Probleme des Weltkriegs: Aufsätze 9783486744309, 9783486744293


188 26 20MB

German Pages 136 [144] Year 1917

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
1. Geschichte und öffentliches Leben
2. Politische Kultur und öffentliche Meinung. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der englischen Kriegserklärung
3. Probleme des Weltkriegs
4. Staatskunst und Leidenschaften
5. Fürst Bülows Deutsche Politik
6. Die Reform des preußischen Wahlrechts
7. Der Rhythmus des Weltkriegs
Nachwort
Recommend Papers

Probleme des Weltkriegs: Aufsätze
 9783486744309, 9783486744293

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Probleme des Weltkriegs Aufsätze von

Friedrich Meinecke Professor cm ber Aniversttat Berlin

München unö Berlin 1917

Druck unö Verlag von R. Glbenbourg

Inhal?). Seite

1. Geschichte und öffentliches Leben.......................................... 1 2. Politische Kultur und öffentliche Meinung. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der englischen Kriegserklärung.............................. 10 3. Probleme des Weltkriegs................................................................ 35 4. Staatskunst und Leidenschaften............................. . . 58 5. Fürst Bülows Deutsche Politik.................................................... 71 6. Die Reform des preußischen Wahlrechts .... 82 7. Der Rhythmus des Weltkriegs................................................. 126

x) Die Aufsätze durften die Farbe des Momentes, in dem sie entstanden sind, nicht verlieren und haben deshalb nur die nötigsten, durch die inzwischen erfolgten Ereignisse veranlaßten Änderungen

und Zusätze erfahren.

Geschichte und öffentliches Leben. (Aus Jäckh, Der große Krieg als Erlebnis und Erfahrung [1916].)

PJJtne neue geschichtliche Epoche begann für die Welt und w voran für das deutsche Volk mit dem 1. August 1914.

Wir sagten es schon uns an jenem Tage, erhoben und

erschüttert zugleich von dem Schicksal, das über uns kam. Immer hatten wir es kommen und sich vorbereiten sehen,

und doch waren die überwiegenden Tendenzen unseres geistigen und politischen Lebens nicht eigentlich auf diesen Punkt gerichtet. Sie ergossen sich in breiter Fülle, sie gingen auseinander und gegeneinander, indem jede Kraft darauf aus war, sich selbst zu behaupten und durchzusetzen.

Bald konnte man meinen, daß das Leben des deutschen Volkes heillos verworren und getrübt sei, bald sich seines

wogenden und bunten Reichtums erfreuen.

Das eine

aber war sicher, das inmitten alles Schaffendranges dem Gesamtleben

unserer

Station

das

Bewußtsein großer Es fehlte

beherrschender und zwingender Ideen fehlte. Meinecke, Probleme de- Weltkrieg-.

1

2

Geschichte und öffentliches Leben.

uns nicht an lebendigen Idealen und an schöpferischem Glauben überhaupt. Aber wer ihn hatte, mußte sich darauf

beschränken, seinen Weg durch enge Gassen inmitten einer durcheinander drängenden Menge und mit versperrtem Ausblick ins Weite zu nehmen.

Der Krieg hat die Wege geweitet, die drängenden Massen in einträchtig wallende Scharen geordnet und

auf große und mächtige Ziele von unbedingtem und ver­ pflichtendem Werte gerichtet. In den Dienst des obersten

allbeherrschenden Zieles, den Bestand und die Unabhängig­ keit des Vaterlandes zu verteidigen und steten Atemraum

für seine politische und wirtschaftliche Zukunft zu erkämpfen, trat man ein mit dem Entschlüsse, nicht nur Gut und Blut

dafür zu opfem, sondem auch alle geistigen Lebensziele, die man bisher zersplittert und zersplitternd verfolgt hatte,

in einen inneren Zusammenhang mit ihm zu bringen.

Man organisierte nicht nur den Kriegsbedarf und die Wirt­ schaft, sondem begann es auch mit den eigenen Gedanken und Lebenstendenzen zu tun. Man begann es nur eben; denn die Aufgabe, auch auf diesem Gebiete innere Einheit

und Klarheit zu schaffen, drängte sich zwar unabweisbar auf, aber war unvergleichlich schwerer und langsamer

nur zu lösen. Wir hatten uns in den Zeiten vor dem Kriege in unserem Bemfsleben, in unseren politischen Interessen

und Wünschen, in unseren Welt- und Lebensanschauungen derart differenziert, daß der eine oft kaum noch die Denk-

und Empfindungsweise des anderen verstand.

Waren

wir überhaupt noch ein Volk mit einem einheitlichen Na­ tionalcharakter? Diese Frage, die man in den Zeiten vor

3

Geschichte und öffentliches Leben.

dem Kriege zweifelnd hätte aufwerfen können, ist ja durch den Krieg überwältigend und alle Zweifel niederschlagend

beantwortet worden. Wir sind es, sind uns dessen durch

eigenes Erlebnis und durch den einmütigen Haß der Feinde gegen unsere Sonderart wieder bewußt geworden.

Sie

dichten uns sogar, um uns mit Grund mißachten zu können, eine grobe und gemeine, herdentriebmäßige Einförmigkeit an, die nur eine Karikatur gewisser Wesenszüge und Ein­ richtungen unseres Lebens ist. Nicht zur Monotonie, son-

dern zur Harmonie streben wir, wenn wir auch die Welt unserer Gedanken und Ideale zu organisieren und in die

auseinanderstrebenden Wege der Einzelnen Berbindungs­ strecken und Brücken hineinzubauen versuchen.

Wir müssen es tun, weil schon das eigene Bedürfnis eines selbständigen Lebens es so verlangt. So hoch es auch den Wert der Persönlichkeit und ihrer eigenwüchsigen

sittlich-geistigen Entfaltung schätzt, so erschöpft es doch in ihr seine Aufgabe nicht. Nur in der Gemeinschaft vollendet

sich das Jndividunm, und aus der Wechselwirkung zwischen ihm und ihr entspringt alle echte und große Kultur. Und

insbesondere gilt dies von der Wechselwirkung, die zwi­

schen dem Einzelnen und der Volks- und Staatsgemein­ schaft besteht.

Sie zu heller und freudiger Bewußtheit

zu erheben, die Schranken, die sie hindem könnten, Hin­

wegzuräumen, heißt ein höheres und stärkeres Leben in beiden erwecken, heißt organisieren im höchsten Sinne. Und wir müssen es ferner tun, weil das Bedürfnis der Volks- und Staatsgemeinschaft es jetzt gebieterischer wie je verlangt. Wir haben, wie der Reiter vom Bodensee,

1*

Geschichte und öffentliches Leben.

4

den vollen Umfang der Gefahren, die uns beim Beginn

des Krieges umgaben, erst überschaut, nachdem wir sie überwunden hatten durch den Heroismus unserer kämpfen­

den Heere. Aber neue Gefahren stiegen aus den überwun­ denen sogleich auf. Wir können heute, auf der Höhe des dritten Kriegsjahrs und der Entfaltung der radikalsten

Vemichtuygsmittel hüben und drüben, nicht mehr sagen, daß wir den Umfang dessen, was aus dem Spiele steht, noch nicht zu überschauen vermöchten, sondem wir blicken ernst

und entschlossen in das eherne Angesicht des Schicksals.

Unser Wille allein gibt uns das stolze Recht zu unbedingter Zuversicht.

Aber die Weltgegnerschaft, die wir jetzt zu

bezwingen haben, wird sich von den Schlachtfeldern fort­

pflanzen auf Wrtschaft und Kultur, und unsere politische Lage wird, trotz der neuen Bollwerke, die wir gewinnen wollen, immer von Stürmen bedroht bleiben. Wir werden, um ihnen gewachsen zu bleiben, enger zusammengedrängt

als bisher leben müssen.

Die Gebote unserer äußeren

Weltlage werden in noch höherem Grade zu Gesetzen für unser inneres Dasein werden. Wir werden uns bewuß­ ter und bereitwilliger miteinander einzuleben haben und

die Unduldsamkeit und Ausschließlichkeit des Parteigeistes

allenthalben, wo wir ihm begegnen, dämpfen müssen,

damit in den großen und entscheidenden Lebensfragen der Nation in jedem Augenblicke ihre geschlossene Kraft hervorspringen könne.

Den Parteigeist innerhalb der Nation dämpfen, heißt nicht etwa, die Parteien selbst entnerven. Als Ausdruck

lebendiger gesellschaftlicher und geistiger Kräfte der Nation

Geschichte und öffentliches Leben.

5

sind sie nicht nur berechtigte, sondern auch notwendige Organe des Volks- und Staatslebens, Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft, die freilich nur durch Selbstzucht

und Maßhalten ihre Aufgabe für beide lösen können. Zwei Hauptforderungen muß man an sie richten. Einmal, daß

sie sich jederzeit verantwortlich auch für das Staatsganze mit

fühlen; und dann, daß sie das relative Recht, den positiven Lebensgrund

auch der

gegnerischen

anzuerkennen sich bemühen.

Parteien jederzeit

Beide Forderungen sind nur

zu erfüllen durch den, der die Kunst des historischen und

politischen Verstehens gelernt hat. So greift hier die Auf­ gabe der Geschichtswissenschaft und überhaupt der ge­ schichtlichen Geisteswissenschaften für das öffentliche Leben

ein. Nicht in erster Linie ihr Wissen, sondern ihre Kunst

des Verstehens, wie sie sich bei uns ausgebildet hat in einer mehr als hundertjährigen Übung, haben sie ihm zu bieten. Sie ist nur erreichbar für den, der eine tief menschliche Gesinnung in sich pflegt, dem nichts Menschliches fremd

bleibt, der sich einzufühlen vermag auch in die Gedanken­ welt seines Feindes.

Die reine wissenschaftliche Historie

will und muß auf diesem Wege noch weiter gehen als der handelnde

Staatsmann und

Staatsbürger.

Denn

es ist ihr Ehrgeiz, sich zum reinsten Spiegel der menschlichen

Dinge zu klären und die eigenen Wünsche dabei zum

Schweigen zu bringen.

Die Aufgabe des Staatsmannes

und Staatsbürgers dagegen ist, diese Dinge zu gestalten nach bestimmten Wünschen und Willensentschlüssen.

Das

rein historische Denken sieht, wenn es vor praktische Auf­

gaben gestellt wird, vielerlei ihm gleichberechtigt scheinende

6

Geschichte und öffenüiches Leben.

Wege des Handelns vor sich und wird deshalb leicht von der Fülle der Gesichte erdrückt, von den Skrupeln der Gewissenhaftigkeit geplagt. Es gleicht dem Wanderer, der durch eine Wiese schreitet und keine Blume, womöglich

keinen Halm zertreten möchte. Der handelnde Mensch

dagegen muß mit rascher Entschlußkraft sich für einen unter vielen Wegen entscheiden und ihn ohne Schwanken zu Ende gehen. Und doch muß auch sein Wollen und Ent­

schließen fortwährend durch Denken und Betrachten ge­ leitet werden. Auch er also bedarf jenes Spiegels, den das historische Denken und Verstehen ihm bieten kann.

Der geniale Staatsmann vermag, wie das Beispiel Bis­ marcks zeigte, ihn auch ohne bewußte Anleitung zu hand­ haben, und ein dauemdes Tragen staatlicher Verantwortung

kann ebenfalls zu einer leidenschaftslosen und ruhigen Würdigung menschlicher Lebensverhältnisse und auseinander­ strebender Parteiungen erziehen.

Es ist zu hoffen, daß

im neuen Deutschland möglichst viele Volksgenossen durch

diese Schule gehen und durch verantwortliche Leistungen für Staat, Gemeinde und Berufsgemeinschaft in das Verständnis der großen Gesamtinteressen wie der reichen

Verzweigungen des Nationallebens hineinwachsen. aber, wie

Soll

wir es uns wünschen, das politische Leben des

neuen Deutschlands, sein nach außen gekehrtes wie sein

nach innen sich wendendes, auf der Grundlage einer freien menschlichen Bildung wachsen, sollen Staat und Kultur in

ein inneres Verhältnis zueinander treten, so muß das, was wir als die Blüte der deutschen Geisteswissenschaften ansehen, der weltweite und aufgeschlossene Sinn für die

Geschichte und öffentliches Leben.

7

Vielgestaltigkeit und den unerschöpflichen Reichtum der geschichtlichen Menschheit, auch das politische Denken und Handeln

unserer Staatsmänner und Staatsbürger

be-

fmchten.

Mannigfach sind die Mttel, dies zu erreichen. Mehr noch als das Wort des Buches wirkt der lebendige Umgang Md Austausch von Person zu Person, wo die Stärken und Schwächen des handelnden wie des betrachtenden Menschen Mmittelbar aufeinander treffen und von einander lernen können. In den Zeiten vor dem Kriege bestand zwischen

dem öffentlichen Leben und den Geisteswissenschaften kein

gesundes und vertrauensvolles Verhältnis. Der Praktiker warf dem Gelehrten Absonderung und Welt­

gMz

fremdheit vor, der Gelehrte dem Praktiker Unverständnis für

feinere ideelle Werte und Zusammenhänge.

Oder es

erschienen dem Manne der schaffenden Arbeit die Früchte

Mserer geschichtlichen Bettachtungsweise nur als ein schöner Schmuck des Daseins, als eine ästhetische AusfMung für

die Mußestunden. PraMer dieses Schlages werden nie ganz verschwinden.

Aber sie werden sich in der neuen Zeit, der wir entgegen­

gehen, gefallen lassen müssen, daß man sie als rückständig und beschränkt, daß man sie als schlechte PraMer ansehen wird, Md daß nur der als guter PraMer gelten wird, dessen Hand nicht nur fest, sondern auch feinfühlig ist. Denn

die vielen schweren Probleme der inneren und äußeren

Politik, die uns der Friedensschluß und die ihm folgende Friedenszeit stellen werden, sind von der Art, daß sie nimmer­ mehr allein durch Routine oder durch grobe Kraft zu lösen

8

Geschichte und öffentliches Leben.

sind. Routine und grobe Kraft haben es beide an sich, daß sie nur den Bezirk der eigenen kleinen Persönlichkeit kennen und, die eine aus geistiger Trägheit, die andere aus roher Überhebung stumpf und blind werden gegen alles übrige Eigenleben in der Welt.

Und doch ist das

deutsche Volk im Verlauf seiner Geschichte noch niemals gleich­

zeitig vor eine solche Fülle von Problemen, die aus dem

geschichtlichen Eigenleben, seinem eigenen, wie dem der benachbarten Völker entspringen, gestellt worden. In den Nöten unserer früheren Geschichte hatten wir wesentlich nur mit uns selbst fertig zu werden. Ohne daß wir sagen

dürften, daß uns dies schon ganz gelungen wäre und schwer belastet mit noch unerledigten Aufgaben unseres inneren

Staatslebens, sind wir nun dermaßen in die uns umgebende Welt hineingewachsen, daß uns auch ihre Nöte und Pro­ bleme mit aufgewälzt werden. Die mitteleuropäische, die polnische, die belgische Frage, die Art der Verknüpfung

deutscher und türkischer Interessen, das Verhältnis zu den Balkanstaaten, die Freiheit der Meere, die Abwehr des

Wirtschafts- und des Kulturkrieges, den die romanischen und

angelsächsischen Nationen uns erklärt haben, — nirgends sehen wir runde und einfache Lösungen möglich, überall gilt es, mit Kraft und Geschmeidigkeit, mit einfühlendem

Verständnis und festem Entschlüsse zugleich neue Wege zu finden, die zum Erreichbaren und Möglichen, recht ost auch

nur zum Erträglichen uns führen müssen. Nur der innigste Bund von Praxis und Wissenschaft kann das leisten, und über­

all sind wir fast ausschließlich auf unser eigenes Können an­ gewiesen und haben von der Hilfe ftemder Völker herzlich

Geschichte und öffentliches Leben.

9

wenig zu erwarten. Eine der größten Prüfungszeiten für

unsere geistige und politische Begabung steht uns bevor. Prägen wir uns nochmals ein, daß unser öffentliches Leben

der intensivsten Wechselwirkung von Energie und Geist heute bedarf.

Politische Kultur und öffentliche Meinung. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der englischen Kriegserklärung. (Internationale Monatsschrift April 1915].)

I.

jetzige Weltkrieg ist ein ganzer Komplex mehrerer

gleichzeitig geführter Kriege.

Es ist kein bloßer Zu­

fall, daß sie gleichzeitig geführt werden; die verschiedenen Ursachen und Anlässe greifen allenthalben ineinander über. Aber jede der miteinander verwickelten Streitfragen führte

und M)rt zugleich ihr besonderes Leben für sich und will auch in ihren Ursachen und ihren Werten besonders ge­ würdigt werden.

Das übermächtige politische Bedürfnis

des Augenblicks zwingt wohl dazu, den Komplex dieser

Fragen sich zu vereinfachen und sie anzusehen wie die Teile einer einzigen ungeheuer ausgedehnten Schlacht­ linie.

Das Hauptinteresse, für das wir kämpfen, wird

dann zur Dominante für die Urteile, die wir über Wert oder Unwert, Recht oder Unrecht, Vorteil oder Nachteil

in allen übrigen miteinander jetzt auszukämpfenden Fragen

fällen. machen,

Mer man muß doch einmal darauf aufmerksam

daß dadurch bedenkliche Fehlerquellen sowohl

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

11

für das politische wie für das wissenschaftliche Urteil ent­ stehen. Die jetzt zusammen ausgefochtenen Fragen können

sich auch einmal wieder trennen; der Gewinn, den diese oder jene uns heute zu bieten scheint, kann sich morgen

in einen schweren Verlust verwandeln, und der Feind von heute kann übermorgen unser Freund oder wenigstens doch der Förderer unserer Interessen werden. Unsere innere

Einstellung gegen Japan z. B. ist heute, wo es die Interessen

Rußlands, Englands und Amerikas in China bedroht und

unsere Gegner in Verlegenheit bringt, schon merklich anders als in den Augustwochen 1914, wo es uns sein unverschämtes

Ultimatum sandte.

Ist es etwa ausgeschlossen, daß wir

noch einmal eine gewisse Interessengemeinschaft mit Japan erleben? Wenn es geschehen sollte, wollen wir uns davor

hüten, heute ein crucifige und morgen ein Hosianna zu rufen, sondem mit kühlem Kopfe und offenem Auge dem japanischen

versuchen.

Probleme

von allen

Seiten beizukommen

Die politische und die historische Forderung

stimmen darin überein: den Moment zwar kräftig zu ergrei­ fen, aber zugleich über dem Momente frei zu schweben

und sich von allen Befangenheiten frei zu halten, in die

man gerät, wenn man nur an Nutzen oder Schaden des

Augenblicks denkt.

Das Ideal wäre eine Vereinigung

dessen, was höchste Aktivität und höchste Kontemplation zu leisten vermögen.

Das würde man dann „politische

Kultur" im eigentlichen Sinne nennen können. Sollte es nicht dem Deutschen künftig vielleicht besser

liegen, hiemach zu handeln, als unserem Hauptgegner, dem Engländer? Die Elemente dazu sind heute anscheinend

12

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

bei uns reicher vorhanden als in England. Unsere Wissen­

schaft kann, ohne sich zu überschätzen, ihrer universalen Emp­

fänglichkeit, ihrer methodischen Strenge und zum mindesten

ihres Wunsches, nationale Vorurteile zu überwinden, sich rühmen. Unser praktisches Leben aber vereinigt dieselbe methodische Gründlichkeit mit Energie und Entschlossenheit.

Dazwischen liegt freilich eine breite Sphäre der öffentlichen Meinung mit einem noch recht unerzogenen, triebartigen Füh­

len und Denken, innerhalb deren zumal die Beurteilung machtpolitischer Fragen ähnlich auf und niederschwanken

kann wie ein steuerloses Schiff bei Wind und Wellen. Immer­ hin aber gibt es bei uns eine weitverbreitete ritterliche Emp­ findungsweise, die man als eine propädeutische Vorstufe zu leidenschaftsloser Sachlichkeit ansehen darf. Auch unser

Durchschnittsdenken ist nicht selten imstande, den Motiven des Gegners dann gerecht zu werden, wenn sie einen an­ ständigen und ehrenhaften Kern enthalten. Der gemeine

Mann bei uns versteht, daß der belgische Soldat sich tapfer wehrte gegen uns. Er grollt selbst dem Franzosen nicht,

den er zur Wiedereroberung Elsaß-Lothringens das Schwert ergreifen gesehen hat, und bleibt innerlich ganz ruhig bei den wilden Ausbrüchen seiner Wut. Nur die innere Roheit,

wehrlose Gefangene zu beschimpfen und zu mißhandeln,

kann und wird er ihm nie vergessen. Aus der unverdorbenen Wurzel dieser ritterlichen Empfindung, die mitten im heißen Kampfe den Gegner zu grüßen vermag, kann mit der Zeit durch politische Erfah­ rung und Erziehung auch jene politische Kultur bei uns sich herausentwickeln, die wir als Ideal vor Augen haben.

Politische Kultur und öffenlliche Meinung.

13

Mit ihr ausgerüstet könnten wir dann unseren letzten und höchsten Sieg über England erringen.

Bor dem Kriege erschien freilich

vielen

von uns

England als das Land der höchsten politischen Kultur.

Mr gehören nicht zu denen, die jetzt mit einem Male alle Götter verbrennen wollen, die sie vor dem Kriege ange­

betet haben. Das englische Staatsleben und der politische

Geist des Engländers hat seine großen und bewunderungs­

werten Züge,, die uns jetzt wohl verdunkelt erscheinen, aber die darum nicht aus der historischen Welt verschwunden nnd. Aber durch diesen Krieg sind gewisse Berfallserscheisiungen an den Tag getreten, die zu der alten Vorstellung

von der politischen Erbweisheit des Engländers nicht mehr recht passen. Was wir im Sinne haben, steht im engen Zu­ sammenhänge mit dem, was wir im Eingang sagten.

Gerade der Engländer neigt von jeher dazu, „Do­ minanten" der verschiedenen, miteinander verflochtenen

Interessen sich zu bilden und mit massivem Instinkte seinem

jeweiligen Hauptinteresse alle übrigen Dinge praktisch und theoretisch unterzuordnen.

Als vor 1846 gegen die eng­

lischen Komzölle gekämpft wurde, schrien die Gegner vom Morgen bis zum Abend: „Nieder mit den Komzöllen"

und rannten stiermäßig gegen sie an, ohne nach rechts und links zu sehen. Eine ungeheure Stoßkraft des politi-

schen Mllens wird dadurch entwickelt, fteilich auch eine ungeheure Einseitigkeit, die über alle Neben- und Seiten­ interessen rücksichtslos hinwegstürmt. Nur dasjenige er­ scheint dann noch als wichtig, als richtig und als wahr, was dem augenblicklichen Hauptzwecke dient. Wahr ist dann

das, was mir nützt. Man wird sich erinnern, daß gerade auf angelsächsischem Boden, in Nordamerika, jene ntilitarische Lehre vom Wahrheitsbegriff ausgebildet worden ist, die man den Pragmatismus nennt. Die Engländer haben sie praktisch vorgelebt. Sie leben sie auch heute mit erstaunlicher Energie uns vor und glauben, wie es doch scheint, ganz emsthaft an viele der Lügen, die sie als Waffen gegen uns in die Welt versenden. All ihr Denken, Wollen und Handeln ist jetzt stiermäßig aus den Gedanken konzentriert: „Nieder mit Deutschland". Um das zu erreichen, wird Rußland, der bisher von ihnen verabscheute Hort des Despotismus, mit einem Male in einen Hort politischer Freiheit und Mensch­ lichkeit umgedeutet, wird ihm der Weg nach Konstanünopel geöffnet, wird den Japanem die Pforte Chinas geöffnet, die man jetzt freilich schon mit Angst geöffnet sieht. Boran aber versucht man, Deutschland wirtschaftlich und geistig in Grund und Boden zu treten. Die völlige Umwertung der Werte, die sich unsere Kultur nun jenseits des Kanals gefallen lassen mußte, gehört zu den lustigsten, freilich vielleicht auch traurigsten Erscheinungen dieses Krieges. The fallen idol nannte die Times vom 8. Januar 1915 die deutsche Kultur, die nach der Auffassung der breiten Massen in Deutschland doch nur the universal rule of the drill-sergeant bedeute. Die Leistungen Goethes und Kants stünden ja noch hoch da, aber das moderne Deutsch­ land habe relativ wenig schöpferische Geister hervorge­ bracht. Darauf meldete sich ein paar Tage später, am 8. Januar, Clifford Allbutt aus Cambridge in der Times

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

15

und fragte: Ist denn Goethes Lehre und Beispiel so fern

von dem, was heute deutsche Art ist? Goethes Leben war ya life of enlightened, deliberate and colossal self-develop-

ment und werde, nachgeahmt von kleineren Menschen,

Mr Megalomania. In Goethe seien die Wurzeln des Deutsch­ lands des 20. Jahrhunderts, Goethe habe seine Mutter in ihren letzten 10 Jahren nie besucht! — Ein anderes

Beispiel.

Professor Cramb,

der inzwischen verstorbene

Historiker am Queens College zu London, hat in seinen 1913 gehaltenen Vorlesungen über Deutschland und Eng­ land sein Volk auf den bevorstehenden größten Entschei­ dungskampf seiner Geschichte, den Krieg gegen Deutsch­

land, vorzubereiten gesucht und dabei den berühmten „Tip" ausgegeben, der dann von der ganzen angelsächsi­ schen Welt nachgeleiert wurde, daß Treitschke, Nietzsche und Bemhardi die Exponenten des modernen deutschen Geistes seien.

Dieser Tip war zwar nicht richtig, aber

wurde, obgleich Treitschke in England bis dahin fast ganz

unbekannt war, als überaus wahr und treffend erklärt, weil er als überaus nützlich erschien. Immerhin fühlte man nun doch das Bedürfnis, sich über Treitschke etwas genauer zu orientieren, und so entstand in England und

Nordamerika eine ganze Treitschke-Kriegsliteratur, voran

das bissige Buch McCabe's „Treitschke and the great war“ und das ruhigere, eine Art von Anthologie aus Treitschke

bietende von Davis „The political thought of Heinrich

von Treitschke“.

Dem Crambschen Tip ist es passiert,

daß er, um nützlicher gemacht zu werden, noch etwas umge­

bogen wurde und dadurch noch unrichtiger wurde, als

16

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

er schon war. Cramb, dessen Vorlesungen trotz vieler histori­ scher Verzerrungen Geist und Schwung zeigen, stand

dem nach seiner Meinung von Treitschke repräsentierten

neudeutschen Geiste, obgleich er in ihm den großen und

niederzukämpfenden Feind seines Volkes sah, innerlich durchaus nicht gehässig gegenüber.

Er sah im deutschen

Gegner grandeur of soul, er ehrte in ihm das gemeinsame germanische Blut und schloß seine Betrachtungen mit dem Aufblicke auf Odin, die mächtige Gottheit der Teutonen,

der über den Wolken thronend ernst und freundlich auf den gewaltigen Helden- und Existenzkampf seiner Lieb­ lingskinder, der Engländer und der Deutschen, herab­ schauen werde.

Diese Vorstellung, daß ein gemeinsames

edles Blut in den Adern beider Gegner fließe, kann der Engländer, nun der Krieg entbrannt ist und schwarz-,

gelb- und braunhäutige Krieger dem einen der Odinsenkel helfen, anscheinend nicht mehr vertragen. Die Geschichte

muß helfen, die Wahrheit dessen, was nützlich ist, zu be­ weisen, und Ramsay Muir, Historiker an der Universität Manchester, und andere unterzogen sich flugs der Aufgabe,

ihre Landsleute über ihre Verwandtschaft mit uns zu be­ ruhigen.

Die Engländer, erklärten sie, gehören gar nicht

zu den Germanen, gehören vielmehr zu der von Rom aus

zivilisierten Bölkerwelt. Heute aber handle es sich um den

Kampf der ganzen nichtdeutschen gegen die deutsche Welt, „den Kampf der Ehre gegen Unehre, der gesetzlichen Freiheit

gegen die Tyrannei der brutalen Gewalt, der Moralität der Zivilisation gegen die Moralität des Dschungels" (Muir,

Britains case against Germany, S. 194).

17

Politische Kultur und öffenlliche Meinung.

Solche Töne erklangen in England, soweit wir sehen,

erst nach Ausbruch des Krieges. Die Feindschaft, die man

uns vorher entgegentrug, hatte einen Beisatz von ehrlicher Achtung, und man hatte noch nicht das Bedürfnis, das ganze geschichtliche Bild des deutschen Volkes und der

deutschen Kultur mit falschen Farben zu übermalen. Auch bei uns schlug der Haß gegen England nach seiner Kriegs­

erklärung gegen uns zu lichterloher Flamme empor, und manch wildes und geschmackloses Wort fiel in unseren Reihen. Aber so weit gingen wir doch nicht und wollen

und dürfen wir auch nicht gehen, unser ganzes Geschichts­ bild von England nunmehr umzuMpen und unsere ge­

schichtliche Erkenntnis in den Dienst der momentanen politischen Leidenschaft zu stellen. Die Autonomie der Kultur und der Wissenschaft soll nicht leiden, auch wenn wir unseren Kampf um Existenz und Macht mit unerbitt­

licher Energie führen.

Wir wollen keinen Kulturkampf

und keinen „Religionskrieg" — auch diese Hyperbel hat

man sich drüben geleistet — aus ihm machen. Uns graut vor dem Abgrunde, den die Engländer zwischen uns und

der übrigen Welt zu schaufeln sich bemühen, denn er ist

das Grab der Wahrheit. Was soll daraus werden, wenn dieser Krieg vorübergezogen sein wird?

Die Engländer

haben sich selbst mit diesem Abgrunde eine Grube gegraben, denn" sie schädigen damit die Bedingungen des künftigen Zusammenlebens der Völker in der Welt.

Hier sehen

wir jenes Verfallssymptom in der politischen Kultur Eng­

lands, von dem wir oben sprachen. Wenn in früheren Zeiten der Engländer seinen politischen Willen in leiben» Meinecke, Probleme der Weltlriegr.

2

18

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

schaftliche Formeln von robuster Einseitigkeit zusammen­

preßte, tat er es mit einem gewissen gesunden Instinkte.

War der Zweck erreicht oder erwies er sich als unerreich­ bar, so ließ die Leidenschaft sogleich nach, das Schreien

und Trampeln hörte auf, und der Kampf hinterließ keine vergifteten Wunden.

Der Riesenkampf Englands gegen

Frankreich im Zeitalter der Revolution und Napoleons

hat, wie hoch auch die Wogen in ihm gingen, das innere Verhältnis der Nationen und den Austausch ihrer Kultur­ güter nicht dauernd geschädigt. Die Agitation der Chartisten und das Sturmrennen der Antikornzolliga, selbst der Kampf um Home Rule, soweit er innerhalb des englischen Volkes

geführt wurde, hat das soziale Leben Englands nicht dauemd

verwüstet.

An diesem common sense, dem wir früher an

ihm bewundert haben, läßt es der Engländer heute fehlen. Hätte er noch die politische Kultur seiner großen Zeit, so müßte er sich sagen, daß der Wandel der Dinge ganz sicher noch einmal andere Koalitionen, als die heute sich gegenüberstehenden, heraufführen wird.

Rußland ist und

bleibt für Englands Weltinteressen ein säkularer Gegner,

und Japan und Nordamerika können es werden.

Die

Hochflut der Weltgegnerschasten, die heute gegen uns angeht, kann in künftigen Jahrzehnten gegen England emporschwellen.

Weitsichtige Staatsmänner pflegen sich

schon im Kriege zu fragen, ob der Gegner, den sie augen­ blicklich bekämpfen müssen, nicht noch einmal bündnis­ fähig werden könnte. Wahre Machtpolitik ist elastisch und flüssig und hütet sich, dauernd sich festzulegen cuf eine

Gegnerschaft und den momentanen Krieg zu einen: ewigen

19

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

Kriege zwischen Ormuzd und Ahriman zu machen. Das

England aber, das ein Volk von 68 Mllionen auszuhungern versucht wie einen belagerten Stamm von Kannibalen,

und es bis auf den Grund der Seele beleidigt durch seine ehrabschneiderischen Praktiken, wird in Menschengedenken

nicht bündnisfähig für Deutschland sein, wird immer und überall auf unseren Zom und unsere Verachtung stoßen.

Haß und Rache, sagt Bismarck, sind die schlechtesten Rat­

geber in der Politik.

Sie sollen unsere Ratgeber nie sein,

aber wir sehen, daß sie Englands Ratgeber sind.

Sollte

England sich doch noch einmal entschließen, sie zu entlassen, so werden wir die Selbstzucht üben müssen, die neue Lage

der Dinge anzuerkennen und die uns dargebotene Hand

zu ergreifen, wenn es ohne Schädigung unserer nationalen Ehre geschehen kann. Aber es sieht nicht danach aus, daß

es noch einmal geschehen könne. „Denn die Bande sind zerrissen. Das Berttauen ist verletzt."

II. Es gibt in der Entwicklung der öffentlichen Meinung in Deutschland und England am Vorabend des Krieges

ein sehr lehrreiches Beispiel dafür, wie die unbefangene Beurteilung eines Problems geschädigt und

politische

verdunkelt werden kann durch die Dominante eines Haupt­ interesses und wie selbst die schon gewonnene bessere Erkennt­ nis verloren gehen kann im Sturmwinde neuer polittscher Leidenschaften. Als Osterreich-Ungarn am 23. IM 1914 mit den schweren Forderungen seiner Note an Serbien 2*

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

20

herantrat, ging ein Zucken und Beben durch die ganze politische Welt. Jeder mußte sich die Frage vorlegen, ob die furchtbare Härte dieser Forderungen, die ein sou­

veräner Staat an den anderen stellte, berechtigt war, ob sie

politischer Notwehr oder aggressiven Gelüsten entsprang, ob hier ein Akt gesunder und vernünftiger oder überreizter und leichtfertiger Machtpolitik vorlag.

Es war gewisser­

maßen eine Schulaufgabe für historisch-politische Urteils­

fähigkeit, die hier gestellt wurde. Die bestehenden Allianzen und Interessengemeinschaften konnten und durften bei

der Beantwortung dieser Frage nicht vergessen werden. Jedes Volk hatte sich zu ftagen, ob es vom Standpunkte

des eigenen Nutzens oder Schadens aus das Borgehen Österreichs zu billigen habe oder nicht. Aber jeder politisch Denkende mußte zugleich imstande sein, das österreichisch­

serbische Problem in seiner eigener Farbe, in seinem eigenen individuellen Charakter zu sehen und die Staatsnotwendig­ keiten abzuwägen, die Österreich für seinen ungewöhnlichen Schritt anführte.

Jede dieser beiden Betrachtungsweisen

war zunächst rein für sich durchzuführen; erst aus der Ver­ gleichung ihrer Ergebnisse konnte ein reifes und umfassen­

des Urteil über die ganze Frage gewonnen werden. In Deutschland wie in England haben damals die

Wagschalen der öffentlichen Meinung gezittert und ge­ schwankt,

wie Instrumente einer Erdbebenwarte.

Die

Frankfurter Zeitung bemerkte in ihrem Abendblatte vom

24. Juli: Ob das Mittel der österreichischen Note das rechte sei, sei nicht über allem Zweifel erhaben. Man werde dem

serbischen Mnister Paschitsch jetzt Glauben schenken, daß

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

21

Österreich den Krieg wolle und nur auf eine Gelegenheit

dazu gewartet habe. Mer schon einige Tage vor der öster­

reichischen Note hatte sie eine tiefer greifende Bemerkung

gemacht. Es werde, schrieb sie im Abendblatt vom 20. Juli, für die Mener Regierung nicht leicht sein, Forderungen zu

formulieren, deren ErfMung ihr eine bessere Garantie

gegen neue Feindseligkeiten gebe, als die Unterwerfung Serbiens von 1909 ihr gegeben habe. Wenigstens könne man sich „schwer vorstellen, wodurch ein Staat gegen eine Politik, die aus Gesinnungen entspringt, geschützt werden

kann". Dieser Satz enthielt den fmchtbaren Kem zu einer

ganz objektiven Auffassung des Problems. Der Schreiber, der nichts weniger als blind österreichisch gesinnt war und

dringend die Vermeidung eines gewaltsamen Konfliktes

wünschte, erkannte doch dabei, wie notwendig, aber auch wie schwierig, ja eigentlich unmöglich es war, mit gewöhn­ lichen Mitteln Österreich vor der großserbischen Propaganda zu schützen. Der großserbische Gedanke war so tief eingedmngen in alle Poren des serbischen Staates, daß eine

friedliche Genugtuung, wie sie ein souveräner Staat dem anderen in solchen Fällen zumuten oder bieten kann, nicht mehr ausreichte, um Österreich in Zukunft sicherzustellen gegen die Unterwühlung seiner südflawischen Lande. Die Frankfurter Zeitung hoffte damals zwar, am 20. Juli, im Widersprüche zu ihrer tief skeptischen und pessimisti­

schen Erkenntnis, daß Serbien, um das Verbrechen seiner Untertanen zu sühnen, freiwillig tun werde, was es aus

Pflicht schon tun müßte.

Diese Hoffnung schlug fehl,

mußte fehlschlagen, weil der serbische Staat auf der ab-

22

Politische Kultur uud öffentliche Meinung.

schlissigen Bahn, die er beschritten, nicht mehr einzuhalten

vermochte. Es war bereits seit Jahren ein moralischer Kriegszustand zwischen Serbien und Österreich, — nur das Schwert konnte ihn entscheiden. Das war die dira necessitas, die Österreichs Handlungsweise bestimmte. Seine Note war nichts anderes als eine verhüllte Kriegserklärung, die den offenen Krieg zur raschen Folge haben mußte.

Serbien hätte nur in dem einen Falle nachgeben und unter das von Österreich aufgerichtete Joch gehen können, wenn ihm Rußland seine Unterstützung entzogen hätte.

Aber um den Zusammenhang in seinen letzten Wurzeln

zu ergreifen, muß man gleich hinzufügen, daß es seine

ganze großserbische Wühlarbeit nur begonnen hatte, weil es von vornherein der russischen Billigung sicher war.

So war Rußland von Anfang bis zu Ende mitverantwortlich für diesen Konflikt. Die scheinbar aggressive Waffe der österreichischen Note war nur die Waffe einer unabweislichen Notwehr. Hätte sich Osterreich-Ungarn mit stumpfer Waffe und milderer Genugtuung begnügt, so würde der Weltkrieg im August 1914 nicht ausgebrochen sein. Aber Serbien und Rußland würden dann die Diagnose gestellt

haben, daß die Donaumonarchie sich zu schwach fühle, um eine unerhörte Herausforderung, einen Stoß in das Herz seines Staatsgedankens abzuwehren. Ihre Angriffslust

wäre gewaltig gestiegen. Mit gesteigerter Zuversicht hätten sie dann den Moment wählen können, um über OsterreichUngarn herzufallen. Diesen

Zusammenhang in

seiner

ganzen

Schärfe

und Unerbittlichkeit zu erkennen, ist uns in Deutschland

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

23

nicht ganz leicht geworden, weil wir alle seine kriegerischen Konsequenzen nicht wünschten. Aber im großen und ganzen

hat die öffentliche Meinung in Deutschland doch gleich die Schuld Serbiens und das Notwehrrecht Österreichs

anerkannt. Nur die Sozialdemokratie auf der einen, und einige alldeutsche Organe auf der anderen Seite hatten an­ fangs das Mißtrauen, daß Österreich ehrgeizige Sonder­

zwecke verfolge, für die wir uns nicht mißbrauchen lassen

sollten.

Diese Stimmen sind seitdem verstummt.

Die

große Dominante unseres Existenzkampfes hat sie über­

tönt. Mer wir dürfen uns nach strenger und immer wieder­ holter Prüfung sagen, daß diese Dominante im vorliegenden

Falle nicht zur Fehlerquelle wurde, daß unsere Auffassung von der tragischen Unvermeidlichkeit des österreichisch­ serbischen Konfliktes und von der Mitverantwortung Ruß­

lands auf ruhiger und sachlicher Würdigung der hüben

und drüben wirkenden Staatskräfte und Staatsinteressen beruht. Auch ein Serbe oder Russe könnte ihren kausalen Inhalt akzeptieren und ihm nur ein anderes WerturteU

geben. Aus der „unterirdischen Wühlarbeit" könnte er eine „heilige nationale Mission" oder etwas Ähnliches machen.

Aber leugnen dürfte er nicht, daß Österreich

seinen staatlichen Besitzstand gegen sie zu verteidigen alle Veranlassung hatte.

Es ist nun höchst interessant, daß auch in England diese Zwangslage und Selbsterhaltungspflicht Österreichs anfangs von einem Teile der öffentlichen Meinung ziemlich

weitgehend gewürdigt worden ist. Man konnte es tun, weil man sich noch nicht blindlings auf den Gegensatz gegen

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

24

Deutschland eingestellt hatte, weil das Auge noch leidlich frei war, um auch das Wesen der russischen Politik zu erkennen.

Man hat allen Anlaß, an diese freieren und

unbefangeneren Auffassungen nachdrücklich zu erinnern und festzustellen, daß es einst ein besser informiertes England

gab, mit dem wir uns über die unmittelbaren Ursachen

dieses Weltkrieges und über die Mittel, den österreichisch­ serbischen Konflikt zu lokalisieren, recht wohl hätten ver­

ständigen können. Dieses Einst ist nun durch einen Wgrund

von Leidenschaft und Verblendung von heute geschieden. Die große Dominante des englisch-deutschen Weltkampfes hat es verschlungen.

Aber die Geschichte wird es nicht

vergessen, und der fable convenue, die unsere Gegner über

den Ursprung des Weltkrieges verbreiten, die Stimmen entgegenhalten, in denen die Wahrheit noch nicht verge­ waltigt worden ist durch den Nutzen, den die Leidenschaft

begehrt. Wir lassen sie nunmehr folgen, zumeist nach den Wieder­

gaben der Frankfurter Zeitung und, soweit erreichbar,

auch aus englischen und ftanzösischen Zeitungsnummern.

Die Frankfurter Zeitung brachte im 2. Morgenblatt

vom 25. Juli folgende englische Preßstimmen: Aus Lon­ don, 24. Juli. Westminster Gazette:

„Wenn die in der öster­

reichischen Note enthaltenen Anschuldigungen substantiiert

werden können, glauben wir nicht, daß die russische Regie­

rung einen sehr erheblichen Einspruch erheben dürfte, daß Serbien genötigt sein wird, Osterreich-Ungarn eine Genugtuung zu geben."

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

Pall Mall Gazette:

25

„Die österreichisch-ungarische

Note an Serbien zeichnet sich durch die Verbindung von

Festigkeit und Zurückhaltung aus.

Es ist unleugbar, daß

Belgrad die Pflanzschule der Verschwörung gegen die

Ruhe des Nachbarstaates ist. Es ist die Pflicht der serbischen

Regierung, sich nicht nur selbst von solchen Machenschaften femzuhalten, sondern ihnen auch den Schutz ihrer Juris­ diktion zu beiweigern. Österreich ist berechtigt, die strikte Erfüllung dieser Verpflichtungen zu fordem, und wir

erwarten, daß die Antwort auf seine Aufforderung auf feiten der Regierenden Serbiens die ehrliche Bereitschaft zeigen wird, das Land von dieser Anklage zu reinigen."

Aus dem Abendblatt der Frankfurter Zeitung 25. Juli: London 25. Juli. Daily Chronicle sagt:

„Die österreichische Note ist

tragisch, aber kaum tragischer, als die begründete Selbst­

verteidigung der Doppelmonarchie erfordert. Die serbischen Agitatoren und Komitatschis haben mit Zustimmung der gesamten regierenden Klasse in Bosnien etwa dieselbe Kampagne gegen Osterreich-Ungarn geführt, die alle Balkan­

völker bis 1912 in Mazedonien gegen die Türkei führten. Wer die Türkei war notorisch ein .kranker Mann', und von der Großmacht Osterreich-Ungarn muß man Mderstand gegen ein solches Verfahren erwarten. Österreich könne etwas Derartiges von einem Nachbarstaate nicht dulden, ohne seine Würde und seine Existenz zu gefährden. Seine Forderungen seien außerdem von der Versicherung

begleitet, daß es auf keinen Fall die Integrität des serbischen Territoriums beeinträchtigen wolle.

Wenn die politische

26

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

Existenz Serbiens auf dem Spiele stände, so würde Ruß­ land sicher in den Krieg gehen, aber das Blatt glau6t,

daß Rußland diese Frage nicht in diesem Lichte sehen würde. Serbien habe eine schlechte Sache, und Rußland noch viel weniger als die anderen Mächte der Tripleentente

könnte seinen Standpunkt vertreten.

Rußland täte am

besten, Serbien zum Nachgeben zu raten, während es über die österreichischen Berpflichtungen wacht, das Land nicht zu annektieren. Wenn die Mächte der Tripleentente

darüber hinaus eingriffen, so müßten sie die Fehler von

1909 vermeiden, wodurch sie Serbien die Hoffnung erweckten, mehr zu erreichen, als es erreichen konnte, und wodurch

der Krieg unnötig hinausgezogen wurde." Die.Daily News sagt: „Österreichs Forderungen enthalten nichts, was wirklich unerträglich wäre.

Seine

Entrüstung sei natürlich und nicht ungerecht, und Serbien täte am besten, sich prompt zu unterwerfen. Verhandlungen könnten später erfolgen." ^Der Daily Telegraph sagt:

„Keine der Groß­

mächte, auch nicht Rußland, wollen in diesem Augenblicke

Krieg, und daher wünscht keine ein Opfer für einen brand­ stifterischen Staat zu bringen, der nicht nur unentschuld­ baren Verbrechen Vorschub geleistet habe, sondern auch

eine beständige Bedrohung für den territorialen Status quo im Oriente sei."

Die

Frankfurter Zeitung im 1. Morgenblatt

vom

27. Juli: Privattelegr. London 26. Juli: ^Der konservative Journalist Garvin schreibt im Obser-

ver:

„Wir erkennen an, daß Rußland die Zerstörung

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

27

Serbiens nicht dulden kann, aber es soll auch keiner einen Finger aufheben, um Serbien in seiner Hartnäckigkeit

zu ermutigen oder ihm das volle Maß sofortiger Bestra­ fung zu ersparen. Der serbische Größenwahn ist seit den Balkankriegen bis zum gefährlichsten Grade erhitzt worden.

Die Okkupiemng der bulgarischen Teile Mazedoniens und die Verfolgung der bulgarischen Kirchen und Schulen machen den Anspruch auf Bosnien lächerlich. Belgrad

war ein Treibhaus von Träumen und Komplotten, die unmittelbar gegen die Existenz der Habsburger Mon­ archie gerichtet waren. Die direkte Folge dieser moralischen Atmosphäre war der Doppelmord in Sarajewo ..."

Der Observer sagt weiter: „Die Wicht Englands, was immer sie letzten Endes sein möge, heißt zunächst Vermitteln, Vermitteln, Vermitteln. Wir müssen Ruß­ land helfen, Garantien gegen die Bemichtung des unab­ hängigen Serbiens zu finden, ohne die Rettung dieses

schuldigen Staates vor ausreichender und denkwürdiger

Bestrafung anzustreben." Le Journal 28. Juli bringt aus dem Standard folgende Äußerung: „Ce n'est pas notre affaire de sauver

la Serbie des consßquences dues L ses intrigues et L son ambition. Elle a provoque l'Autriche au delä de tonte endurance par l’agitation aggressive qu'elle a entretenue parmi les sujets de sa voisine et eile doit payer pour la saute qu'elle a commise. Si l'Angleterre dans la Triple-Entente, et l’Allemagne,

dans la Triple-AUiance, peuvent travailler d’aceord en vue de la paix, leur influence devrait ßtre süffisante pour

28

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

restreindre les membres de Pun ou l’autre groupe, dont le caractere pourrait 6tre meins conciliant.“ In der Frankfurter Zeitung, 1. Morgenblatt vom 9. August, veröffentlicht ein Leser den Brief eines konserva­ tiven Engländers an ihn aus London, 30. Juli: „Ich bin froh bei dem Gedanken, daß weder England noch Deutsch­ land den Krieg wünschen, und ich fühle, daß unsere bei­ den Länder sich bis zum äußersten bemüht haben, einen Konflikt zu verhindern. Sicherlich wird die Nachwelt die größte Schuld Rußland zuschreiben, und viele Leute hier — mit welchen ich übereinstimme — sind sehr, sehr traurig, daß unsere Bündnispflichten uns zwingen könnten, an der Seite jenes Landes zu kämpfen." In der Times vom 1. August ist ein Schreiben Norman Angells an die Times vom 31. Juli abgedmckt: „The Object and effect of our entering inte this war would be to ensure the victory of Russia and her Slavonic allies. Will a dominant Slavonic federation of say, 200000000 autocratically governed people, with a rudimentary civilization but heavily equipped for military aggression, be a less dangerous factor in Europe than a dominant Germany of 65000000 highly civilized and mainly given to the arts of trade and commerce ?“ ... (Norman Angell glaubt, daß seine Überzeugung die der überwältigenden Mehrheit des englischen Volks sei.) Le Petit Parisien 2. August. (Aus London 1. August): „Pour le Daily Chronicle l’Angleterre n'est pas engagSe ä appuyer la double Alliance en cas de guerre. Ce journal se refuse ä croire que la diplomatie anglaise

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

29

reuille aider la Russie ä etablir sa Suprematie militaire

en Europe.“ Le Daily News 6crit: „Ceux qui parlent de notre

honneur et d'un equilibre sacre nous invitent ä commettre une tolle. Le Journal insiste pour que le gouverne-

ment anglais proclame immSdiatement sa neutralite.“

Im Abendblatt vom 8. August brachte sodann die Frankfurter Zeitung folgende Zusammenstellung englischer

Preßstimmen aus den Tagen unmittelbar vor dem Kriegs-

ausbmch und bemerkte dazu mit Recht: „Man wird diese englischen Äußerungen, die noch in der nüchternen Stimmung geschrieben sind, die inzwischen

Wohl vom Kriegstaumel überholt sein wird, als Dokumente zur spätem unparteiischen Wertung der Ereignisse und Menschen zur Kenntnis nehmen." (Wir geben hier nur

die für unser Thema bezeichnendsten wieder.) Die konservative Pall Mall Gazette erklärt zu­

nächst, England könne Frankreich nicht im Stiche lassen, obwohl es durch keinen Vertrag gebunden sei; die Welt müsse wissen, daß ein Wort Englands so viel wert sei wie

ein geschriebenes Bündnis: „Aber wir wenden uns ebenso nachdrücklich gegen jede Neigung zu Überhebung oder. Böswilligkeit

gegen die Mächte, gegen die wir unglücklicherweise uns selber werden stellen müssen. Wir haben immer und immer wieder die grundsätzliche Berechtigung der österreichi­

schen Beschwerden gegen Serbien anerkannt. Wenn Österreich dadurch in die häßliche Slellung eines scheinbaren Friedensstörers hineingedrängt wird, wenn sein gerechter

30

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

Anspruch auf Sicherheit es mit den tiefen und alten Ge­ fühlen des russischen Volkes in Widerspruch gesetzt hat, so

steht es nicht uns zu, darüber zu richten. Gern erfahren wir, daß die Sympathie, die wir und andere Österreich entgegenbrachten, das Herz der Bevölkerung Wiens er­

griffen hat. Es bleibt Deutschland.. Es hat in den letzten Jahren

Zeiten gegeben, in denen die beiden Nationen einander mit Mißgunst und Mißtrauen beobachteten. Eine grausame

Fügung des Schicksals scheint sie einander in dem Augen­

blicke gegenüberzustellen, da der böse Wille nachgelassen zu haben schien. Aber auch hier können wir nur die höchste Achtung empfinden, weil Deutschland seinem Wort und Vertrage treu bleibt. Wir glauben, daß Kaiser Wilhelm

und seine Ratgeber inständig für den Frieden gearbeitet haben.

Wenn, wie es nur allzu wahrscheinlich ist, ihre

Bemühungen von Kräften, die sich menschlicher Leitung entziehen, lahmgelegt wurden, weshalb sollten wir gegen sie ein Wort der Verbitterung äußem? Mr tun das nicht.

Wenn wir schweren Herzens, aber starken und entschlossenen Simls das Schwert ziehen müssen, werden wir kämpfen

wie Gentlemen, die einen ritterlichen Gegner achten und

ehren und von ihm ebenso geehrt und geachtet werden. Wenn es zum Kriege kommt, so wird es, soweit das britische

Volk in Frage kommt, ein Krieg ohne Haß sein, ein Krieg, der auf den Ruf der Pflicht ausgefochten wird, um die Ehre und Sicherheit der Nation."

Daily Graphic schreibt: „Mr gestehen, daß wir Rußlands Vorgehen angesichts der Wiederaufnahme

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

31

von Verhandlungen mit Österreich nicht verstehen können. Diese Verhandlungen sind kaum ausgenommen worden,

ohne daß beide Seiten noch eine Aussicht auf Verständi­

gung erblickten; wenn das aber der Fall ist, wozu die Mobilmachung, die weit über die Grenzen der notwen­ digen Vorsichtsmaßnahme hinausgeht und tatsächlich darauf berechnet ist, die Bemühungen der Diplomaten, und wären

sie noch so aussichtsreich, zuschanden zu machen?"

Aus den ersten Augusttagen muß ein englisches Flug­ blatt stammen, das dem Berliner Tageblatt vom 9. August

zufolge in Tausenden von Exemplaren in den Straßen Londons verbreitet wurde: „Engländer, tut eure Pflicht und haltet euer Land

fern

Krieg.

von

einem

schmählichen

und

unsinnigen

Eine Heine, aber mächtige Clique will euch in

diesen Krieg treiben. Ihr müßt diese Verschwörung ver­

nichten, oder es wird zu spät sein.

Fragt euch selbst:

warum sollen wir in den Krieg ziehen?

Die Cliquen­

partei sagt: wir müssen das Gleichgewicht der Kräfte auf­ rechterhalten; wenn Deutschland Holland oder Belgien an» nettiert, wird es so mächtig sein, daß es auch uns bedroht.

Aber diese Cliquenpartei sagt euch nicht die Wahr­ heit.

Es ist vielmehr Tatsache, daß, wenn wir an der

Seite Frankreichs und Rußlands kämpfen, das Gleich­ gewicht der Mächte gestört werden würde tote nie

zuvor.

Wir würden Rußland zu der gewaltigsten

militärischen Macht auf dem Kontinent machen, und ihr wißt, was für eine Macht Rußland ist. Es ist eure Pflicht, das Land vor dem Verderben zu retten.

32

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

Handelt, bevor es zu spät ist." Der Aufruf ist im Namen der Neutrality League erlassen und von einer Reihe

bekannter Engländer und Engländerinnen unterzeichnet. Die Engländer werden, wenn man ihnen diese Stim­ men heute vorhält, erwidern, daß wir selbst sie zum Schwei­

gen gebracht hätten durch die Schuld, die wir durch die Verletzung der belgischen Neutralität auf uns geladen

haben. Wir antworten darauf mit der Aufsordemng, Nr. 123 des englischen Blaubuches recht genau lesen zu wollen.

Als

Lichnowsky am 1. August fragte, ob England sich zur Neu­

tralität verpflichten wolle, wenn Deutschland verspräche, die belgische Neutralität nicht zu verletzen, antwortete Grey mit einem Nein und verweigerte überhaupt, Bedin­

gungen anzugeben, unter denen England neutral bleiben würde. Grey war an diesem Tage schon zum Kriege fest

entschlossen, und wir wissen, daß er von vornherein durch seine Haltung Rußland und Frankreich ermutigt hat, es zum Äußersten zu treiben. Hätte Grey auf die Stimmen der­

jenigen seiner Landsleute gehört, die wir wiedergeben, so

würde der Weltkrieg nicht ausgebrochen sein. Er hörte lieber auf die Stimmen derjenigen, die nach der Gelegenheit lechzten, im Bunde mit Rußland und Frankreich Deutsch­

land niederzuwerfen. Es ist überflüssig, auch sie hier wieder­ zugeben, denn sie führen noch heute das Wort. Aber auf

ein Zeugnis aus den Reihen der Kriegspartei muß man die Aufmerksamkeit lenken, weil es noch vor der Veröffent­

lichung der österreichischen Note geschrieben ist und sich also nicht darauf berufen könnte, daß sich Österreich durch die Härte dieser Note ins Unrecht gesetzt habe. Das Abend«

33

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

blatt der Frankfurter Zeitung vom 23. Juli brachte einen Auszug aus einem Artikel der Times folgenden Inhalts:

die Hauptverantwortung für die Unruhe der österreichisch­

serbischen Preßkampagne sei bei Wien. Der Besuch Poin-

cares in Petersburg könne da als „Mahnung" und als Antwort auf den Gedanken betrachtet werden, daß der Konflikt zwischen Österreich und Serbien lokalisiert werden

könne.

Heute sei Rußlands militärische Stellung ganz

anders als 1909. Mit anderen Worten: Österreich hüte sich, Serbien

zur strengen Rechenschaft zu ziehen, denn hinter Serbien steht der Dreiverband und wird das Schwert für Ser­

bien ziehen. Das war der Standpunkt einer grundsätzlichen Feindschaft gegen Österreich und Deutschland, der dann triumphiert hat.

Wir schließen unsere Zusammenstellung mit dem Wiederabdruck der Erklärung englischer Gelehrter, die in der Times vom 1. August 1914 erschien und die wir damals

in

Deutschland

inmitten

der

sich

zusammenballenden

Sturmwolken als einen Hoffnungsstrahl begrüßten. Daß die Unterzeichner sich damals für den Fall, daß ihr Protest

von der Regierung überhört würde, zum Schweigen ver­ pflichteten, verstehen wir. Aber daß sie und die ihnen Gleichgesinnten auch zu der Verwüstung aller Kulturbe­

ziehungen zwischen England und uns, deren sich ihre Lands­ leute schuldig gemacht haben, schweigen, das können wir

nicht mehr als eine Pflicht ihres Patriotismus gelten lassen. Oder sind uns ihre Äußerungen nur nicht zu Ohren gekommen? Wir wünschten, daß dem so sei. Meinecke, Probleme des Weltkriegs.

3

34

Politische Kultur und öffentliche Meinung.

We regard Germany as a nation leading the way in the Arts and Sciences, and we have all leamt and are learning from German scholars. War upon her in the interest of Servia and Russia will be a sin against civilization. If by reason of honourable obligations we be unhappily involved in war, patriotism might still our mouths, but at this juncture we consider ourselves justified in protesting against being drawn into the struggle with a nation so near akin to our own, and with whom we have so much in common. The signitaries are: — C. G. Browne, Professor of Arabic, Cambridge; F. C. Burkitt, Norrisian Professor of Divinity, Cambridge; J. Estlin Carpenter, Principal, Manchester College, Oxford; F. J. Foakes-Jackson, Fellow of Jesus College, Cambridge; H. Latimer Jackson, Rector of Little Canfield, Essex; Kirsopp Lake, Professor, Leden and Harvard; W. M. Ramsay, Professor Emeritus, Aberdeen University; W. P. Scibie, Principal, Mansfield College, Oxford; J. J. Thomson, Cavendish Professor of Experimental Physics, Cambridge.

Probleme des Weltkriegs. (Neue Rundschau, Juni 1916).

eiche Stellung und welche Bedeutung wird man einst der heutigen Weltkrisis inmitten der Flammen­ reihe der großen weltgeschichtlichen Revolutionen zumessen? Unsere eigenen Gedanken flattern, wie aufgescheuchte Bögel im Sturme, suchend hin und her. Nur das eine wissen wir sicher, daß noch niemals eine solche FWe und Masse gewaltiger, die ganze Welt umfassender Existenz-

ftagen der Völker und Kulturen gleichzeitig über Nacht zum Austrag gekommen ist und daß sie noch niemals mit so allgemeinem und Hellem, ja überreizt Hellem Bewußtsein

der Zeitgenossen ausgetragen worden sind. Die ftüheren großen Weltkrisen begannen gewöhnlich in örtlicher Be­ schränkung, erfaßten erst nach und nach die weitere Welt­ bühne, erfaßten zunächst auch nur gewisse Teile und Schichten der Gesellschaften und wurden erst nach und nach von dem

aufdämmernden Bewußtsein der Zeitgenossen verstanden. Wie lange Zeit hat die Tat Luthers bedurft, um die Welt zu durchwirken und umzugestalten. Die großen Koalitionskriege des ancien regime, die in so vieler Hinsicht an den

3*

36

Probleme des Weltkriegs.

heutigen Weltkrieg erinnern, waren Kriege der Regierun­ gen, aber nicht der Völker. Lange noch nach dem Ausbruch des Erdbebens von 1789 und selbst noch lange nachdem Goethe am Tage von Valmy den Ausbruch einer neuen Zeit geahnt hatte, lebten er und die Seinen in den Formen,

Gewohnheiten und Idealen der alten Zeit ruhig fort. Der Kamps Napoleons mit England um die Weltherrschaft,

in lang hingezogenen, erst allmählich sich steigernden und konzentrierenden Akten sich entladend, hat die alte sichere

Kulturgemeinschaft der west- und mitteleuropäischen Völker niemals und nirgends gefährdet, wie sie denn auch vorher

selbst durch die Krisen der Glaubensspaltung niemals gefährdet worden ist. Am ersten erinnert, was Plötzlich­ keit, Mgemeinheit und Bewußtheit der Krisis betrifft,

die heutige Weltlage an die große Erschütterung des Jahres

1848. Auch damals schien Mittel- und Westeuropa jählings in den Schmelztiegel geworfen zu werden, und das Gefühl

des Neuwerdens aller Dinge zuckte durch alle Köpfe. Aber die wirklichen Entscheidungen reiften nicht damals, sondern erst in dem Zeitraume zwischen 1859 und 1871 heran,

wiederum nach und nach sich entladend, wiederum nur jeweils auf einen Teil des Kontinents lokalisiert.

Es ist etwas wesenhaft Neues, was wir in der Ge­ neralkrisis der Gegenwart erleben. Die alten Revolutionen

hatten immer noch etwas von dem ruhigen Rhythmus

der Evolution, und der Demiurg, der sie hervorrief, über­

hastete sich nicht. Wie die, die sie erlebten, doch ab und an noch Atem schöpfen konnten, so kann es auch die historische Betrachtung,

kann begreifen und

organisch

entwickeln,

37

Probleme des Weltkriegs.

wie ein Erdstoß dem andem folgte, kann dem ganzen Her­ gänge jene, man möchte sagen, ästhetische Form und Ab-

rundung verleihen, die wir nun einmal aus tiefem Be­ dürfnis des erkennenden Geistes den geschichtlichen Phä­ nomenen zu geben uns gedrungen fühlen. Ist nicht eben

das auch ein innerer Vorzug der älteren Weltkrisen, daß sie die Kontinuität der Verhältnisse nur hier und da und

mit dazwischen vergönnten Erholungspausen erschütterten? Denn alle menschliche Kultur behält, obwohl sie über die bloße Natur sich erheben soll, im untersten Grunde etwas Pflanzenhaftes und bedarf der Kontinuität und der inneren Übergänge, bedarf auch des schonenden Halbdunkels und

der Verhüllung des leise keimenden Neuen, bedarf der un­

antastbaren Bindeglieder inmitten aller feindlichen Gegen­

sätze.

So jähe Risse und Einschnitte, wie wir sie heute

allein schon in dem Kulturkämpfe fast der gesamten Welt

gegen uns, in dem Versuche, uns auszustoßen aus dem Kreise der existenzberechtigten Weltvölker, erleben, können

das

Vertrauen

auf

die

gedeihliche

Weiterentwicklung

der Menschheit einigermaßen ins Wanken bringen.

Mr

verlieren es trotzdem nicht, weil wir uns darauf verlassen,

daß die mächtigen Gemeinsamkeiten,

die in anderthalb

Jahrtausenden germanisch-romanischer Geschichte in der

Tiefe sich abgelagert haben, unzerstörbar sind. Aber wir haben ernsthafte Pessimisten unter uns, die der modemen

Welt ein ähnliches Schicksal Voraussagen wie der unter­

gehenden alten Welt. Sie sehen gleichsam mit weit auf­ gerissenen Augen in das grelle Licht, das durch die gesteigerte Publizität der Dinge und durch die gesteigerte Nervosität

38

Probleme des Weltkriegs.

der Menschen entzündet ist. Aus überreizten Hirnen aber

gehen nicht nur überreizte Auffassungen, sondem auch überreizte Entschlüsse hervor. Weil das, was wir tatsäch­ lich erleben, schon alle Phantasie übersteigt, so glaubt sich

die Phantasie nur zu leicht aller Schranken enthoben und

schwingt sich zum Jkarusfluge auf. Wir blicken mit ernster Sorge in die Entwicklung der Gedanken und Forderungen unserer gebildeten Schichten. Nüchterne und rechnende Geschäftsmänner und nüchterne kritische Gelehrte sehen

wir, wenn sie über Mittel, Möglichkeiten und Ziele unserer

Kriegführung perorieren, nicht selten heute von einem phantastischen Rausche erfaßt, und ein großer Teil unserer Presse, darunter gerade solche Organe, die sich der beson­

deren Gunst des national gesinnten gebildeten Publikums erfreuen, macht sich, getrieben und treibend, der gleichen Überhitzung schuldig.

Kritik und Selbstbeherrschung tun uns not. Die über­

mächtigen, kaum übersehbaren Probleme dieses Krieges fordem vom Handelnden wie vom Betrachtenden ein ganz bewußtes Einsetzen aller kontrollierenden und zügeln­ den Kräfte des Geistes. Massen von neuen Gedanken und

Anschauungen sind durch den Krieg in Umlauf gebracht, neue Horizonte, die vor zwei Jahren noch nicht einmal die konstmierende Theorie kannte, sind vor uns aufgetaucht. Es ist nicht schwer, blendende Bilder der neuen Dinge zu geben und den Anschein einer besonderen individuellen

Geistesleistung dabei zu erwecken, wo es sich doch nur um ein ungewöhnlich rasch entstandenes kollektives Gedanken­

gut handelt. Da gerade auch solche Gebiete, wo eine ganz

Probleme des Weltkriegs.

39

selbständige kritische Tätigkeit sehr am Platze wäre, von

der Zensur gesperrt werden mußten, so ergießt sich die auf­ geregte Schriftstellerei um so breiter auf die freigelassenen

Gefilde der Spekulation und Kombinaüon von Zukunsts­

möglichkeiten. Mr sind dankbar dem sichtenden, säubemden und ordnenden Geiste, der diese verschiedenen, durchein­

anderlaufenden und drängenden Gedankenreihen in einen festen und großen, kritisch durchdachten Zusammenhang zu bringen versucht. Mr sind ihm doppelt dankbar, wenn

er es von der ruhigeren Warte des neutralen Ausländers mit tiefem Verständnis für unsere Lage und warmer Sym­ pathie für unsere Art, aber von dem Wunsche nach reiner

Erkenntnis geleitet tut. Amica mihi Germania sed magis amica veritas ist das Motto, mit dem der schwedische

Professor Rudolf Kjellen seine Betrachtungen über „die politischen Probleme des Weltkrieges" einleitet (B. G.

Teubner, Leipzig). Sein prachtvolles Buch über die Groß­ mächte der Gegenwart, das am Vorabend des Weltkrieges erschien, ist noch in frischer Erinnerung als unwillkürlicher historischer Prolog der über uns hereinbrechenden Ereignisse.

Seine kleine Schrift über die Ideen von 1914, aphoristischer,

um nicht zu sagen dithyrambischer gehalten, war doch so ungemein bezeichnend für das Suchen und Tasten unserer besten Geister nach einem ideengeschichtlichen Verständnis

unserer Lage. Sein jetziges Buch kehrt wieder zu der kon­ kreteren und strafferen Art der „Großmächte" zurück und

erfüllt alle Erwartungen, die diese geweckt hatten. Kjellen gehört zu den Künstlematuren der Mssenschaft, er ist ein Meister der kraftvollen, anschaulichen Zusammenfassung, der

40

Probleme des Weltkriegs.

inneren Beseelung der Stoffmassen. Schon die Art der Dar­ stellung verrät unmittelbarer, als es meist der Fall ist, die besondere Art und Methode seines Denkens.

Jede Tatsache

und jede Zahl wird ihm sofort zum Ausdruck lebendig wir­ kender und weithin ausstrahlender Kräfte, und indem er den Leser von einem Anblick zum andern führt und ihn

gern auf überraschende Aussichtspunkte vorantreten läßt und ihm immer wieder ihren Zusammenhang mit den früher eröffneten Durchblicken klarlegt, spürt man ihm

an, mit welcher gehobenen Freude er selber diesen Weg zuerst geeilt ist, und versteht, daß sein geistiges Auge ganz

und gar auf weites perspektivisches Sehen eingerichtet

ist. Damit hängt seine besondere Auffassung von der Auf­ gabe der Staatswissenschaften zusammen. Er bricht bewußt

mit der abstrakten Systematik, die den Staat im Grunde,

wie es einst das Naturrecht und die Aufklärungsphilosophie tat, aus allgemeingültigen Prinzipien ableiten möchte und ihre besonderen Modifikationen, die sie nun einmal in

jedem einzelnen Staate antrifft und anerkennen muß, des­ halb nur deskriptiv darzustellen und wohl leidlich geschichtlich

zu erläutern, aber nicht in voller individueller Lebendigkeit anzuschauen vermag.

„Nach meinem Verfahren", sagte

er, „werden die Staaten nicht als wandelnde Verfassungs­

schemata oder Rechtssubjekte angesehen, sondern als große

Leben, als überindividuelle Persönlichkeiten, die im Guten und Schlechten von Lebenstrieben erfüllt sind . .. jeder

an seine Daseinsbedingungen gebunden, wie sie aus der Entwicklung und der äußeren Umgebung erwachsen sind." Wir Historiker aus der Rankeschen Schule begrüßen freudig

41

Probleme des Weltkriegs.

den Siegeszug dieser uns längst vertrauten Auffassungs­ weise auf dem Gebiete der Staatswissenschaften und er­ kennen neidlos an, daß Kjellen sie kräftiger und durchgrei­

fender übt wie viele von uns.

Ob wir nicht doch noch

nach einer gewissen Richtung darin weiter zu gehen gewöhnt sind als er, davon wird später zu reden sein. Dafür hat er

wieder von der Schule der Systematik her einen Vorzug,

den

die

erwirbt.

genetisch-historische

Betrachtung

nur

mühsam

Er kann das individuelle Gefüge eines Staats­

problems nach großen Kategorien zerlegen, mit analogen Teilen anderer Staatsprobleme vergleichend zusammen­ legen und so den Anschein und die Durchsichtigkeit einer rein systematischen Behandlung erreichen, ohne doch die ineinandergewachsene Totalität des einzelnen Staats­

problems zu zerreißen. Man hat die Teile und das Ganze

immer zugleich vor Augen, und das Vergleichen führt nicht zum eintönigen Schema, sondern zur reicheren An­ schauung des Individuellen. Bier große Gruppen von Problemen des Weltkrieges bildet er: Geopoliüsche, ethnopolittsche, soziopolitische,

verfassungs- und kulturpolitische. Die unmittelbaren Streit­ objekte des Krieges liegen in den beiden ersten Gruppen; sie sind deshalb am gründlichsten behandelt. Die geopoliüsche Betrachtung stellt drei elementare Forderungen an die wirkliche Großmacht: entsprechende

Ausdehnung, volle Bewegungsfreiheit, inneren Zusammen­ halt. Rußland,fehlt es am zweiten, England am dritten, Deutschland im Grunde an allen dreien. Um sich Bewe­

gungsfreiheit zu schaffen, strebt Rußland zum steten Meere,

42

Probleme des Weltkriegs.

und obgleich das Mittelmeer für Rußland, wie Kjellen richtig sagt, nur ein Sack ist, den England zuschnüren kann, hat es sich doch aus nicht verächtlichen Gründen versteift

auf diesen Weg, der sich verzweigen und entweder über den Bosporus oder über Armenien nach Alexandrette gehen kann. England strebt, um besseren inneren Zusammenhalt zu gewinnen, nach einer breiten Brücke zwischen AfrikaÄgypten und Indien.

Deutschland mit seiner unglücklichen Mangelhaftigkeit hat viel zerteiltere Interessen: freien Ausweg aus den:

Kanal,

Sicherung

seiner

Kolonien,

Zusammenlegung

seines afrikanischen Besitzes zu einem haltbaren Block, Ausdehnung nach dem nahen Orient, die zur engsten Interessengemeinschaft mit Osterreich-Ungarn zwingt. Als ideales, selbst von Deutschen noch kaum geträumtes Ziel müsse ihm dann eine Zusammenlegung seines^afrikanischen Blockes mit seiner levantischen Interessensphäre vorschwe­ ben; also müsse Ägypten einmal erobert werden. Erst dadurch würde das Problem gelöst, würden die grundlegen­

den Fehler in Deutschlands Reichsgestalt verbessert.

Aber

wie drei Flüsse von verschiedenen Bergen, strömen nun auf dem Gebiete der Türkei drei starke Willen zusam­

men, um hier ihre Entwicklungswege zu sichern. Ausgleichs­ möglichkeiten sind vorhanden zwischen Rußland und Eng­

land, zum Teil auch zwischen Deutschland und England,

aber zwei unversöhnliche Punkte bleiben nach Kjellens

Meinung unter allen Umständen übrig: Der Suezkanal zwischen Deutschland und England, die Dardanellen zwischen

Deutschland und Rußland.

Probleme des Weltkriegs.

43

Die verhältnismäßig einfach liegenden geopolitischen

Probleme der drei Hauptkämpfer des Krieges werden durch die reicher verzweigten ethnopolitischen Probleme

teils durchkreuzt, teils verstärkt.

Kjellön bekennt sich zu

der Lehre, daß die Nationalität das Wesen des modemen Staates ausmache, aber er kritisiert an der „Staatsschule", die den Borrang des Staates gegenüber der Nation betone

und zu der er auch mich rechnet, im Grunde doch nur gewisse Übertreibungen, die auch ich nicht teile, und geht den doktrinären Verfechtern des reinen Nationalitätsprinzips,

die sich aus sehr durchsichtigen Gründen im Lager der Gegner heute breit machen, viel kräftiger zu Leibe. Geopolitische Notwendigkeiten, sagt er sehr richtig, wiegen immer die

ethnologischen Notwendigkeiten auf. Das hat schon Rado­ witz im Paulskirchenparlament einst in die Worte gefaßt,

daß ein großes Volk seine unentbehrlichsten Bedürfnisse, die Bedingungen seiner Existenz nicht auf sein Sprachgebiet beschränken könne.

Unsere Gegner handelten und handeln

selber auf Schritt und Tritt danach.

Um von Englands

mit Sammet bezogener Eisenhand, mit der es sein Bündel fremder Nationalitäten beherrscht, ganz zu schweigen, schlägt Italiens Jrredantaforderung an Österreich sogleich über

zm Forderung deutscher und stawischer Sprachgebiete, und über Rußlands Praxis ist jedes Wort überflüssig. Sehr gut

.zeigt Kjellön, wie auch der panflawistische Rassengedanke letzten Endes dem realen geopolitischen Ziele Rußlands diene, indem ihm ein neuer Weg zum Mttelmeer, zur adriatischen Küste hin dadmch gebahnt werde. Ferner finde ich ihn darin ganz auf dem Boden der von mir vertretenen An-

44

Probleme des Weltkriegs.

schauungen, daß er die wachsende Macht des Staates auf die Ausbildung und auch Umbildung der Nationen aner­ kennt. Auch das moderne, im Grunde ja recht alte Mittel

der Umsiedlung und die neue Perspektive, die es für die

Verteilung und bessere Abgrenzung der Nationen eröffnet,

entgeht ihm nicht. So wünschenswert eine solche nationale Flurbereinigung allein schon für die Gemengelage in un­

seren Ostmarken wäre, um unsere dringend nötige Interessen­ gemeinschaft mit den westslawischen Nationalitäten zu sichern,

so muß man doch vor jeder überschwenglichen Hoffnung sich hüten.

Der Zusammenhang zwischen Mensch und

Boden ist viel zäher, als unsere Evakuierungspolitiker sich vorstellen.

Ein

deutsch-russischer

Gefangener,

den

ich

als Arbeiter auf dem Hofe seiner in einem posenschen Ansiedlungsdorfe jetzt angesessenen Verwandten traf, sagte

mir, als ich ihn ermunterte, bei uns zu bleiben, recht zö-

gernd: „Das muß ich mir noch überlegen." Selbst die rohe Verjagung aus ihren Sitzen, die die Russen jetzt betreiben, wird diese erdenhaften Instinkte versprengter Volksgenos­

sen nicht ganz ertöten. Mt eigenen Gefühlen wird man bei Kjellen den Katalog sämtlicher Jrredenten, die in diesem Kriege eine

Rolle spielen, von der irischen bis zur arabischen hin, nach­ lesen. Allein schon dadurch, daß man sie nacheinander auf­

zählt, parodiert man sie.

Es ist handgreiflich, daß man

hier mit allgemein gültigen Axiomen nicht durchkommt,

daß es den Krieg aller gegen alle entfesseln hieße, wollte man jeder staatlich noch unselbständigen Nationalität das Recht geben und die Möglichkeit wünschen, sich einen eige-

Probleme des Weltkriegs.

45

nett, alle Angehörigen umfassenden Nationalstaat zu schaf­ fen. Ebensowenig aber wird heute auch der extremste An­ hänger der „Staatsschule" noch geneigt sein, zu den Grund­ sätzen der Ära Metternich zurückzukehren und die Nationa­ litäten einzustampfen in den Mörsern der einmal vorhan­ denen Staatsgebilde. Es ist nicht anders, das geschichtliche

Leben ist nun einmal in hohem Grade irrational, und der

Kampf des Lebendigen gegen das Lebendige führt niemals zu glatten Lösungen. Und doch wird man auch die Hände nicht in den Schoß legen dürfen und den Kampf ums

Dasein und die Auslese der Besten durch ihn nicht als

einzige Weisheit gelten lassen.

Weder das geistige Be­

dürfnis noch der politische Takt kann sich mit dieser biolo­

gischen Auffassung begnügen, denn das reine Austoben der Kräfte gegeneinander würde zu viel unersetzliche, für den

Staat wie für die Kultur unersetzliche Werte sinnwidrig und zweckwidrig zerstören und nicht einmal die Ruhe des Kirch­ hofs erzwingen. Es bleibt nichts übrig, als nach einem

Kompromiß zwischen biologischer und historisch-kultureller Auffassung zu suchen und an Ideal und Wirklichkeit, an Staat und Kultur immer zugleich zu denken.

Kjellen

versucht ein solches Kompromiß, dem ich mit einer Ab­

änderung beitreten kann. Das apriorische Recht der Na­ tion, sagt er, reicht bis zur Einheit, aber nicht bis zur Sou­

veränität; dazu bedarf es im Namen der Ordnung der Anerkennung der bestehenden Staatsgesellschaft. Diese Anerkennung bedürfe gewisser Voraussetzungen.

Einmal

dürfen Brand- und Ansteckungsherde im Namen der Na­ tionalität nicht geduldet werden.

Femer müsse sie einen

Probleme des Weltkriegs.

46 gewissen Zuschuß

zur

allgemeinen

Kulturarbeit

sicher­

stellen. Und schließlich, da sie ein Willens- und Wärme­

element sei, das zwischen Fieber und unter Null auf und nieder steige, müsse auch eine gewisse mittlere Temperatur ihres subjektiven Bewußtseins da sein. Nationen, wie die

ukrainische wenigstens in ihrer Hauptmasse heute noch ist, müßten demnach „am Rande jenes Weges stehen, auf dem die Entwicklung der Welt fortschreitet".

Man wird gegen diese Sätze nicht einwenden dürfen, daß bei ihrer Anwendung auf den Einzelfall das Urteil doch immer wieder schwanken und zittern kann. Das liegt nicht an den Sätzen, sondern an der notwendig immer mangelhaften und unvollständigen Kenntnis des Einzel­

falls. Kein Mensch kennt heute das ukrainische Volkstum

so genau, um sicher zu sagen, ob es immer am Rande jenes Weges stehen bleiben wird. Aber ein anderes möchte

ich gegen Kjellen einwendeu.

Ich kann nicht zugeben, daß

das apriorische Recht der Nationen bis zur Einheit reicht, wenn man die Einheit im politischen Sinne meint.

Die

politische Einheit einer Nation ist ebenso wie ihre Sou­

veränität nur ein Ideal, ein Zielgedanke ihrer Entwick­

lung, der aber erst dann zum Rechte wird, wenn jene

von Kjellen genannte Reihe anderer realer Voraussetzungen von ihr erfüllt wird. ständen,

aus

Das apriorische, unter allen Um­

biologischen

wie

aus historisch-kulturellen

Gründen anzuerkennende Recht der Nation geht nach

meiner Meinung nicht weiter als das Recht des Indi­ viduums gegen den Staat. Und es ist weit genug, um ihr

die Bürgschaft der Existenz zu geben. Es ist das Recht auf

47

Probleme des Weltkriegs.

freie geistige Bewegung und Entfaltung ihrer geistigen

Kraft und Eigenart. Man kämpft gegen die Natur, wenn man es vergewaltigt, und man erstickt zugleich unersetz­

liche Keime der Kultur.

Zur inneren geistigen Einheit

bringt es dann die Nation, die ihre Sprache und Literatur

frei entwickeln kann, ganz von selbst; der politischen Ein­ heit aber bedarf sie dafür nicht unbedingt. Deutsche Schwei­ zer, Deutsch-Österreicher und Deutsch-Ungam konnten und können auch ohne politische Bereinigung mit dem Deutschen

Reiche lebendige Glieder der einheitlichen deutschen Kulturnation sein; ein ähnliches geistiges Einheitsband er­

hoffen und gönnen wir auch den Polen, die unsere Ost­ marken bewohnen, und den Bürgern des vom russischen

Joche

befreiten

polnischen

Zukunftsstaatswesens.

Wir

dürfen es in Zukunft, um dauerhafte Verhältnisse zu schaf­ fen, auch denjenigen kleinen Nationen an den Grenzen der Donaumonarchie nicht versagen, deren staatlich ge­

einte Teile jetzt im Kampfe gegen sie stehen.

Freilich,

wird man einwenden, die Nationen begnügen sich auf

die Dauer mit der Einheit der Kulturnation nicht; sie streben früher oder später doch zur letzten idealen Erfül­ lung des Nationalgedankens, zum geschlossenen National­ staate, und poetisch und literarisch fängt es zwar an bei ihnen, aber politisch endet es. Mr geben zu, daß eine

solche immanente Entwicklungstendenz im modernen Na­

tionalleben da ist und daß die Sehnsucht zur ungebro­

chenen, Geistiges und Politisches umfassenden Gemein­ schaft des nottonalen Staates nie ganz zu beschwichtigen

ist und den Menschen nicht ausgeredet werden kann. Aber

48]

Probleme des Weltkriegs.

das Leben erfüllt nun einmal nicht jede uns eingepflanzte Sehnsucht; andere Notwendigkeiten begrenzen und dämpfen

sie, und der gereifte Charakter richtet sich ein mit ihnen und bleibt triebkräftig und gesund auch in der Resignation. Zu dieser Reife des Verzichtes haben es bisher nur die Deut­ schen außerhalb der Reichsgrenzen gebracht, — auch die

baltischen Deutschen konnten sie so lange üben, als ihnen das nationale Existenzminimum gewährt wurde. Aber ist denn, so müssen wir vom höchsten und vergleichenden

Standpunkte

aus

fragen,

das moderne

Nationalleben

überhaupt schon zum Stadium der männlichen Reife gediehen? Hier und da wohl, aber noch nicht allgemein

und sicher; nach wenig mehr als einem Jahrhundert nationa­ ler Aspirationen sind wir noch immer auf der Stufe der

Flegeljahre, und der aufgeregte Nationalismus intra et extra muros ist zum großen Teile Pubertätsfieber.

Wie

aus Haß und Mord der Religionskriege schließlich, durch innere geistige Umbildung wie durch Zwang der Verhält­

nisse getrieben, die Idee der Toleranz emporblühte, so

könnte aus den Erschütterungen dieses Weltkrieges viel­ leicht auch ein föderatives und tolerantes Nationalgefühl in Mitteleuropa sich emporringen, das sich männlich bescheidet und die Notwendigkeiten der Lage anerkennt.

Denn zwingend und gebieterisch sind diese Notwendigkeiten.

Der furchtbare konzentrische Druck von Westen und Osten zwingt alle mitteleuropäischen Nationalitäten, sich zusam­ menzuschließen

zu

großen,

leistungsfähigen

Deichver­

bänden und sich dabei gegenseitig die Grundlagen ihrer

nationalen Existenz zu garantieren. Je fester diese Deich-

Probleme des Weltkriegs.

49

verbände und je stärker die sie tragenden Solidaritätsgefühle sein werden, je mehr man aufeinander vertrauen lernt,

um so weiter kann das Maß der politischen Bewegungsfteiheit für

werden.

alle

angeschlossenen Nationalitäten

gesteckt

Reif werden dafür heißt alles, und unser aller

Existenz und Rettung hängt davon ab.

Nur sehen wir

nicht mehr mit der ftohen, unbedingten Hoffnung auf dieses Ziel, wie in den ersten Kriegswochen.

Denn das

innere deutsche Nationalgefühl hat sich noch lange nicht

reif genug dafür erwiesen, und der Riß zwischen Moderados und Exaltados geht, wie wir im Eingang schon andeuteten,

mitten durch die führenden Schichten unseres Volkes hin­ durch. Wohl geht er zum Glück nicht so tief hinunter, daß er unsere Kampfeskraft und Geschlossenheit nach außen irgend­

wie gefährdete. Es ist durchaus etwa kein Gegensatz von größerer und geringerer Energie in der Wahrnehmung unserer nationalen Interessen, der die sogenannten Scharf­ macher

und

die

sogenannten Flaumacher

voneinander

trennt, — wenn wir, wie billig, von der kleinen und belang­

losen Gruppe der sentimentalen Pazifisten hier absehen. Der voluntaristische Zug des modernen Lebens hat vielmehr

allen Nattonen und der unseren voran einen gewaltigen Grundstock zusammenhaltender und kämpfender Energien gegeben, wie er in dieser Ausdehnung und Mächtigkeit

noch nie erlebt worden ist. Noch weniger ist es ein Gegen­ satz etwa von realpolitischer und von idealistisch-gefühls­ mäßiger Denkweise, durch den sich die Geister heute bei uns scheiden. Melmehr sind, um es einmal rund Herauszu­ sagen, die wahren Erben Bismarckscher Realpolitik heute Meinecke, Probleme de» Weltlriea».

4

50

Probleme des Weltkriegs.

die Moderados und nicht die Exaltados. Denn deren Macht­

rausch ist eine Sentimentalität, und ihre phantastischen Forderungen würde ein Bismarck mit seinem kühlen Sinne für das Mögliche und Erreichbare erbarmungslos kritisiert und unterdrückt haben. Ihr Herrengefühl, in dem die Quelle aller ihrer Übertreibungen liegt, ist fteilich in der Atmosphäre, die Bismarck in Deutschland geschaffen hat, groß geworden.

Aber das Bismarcksche Herrengefühl war unendlich viel Mger, geschmeidiger und maßhaltender als das ihrige. Möchten sie jetzt das Kjellensche Buch mit Verstand lesen. Dieser Freund unseres Volkes, dessen Vorstellungen

von der Größe und Zukunft Deutschlands nicht übertroffen

werden können, kennt, wie uns scheint, noch nicht die ganze Schärfe der uns heute im Jnnem bewegenden Gegen­

sätze, aber er weiß genug von ihnen, um uns nachdrücklich

zu wamen. „Deutschland", sagt er im Schlußkapitel deut­ lich genug, „muß auch in seiner eigenen Seele Moskau

ganz überwinden." Er sieht in unserer eigentümlichen, auf

den Zusammenschluß mit unseren mitteleuropäischen Nachbam angewiesenen Lage die Garantie dagegen, daß Deutsch­

land Welteroberungsansprüche erheben könne, — „eine

Garantie, wie sie kein Vorgänger oder Mitbewerber aufzu­ weisen vermochte". So dränge uns, meint er, alles zur Idee

des Hegemonischen Föderalismus.

Er hätte hinzufügen

können, daß damit nur die Idee der Bismarckschen Reichs­ gründung in loseren Formen auf die Weltstellung Deutsch­

lands übertragen wird. Auch Bismarck hat diese Idee aus dem Zwange der Lage geschöpft, aus der weisen Abwägung

dessen, was die reine physische Macht, und dessen, was die

51

Probleme des Weltkriegs.

wohlverstandene Interessengemeinschaft von Führem und Geführten zu leisten vermag. Aber der Zwang der Lage

wird immer erst fruchtbar und schöpferisch durch die Geistes­

und Willenskraft des großen Staatsmanns. Und damit berühren wir eine Lücke in den geistvollen

Ausführungen Kjellens, die er zwar absichtlich gelassen hat und die wir von seinem wissenschaftlichen Ausgangspunkte aus begreifen, aber die wir von unserm Standpunkte

nicht als schlechthin notwendig ansehen können. Er schil­ dert uns wohl ziemlich alle heute sich regenden Tendenzen, Möglichkeiten und Zielgedanken, er stellt die zu formenden Kräfte dar, aber sagt nichts von dem sie formenden Willen,

der unter den verschiedenen Wegen des Handelns aus­ wählt und damit das Kommende entscheidet.

„Die poli­

tische Theorie", sagt Kjellen, „deckt Möglichkeiten auf;

auf die Staatskunst kommt es an, diese Möglichkeiten zu verwirklichen.

Darüber haben wir uns von dieser Stelle

aus nicht zu äußern." Der Historiker darf, wenn er als Publizist in die Gegenwart hineingreift, hier weiter gehen

als der Theoretiker der Politik, denn eben das Gebiet der Staatskunst muß ihn stärker locken, und mit den Erfahrungen,

die er an der Vergangenheit gesammell hat, darf er es wagen, auch der gegenwärtigen Staatskunst an den Puls zu fühlen. Mr verstehen es wohl, daß Kjellen auch als Ausländer

hier Zurückhaltung übte. Für uns aber hängt Sein und Nichtsein von der Frage ab, ob unser Steuermann das Schiff richtig steuert. Auch muß man einer zwar unbeab­ sichtigten, aber vielleicht möglichen Mrkung der Kjellenschen Bilder die Spitze abbrechen. Weil sie nämlich die äußersten



52

Probleme des Weltkriegs.

und blendendsten Möglichkeiten unserer Weltstellung und

überhaupt alle, östliche und westliche, europäische und überseeische Ziele, die aus unserer Lage emporsteigen, vor Augen führen, könnten sie beitragen zu jener Über­ hitzung der Phantasie, die bei uns schon eingetreten ist und die das Werk unserer verantwortlichen Staatsmänner furchtbar erschweren kann. Kjellens Darstellung gibt auch,

weil ihr das Komplement der sichtenden Staatskunst fehlt, ein zu biologisches Bild unserer Lage. Me von Naturge­ walten geführt, scheint es, müssen wir den Weg zum Persi­

schen Meerbusen uns bahnen und müssen wir dann unsere

asiatische Sphäre mit unserem afrikanischen Besitze zu vergliedern streben.

Der deutsche Industriestaat mit dem

türkischen Agrarstaat verbunden und in einem größeren Zirkel um den österreichischen Industrie- und den ungarischen

Agrarstaat können, so heißt es, „zu einer Welt für sich mit nahezu unbegrenzten Möglichkeiten" werden.

Gewiß

ein Ziel aufs innigste zu wünschen, und kein Zweifel ist, daß der Krieg ihm uns um ein gewaltiges Stück näher

gebracht hat, aber nur die Illusion kann glauben, daß es

schon das größere Stück des zurückzulegenden Weges ist. Mererlei Bedenken werden jeden weiteren Schritt und

jede

weitere Hoffnung begleiten müssen.

Einmal daß

die Arten und die Massen der Rohstoffe, die wir in abseh­

barer Zeit aus dem nahen Orient beziehen könnten, heute

eine recht unbekannte, vorläufig noch gar nicht genügende Größe sind. tamische

Weiter daß der kleinasiatische und mesopo­

Bauer,

Bergwerksarbeiter usw.,

der

sie uns

liefern soll, selber ein Gewächs ist, das erst gezogen werden

Probleme des Weltkriegs.

muß.

53

Die ganze schwere Frage, bis zu welchem Grade

das türkische Staatswesen und Volkstum einer innerlichen

Modernisierung fähig ist, erhebt sich hier. Unser erzieherischer Arm muß weit hinüberlangen und kann nur mit milden und schonenden Handgriffen unsere selbstbewußten und eigenwüchsigen Freunde im Orient anleiten.

Drittens

wird die teure Landftacht den Austausch unserer Produtte mit dem Orient gewalttg belasten.

Und viertens wird

der Weg zum Orient immer durch die Zonen zweier

fremder Staaten führen, die uns zwar jetzt befteundet und verbündet sind und es auch in Zukunft sein wollen —

aber jede besonnene und erfahrene Staatskunst sieht ftemde

Staaten als ftemde Staaten an und rechnet mit dem

Wechsel der Dinge. Alle diese Schwierigkeiten sollen uns nicht entmutigen, sollen und können vielmehr auch auf

uns erzieherisch wirken und unserer Politik jenen Grad von Reife, Schmiegsamkeit und Mäßigung, jenes Ver­ ständnis für das Wesen ftemder Völker geben, wodurch

die Polittk erst zur Kultur wird.

Aber die Vorsicht ge­

bietet, nicht unsere ganze Zukunft auf diese eine Karte zu setzen — und die Erwägung der jetzigen und künfttgen

Machtverhältnisse unserer Gegner gebietet, auch mit dieser Karte nicht aufs äußerste zu trumpfen.

Frankeich ist in

seinem Kampfe gegen England unter Ludwig XIV., Ludwig XV. und Napoleon I. unter einem Übermaße

konttnentaler und kolonialer Machtziele zusammengebro­ chen. Vestigia terrent. Unsere Orientpolitik und unsere Weltpolitik überhaupt kann nur dann auf eine solide und

gedeihliche Weiterentwicklung hoffen, wenn sie aus der

54

Probleme des Weltkriegs.

Zwickmühle der russisch-englischen Doppelgegnerschaft wieder

herauskommt.

Das ist nicht möglich ohne Entlastung

unserer Aufgaben, ohne Beschränkungen und Verzichte nach dieser oder jener Seite. Zum Glück haben doch auch wir eine gewisse Wahl der Wege; der überseeische Handel

und das unabweisbare Bedürfnis nach eigenen Kolonien

im tropischen Aftika weisen uns auch nach Westen und zu dem Versuche, den Frieden, den wir mit England einmal

schließen werden, nach dem Grundsätze „Leben und leben lassen" zu schließen. Auch in der furchtbarsten Steigerung

unseres Kampfes gegen England darf dieses Ziel nicht ver­

gessen werden. Es kann, wenn erst die Vernunft wieder drü­ ben anfängt zu sprechen, erreicht werden ohne Schmä­ lerung unserer selbständigen maritimen Macht, die wir uns

nie aus der Hand winden lassen dürfen. Das Gerede von unversöhnlichen Weltgegensätzen, das uns entgegentönt, läßt uns ganz kalt. Unversöhnlich sind derartige Weltgegen­

sätze recht oft nur durch den primitiven Geist der Machtpolitik geworden, durch Überspannung der Mittel, durch Miß­ verhältnis von Können und Wollen. Auf die sehr ernste

Möglichkeit, daß trotz aller Staatskunst die englisch-russische

Doppelgegnerschaft nicht zu sprengen sein wird, müssen wir uns gewiß einrichten und dann auf eine feste kontinentaleuropäische Autarkie hinarbeiten, an der sich der Ansturm

unserer Gegner wie jetzt so auch künftig brechen muß. Denn das ist ja mit die gewaltigste Erfahrung dieses Krieges,

daß die rationell durchgeführte militärische Defensive, ge­ tragen von der Kraft einer geistig und wirtschaftlich hoch­ entwickelten

Nation,

eine

ungeheure

Leistungsfähigkeit

Probleme des Weltkriegs.

55

gewonnen und den modemen Großstaaten einen beinahe undurchdringlichen Schutzpanzer gegeben hat. Die Einsicht in diese Tatsache zwingt die moderne Staatskunst zu Kon­

sequenzen, die der Geist einer primitiven Machtpolitik nicht ziehen würde. Primitiv aber ist es in der praktischen Politik, das Unmögliche zu begehren. Das Recht, dies zu

tun, haben die Götter der freien Sphäre des Geistes re­

serviert. Dürfen wir darauf vertrauen, daß unser leitender

Staatsmann diesen Weg einer modernen und aufgeklärten Staatskunst gehen wird, die uns vielleicht nicht zum Idealen, aber zum Erreichbaren und Erträglichen führen kann? Ich sage mit voller Überzeugung: Ja. Wir wünschen ihm

manche Eigenschaften, die er nicht hat. Es fehlt ihm gewiß nicht an innerer Fühlung mit allen gesunden und großen

Kräften der Nation, aber an dem Triebe, sie für den Dienst

seiner Politik zu organisieren und damit den eigensüchtigen

Organisationen der Parteien und Interessen ein Gegen­

gewicht zu schaffen. Seine geistige Natur hält ihn in einer vornehmen, aber nicht immer praktischen Einsamkeit fest. Aber diese Einsamkeit hat ihm die innere Freiheit gegeben,

die großen Interessen der Nation gereinigt von allem

Persönlichen und Subjektiven anzuschauen und in seinem Herzen zu bewegen. Mag es sein, daß bei seiner schweren und ernsten Art die Gedanken und Entschlüsse langsamer

heranreifen, aber sie reifen heran zu einer Kraft und ruhigen Entschlossenheit, die auch das Schwerste und Gewaltigste

auf sich zu nehmen vermochte. Mag es weiter sein, daß er zu sehr den großen und guten Grundkräften seiner

56

Probleme des Weltkriegs.

Politik vertraut, um auch die kleineren und oft so nötigen Mittel zur Beherrschung der Menschen immer zu handhaben, — aber wir wollen nicht den Staatsmann Bethmann Hollweg erschöpfend charakterisieren, sondern nur das eine,

worauf es heute ankommt, kräftig hervorheben, daß er den echten, rechten Sinn für die Staatsräson und für das vernünftige Gleichmaß von Können und Wollen in der Po-

litik besitzt und daß hinter aller Zurückhaltung der starke Ehrgeiz lebt, der den schaffenden Staatsmann beseelen

muß. In seiner großen Rede vom 5. April 1916 hat er so deutlich, als es der Augenblick und die Rücksicht auf die Flüs­

sigkeit der Verhältnisse erlaubte, die Grundzüge eines politischen Programms für den Friedensschluß gegeben,

das den vom Schicksal uns gewiesenen Weg richtig erkennt. Sie vernachlässigt nicht unsere kontinentalen Bedürfnisse

über den überseeischen und kolonialen, und wiederum diese nicht über jenen. Aber sie deutet zugleich jedem Verstehen­

den an, daß wir uns nicht, wie einst Frankreich von Lud­ wig XIV. bis Napoleon I., in ein ftuchtloses Übermaß von Aufgaben und Zielen verbeißen wollen. Diesen furcht­

barsten Fehler darf Deutschland unter keinen Umständen wiederholen, niemals dürfen wir uns selbst den Borwurf

zu machen haben, durch falsche Schachzüge unserer Politik

den im Grunde unnatürlichen Bund Englands und Ruß­ lands zu verewigen.

Grundsätzlich wäre unsere Politik

stets, wie wir nicht zweifeln, zu einem verständigen Separat­

frieden sowohl mit England wie mit Rußland bereit gewe­ sen. Aber nachdem unsere Siege im Osten und Südosten

den locus minoris resistentiae im Gefüge der Gegnerschaft

Probleme des Weltkriegs.

57

uns gezeigt haben, drängt alles darauf hin, unsere kon­ tinentale Machtstellung vor allem gegen Rußland auszu­ bauen. Nach Rumäniens Mederwerfung zeichnet sich die

Serechlinie vielleicht schon als künftige Grenze zwischen

Rußland und dem mitteleuropäischen Staatensystem ab. Sollte eine Verständigung mit Rußland auf dieser Grund­

lage einmal möglich werden, so könnten hier im Südosten

zwar nicht gerade ideale, aber für uns erträgliche Ver­ hältnisse von längerer Dauer geschaffen weiden.

Auch bei den

„realen Garantien" gegen westliche

Feindschaften, die wir nötig haben, ist der Spielraum zwischen dem ideal Wünschenswerten und dem Erträglichen

nüchtern und genau zu erwägen. Wohl wäre eine besser

geschützte Grenze gegen Westen dringend zu wünschen. Mer wir vertrauen darauf, daß unsere verantwortlichen

Heerführer und Staatsmänner das Maß dessen, was hier­ zu erreichen ist, richtig abstecken.

Frankreich hat doch,

was schmerzlich für den Augenblick, aber tröstlich für unsere eigene Zukunft ist, nicht schlechte Erfahrungen mit seinem

Sperrfortsystem gemacht. Verbunden mit den Hilfsmitteln

des modernen Stellungskrieges kann es auch uns instand setzen, eine mächtig gepanzerte Grenze gegen Westen zu schaffen und unseren westlichen Gegnern damit die Lehre

einprägen, daß künftige Kriege gegen uns viel Kosten und wenig Gewinn verheißen.

Dies also müssen die Grundgedanken unseres künftigen

politischen Systems sein: die russisch-englische Doppelgegner­ schaft durch eine geschmeidige und kompromißwillige Diplo­ matie zu lockern, die eigene militärische und maritime Macht

58

Probleme des Weltkriegs.

und den Schutz und Ausbau der Grenzen auf das höchste Maß des Erreichbaren zu steigern und durch einen klugen

Föderalismus die mit uns jetzt kämpfenden Staaten und

Nationalitäten in eine dauerhafte Interessengemeinschaft mit

uns zu ziehen. Mit innerster Befriedigung vemehmen wir

aus jener Kanzlerrede den freien und kräftigen Geist eines

föderativen

Nationalgefühls,

der

aus

diesem

Kriege

emporsteigen und die Zukunft Mitteleuropas tragen muß.

Es ist der Dreiklang von Macht, Nationalität und Kultur, der auch das Kjellsnsche Buch durchtönt, das Bekenntnis eines starken und klaren Willens und einer wahrhaftigen

Seele. Möge es die Nebel vertreiben, die unsere Exaltado-

heute aufgewirbelt haben.

Staatskunft und Leidenschaften. (Die Hilfe, 28. September 1916.)

Krieg ist hypertrophisch geworden.

Die furchtbare

Sommeschlacht scheint denselben Verlauf zu nehmen wie die kaum minder furchtbare Berdunschlacht: die Berge

kreisen und einige Dörfer werden genommen oder verloren. Durch Zusammenballung von Massen schwerer Artillerie und Munition werden unsere vordersten Linien derart mechanisch

zertrommelt, daß wir schließlich hier und da weichen müssen; aber unsere trotzige und zähe Kraft läßt sich jeden Fußbreit

Landes, den sie aufgibt, mit gewaltigen Opfern der Gegner

bezahlen und stellt ihnen immer neue, inzwischen ausge-

baute Linien entgegen. Wenn die Gegner hoffen, auf diesem Wege eine Entscheidung zu erzwingen, so müssen sie sich zugleich sagen, daß sie einen geradezu ungeheuerlichen

Preis dafür zahlen müssen und noch nicht einmal sicher sind, ob ihnen der Lohn ihrer Blut- und Geldopfer und der radikalen Zerstörung ganzer Landschaften ihres Gebietes

zuteil werden ivird. Das ist die neue, geradezu schauerliche Lehre dieses Krieges, vor allem des Krieges an der West-

60

Staatskunst und Leidenschaften.

front, daß ein nie dagewesenes Aufgebot von Kraft, von raffinierter Zerstörungsindustrie und Heldentum kämpfender

Riesenheere hüben und drüben zu Ergebnissen führt, die in früheren Kriegen als ganz nebensächlich gegolten hätten, weil der eigenüiche Zweck und Sinn des Krieges, die Ver­ nichtung der feindlichen Hauptmacht, dabei nicht erreicht

werden kann.

Welchen Sinn kann dabei dieses Morden

vemünfttgerweise noch haben? Als wir unseren Angriff

auf Verdun untemahmen, war der Sinn offenbar nicht der, die ftanzösische Hauptmacht dadurch entscheidend zu zertrümmern, sondem den Franzosen endgülttg zu beweisen,

daß sie nicht mehr siegen könnten. Der Fall von Verdun, oder, wenn dieser nicht erreicht wurde, die hoffnungslose Einklemmung und Zermürbung der die Festung verteidigen-

den Feldheere hätte ihnen diesen Beweis in der Tat liefern und sie dadurch zum Frieden stimmen können.

Das

hatte Sinn und Verstand und konnte, wenn es glückte, die Bahn zum Friedenswerk öffnen. Hat aber das Unter­ nehmen der Gegner an der Somme noch Sinn und Ver­

stand? Uns braucht man die Friedensstimmung nicht mit Gewalt einzuhämmern, wir sind bereit zu Verhandlungen,

wo hüben und drüben Gewinn und Verlust gegeneinander aufgerechnet, Faustpfänder ausgetauscht werden und

gesamt ein verständiger Kompromißfriede zustande kommen

kann.

Aber einen solchen Kompromißfrieden will man

drüben nicht und hat doch, menschlichem Ermessen nach,

nicht die Kraft und Möglichkeit, mehr zu erreichen. Ms ich kürzlich einem neutralen Politiker die Meinung äußerte,

daß der Friede, den wir jetzt schließen könnten, ungefähr

Staatskunst und Leidenschaften.

61

ebenso aussehen würde wie der, der übers Jahr geschlossen werden würde, stimmte er mir zu, aber war mit mir der Mei­

nung, daß er in der Tat erst im nächsten Jahre zustande kommen werde. Und in denselben Tagen hörte ich die gut beglaubigte Äußerung eines englischen Staatsmanns zu

einem Neutralen: Wenn Deutschland und England erst ein­ mal sich an den grünen Tisch setzen würden, so würde die Verständigung wahrscheinlich sehr rasch erfolgen. Also auch drüben blitzt vereinzelt die Einsicht in die wahre Lage der Dinge auf. Denn daß sie vereinzelt und vorläufig noch be­

deutungslos ist, zeigt die Handlungsweise der Gegner, die mit

chr nicht zu vereinigen ist. Eine Zeitlang konstruierte ich mir die Motive unserer westlichen Gegner etwa so: „Schließen wir jetzt einen Frieden, einen Kompromißfrieden mit Deutsch­

land, so würde er, auch wenn er zur Räumung Belgiens

führen sollte, doch immer noch einen moralischen Sieg Deutsch­ lands und einen Zusammenbmch des westeuropäischen Prestiges bedeuten, den wir nicht zugeben wollen und

dürfen. Da nun eine völlige Niederwerfung Deutschlands

nicht zu erreichen ist, so gilt es zum mindesten so viel mili­

tärisches und politisches Prestige und so viel erreichbare Faustpfänder wie möglich noch einzusammeln und aufzu­ häufen, bevor wir an die unangenehme Arbeit des gegen­

seitigen Aufrechnens, Marktens und Verhandelns gehen.

Damm die große Doppeloffensive in Ost und West im Sommer 1916, dämm die Knetung Griechenlands und

die Auspeitschung Rumäniens." Mer ich bin durch den Verlauf der Dinge irre geworden, ob man den Gegnem mit dieser rationellen Deutung ihrer Motive nicht zu viel

62

Staatskmst und Leidenschaften.

staatsmännische Überlegung zutraut.

Ein sehr kundiger

Mann bemerkte mir, daß er im Verhalten der englischen

und französischen Staatsmänner keinerlei Klarheit und Wirklichkeitssinn mehr zu entdecken vermöge; die einmal mobil gemachten Leidenschaften wirkten automatisch weiter, es würden Schlachten geschlagen, Kräfte vergeudet, weil sie

einmal da seien, und so werde nur die völlige Erschöpfung

dem sinnlos gewordenen Kriege ein Ende machen. Es spricht in der Tat vieles für diese trübe Auffassung. Der Charakter der jetzigen gegnerischen Kriegführung im Westen mit

ihrem ungeheuerlichen und verzehrenden Kraftaufwand und ihren geringen Erfolgen und Aussichten ist so fanatisch und leidenschaftlich, daß man dahinter nur die wilde und doch chimärische Hoffnung vermuten kann, uns wirklich ganz

niederzuwerfen und zu vernichten. Wie aber, wenn dies durch eine verbissene Fortführung des Kampfes nach zwei,

drei Jahren doch noch gelingen sollte? Dann wäre es ein

Pyrrhussieg der Gegner im schlimmsten Sinne. Sie wären dann selber dermaßen erschöpft und machtlos, daß die beiden einzigen

noch

intakten

Weltmächte,

Nordamerika

und

Japan, automatisch in die Höhe schnellen und die Ent­ scheidungen der Weltpolitik bestimmen würden.

Insbe­

sondere hätte dann Japan Trümpfe in der Hand, die es rücksichtslos ausnutzen würde. Das russisch-japanische Ab­

kommen deutet darauf schon hin, wie Japan, den Rücken

frei gegen Rußland, und ohne, wie wir, in das Dilemma der russisch-englischen Doppelgegnerschaft zu geraten, dann

in Ostasien vorgehen würde.

Mll England nach dem

Weltkriege finanziell und militärisch stark genug bleiben.

EtaatSkunst und Leidenschaften.

63

UM seine bisherige Machtstellung zu behaupten, so dürfte

es jetzt nicht Raubbau treiben durch eine Kriegführung, die ihr

letztes, höchstes Ziel, wenn überhaupt, doch nur durch eine schließliche Selbstentwaffnung erreichen kann.

Die Leidenschaft also, nicht die Staatskunst herrscht

jetzt anscheinend drüben.

Die russische Politik, der man

sonst einen primitiveren und roheren Charakter nachsagt, ist eigentlich, genau besehen, heute rationeller als die der westeuropäischen Großmächte.

Sie wäre wahrscheinlich

vollauf

Konstantinopel

zufrieden,

wenn

sie

gewänne.

Das ist ein bestimmtes, scharf umgrenztes Ziel, und wenn wir auch hier gewiß sind, daß sie an dem bulgarisch-türkisch-

deutschen Widerstande scheitern wird, so versteht man doch, vom russischen Standpunkte aus gesehen, daß man die

nie wiederkehrende Gunst der Weltlage erst noch einmal

ganz und gar auspressen und ausnutzen will, ehe man an Frieden denkt. Verschwommen, maßlos und schlecht durch­

dacht mutet uns dagegen die Absicht unserer westeuropäischen Gegner an, ein großes, von unverwüstlicher innerer Lebens­

kraft und Energie erfülltes Volk wie das deutsche in Gmnd und Boden stampfen zu wollen. Staatskunst und Leidenschaften, — ein großes, ge­

waltiges, des schärfsten Nachdenkens und der eindringendsten historischen und politischen Untersuchung würdiges Thema.

Der verstorbene Münchener Historiker Felix Stieve hat einmal über Staatskunst und Leidenschaften im 17. Jahr­

hundert lehrreich gehandelt und dabei ausgeführt, wie so manches, was wir als großartige Politik zu bewundem geneigt sind, mitunter nur die Frucht einer durchaus un-

64

Staatskunst und Leidenschaften.

staatsmännischen Leidenschaft war. Mir will es jetzt scheinen, als ob ganz große Wandlungen im Verhältnis von Staats­ kunst und Leidenschaften im Laufe der letzten Jahrhunderte,

zusammenhängend mit allen übrigen Wandlungen des Staaten- und Völkerlebens, vor sich gegangen sind. Anders verhielten sich Staatskunst und Leidenschaften zueinander

im ^Zeitalter der absoluten Monarchie, der sogenannten Kabinettspolitik, — anders im Zeitalter des nationalen Prinzips, des modemen Nationalstaats. Die Machtpolitik

des ancien rögime, der absoluten Herrscher, verfügte nur über begrenzte Mittel und Kräfte, rasch versiegende Finanzquellen, rasch zusammenschmelzende Söldnerheere.

Sie mußte mit diesen beschränkten Kräften kunstgerecht balancieren, mit möglichst geringem Aufwand möglichst große Ergebnisse zu erzielen suchen. Die Manöverstrategie

des 18. Jahrhunderts, die möglichst viel durch Manöver, langatmige und ermüdende Stellungskämpfe und Belagemn

gen erzielen, möglichst selten an den opferheischenden Schlachtengott appellieren wollte, veranschaulicht klassisch die damalige Lage. Die Staatskunst wurde zu einer rech­ nenden und klügelnden Schachspielkunst, die in Machiavell ihren Meister verehrte und von trüben und kleinen Leiden­ schaften, die das Auge blenden und die Hand irre machen

konnten, ftei zu bleiben suchte.

So Richelieu und Ma-

zarin, so Friedrich der Große und Kaunitz.

Dennoch ist

auch die Staatskunst des ancien rßginie von menschlichen

genugsam überschwemmt worden. Das waren aber die Leidenschaften eines kleinen Kreises von

Leidenschaften Menschen,

unfähigen

Monarchen,

ehrgeizigen

Rivalen

65

StaaiSkunst und Leidenschaften.

der leitenden Staatsmänner, intrigierenden Fürstinnen, Höflingen, Maitressen usw. Mer man wird verstehen, daß

die absolutistische Regierungsform, wenn die Menschen danach waren, einer gereinigten und rationellen, immer zugleich wägenden und wagenden Staatskunst und Macht-

politik besonders günstige Entwicklungsbedingungen bot. Der Steuermann am Ruder konnte sich ganz auf seine Aufgabe konzentrieren.

Nur war sein Schiff eben zu Nein, um

sich weit aufs hohe Meer hinauszuwagen.

Die großen

Koalitionskriege des 17. und 18. Jahrhunderts konnten sich wohl jahrelang hinziehen, aber nur, weil mit den

beschränkten Mitteln und kleinen Heeren große, durchgrei­

fende und rasche Erfolge nicht zu erzielen waren. Man brach sie ab, wenn die staatsmännische Überlegung sich sagte, daß mit dem vorhandenen Maße der Kräfte ein

Mehr nicht zu erreichen war. Eine neue Zeit in der Staatskunst zog mit der fran­

zösischen Revolution und Napoleon herauf. Mt den Heeren

der Nationalstaaten, der Konskription und allgemeinen Wehrpflicht wurden höhere Ziele erreichbar, eine rücksichts­

losere Machtpolitik möglich. Höflinge und Damen genierten

nicht mehr den großen Feldherrn und Staatsmann, aber

seine eigenen ungebändigten Leidenschaften konnten ihn dazu verführen, Mißbrauch mit den gewaltigen Kräften,

die ihm jetzt zur Verfügung standen, zu treiben. Das war

das Schicksal Napoleons.

Das Zeitalter der Restauration

und Heiligen Allianz dämmte darauf die Staatskunst und Machtpolitik wieder vielfach ein, brachte aber, worüber

ich hier nicht weiter reden will, wieder andere Trübungen Mei necke, Probleme bei Weltlrieas.

5

Staatskunst und Leidenschaften.

66 der

reinen,

rationellen

Staatskunst

hervor.

Bismarck

war dann der Mann, der die reine, wägend-wagende

Staatskunst des ancien regime, Richelieus und Friedrichs des Großen, wieder in ihre Ehre und ihr Recht einsetzte, aber sie nun ausübte mit den gewaltigen Hebelkräften

des modemen Nationalstaates. Diese Synthese der Staats­

kunst und Machtpolitik des 18. und 19. Jahrhunderts, absolutistisch und national zugleich durchweht, kühn und

maßvoll zugleich, war eine Wunderleistung des geschicht­ lichen Lebens. Weder die Leidenschaften, die in ihm selbst

brannten, noch die Leidenschaften eines kleinen Kreises — Augusta und Harry von Arnim haben chm ja nichts anhaben können, — noch auch die Leidenschaften der staatlich

organisierten, zu Selbstgefühl und Machtbedürfnis erwach­

senen Nation haben Blick und Hand dieses Steuermannes jemals beirrt.

Denn das ist ja nun die gefährlichste Quelle von Leiden­ schaften, die die Staatskunst in unserem Zeitalter trüben,

daß die

ungeregelten,

ganzen Nationen den

unerzogenen

Machtinstinkte

der

Steuermann am Ruder stoßen

und drängen können. Und um so gefährlicher, je gewaltiger

die Hilfsquellen der modemen Nation in militärischer, wirtschaftlicher und technischer Hinsicht sind. Und noch gefährlicher, wenn die Regiemngsformen des National­ staats es ehrgeizigen und skrupellosen Emporkömmlingen erreichtem, aus Ruder zu kommen, wo sie nun, gestoßen

und stoßend zugleich, hantieren.

So war es schon vor

Napoleon im Frankreich der Revolution, als die Girondisten

zum Kriege trieben und nach dem Frieden von Basel

67

Staatskunst und Leidenschaften.

die maßhaltenden Elemente überrannt wurden. Man muß es aussprechen, was übrigens auch schon Bismarck

gewußt hat, daß den modernen parlamentarisch und demo­ kratisch organisierten Staaten gewisse Bremsen der Staats­

kunst fehlen, die den Mißbrauch ihrer enormen Macht­ mittel verhüten. Es fällt mir nicht ein, deshalb die Rückkehr

zum Absolutismus zu empfehlen oder auch nur vor dem demokratischen Wesen

wamen.

ausnahmslos und

schlechthin

zu

Steht, wie bei uns, den demokrattschen Einrich­

tungen eine starke und unabhängige Monarchie gegenüber, so kann man ohne Gefahr in der Demokrattsierung des

inneren Staatslebens noch ein gutes Stück weiter gehen, als wir bisher gegangen sind, und man wird es sogar aus

Gründen vernünftiger Staatskunst tun müssen, um die Station so geschlossen wie möglich zu machen und so eng

wie möglich mit dem Staate zu verknüpfen. Aber die Unabhängigkeit der monarchischen und staatsmännischen Lei­

tung von populären Tagesströmungen muß dabei gesichert bleiben, wenn wir nicht in einen ähnlichen Strudel geraten sollen,

wie unsere westeuropäischen Gegner.

Es wird

vielen Anhängern demokrattscher Gedanken schwer an­ kommen, auf das Ideal des parlamentarischen Regimes

zu verzichten. Und doch wünschte ich, daß sie sich die ernste Frage vorlegten, ob der spezifisch deutsche Typus von Demokratte, den wir auszubilden haben, desselben wirklich

bedarf und ob es uns nicht mehr Schaden als Nutzen bringen würde. Wir können uns der frischen Erfahrung nicht ent­ ziehen, daß es nur zu leicht der Demagogie der Straße, dem

Rufen und Schreien der Halb- und Dreiviertelgebildeten

ö*

68

Staatskunst und Leidenschaften.

erliegt und schlotterndes, vom Sturmwind der Leidenschaf­ ten gepeitschtes Advokatengesindel oder skrupellose Ge­ waltmenschen wie Lloyd George ans Ruder bringt. Die heu­

tigen Träger der westeuropäischen Demokratie, die Asquith,

Poincare, Salandra und Sonnino diskreditieren, ztvar nicht das demokratische Prinzip überhaupt, aber den westeuro­ päischen Typus von Demokratie. Krieg und Staatskunst

sind deswegen jetzt hypertrophisch geworden, weil die De­ mokratie dort hypertrophisch geworden ist. Sie kann den

Weg in den Krieg hinein, aber nicht aus dem Kriege heraus zu einem staatsmännischen Frieden wieder finden.

So

treibt sie nun mit den ungeheuren Machtmitteln der modemen Nationen einen fürchterlichen Mißbrauch,

weil

die Machthaber zurückschaudem vor dem Tage, wo die Leidenschaften

schweigen

müssen

und

die

Staatskunst

wieder in ihr Recht treten und sie zur Verantwortung ziehen wird. Wieder muß man an die ftanzösischen Revo-

lutionskriege zurückdenken, an die Zeiten der Direktorial­ regierung, wo die Direktoren, kleine, aber ehrgeizig-heiße Menschen wie Poincare und Briand, Scheite auf Scheite in die Kriegsflammen warfen, um sich nur selbst, solange

gekämpft wurde, am Ruder zu halten und den Augen­ blick hinauszuzögern, wo die Heere vom Schlachtfelde in die Heimat zurückkehren würden. Unsere heutige deutsche Staatskunst ist, wie wir mit

ruhiger Gewißheit sagen können, frei von Leidenschaften,

wenigstens so frei, als es Menschen überhaupt zu sein ver­ mögen. Das schließt nicht aus, daß menschliche Schwäche

und Gebrechlichkeit auch in ihr spielen. Unsere Politik hat

69

Staats kunst und Leidenschaften.

in den letzten anderthalb Jahrzehnten zweifellos schwere

Fehler gemacht, über die später wohl erst gründlich und unverhüllt gesprochen werden kann, — ohne daß man die Frage, ob uns ein Bismarck den Weltkrieg erspart

haben würde, je wird mit Sicherheit beantworten können.

Auch fehlt es bei uns nicht an sozialen Elementen, die eine ähnlich verhängnisvolle Rolle in der auswärtigen Politik zu spielen geneigt sind, wie die Emporkömmlinge der west­ europäischen Demokratie. Aber diese Elemente bekreuzigen

sich bei uns zugleich gemeinhin mit großer Feierlichkeit

vor jeder Gemeinschaft mit dem „demokratischen Sumpfe" und gehaben sich als die wahren Vertreter alter guter Tradition und Kultur. Und doch ist unseren Annexionisten

die alte sichere Tradition einer festen und besonnenen Staats­ kunst ganz verlorengegangen, und von Bismarck haben

sie nur die Kürassierstiefel und nicht den Kopf geerbt. Me

es nun kommt, daß drüben die demokratisierte Gesellschaft, hüben

die

antidemokratisch

gestimmten

Schichten

zum

Nährboden einer trüben und leidenschaftlich überspannten

Machtpolitik werden konnten, das ist ein Problem, das für

sich erörtert werden muß.

Sehen wir genau zu, so sind

doch die sozialen Elemente, die hüben und drüben in Be­

tracht kommen, sich im Grunde vielfach verwandter, als man nach ihrem politischen Glaubensbekenntnis vermuten möchte. Es ist die mächtige Schicht der Halb- und Drei­

viertelgebildeten, die in der modemen Gesellschaft allent­

halben emporgestiegen ist und sich breit macht, aus der vor allem die unllaren Leidenschaften und Überspannungen modernen Macht- und Lebenswillens emporsteigen.

Wer

70

Staatskunst und Leidenschaften.

wollte diesen Macht- und

Lebenswillen je

unterdrückt

wissen? Er ist es, der uns heute in unseren schwersten Schick­ salsstunden aufrecht hält und uns Freiheit und Sicherheit der Existenz erkämpfen wird.

Aber nur ein gezügelter

Mlle kann uns zum Ziele führen.

Dieser freilich muß

dann in sich aufs äußerste angespannt werden. Unseren Hee­

ren brauchen wir das nicht zuzurufen, denn sie leisten schon das Übermenschliche. Aber ein Bolkswille, der auch das äußerste auf sich zu nehmen entschlossen ist, muß dahinter

stehen. Mr haben unseren Gegnern nicht nur den Willen zu einem staatsmännischen Frieden zu zeigen, sondern

auch den Mllen und die Kraft, sie in den Abgrund, in den sie uns stoßen wollen, mit hinunterzureißen.

Nur durch

solchen Anblick höchster Selbstzucht und höchster Entschlossen­ heit bei uns können wir sie noch einmal von der Leidenschaft zur Staatskunst zurückführen.

giltst Bülows Deutsche Politik. (Historische Zeitschrift 117, 1; 1916.)

ürst von Bülow hat seinen Beitrag zu dem 1913

erschienenen Sammelwerke „Deutschland unter Kaiser Wilhelm II." erheblich erweitert und durch die Erfahrungen

des Weltkriegs bereichert zu einem Buche umgestaltet, das in der historisch-politischen Literatur unserer Tage einen besonderen Rang behaupten wird. Es umfaßt, zuwei­

len

erzählend,

häufiger erörtemd,

äußere

und innere

Politik und setzt gewissermaßen die literarische Gattung

der „Politischen Testamente" bedeutender Staatsmänner

und Regenten des ancien rtigime fort, ähnlich wie die „Ge­ danken und Erinnerungen" seines großen Amtsvorgängers,

doch ohne den memoirenhaften Charakter derselben.

Es

ist eine durchaus staatsmännische, nicht historische, aber auch nicht rein publizistische Hervorbringung.

Es will

rechtfertigen und einwirken zugleich. Es ist seinem Kerne

nach eine Darlegung der Grundgedanken und Leistungen seiner eigenen Amtsführung, und alle Linien, die aus ihr in die folgende Zeit und in den Weltkrieg hinein gezogen

72

Fürst Bülows Deutsche Politik.

werden, verlängern eigentlich nur diejenigen, die er für

seine eigene Amtsführung schon zeichnet, und bleiben sehr

viel skizzenhafter wie diese.

Man erwarte darum kein

volles und erschöpfendes Bild unserer Gesamtlage vor und während des Krieges, wohl aber ein höchst interessantes,

sehr überlegtes und zugleich unwillkürlich charakteristisches

Bild dieser Lage vom Standpunkte der Bülowschen Reichs­ kanzlerschaft aus.

Er hält offenbar auch absichtlich mit

seinen Urteilen über die Dinge seit 1909 zurück, und man kann nur an mehreren Stellen zwischen den Zeilen spüren, daß er kritisch über sie und über die Leistungen seines Nach­ folgers denkt.

Etwas deutlicher wird er wieder in der

Angabe seiner Kriegsziele.

Man vernimmt mit höchstem

Interesse, daß er die bekannten Forderungen der sechs

von

„rühmenswert"

großen

Wirtschaftsverbände

nennt.

Das gibt einen Anhalt für die jetzige Stellung

1915

Bülows zu den Parteien und heutigen Gegensätzen unseres

öffentlichen Lebens.

Mehr haben wir an dieser Stelle,

wo wir nicht die tagespolitische Bedeutung seines Buches zu würdigen haben, darüber nicht zu sagen.

Mit warmer Anerkennung aber nmß man es hervor­ heben, daß gerade die geschichtliche Seite seines Denkens sehr kräftig entwickelt ist. Er hat sich, Bismarck darin nach-

eifernd und vielfach von ihm beeinflußt, ein ganz bestimmtes Bild von den Grundkräften der deutschen Geschichte und

von den politischen Qualitäten des deutschen Volkes geformt: Natürlich nicht aus eigentlich wissenschaftlichem Erkennt-

nistriebe, sondern um die Unterlagen für staatsmännisches

Handeln in Deutschland zu gewinnen. Eine Grundansicht

Fürst Bülows Deutsche Politik.

73

von ihm ist, daß unserem Volke bei aller Fülle großer Eigenschaften das politische Talent bisher versagt geblieben sei. Es liege im deutschen Charakter, die Tatkraft vorwie­

gend im Besonderen zu üben, das allgemeine Interesse

dem einzelnen, dem engeren, unmittelbaren, fühlbaren nach­ zustellen, ja unterzuordnen. Der partikularistische Geist des Deutschen habe sich jetzt von den Einzelstaaten auf die

Parteien verlegt, die deutsche Treue zum Parteiführer

sei selbstlos, vorurteilslos und kritiklos.

Opposition gegen

die Regierung zu organisieren, sei in Deutschland niemals

schwer, aber immer sei es schwer, oppositionelle Bewe­ gungen innerhalb einer Partei zum Erfolge zu führen. So sieht er denn auch die Ursache für die verbitternde

Leidenschaftlichkeit unserer neueren wirtschaftlichen Kämpfe

nicht in Fehlem der Wirtschaftspolitik, sondem in der Unvollkommenheit unseres politischen Lebens.

„Deutsch­

land war vielleicht das einzige Land, in dem die praktischen

wirtschaftlichen

Fragen

peinlich

und

kleinlich auf den

Leisten der Parteipolitik geschlagen wurden". Mt diesem

Partikularistischen Grundzuge hänge der Mangel an Kontinui­ tät in der ganzen deutschen Geschichte von Karl dem Großen bis Bismarck zusammen, in dem er unser Verhängnis sieht. Einmaliger großer Leistungen seien wir wohl fähig,

und so sei auch jetzt in diesem Kriege unser Volk über sich selbst hinausgewachsen; aber nur zu oft sei in früheren Zeiten

auf die durch die Not erzwungene Einigung ein Ausein­ anderfallen gefolgt. Wenn unser Volk trotz alledem politisch

in die Höhe gekommen ist, so liegt das nach Bülow, der sich dabei auf Goethes und Bismarcks Urteile beruft, an

74

Fürst Bülows Deutsche Politik.

einer anderen Eigenschaft des Deutschen. „Der Deutsche,

welches Stammes er immer sei, hat stets unter einer starken,

stetigen und festen Leistung das Größte vermocht, selten ohne eine solche oder im Gegensatz zu seinen Regierungen

und Fürsten." In Deutschland sei wie kaum in einem anderen Lande die Kraft der Regierungen ausschlaggebend. Bülow rechnet also mit einem einmal gegebenen un­

veränderlichen Nationalcharakter.

Aus ihm erklärt er im

letzten Grunde die Besonderheit unseres politischen Lebens, aus ihm entnimmt er die Maximen des Handelns. Man

versteht, daß der Staatsmann nach solchen festen Gegeben­ heiten strebt. Der Historiker kann ihm nicht unbedingt

darin folgen.

Der Staatsmann steht in der Versuchung,

die Fülle seiner zeitgeschichtlichen Erfahrungen hinein zu

projizieren in die Vergangenheit und sie mit ihr zu einer konstanten Einheit zu verbinden, wo dann die Gefahr, das Mannigfaltige zu vereinfachen, sehr nahe liegt.

Der Historiker sieht mehr auf den Fluß der Dinge, auf die Ent­

wicklung neuer Kräfte, auf die Wirkungen singulärer Schick­ sale und Ereignisse. Er versteht den Satz von der Kontinuität

alles historischen Geschehens nicht dahin, daß in der Tiefe alles beim Alten bleibt, sondem daß alles Neue int engsten

Konnexe mit dem Alten emporwächst. Grundeigenschaften der Bolkscharaktere erkennen auch wir an, erkennen auch

diejenigen an, die Bülow uns zuschreibt, aber können ihm nicht zustimmen darin, daß der ungeheure Umschwung von 1870 das Wesen des Deutschen unverändert gelassen

habe.

Wenn aus dem Charakter des Volkes seine Schick­

sale, zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich mit

Fürst Bülows Deutsche Politik.

75

erklärt werden dürfen, so muß auch der Charakter selber

wieder aus den ihn treffenden Schicksalen, gewiß nicht allein, aber recht wesentlich mit erklärt werden. Die Schick­ sale schaffen zwar keine neuen Charakterzüge, aber vermögen

die vorhandenen teils zu fördem, teils zu hemmen, so daß es schließlich doch zu ganz neuen Dosierungen dieser Züge

und damit auch wesentlichen Veränderungen des Gesamt­ charakters

kommen

kann.

Diese

historische

Auffassung

könnte selbst das staatsmännische Handeln beftuchten. Denn sie befreit von der lähmenden Vorstellung, daß das deutsche Volk, unpolitisch von Natur, ein für allemal darauf angewie­ sen sei, bloßes Instrument in der Hand starker Regierungen

zu sein.

Die politischen Fähigkeiten des deutschen Volkes

haben sich im 19. Jahrhundert ohne Frage gesteigert;

selbst auf den Umwegen, auf die der Deutsche durch seinen

verbissenen Parteipartikularismus geführt wurde, ist er doch schließlich vorangekommen, und die Erziehung durch die Parteien, Vereine, Gewerkschaften usw. kann propä­

deutisch für den Staat vorbereiten.

Darf sich doch Fürst

Bülow selber als ein Erzieher der Parteien zum Staats­

bewußtsein fühlen. Seine Blockpolitik hat, wie er mit Recht sagen kann, ein weiteres Stück Boden für den nationa­

len Gedanken im Volke erobert und hat einen wesent­ lichen Anteil daran, daß die Wehrvorlagen, die früher gegen den Starrsinn der Parteiprogramme zu kämpfen hatten, fortan glatt durchgingen. Bemerkenswert ist dabei auch sein

Urteil, daß er in der Blockpolitik keine innerpolitische Universalmedizin gesehen und niemals eine dauernde Aus­ schaltung des Zentrums in seine Rechnung gestellt habe.

76

Fürst Bülows Deutsche Politik.

Die Blockpolitik war ein glücklicher Griff der Bülowschen Ära, der über die Bismarckschen Traditionen hinaus­

ging und sie doch dabei fruchtbar fortentwickelte.

Auf

allen übrigen Gebieten der inneren Politik ist der Zusam­ menhang der Bülowschen Tendenzen mit den Bismarck­ schen Traditionen noch viel enger.

zu

einem

Büww bekennt sich

Staatskonservatismus und

unterscheidet

ihn

scharf vom Parteikonservatismus. In den Parteien Deutsch­ lands sieht er nur sekundäre Bildungen; als die eigent­ lichen Träger des Staatslebens erscheinen ihm die mon­

archischen Regierungen,

und

für das

parlamentarische

System fehlen, meint er, bei uns die geschichtlichen Vor­ aussetzungen.

So dachte auch Bismarck, aber immerhin

spürt man bei Bülow trotz seiner scharfen Kritik am deut­

schen Parteiwesen ein weicheres und nachgiebigeres Verhält­ nis zu den Parteien als bei Bismarck. Er steht ihnen nicht

so stark und herrisch gegenüber wie dieser; er wünscht ihnen etwas

von der

„leichten

Versöhnlichkeit"

seiner

eigenen gewandten Natur und redet Konservativen und Liberalen gut zu, daß sie einsehen möchten, wie sie als

Parteien immer dann am stärksten gewesen seien, wenn sie zusammengegangen seien.

Tiefere Weltanschauungs­

und Kulturprobleme sucht er von der Behandlung politi­ scher Fragen möglichst fern zu halten. Das tat auch Bis­ marck, aber bei Bülow erscheint das alles lässiger und glatter,

und was er über die Sozialdemokratie sagt, ist trotz einiger guter Bemerkungen unbefriedigend und oberflächlich. Am engsten schloß sich Bülow den Bismarckschen

Traditionen in seiner Wirtschaftspolitik und Ostmarken-

Fürst Bülows Deutsche Politik.

77

Politik an. Die Regierung, so sagt er gut, darf nicht wie ein Kaufmann nur die Konjunkturen ausnutzen, sie muß

ihre Mrtschaftspolitik der gesamten nationalen unterordnen.

Politik

Nicht nur das gegenwärtige wirtschaftliche

Wohlbefinden, sondern vor allem die künftige gesunde

Entwicklung der Nation sei sicherzustellen.

Daß allein

schon die politische Selbstbehauptung mis zwingt, das System des kombinierten Agrar- und Industriestaats selbst mit Opfern für die städtische Bevölkerung aufrecht

zu halten, hat wohl der Krieg endgültig gelehrt, und man

versteht, wenn Bülow mit Genugtuung erklärt, daß der

Zolltarif von 1902 aus der Reihe der Voraussetzungen des Sieges in diesem Kriege nicht fortzudenken sei. Bei der Erör­ terung der Ostmarkenftagen wiederholt und unterstreicht

er die Bedenken, die Bismarck gegen ein autonomes Kon­ greßpolen oder gegen seine Verbindung mit Österreich geäußert hat.

Als Ziel unserer eigenen Ostmarkenpolitik

nennt er die Versöhnung der Staatsangehörigen polni­

scher Nationalität mit dem preußischen Staate und der deutschen Nation, aber so, daß unter allen Umständen unser nationaler Besitzstand im Osten, die Einheit und Sou­ veränität

des preußischen

Staates sichergestellt

werde,

was ohne Härten und Schärfen nun einmal nicht möglich sei. Unzweifelhaft ein staatsmännisches Ziel; ungeheuer

wichtig und schwierig aber ist die Frage, ob die Wege zu diesem Ziele nach dem Kriege noch genau dieselben sein

können, wie vorher.

Im wesentlichen sind Bülows Erörterungen auch hier mehr voraugustlich orientiert.

78

Fürst Bülows Deutsche Politik. Bismarcks auswärtige Politik wurde weniger ange­

fochten als seine innere. Mrd es der Bülowschen Politik vielleicht einmal umgekehrt ergehen?

In der inneren

Politik konnte er im großen und ganzen dem sicheren Leit-

steme der Bismarckschen Tradition folgen. In der auswär­ tigen Politik hatte er über ganz neue Wege und Ziele sich zu entscheiden, denn der Eintritt Deutschlands in die Weltpolitik vollzog sich unter ihm. Die Weltlage, aus der der Krieg hervorbrach, bildete sich zur Zeit seiner Amtsführung.

Man muß sich gewiß von vornherein hüten, mit einem vorschnellen post hoc — propter hoc die Bülowsche Politik

dafür verantwortlich zu machen, daß der russisch-französische Zweibund sich zur Entente mit England erweiterte und so die gegnerische Koalition die gefährliche Überlast erhielt,

die zur Lawine wurde. Denn, so sagt er mit Recht, wir

sind in die Weltpolitik nicht hineingesprungen, wir sind in sie hineingewachsen. Mein schon durch den Ausbau der Flotte, den wir seit 1898 vomahmen, traten wir, um mit ihm zu reden, in eine Gefahrenzone erster Ordnung

ein, und Deutschland mußte dieses Wagnis aus unentrinn­ barem Zwange auf sich nehmen, wenn es nicht auf den

Schutz und die Geltendmachung seiner überseeischen In­ teressen verzichten wollte. Mit dem Flottenbau war zu­ gleich auch automatisch der Gegensatz zu England gegeben. War damit auch der früher oder später ausbrechende Krieg

Englands gegen Deutschland unentrinnbar und zwangs­ läufig? Bülow bestreitet es energisch und spottet mit

Recht über die naive Auffassung, die im Kriege ein unver­ meidliches Naturereignis wie Erdbeben oder Platzregen

Fürst Bülows Deutsche Politik.

sieht.

79

Da unsere eigene Weltpolitik anders als die der

früheren großen Rivalen Englands sehr viel mehr defensiv als offensiv war, so war es nicht aussichtslos für eine behut­ same und feste Staatskunst, den schmalen Weg durch die

Klippen der europäischen Gegnerschaften hindurchzusteuem.

Das war Bülows ausgesprochene Absicht, und er deutet es

mehr als einmal an, daß er einen Ruhmestitel seiner Kanz­ lerschaft darin sehe, diesen Weg zu seiner Zeit noch gefunden zu haben. Es ist nun heute noch nicht an der Zeit, in eine

eingehende Nachprüfung seiner Politik und des Bildes, das er in seinem Buche gibt, einzutreten. Wohl aber darf man ihm schon jetzt eine Reihe gewichtiger Fragen ent­

gegenhalten und feststellen, daß er selber seinen Lesem

nur eine ungenügende Antwort auf diese Fragen bietet. Die verhängnisvolle Verschlechterung unserer Weltlage trat dadurch ein, daß sich die englische Gegnerschaft mit

der französisch-russischen Gegnerschaft verknüpfte.

Mußte

das geschehen? Die Voraussetzung dafür trat doch erst

dadurch ein, daß wir im Oriente eine ganz neue Reibungs­ fläche gegen Rußland erhielten, die zur Zeit Msmarcks

noch nicht bestanden hatte. Dasselbe Jahr 1898, das die erste Flottenvorlage erlebte, brachte auch die Rede des Kaisers in Damaskus, die das Symbol unserer neu ent­

standenen orientalischen Interessen wurde.

Schon vorher

aber hat ein weitsichttger englischer Diplomat unsere ersten

Schritte in der anatolischen Bahnftage begrüßt und gefördett, weil nun Deutschland dadurch künfttg auch gegen Rußland engagiert sei! Man wird die ernste und schwere Frage nicht los, ob der Eintritt in die orientalischen Interessen

80

Fürst Bülows Deutsche Politik.

für uns ebenso notwendig und unabweislich war, wie der Einkitt in die Flottenpolitik, ob es weise und richtig

war, zur selben Zeit die Grundlagen für eine künftige englische

und künftige russische

Die Bülowsche Darstellung

Gegnerschaft zu legen.

gleitet über dies Problem

hinweg. Die Rede von Damaskus aber und die Beziehungen zum Islam haben, wie Bülow selber erzählt, auch auf unsere Marokkopolitik 1905 eingewirkt.

„Wir hätten uns

um jeden Kredit in der islamischen Welt gebracht, wenn wir so kurze Zeit nach diesen Kundgebungen Marokko an die Franzosen verkauft hätten." Unsere orientalischerl

Rücksichten hinderten uns also im Jahre 1905 das zu tun, was im Jahre 1911 dann doch wirklich geschehen ist. Nun

läßt es Bülow zwar dahingestellt, ob Frankeich 1905

überhaupt geneigt war, einen uns annehmbaren Preis zu zahlen.

Sollten die Aken aber einmal ergeben, daß

Frankreich uns im Jahre 1905 wesentliche und wertvolle

Kompensationen für Marokko zu geben bereit war, so

würde die Bülowsche, im Grunde damals wohl von Hol­ stein gemachte Politik, die uns nach Algeciras und in alle

Marokkonöte der folgenden Jahre führte, schweren kriti­

schen Einwänden ausgesetzt werden. Bülow meint fteilich, daß durch die Konferenz von Algeciras und durch ihre

wichttgsten Beschlüsse die Absichten der deutschen Politik mit Bezug auf Marokko im wesentlichen erreicht worden

seien.

Aber diese Beschlüsse schufen, wie die folgenden

Jahre zeigten, Lage.

eine ganz zweideuttge und unhaltbare

Sie waren ein

fatales diplomattsches Notwerk

81

Fürst Bülows Deutsche Politik.

und Flickwerk. Die Zufriedenheit Bülows mit ihnen kann seine Leser unzufrieden stimmen.

Begreiflicher ist die Befriedigung, mit der Bülow den Verlauf der bosnischen Krise schildert.

„Sie wurde",

erklärt er sogar, „tatsächlich das Ende der Einkreisungs-

politik Eduards VII." Durch sie, so sagt er weiter, wurde weder der Krieg entfesselt noch auch unser Verhältnis zu Rußland ernstlich geschädigt, und die Einkreisung Deutsch­

lands habe sich als ein diplomatisches Blendwerk erwiesen,

dem die realpolitischen Voraussetzungen fehlten. Mr fürchten, daß man diese Aufmachung der Dinge selber später als Blendwerk bezeichnen wird.

Denn die real­

politischen Voraussetzungen der Einkreisungspolitik waren mit ehemer Notwendigkeit gegeben, seitdem Rußland den Schwerpunkt seiner Machtpolitik von Ostasien wieder

nach dem nahen Orient verlegte und dort nun auf uns stieß. Der deutsche Erfolg in der bosnischen Krisis war ein bedeutender Augenblickserfolg, aber ohne dauemde Wir­

kungen. Rußland wich, so wird man doch wohl vermuten dürfen, deswegen damals vor Österreich-Ungarn und uns zurück, weil es die Nachwirkungen des japanischen Krieges und der inneren Revolution noch nicht überwunden hatte,

weil es sich noch nicht stark und gerüstet genug fühlte, um so wie in den Augusttagen von 1914, auf England und

Frankreich gestützt, das große Spiel um Konstantinopel wagen zu können. Man könnte diese Fragen und Zweifel an der Soli­ dität der Bülowschen Politik noch vermehren. Sie treffen

aber, um es noch einmal zu betonen, nicht ihre Ziele, sott* Meinecke, Probleme des Weltkriegs.

6

82

Fürst Bülows Deutsche Politik.

beut ihre Mittel und Wege, lassen sich auch erschöpfend heute

noch gar nicht diskutteren. Und noch weniger ist es heute angebracht und möglich, aus diesen Zweifeln irgendwelche Konsequenzen für unsere zukünftige Haltung zu ziehen.

Nur das historische Urteil über die nun hinter uns liegende Vorgeschichte des Weltkrieges und die Verteilung der Ver­ antwortungen in ihr gilt es zu klären und die spätere For­ schung darüber vorzubereiten durch Aufstellung von Fragen,

die in der glatten Bülowschen Darstellung entweder über­ gangen oder verwischt sind.

Die Reform des preußischen Wahlrechts. (Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung, V, 1.)

ie und wann auch der Weltkrieg zu Ende gehen mag, des Einen sind wir im Innersten gewiß, daß wir unzerbrochen aus diesem Anprall der Übermacht hervor­

gehen werden. Zwei Ursachenreihen danken wir das, einer technisch-wirtschaftlichen und einer ethisch-politischen. Die heutigen technischen Kriegsmittel geben der Defen­

sive eines hochorganisierten Staates eine so ungeheure Kraft, daß auch eine physische Überlegenheit an Menschen und Kriegsmitteln sie nicht niederzuzwingen vermag. Die guerre d'usure, auf die die Gegner hoffen, rechnet

falsch.

Denn die Verteidigung kann so geführt werden,

daß der Angreifer verhältnismäßig mehr

leiden

muß

als der Angegriffene, und den Sieg, den er durch einen jahrelang fortgesetzten Zermürbungskrieg erhofft, am Ende

doch nicht mehr zu erzwingen vermag, weil ihm die Kraft zu entscheidenden Stößen inzwischen selber ausgegangen ist. Ebensowenig führt die wirtschaftliche Zermürbung

zum Ziele.

Die Not machte den Angegriffenen erfinderisch

84

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

und schuf mit ehernem Zwange einen ganz neuen Apparat staatssozialistischer, binnenländischer Mrtschaft, der zwar

mangelhaft genug ins Leben trat, aber sich mehr und mehr

zu vervollkommnen strebt. Hinter Heeresleistung und Mrtschastsleistung aber steht die moralische Kraft einer Nation, die in der höchsten aller politischen Fragen, in dem Kampfe um Existenz und Freiheit von ausländischer

Gewalt, nur Einen Willen heute hat. Ist es nicht die höchste aller politischen Aufgaben, diese mächtige Willenseinheit mit allen erdenklichen und möglichen Mtteln zum

Maximum ihrer

Stärke

hinaufzutreiben?

Mr haben

ungewöhnliche, früher nie für möglich gehaltene Mttel

jetzt ergriffen, um die Physische Arbeitsleistung des Volkes für den Kriegsbedarf zu verdoppeln. Sollte uns das nicht

den Mut geben, Ungewöhnliches zu wagen, um auch die innerliche Quelle dieser Arbeit, die hingebende Lust und

Liebe der arbeitenden Massen, zu reinigen und zu ver­

tiefen, damit ein Strahl von höchster Kraft aus ihr ent­ springe? Der Grundgedanke des Gesetzes über den vater-

ländischen Hilfsdienst ist es doch schon, daß die hier prokla­

mierte Arbeitspflicht aller Männer der Nation nur dann leisten kann, was sie leisten soll, wenn sie gem und freudig

geleistet wird. Die Arbeitenden wollen und sollen sicher sein,

daß ihre materielle Lage durch die Umstellung ihrer Arbeit sich nicht verschlechtere, daß ihre persönlichen und genossen­

schaftlichen Freiheitsrechte nicht mehr, als für den vorüber­ gehenden Zweck unbedingt nötig ist, eingeschränkt werden; daß

eine

unparteiische

Kontrolle sie schütze.

ihre

Interessen

mitvertretende

Indem die Regierung auf diese

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

85

berechtigten Forderungen einging, hat sie das erste und

dringendste getan, um die neue Bolkspflicht auch volks­ tümlich zu machen.

Kann sie nicht noch mehr und noch

Wirksameres dafür tun? Die Dinge drängen zu heroischen

Entschlüssen auf allen Gebieten, um neue Quellen der Macht zu erschließen.

Man hat den polnischen Staat

aufgerichtet und die Bedenken, die man dagegen haben mußte, nicht leichtsinnig vergessen, sondem zurücktreten

lassen hinter das Gebot der Stunde. Man hat die Arbeit

in den Werkstätten zu einer Ehren- und Zwangspflicht aller arbeitsfähigen Männer in der Heimat gemacht, ohne die wirtschaftlichen Erschütterungen zu scheuen, die sie haben könnte. Hier wie dort bricht man mit alten un­ tauglich gewordenen Tradittonen und wagt den Sprung

in das Neue. Sollte man ihn nicht auch da wagen, wo der Sprung schon längst erwogen und wiederholt angekün­

digt war?

Jetzt und gerade jetzt ist der psychologische

Moment gekommen, um an die sogenannte Neuorientterung unserer inneren Politik, voran an die Reform des preußischen Wahlrechts zu gehen und damit nicht nur einen Haupt­

wunsch unserer arbeitenden Massen zu erfüllen, sondern auch ein neues starkes Band um sie und den nationalen Staat zu knüpfen. Am Anfang der Entwicklung, die zu einem preußischen

Berfassungsleben geführt hat, steht ein noch heute sehr gültiges Wort des Freiherrn vom Stein, das er im Jahre 1808

niederschrieb,

um

seine

Berfassungsabsichten

zu

begründen: „Ich glaube, man muß bei den ruhigen Deut­ schen, die, wie einer unserer Schriftsteller sagt, unter allen

86

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

Zeiten am meisten die Bedenkzeit lieben, eher Reizmittel anwenden als Opiate." Memals sollte man den Ursprung

des

preußischen

Berfassungsgedankens

vergessen.

Ver­

fassung und Volksvertretung sollten eine Waffe im Kampfe

um die nationale Existenz, den Stein damals schon ent­ fesseln wollte, sein. Die Volksvertretung sollte die Volks­

erhebung einleiten.

Volksvertretung und Volkserhebung

wie Glieder einer Kette oder wie Griff und Schwert zu­ sammengeschmiedet, — wie muß uns dieses eherne Be­

griffspaar noch heute, und gerade in der heutigen Stunde

packen! In Waffen und Sturm geboren, wäre das preu­

ßische Bersassungsleben für immer durch die Weihe ge­ heiligt worden, von den unwägbaren Werten umwittert

worden, die die allgemeine Wehrpflicht aus allen Niederun­

gen des Kasementons und Kommißdienstes immer wiederhoch gerissen haben. Auch der Urheber des Gesetzes über die allgemeine Wehrpflicht und der noch heute geltenden Heeresverfassung, Boyen, hat damals 1808 schon seine

Stimme erhoben und den König gebeten, eine preußische Volksvertretung einzuberufen.

Auch seine Worte können,

wie altväterisch sie auch klingen mögen, heute wieder ein aufmerksames Ohr beanspruchen: „Noch belebt das Gefühl treuer Anhänglichkeit an Eure Königliche Majestät den

bei weitem größten Teil Ihrer Untertanen, und besonders

die niederen Stände sind, wenn sie liebreich ermuntert und geleitet werden, großer Aufopferung fähig. Es schlum-

mem nur die Kräfte, aber die Menschen im Osten sind nicht schlechter als die im Westen, und jedes Volk will nur seine eigene Behandlung, um es für Gott,

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

87

König und Vaterland zu begeistern." Heute müssen zwar etwas andere Töne angeschlagen werden, denn für lieb­ reiche Ermunterung und patriarchalische Leitung ist der Mann aus dem Volke nicht mehr recht empfänglich. Dafür

ist seine Aufopferungsfähigkeit noch so lebendig wie damals und vielleicht doch inhaltsreicher und wertvoller, weil sie aus hellerer Bewußtheit, aus reiferem Persönlichkeits­ gefühl und aus stärkerer Spannung aller Lebensverhält­ nisse hervorgeht.

Aber wie hoch steht dafür der sozial­

psychologische Instinkt der preußischen Reformer von 1808, der in den damaligen einfachen und anspruchslosen, bei­ nahe vegetativ dahinlebenden Menschen der niederen Volksschichten die schlummernde Kraft und die Anlage zu politischer Selbsttätigkeit und Freiheit erkannte und

entwickeln wollte. Und wie bedeutend ist ihr staatspsycholo­

gischer Gedanke, die Fragen der Verfassung und des Exi­ stenzkampfes in Einem Schmelztiegel vereint zusammen­

zuschmelzen. Für große gesetzliche Neuerungen ist der Moment der Entstehung oft geradezu entscheidend. Ob kleine oder große Gesichtspunkte bei ihnen obwalteten, ob bloße Routine oder staatsmännische Erwägung, abnö­ tigender Zwang oder selbständiger Entschluß zu ihnen hinführten, ob sie, wie der Philosoph sagt, heteronom oder autonom entstanden sind, das prägt sich ihnen oft fast unverlierbar auf. Dem preußischen Berfassungswerke

ist es nicht gut gewesen, daß es fast drei Jahrzehnte zu

spät zum Abschluß kam. aus sozialen und

Ein Mißtrauen, das nicht nur

politischen

Sonderinteressen, sondem

auch aus einer geistigen Enge und Verständnislosigkeit

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

88

für die treibenden Kräfte der Zeit erwuchs, hat die Zeiten

verpaßt, wo eine Berfassung für Preußen organisch und eigenartig preußisch als Abschluß der Stein-Scharnhorst,

schen Reformen, als Ausdruck der wertvollsten Tendenzen

des preußischen Staatslebens hätte ins Leben treten können. Das preußische Berfassungswerk verlor dadurch seinen bodenständigen preußisch-deutschen Charakter, wurde hin­

eingerissen in die westeuropäischen Berfassungskämpfe und

durch sie vielfach gefärbt und abgelenkt. Das importierte Gedankengut des westeuropäischen Liberalismus und die

überlieferten Machtbedürfnisse des Staates wurden in der Berfassung.von 1850 nur in einer widerspruchsvolleil

Legierung miteinander verschmolzen.

So kam ein etwas

gequältes Kompromiß zustande, das widerwillig gegeben

und

mißtrauisch ausgenommen den Keim zu endlosen!

Hader in sich trug. Erträglich wurde es eigentlich dann erst einigermaßen, als Bismarck den Überbau der nationalen Einheit und der Reichsverfassung darüber wölbte und

die ungelösten Probleme, die in der preußischen Verfassung steckten, dadurch verdeckt wurden und in den Hintergrund

traten.

An der Reichsverfassung hafteten nun alle die

unwägbaren Werte, die eine große, das Leben der Nation

frei

überschauende

staatsmännische

Tat

ihren

Werken

mitzugeben vermag. Sie wurde — ihrer wenig volkstüm­ lichen Sprache zum Trotz — volkstümlicher als die preußische Berfassung, und sie wurde es nicht nur deswegen, weil

das Staatsleben der geeinten Nation naturgemäß fortan

eine stärkere und tiefere Teilnahme erregte als das Staats­ leben selbst des größten Einzelstaates. Sondern sie wirkte

89

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

vor allem deswegen so überzeugend

und

gewinnend,

weil man ihre Großzügigkeit, ihre Elastizität, ihre lebendige

Entwicklungsfähigkeit

von

vornherein

spürte,

weil

sie

Raum bot für die freie Bewegung aller in ihr vereinigten politischen Kräfte. Auch sie war ein Kompromiß zwischen den

Interessen der Regierenden und der Regierten und ein Werk nicht nur Bismarckscher Weisheit, sondern auch Bismarckscher List. Auch sie hat, wie die preußische Ver­

fassung, starke Bastionen der Macht aufgerichtet für die

Regierung, die oft genug heiß und leidenschaftlich um­ kämpft worden sind.

Aber diese Leidenschaften hatten

ein Ventil, — das allgemeine gleiche Wahlrecht.

Wenn

es zu Auflösungen des Reichstags und zum Appell an die Wählerschaft kam, so hatte ihr Ausspruch doch jedesmal eine

gewisse

ausgleichende

und

beruhigende

Mrkung.

Mr denken hierbei gar nicht an die ja doch niemals ganz

zu befriedigenden Wünsche der einzelnen Parteien, die auch durch Auflösungen und Neuwahlen nicht aus der

Welt geschafft werden können,

sondern bemühen uns

lediglich, die Dinge ganz von oben zu sehen.

Man hat

sich doch.nur zu fragen, wie es gegangen wäre, wenn wir im Reiche statt des jetzigen Wahlrechts das preußische Dreiklassenwahlrecht gehabt hätten. Gewiß, vielleicht wäre

es dann nie zu Auflösungen gekommen, die Regierung hätte in manchen Dingen ein bequemeres Leben gehabt und die durch das Dreillassenwahlrecht begünstigten Parteien erst recht.

Wer eine brennende Unzufriedenheit in den

Massen wäre entstanden, mit der verglichen alle bisherige

Agitation der Sozialdemokratie harmlos genannt werden

90

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

kann. Ein fortlaufendes Stoßen, Pochen und Hämmem von unten, eine in Wahrheit revolutionäre Grundstimmung

hätte sich entwickelt. Die Regierung aber hätte die freie

Stellung über den Parteien, die sie sich wünscht und die auch wir ihr wünschen, verloren, und wäre unentrinnbar an die konservativen Parteien gekettet worden. Alle schon

vorhandenen Gegensätze im Reiche hätten sich verschärft

und verbittert, das Reich wäre nicht zusammen, sondern auseinander gewachsen. Man denke nur an die Macht der Gegenströmungen, die sich in den übrigen Bundes­

staaten, voran den süddeutschen, mit ihrem freieren Wahl­ recht und ihren liberalen Traditionen entwickelt haben würden. In den Bundesrat wäre die Spaltung getragen

worden.

Hätte

die

Reichsregierung

die

Sozialreform

mit so freiet und staatsmännischer Abwägung der miteinan­

der auszugleichenden Interessen, wie es doch im großen und ganzen gelungen ist, durchführen können? Die Wirt­ schaftspolitik hätte einen ganz exttemen Charatter erhalten,

die Heeresverstärkungen, die Flottengründung hätten, —

um von der einstigen Abneigung einzelner Konservattver gegen die „gräßliche Flotte" ganz zu schweigen, — niemals jenes Maß von nationaler Resonanz erreichen können, dessen sie bedurften.

Nach aller historischen Erfahrung,

wie sie uns die Zeit der Restauration, der Juli- und Februar­

revolution liefert, darf man urteilen, daß auch die aus­ wärtige

Politik,

die

Geltendmachung

unserer

Lebens­

und Machtinteressen in der Welt, schwer gelitten haben

würde unter der inneren Spannung, die die Regierung gezwungen haben würde, alle Kraft auf die mühsame

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

91

Verteidigung des herrschenden, durch und durch unpo­ pulären Systems zu konzentrieren. Die rivalisierenden fremden Großmächte würden im Deutschen Reiche einen der Revolution entgegenreifenden Staat gesehen und ihn danach eintaxiert und behandelt haben. Jeder einsichtige

deutsche Staatsmann hätte danach streben müssen, aus

solcher nach innen wie nach außen drückenden und pressen­

den Lage herauszukommen.

Mer Wahrscheinlichkeit hätte

man es doch nicht, wie einst das mit seinen Bankiers, Fabrikbesitzern und Zweihundertfranks-Wählern in den Tag hineinlebende Julikönigtum, bis zum Äußersten kom­ men lassen, sondern das konservative Herrschaftssystem abzubauen begonnen. Aber mit wieviel Krisen und Ärger­

nissen wäre es geschehen.

Wieviel weiser und richtiger

war es, es von vornherein im Reiche überhaupt nicht aufzurichten, sondern den Tropfen demokratischen Oles, dessen es bedurfte, sogleich herzugeben.

Wir beantworten also die alte Streitftage, ob Bis­

marck recht getan hat mit der Verleihung des allgemeinen Reichstagswahlrechts, mit einem runden Ja. Wir tun

es im vollen Bewußtsein aller Mängel dieses Wahlrechts, mit voller Kenntnis aller Unerfreulichkeiten, die es ge­ bracht hat. Präsentiert man die Rechnung dieser Mängel

und Schäden, so kann man sofort eine überreichliche Gegen­

rechnung der Schäden jedes anderen Weges präsentieren. Man könnte sich ja die Möglichkeit denken, daß Bismarck einen Mittelweg zwischen demokratischem und Dreiklas­ senwahlrecht gegangen wäre, etwa die Zahl der Reichs­

tagswähler ähnlich beschränkt hätte, wie es noch heute

92

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

England mit seinen Parlamentswählern tut.

Aber jede

Beschränkung würde bei den Ausgeschlossenen die bittere Empfindung erregt haben, vom Reiche überhaupt aus­

geschlossen zu sein, Staatsbürger zweiter Klasse, lediglich Objekt eines Herrschastsstaates zu sein. In England wirken

andere freie Einrichtungen und Eigenschaften des Staats­

und Volkslebens dieser Empfindung entgegen.

Deutsch­

land aber mit seinen starken monarchischen, militärischen

und bureaukratischen Einrichtungen

bedurfte notwendig,

als es sich zum volleren und breiteren Nationalstaate emporentwickelte, eines entsprechend starken Gegengewichtes,

um das Vertrauen der Masse nicht zu verscherzen.

Man

wird einwenden, daß es ja doch nicht erreicht habe, sie

zufrieden zu stellen, daß man sie, wieviel man auch gewähren möge, nie befriedigen werde, bis man nicht den ganzen

Staat an sie ausgeliefert habe.

Das ist fast das Haupt­

argument, mit dem man sich in konservativen Kreisen

stark zu machen sucht gegen jedwede demokratische Konzession. Ein rechtes Argument für den kurzsichttgen und egoistischen

Durchschnittsmenschen, der seine Behaglichkeit nicht opfern

will.

Der Staatsmann aber hat lediglich zu fragen, wie

er sich gegenüber

elementaren Strömungen des Volks­

lebens verhalten soll.

Er kann sie durch alle Deichbauten

nicht zwingen, sich in einen ruhigen Teich zu verwandeln,

wohl aber kann er sie zu einem ruhigen Abfluß zwingen. Und

das

ist

geschehen

durch

das

Reichstagswahlrecht.

Auch wir legen es hier nicht darauf an, die Zufriedenheit und volle Zustimmung der Demokratie und Sozial­

demokratie zu gewinnen.

Mr argumentieren nicht vom

93

Die Reform des preußischen Wahlrechts. Boden

demokratischer

Interessen aus.

Ideale,

sondern

rein

staatlicher

Deutschland ist nun einmal nicht zur

reinen Demokratie geschaffen. In seinen bürgerlichen Schichten und in der ganzen bäuerlichen Bevölkerung wurzelt die monarchische Überlieferung so tief, daß die verständigen und realpolitisch denkenden Sozialdemokraten

schon jetzt mit ihr zu rechnen begonnen haben und wie zum Großherzog, so auch zum Kaiser den Weg zu finden wissen werden. Auch aristokratische Lebensauffassung ist trotz

aller demokratischen Massenbewegung so tief eingesenkt in deutsches Empfinden, so fest gestützt nicht nur durch unsere

gesellschaftliche Struktur und Sitte, sondem auch durch den Geist, den unsere höchste in Goethe gipfelnde Kultur ausströmt, daß, wenn man es nur richtig anfängt und die natürlichen Hergänge nicht stört, auch unsere Demo­ kratie aus sich selber neue Aristokratie entbindet und damit

organisch hineinwächst in die alte Gesellschaft und die nationalen Kulturzusammenhänge. Die allerstärkste Stütze der Monarchie aber ist der Zwang unserer politisch-geogra­

phischen Lage, die stete Bedrohung von Ost und West, der nie aus der Welt zu schaffende Doppeldruck günstiger

gelegener Groß- und Weltmächte auf unsere Grenzen und Auslandsinteressen.

Nur eine fest in sich beruhende Mon­

archie gibt uns die Bürgschaft straffer Zusammenhaltung unserer Machtmittel und besonnen-fester, weder schwäch­

licher noch chauvinistisch extravaganter Außenpolitik.

Be­

kannt ist das Wort Seeleys, daß das Maß von Freiheit

im Staate umgekehrt

Grenzen

lastenden

proporttonal

sei

militärisch-polittschen

dem

auf

Drucke.

den

Man

94

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

darf es freilich nicht mißbrauchen zur Rechtfertigung eines absolutistischen Militarismus. Richtiger und zugleich schlich­ ter müßte der Satz so lauten, daß das Maß der Machtmittel

und Machtzusammenfassung im Staate proporttonal sein müsse dem auf seine Grenzen ausgeübten Drucke. Die Machtzusammenfassung wird durch die Monarchie am stärksten gesichert.

Zu den Machtmitteln eines Staates

aber gehören nicht nur Soldaten und Kanonen und Disziplin,

sondem auch solche moralische Qualitäten einer Natton, die nur in der Luft sittlicher ünd polittscher Freiheit ge­ deihen können. Auch politische Freiheitsrechte können zu

Waffen im Kampfe um Macht, Unabhängigkeit und Exi­ stenz werden, und das Maximum polittscher und militärischer

Macht erreicht ein Nattonalstaat wie Deutschland dadurch,

daß er den Macht- und Freiheitsgedanken in sich vereinigt und die Grundmauern der Macht und Autontät, deren

er bedarf, zwar fest und graniten, aber so weit und ge­ räumig anlegt, daß das ganze flutende Leben einer bis in seine untersten Schichten von Selbstbewußtsein und

Persönlichkeitsstolz erfüllten Natton sich darin frei und mit Freuden entfalten kann. Die Formen und Grade dieses Verhältnisses von Autontät und Freiheit können

und müssen wechseln mit den veränderten Zeiten, aber

der synthettsche Grundgedanke drängt sich, seitdem über­ haupt ein polittsches Nationalleben bei uns erwacht ist,

in allen großen Krisen des Staates mit elementarer Gewalt

immer wieder auf und ringt nach Gestaltung. Es ist der gemeinsame Gedanke der Stein-Schamhorstschen Refor­ men und der Msmarckschen Reichsgründung, und selbst

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

95

der mit halber Kraft unternommene Versuch von Rado­

witz 1849, die Revolution innerlich zu überwinden durch Aufrichtung eines konstitutionellen Nationalstaates, erhält

dadurch

seine

geschichtliche

Bedeutung

als

Mittelglied

einer Entwicklungsreihe von wunderbarer Einheitlichkeit.

Meder also ist nun nach einem halben Jahrhundert der geschichtliche Moment gekommen, für den Bund von

Macht und Freiheit eine neue Form zu finden. Mr bringen

den

tieferen

Sinn

der

Bismarckschen

Reichsgründung

wieder zu Ehren, indem wir die Umwallungen des freien Nationallebens, die er schuf, etwas weiter hinaus legen. Der Kem des Problems ist das Verhältnis des preußischen

Staates zum Deutschen Reiche. Die Bismarcksche Lösung

dieses Problems aber war, wie wir jetzt immer deutlicher erkennen, nichts anderes als ein geniales Provisorium;

eine Entwicklungsstufe, auf der schon das tatsächliche Leben und die unmerkbar sich fortbildende ungeschriebene Ver­

fassung nicht stehen geblieben sind.

Bismarck stellte den

preußischen Staat, so wie er war, als Zitadelle in das Staatsleben des Reiches hinein. Ihn und seine Festigkeit

kannte er, aber nicht so genau kannte er die noch uner­ probten Kräfte, die sich im Reiche auswirken sollten. Man

versteht es, daß er deshalb Sorge trug, alle Macht- und

Herrschaftsmöglichkeiten, die in den Rechten des preußischen Königs und den Handhaben der preußischen Verfassung lagen, sorgfältig zu bewahren. Zur Zeit des norddeutschen Bundes hat er wohl vorübergehend an „eine Vereinfachung

des Räderwerkes", vielleicht dabei auch an eine Angleichung des von ihm damals bekanntlich aufs schärfste vemrteilten

96

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

preußischen Dreiklassenwahlrechts an das Reichstagswahl­ recht gedacht, aber auf dem vergrößerten Boden des Reiches lieferte ihm gerade der Dualismus von Abgeordnetenhaus

und Reichstag ein für ihn unschätzbares Herrschaftsmittel, — denn seine und des preußischen Staates Frontstellung

veränderte sich zugleich auf ihm ganz wesentlich. Sein ur­

sprüngliches System war auf einen Bund der preußischen

Krone mit der deutschen Nationalbewegung gegangen — der demokratisch gewählte, unitarische Reichstag sollte der preußischen Monarchie und dem Kaisertum als Gegen­

gewicht und nötigenfalls als Waffe gegen den Partikularis-

mus der Einzelstaaten dienen; umgekehrt selbstverständlich

auch der Bundesrat als Gegengewicht gegen eine zu demo­ kratische Entwicklung des Reichstages.

Diese

doppelte

Frontstellung verwandelte sich in eine einfache Frontstel­ lung durch die loyale Einfügung der Bundesstaaten in

den Reichsorganismus und durch das Aufkommen der neuen Massenparteien des Zentrums und der Sozialdemo­

kratie.

Gegenüber einer oppositionellen Reichstagsmehr­

heit Mndthorst-Richter-Grillenberger wuchs das seit den 80 er Jahren konservativ zusammengesetzte Abgeordneten­

haus für die Regierung zum Range einer mächtigen Hilfs­ bastion heran. Kein deutscher und preußischer Staatsmann

konnte an eine Reform des Dreiklassenwahlrechts denken, solange die großen Macht- und Lebensbedürfnisse des Reiches, die Heeres-, Flotten- und Kolonialforderungen in Gefahr standen, von den Oppositionsparteien im Reichs­

tage geleugnet oder verstümmelt zu werden. Mr wollen

uns hier nicht zu tief in die Frage einlassen, wie diese fatale

97

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

Atmosphäre des gegenseitigen Mißtrauens zwischen Regierung und Opposition entstanden ist und wer — denn die Schuld lag auf beiden Seiten — das größere Maß der

Schuld daran trug. Nach unserer Ansicht wiegen die Sünden der damaligen Opposition allerdings schwerer als die der Regierung.

Aber wie es immer geschieht, so arbeiteten

nun die Extreme für einander. Je schärfer der Würd von links wehte, um so schärfer wurde der Gegenwind von

rechts.

In diesen jahrzehntelangen Kämpfen gegen eine

zwar nicht immer gleichmäßig feste, aber in kritischen Momen­

ten sich immer wieder zusammenschließende oder doch dro­

hende Kampfesgemeinschaft von Zentrum, Linksliberalismus und Sozialdemokratie wuchs auch die Kampfes- und Hilfs­ gemeinschaft der Regierung und der Konservativen inner­

lich neu zusammen, und der konservative Einfluß in Preußen

wie im Reiche und damit auch im letzten Grunde das Drei-

llassenwahlrecht konnten sich deswegen behaupten, weil der Reichstag dem Reiche nicht gab, was das Reich von der Vertretung der Nation verlangen konnte. In dieser Lage

konnte also das preußische Dreiklassenwahlrecht als ein unentbehrliches Korrektiv des Reichstagswahlrechtes er­ scheinen. Wir sprechen diesen Satz ruhig aus, ohne zu

fürchten, eines Widerspruches geziehen zu werden, wenn wir gleichzeitig daran festhalten, daß es richtig und poli­ tisch weise war, trotzdem das Reichstagswahlrecht nicht anzu­ tasten. Das Reichstagswahlrecht hat die Übel, mit denen man im inneren Leben des Reiches zu kämpfen hatte,

nicht hervorgerufen, sondem nur entschleiert und fühlbar gemacht im Tagesbetriebe der Gesetzgebung. Mr bleiben Mei necke, Probleme des Weltkriegs.

7

98

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

dabei, daß diese Übel auf die Dauer nur ärger geworden wären, wenn man das Reichstagswahlrecht beseitigt hätte.

Aber so eigentümlich verschränkt war nun die Lage, daß

derjenige, dem Reich und Nation int ganzen am Herzen lagen, weder dem Reiche das preußische, noch dem preußi­ schen Staate das Reichstagswahlrecht wünschen konnte. Wer das Reichstagswahlrecht gründlich reformieren wollte,

opferte die Zukunft dem Bedürfnis des Augenblicks. Wer

das preußische Wahlrecht gründlich reformieren wollte,

stand in Gefahr, die unabweisbaren Bedürfnisse des Augen­ blicks einer unsicheren Zukunftshosfnung zu opfern. Unsere

von großen Dualismen durchzogene Geschichte hat sich die Ironie solcher verzwickten Situationen nicht selten geleistet. Die Mitlebenden fteilich faßten sie nichts weniger

als heiter ironisch, sondern die einen verbissen und trotzig,

die anderen dumpf und resigniert auf.

Schließlich aber

können zwei ineinander gefahrene Wagen nicht ewig die Landstraße versperren, und das gesunde Leben einer Nation

wird auch mit ihnen fertig. Bon zwei Seiten her kam die Wendung zu einem

anderen und besseren Zustande, setzten Entwicklungen ein, die auf eine Lösung des Dilemmas hindrängten. Die eine ging von den Bedürfnissen des Reichs und der Reichs­ regierung, die andere von den Parteien aus.

Ungewollt,

aber durch elementare Gewalt ist das Staatsleben des

Reiches immer unitarischer geworden.

Kein Staatsmann

hat daran gedacht, die föderalistische Struktur des Reiches planmäßig zu ändern, die Rechte des Bundesrates bewußt zu verkürzen. Sie bestehen noch heute genau so, wie Bis-

99

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

marck sie mit den Regierungen der Einzelstaaten verein­ barte, und doch hat sich der Schwerpunkt der Reichsgesetz­ gebung völlig verschoben.

Nicht im Bundesrate, sondern

in den Reichsämtern entstehen die meisten der Entwürfe

für die Gesetze, die der Bundesrat dem Reichstage vorlegt,

und für die Verordnungen, die er erläßt. Der Bundesrat

kann diese Vorarbeit der Reichsämter gar nicht mehr entbehren, aber er >vird dadurch von ihnen nun doch tat­

sächlich sehr abhängig.

Die Reichsbureaukratie wird so

zum Hebel des Unitarismus.

Sie kann gar nicht anders,

als unter dem Gesichtspunkte des einheitlichen Reichs­

ganzen denken und wollen, arbeiten und entwerfen. Und

sie hat ihr einheitliches Zentrum im Reichskanzler, dem

Vorgesetzten der Staatssekretäre.

Zu Bismarcks Zeiten

war es seine mächtige Persönlichkeit, die alle Fäden im

Reiche und zwischen Reich und Preußen zusammenhielt. Jetzt ist im Reiche selbst ein mächtiger Organismus von

Zentralbehörden erwachsen, der nun durch seine Schwer­ kraft und durch die Bedeutung und die Fülle seiner Arbeit die Dinge im Reiche zusammenhält. Der Reichskanzler bürgt durch seine übergeordnete Macht dafür, daß inner­ halb dieses Organismus keine zwiespälügen Tendenzen

aufkommen, aber die Last, die er früher trug, wird jetzt von zahlreicheren Schultern mit getragen.

Und die Gesamt­

macht dieses Reichsorganismus, für den der Name „Reichs­

leitung" aufgekommen ist, ist immer noch im Steigen, und zumal während des Krieges, der ihm ganz neue ungeahnte

Aufgaben und Erweiterungen gebracht hat.

Ein solcher

Organismus aber will, das liegt in seiner Natur, sich dehnen

7*

100

Tie Reform des preußischen Wahlrechts.

und strecken, will nicht nur arbeiten, sondern auch frei und aus eigener Wurzel heraus arbeiten. Das bedeutet nicht,

daß er nach bureaukratischem Absolutismus streben muß. Im modernen Staate kann es keine einzelne absolute Ge­ walt mehr geben, sondem Ausgleich und Kompromiß und Suchen nach der Diagonale der Kräfte ist in ihm die stete

Losung. Aber dieser Ausgleich darf nicht zu schwer gemacht

werden; die Zahl der Räder, die ineinander greifen, darf

nicht zu groß werden.

Soll der Steuermann nicht nur

nach rechts und links, sondern auch hinter sich immer Um­ schau halten, um Zusammenstöße zu vermeiden, so arbeitet er unsicher und schlecht.

Unsere Reichsleitung hat gerade

genug zu tun, wenn sie ihre Arbeiten auf die Billigmlg des Monarchen und auf die Fühlung mit Bundesrat und

Reichstag einstellt. Aber sie darf nicht durch einen preu­ ßischen Sonderwillen in ihrem schweren Werke gehemmt werden. In der preußischen und der Reichsregierung darf,

wenn das ganze verwickelte Getriebe gut funktionieren

soll, nur ein einziger Geist herrschen und muß ein einheit­

licher Wille imstande sein, sich durchzusetzen. Unsere jetzigen Verfassungsformen aber geben denr Reichskanzler als preußischen

Ministerpräsidenten

geringere

Rechte

über

seine Ministerkollegen, als er sie gegenüber den Staats­ sekretären des Reiches ausübt. Das erschwert allein schon die Ausgleichung zwischen preußischem und Reichswillen.

Selbstverständlich wünschen

wir keine völlige Ertötung

des preußischen Regierungswillens, auch keine Vernichtung der preußischen Staatsindividualität. Es ist unumgäng­ lich und durchaus in der Ordnung, daß alle wichtigeren Ent-

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

101

würfe der Reichsämter, bevor sie an den Bundesrat gehen,

dem preußischen Staatsministerium zur Prüfung vorge­ legt werden.

Ganz unvermeidlich werden sich dabei ost

besondere preußische Auffassungen den an den obersten

Reichsstellen

gewonnenen

Auffassungen

entgegenstellen.

Sind diese Bedenken von Gewicht, so wird der leitende Staatsmann, der sich durch seine Doppelstellung als Kanz­ ler und preußischer Ministerpräsident auch für das besondere

preußische Interesse verantwortlich fühlen muß, sie zweifel­ los berücksichtigen. Aber er darf nicht in die Lage kommen,

einem preußischen Ressortminister, der sich auf die Mehrheit

des Staatsministeriunis stützt, nachgeben zu müssen. Zu for­ dern ist also, daß er allein schließlich darüber entscheide, welche

der beiden streitenden Auffassungen der höchsten Entschei­ dung des Monarchen zu unterbreiten sei und dadurch zur Grundlage für die Instruktion der preußischen Bundesrats­ stimmen werde.

Solange er das Vertrauen des Monarchen

überhaupt besitzt, muß er seine allgemeine Politik auch gegen versteckten Mderstand einzelner preußischer Minister durchzu­

setzen imstande sein und, wie es schon zu Bismarcks Zeiten der Fall war, stark genug sein, widerstrebende Ministerkollegen zu Falle zu bringen. Denn es ist schlechterdings unleidlich

und unerträglich, daß die allgemeinen Intentionen des

Kanzlers durch einzelne preußische Ressortminister gehemmt werden können.

Beseitigt man diese Möglichkeiten, so

übt man Machtzusammenfassung an der richtigen Stelle. Unser Berfassungsleben steht, wie wir oben sagten, unter dem Zwange unserer politisch-geographischen Lage und verlangt eine ganz starke, in sich" einheitlich geschlossene

102

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

monarchische Spitze.

Gerade als überzeugter Monarchist

verfechte ich den Satz, daß der Monarch inmitten der mannig­ fachen Gewalten und komplizierten Verhältnisse des deut­

schen und preußischen Staatslebens nur dann wahrhaft stark ist, wenn auch sein Regierungswille ganz einheitlich

und geschlossen sich äußert, wenn sein preußischer wie sein

deutscher Witte völlig zusammengeschmolzen erscheinen. Mcht also soll man, wie noch jetzt in linksliberalen Kreisen vielfach geschieht, die Übertragung der kollegialischen Mi­ nisterverfassung auf das Reich, sondern umgekehrt fordern, daß der Mnisterpräsident zu den Ressortministern ähnlich

gestellt werde, wie der Kanzler zu den Staatssekretären. Das heißt ritornar al segno, denn zur Zeit des Norddeutschen

Bundes hat das schon Bismarck verlangt und darin das Ideal des zwischen Preußen und dem Bunde herzustellenden Berfassungszustandes erblickt: „Ich bin so weit entfernt", sagte er am 16. April 1869, „die Hand dafür zu bieten, daß

diese fehlerhafte Einrichtung (der kollegialischen Minister­ verfassung) auf den Bund übertragen werde, daß ich viel­

mehr glaube, Preußen würde einen immensen Fortschritt machen, wenn es den Bundessatz akzeptiere und nur einen einzigen verantwortlichen Minister hätte."Die starke Monarchie ist heute auf eine starke, auf eine in Preußen

und im Reiche gleich starke Premierministerschaft angewiesen. Daß ein Majordomat daraus erwachse, haben die Hohen-

zollern, meine ich, nicht zu fürchten.

So eigentümlich also hat sich die Verfassungsentwick­ lung im Reiche seit Bismarck vollzogen, daß sie, obwohl

mit Naturgewalt hinausstrebend über die bundesratlichen

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

103

Wege, die er der Reichsgesetzgebung gegeben hatte, und breit sich entladend in einem mächtigen und einflußreichen

Organismus von Reichsämtern, nun eben durch dessen Schwergewicht dazu gedrängt wird, neue Einheit und

Konzentration zu suchen und die Hemmungen zwischen preußischem und Reichswillen dadurch zu überwinden,

daß die Machtstellung, die Bismarck in Preußen und dem Reiche tatsächlich schon besaß, nun auch organisch und verfassungsmäßig wiederhergestellt wird. Das könnte in gewissem Umfange erreicht werden schon durch eine Än­

derung der Bestimmungen von 1890, die das Verhältnis

des Ministerpräsidenten und der Mnister zum Monarchen

regeln. Aber das würde allein noch nicht genügen. Denn neben ihren vom Monarchen ihnen zugewiesenen Rechten gegenüber dem Mnisterpräsidenten haben die preußischen

Ressortminister noch zwei andere Quellen der Macht: die Zusammensetzung der preußischen Verwaltungsbehörden

und das nach dem Dreiklassenwahlrechte gewählte preu­ ßische Abgeordnetenhaus.

Auf dessen konservative Mehr­

heit stützen sie sich,-wenn sie ihr Ressort in konservativem Geiste verwalten. Dieser Zusammenhang von konservativer Mehrheit und konservativer Verwaltung ist ganz gewiß

nicht in jedem Augenblicke wirksam und nicht so eng und

augenfällig, als er es in parlamentarisch regierten Staaten sein kann.

Auch

konservativ

gesinnte

Mnister wollen

Pflichtgemäß und bewußt dem Staatsinteresse und nicht dem Parteiinteresse dienen. Mer ob es ihnen immer gelingt, ist eine andere Frage. Und durch die homogene Zusammen­

setzung der höheren Berwaltungsbeamtenschaft in Preußen

104

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

und durch die sozialen Bande, die sie und insbesondere

die Landräte mit dem konservativen Grundadel verknüpfen, ist der konservative Einfluß im preußischen Beamtenstaate

nun einmal notorisch sehr mächtig. Zwischen dem Geiste, der in den Reichsämtem lebt und dem Geiste, der in den preußischen

Provinzial-

und

Kreisverwaltungsbehörden

herrscht, ist eine ähnliche Kluft wie einst zwischen den Organen

des modemen Mlitärstaats, die Friedrich Wilhelm I.

ausbildete, und den altständisch-konservativ gefärbten „Re­

gierungen" des ancien regime Preußens.

Damals wie

heute stoßen dabei zentrale und partikularistische Tendenzen

gegeneinander, nicht gerade immer in offenem Kampfe

und oft nur mit einem latenten Mißtrauen gegeneinander.

Wer man weiß ja, daß Herr von Oldenburg, als er die Verordnungen der Reichsbehörden über die Kriegswirt­ schaft

kritisierte,

mit

Befriedigung

zugleich

vermerkte,

daß ihre Ausführung in der Hand der preußischen Land­ räte liege. (Sine Anekdote läuft um von einem adligen preußischen Regierungsassessor, der vor der Wahl stand,

seine Laufbahn als Hilfsarbeiter im Reichsamt des Innern oder in der preußischen Provinzialverwaltung zu beginnen.

Ein konservativer Verwandter riet der Familie ab: „Was, der Junge will in das Reichsamt des Innern? Das ist ja sozialistisch verseucht!" Wir bürgen nicht für die wörtliche

Richtigkeit der Anekdote. vergnügtes

Verständnis

Schon daß sie entstehen und finden

konnte,

beleuchtet

die

Gegensätze.

Diese drei BoNwerke der Macht also hat das preußisch­

konservative Wesen: die selbständige Stellung der preußi-

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

105

scheu Ressortminister gegenüber dem Ministerpräsidenten,

den Geist des preußischen Berwaltungsbeamtentums und das Dreiklassenwahlrecht.

Es wäre utopisch zu hoffen,

sie alle drei rasch und vollständig zu erobern, denn man wird sie mit Löwenkraft verteidigen.

Und obgleich ich

brennend wünschte, daß sie über kurz oder lang einmal erobert würden, muß ich doch gleich den Wunsch hinzu­ fügen, daß dieser Kampf zwar mit größter Kraft, aber ohne Haß und ohne den Willen, den Gegner radikal zu

vernichten, nicht mit Parteigesinnung, sondern mit Staats­ gesinnung geführt werde.

Denn die preußischen Konser­

vativen sind ein Element von einer geschichtlichen Lebens­

kraft und Fruchtbarkeit, das wir auch in einem freieren Staatsleben nicht missen wollen.

Nur ihre ins Kraut

geschossene Macht gilt es zu beschneiden, allerdings mit

ganz energischer Schere. Denn sie hemmt auf den Spitzen des Staatslebens die freie Entfaltung eines einheitlichen

Reichswillens und sie hemmt in den Tiefen und Grund­ lagen des Staatslebens das Schönste und Heilvollste,

was der Krieg uns im Jnnem beschert hat — die Gewin­ nung der Arbeitermassen für den nationalen Staat, die

Nationalisierung der ganzen Nation.

Und damit kommen wir zu der zweiten Entwicklungs­ reihe, die darauf hindrängt, die Reibungsflächen zwischen Preußen und dem Reiche aus der Welt zu schaffen. Das

Dreillassenwahlrecht war, wie wir sehen, nur soweit und insofern ein Korrektiv des Reichstagswahlrecht, als der Reichstag

der Reichsregierung

keine

unbedingt

sichere

Stütze in den großen Grund- und Machtftagen des nationa-

106

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

len Daseins bot und die stärkste der deutschen Parteien ihre internationalen Ideale höher zu stellen schien, als die gemeinsamen nationalen Interessen aller Parteien. Lang­

sam, Schritt für Schritt und nicht ohne Rückschläge da­ zwischen hat sich dieser Zustand schon vor dem Kriege zu

wandeln begonnen. Zentrum und Linksliberalismus sind mehr und mehr hineingewachsen in die nationale Arbeits­

gemeinschaft, und schließlich hat auch die Sozialdemokratie

am 4. August 1914 sich ein Herz zu ihr gefaßt und hat in

ihrer überwiegenden Mehrheit die Konsequenzen dessen, was sie an diesem Tage tat, mutig und einsichtig auf sich genommen.

Warum rühmen wir denn den 4. August

als einen der Höhetage unserer nationalen Geschichte? Daß die übrigen Parteien die Kriegskredite bewilligen würden, war selbstverständlich, nnd von ihrer Tat war

kein Aufheben zu machen. Wenn aber der verlorene Sohn in das Vaterhaus zurückkehrt, so hat die Familie aller­

dings das Recht, einen Feiertag zu begehen, — auch wenn

der ältere tugendhafte Bruder hinterdrein etwas sauer

und eifersüchtig darein schauen sollte. Die Sozialdemokraten, so hieß es hinterher wohl hier und da, können keinen Lohn für eine eigentlich selbstverständliche Pflichterfüllung be­ anspruchen. Mer hier handelt es sich auch nicht um Lohn

und Dank, sondern um eine politische Notwendigkeit, die allerdings auf sittlichem Grunde ruht.

Staatsethik, nicht

Privatethik hat hier zu sprechen. Man darf unter keinen Umständen Einrichtungen auftecht erhalten, die

einem

großen Teile der Bürger die Freude am Staate vergällen

müssen. Mochten sie notwendig sein, solange die von ihnen

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

107

Getroffenen sich selber nicht als Bürger des nationalen

Staates im vollen Sinne fühlten, so müssen sie nun so rasch wie möglich weggeräumt werden.

Den Pfahl im

Fleische sitzen zu lassen, ist unklug und unrecht zugleich.

Oder will man durchaus den revolutionären Stachel des

Klassenkampfes, den dieser früher hatte, verewigen? Sollten wir nicht froh sein, aus dem alten Elend jetzt endlich heraus­ zukommen? Mr können in Zukunft vor unseren sozial­

demokratischen Volksgenossen nicht mehr die Augen auf­

schlagen, wem: wir ihnen, die in heroischer Anstrengung mit allen übrigen Schichten der Nation gewetteifert haben, auch ferner die politische Gleichberechtigung im preußischen Staatsleben versagen.

Aber, so sagt man, sie leugnen die monarchische Grund­

lage dieses Staates. Der monarchische Gedanke darf doch nicht zum Geßlerhute vergröbert und zur dogmatischen

Glaubensformel veräußerlicht werden.

Auch wir haben

den Wunsch, daß die Sozialdemokratie den Anschluß an die Monarchie noch einmal ebenso finden möchte, wie sie den Anschluß an die Nation gefunden hat. Dann lerne man aber auch durch die Erfahrung von der Art, wie sie national geworden ist.

Solange man Hurrahpatriotismus

von ihr verlangte, bockte sie, und gegen die fertigen Formeln des von den gebildeten Schichten entwickelten nationalen

Ideals sträubte sie sich, — denn sie hatte die Lebensvor­ gänge ihrer Entstehung nicht mit erlebt. Zu allem Be­

kennen, das Wert haben soll, führt der Weg durch das Erleben, durch Zweifel und Kritik, durch alle Unfertig­ keiten und Widersprüche des wirklichen Lebenskampfes.

108

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

Und ehe die bewußte Überzeugung heranreift, muß sie

durchs Unbewußte hindurch, muß sie wie die Pflanze im Mauerwerk langsam und instinktiv das Hindernde beiseite drängen und dem nicht zu Verdrängenden sich

anschmiegen.

Kein Gesinnungswechsel ist gewaltsam zu

erzwingen, aber die süllwirkende Lebens- und Arbeits­ gemeinschaft kann ihn hervorbringen.

Man fordere also

von der Sozialdemokraüe kein monarchisches Credo, man sei zufrieden mit ihrer loyalen Mitarbeit am Staate und

rechne mit festem Vertrauen darauf, daß eine weitherzige, volkstümliche und aufgeklärte Monarchie auch ihre Gegner auf den Weg von kühler Achtung zu warmer Anerken­

nung schließlich führen wird.

Und

vor allem räume

man die Schranke des Dreiklassenwahlrechts hinweg, die zwischen der Monarchie und den arbeitenden Massen des Volkes steht.

Denn, wie die Dinge heute liegen, stützt

sie nicht, sondern hindert sie den monarchischen Gedanken, sich die Köpfe zu erobern. Er ist stark genug bei uns, um in der freien Bewegung der Ideen sich zu behaupten und

gerade in ihr noch stärker zu werden. Auch Treitschke hat als junger Mensch einst die Republik für die vemünfügste

Staatsform erklärt. Der bürgerliche Republikanismus der vormärzlichen Zeit ist überwunden worden nicht durch

Metternich und die Reaktion, sondern durch die Leistungen der nationalen Monarchie.

Nicht anders kann jetzt der

sozialistische Republikanismus überwunden werden.

Und

mag er theoretisch selbst noch recht lange sein Dasein fristen. Auch die klerikalen Katholiken haben höchst bedenkliche Theorien über das Verhältnis von Staat und Kirche, die

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

109

kein Staat anerkennen kann und die noch viel tiefer wur­

zeln als die republikanischen Theorien der Sozialisten. Der Kulturkampf hat sie nicht erschüttert, aber der modus vivendi, den wir mit der Kirche fanden, hat sie für uns

unschädlich gemacht.

Ein gesunder Organismus vermag

so mancherlei Bazillen in sich einzukapseln. Es ist im tiefsten Grunde also das starke und frohe Vertrauen auf die Gesundheit unserer Staats- und Volks­ gemeinschaft, das uns den Mut gibt, ein denukratisches

Zugeständnis von unserem Staate zu fordern. Wir fordern es nicht, um eine Etappe auf dem Wege zur einförmigen Demokratie zu erzwingen, sondern um die Mischung der

Kräfte, deren unser vielformiger Staat bedarf, wieder in ein gesundes Gleichgewicht zu setzen.

Darum verbinden

wir mit der Forderung an den Staat auch eine Forderung an die Demokratie. Wir verlangen von ihr, daß sie die Er­

fahrungen dieses Weltkrieges, der auch die Staatsformen auf die Wagschale gelegt hat, einmal ganz unbeschwert durch alte liebgewordene Überzeugungen nachprüfe, gleich­

sam als ob sie mit reifem Urteile zum ersten Male an ent ganz neues

Problem herantrete.

Mr wiederholen es

noch einmal, nur eine sehr starke und fest in sich beruhende Monarchie gibt uns die Bürgschaft straffer Zusammenfas­ sung der Machtmittel, deren wir in unserer immer und

ewig gefährdeten Lage bedürfen.

Wohl faßt auch heute

die französische und englische Demokratie die staatlichen Machtmittel straff zusammen, aber sie hat es leichter wie wir, sie schöpft aus einem breiteren und ungefährdeteren Reservoir, sie hat den Rücken frei und stützt sich auf die

110

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

Hilfsquellen der ganzen Welt.

Der Gebrauch aber, den

sie von diesen Machtmitteln gemacht hat, müßte unsere deutschen Demokraten irre machen an dem absoluten Werte der reinen Demokratie überhaupt. Denn die wildesten und leidenschaftlichsten Exzesse einer überspannten Macht­ politik findet man heute bei unseren Gegnern, und zwar nicht ausschließlich, aber zum großen Teile erklärt sich

das aus ihren Berfassungsformen.

Parlamentarische Mi-

nisterien haben nun einmal nicht die Stabilität und Kon­ tinuität, die den Regierungen des monarchischen Konsti­ tutionalismus eigen ist. Und auf keinem Gebiete der

Politik ist Stabilität und ruhige Festigkeit und Freiheit von störenden Nebeneinflüssen so dringend erforderlich

wie auf dem der auswärtigen Politik, — und in der moder­ nen Welt, deren furchtbare Abgründe und Möglichkeiten wir jetzt erst im vollen Umfange kennen gelernt haben, mehr als je. Der modeme National- und Großstaat muß

heute vor sich selber geschützt werden, vor dem Mißbrauch,

der mit seinen ungeheuren Machtmitteln getrieben werden

kann. Der Staatswagen entgleist bei dem rasenden Tempo, dessen die modeme Lokomotive fähig ist, wenn nicht ganz starke Bremsen ihn hemmen. Mehrheitsministerien vermö­ gen das, wie die Erfahmng gezeigt hat, nicht zu leisten. Sie

haben im entscheidenden Augenblicke nicht den Mut, auf­

wallenden Leidenschaften zu trotzen, und einmal hinein­

gerissen in ihren Strudel, schaffen sie, getrieben und trei­ bend, Situationen, aus denen die Rückkehr zu staatsmän­

nischer Vemunft immer schwerer wird. Das alles haben wir überwältigend erlebt und erleben es jeden Tag, der

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

111

uns Kunde aus England und Frankreich bringt, von neuem. Auch die Demokratie muß, wie der Staat, vor sich selber geschützt werden.

Mag der Mehrheitswille eines Volkes

in seinen Tiesen noch so friedlich gestimmt sein, mag der

Chauvinismus auch zunächst nur getragen sein von kleinen

Gruppen überhitzter Intellektueller und rechnender In­ teressenten, — er kann wie ein Gift rapide sich verbreiten

über die Parteien und eine Phrasenherrschaft aufrichten, der sie nicht zu widerstehen wagen. Eben die Möglich­ keit,

die

Volksleidenschaften jählings zu erwecken und

aufzupeitschen und dadurch eine verhängnisvolle Triebkraft

für sich zu gewinnen, kann auf parlamentarische Regierun­ gen so überaus verführerisch wirken. Man wende nicht ein,

daß die ruhigere deutsche Bolksart französischer Wildheit und englischer Brutalität nicht fähig sei. Auch wir sind, wie schon unsere inneren politischen Kämpfe zeigen, ein

im Grunde leidenschaftliches Volk, in dem es kochen und gären kann.

Ohne Leidenschaften

kein großes Wollen

und Können, — aber der bessere, der eigentliche Volks­

wille muß selber wünschen, daß seine Geschicke nur mit gezügelter Leidenschaft gelenkt werden, daß seine Staats­ männer den starken Rückhalt haben müssen, um auch eine

vorübergehend

unpopuläre

Politik

der

Bemunft

und

Besonnenheit wagen zu können. Man wiegt sich zwar nun merkwürdigerweise in die Illusion, daß gerade ein verstärkter Einfluß der Parlamente

auf die auswärtige Politik sie vor abenteuerlichen Ent­ gleisungen schützen werde.

Auch wir wünschen lebhaft,

daß man sich nicht nur in den Parlamenten, sondern in

112

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

allen denkenden Kreisen des Volkes so ernst und eindringend

wie inöglich mit den auswärtigen Fragen, diesen Grund-

und Existenzftagen der Staaten,

beschäftige.

Aber je

ernster und gründlicher man es tut, um so kritischer wird man dabei gegen sich selbst und das eigene, rasch sich hervor­

drängende Urteil, um so ablehnender gegen die Massen der Dilettanten, die sich auf diesem Gebiete tummeln. Um nur allein schon ein gewisses allgemeines Maß von

Takt in der Beurteilung auswärtiger Politik zu gewinnen,

bedarf es entweder einer wissenschaftlichen Schulung durch das Studium vergangener politischer Zusammen­ hänge oder einer langen praktischen Erfahrung; auf dem einen wie dem anderen Wege verschärft und verfeinert sich der Blick für das verschlungene Durcheinander großer

allgemeiner und singulärer persönlicher oder lokaler Kräfte und der Sinn für das Mögliche. Um aber, so ausgerüstet, schwebende Fragen der auswärtigen

Politik beurteilen

zu können, muß man auch alle Falten und Hintergründe

des Einzelfalles kennen, muß man so informiert sein, wie es nur der Diplomat und jeweilig verantwortliche Staats­ mann eigentlich sein kann.

Auswärtige Politik ist und

wird immer in hohem Grade Vertrauenssache, Vertrauens­

diktatur sein.

Auch parlamentarische Mnisterien hüten

sich, wie wir es sattsam erlebt haben, ihre Geheimnisse

preiszugeben. Verlangen die Parlamente von ihnen genaue

Information, so macht man etwas zurecht für sie, was so aussieht. Setzt man Organe zur ständigen Kontrolle ein, wie es bei uns verlangt worden ist, so führt man sie freund­

lichst in den Borhof der Politik ein und läßt die Tür zum

113

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

Hause geschlossen — durchaus nicht allein aus Herrschsucht, sondem aus dem richtigen Instinkte dafür, daß viele Köche den Brei verderben und vieles einfach nicht mitteilbar ist.

Zugleich aber werden nun gerade durch solche parlamen­

tarischen

Kontrollorgane

neue

Einfallspforten für

Invasion der Stimmungen und

die

Leidenschaften kleiner

chauvinistischer Kreise in die auswärtige Politik geöffnet.

Denn mag der verantwortliche Staatsmann sich ihrer noch

so sehr erwehren wollen, so wird es ihm doch auf die Dauer

um so weniger gelingen, je abhängiger er von den Parla­ menten im ganzen ist.

Das parlamentarische System der

Mehrheitsministerien wird so gerade und voran auf dem Gebiete der auswärtigen Politik zum Herrschastsmittel

entschlossener Minoritäten.

Die Kunst, den Mnderheits-

wünschen den Schein des Mehrheitswillens zu geben und diesen selbst im entscheidenden Augenblick zu hypnotisieren,

ist leicht zu lernen. Mes, was wir sagten, wird nicht nur

durch die Kriegspolitik der englischen und ftanzösischen Mnisterien, sondem auch durch frische Erlebnisse im eigenen Hause demonstriert.

Auch die monarchische Leitung der auswärtigen Politik schützt nicht unbedingt vor Entartung und Berwildemng. Auch auf sie können kleine, aber mächtige Cliquen unheilvoll einwirken.

Darum eben

wünschen wir den leitenden

Staatsmann im Reiche und in Preußen so stark, damit er auch imstande sei, unverantwortliche Nebeneinflüsse höfischer und militärischer Koterien niederzuhalten. Im übrigen aber

steht jede Leitung auswärtiger Politik, mag man sie organi­ sieren, wie man will, in hohem Grade unter dem Satze Meinecke, Probleme des Weltkriegs.

8

114

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

feit unda nee regitur.

Zu völliger Unabhängigkeit von

unerwünschten Einflüssen kann sie es bei der Fülle der Friktionen, mit denen sie sich abzumühen hat, nie bringen. Sie ist abhängig und mächtig zugleich. Aber die Mischung

von Abhängigkeit und eigener Macht ist gerade bei den

parlamentarischen Mnisterien so gefährlich dosiert, daß der Mißbrauch der Macht, dessen sie fähig sind, und die miß­

bräuchliche Beeinflussung ihrer Macht durch Parlament, Volksströmung usw. in der Wurzel zusammenwachsen. Wägt man also ganz kühl ab, welches System im modernen

Großstaate den größeren Schutz bietet, so kann die Antwort

nicht zweifelhaft sein. Und wenn wir demnach auch wün­ schen, daß die Berufung des verantwortlichen Staatsmanns

bei uns nach wie vor allein von der freien Entscheidung des Monarchen abhänge, so wünschen wir damit doch keines­

wegs seine Verantwortung vor der Nation und dem Parla­

mente auszuschalten. Aber es ist grobsinnlich und primitiv, diese Verantwortung allein durch den Mechanismus der

Mehrheitsabstimmung und Ministerstürzerei garantiert zu glauben. Machen wir uns doch von diesen Überlebseln vormärzlicher Ideale und dem falschen Borbilde der west­

europäischen Demokratie endlich frei. Parlamente, die auf

breitem demokratischen Wahlrechte

beruhen,

das volle

Mtentscheidungsrecht in Gesetzgebung und Finanzen be­ sitzen und dieses Recht vernünftig gebrauchen, wirken mit

ungeheuerer Wucht auf den Geist der Regierungen und werden es, wenn in Preußen-Deutschland erst die Hemmung

des Dreiklassenwahlrechts weggefallen ist, erst recht tun. Mr möchten den Staatsmann sehen, der, wenn er in

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

115

Reichstag und Abgeordnetenhaus fortan mit gleichen oder ähnlichen Mehrheitsverhältnissen zu rechnen hat, dauemd sie ignorieren und vergewaltigen könnte.

Er wird sich

ihnen im ganzen anpassen müssen, auch wenn er nicht in jedem Augenblicke ihr sklavischer Diener ist. Dafür wird sich

aber auch das Parlament der Tatsache anpassen müssen,

daß auswärtige Politik nach anderen Normen zu führen ist als innere Gesetzgebung und Steuerbewilligung.

Es

muß der Sicherheit des Staates das Opfer bringen, aus

parlamentarische Ministerien zu verzichten, und sich mit dem allgemeinen Einflüsse zu begnügen, den es auf den vom

Monarchen ernannten Staatsmann immer haben wird. Und so fest auch das freie Ministerernennungsrecht der Krone

stehen muß, so muß sie doch in der neuen Gestaltung der Dinge selber das Interesse haben, „freie Bahn dem Tüch­ tigen" auch für die höchsten verantwortlichen Ämter zu öffnen

und unter Umständen auch bedeutende Parlamentarier zu ihnen zu berufen. Vielleicht kommt es dabei noch einmal zu einer neuen Übergangs- und Mittelform zwischen rein

monarchischem und rein parlamentarischem Regime, derart,

daß man schließlich nicht mehr weiß, ob der verantwort­ liche Staatsmann mehr der Vertrauensmann der Krone gegenüber den Parlamenten oder der Vermittler zwischen

Krone und Parlament ist.

Die Verstärkung der Rechte

des preußischen Ministerpräsidenten, die Herausarbeitung einer starken Premierministerschast in Preußen wie im Reiche, würde eine solche durchaus erwünschte Entwick­

lung begünstigen. Und wiederum würde die Angleichung

des preußischen an das deutsche Wahlrecht auch zu einer



116

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

Angleichung der preußischen Mnisterialverfassung an die

Berfassung der Reichsämter hindrängen, damit die Re­ gierung den einheitlicheren Parlamenten auch einheitlicher

und geschlossener gegenüberstehe.

An den bestehenden

Rechten des Bundesrates dagegen dürfte nicht gerührt werden. Sie sind so, wie sie sich in der Praxis entwickelt

haben, unschädlich für den einheitlichen Geist der Reichspolitik; sie sind aber zugleich unentbehrlich, um vereint mit den Rechten des Kaisers und Königs von Preußen

den Schutzwall gegen ein rein parlamentarisches Regime zu bieten. Denn unser ceterum censeo ist, daß die auswärtige

Politik ihre Aufgabe, die Gesamtinteressen der Nation zu vertreten, dann am besten etfülft, wenn der Steuermann

am Ruder ungestört bleibt und festen Kurs halten kann.

Würde unsere Demokratie auf das parlamentarische Regime verzichten, so würde sie die Erfüllung aller ihrer

übrigen Wünsche unendlich erleichtern und ein Vertrauens­

verhältnis zwischen sich und der Monarchie Herstellen, das die ganze Lage beherrschen und den Geist unseres Staatslebens erneuern könnte.

Und sie würde auf ein

nicht nur falsches, sondern auch unerreichbares Ideal ver­ zichten, denn sie würde auf Granit beißen, wenn sie es

ertrotzen wollte. Wir wagen nun nicht zu hoffen, daß eine alteingewurzelte Lieblingsmeinung von heute auf morgen

verschwinde.

Es wäre aber schon etwas, wenn sie auf

Grund der Erfahrungen dieses Krieges neu geprüft, hin

und her erwogen und so kritisch erschüttert werden würde. Sie mag dann als Ideal allmählich ebenso eintrocknen, wie der republikanische Gedanke. Solange sie aber emsthaft zur

117

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

politischen Forderung erhoben wird, wird die Monarchie

und Regiemng automatisch ihre Zuflucht bei den Konser­ vativen suchen. Auch das sollte man jetzt im Lager der Demokratie bedenken. Versteht sie die Gunst der Stunde, so kann sie jetzt mehr gewinnen, als sie zu opfem hat. Dies also sei der Sinn der großen Transaktion: Die Regierung verzichte auf das Dreiklassenwahlrecht und die Demokratie verzichte, wenn auch nicht gleich grundsätzlich, so doch tat­

sächlich,

auf das parlamentarische Regime.

Gewinnen

würden dann nicht nur Regierung und Linksparteien,

sondern auch Staat und Nation.

*

*

*

Unsere Hauptaufgabe sollte sein, die geschichtlichen

und politischen Voraussetzungen der Wahlreform zu klären und die alten, unbrauchbar gewordenen Steine zu lockern, damit Platz werde für das neue Gemäuer. Aber man wird von uns auch eine Antwort auf die Frage, wie wir

uns den Inhalt der Wahlreform denken, fordem.

Wir

wollen sie wenigstens in großen Zügen geben.

Linksliberalismus und Sozialdemokratie wünschen schlecht und recht das Reichstagswahlrecht für Preußen. Wir fühlen uns weder der einen, noch der anderen Partei verbunden, versuchen vielmehr lediglich das staat­ liche Gesamtinteresse zu erkennen. Ohne Frage würde die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen einen gewaltigen Sprung in ganz neue Verhältnisse, zu­

gleich aber die verfassungsgeschichtlich glatteste und einfachste Lösung bedeuten. Kann man den Sprung heute wagen, kann

118

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

man darauf bettrauen, daß die Lebensinteressen des deutsch­

preußischen Gesamtstaates dadurch nicht gefährdet werden? Mr betonten, daß Deutschland zur reinen Demokratie

nicht geschaffen ist und haben es auch nicht verschwiegen,

daß das allgemeine gleiche Wahlrecht schwere Mängel hat.

Ohne Frage kommen bei ihm die gebildeten und be­

sitzenden Klassen, die Träger zugleich unserer Kulturtraditio-

nen, zu schlecht weg. Sie müssen jetzt bei den Reichstags­

wahlen mühsam ringen, ihre Kandidaten durchzusetzen, und müssen, um Erfolg zu haben, diese oft nach schlechten Rücksichten lokaler oder agitatorischer Natur auswählen und auf die Aufstellung der Geeignetsten und Besten nur zu oft verzichten, weil sie nicht populär sind, weil man sie nicht durchbringt. Das Proportionalwahlsystem würde einen Teil dieser Übelstände wesentlich mildem und

den einzelnen Parteien gestatten, bei der Auswahl der

Kandidaten die Kirchturms- und

Spießbürgerinteressen

zurückzudrängen. Es würde auch dem üblen und demora­

lisierenden Schachergeschäfte bei den Stichwahlen ein Ende machen. Aber immer würde, wenn man sich zu ihm ent­

schließen wollte, die Frage bleiben, ob nicht durch die

völlige Demokratisierung des preußischen Wahlrechts das notwendige und heilsame Maß von Demokratisierung,

deren das preußische Staatsleben heute bedarf,

über­

schütten wird. Ob man diese Frage bejaht oder verneint, das hängt

von der Beantwortung zweier Vorftagen ab. Erstens: Sind die Massen unseres Volkes heute politisch so weit herangereift,

daß sie in die bestehenden monarchischen und militärischen

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

119

Machtgrundlagen unseres Staatslebens organisch sich einzu­ fügen imstande sind? Und zweitens: Sind diese Machtgrundlagen so stark verankert, daß sie auch den stärkeren demo-

kratischen Strömungen, die zu erwarten sind, standhalten werden? Unsere zweite Frage zeigt schon, daß wir die

erste Frage nicht mit unbedingter und absoluter Exaktheit zu bemitworten vermögen.

Aber das liegt im Charakter

dieser Frage. Es ist die große Vertrauensfrage, die heute das alte Deutschland an das neue Deutschland richtet:

Willst du mit mir Zusammenleben? Wollen wir uns gegen­

seitig anerkennen? Will einer dem anderen geben, was er für sich beanspruchen kann, damit das eigentliche, höhere, über uns beiden schwebende Deutschland, das Deutschland

der Idee, das Vergangenheit und Zukunft in sich verknüpft, dabei bestehen und zu seinem höchsten Ausdruck kommen

kann?

Vertrauensfragen dieser Art aber lassen

sich niemals exakt beantworten.

Können wir denn

die Vertrauensfrage an unsere eigene nationale Kraft, ob sie ausreiche zur ehrenvollen Selbstbehauptung gegen eine Übermacht von Feinden, exakt beantworten? Und

doch haben wir sie mutig gestellt und bejahend beantwortet. Was wir aber in diesem Kriege an den Massen unseres

Volkes erlebt haben, gibt uns das Recht, auch die Ber-

trauensfrage einer demokratischen Wahlreform bejahend zu

beantworten.

Mes, was wir zur Rechtfertigung einer

preußischen Wahlreform überhaupt ausführten, recht­ fertigt auch das Vertrauen, daß ihre gründlichste Lösung heute gewagt werden darf. Unsere Massen haben in und durch diesen Krieg den Sinn und Wert staatlicher Macht

120

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

und damit auch staatlicher Autorität verstehen gelernt.

Das war das A und O, was wir von ihnen verlangen mußten.

Wieder behaupten wir aus tiefstem Vertrauen,

daß die harte Schule dieser Zeit von ihnen nicht vergessen werden wird, daß die Gemeinschaft auf Leben und Tod,

die sie mit der Monarchie und den besitzenden Klassen heute eingegangen sind, unauflösbar werden kann, wenn wir ihr inneres Hemmnis vollständig und gründlich aus

dem Wege räumen.

Mer um, wie wir sagten, die Demokratie vor sich sel­ ber zu schützen und um den Staat vor den Überlebseln ihrer älteren Irrtümer und Illusionen zu schützen, bedarf

es allerdings bestimmter Gegengewichte, wenn wir jetzt die linke Schale mit der Demokratisierung des preußischen Wahlrechts beschweren.

Wenn im Reiche der Bundesrat

mit helfen muß, um die unzulässige Forderung der reinen Mehrheitsherrschaft abzuwehren, so muß es in Preußen das

Herrenhaus künftig in verstärktem Maße tun können. Die

Berfassungsreformen in Baden, Württemberg und Hessen seit 1904 weisen einen gangbaren Weg dafür. Das Votum des Herrenhauses in Etatsfragen dürfte also nicht beschränkt bleiben auf ein Ja oder Nein im ganzen, sondern müßte

auch in den Einzelheiten zur Geltung gebracht werden. Bei unausgleichbaren Meinungsverschiedenheiten zwischen Abgeordnetenhaus und Herrenhaus hätten dann beide

Kammern zusammenzutreten zu einer Gesamtabstimmung.

Hierbei wird man nun fteilich um die längst notwendige

Reform in der Zusammensetzung des Herrenhauses nicht herum kommen.

Damit es seinen Zweck erfülle und

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

121

alle aristokratischen Kräfte der Gesellschaft in gerechter Verteilung vertrete, muß es neben dem Geburts- und Gmndadel auch den natürlichen aristokratischen Elemen­ ten, die auf den Spitzen der übrigen sozialen Schichten sich entwickeln, neben den gewordenen Aristokratien also

auch den werdenden Aristokratien weiteren Eingang ge­ währen. Auch in der Demokratie, so sagten wir, ist immer

etwas neue Aristokratie im Werden. Würde jeder Bürger einer Berufsgenossenschaft zugeteilt und hätten die Spitzen dieser Berufsgenossenschaften dann auch das Wahl- oder

Präsentationsrecht zum Herrenhause, so gewännen wir einen ganz organischen Übergang von demokratischen zu

aristokratischen Vertretungsprinzipien. Wir waren ursprünglich der Meinung, daß man mit der Reform des Wahlrechts für das Abgeordnetenhaus nicht

warten dürfe bis zur Reform des Herrenhauses. Die jüngsten

Reden des Grafen Dorck v. Wartenburg und des Herrn v. Buch im Herrenhause (März 1917) lehren zum mindesten, daß die Reform des Herrenhauses so rasch wie nur irgend

möglich der des Abgeordnetenhauses folgen muß, damit es der Aufgabe gewachsen sei, ein aristokratisches Gegengewicht

gegen das demokratischer zusammengesetzte Abgeordneten­

haus zu bilden.

Eine fossile Aristokratie, und mag sie auch

charaktervoll vertreten sein, darf nicht mehr in die Lage kommen, unbedachtes Unheil anzusttften. Mgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahl­

recht für das Abgeordnetenhaus und gleichzeitige Ver­ stärkung der Rechte des Herrenhauses also erscheint uns

diejenige Lösung zu sein, die die dauerhaftesten und gesun-

122

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

besten Verhältnisse schafft, die am meisten dem Geiste des neuen, aus dem Kriege hervorgehenden Deutschlands entspricht. Aber wir müssen mit der Möglichkeit rechnen,

daß die Regierung so weit nicht zu gehen wagen wird. Dann kommt alles daraus an, daß der Mttelweg, den sie

wählen wird, den Massen wenigstens als eine erträgliche und wertvolle Annäherung an ihre Wünsche erscheine, daß er nichts sozial und politisch Aufreizendes an sich habe. Einen solchen Mttelweg hat Friedrich Thimme gezeigt,

der Mann, der mit glühender Hingabe der Aufgabe dient, das Kriegserlebnis zum Erlebnis des inneren Friedens zu steigern und die deutsche Arbeiterschaft mit Staat und

Monarchie zu versöhnen.

Sein Vorschlag für Preußen

läuft auf ein vemünftiges Pluralwahlrecht, verbunden

mit geheimer und direkter Wahl, hinaus. Ich gebe ihn wieder, wie er ihn in den „Grenzboten" vom 23. August

1916, S. 237, entwickelt hat. „Es ließe sich etwa Vorschlägen, zu der einem jeden

Wähler über 25 oder auch über 21 Jahren zustehenden Stimme noch 1—5 Zusatzstimmen an folgende Qualifi­ kationen zu knüpfen: 1. Wer seiner Dienstzeit im stehenden Heer und in der Landwehr genügt hat

(wobei zu erwägen bliebe,

ob nicht allen Kriegsteilnehmern diese Zusatzstimme als

ein Zeichen der unauslöschlichen Dankbarkeit für unsere Feldgrauen zu verleihen sein möchte). 2. Wer vier lebende eheliche Kinder oder doch zwei Söhne hat, die zum Mlitärdienst tauglich befunden worden

sind.

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

123

3. Wer 10 Jahre dem Staate unmittelbar oder mit­

telbar in einem staatlichen, kommunalen oder gleichwertigen Ehrenamt gedient hat (auch Ärzte, Rechtsanwälte usw. ließen sich in diese Kategorie einreihen). 4. Wer 10 Jahre als Arbeitgeber für eine größere Anzahl von Arbeitern Beiträge zur staatlichen Sozial­

versicherung geleistet hat (wobei, um der besonderen Be­ deutung der Landwirtschaft für den Staat Rechnung zu tragen, die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter höher­

bewertet werden könnte); oder wer als Arbeiter die doppelte

Anzahl von Jahren solche Beiträge geleistet hat. 5. Wer 10 Jahre hindurch einen gewissen nicht zu nied­

rigen Satz von direkten Staatssteuem beigetragen hat (wo­ bei wiederum, um der besonderen Bedeutung des Grund

und Bodens und vor allem auch des befestigten Grund und Bodens Rechnung zu tragen, die Grund- und Gebäude­ steuer mit dem doppelten, vom befestigten Grund und

Boden mit dem vierfachen Betrage angesetzt werden könnte)." Der einleuchtende Grundgedanke dieses Vorschlages

ist, „die staatliche und soziale Leistung und Bewährung

in ihren hauptsächlichen Momenten zum Grund- und Echtein des Wahlrechts zu erheben" und demnach auch

nicht im Besitze an sich, sondern in der Erhaltung des Be­

sitzes eine staatliche Leistung zu sehen, die eine Zusatz­ stimme rechtfertigt. Keine der Bevorzugungen kann ich als ungerecht oder unbillig ansehen.

Der ältere bewährte Ar­

beiter kann es dabei auf ebensoviel Zusatzstimmen bringen,

wie durchschnittlich die Angehörigen der besitzenden Klassen.

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

124

Während diese Zeilen geschrieben wurden,

erging

am 12. Dezember 1916 die Friedensbotschaft Deutschlands und seiner Verbündeten an unsere Feinde. Sie ist ein neuer

Beweis des Geistes maßvoll-fester Machtpolitik,

den wir durch unsere monarchischen Institutionen am

besten verbürgt finden. Wir sind bereit zum Frieden, aber auch gerüstet zu einem Kampfe, der das Äußerste von jedem Volksgenossen nun fordem würde.

Kommt es,

was man kaum hoffen kann, zum baldigen Frieden, so wird die Wahlreform die erste und dringendste Friedens­

aufgabe sein und die schönste Empfangspforte für unsere heimkehrenden Krieger werden. Und will die Regierung nur mit wirklich starkem Willen, so wird der Widerstand

der Konservativen zusammenbrechen.

Damm darf

sie

es auch getrost schon während des Kampfes wagen, wenn

sie uns jetzt zum letzten und äußersten Waffengange auf­ rufen müßte. Die Unzufriedenheit der Konservativen würde von der mächtigen Wirkung überbraust werden, die

dieses neue Feldpanier nicht nur auf die deutsche Arbeiter­

schaft, sondem auf alle Freunde einer freien nationalen

Monarchie üben würde.

*

*

*

Seit der ersten Dmcklegung dieses Aufsatzes im Januar 1917 sind die Ereignisse abermals mächtig vorangeschritten.

Unser Friedensangebot beantworteten die Feinde mit einem fanatischen Übermute, der uns zwang, das äußerste

und stärkste Mittel, ihnen Vemunft und Selbstbesinnung beizubringen, zu ergreifen.

Stärker als je ist nun unsere

Die Reform des preußischen Wahlrechts.

125

Bolkskraft anzuspannen, dringender als je, meinen wir,

wäre es jetzt, durch eine freie und große Gewährung dem lebendigen Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Volks­

massen, auf dem unsere Widerstandskraft im Kriege so

wesentlich mit beruht, einen mächtigen und weithin sicht­ baren Ausdruck zu geben. Den Feinden würde sie lehren,

daß wir einiger als je sind und werden wollen, daß die letzten der inneren Gegensätze unter uns, auf die sie hoffen mochten, überwunden werden.

Sie wollen uns

mit unverschämter Herablassung zum Typus der west­

europäischen Demokratie erziehen und verletzen dadurch das heiligste der nationalen Rechte, das Recht nach eigenem individuellen Bedürfnis Formen und Maße des Staats­

lebens zu bestimmen.

Denjenigen unter ihnen aber, die

sich noch einen Rest von geschichtlichem Verstehen und An­ erkennen ftemder Bolksart bewahrt haben, würde unser

Entschluß zeigen, daß auf dem Boden unserer nationalen Monarchie ein spezifisch deutscher Typus von Demokratie

lebenskräftig sich entwickelt hat und fremder Rezepte nicht

bedarf.

Der Rhythmus des Weltkriegs. (Frankfurter Zeitung, 31. Dezember 1916.)

anz deutlich fällt diesmal die Jahreswende mit einem organischen Abschnitt des kriegerischen Dra­ mas zusammen. Unsere Heere haben, nachdem sie ihre Haupt­ aufgabe in der Walachei glorreich gelöst haben, nach kurzer Atempause soeben einen neuen Siegeslauf begonnen, der

mancherlei glückverheißende Möglichkeiten in sich birgt. Zu­ gleich steht auch der Krieg im großen in einer Atempause,

erfüllt von der Erwartung, ob es nun zum friedlichen Ende oder zu einer neuen furchtbarsten Steigerung des Kampfes kommen wird. Organisch aber ist der Abschnitt, vor dem wir

stehen, auch in einem noch tieferen Sinne zu nennen. Denn

das große Phänomen des Weltkrieges tritt mehr und mehr in seinem eigentlichen geschichtlichen Sinne und Zusammen­ hang hervor, und der gesetzliche Rhythmus, der das Ganze durchschwingt, und die Bindeglieder und Übergänge,

die seine Teilerscheinungen miteinander verknüpfen, werden

immer deutlicher. Zwar bleibt der Versuch, diesen gesetz­ lichen Zusammenhang aufzudecken, immer ein Wagnis, so-

Der Rhythmus des Weltkriegs.

127

lange die endgültige Entscheidung noch nicht gefallen ist. Noch immer sind Überraschungen möglich, die das heute sich

darbietende Bild dieses Zusammenhanges verschieben könn­

ten.

Dennoch wird das geschichtliche Bedürfnis sich nicht

abweisen lassen, schon jetzt nach dem „vertrauten Gesetz in des Zufalls grausenden Wundem" zu suchen. Und mancherlei, was vermutlich Bestand haben wird, läßt sich schon heute

sagen. Wir begannen den Krieg als einen Verteidigungskrieg im politischen Sinne, als einen Niederwerfungskrieg im

militärischen Sinne. Ausgerüstet mit den Erfahrungen der Napoleonischen und Btoltkeschen Kriege und den Lehren von Clausewitz, stellten wir alles auf eine gewaltige Zusammen­ ballung überlegener Massen, die, konzentrisch vorwärts stür­ mend, die feindliche Hauptmacht in offenen Feldschlachten

aufsuchen und zertrümmern sollten.

Das erste Ziel war,

Frankreich rasch niederzuwerfen und zum Frieden zu zwin­

gen. Dieser Friede wäre, da wir das Interesse hatten, die Zahl unserer Gegner rasch zu vermindem, für Frankreich wahrscheinlich sehr glimpflich ausgefallen. Gelang es damit,

so konnten wir uns rasch drehen, denselben militärischen Ge­ danken auch gegen Rußland mit bester Aussicht auf Erfolg

ausführen und mit dem aus dem Kontinente waffenlos ge­

wordenen England unter günstigen Bedingungen den End­

frieden vereinbaren, der fteilich wiederum, wie der erste mit Frankreich abgeschlossene, in hohem Grade den Charakter eines Kompromißfriedens hätte tragen müssen, da wir Eng­ lands Seeherrschaft selbst niederzuwerfen nicht hoffen konn­ ten. Dies ganze Programm, glänzend begonnen, scheiterte

128

Der Rhythmus des Weltkriegs.

an den Toren von Paris in der Marneschlacht, die zwar nichts weniger als ein taktischer Sieg der Franzosen war,

aber mit einem großen strategischen Erfolge für sie endete. Es wäre vielleicht nicht gescheitert, wenn wir unseren ur­ sprünglichen strategischen Gedanken ganz streng durch­

geführt, unsere Hauptmassen fest zusammengehalten und Ostpreußen zunächst preisgegeben hätten.

Aber vielleicht

lagen die Ursachen des Scheiterns auch schon tiefer. Die

Franzosen hätten an der Marne nicht so stark auftreten

können, wenn nicht Italien damals schon den Weg be­ schritten hätte, der es aus unserem Lager in das Lager der

Gegner führte. Italien kämpfte tatsächlich schon für unsere Gegner, als es den Franzosen erlaubte, ihre Alpengrenze zu entblößen. War nun aber gegenüber einer derartigen Übermacht überhaupt noch eine solche militärische Ent­

scheidung von uns zu erzwingen, die auch den Frieden von allen Gegnem hätte erzwingen können? DieClause-

witzsche Lehre, daß im Kriege alles auf die Zertrümmerung

der feindlichen Hauptmacht ankomme, verlor dabei nichts

von ihrer ewigen Wahrheit. Wo es nur irgend möglich war, in ihrem Sinne zu handeln, haben wir es getan bis zur heutigen Stunde und werden es unter Hindenburgs Führung auch weiter tun. Aber die Grenzen dieser Mög­ lichkeit wurden uns nun viel enger gesteckt, als sie einem Napoleon, Gneisenau und Moltke gesteckt waren. Wir zogen

rasch und entschlossen die Konsequenz aus der neuen Lage

und gingen zum Stellungskrieg über, immer bereit und

willens, dabei so viel Bewegungskrieg, so viel Niederwerfungsstrategie wie nur irgend möglich zu treiben. Die Geg-

Der Rhythmus des Weltkriegs.

129

ner folgten notgedrungen unserem Beispiele, und so wurde

das bis dahin unbekannte Geheimnis des Stellungskrieges entdeckt, die Möglichkeit, den furchtbaren Angriffsmitteln des modernen Krieges ebenso moderne, wirksame und elastische

Verteidigungsmittel entgegenzusetzen, den Bewegungskrieg zu hemmen und zu stauen und weite, eroberte Landgebiete

mit einem verhältnismäßig dünnen, weit auseinandergezo­ genen Gürtel von Truppenmassen abzuschließen und zu be­

haupten. Der Schützengraben wurde zum Ausdruck und Symbol unserer Lage — Mitteleuropa, von der ganzen Welt berannt, lebte und atmete im Schutze seiner Gräben

und Unterstände, seiner Maschinengewehre und Mörser, weit ausgedehnt nach Ost und West, fest und kraftvoll weiter. Man kehrte in gewissem Sinne damit von der Meder-

werfungsstrategie zur Ermattungsstrategie des 18. Jahr­ hunderts zurück, ohne sich doch auf sie sestlegen zu wollen, weil man hüben und drüben sich gedrungen und stark genug fühlte, raschere und vollständigere Entscheidungen herbei­ zuführen, als es die bloße Ermattung vermag.

So ging

nun zwischen Zusammenballung und Auseinanderziehung

wie zwischen Arterien und Venen der Blutumlauf des Krieges weiter. Man versuchte es mit dem gewaltsamen Durchbruch durch die Stellungen. Er mißlang uns an der

Dser, an der Bzura und Rawka, er mißlang aber auch den

Franzosen in der Champagne. Schon kam bei uns hier und da die Meinung auf, daß moderne Stellungen überhaupt

nicht zu durchbrechen seien, daß der Krieg am Ende doch auf eine moderne Ermattungsstrategie Hinauslaufe.

Da ent­

deckten wir, wieder als die ersten, das Geheimnis des DurchMeiiiecke, Probleme des WeltlrieaS.

9

130

Der Rhythmus des Weltkriegs.

bruchs, und die Schlacht von Tarnow-Gorlice vom 2. Mai 1915 öffnete die Bahn zur großartigsten, Galizien, Pole« Litauen und Kurland erobemden Bewegungsstrategie mit operierenden, marschierenden, Schlachten schlagenden, Fe­

stungen stürmenden Massenheeren — um schließlich wieder, bis auf weiteres, gehindert durch die Weiträumigkeit Ost­ europas, in der Sicherung des Eroberten durch weitgedehnten Stellungsgürtel zu enden. Die Gegner versuchten nun

von unserer Durchbruchstaktik zu lernen, häuften wie wir Massen von schwerer Artillerie und Stoßtruppen an aus­

ersehener Stelle — und abermals mißglückte es ihnen, in der Lorettoschlacht, in der Champagne und bei Ypern. Hüben und drüben steigerten sich nun wieder Menschenwitz und Menschenlist, um den Gegner doch noch zu übertrumpfen.

Nun hieß es bei uns vor einem Jahre: Nicht im unfaßbaren, weiten Osten, sondern im dichtgedrängten, von allen Nerven­

strängen feindlicher Kraft erfüllten Westen muß die Ent­ scheidung gesucht werden, aber eine Entscheidung nicht im alten Sinne auf Durchbruch und Aufrollung des feindlichen

Widerstandes zielend, denn solche hielt man hier im Westen wohl nicht mehr für möglich, sondern eine Entscheidung, die

mehr den temperierenden Erfahrungen des Stellungs­

kampfs und psychologischer Berechnung angepaßt ist, — indem wir nämlich an einer besonders kritischen Stelle

einbrächen, den Franzosen einen ihrer höchsten Affektions­ werte zerstörten und ihnen damit bewiesen, daß sie nicht

mehr siegen könnten und besser täten, den aussichtslos ge­

wordenen Krieg zu beenden. So entstand unser Untemehmen auf Verdun.

Aber der neue militärisch-politische

Der Rhythmus des WelüriegS.

131

Gedanke führte diesmal nur zu einer heroischen Episode. Hätten die von uns mit gewaltiger Energie und mit Be­

nutzung aller bisherigen Stellungs- und Durchbruchser­

fahrungen

erzielten

Anfangserfolge

im

selben

Tempo

rasch fort- und zum Ziel geführt werden können, so wäre der politische Zweck vielleicht erreicht worden.

Aber in­

zwischen rafften sich die Gegner zu noch gigantischerer Lei­

stung auf. England lernte von uns die allgemeine Wehr­ pflicht und die Umstellung der Industrie auf Erzeugung eines ntächttgen Waffen- und Munitionsquantums, stützte sich zu­ gleich auf die industrielle Kraft Amerikas und vermochte so,

indem auch Japan mithalf, zugleich auch die neugebildeten russischen Massenheere mit dem Waffenapparate auszu­ statten, den wir ihnen das Jahr zuvor zerschlagen hatten. So

kam es im Juni und Juli 1916 zur großen Doppeloffensive unserer Gegner in Ost und West, bei Luck und an der Somme.

Sie erreichte es, daß wir das Untemehmen auf Verdun unter­ brechen mußten, sie hatte auch, namentlich im Osten, Teil­

erfolge, — aber das eigentliche Ziel, den Durchbruch und die

Aufrollung, war trotz einer über Tarnow-Gorlice noch hinausgehenden Intensität des Angriffs und Überlegenheit

der technischen Mittel unserer westlichen Gegner nicht zu er­ zwingen, — denn auch wir hatten inzwischen den Stellungs­ kampf zu noch größerer Leistung hinaufgesteigert. Als die monatelange Sommeschlacht zu Ende ging, konnte wiederum,

und diesmal auf Gmnd noch reicherer und furchtbarerer Er­ fahrung die Meinung Gehör beanspruchen, daß Entschei­ dungen im vollen, friedenerzwingenden Sinne bei einem

solchen Gleichgewichte angreifender und verteidigender Kräfte 9*

132

Der Rhythmus des Weltkriegs.

überhaupt nicht mehr herbeizuführen seien. Der moderne

Krieg schien sich selbst zu widerlegen. Gerade auf dem Schau­

platze des Westens, wo er auf den höchsten Grad gesteigert

werden konnte, führte er bei wahnwitzigen Opfem nur zu minimalen positiven Ergebnissen; hier galt das Wort: haeret aqua. Aber drängte sich angesichts der Gesamtlage

nicht der Gedanke gebieterisch aus, daß die Opfer, die die

Fortführung des Krieges forderte, in keinem Verhältnisse mehr ständen zu den noch zu erwartenden militärischen Er­

gebnissen, daß es staatsmännisch, einsichttg und weise sei, die Bernichtungsabsicht, die doch nicht zur Vernichtung führt,

auszugeben und nach einem verständigen Ausgleich zu suchen. Für uns freilich, die wir im politischen Sinne die Angegrif­

fenen sind und um unser Dasein kämpfen, kann kein Opfergroß genug sein, um einen Frieden zu verhüten, der uns demütigt. Mer eben weil wir in dieser Lage und zugleich

dessen ganz sicher sind, daß wir einen solchen Frieden durch unseren Widerstand verhüten werden, konnten wir wiederum

die ersten sein, die den neuen rettenden Gedanken ausspra­ chen, daß dieser Krieg nur durch einen Kompromißftieden einmal ein Ende finden kann — je eher, um so besser. Meder

also wie auf allen früheren Stufen des Dramas waren wir es, die den ersten Schritt zur nächsten Stufe taten, die am rasche­

sten die (Situation begriffen, am entschlossensten die Mittel

wählten, die ihr entsprachen. Vom Einmarsch in Belgien an bis zum Friedensrufe Deutschlands und seiner Verbündeten

durchwaltet dies Gesetz unser Tun. Man wird in ihm später den großartigen Rhythmus, das geistige Bindeglied unseres

heroischen Berteidigungskampfes sehen.

Der Rhythmus des Weltkriegs.

133

Unsere Lage war es, die uns dies Gesetz unseres Han­

delns aufzwang. Der um seine Existenz ringende Verteidiger mußte das Mnus seiner physischen Mittel durch das Plus einer moralischen, politischen und technischen Überlegenheit

und Voraussicht ausgleichen. Dabei hat aber der Krieg noch

eine weitere Lehre gebracht, die wir ebenfalls zu seinen gesetzmäßigen Erfahrungen rechnen können.

Denjenigen

kleinen Nachbarmächten, die im Vertrauen auf die physische Überlegenheit unserer Gegner auf sie gesetzt oder gar unmittelbar sich ihnen angeschlossen haben, haben wir mit

einer betrübenden Regelmäßigkeit jedesmal bewiesen, daß sie

falsch gesetzt haben. Wehe den Kleinen, die sich an uns ver­

greifen wollen!

Das Schicksal Belgiens, das sich von den

Westmächten einfangen und betören ließ, Serbiens, Mon­ tenegros und Rumäniens, die sich am Raubzuge der Großen gegen uns beteiligen wollten, wird die kleinen Mächte Euro­ pas dauemd, weit über den Krieg hinaus, belehren, daß

es für sie lebensgefährlich ist, an den elektrisch geladenen Draht zu rühren, der Mtteleuropa schützt. Auch diese Lehre gehört in das Kapitel von den „realen Garantien", die

Europa braucht, um den Frieden künftig zu sichern.

Aber auch die anderen Gmnderfahrungen, die der Krieg gebracht hat, können, wenn eine empfängliche Bemunft sie in sich aufnimmt und konsequent durchdenkt, zu solchen

„realen Garantien" werden.

Auf lange hinaus wird der

Satz gelten müssen, daß der Niederwerfungsstrategie im Kampfe der Großen gegeneinander bestimmte Grenzen

gesteckt sind. Das heißt aber, daß auch eine Niederwerfungspolitik, eine auf grundstürzende Umwälzung der

134

Der Rhythmus des Weltkriegs. Nachwort.

europäischen Machtverhältnisse gerichtete Politik, schlechte

Geschäfte macht und nicht auf ihre Kosten kommt. Nur der­ jenige kommt wirklich auf seine Kosten, der mit reinem Ge­

wissen seine Existenz und seine Ehre zu verteidigen hat

gegen den Vernichtungswillen seiner Gegner.

Das aber

waren wir.

Nicht Niederwerfung, sondern Gleichgewicht heißt die politische Losung der Zukunft.

Nachwort. Ich gebe den Aufsatz, von wenigen geringfügigen Ver­ besserungen abgesehen, genau so wieder, wie er in der

„Frankfurter Zeitung" vom 31. Dezember 1916 gestanden hat. Die englische Presse hat sich sogleich über ihn hergemacht, zuerst mit Erstaunen darüber, daß man in Deutschland unbefangen genug sei, Mßerfolge der eigenen Kriegfüh­ rung einzugestehen, dann rasch dahinter bemüht, durch

grobe Entstellungen und Verschweigungen meiner Gedanken

eine Bestätigung dessen aus ihm herauszulesen, was die Gegner vom Gange des Weltkrieges behauptet haben (»Times« vom 3. und 5. Januar 1917),

Poldhu-Dienst

vom 14. Januar

1917

bis dann der den

verlogenen

Funkenspruch über die ganze feindliche Welt verbreitete, ich „hätte das plumpe Geständnis abgelegt, daß ein Sieg für die Mittelmächte unmöglich sei".

Die Wahrheit dessen, was ich meinte, und der wahre

Charakter

unserer

Lage

bedarf

keiner

Funkensprüche,

Der Rhythmus des Weltkriegs.

Nachwort.

135

sondern nur der Zeit und der Macht der Tatsachen, um sich durchzusetzen. Mr haben, so war der Sinn meiner Aus­ führungen, im Kampfe gegen ein unerhörtes Übergewicht

der zählbaren feindlichen Kräfte Gewaltiges erreicht, wenn wir auch nur ein Gleichgewicht der militärischen Lage her­ stellten und durch 2Vz Jahre erfolgreich behaupteten.

Wir haben so viel erreicht, als wir brauchen, um einen unsere Kriegsziele verwirklichenden Frieden schließen zu können. Keiner der Gegner kann das gleiche von sich be­

haupten, weil ihre Kriegsziele, anders wie unsere, schimärisch und unerreichbar waren und sind. In dem sicheren Bewußt­ sein unserer Unerschütterlichkeit konnten wir sie auffordern, auf den Boden der Wirklichkeit zurückzutreten und den Frieden zu schließen, der dem besonderen Charakter dieses

Krieges entspricht. In demselben Bewußtsein unserer Stärke und der stolzen und großartigen Gesamtleistung unserer Heerführer und Heere haben wir es auch leichter

als die Gegner, der Wahrheit die Ehre zu geben und auch

das Maß dessen, was wir nicht erreicht haben, ruhig anzu­

geben und einzuräumen. Wer dann vor dem Urteil der Weltgeschichte einmal als der währe Sieger gelten wird, darum sind wir keinen Augenblick besorgt. Abermals sind wir seitdem in eine neue Epoche des Kampfes eingetreten, abermals waren wir es, die durch

unsere Jnitiaüve den Charakter dieser Epoche bestimmten. Weil die verblendeten Gegner den Kompromißfrieden ausschlugen, mußten ivir neue, schärfere Waffen hervor­

holen, um nunmehr den Frieden endlich und rasch zu er­

zwingen. Mr haben sie nicht eher hervorgeholt, als bis sie

136

Der Rhythmus des Weltkriegs.

Nachwort.

nötig und unvermeidlich und zugleich scharf genug geworden waren, um ihr Ziel zu erreichen und den Gegner an der empfindlichsten Stelle zu treffen. In einem früheren Zeit­

punkte ergriffen, hätten sie ihr Ziel — so schließen wir aus

der Haltung unserer politischen und militärischen Führer —

nicht erreicht.

Jetzt traf die Vermehrung und technische

Vervollkommnung unserer Tauchboote zu unserem Heile

mit dem politischen Momente zusammen, wo so zahlreiche

und so leistungsfähige Tauchboote da sein mußten, um un­ seren Friedenswillen durchzusetzen und den Vernichtungs­ willen der Gegner zu brechen. Mit den jeweilig stärksten und wirksamsten Waffen in immer wieder neuer An­ passung an alle militärischen und politischen Möglichkeiten

erreichbare Ziele zu erkämpfen, das war, wie der Aufsatz

ausführte, der Sinn und Rhythmus unseres Kampfes von vomherein. Wägen und Wagen galt es immer mit äußerster Straffheit zu vereinigen, um den schmalen Grat zwischen

Wollen und Können zu finden.

Nur solche Selbstzucht,

wie unsere Führer sie bewiesen und uns vorgelebt haben, vermag das Schicksal zu zwingen.

Verlag R. Oldenbourg, München NW. 2 u. Berlin W. 10

Weltbürgertum und Nationalstaat Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates von

Friedrich Meinecke Vierte, durchgesehene Auflage

X u. 534 Seiten Oktav. Preis geh. M. 13.—, geb. M. 15.— on dem Buche des bekannten Berliner Historikers, das in die Genesis

des deutschen Nationalstaates tiefer einzudringen versucht und das Vzuerst im Jahre 1907 erschien, liegt nunmehr die vierte Auflage vor.

Sie berücksichtigt alles, was aus der Literatur der letzten Jahre des Anmerkens wert erschien. In einem Nachworte hat der Verfasser sich angelegen sein lassen, das preußisch-deutsche Problem im Lichte der durch den Weltkrieg geschaffenen Lage zu betrachten. So wird das einst in ruhiger Betrachtung entstandene Buch jetzt auch den Bedürf­ nissen unserer Zeit etwas bieten.

AUS DEN BESPRECHUNGEN: Es ist eines der feinsten und gehaltvollsten historischen Bücher, die wir kennen, die wir in Meineckes »Weltbürgertum und Nationalstaat« anzuzeigen die Freude haben; eines von den nicht allzu häufigen, die in scheinbar bekannten Zusammenhängen wirklich neue, ungeahnte Binde­ glieder und Verknüpfungen nachweisen und die Bereicherung unserer Einsichten in einer sprachlichen Form bewirken, welche das Lesen zu einem reinen Genuß macht.

. . . Das Buch ist Erich Mareks gewidmet. Es zeichnet sich äußerlich durch herrlichen klaren Druck, Freiheit von Druckfehlern und einen äußerst geschmackvollen, vornehmen Einband aus. Literarisches Zentralblatt.

Verlag R. Oldenbourg, München NW. 2 u. Berlin W. 10

Historische Bibliothek Herausgegeben von der Redaktion der Historischen Zeitschrift Bd. 1: Bd. 2:

Bd. 3: Bd. 4:

Bd. 5: Bd. 6:

Bd. 7: Bd. 8: Bd. 9:

Bd. 10: Bd. 11:

Bd. 12: Bd. 13: Bd. 14:

Bd. 15: Bd. 16:

Bd. 17:

Heinrich von Treitschkes Lehr- und Wanderjahre 1834—1867. Erzählt von Theodor Schiemann. XII u. 291 8. 8°. 2. Ausl. In Leinw. geb. M. 5.—. Briefe Samuel Pufendorfs an Christian Thomasius (1687—1693). Herausgegeben und erklärt von Emil Gigas. 78 8. 8*. In Leinw. geb. M. 2.—. Heinrich von Sybel, Vorträge und Abhandlungen. Mit einer biographischen Einleitung von Professor Dr. Varrentrapp. 378 8. 8°. In Leinw. geb. M. 7.—. Die Fortschritte der Diplomatik seit Mablllon vornehmlich in Deutschland-Österreich. Von Rich. Rosenmund. X u. 125 8. 8°. In Leinw. geb. M. 3.—. Margareta von Parma, Statthalterin der Niederlande (1569—1667). Von Felix Rachfahl. VIII u. 276 8. In Leinw. geb. M. 5.—. Studien zur Entwicklung und theoretischen Begründung der Monarchie im Altertum. Von Julius Kaerst. 190 8. 8*. In Leinw. geb. M. 3.—. Die Berliner Märztage von 1848. Von Prof. Dr. W. Busch. 74 8. 8°. In Leinw. geb. M. 2.—. Sokrates und sein Volk. Ein Beitrag zur Geschichte der Lehr­ freiheit. Von Dr. Rob. Pöhlmann. VI u. 133 8. 8°. In Leinw. geb. M. 3.50. Hans Karl von Winterfeldt. Ein General Friedrichs des Großen. Von Ludwig Mollwo. XI u. 263 8. 8*. In Leinw. geb. M. 5.—. Die Kolonialpolitik Napoleons I. Von G. Roloff. XIV u. 258 8. 8°. In Leinw. geb. M. 5.—. Territorium und Stadt. Aufsätze zur deutschen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte. Von Georg von Below. XXI u. 342 8. 8°. In Leinw. geb. M. 7.—. Zauberwahn, Inquisition u. Hexenprozesse im Mittelalter u. die Entstehung der großen Hexenverfolgung. Von Joseph Hansen. XVI u. 538 8. 8°. In Leinw. geb. M. 10.—. Die Anfänge des Humanismus in Ingolstadt. Eine literarische Studie zur deutschen Universitätsgeschichte. Von Prof. Gust. Bauch. XIII u. 115 8. 8°. In Leinw. geb. M. 3.50. Studien zur Vorgeschichte der Reformation. Aus schlesischen Quellen. Von Dr. Arnold O. Meyer. XIV u. 170 8. 8*. In Leinw. geb. M. 4.50. Die Capita agendorum. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte der ReformvGrhandiungen in Konstanz. Von Privatdoz. Dr. Kehrmann. 67 8. 8°. In Leinw. geb. M. 2.—. Verfassungsgeschichte der australischen Kolonien u. des »Common wealth of Australia«. Von Dr. Doerkes-Boppard. XI und 340 8. 8°. In Leinw. geb. M. 8.—. Gardiner, Oliver Cromwell. Autor. Übersetzung aus dem Englischen von E. Kirchner. Mit einem Vorwort von Prof. A. Stern. VII u. 228 8 In Leinw. geb. M. 5.50.

Verlag R. Oldenbourg, München NW. 2 u. Berlin W. 10 Bd. 18: Innozenz III. und England. Eine Darstellung seiner Beziehungen zu Staat und Kirche. Von Dr. Else Gütschow. VIII u. 197 8. In Leinw. geb. M. 4.50. Bd. 19: Die Ursachen der Rezeption des Römischen Rechts in Deutsch­ land. Von Georg von Below. XII u. 166 8. 8*. In Leinw. geb. M. 4.50. Bd. 20: Bayern im Jahre 1866 und die Berufung des Fürsten Hohenlohe. Eine Studie von Dr. Karl Alexander von Müller. XVI u. 292 8. In Leinw. geb. M. 6.75. Bd. 21: Der Bericht des Herzogs Ernst II. von Koburg über den Frank­ furter Fürstentag 1863. Ein Beitrag zur Kritik seiner Memoiren von Dr. Kurt Dorien. XVI u. 170 S. 8«. Kart. M. 4.—. Bd. 22: Die Spanier in Nordamerika von 1513—1824. Von E. Daenell. XV u. 247 8. 8*. Kart. M. 6.—. Bd. 23: Die Überleitung Preußens in das konstitutionelle System durch den zweiten Vereinigten Landtag. Von Hans Mahl. XII u. 268 8. 8°. Kart. M. 6.—. Bd. 24: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der mo­ dernen Welt. Von Ernst Troeltsch. 2. vermehrte Auflage. 104 8. 8°. Kart. M. 2.80. Bd. 25: Liselotte und Ludwig XIV. Von Dr. Michael Strich. VIII u. 154 8. 8°. Mit einer Tafel. Kart. M. 5.—. Bd. 26: Staat und Kirche in den arianischen Königreichen und im Reiche Chlodwigs. Von Dr. Hans vön Schubert. XIV u. 199 8. 8°. Kart. M. 6.—. Bd. 27: Die Schule Johann Sturms und die Kirche Straßburgs. Von W. Sohrn. XIV u. 317 8. 8°. Kart. M. 8.—. Bd. 28: Frankreich und die deutschen Protestanten in den Jahren 1570/73. Von W. Platzhoff. XVIII u. 215 8. 8°. Kart. M. 6.—. Bd. 29: Vom Lehnstaat zum Ständestaat. Ein Beitrag zur Entstehung der landständischen Verfassung. Von Hans Spangenberg. XII u. 207 8. 8«. Kart. M. 6.—. Bd. 30: Prinz Moritz von Dessau Im siebenjährigen Kriege. Von Max Preitz. VI u. 184 8. 8° mit 1 Porträt, 2 Schriftstücken in Faksimile und 6 Kartenskizzen. Kart. M.5.—. Bd. 31: Machlavellis Geschichtsauffassung und sein Begriff virtü. Studien zu seiner Historik. Von Eduard Wilh. Mayer. VIII u. 125 S. 8*. Kart. M. 4.—. Bd. 32: Der Übergang des Fürstentums Ansbach an Bayern. Von Fritz Tarrasch. VIII u. 182 S. 8°. Kart. M. 5.—. Bd. 33: Mittelalterische Welt- und Lebensanschauung im Spiegel der Schriften Coluccio Salutatis. Von A. v. Martin. XII u. 166 S. 8’. Kart. M. 4.—. Bd. 34: Die hessische Politik in der Zeit der Reichsgründung (1863—1871). Von Ernst Vogt. X u. 229 8. 8°. Kart. M. 6.—. Bd. 35: Napoleon, England und die Presse (1800—1803). Von Therese Ebbinghaus. VIII u. 211 S. 8°. Kart. M. 5.—. Bd. 36: Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter. Von Ernst Troeltsch. XII u. 173 S. 8». Kart. M. 5.50. Wir liefern Band 1—20 statt für M. 96.75 zu dem ermäßigten Preis von M. 50.—, Band 21—30 statt für M. 54.80 zu dem ermäßigten Preis von M. 30.—. Die Preise für einzelne Bände dagegen bleiben bestehen.

Verlag R. Oldenbourg, München NW. 2 u. Berlin W. 10

Historisch-politische Aufsätze und Reden "

von

Hermann Oncken Professor an der Universität Heidelberg

2 Bände. 742 Seiten 8°. In Leinwand geb. Preis M. 12.50, in Halbleder geb. Preis M. 16.50 AUS DEN BESPRECHUNGEN: . . Er behandelt also vorwiegend mit dem weiten, geschulten Blick des Historikers mancherlei Fragen, die auch für das pulsende Leben der Gegenwart Bedeutung haben. — Mögen Onckens Reden und Aufsätze dazu beitragen, gerechtes und besonnenes politisches Denken in deutschen Landen zu verbreiten. . . . Kölnische Zeitung.

Kleine historische Schriften von

Max Lenz a. o. Professor an der Universität Berlin

608 Seiten 8°. Preis geheftet M. 9.—, elegant gebunden M. 11.— INHALTS-ÜBERSICHT: eopold Ranke. — Zum Gedächtnistage Johann Gutenbergs. — Janssens Geschichte des deutschen Volkes. — Humanismus und Reformation — Die Geschichtschreibung im Elsaß zur Zeit der Reformation. — Dem Andenken Ulrichs von Hutten. — Martin Luther. — Luthers Lehre von der Obrigkeit. — Der Bauernkrieg. — Florian Geyer. — Philipp Melanchthon. — Die geschichtliche Stellung der Deutschen in Böhmen. — Gustav Adolf dem Befreier zum Gedächtnis. — Nationalität und Re­ ligion. — Wie entstehen Revolutionen ? — Die französische Revolution und die Kirche. — Die Bedeutung der Seebeherrschung für die Politik Napoleons. — Napoleon und Preußen. — 1848. — Bismarcks Religion. — Bismarck und Ranke. — Otto von Bismarck und Freiherr Karl von Stein. — Bismarck in Gastein. — Heinrich von Treitschke. — Konstantin Rößler. — Wilhelm I. — Die Tragik in Kaiser Friedrichs Leben. — Das russische Problem. — Jahrhundertsende vor hundert Jahren und jetzt— Ein Blick in das zwanzigste Jahrhundert. — Die Stellung der histo­ rischen Wissenschaften in der Gegenwart.

L