakt« ist, das auf normativen Setzungen beruht.60 Die Grenze zwischen der normativen und der faktenbezogenen Wissenschaft bleibt starr.

5. Ein Alternativvorschlag Das Beispiel der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« und der Schwierigkeit ihrer Bestimmung dürfte jedoch zu der eher umgekehrten Position hinführen, die von einer stärkeren Verschleifung der kognitiven und der normativen Dimen 54 Ladeur, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge, 255. 55 Rheinberger, Iterationen, 46. 56 Vgl. zum Hybridcharakter allg. auch Thomas Potthast, Epistemisch-moralische­ Hybride und das Problem interdisziplinärer Urteilsbildung, in: Michael Jungert u. a. (Hrsg.), Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme, Darmstadt 2010, 173–191. 57 Vgl. dagegen ausdrücklich Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 13 f. 58 Vgl. Fisahn, Beschleunigung und der Schadensbegriff im Gentechnikrecht, 147. 59 Rheinberger, Iterationen, 32. 60 Vgl. Rheinberger, Iterationen, 31 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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sion des Rechts ausgeht.61 Eine solche Position bestimmt die spezifisch erkenntnisbezogenen Prozesse des Rechts einerseits und seine wertungs- und entscheidungsbezogenen Akte andererseits nicht als miteinander unvereinbare Gegensätze. Im Gegenteil: Sie betont gerade das Zusammenspiel dieser beiden Dimensionen des Rechts und analysiert ihre wechselweise Beeinflussung. Die entsprechende Position kann in diesem Sinne als der Versuch verstanden werden, eine spezifisch juristische Epistemologie62 zu entwickeln. Noch genauer gefasst geht es hier darum, eine solche Epistemologie nicht als gänzlich neu einzuführendes Phänomen zu beschreiben, sondern sie in ihrer bereits gegebenen Operationalität zu beschreiben.63 Was als ›Natur‹ im Sinne des Gentechnikgesetzes anerkannt wird, ist eine Frage, die offensichtlich nicht rein (natur-) wissenschaftlich entschieden werden kann; sie ist vielmehr selbst normativer Art. Allgemeiner formuliert: »Wir selbst sind Teil des Prozesses, der Natur zu dem macht, was sie ist und was sie von uns unterscheidet.«64 In dieser Perspektive kann der Gebrauch des Naturbegriffs als kulturelles Phänomen beobachtet werden.65 Diese Erkenntnis ist im Sinne einer reflexiven Bewegung wieder in den juristischen Prozess einzuführen. Das betrifft in einem ersten Schritt die grundlegende, wechselseitige Verschleifung von Recht und Natur(wissenschaft): »Law plays a pivotal role in the fabrication of nature and technology – and vice versa, science and technology both create  a corpus of normative knowledge.«66 In einem zweiten Schritt ist diese Einsicht dann auf die einzelne Entscheidungssituation zu erstrecken. Statt als bloße Nachzeichnung einer vorgeblichen objektiv bestimmbaren ›Realität‹ zu figurieren und »notwendige politische Relationierungen und Wertungen mit dem Schleier vermeintlichen Expertenwissens zu überdecken«67, sollten die zu treffenden Entscheidungen, die ein vorgeb 61 Vgl. Karl-Heinz Ladeur, The Postmodern Condition of Law and Societal »Management of Rules«. Facts and Norms Revisited, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 27, 2006, 87– 108. Allg. auch Helmut Willke, Einführung in das systemische Wissensmanagement. Heidelberg, 20072, 60 f. 62 Vgl. allg. zur Erforderlichkeit einer Diversifizierung der Epistemologie Rheinberger, Iterationen, 110. 63 Vgl. dazu allg. Thomas Vesting, Die Bedeutung von Information und Kommunikation für die verwaltungsrechtliche Systembildung, in: Wolfgang Hoffmann-Riem, Eberhard Schmidt-Aßmann, Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2: Informationsordnung – Verwaltungsverfahren – Handlungsformen. München 2008, § 20. 64 Rheinberger, Iterationen, 47. 65 Vgl. allg. zu dieser Beobachtungsmöglichkeit Elena Esposito, Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2002, 245. 66 Alfons Bora, Scientific Norms, Legal Facts, and the Politics of Knowledge, in: Nico Stehr, Bernd Weiler (Hrsg.), Who Owns Knowledge? Knowledge and the Law. New Brunswick, London 2008, 67–86, hier 73. 67 Klaus Ferdinand Gärditz, Die Abwehr von Risiken gentechnischer Freisetzungen, in: Zeitschrift für Umweltrecht 2009, 413–421, hier 420. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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liches reines Außerhalb des Rechts betreffen, offen als normativ begründet ausgewiesen werden. Das heißt, es sollte die Notwendigkeit eingestanden werden, auf juristischem Wege »Grenzwerte, Schwellen oder auch Maßeinheiten zu definieren, für die die Umwelt selbst keine Bestimmung liefert«68. Die geltenden rechtlichen Regelungen, etwa der eingangs erwähnte § 16 Abs. 1 Nr. 3 GenTG, machen das mit ihren Formulierungen im übrigen bereits deutlich: Indem sie einerseits zwar auf den »Stand der Wissenschaft« rekurrieren, diesen zugleich aber »im Verhältnis zum Zweck der Freisetzung« betrachten, zeigen die Vorschriften, dass es sich bei der Regulierung der Gentechnik wesentlich um normative Wertungsentscheidungen handelt.69 Dem Problem ist in diesem Sinne gerade nicht durch eine präzisere Bestimmung des Schutzguts etwa in Bezug auf räumliche Determinanten beizukommen: Will man die Ausweisung konkreter Naturschutzgebiete nicht zum vollständigen Betretungsverbot für den Menschen verabsolutieren, besagt die Ausweisung als solche noch nichts darüber, welches menschliche Verhalten in den so bestimmten Gebieten noch zulässig ist und welches verboten werden soll. Diese Frage – etwa: Zulässigkeit nur des Wanderns oder auch des Mountainbike-Fahrens? – lässt sich wiederum nur beantworten, wenn geklärt ist, was als schützenswerte ›Natur‹ im betreffenden Gebiet verstanden wird. Schärfer noch: Noch das absolute Betretungsverbot impliziert ein ihm zugrunde liegendes Naturkonzept, in dem jede Form menschlichen Einflusses als per se widernatürlich und daher schädlich zurückgewiesen wird. Auch ein derartiges Konzept ist aber kein ontologisches Datum, eine als selbstverständlich zu unterstellende Gegebenheit, das der Realität gewissermaßen ›abgelesen‹ werden könnte. Das Konzept bildet vielmehr selbst eine normativ gehaltvolle Entscheidung. Entsprechend muss auch die durch die Europäische Union angestoßene Debatte, ausdrücklich noch weitere sozioökonomische Kriterien in die Zulassungstatbestände mit aufzunehmen,70 verstanden werden. Auch hier geht es nicht darum, den naturwissenschaftlichen Parametern einfach weitere sozialwissenschaftlicher Art hinzuzufügen, also nur den Kreis der im Verfahren zu Rate zu ziehenden Sachverständigen zu erweitern, sondern den Entscheidungscharakter des gesamten Vorgangs herauszustellen. 68 Luhmann, Ökologische Kommunikation, 134. 69 Vgl. allg. entsprechend zur erhöhten »Willkür« – und das heißt eben: Entscheidungsabhängigkeit – im Umweltrecht Luhmann, Ökologische Kommunikation, 133 f. 70 Vgl. dazu näher Hans-Georg Dederer, Weiterentwicklung des Gentechnikrechts  – GVO-freie Zonen und sozioökonomische Kriterien für die GVO-Zulassung. Eine Untersuchung der Regelungsspielräume und ihrer europa- und welthandelsrechtlichen Grenzen. Münster 2010; zum Problem ferner Stephan Schleissing, Herwig Grimm, Sozioökonomische Kriterien: Instrument gesellschaftlicher Techniksteuerung oder Anstoß wissenschaftlicher Selbstreflexion?, in: dies. (Hrsg.), Grüne Gentechnik: Zwischen Forschungsfreiheit und Anwendungsrisiko. Baden-Baden 2012, 425–440. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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6. Fazit Wer die ›Natur als Norm‹ ansetzt, begeht demnach nicht einfach einen Sein-­ Sollen-Fehlschluss.71 Er muss vielmehr akzeptieren, dass das damit zugrunde gelegte Naturbild selbst bereits eine juristische Konstruktionsleistung darstellt. Die »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge« ist in diesem Sinne kein ontologisches konzipiertes Datum, also keine vom Normanwender bloß hinzunehmende, fixe Gegebenheit, sondern eine normative Zielvorstellung, die durch weitere, ihrerseits in ihrem normativen Gehalt zu verstehende Unterkriterien  – etwa: Biodiversität72 – weiter spezifiziert und damit operationalisiert werden kann und muss. Um die damit skizzierte Verschränkung der doppelten kognitiv-norma­ tiven Perspektiven adäquat zu bewältigen, muss das Recht reflexiv werden  – und das besagt jetzt nicht nur, dass es den eigenen Einfluss auf seine Umwelt, sondern ebenso umgekehrt den Einfluss seiner Umwelt auf die eigenen Verfahren in Rechnung stellen muss.73 Darin läge dann eine wiederum andere, erweiterte Bedeutungskomponente der Redeweise von der »Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge«.

71 Vgl. zur Problematik dieses geläufigen Vorwurfs allg. Steffen Augsberg, Der natura­ listische Fehlschluß als juristische Argumentationsfigur, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 94, 2008, 461–476. 72 Vgl. Friedland, Prall, Schutz der Biodiversität. 73 Vgl. Bora, Scientific Norms, 82; ferner Luhmann, Ökologische Kommunikation, 134: »Gerade dort, wo es um Natur geht, funktioniert das Naturrecht nicht«. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

Reinhard Pröls und Lena Bouman

Über die Rolle von Naturbildern im Diskurs über die Grüne Gentechnik – ein Interview

Im Rahmen des CAS-Schwerpunktes »Landwirtschaft zwischen Idyll und Dystopie. Grüne Gentechnik als Projektionsfläche von Naturbildern« traf sich seit dem Sommersemester 2010 über zwei Jahre hinweg regelmäßig eine Gruppe junger Forscher am Center for Advanced Studies der LMU München, um der Frage nachzugehen, inwiefern der Vergleich unterschiedlicher Naturbilder dazu beitragen kann, die Debatte über Grüne Gentechnik unter veränderten Voraussetzungen zu führen. Die Gruppe bestand aus Wissenschaftlern unterschiedlicher Provenienz: Der Soziologin Barbara Brandl, den Philosophen Herwig Grimm und Christian Dürnberger, der Historikerin Julia Herzberg, der Juristin Birgit Lemmen sowie den Molekularbiologen Reinhard Pröls und Lena ­Bouman. Begleitet wurde die Arbeit von einem Beirat etablierter Wissenschaftler aus den gleichen Disziplinen. Anregungen und Unterstützung bekam die Forschergruppe durch zahlreiche Vorträge externer Experten sowie anlässlich eines Workshops zum Thema »Natur – Norm und Narration der Landwirtschaft«. Im nachfolgenden Interview erläutert der Molekularbiologe Reinhard Pröls, welche Erfahrungen er aus der interdisziplinären Zusammenarbeit gewonnen hat und in welcher Hinsicht das Projekt schulbildend wirken könnte. Das zentrale Thema der interdisziplinären Zusammenarbeit waren ja Natur­ bilder. Welchen Einfluss haben denn die unterschiedlichen Vorstellungen von Natur auf die Debatte über die Grüne Gentechnik? Zunächst muss man erläutern, welche grundsätzlichen Einstellungen es zur Natur gibt: Sieht man Mensch und Natur als gleichwertig an oder ist die Natur dem Menschen untergeordnet. Hierbei spricht man auch von ökozentrischer oder anthropozentrischer Perspektive. Da fließen ganz grundlegende Wertvorstellungen mit ein. Darüber hinaus kann man sich Natur als empfindlich oder aber, in Grenzen, robust gegenüber äußeren Eingriffen vorstellen. Wenn man demzufolge von einer robusten Natur ausgeht und die anthropozentrische Perspektive einnimmt, ist man eher geneigt technologische Eingriffe in die Natur zu akzeptieren. Anders ist es, wenn man die Natur als sensibel gegenüber äußeren Eingriffen ansieht und ihr einen hohen eigenen Wert zuschreibt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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In diesem Zusammenhang finde ich es interessant zu fragen, wie man sich Landwirtschaft als Idyll, sozusagen idealtypisch vorstellt. Man assoziiert damit Bilder wie das des Bergbauern auf einer Hochalm, mit seinen Kühen, die er alle beim Namen kennt, blühende Bergwiesen, der Bauer mäht mit der Sense das Heu für den Winter und raucht eine Pfeife dabei. Idyll pur. Das sehen wir auch ständig, wenn wir im Supermarkt unsere Butter und die Milch kaufen, auf Werbeplakaten und in Fernsehspots. Da werden eben diese Bilder angesprochen, die wir mit Natürlichkeit in Verbindung bringen. Hier greift die von Hub Zwart beschriebene Lebensform des »Common Human Pattern«.1 Einer auf Landwirtschaft und überwiegend auf Selbstversorgung beruhenden dörflichen Lebensform. Alles was sich auf der Ebene dieses Typus abspielt scheint natürlich und gut, so wie es sein soll und sein darf. Aber es ist trotzdem bereits ein massiver Eingriff in die Natur, das gilt auch für die so idyllische Hochalm. Das Common Human Pattern ist in dem Bild des Idyll noch stark präsent und wirkt normativ auf die Vorstellung von der »richtigen« Art der Landwirtschaft weiter. Grüne Gentechnik wird als Abkehr von diesem imaginierten Idyll gesehen und problematisiert. In der Debatte geht es also primär um idealisierte Vorstellungen, die wir von der Landwirtschaft haben? Ich glaube, dass in der Debatte sehr häufig die umfassenden Veränderungen mit aufgearbeitet werden, die im Verlauf der Industrialisierung der Landwirtschaft stattgefunden haben, aber nie explizit thematisiert und gesellschaftlich diskutiert wurden. Die Art wie unsere Nahrungsmittel produziert werden, hat sich insbesondere seit den 1950er Jahren rasant verändert. Zudem ist heute die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr in der Nahrungsmittelproduktion beschäftigt, ein direkter Bezug zur Landwirtschaft fehlt deshalb meist. Hierbei ist offensichtlich eine große Kluft zwischen den Bildern, die wir mit Landwirtschaft assoziieren und der Realität entstanden. Bilder, die unsere Einstellungen prägen, ändern sich nur sehr langsam. Vielleicht wollen wir sie auch gar nicht ändern. Die Beschäftigung mit der Grünen Gentechnik zieht nicht nur eine Auseinandersetzung mit den Methoden in der Landwirtschaft nach sich, sondern auch mit unseren Naturvorstellungen. Sind diese nicht vereinbar, so zerbricht das Idyll und ein riesiger Scherbenhaufen bleibt übrig. Man kann sagen, dass der Einsatz neuer Technologien zu Brüchen in der Mensch-NaturBeziehung führt. Enttäuschung und auch Unsicherheit sind die Folge. Das Thema wird damit emotional aufgeladen. Meiner Meinung nach würde es der Diskussion um die Grüne Gentechnik sehr gut tun, diesen emotionalen Bereich in der Diskussion klar von der Debatte um neue Technologien zu trennen. 1 Hub Zwart, Biotechnology and Naturalness in the Genomic Era: Plotting a Timetable for the Biotechnology Debate, in: J. Agirc Environ Ethics 22, 2009, 505–529. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Aber verändert der Mensch nicht schon seit sehr langer Zeit die Natur? Das stimmt. Vor etwa 10.000 Jahren hat er damit begonnen, Landwirtschaft zu betreiben: die neolithische Revolution. Man stellt sich das so vor, dass zunächst Tiere domestiziert wurden und später die primitive Landwirtschaft eingeführt wurde. Lebensmittel wurden von da ab produziert. Das war der Anfang der Entwicklung des Common Human Pattern und bestimmte, bis zur Industriellen Revolution vor etwa 250 Jahren, das menschliche Leben weltweit. Diese Vorstellung prägt uns bis heute und wird als die »natürliche« Lebensform des Menschen angesehen, so als wäre sie die einzige seiner Natur entsprechende. Dabei ist auch sie Produkt einer historischen Entwicklung, die immer auch mit Eingriffen des Menschen in die Natur verbunden war und sich fortwährend weiter veränderte. Das Naturbild des Menschen hat sich seit der Frühen Neuzeit noch einmal grundlegend gewandelt. Die Natur wurde nun als unvollendet angesehen, womit die Vorstellung einer impliziten Entwicklungsmöglichkeit einherging. Letztendlich waren es diese Gedanken, welche zusammen mit der Herausbildung eines neuen naturwissenschaftlichen Denkens und dessen technologischer Anwendung bewirkt haben, dass es dem Menschen heute möglich ist, zielgerichtet in die Natur einzugreifen. In der Wahrnehmung vieler Menschen wird durch das Eingreifen in die Natur also ein vermeintliches Idyll zerstört? Ja, Gentechnikgegner beschreiben menschliches Eingreifen in die Natur oft als dystopisch, als zerstörerisch. Dabei griff der Mensch selbst vor der landwirtschaftlichen Nutzung in die Natur ein. Beispielsweise sind bei der Erstbesiedelung von Nordamerika die meisten Großsäuger ausgestorben, oder besser gesagt, wurden von unseren Vorfahren kurzerhand ausgerottet. Man kann sogar noch viel weiter zurückgehen. Auch vor der Zeit des Menschen gab es dystopische Elemente: Lebewesen haben durch ihre Stoffwechselprodukte, wie Sauerstoff, die gesamte Biosphäre umgestaltet, das ging mit stark zerstörerischen Eingriffen einher. Die allermeisten Lebensformen, welche aus der Erdgeschichte bekannt sind, existieren heute nicht mehr. Dass die Natur an sich, ohne das Eingreifen des Menschen, als Idyll, im Sinne des Bewahrens eines vermeintlich idealen Naturzustandes gegenwärtig ist, ist ein Trugschluss. Die Natur selbst ist nicht statisch; alles ist im Werden. Wir können also die Natur gar nicht »bewahren«? Schlagworte wie »Bewahren der Natur« und »Erhalt des Natürlichen« kommen in der Debatte um die Grüne Gentechnik immer wieder vor. Wobei das Bewahren im Sinne einer Nicht-Veränderung als problematisch anzusehen ist. Auch Bewahren ist eine Intervention in die Abläufe einer sich stets wandelnden Natur. Versteht man Bewahren streng als Unterlassung jeglicher Intervention, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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so wird kein Zustand konserviert, sondern die vom Menschen unabhängigen Naturprozesse werden neue Zustände hervorbringen, die nicht notwendigerweise wünschenswert sind. In diesem Kontext ist die Frage nicht so sehr, ob der Mensch in die Natur eingreifen soll, sondern vielmehr, worauf diese Veränderung gerichtet sein soll. Die Mensch-Natur-Beziehung ist stets dynamisch zu sehen. Letztendlich stellt sich eher das Problem, auf welches Naturbild hin die Landwirtschaft ausgerichtet werden soll. Kann man also sagen, dass unsere heutigen Nutzpflanzen bereits weit vom Naturzustand entfernt sind? Auch ohne Gentechnik? Die durch klassische Züchtung erzeugten Pflanzen sind in ihrer qualitativen Ausprägung bereits sehr »unnatürlich«, eine Unterscheidung zu gentechnisch veränderten Pflanzen ist diesbezüglich kaum möglich. Die Pflanzen wurden fortwährend ausgelesen, dadurch gelang es den Ertrag der Pflanzen deutlich zu steigern. Allerdings sind diese Kulturpflanzen auf ackerbauliche Schutzmaßnahmen angewiesen, da sie in diesem Prozess zum Teil die Fähigkeit verloren haben, in freier Wildbahn zu überleben. Man kann es sich heute kaum mehr vorstellen, wie die Urformen dieser Pflanzen ausgesehen haben. Beim Mais zum Beispiel würde der Laie die Urform gar als unterschiedliche Pflanze wahrnehmen. Und all das ging einher mit enormen Veränderungen im Genom dieser Pflanzen; komplette Genome wurden dupliziert oder sogar vervielfacht, Gengruppen wurden umgestellt oder gingen verloren. Man muss sich auch klar machen, wie rasant sich die Landwirtschaft in den letzten 100 Jahren entwickelt hat: Stickstoffdüngung, Mechanisierung, Grüne Revolution,2 chemischer Pflanzenschutz, Hybridzüchtung, bis hin zur industrialisierten Landwirtschaft und der wissenschaftsbasierten biotechnologischen Revolution, wie wir ihr heute gegenüberstehen. Die Veränderungen sind dramatisch! Diese Entwicklungen in der Landwirtschaft wurden über lange Zeit nicht bewusst wahrgenommen, gerade weil die landwirtschaftliche Produktion lokal getrennt ist von den Orten, an denen wir leben und arbeiten. Wie bereits erwähnt, setzt man sich nun in der Diskussion um die Grüne Gentechnik intensiv mit den Methoden in der Landwirtschaft auseinander und realisiert diese gewaltigen Veränderungen. Hier sehe ich einen weiteren Grund, wieso die Debatte um die Grüne Gentechnik die Gemüter so erhitzt. Warum wird diese Diskussion denn eigentlich so emotional geführt? Zum einen geht es letztendlich darum was wir essen! Recht viel näher kann einem Menschen eine Thematik kaum gehen. Zum anderen ist die Art des Eingriffs in die Natur mittels Gentechnik eine deutlich andere als die mit den klas 2 Anm. Red.: Als Grüne Revolution bezeichnet man die in den späten 1950er Jahren begonnene Entwicklung von Hochleistung-/Hochertragssorten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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sischen Methoden der Pflanzenzüchtung. Obwohl man auch sagen sollte, dass die Grüne Gentechnik als konsequente Fortführung der Technisierung bzw. Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft gesehen werden muss. Und eine derart neue und komplexe Technologie erzeugt Ängste in der Bevölkerung, die sich offensichtlich kaum ein Bild davon machen kann, was an gentechnisch veränderten Pflanzen so andersartig ist. Einer Pflanze sieht man nicht an, ob sie gentechnisch verändert worden ist oder nicht – hier greifen die gewohnten Wahrnehmungsmuster nicht. Umso wichtiger ist es, diese Methoden verständlich zu erklären. Für den Laien ist Nicht-Wissen immer auch ein Grund zur Sorge, anders als in der Wissenschaft, dort stellt Nicht-Wissen die Ressource für Forschung dar. Die Möglichkeiten, Pflanzen mittels Gentechnik zu verändern, sind nicht nur in Bezug auf die zeitliche Umsetzung, sondern auch hinsichtlich der Art der Veränderung enorm. Und der Ort an dem das stattfindet, das Labor, wird von Menschen, die selbst keinen Zugang zur Molekularbiologie haben, als sehr artifiziell angesehen. All das befördert eine vorsichtige, zumal skeptische Grundhaltung. Wie sieht das Naturbild eines Molekularbiologen denn aus? Viele stellen sich vor, dass Molekularbiologen die Natur als eine Ressource betrachten, aus der sie sich wie aus einem Baukasten bedienen können. Die damit verbundene Vorstellung, dass man durch dieses Verfahren der Natur einen eigenen Stempel aufdrückt, würde ich lieber Neugierde nennen. Das Interesse daran zu verstehen, was eine Pflanze ausmacht, steht am Anfang. Anschließend entwickelt man Ideen, wie man das Wissen anwenden könnte. Ich spreche hierbei von universitärer Grundlagenforschung; im privatwirtschaftlichen Sektor ist der Fokus ein anderer, das sind zwei völlig unterschiedliche Bereiche. Eine grundlegende Rolle bei der wissenschaftlichen Arbeit spielt der oft unterschätzte Umstand, wie sehr sich ein Wissenschaftler mit dem identifiziert, woran er so lange und intensiv arbeitet. Der Naturwissenschaftler neigt dazu, erst einmal reduktionistisch zu denken, tief in Details einzutauchen, denn nur dort kann er in Laborversuchen ansetzen. Das kann schon mal dazu führen, dass man die Dinge sehr technisch sieht und den Blick für Zusammenhänge oder auch Stimmungsbilder verliert. Dagegen schreiben Gentechnikgegner der vom Menschen unberührten Natur oft einen sehr hohen, manchmal fast absoluten Wert zu. Diese Naturbilder sind grundsätzlich unterschiedlicher Art, was die Diskussion so erschwert. Manchmal hat man den Eindruck, es ginge gar nicht um das Für oder Wider der Gentechnik, sondern vielmehr um einen Konflikt zwischen konträren Naturvorstellungen. Dabei scheint aus meiner Perspektive besonders problematisch, dass öffentliche Dispute häufig nicht die Chance bieten, eine von der Sache her argumentierende, vertiefende Diskussion zu führen. Hätte man die Chance, könnte man © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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als Molekularbiologe erläutern, dass gentechnisch veränderte cis-gene Pflanzen3 keine artfremden Gene tragen, markerfreie transgene Pflanzen4 und sehr viel spezifischere Promotorsysteme5 Stand der Technik sind – gar nicht zu vergleichen mit manchen transgenen Pflanzen der ersten Generation. Leider ist es meist so, dass in solchen Diskussionen sehr plakativ argumentiert wird, um sich eindeutig zu positionieren und eine bestimmte Klientel zu bedienen. Diskurse leben zwar von Polarisierung, denn nur Polarisiertes lässt sich transportieren, aber es sollte nicht zu dogmatisch verhärteten Positionen führen. Oder aber die Diskussionsforen sind einseitig besetzt, was zwar zu Konsens führt, aber die Debatte nicht voran bringt. Annäherung ist so kaum möglich, an Zusammenarbeit ist gar nicht erst zu denken. Was kann man da anders machen? Als Wissenschaftler sollte man besonders in öffentlichen Foren darauf achten, Fachwissen allgemeinverständlich zu präsentieren. Fachwissenschaftler stecken doch tief in ihren Materien und halten vieles für selbstverständlich. An der Stelle ein Beispiel, wie eine solche Diskussion oft geführt wird: Kürzlich konnte ich bei einer Fernsehdiskussion über Grüne Gentechnik beobachten, dass auf die Frage, ob man in die Natur eingreifen dürfe, wo die Grenzen seien und wie man solche definiere, die Emotionen sehr hochkochten. Befürworter haben mit den Chancen argumentiert, welche die Gentechnik berge und denen man sich nicht verschließen solle. Gegner sprachen sich kategorisch gegen eine Veränderung im pflanzlichen Erbgut durch Gentechnik aus und gaben die unkalkulierbaren Risiken zu bedenken. Beide Positionen nahmen hierbei Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch und sprachen diese der anderen Seite, zumindest teilweise, ab. Zu einer konstruktiven Diskussion kam es nicht, da alle anein­ ander vorbeiredeten und die Situation zu verfahren und irgendwann auch emotional zu aufgeladen war. Wenn die Debatte um die Grüne Gentechnik auf den Risikodiskurs beschränkt bleibt, eröffnen sich keine Lösungen. Ein gewisses Restrisiko bleibt bei jeder neuen Technologie, was jedoch kein Ausschlussargument sein sollte. Wenn Risiken diskutiert werden, sollte zwischen theoretischen und realen Risiken unterschieden und auf Strategien des Risiko­managements eingegangen werden. Interessanterweise sehen andere Kulturen das ganz anders, US-Amerikaner zum Beispiel. 3 Mittels Gentechnik erzeugte Pflanzen, bei denen artgleiche DNS ins Genom eingebracht wird. 4 Bei markerfreien transgenen Pflanzen wird der für Selektionszwecke mittransformierte Marker, der oft eine Antibiotika-Resistenz vermittelt, nachträglich entfernt. 5 Promotoren sind DNS-Abschnitte, welche das Ablesen nachgeschalteter Gene regu­ lieren. Es gibt Promotoren, welche ein Gen permanent exprimieren und spezifische Promotoren, welche nur unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise Pathogenbefall der Pflanze aktiv sind. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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In den USA wird Grüne Gentechnik wahrscheinlich positiver bewertet? Genau. In einer Studie6 ging es um die Frage, wie Deutsche und US-Amerikaner zur Biotechnologie stehen und welche Assoziationen sie mit Natur verbinden. Die Studie hat gezeigt, dass Deutsche eher eine idealisierende Vorstellung von Natur haben, US-Amerikaner hingegen Natur wertneutraler wahrnehmen. Das mag einer der entscheidenden Gründe für die unterschiedliche Bewertung der Grünen Gentechnik sein. Die Ursachen für diese unterschiedliche Wahrnehmung und Wertzuschreibung sind wohl vielfältig. Ein Punkt könnte sein, dass Deutschland, im Vergleich mit den USA, von einer größeren Nähe von Landwirtschafts- und Wohngebieten geprägt ist. Deshalb wird in Deutschland das »Was« und »Wie« in der Landwirtschaft unmittelbarer wahrgenommen. In den USA ist das anders. Deutschland ist zudem weniger häufig von Natur­katastrophen betroffen als die USA. Extreme Dürren, Blizzards und Hurrikans gibt es in Deutschland nicht, so dass die Natur als weniger bedrohlich empfunden wird. Darüber hinaus hat in Deutschland die hohe Bevölkerungsdichte und die Folgen der Industrialisierung schon sehr früh zu starken Eingriffen in die Natur geführt, welche auch unmittelbar wahrgenommen wurden. Der »unberührten« Natur wird deshalb in Deutschland ein sehr hoher Wert zugemessen. Während die Siedler in den USA sich einem scheinbar unbegrenzten Land gegenübersahen, das es urbar zu machen und zu bändigen galt. Also wirkt sich auch unser kultureller und geschichtlicher Hintergrund prägend auf die Naturvorstellungen und somit auch auf unsere Haltung bezüglich der Grüne Gentechnik aus? Natur mit Idyll gleichzusetzen, ist eine Eigenart unserer urban-industriell geprägten Gesellschaft. Mit Beginn der Industrialisierung wurde die Natur als Gegenstück zur Kultur gesehen und idealisiert. Noch im Mittelalter wurden beispielsweise Gebirge wie die Alpen als bedrohlich und abschreckend wahrgenommen. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts sind die Alpen bereits ein beliebtes Reiseziel und Ausgangspunkt für romantische Naturbetrachtungen. Heute fungieren sie als Tourismusmagnet. Dieser Wahrnehmungswandel ist fundamental. Ein Grund könnte vielleicht darin liegen, dass der moderne Mensch der Natur seinen Lebensunterhalt nicht mehr abtrotzen muss und sie deshalb kaum noch als bedrohlich empfindet. Natur in modernen Gesellschaften steht vielmehr in direktem Kontrast zur urbanen, von Technik geprägten Welt des Alltags und wird insofern stark idealisiert.

6 Anm. Red.: hierzu Magdalena Sawicka, Naturvorstellungen und Grüne Gentechnik, in: Roger J. Busch, Gernot Prütz (Hrsg.), Biotechnologie in gesellschaftlicher Deutung. München 2008, 169–183. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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David Blackbourn hat u. a. am Beispiel des Rheins sehr gut beschrieben, dass sich unsere Kulturlandschaft über die Zeit dramatisch verändert hat.7 Der Mensch hat den Rhein zuerst in ein für seine Zwecke dienliches Korsett gezwängt, um ihn anschließend wieder zu renaturieren. Vom ursprünglichen Zustand vor dem ersten menschlichen Eingriff ist nicht viel übrig geblieben. Aber das nimmt man gar nicht mehr wahr. Man hat nicht den Eindruck von einer künstlichen, technik-geprägten Landschaft. Es ist eine Frage der Eingriffstiefe und der direkten Vergleichbarkeit der Veränderung, hierbei ist der zeitliche Abstand wichtig. Es ist interessant, dass Begriffe wie »Natur« oder »Natürlichkeit« oft so gebraucht werden, als ob sie allgemeinverbindlich definiert wären. Dabei fällt es einem schwer, zu beschreiben, was mit diesen Begriffen genau ausgesagt wird. Zudem wird mit ihnen eine moralische Wertung transportiert. Was als natürlich angesehen wird, ist nicht fixiert, sondern ändert sich im Laufe der Geschichte. Deshalb kann es auch keinen absoluten Begriff des »Natürlichen« geben. Dabei hängt die Bewertung der Grünen Gentechnik wohl entscheidend von den Naturvorstellungen ab. Naturbilder spielen auch eine zentrale Rolle für unsere Rechtsvorschriften. Die Juristin in unserer Gruppe, Birgit Lemmen, hat das sehr schön herausgearbeitet und uns in unseren Treffen im Rahmen des Schwerpunktes dargestellt.8 Warum tut sich die Grüne Gentechnik so schwer in Deutschland? Man hat sich eigentlich schon dagegen ausgesprochen, noch ehe der Nutzen sichtbar war. Letzterer ist nicht nur ökonomisch zu sehen. Die Grüne Gentechnik hat auch ökologische Vorteile und kann für die Gesundheit des Menschen von Nutzen sein sowie sie einen Beitrag zur Nachhaltigkeit zu liefern vermag. Für die Nutzenbewertung wären überzeugende Beispiele nötig, die es aber derzeit nicht gibt, weil entsprechende transgene Pflanzen speziell für den deutschen Markt nicht entwickelt wurden beziehungsweise noch nicht eingesetzt worden sind. Der Anbau einer Phytophtora-resistenten Kartoffel9 beispielsweise könnte so einen Durchbruch darstellen und die Nützlichkeit klar aufzei 7 David Blackbourn, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der Deutschen Landschaft. München 2007, insb. Kap. 2. (Engl. Originalausgabe: The Conquest of Nature: Water, Landscape, and the Making of Modern Germany. London 2006). 8 Anm. Red.: Eine genauere Ausführung zu den verschiedenen Idealtypen und der Frage, welche davon bei den Gentechnikgesetzen zum Tragen kommen, gibt der Beitrag von Birgit Lemmen in diesem Band. 9 Anm. Red.: Phytophtora infestans, ein pilzliches Pflanzenpathogen, ist der Erreger der Kraut- und Knollenfäule der Kartoffel. Diese Kartoffelkrankheit verursacht regelmäßig hohe Ernteausfälle. Die Kraut- und Knollenfäule kann mit verschiedenen Fungiziden bekämpft werden, dazu sind jedoch viele Spritzungen pro Saison notwendig. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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gen. Die Grüne Biotech-Industrie hat zu Beginn zu viel versprochen, es wurden Erwartungen geweckt, die nicht oder nicht in einem überschaubaren Zeitrahmen zu erfüllen waren. Dass ein konkreter Nutzen den Einsatz einer Technologie befördern kann, sieht man an einem Beispiel aus Indien: eine transgene insektenresistente Baumwolle wurde schon vor der Genehmigung von den Bauern selbst verbreitet, um von den höheren Erträgen und Einkommen profitieren zu können. Eine Entscheidung »mit den Füßen«, sozusagen.10 Der Einsatz der Gentechnik hat sich in der Medizin durchgesetzt. Warum ist das bei der Grünen Gentechnik anders? Ja, das ist sehr interessant. Wenn man sich den Diskurs über den Einsatz der Gentechnik in der Medizin in Erinnerung ruft, fällt auf, dass das Thema anfangs sehr intensiv und kontrovers diskutiert wurde. Die ethischen Gründe für den Einsatz waren jedoch so überzeugend, dass sich die Technologie durchgesetzt hat. Bei der Grünen Gentechnik ist das offenbar anders. Derzeit ist in Deutschland die Mehrheit der Bevölkerung gegen Grüne Gentechnik – wie das im Einzelfall begründet wird, ist wieder eine andere Frage – und Mehrheitsmeinungen sind in einer Demokratie wichtig. Man darf diese nur nicht mit Wahrheitsfindung gleichsetzen. Meiner Meinung nach gibt es bei der Bewertung von Technologien auch Moden. Derzeit kann man von einer Bio-Mode sprechen. Der Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft wird unter diesen Voraussetzungen nicht einfacher. Die bereits angesprochene skeptische Grundhaltung wird zudem von der medialen Berichterstattung oft aufgegriffen und in Stimmungsbilder gegen die Grüne Gentechnik umgesetzt. Eine gängige These der Befürworter der Grünen Gentechnik ist, dass die Grüne Gentechnik das Problem des Welthungers lösen kann. Nein, dieser Auffassung bin ich nicht. Dieses Thema ist viel zu komplex und vielschichtig, als dass es »einfache« Lösungen gäbe. Trotzdem würde ich sagen, dass die Grüne Gentechnik einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Welternährung leisten kann. Sollten sich beispielsweise die klimatischen Bedingungen ändern, werden unsere Nutzpflanzen schnell wechselnden Umweltfaktoren, wie Trockenheit oder Überflutung, ausgesetzt sein. Das würde sehr wahrscheinlich auch zu einem sich zügig ändernden oder verstärkenden Pathogendruck auf diese Pflanzen führen. Hier könnten Ansätze, die auf klassischer Züchtung basieren unter Umständen zu langsam greifen. Auch der Nachhaltigkeitsgedanke ist hierbei sehr zentral, nicht nur, dass man zum Beispiel Wasser für die Bewässerung entsprechender Pflanzen einsparen könnte, sondern gerade in strukturschwachen Gebieten, in denen die entsprechende Bewässe 10 Anm. Red.: Dies wird im Beitrag von Jonas Kathage in diesem Band nochmals ausführlich erörtert. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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rungstechnologie fehlt, wären Pflanzen mit verbesserter Wassereffizienz wichtig um Ertragssicherheit zu gewährleisten. Unabhängig davon sind die klassische Pflanzenzüchtung, insbesondere von lokal angepassten Sorten, sowie moderne Züchtungsmethoden, die auf molekularen Markern oder der Hochdurchsatzsequenzierung basieren, unverzichtbar, um landwirtschaftliche Erträge in Zukunft zu sichern. Hierzu können auch andere Formen der Landwirtschaft, welche einen höheren Ertrag pro Fläche ermöglichen einen entscheidenden Beitrag leisten. Dass beim Thema Welternährung soziale Fragen, wie die Umverteilung und der Umgang mit Lebensmitteln, Kriege, Korruption und die Subventionspolitik eine kritische Rolle spielen, steht außer Frage. Leider verteilt sich der Grüne Bio-Technologie Markt auf nur einige wenige Firmen und die vermarkten ihr Saatgut energisch. Dass es diese Marktkonzentration gibt, ist unbestritten, ebenso, dass dadurch Abhängigkeiten erzeugt werden. Die Gründe hierfür sind vielschichtig: höhere Forschungs- und Entwicklungskosten sind hierbei sicherlich bedeutende Faktoren. Meiner Meinung nach sollte man bei der Diskussion um die Grüne Gentechnik die unterschiedlichen Bereiche strikter trennen. Wenn es um Fragen der Technologie geht, sollten diese auch als solche diskutiert werden. Genauso wie jede transgene Pflanzenlinie für sich bewertet werden muss. Eine Einzelfallbewertung ist auch deshalb wichtig, weil es der Bevölkerung zeigt, dass man deren Ängste vor Risiken ernst nimmt und jeden Einzelfall daraufhin untersucht. Daneben gibt es noch eine Reihe anderer Bereiche, wie die Vermarktung und die Distributionsstrategien transgenen Saatguts. Obwohl die angesprochenen Themenbereiche zu dem Diskurs dazugehören, sollten sie nicht gekoppelt diskutiert werden. Wie sollten ihrer Meinung nach unterschiedliche Pflanzenlinien bewertet werden? Ich bin der Auffassung, dass die Qualität der Pflanzenlinien und nicht die Methode mit der diese erzeugt wurden bewertet werden sollte. Chemische oder durch Bestrahlung ausgelöste Mutagenese kann zu Pflanzenlinien führen, welche viel umfangreichere Veränderungen im Genom aufweisen, aber wesentlich weniger stark reguliert sind als transgene Pflanzen. Der transgene Ansatz ist dagegen von der Herangehensweise deutlich fokussierter und die Veränderungen im Genom meistens viel weniger umfangreich. Wobei transgene Pflanzen artfremde DNS tragen. Immer wenn die Artgrenze zwischen Spender- und Empfängerorganismus überschritten wird, sollte sehr genau beobachtet werden, wie sich das Transgen in dem neuen genetischen Kontext auswirkt. In der öffentlichen Wahrnehmung wird das Überschreiten der Artgrenze sehr kritisch gesehen. Hier kommen die angesprochenen Naturbildern zum Tragen und die Frage, wie weit der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Eingriff in die Natur tatsächlich gehen soll. Die Entscheidung ist in diesem Falle besonders schwierig, da gerade bei transgenen Ansätzen auch sehr große Potentiale liegen! Aber auch große Probleme! Über den Anbau von transgenen Pflanzen wird immer wieder kontrovers diskutiert, gerade in den Ländern, die landwirtschaftliche Produkte für die Industrienationen anbauen. Zum Beispiel über den Anbau von transgener Soja. Es ist richtig, dass z. B. in Brasilien in großem Stil transgene Soja angebaut wird. Das hat jedoch ursächlich nichts mit transgener Soja zu tun. Soja wäre ohnehin angebaut worden, um die starke Nachfrage zu decken, ob gentechnisch verändert oder nicht. Für die Frage der globalen Lebensmittelproduktion ist zunächst entscheidend, dass sich die Lebensweise der Menschen ändern muss. Es ist unverantwortlich, dass ein immer größerer Teil der Pflanzenproduktion in die Tiermast geht, um die rasant steigende Nachfrage nach Fleisch zu decken. Der zusätzliche Flächenbedarf ist enorm, ebenso der Ressourcenverbrauch und die Umweltbelastung. Und das nur, um billiges Fleisch in immer größeren Mengen zu produzieren. Diese Entwicklung wird von jedem einzelnen Verbraucher mitbestimmt und muss von diesem auch verantwortet werden. Was transgene Soja anbelangt, so hat man mit dem Anbau von herbizidresistenten Sorten den Profit steigern können. Was, wie man weiß, jedoch eine sehr kurzfristige Lösung war. Es gibt inzwischen schon resistente Unkräuter. Wird auf großen Flächen sehr lange nur ein Herbizid eingesetzt, dann sind Resistenzen kaum vermeidbar. Das gilt für jede Monokultur und ist somit nicht ein spezifisches Problem der Gentechnik, sondern der Art wie man die transgenen Pflanzen in der Landwirtschaft eingesetzt hat. Transgene Linien müssen vernünftig in den Pflanzenbau integriert werden, hierfür sind umfassende Konzepte notwendig. Auch die diskutierte Gefahr des Biodiversitätsverlusts und Fragen zur sozialen Gerechtigkeit beim Einsatz transgener Pflanzen sind kein spezifisches Problem der Grünen Gentechnik. Eine große Verantwortung liegt auch bei den Biotechnologiefirmen, den Vertreibern gentechnisch veränderten Saatgutes und entsprechenden Regulierungsbehörden. Mangelndes Vertrauen in Wirtschaft, Wissenschaft, Institutionen und Behörden, und nicht so sehr ein zu geringer Informationsgrad, ist eine zentrale Ursache für die ablehnende Haltung gegenüber der Grünen Gentechnik in Deutschland.11 Gerade weil viele 11 Anm. Red.: hierzu Lilian Marx-Stölting, Ethische Aspekte und öffentliche Akzeptanz der Grünen Gentechnik, in: Pflanzenzucht und Gentechnik in einer Welt mit Hungersnot und knappen Ressourcen. Bayerische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Rundgespräche der Kommission für Ökologie. München 2012, 101–114. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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Menschen keine auf spezifischem Fachwissen basierende Entscheidung treffen können, welcher Position – derjenigen der Befürworter oder der Gegner – sie inhaltlich zustimmen, geht es weniger um Argumente, als vielmehr darum, wem man mehr Vertrauen schenkt. Es wird schnell deutlich, wie viele Wissenschafts-, Wirtschafts- und Lebensbereiche die Grüne Gentechnik berührt. In der Vergangenheit wurde bei der Einführung neuer Technologien häufig der Fehler gemacht, dass diese nur in getrennten Disziplinen gedacht und diskutiert wurden. Eine derart komplexe Thematik wie die Grüne Gentechnik kann sinnvollerweise nur mit holistischen Ansätzen in interdisziplinären Gremien bearbeitet werden. Damit das gelingen kann, müssen erst einmal ideologische Schranken durchbrochen werden. Wie würden Sie zusammenfassend die aktuelle Lage der Grünen Gentechnik in Deutschland bewerten? Im Moment steht die Mehrheit der Bevölkerung der Grünen Gentechnik skeptisch gegenüber. Wohl auch deshalb, weil ein konkreter Nutzen transgener Pflanzen in Deutschland noch nicht erkennbar ist. Dabei wird häufig übersehen, dass weltweit der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen beträchtlich ist und stetig zunimmt, die Technologie immer ausgefeilter wird und auch die begleitenden Sicherheitsstudien die befürchteten Risiken nicht bestätigen konnten. Zudem wird sich der Produktionszuwachs im Flächenertrag immer mehr auf die Züchtung konzentrieren, da die Potentiale im chemischen Pflanzenschutz und der Mechanisierung weitgehend ausgereizt sind. Es bleibt abzuwarten, wie sich dieser Diskurs weiter entwickeln wird. Ich kann mir jedoch gut vorstellen, dass sich in Zukunft die äußeren Bedingungen ändern und die Grüne Gentechnik auch in Deutschland positiver wahrgenommen und vielleicht sogar mehrheitlich akzeptiert werden wird. Dass sich ein wichtiger Vertreter der Grüne Biotechnologie gerade aus Deutschland zurückgezogen hat, macht es aber nicht gerade einfacher.12 Bei der Diskussion um die Grüne Gentechnik wird es immer unterschiedliche Meinungen geben, gerade weil bei der Bewertung der Grünen Gentechnik Naturbilder, und somit ganz grundlegende Ansichten zur Mensch-Natur-Beziehung, eine so zentrale Rolle einnehmen. Hier sind sicher Kompromisse erforderlich und die Bereitschaft, manchmal schon dogmatisch gewordene Positionen aufzubrechen. Nur so ist überhaupt eine konstruktive Diskussion möglich – und damit die Herbeiführung der möglicherweise besten Lösung. Für diese Lösung müssen auch die möglichen Folgen bei Nicht-Anwendung der Grünen Gentechnik bedacht werden. Der Einsatz der Grünen Gentechnik sollte nachhaltig, ökologisch und sozial gerecht er­folgen. Hierbei müssen relevante Aspekte zusammen betrachtet werden, damit für eine 12 Anm. Red.: Im Januar 2012 schloss die BASF ihre Gentechnik-Sparte in Deutschland und verlegte diese komplett nach North Carolina, USA. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

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spezifische Region und Feldfrucht die nachhaltigste Lösung gefunden werden kann. Eine Koexistenz von gentechnischen, konventionellen und ökologischen Kulturen ist meiner Meinung nach auch in Deutschland möglich. Wenn man ganz ohne Tabus an das Thema herangeht, gäbe es noch eine interessante Variante: Grüne Gentechnik im Ökolandbau. Schließlich ermöglicht der Anbau von Pathogen-resistenten transgenen Pflanzen die Gesunderhaltung der Pflanzen ohne den Einsatz von chemischem Pflanzenschutz. Ob das allerdings die Naturbilder zulassen, die unser Denken so stark beeinflussen, ist die Frage. Was waren für Sie die zentralen Ergebnisse der interdisziplinären Debatte, die Sie in den vergangenen zwei Jahren geführt haben? Ich habe mich oft gefragt, was an diesem Projekt so anders war, als bei den öffentlichen Diskussionen zum Thema Grüne Gentechnik, an denen ich teilgenommen hatte und bei denen sich die einzelnen Parteien ergebnislos und emotional erschöpft voneinander trennten. Ich glaube, es war der besondere Gesprächs-Raum. Es musste sich niemand profilieren, man war entspannt, interessiert und offen in der Diskussion. Verständigung lebt von der persönlichen Ebene, dazu muss man sich erst gegenseitig kennen lernen, versuchen die Motivationen und fachlichen Hintergründe zu verstehen und nicht zuletzt eben die Naturbilder erkennen, auf die man sich bezieht. Was mich am meisten zum Nachdenken gebracht hat ist, wie sich die oft nur im Unterbewusstsein aktiven Naturbilder, die stark von unserem persönlichen und gesellschaftlich-histo­ rischen Hintergrund geprägt sind, auf unsere Entscheidungen auswirken. Auf jeden Fall werde ich bei meinen nächsten Biotechnologie-Vorlesungen den Studierenden auch von Naturbildern erzählen und wie diese unser Denken und Argumentieren beeinflussen. Gerade in der frühen Phase der Karriere ist diese Interdisziplinarität sehr wichtig, um eine entsprechende Breite und Offenheit im Umgang mit komplexen Fragestellungen zu schaffen.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151

Beiträgerinnen und Beiträger

Prof. Dr. Dr. Ino Augsberg ist Inhaber eines Lehrstuhls für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Dr. Lena Bouman ist wissenschaftliche Referentin im Bereich der Naturwissenschaften und der Medizin am Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dipl. Soz. Barbara Brandl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mag. Christian Dürnberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut TechnikTheologie-Naturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Bernhard Gill ist Professor für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Georg Gusewski ist Mitarbeiter am Philosophicum in Basel. Dr. Julia Herzberg ist akademische Rätin am Lehrstuhl für Neuere und Osteuro­ päische Geschichte der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dr. Jonas Kathage ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für technologische Zukunftsforschung (IPTS) der gemeinsamen Forschungsstelle (JRC) der Europäischen Kommission. PD Dr. Martin Knoll ist Privatdozent am Institut für Geschichte der Technischen Universität Darmstadt. Birgit Lemmen ist Doktorandin am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Passau. Dr. Annette Meyer ist Geschäftsführerin des Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dr. Reinhard Pröls ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Phytopatho­ logie am Wissenschaftszentrum Weihenstephan der Technischen Universität München. Prof. Dr. Christian Rehmann-Sutter ist Professor für Theorie und Ethik der Biowissenschaften am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck. Dr. Stephan Schleissing ist Geschäftsführer des Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dr. Michael Schneider ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozio­logie der Ludwig-Maximilians-Universität München. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 9783647317151