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German Pages 136 [144] Year 1917
Probleme des Weltkriegs Aufsätze von
Friedrich Meinecke Professor cm ber Aniversttat Berlin
München unö Berlin 1917
Druck unö Verlag von R. Glbenbourg
Inhal?). Seite
1. Geschichte und öffentliches Leben.......................................... 1 2. Politische Kultur und öffentliche Meinung. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der englischen Kriegserklärung.............................. 10 3. Probleme des Weltkriegs................................................................ 35 4. Staatskunst und Leidenschaften............................. . . 58 5. Fürst Bülows Deutsche Politik.................................................... 71 6. Die Reform des preußischen Wahlrechts .... 82 7. Der Rhythmus des Weltkriegs................................................. 126
x) Die Aufsätze durften die Farbe des Momentes, in dem sie entstanden sind, nicht verlieren und haben deshalb nur die nötigsten, durch die inzwischen erfolgten Ereignisse veranlaßten Änderungen
und Zusätze erfahren.
Geschichte und öffentliches Leben. (Aus Jäckh, Der große Krieg als Erlebnis und Erfahrung [1916].)
PJJtne neue geschichtliche Epoche begann für die Welt und w voran für das deutsche Volk mit dem 1. August 1914.
Wir sagten es schon uns an jenem Tage, erhoben und
erschüttert zugleich von dem Schicksal, das über uns kam. Immer hatten wir es kommen und sich vorbereiten sehen,
und doch waren die überwiegenden Tendenzen unseres geistigen und politischen Lebens nicht eigentlich auf diesen Punkt gerichtet. Sie ergossen sich in breiter Fülle, sie gingen auseinander und gegeneinander, indem jede Kraft darauf aus war, sich selbst zu behaupten und durchzusetzen.
Bald konnte man meinen, daß das Leben des deutschen Volkes heillos verworren und getrübt sei, bald sich seines
wogenden und bunten Reichtums erfreuen.
Das eine
aber war sicher, das inmitten alles Schaffendranges dem Gesamtleben
unserer
Station
das
Bewußtsein großer Es fehlte
beherrschender und zwingender Ideen fehlte. Meinecke, Probleme de- Weltkrieg-.
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Geschichte und öffentliches Leben.
uns nicht an lebendigen Idealen und an schöpferischem Glauben überhaupt. Aber wer ihn hatte, mußte sich darauf
beschränken, seinen Weg durch enge Gassen inmitten einer durcheinander drängenden Menge und mit versperrtem Ausblick ins Weite zu nehmen.
Der Krieg hat die Wege geweitet, die drängenden Massen in einträchtig wallende Scharen geordnet und
auf große und mächtige Ziele von unbedingtem und ver pflichtendem Werte gerichtet. In den Dienst des obersten
allbeherrschenden Zieles, den Bestand und die Unabhängig keit des Vaterlandes zu verteidigen und steten Atemraum
für seine politische und wirtschaftliche Zukunft zu erkämpfen, trat man ein mit dem Entschlüsse, nicht nur Gut und Blut
dafür zu opfem, sondem auch alle geistigen Lebensziele, die man bisher zersplittert und zersplitternd verfolgt hatte,
in einen inneren Zusammenhang mit ihm zu bringen.
Man organisierte nicht nur den Kriegsbedarf und die Wirt schaft, sondem begann es auch mit den eigenen Gedanken und Lebenstendenzen zu tun. Man begann es nur eben; denn die Aufgabe, auch auf diesem Gebiete innere Einheit
und Klarheit zu schaffen, drängte sich zwar unabweisbar auf, aber war unvergleichlich schwerer und langsamer
nur zu lösen. Wir hatten uns in den Zeiten vor dem Kriege in unserem Bemfsleben, in unseren politischen Interessen
und Wünschen, in unseren Welt- und Lebensanschauungen derart differenziert, daß der eine oft kaum noch die Denk-
und Empfindungsweise des anderen verstand.
Waren
wir überhaupt noch ein Volk mit einem einheitlichen Na tionalcharakter? Diese Frage, die man in den Zeiten vor
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Geschichte und öffentliches Leben.
dem Kriege zweifelnd hätte aufwerfen können, ist ja durch den Krieg überwältigend und alle Zweifel niederschlagend
beantwortet worden. Wir sind es, sind uns dessen durch
eigenes Erlebnis und durch den einmütigen Haß der Feinde gegen unsere Sonderart wieder bewußt geworden.
Sie
dichten uns sogar, um uns mit Grund mißachten zu können, eine grobe und gemeine, herdentriebmäßige Einförmigkeit an, die nur eine Karikatur gewisser Wesenszüge und Ein richtungen unseres Lebens ist. Nicht zur Monotonie, son-
dern zur Harmonie streben wir, wenn wir auch die Welt unserer Gedanken und Ideale zu organisieren und in die
auseinanderstrebenden Wege der Einzelnen Berbindungs strecken und Brücken hineinzubauen versuchen.
Wir müssen es tun, weil schon das eigene Bedürfnis eines selbständigen Lebens es so verlangt. So hoch es auch den Wert der Persönlichkeit und ihrer eigenwüchsigen
sittlich-geistigen Entfaltung schätzt, so erschöpft es doch in ihr seine Aufgabe nicht. Nur in der Gemeinschaft vollendet
sich das Jndividunm, und aus der Wechselwirkung zwischen ihm und ihr entspringt alle echte und große Kultur. Und
insbesondere gilt dies von der Wechselwirkung, die zwi
schen dem Einzelnen und der Volks- und Staatsgemein schaft besteht.
Sie zu heller und freudiger Bewußtheit
zu erheben, die Schranken, die sie hindem könnten, Hin
wegzuräumen, heißt ein höheres und stärkeres Leben in beiden erwecken, heißt organisieren im höchsten Sinne. Und wir müssen es ferner tun, weil das Bedürfnis der Volks- und Staatsgemeinschaft es jetzt gebieterischer wie je verlangt. Wir haben, wie der Reiter vom Bodensee,
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Geschichte und öffentliches Leben.
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den vollen Umfang der Gefahren, die uns beim Beginn
des Krieges umgaben, erst überschaut, nachdem wir sie überwunden hatten durch den Heroismus unserer kämpfen
den Heere. Aber neue Gefahren stiegen aus den überwun denen sogleich auf. Wir können heute, auf der Höhe des dritten Kriegsjahrs und der Entfaltung der radikalsten
Vemichtuygsmittel hüben und drüben, nicht mehr sagen, daß wir den Umfang dessen, was aus dem Spiele steht, noch nicht zu überschauen vermöchten, sondem wir blicken ernst
und entschlossen in das eherne Angesicht des Schicksals.
Unser Wille allein gibt uns das stolze Recht zu unbedingter Zuversicht.
Aber die Weltgegnerschaft, die wir jetzt zu
bezwingen haben, wird sich von den Schlachtfeldern fort
pflanzen auf Wrtschaft und Kultur, und unsere politische Lage wird, trotz der neuen Bollwerke, die wir gewinnen wollen, immer von Stürmen bedroht bleiben. Wir werden, um ihnen gewachsen zu bleiben, enger zusammengedrängt
als bisher leben müssen.
Die Gebote unserer äußeren
Weltlage werden in noch höherem Grade zu Gesetzen für unser inneres Dasein werden. Wir werden uns bewuß ter und bereitwilliger miteinander einzuleben haben und
die Unduldsamkeit und Ausschließlichkeit des Parteigeistes
allenthalben, wo wir ihm begegnen, dämpfen müssen,
damit in den großen und entscheidenden Lebensfragen der Nation in jedem Augenblicke ihre geschlossene Kraft hervorspringen könne.
Den Parteigeist innerhalb der Nation dämpfen, heißt nicht etwa, die Parteien selbst entnerven. Als Ausdruck
lebendiger gesellschaftlicher und geistiger Kräfte der Nation
Geschichte und öffentliches Leben.
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sind sie nicht nur berechtigte, sondern auch notwendige Organe des Volks- und Staatslebens, Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft, die freilich nur durch Selbstzucht
und Maßhalten ihre Aufgabe für beide lösen können. Zwei Hauptforderungen muß man an sie richten. Einmal, daß
sie sich jederzeit verantwortlich auch für das Staatsganze mit
fühlen; und dann, daß sie das relative Recht, den positiven Lebensgrund
auch der
gegnerischen
anzuerkennen sich bemühen.
Parteien jederzeit
Beide Forderungen sind nur
zu erfüllen durch den, der die Kunst des historischen und
politischen Verstehens gelernt hat. So greift hier die Auf gabe der Geschichtswissenschaft und überhaupt der ge schichtlichen Geisteswissenschaften für das öffentliche Leben
ein. Nicht in erster Linie ihr Wissen, sondern ihre Kunst
des Verstehens, wie sie sich bei uns ausgebildet hat in einer mehr als hundertjährigen Übung, haben sie ihm zu bieten. Sie ist nur erreichbar für den, der eine tief menschliche Gesinnung in sich pflegt, dem nichts Menschliches fremd
bleibt, der sich einzufühlen vermag auch in die Gedanken welt seines Feindes.
Die reine wissenschaftliche Historie
will und muß auf diesem Wege noch weiter gehen als der handelnde
Staatsmann und
Staatsbürger.
Denn
es ist ihr Ehrgeiz, sich zum reinsten Spiegel der menschlichen
Dinge zu klären und die eigenen Wünsche dabei zum
Schweigen zu bringen.
Die Aufgabe des Staatsmannes
und Staatsbürgers dagegen ist, diese Dinge zu gestalten nach bestimmten Wünschen und Willensentschlüssen.
Das
rein historische Denken sieht, wenn es vor praktische Auf
gaben gestellt wird, vielerlei ihm gleichberechtigt scheinende
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Geschichte und öffenüiches Leben.
Wege des Handelns vor sich und wird deshalb leicht von der Fülle der Gesichte erdrückt, von den Skrupeln der Gewissenhaftigkeit geplagt. Es gleicht dem Wanderer, der durch eine Wiese schreitet und keine Blume, womöglich
keinen Halm zertreten möchte. Der handelnde Mensch
dagegen muß mit rascher Entschlußkraft sich für einen unter vielen Wegen entscheiden und ihn ohne Schwanken zu Ende gehen. Und doch muß auch sein Wollen und Ent
schließen fortwährend durch Denken und Betrachten ge leitet werden. Auch er also bedarf jenes Spiegels, den das historische Denken und Verstehen ihm bieten kann.
Der geniale Staatsmann vermag, wie das Beispiel Bis marcks zeigte, ihn auch ohne bewußte Anleitung zu hand haben, und ein dauemdes Tragen staatlicher Verantwortung
kann ebenfalls zu einer leidenschaftslosen und ruhigen Würdigung menschlicher Lebensverhältnisse und auseinander strebender Parteiungen erziehen.
Es ist zu hoffen, daß
im neuen Deutschland möglichst viele Volksgenossen durch
diese Schule gehen und durch verantwortliche Leistungen für Staat, Gemeinde und Berufsgemeinschaft in das Verständnis der großen Gesamtinteressen wie der reichen
Verzweigungen des Nationallebens hineinwachsen. aber, wie
Soll
wir es uns wünschen, das politische Leben des
neuen Deutschlands, sein nach außen gekehrtes wie sein
nach innen sich wendendes, auf der Grundlage einer freien menschlichen Bildung wachsen, sollen Staat und Kultur in
ein inneres Verhältnis zueinander treten, so muß das, was wir als die Blüte der deutschen Geisteswissenschaften ansehen, der weltweite und aufgeschlossene Sinn für die
Geschichte und öffentliches Leben.
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Vielgestaltigkeit und den unerschöpflichen Reichtum der geschichtlichen Menschheit, auch das politische Denken und Handeln
unserer Staatsmänner und Staatsbürger
be-
fmchten.
Mannigfach sind die Mttel, dies zu erreichen. Mehr noch als das Wort des Buches wirkt der lebendige Umgang Md Austausch von Person zu Person, wo die Stärken und Schwächen des handelnden wie des betrachtenden Menschen Mmittelbar aufeinander treffen und von einander lernen können. In den Zeiten vor dem Kriege bestand zwischen
dem öffentlichen Leben und den Geisteswissenschaften kein
gesundes und vertrauensvolles Verhältnis. Der Praktiker warf dem Gelehrten Absonderung und Welt
gMz
fremdheit vor, der Gelehrte dem Praktiker Unverständnis für
feinere ideelle Werte und Zusammenhänge.
Oder es
erschienen dem Manne der schaffenden Arbeit die Früchte
Mserer geschichtlichen Bettachtungsweise nur als ein schöner Schmuck des Daseins, als eine ästhetische AusfMung für
die Mußestunden. PraMer dieses Schlages werden nie ganz verschwinden.
Aber sie werden sich in der neuen Zeit, der wir entgegen
gehen, gefallen lassen müssen, daß man sie als rückständig und beschränkt, daß man sie als schlechte PraMer ansehen wird, Md daß nur der als guter PraMer gelten wird, dessen Hand nicht nur fest, sondern auch feinfühlig ist. Denn
die vielen schweren Probleme der inneren und äußeren
Politik, die uns der Friedensschluß und die ihm folgende Friedenszeit stellen werden, sind von der Art, daß sie nimmer mehr allein durch Routine oder durch grobe Kraft zu lösen
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Geschichte und öffentliches Leben.
sind. Routine und grobe Kraft haben es beide an sich, daß sie nur den Bezirk der eigenen kleinen Persönlichkeit kennen und, die eine aus geistiger Trägheit, die andere aus roher Überhebung stumpf und blind werden gegen alles übrige Eigenleben in der Welt.
Und doch ist das
deutsche Volk im Verlauf seiner Geschichte noch niemals gleich
zeitig vor eine solche Fülle von Problemen, die aus dem
geschichtlichen Eigenleben, seinem eigenen, wie dem der benachbarten Völker entspringen, gestellt worden. In den Nöten unserer früheren Geschichte hatten wir wesentlich nur mit uns selbst fertig zu werden. Ohne daß wir sagen
dürften, daß uns dies schon ganz gelungen wäre und schwer belastet mit noch unerledigten Aufgaben unseres inneren
Staatslebens, sind wir nun dermaßen in die uns umgebende Welt hineingewachsen, daß uns auch ihre Nöte und Pro bleme mit aufgewälzt werden. Die mitteleuropäische, die polnische, die belgische Frage, die Art der Verknüpfung
deutscher und türkischer Interessen, das Verhältnis zu den Balkanstaaten, die Freiheit der Meere, die Abwehr des
Wirtschafts- und des Kulturkrieges, den die romanischen und
angelsächsischen Nationen uns erklärt haben, — nirgends sehen wir runde und einfache Lösungen möglich, überall gilt es, mit Kraft und Geschmeidigkeit, mit einfühlendem
Verständnis und festem Entschlüsse zugleich neue Wege zu finden, die zum Erreichbaren und Möglichen, recht ost auch
nur zum Erträglichen uns führen müssen. Nur der innigste Bund von Praxis und Wissenschaft kann das leisten, und über
all sind wir fast ausschließlich auf unser eigenes Können an gewiesen und haben von der Hilfe ftemder Völker herzlich
Geschichte und öffentliches Leben.
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wenig zu erwarten. Eine der größten Prüfungszeiten für
unsere geistige und politische Begabung steht uns bevor. Prägen wir uns nochmals ein, daß unser öffentliches Leben
der intensivsten Wechselwirkung von Energie und Geist heute bedarf.
Politische Kultur und öffentliche Meinung. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der englischen Kriegserklärung. (Internationale Monatsschrift April 1915].)
I.
jetzige Weltkrieg ist ein ganzer Komplex mehrerer
gleichzeitig geführter Kriege.
Es ist kein bloßer Zu
fall, daß sie gleichzeitig geführt werden; die verschiedenen Ursachen und Anlässe greifen allenthalben ineinander über. Aber jede der miteinander verwickelten Streitfragen führte
und M)rt zugleich ihr besonderes Leben für sich und will auch in ihren Ursachen und ihren Werten besonders ge würdigt werden.
Das übermächtige politische Bedürfnis
des Augenblicks zwingt wohl dazu, den Komplex dieser
Fragen sich zu vereinfachen und sie anzusehen wie die Teile einer einzigen ungeheuer ausgedehnten Schlacht linie.
Das Hauptinteresse, für das wir kämpfen, wird
dann zur Dominante für die Urteile, die wir über Wert oder Unwert, Recht oder Unrecht, Vorteil oder Nachteil
in allen übrigen miteinander jetzt auszukämpfenden Fragen
fällen. machen,
Mer man muß doch einmal darauf aufmerksam
daß dadurch bedenkliche Fehlerquellen sowohl
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
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für das politische wie für das wissenschaftliche Urteil ent stehen. Die jetzt zusammen ausgefochtenen Fragen können
sich auch einmal wieder trennen; der Gewinn, den diese oder jene uns heute zu bieten scheint, kann sich morgen
in einen schweren Verlust verwandeln, und der Feind von heute kann übermorgen unser Freund oder wenigstens doch der Förderer unserer Interessen werden. Unsere innere
Einstellung gegen Japan z. B. ist heute, wo es die Interessen
Rußlands, Englands und Amerikas in China bedroht und
unsere Gegner in Verlegenheit bringt, schon merklich anders als in den Augustwochen 1914, wo es uns sein unverschämtes
Ultimatum sandte.
Ist es etwa ausgeschlossen, daß wir
noch einmal eine gewisse Interessengemeinschaft mit Japan erleben? Wenn es geschehen sollte, wollen wir uns davor
hüten, heute ein crucifige und morgen ein Hosianna zu rufen, sondem mit kühlem Kopfe und offenem Auge dem japanischen
versuchen.
Probleme
von allen
Seiten beizukommen
Die politische und die historische Forderung
stimmen darin überein: den Moment zwar kräftig zu ergrei fen, aber zugleich über dem Momente frei zu schweben
und sich von allen Befangenheiten frei zu halten, in die
man gerät, wenn man nur an Nutzen oder Schaden des
Augenblicks denkt.
Das Ideal wäre eine Vereinigung
dessen, was höchste Aktivität und höchste Kontemplation zu leisten vermögen.
Das würde man dann „politische
Kultur" im eigentlichen Sinne nennen können. Sollte es nicht dem Deutschen künftig vielleicht besser
liegen, hiemach zu handeln, als unserem Hauptgegner, dem Engländer? Die Elemente dazu sind heute anscheinend
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Politische Kultur und öffentliche Meinung.
bei uns reicher vorhanden als in England. Unsere Wissen
schaft kann, ohne sich zu überschätzen, ihrer universalen Emp
fänglichkeit, ihrer methodischen Strenge und zum mindesten
ihres Wunsches, nationale Vorurteile zu überwinden, sich rühmen. Unser praktisches Leben aber vereinigt dieselbe methodische Gründlichkeit mit Energie und Entschlossenheit.
Dazwischen liegt freilich eine breite Sphäre der öffentlichen Meinung mit einem noch recht unerzogenen, triebartigen Füh
len und Denken, innerhalb deren zumal die Beurteilung machtpolitischer Fragen ähnlich auf und niederschwanken
kann wie ein steuerloses Schiff bei Wind und Wellen. Immer hin aber gibt es bei uns eine weitverbreitete ritterliche Emp findungsweise, die man als eine propädeutische Vorstufe zu leidenschaftsloser Sachlichkeit ansehen darf. Auch unser
Durchschnittsdenken ist nicht selten imstande, den Motiven des Gegners dann gerecht zu werden, wenn sie einen an ständigen und ehrenhaften Kern enthalten. Der gemeine
Mann bei uns versteht, daß der belgische Soldat sich tapfer wehrte gegen uns. Er grollt selbst dem Franzosen nicht,
den er zur Wiedereroberung Elsaß-Lothringens das Schwert ergreifen gesehen hat, und bleibt innerlich ganz ruhig bei den wilden Ausbrüchen seiner Wut. Nur die innere Roheit,
wehrlose Gefangene zu beschimpfen und zu mißhandeln,
kann und wird er ihm nie vergessen. Aus der unverdorbenen Wurzel dieser ritterlichen Empfindung, die mitten im heißen Kampfe den Gegner zu grüßen vermag, kann mit der Zeit durch politische Erfah rung und Erziehung auch jene politische Kultur bei uns sich herausentwickeln, die wir als Ideal vor Augen haben.
Politische Kultur und öffenlliche Meinung.
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Mit ihr ausgerüstet könnten wir dann unseren letzten und höchsten Sieg über England erringen.
Bor dem Kriege erschien freilich
vielen
von uns
England als das Land der höchsten politischen Kultur.
Mr gehören nicht zu denen, die jetzt mit einem Male alle Götter verbrennen wollen, die sie vor dem Kriege ange
betet haben. Das englische Staatsleben und der politische
Geist des Engländers hat seine großen und bewunderungs
werten Züge,, die uns jetzt wohl verdunkelt erscheinen, aber die darum nicht aus der historischen Welt verschwunden nnd. Aber durch diesen Krieg sind gewisse Berfallserscheisiungen an den Tag getreten, die zu der alten Vorstellung
von der politischen Erbweisheit des Engländers nicht mehr recht passen. Was wir im Sinne haben, steht im engen Zu sammenhänge mit dem, was wir im Eingang sagten.
Gerade der Engländer neigt von jeher dazu, „Do minanten" der verschiedenen, miteinander verflochtenen
Interessen sich zu bilden und mit massivem Instinkte seinem
jeweiligen Hauptinteresse alle übrigen Dinge praktisch und theoretisch unterzuordnen.
Als vor 1846 gegen die eng
lischen Komzölle gekämpft wurde, schrien die Gegner vom Morgen bis zum Abend: „Nieder mit den Komzöllen"
und rannten stiermäßig gegen sie an, ohne nach rechts und links zu sehen. Eine ungeheure Stoßkraft des politi-
schen Mllens wird dadurch entwickelt, fteilich auch eine ungeheure Einseitigkeit, die über alle Neben- und Seiten interessen rücksichtslos hinwegstürmt. Nur dasjenige er scheint dann noch als wichtig, als richtig und als wahr, was dem augenblicklichen Hauptzwecke dient. Wahr ist dann
das, was mir nützt. Man wird sich erinnern, daß gerade auf angelsächsischem Boden, in Nordamerika, jene ntilitarische Lehre vom Wahrheitsbegriff ausgebildet worden ist, die man den Pragmatismus nennt. Die Engländer haben sie praktisch vorgelebt. Sie leben sie auch heute mit erstaunlicher Energie uns vor und glauben, wie es doch scheint, ganz emsthaft an viele der Lügen, die sie als Waffen gegen uns in die Welt versenden. All ihr Denken, Wollen und Handeln ist jetzt stiermäßig aus den Gedanken konzentriert: „Nieder mit Deutschland". Um das zu erreichen, wird Rußland, der bisher von ihnen verabscheute Hort des Despotismus, mit einem Male in einen Hort politischer Freiheit und Mensch lichkeit umgedeutet, wird ihm der Weg nach Konstanünopel geöffnet, wird den Japanem die Pforte Chinas geöffnet, die man jetzt freilich schon mit Angst geöffnet sieht. Boran aber versucht man, Deutschland wirtschaftlich und geistig in Grund und Boden zu treten. Die völlige Umwertung der Werte, die sich unsere Kultur nun jenseits des Kanals gefallen lassen mußte, gehört zu den lustigsten, freilich vielleicht auch traurigsten Erscheinungen dieses Krieges. The fallen idol nannte die Times vom 8. Januar 1915 die deutsche Kultur, die nach der Auffassung der breiten Massen in Deutschland doch nur the universal rule of the drill-sergeant bedeute. Die Leistungen Goethes und Kants stünden ja noch hoch da, aber das moderne Deutsch land habe relativ wenig schöpferische Geister hervorge bracht. Darauf meldete sich ein paar Tage später, am 8. Januar, Clifford Allbutt aus Cambridge in der Times
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
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und fragte: Ist denn Goethes Lehre und Beispiel so fern
von dem, was heute deutsche Art ist? Goethes Leben war ya life of enlightened, deliberate and colossal self-develop-
ment und werde, nachgeahmt von kleineren Menschen,
Mr Megalomania. In Goethe seien die Wurzeln des Deutsch lands des 20. Jahrhunderts, Goethe habe seine Mutter in ihren letzten 10 Jahren nie besucht! — Ein anderes
Beispiel.
Professor Cramb,
der inzwischen verstorbene
Historiker am Queens College zu London, hat in seinen 1913 gehaltenen Vorlesungen über Deutschland und Eng land sein Volk auf den bevorstehenden größten Entschei dungskampf seiner Geschichte, den Krieg gegen Deutsch
land, vorzubereiten gesucht und dabei den berühmten „Tip" ausgegeben, der dann von der ganzen angelsächsi schen Welt nachgeleiert wurde, daß Treitschke, Nietzsche und Bemhardi die Exponenten des modernen deutschen Geistes seien.
Dieser Tip war zwar nicht richtig, aber
wurde, obgleich Treitschke in England bis dahin fast ganz
unbekannt war, als überaus wahr und treffend erklärt, weil er als überaus nützlich erschien. Immerhin fühlte man nun doch das Bedürfnis, sich über Treitschke etwas genauer zu orientieren, und so entstand in England und
Nordamerika eine ganze Treitschke-Kriegsliteratur, voran
das bissige Buch McCabe's „Treitschke and the great war“ und das ruhigere, eine Art von Anthologie aus Treitschke
bietende von Davis „The political thought of Heinrich
von Treitschke“.
Dem Crambschen Tip ist es passiert,
daß er, um nützlicher gemacht zu werden, noch etwas umge
bogen wurde und dadurch noch unrichtiger wurde, als
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Politische Kultur und öffentliche Meinung.
er schon war. Cramb, dessen Vorlesungen trotz vieler histori scher Verzerrungen Geist und Schwung zeigen, stand
dem nach seiner Meinung von Treitschke repräsentierten
neudeutschen Geiste, obgleich er in ihm den großen und
niederzukämpfenden Feind seines Volkes sah, innerlich durchaus nicht gehässig gegenüber.
Er sah im deutschen
Gegner grandeur of soul, er ehrte in ihm das gemeinsame germanische Blut und schloß seine Betrachtungen mit dem Aufblicke auf Odin, die mächtige Gottheit der Teutonen,
der über den Wolken thronend ernst und freundlich auf den gewaltigen Helden- und Existenzkampf seiner Lieb lingskinder, der Engländer und der Deutschen, herab schauen werde.
Diese Vorstellung, daß ein gemeinsames
edles Blut in den Adern beider Gegner fließe, kann der Engländer, nun der Krieg entbrannt ist und schwarz-,
gelb- und braunhäutige Krieger dem einen der Odinsenkel helfen, anscheinend nicht mehr vertragen. Die Geschichte
muß helfen, die Wahrheit dessen, was nützlich ist, zu be weisen, und Ramsay Muir, Historiker an der Universität Manchester, und andere unterzogen sich flugs der Aufgabe,
ihre Landsleute über ihre Verwandtschaft mit uns zu be ruhigen.
Die Engländer, erklärten sie, gehören gar nicht
zu den Germanen, gehören vielmehr zu der von Rom aus
zivilisierten Bölkerwelt. Heute aber handle es sich um den
Kampf der ganzen nichtdeutschen gegen die deutsche Welt, „den Kampf der Ehre gegen Unehre, der gesetzlichen Freiheit
gegen die Tyrannei der brutalen Gewalt, der Moralität der Zivilisation gegen die Moralität des Dschungels" (Muir,
Britains case against Germany, S. 194).
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Politische Kultur und öffenlliche Meinung.
Solche Töne erklangen in England, soweit wir sehen,
erst nach Ausbruch des Krieges. Die Feindschaft, die man
uns vorher entgegentrug, hatte einen Beisatz von ehrlicher Achtung, und man hatte noch nicht das Bedürfnis, das ganze geschichtliche Bild des deutschen Volkes und der
deutschen Kultur mit falschen Farben zu übermalen. Auch bei uns schlug der Haß gegen England nach seiner Kriegs
erklärung gegen uns zu lichterloher Flamme empor, und manch wildes und geschmackloses Wort fiel in unseren Reihen. Aber so weit gingen wir doch nicht und wollen
und dürfen wir auch nicht gehen, unser ganzes Geschichts bild von England nunmehr umzuMpen und unsere ge
schichtliche Erkenntnis in den Dienst der momentanen politischen Leidenschaft zu stellen. Die Autonomie der Kultur und der Wissenschaft soll nicht leiden, auch wenn wir unseren Kampf um Existenz und Macht mit unerbitt
licher Energie führen.
Wir wollen keinen Kulturkampf
und keinen „Religionskrieg" — auch diese Hyperbel hat
man sich drüben geleistet — aus ihm machen. Uns graut vor dem Abgrunde, den die Engländer zwischen uns und
der übrigen Welt zu schaufeln sich bemühen, denn er ist
das Grab der Wahrheit. Was soll daraus werden, wenn dieser Krieg vorübergezogen sein wird?
Die Engländer
haben sich selbst mit diesem Abgrunde eine Grube gegraben, denn" sie schädigen damit die Bedingungen des künftigen Zusammenlebens der Völker in der Welt.
Hier sehen
wir jenes Verfallssymptom in der politischen Kultur Eng
lands, von dem wir oben sprachen. Wenn in früheren Zeiten der Engländer seinen politischen Willen in leiben» Meinecke, Probleme der Weltlriegr.
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Politische Kultur und öffentliche Meinung.
schaftliche Formeln von robuster Einseitigkeit zusammen
preßte, tat er es mit einem gewissen gesunden Instinkte.
War der Zweck erreicht oder erwies er sich als unerreich bar, so ließ die Leidenschaft sogleich nach, das Schreien
und Trampeln hörte auf, und der Kampf hinterließ keine vergifteten Wunden.
Der Riesenkampf Englands gegen
Frankreich im Zeitalter der Revolution und Napoleons
hat, wie hoch auch die Wogen in ihm gingen, das innere Verhältnis der Nationen und den Austausch ihrer Kultur güter nicht dauernd geschädigt. Die Agitation der Chartisten und das Sturmrennen der Antikornzolliga, selbst der Kampf um Home Rule, soweit er innerhalb des englischen Volkes
geführt wurde, hat das soziale Leben Englands nicht dauemd
verwüstet.
An diesem common sense, dem wir früher an
ihm bewundert haben, läßt es der Engländer heute fehlen. Hätte er noch die politische Kultur seiner großen Zeit, so müßte er sich sagen, daß der Wandel der Dinge ganz sicher noch einmal andere Koalitionen, als die heute sich gegenüberstehenden, heraufführen wird.
Rußland ist und
bleibt für Englands Weltinteressen ein säkularer Gegner,
und Japan und Nordamerika können es werden.
Die
Hochflut der Weltgegnerschasten, die heute gegen uns angeht, kann in künftigen Jahrzehnten gegen England emporschwellen.
Weitsichtige Staatsmänner pflegen sich
schon im Kriege zu fragen, ob der Gegner, den sie augen blicklich bekämpfen müssen, nicht noch einmal bündnis fähig werden könnte. Wahre Machtpolitik ist elastisch und flüssig und hütet sich, dauernd sich festzulegen cuf eine
Gegnerschaft und den momentanen Krieg zu einen: ewigen
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Politische Kultur und öffentliche Meinung.
Kriege zwischen Ormuzd und Ahriman zu machen. Das
England aber, das ein Volk von 68 Mllionen auszuhungern versucht wie einen belagerten Stamm von Kannibalen,
und es bis auf den Grund der Seele beleidigt durch seine ehrabschneiderischen Praktiken, wird in Menschengedenken
nicht bündnisfähig für Deutschland sein, wird immer und überall auf unseren Zom und unsere Verachtung stoßen.
Haß und Rache, sagt Bismarck, sind die schlechtesten Rat
geber in der Politik.
Sie sollen unsere Ratgeber nie sein,
aber wir sehen, daß sie Englands Ratgeber sind.
Sollte
England sich doch noch einmal entschließen, sie zu entlassen, so werden wir die Selbstzucht üben müssen, die neue Lage
der Dinge anzuerkennen und die uns dargebotene Hand
zu ergreifen, wenn es ohne Schädigung unserer nationalen Ehre geschehen kann. Aber es sieht nicht danach aus, daß
es noch einmal geschehen könne. „Denn die Bande sind zerrissen. Das Berttauen ist verletzt."
II. Es gibt in der Entwicklung der öffentlichen Meinung in Deutschland und England am Vorabend des Krieges
ein sehr lehrreiches Beispiel dafür, wie die unbefangene Beurteilung eines Problems geschädigt und
politische
verdunkelt werden kann durch die Dominante eines Haupt interesses und wie selbst die schon gewonnene bessere Erkennt nis verloren gehen kann im Sturmwinde neuer polittscher Leidenschaften. Als Osterreich-Ungarn am 23. IM 1914 mit den schweren Forderungen seiner Note an Serbien 2*
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
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herantrat, ging ein Zucken und Beben durch die ganze politische Welt. Jeder mußte sich die Frage vorlegen, ob die furchtbare Härte dieser Forderungen, die ein sou
veräner Staat an den anderen stellte, berechtigt war, ob sie
politischer Notwehr oder aggressiven Gelüsten entsprang, ob hier ein Akt gesunder und vernünftiger oder überreizter und leichtfertiger Machtpolitik vorlag.
Es war gewisser
maßen eine Schulaufgabe für historisch-politische Urteils
fähigkeit, die hier gestellt wurde. Die bestehenden Allianzen und Interessengemeinschaften konnten und durften bei
der Beantwortung dieser Frage nicht vergessen werden. Jedes Volk hatte sich zu ftagen, ob es vom Standpunkte
des eigenen Nutzens oder Schadens aus das Borgehen Österreichs zu billigen habe oder nicht. Aber jeder politisch Denkende mußte zugleich imstande sein, das österreichisch
serbische Problem in seiner eigener Farbe, in seinem eigenen individuellen Charakter zu sehen und die Staatsnotwendig keiten abzuwägen, die Österreich für seinen ungewöhnlichen Schritt anführte.
Jede dieser beiden Betrachtungsweisen
war zunächst rein für sich durchzuführen; erst aus der Ver gleichung ihrer Ergebnisse konnte ein reifes und umfassen
des Urteil über die ganze Frage gewonnen werden. In Deutschland wie in England haben damals die
Wagschalen der öffentlichen Meinung gezittert und ge schwankt,
wie Instrumente einer Erdbebenwarte.
Die
Frankfurter Zeitung bemerkte in ihrem Abendblatte vom
24. Juli: Ob das Mittel der österreichischen Note das rechte sei, sei nicht über allem Zweifel erhaben. Man werde dem
serbischen Mnister Paschitsch jetzt Glauben schenken, daß
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
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Österreich den Krieg wolle und nur auf eine Gelegenheit
dazu gewartet habe. Mer schon einige Tage vor der öster
reichischen Note hatte sie eine tiefer greifende Bemerkung
gemacht. Es werde, schrieb sie im Abendblatt vom 20. Juli, für die Mener Regierung nicht leicht sein, Forderungen zu
formulieren, deren ErfMung ihr eine bessere Garantie
gegen neue Feindseligkeiten gebe, als die Unterwerfung Serbiens von 1909 ihr gegeben habe. Wenigstens könne man sich „schwer vorstellen, wodurch ein Staat gegen eine Politik, die aus Gesinnungen entspringt, geschützt werden
kann". Dieser Satz enthielt den fmchtbaren Kem zu einer
ganz objektiven Auffassung des Problems. Der Schreiber, der nichts weniger als blind österreichisch gesinnt war und
dringend die Vermeidung eines gewaltsamen Konfliktes
wünschte, erkannte doch dabei, wie notwendig, aber auch wie schwierig, ja eigentlich unmöglich es war, mit gewöhn lichen Mitteln Österreich vor der großserbischen Propaganda zu schützen. Der großserbische Gedanke war so tief eingedmngen in alle Poren des serbischen Staates, daß eine
friedliche Genugtuung, wie sie ein souveräner Staat dem anderen in solchen Fällen zumuten oder bieten kann, nicht mehr ausreichte, um Österreich in Zukunft sicherzustellen gegen die Unterwühlung seiner südflawischen Lande. Die Frankfurter Zeitung hoffte damals zwar, am 20. Juli, im Widersprüche zu ihrer tief skeptischen und pessimisti
schen Erkenntnis, daß Serbien, um das Verbrechen seiner Untertanen zu sühnen, freiwillig tun werde, was es aus
Pflicht schon tun müßte.
Diese Hoffnung schlug fehl,
mußte fehlschlagen, weil der serbische Staat auf der ab-
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Politische Kultur uud öffentliche Meinung.
schlissigen Bahn, die er beschritten, nicht mehr einzuhalten
vermochte. Es war bereits seit Jahren ein moralischer Kriegszustand zwischen Serbien und Österreich, — nur das Schwert konnte ihn entscheiden. Das war die dira necessitas, die Österreichs Handlungsweise bestimmte. Seine Note war nichts anderes als eine verhüllte Kriegserklärung, die den offenen Krieg zur raschen Folge haben mußte.
Serbien hätte nur in dem einen Falle nachgeben und unter das von Österreich aufgerichtete Joch gehen können, wenn ihm Rußland seine Unterstützung entzogen hätte.
Aber um den Zusammenhang in seinen letzten Wurzeln
zu ergreifen, muß man gleich hinzufügen, daß es seine
ganze großserbische Wühlarbeit nur begonnen hatte, weil es von vornherein der russischen Billigung sicher war.
So war Rußland von Anfang bis zu Ende mitverantwortlich für diesen Konflikt. Die scheinbar aggressive Waffe der österreichischen Note war nur die Waffe einer unabweislichen Notwehr. Hätte sich Osterreich-Ungarn mit stumpfer Waffe und milderer Genugtuung begnügt, so würde der Weltkrieg im August 1914 nicht ausgebrochen sein. Aber Serbien und Rußland würden dann die Diagnose gestellt
haben, daß die Donaumonarchie sich zu schwach fühle, um eine unerhörte Herausforderung, einen Stoß in das Herz seines Staatsgedankens abzuwehren. Ihre Angriffslust
wäre gewaltig gestiegen. Mit gesteigerter Zuversicht hätten sie dann den Moment wählen können, um über OsterreichUngarn herzufallen. Diesen
Zusammenhang in
seiner
ganzen
Schärfe
und Unerbittlichkeit zu erkennen, ist uns in Deutschland
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
23
nicht ganz leicht geworden, weil wir alle seine kriegerischen Konsequenzen nicht wünschten. Aber im großen und ganzen
hat die öffentliche Meinung in Deutschland doch gleich die Schuld Serbiens und das Notwehrrecht Österreichs
anerkannt. Nur die Sozialdemokratie auf der einen, und einige alldeutsche Organe auf der anderen Seite hatten an fangs das Mißtrauen, daß Österreich ehrgeizige Sonder
zwecke verfolge, für die wir uns nicht mißbrauchen lassen
sollten.
Diese Stimmen sind seitdem verstummt.
Die
große Dominante unseres Existenzkampfes hat sie über
tönt. Mer wir dürfen uns nach strenger und immer wieder holter Prüfung sagen, daß diese Dominante im vorliegenden
Falle nicht zur Fehlerquelle wurde, daß unsere Auffassung von der tragischen Unvermeidlichkeit des österreichisch serbischen Konfliktes und von der Mitverantwortung Ruß
lands auf ruhiger und sachlicher Würdigung der hüben
und drüben wirkenden Staatskräfte und Staatsinteressen beruht. Auch ein Serbe oder Russe könnte ihren kausalen Inhalt akzeptieren und ihm nur ein anderes WerturteU
geben. Aus der „unterirdischen Wühlarbeit" könnte er eine „heilige nationale Mission" oder etwas Ähnliches machen.
Aber leugnen dürfte er nicht, daß Österreich
seinen staatlichen Besitzstand gegen sie zu verteidigen alle Veranlassung hatte.
Es ist nun höchst interessant, daß auch in England diese Zwangslage und Selbsterhaltungspflicht Österreichs anfangs von einem Teile der öffentlichen Meinung ziemlich
weitgehend gewürdigt worden ist. Man konnte es tun, weil man sich noch nicht blindlings auf den Gegensatz gegen
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
24
Deutschland eingestellt hatte, weil das Auge noch leidlich frei war, um auch das Wesen der russischen Politik zu erkennen.
Man hat allen Anlaß, an diese freieren und
unbefangeneren Auffassungen nachdrücklich zu erinnern und festzustellen, daß es einst ein besser informiertes England
gab, mit dem wir uns über die unmittelbaren Ursachen
dieses Weltkrieges und über die Mittel, den österreichisch serbischen Konflikt zu lokalisieren, recht wohl hätten ver
ständigen können. Dieses Einst ist nun durch einen Wgrund
von Leidenschaft und Verblendung von heute geschieden. Die große Dominante des englisch-deutschen Weltkampfes hat es verschlungen.
Aber die Geschichte wird es nicht
vergessen, und der fable convenue, die unsere Gegner über
den Ursprung des Weltkrieges verbreiten, die Stimmen entgegenhalten, in denen die Wahrheit noch nicht verge waltigt worden ist durch den Nutzen, den die Leidenschaft
begehrt. Wir lassen sie nunmehr folgen, zumeist nach den Wieder
gaben der Frankfurter Zeitung und, soweit erreichbar,
auch aus englischen und ftanzösischen Zeitungsnummern.
Die Frankfurter Zeitung brachte im 2. Morgenblatt
vom 25. Juli folgende englische Preßstimmen: Aus Lon don, 24. Juli. Westminster Gazette:
„Wenn die in der öster
reichischen Note enthaltenen Anschuldigungen substantiiert
werden können, glauben wir nicht, daß die russische Regie
rung einen sehr erheblichen Einspruch erheben dürfte, daß Serbien genötigt sein wird, Osterreich-Ungarn eine Genugtuung zu geben."
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
Pall Mall Gazette:
25
„Die österreichisch-ungarische
Note an Serbien zeichnet sich durch die Verbindung von
Festigkeit und Zurückhaltung aus.
Es ist unleugbar, daß
Belgrad die Pflanzschule der Verschwörung gegen die
Ruhe des Nachbarstaates ist. Es ist die Pflicht der serbischen
Regierung, sich nicht nur selbst von solchen Machenschaften femzuhalten, sondern ihnen auch den Schutz ihrer Juris diktion zu beiweigern. Österreich ist berechtigt, die strikte Erfüllung dieser Verpflichtungen zu fordem, und wir
erwarten, daß die Antwort auf seine Aufforderung auf feiten der Regierenden Serbiens die ehrliche Bereitschaft zeigen wird, das Land von dieser Anklage zu reinigen."
Aus dem Abendblatt der Frankfurter Zeitung 25. Juli: London 25. Juli. Daily Chronicle sagt:
„Die österreichische Note ist
tragisch, aber kaum tragischer, als die begründete Selbst
verteidigung der Doppelmonarchie erfordert. Die serbischen Agitatoren und Komitatschis haben mit Zustimmung der gesamten regierenden Klasse in Bosnien etwa dieselbe Kampagne gegen Osterreich-Ungarn geführt, die alle Balkan
völker bis 1912 in Mazedonien gegen die Türkei führten. Wer die Türkei war notorisch ein .kranker Mann', und von der Großmacht Osterreich-Ungarn muß man Mderstand gegen ein solches Verfahren erwarten. Österreich könne etwas Derartiges von einem Nachbarstaate nicht dulden, ohne seine Würde und seine Existenz zu gefährden. Seine Forderungen seien außerdem von der Versicherung
begleitet, daß es auf keinen Fall die Integrität des serbischen Territoriums beeinträchtigen wolle.
Wenn die politische
26
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
Existenz Serbiens auf dem Spiele stände, so würde Ruß land sicher in den Krieg gehen, aber das Blatt glau6t,
daß Rußland diese Frage nicht in diesem Lichte sehen würde. Serbien habe eine schlechte Sache, und Rußland noch viel weniger als die anderen Mächte der Tripleentente
könnte seinen Standpunkt vertreten.
Rußland täte am
besten, Serbien zum Nachgeben zu raten, während es über die österreichischen Berpflichtungen wacht, das Land nicht zu annektieren. Wenn die Mächte der Tripleentente
darüber hinaus eingriffen, so müßten sie die Fehler von
1909 vermeiden, wodurch sie Serbien die Hoffnung erweckten, mehr zu erreichen, als es erreichen konnte, und wodurch
der Krieg unnötig hinausgezogen wurde." Die.Daily News sagt: „Österreichs Forderungen enthalten nichts, was wirklich unerträglich wäre.
Seine
Entrüstung sei natürlich und nicht ungerecht, und Serbien täte am besten, sich prompt zu unterwerfen. Verhandlungen könnten später erfolgen." ^Der Daily Telegraph sagt:
„Keine der Groß
mächte, auch nicht Rußland, wollen in diesem Augenblicke
Krieg, und daher wünscht keine ein Opfer für einen brand stifterischen Staat zu bringen, der nicht nur unentschuld baren Verbrechen Vorschub geleistet habe, sondern auch
eine beständige Bedrohung für den territorialen Status quo im Oriente sei."
Die
Frankfurter Zeitung im 1. Morgenblatt
vom
27. Juli: Privattelegr. London 26. Juli: ^Der konservative Journalist Garvin schreibt im Obser-
ver:
„Wir erkennen an, daß Rußland die Zerstörung
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
27
Serbiens nicht dulden kann, aber es soll auch keiner einen Finger aufheben, um Serbien in seiner Hartnäckigkeit
zu ermutigen oder ihm das volle Maß sofortiger Bestra fung zu ersparen. Der serbische Größenwahn ist seit den Balkankriegen bis zum gefährlichsten Grade erhitzt worden.
Die Okkupiemng der bulgarischen Teile Mazedoniens und die Verfolgung der bulgarischen Kirchen und Schulen machen den Anspruch auf Bosnien lächerlich. Belgrad
war ein Treibhaus von Träumen und Komplotten, die unmittelbar gegen die Existenz der Habsburger Mon archie gerichtet waren. Die direkte Folge dieser moralischen Atmosphäre war der Doppelmord in Sarajewo ..."
Der Observer sagt weiter: „Die Wicht Englands, was immer sie letzten Endes sein möge, heißt zunächst Vermitteln, Vermitteln, Vermitteln. Wir müssen Ruß land helfen, Garantien gegen die Bemichtung des unab hängigen Serbiens zu finden, ohne die Rettung dieses
schuldigen Staates vor ausreichender und denkwürdiger
Bestrafung anzustreben." Le Journal 28. Juli bringt aus dem Standard folgende Äußerung: „Ce n'est pas notre affaire de sauver
la Serbie des consßquences dues L ses intrigues et L son ambition. Elle a provoque l'Autriche au delä de tonte endurance par l’agitation aggressive qu'elle a entretenue parmi les sujets de sa voisine et eile doit payer pour la saute qu'elle a commise. Si l'Angleterre dans la Triple-Entente, et l’Allemagne,
dans la Triple-AUiance, peuvent travailler d’aceord en vue de la paix, leur influence devrait ßtre süffisante pour
28
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
restreindre les membres de Pun ou l’autre groupe, dont le caractere pourrait 6tre meins conciliant.“ In der Frankfurter Zeitung, 1. Morgenblatt vom 9. August, veröffentlicht ein Leser den Brief eines konserva tiven Engländers an ihn aus London, 30. Juli: „Ich bin froh bei dem Gedanken, daß weder England noch Deutsch land den Krieg wünschen, und ich fühle, daß unsere bei den Länder sich bis zum äußersten bemüht haben, einen Konflikt zu verhindern. Sicherlich wird die Nachwelt die größte Schuld Rußland zuschreiben, und viele Leute hier — mit welchen ich übereinstimme — sind sehr, sehr traurig, daß unsere Bündnispflichten uns zwingen könnten, an der Seite jenes Landes zu kämpfen." In der Times vom 1. August ist ein Schreiben Norman Angells an die Times vom 31. Juli abgedmckt: „The Object and effect of our entering inte this war would be to ensure the victory of Russia and her Slavonic allies. Will a dominant Slavonic federation of say, 200000000 autocratically governed people, with a rudimentary civilization but heavily equipped for military aggression, be a less dangerous factor in Europe than a dominant Germany of 65000000 highly civilized and mainly given to the arts of trade and commerce ?“ ... (Norman Angell glaubt, daß seine Überzeugung die der überwältigenden Mehrheit des englischen Volks sei.) Le Petit Parisien 2. August. (Aus London 1. August): „Pour le Daily Chronicle l’Angleterre n'est pas engagSe ä appuyer la double Alliance en cas de guerre. Ce journal se refuse ä croire que la diplomatie anglaise
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
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reuille aider la Russie ä etablir sa Suprematie militaire
en Europe.“ Le Daily News 6crit: „Ceux qui parlent de notre
honneur et d'un equilibre sacre nous invitent ä commettre une tolle. Le Journal insiste pour que le gouverne-
ment anglais proclame immSdiatement sa neutralite.“
Im Abendblatt vom 8. August brachte sodann die Frankfurter Zeitung folgende Zusammenstellung englischer
Preßstimmen aus den Tagen unmittelbar vor dem Kriegs-
ausbmch und bemerkte dazu mit Recht: „Man wird diese englischen Äußerungen, die noch in der nüchternen Stimmung geschrieben sind, die inzwischen
Wohl vom Kriegstaumel überholt sein wird, als Dokumente zur spätem unparteiischen Wertung der Ereignisse und Menschen zur Kenntnis nehmen." (Wir geben hier nur
die für unser Thema bezeichnendsten wieder.) Die konservative Pall Mall Gazette erklärt zu
nächst, England könne Frankreich nicht im Stiche lassen, obwohl es durch keinen Vertrag gebunden sei; die Welt müsse wissen, daß ein Wort Englands so viel wert sei wie
ein geschriebenes Bündnis: „Aber wir wenden uns ebenso nachdrücklich gegen jede Neigung zu Überhebung oder. Böswilligkeit
gegen die Mächte, gegen die wir unglücklicherweise uns selber werden stellen müssen. Wir haben immer und immer wieder die grundsätzliche Berechtigung der österreichi
schen Beschwerden gegen Serbien anerkannt. Wenn Österreich dadurch in die häßliche Slellung eines scheinbaren Friedensstörers hineingedrängt wird, wenn sein gerechter
30
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
Anspruch auf Sicherheit es mit den tiefen und alten Ge fühlen des russischen Volkes in Widerspruch gesetzt hat, so
steht es nicht uns zu, darüber zu richten. Gern erfahren wir, daß die Sympathie, die wir und andere Österreich entgegenbrachten, das Herz der Bevölkerung Wiens er
griffen hat. Es bleibt Deutschland.. Es hat in den letzten Jahren
Zeiten gegeben, in denen die beiden Nationen einander mit Mißgunst und Mißtrauen beobachteten. Eine grausame
Fügung des Schicksals scheint sie einander in dem Augen
blicke gegenüberzustellen, da der böse Wille nachgelassen zu haben schien. Aber auch hier können wir nur die höchste Achtung empfinden, weil Deutschland seinem Wort und Vertrage treu bleibt. Wir glauben, daß Kaiser Wilhelm
und seine Ratgeber inständig für den Frieden gearbeitet haben.
Wenn, wie es nur allzu wahrscheinlich ist, ihre
Bemühungen von Kräften, die sich menschlicher Leitung entziehen, lahmgelegt wurden, weshalb sollten wir gegen sie ein Wort der Verbitterung äußem? Mr tun das nicht.
Wenn wir schweren Herzens, aber starken und entschlossenen Simls das Schwert ziehen müssen, werden wir kämpfen
wie Gentlemen, die einen ritterlichen Gegner achten und
ehren und von ihm ebenso geehrt und geachtet werden. Wenn es zum Kriege kommt, so wird es, soweit das britische
Volk in Frage kommt, ein Krieg ohne Haß sein, ein Krieg, der auf den Ruf der Pflicht ausgefochten wird, um die Ehre und Sicherheit der Nation."
Daily Graphic schreibt: „Mr gestehen, daß wir Rußlands Vorgehen angesichts der Wiederaufnahme
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
31
von Verhandlungen mit Österreich nicht verstehen können. Diese Verhandlungen sind kaum ausgenommen worden,
ohne daß beide Seiten noch eine Aussicht auf Verständi
gung erblickten; wenn das aber der Fall ist, wozu die Mobilmachung, die weit über die Grenzen der notwen digen Vorsichtsmaßnahme hinausgeht und tatsächlich darauf berechnet ist, die Bemühungen der Diplomaten, und wären
sie noch so aussichtsreich, zuschanden zu machen?"
Aus den ersten Augusttagen muß ein englisches Flug blatt stammen, das dem Berliner Tageblatt vom 9. August
zufolge in Tausenden von Exemplaren in den Straßen Londons verbreitet wurde: „Engländer, tut eure Pflicht und haltet euer Land
fern
Krieg.
von
einem
schmählichen
und
unsinnigen
Eine Heine, aber mächtige Clique will euch in
diesen Krieg treiben. Ihr müßt diese Verschwörung ver
nichten, oder es wird zu spät sein.
Fragt euch selbst:
warum sollen wir in den Krieg ziehen?
Die Cliquen
partei sagt: wir müssen das Gleichgewicht der Kräfte auf rechterhalten; wenn Deutschland Holland oder Belgien an» nettiert, wird es so mächtig sein, daß es auch uns bedroht.
Aber diese Cliquenpartei sagt euch nicht die Wahr heit.
Es ist vielmehr Tatsache, daß, wenn wir an der
Seite Frankreichs und Rußlands kämpfen, das Gleich gewicht der Mächte gestört werden würde tote nie
zuvor.
Wir würden Rußland zu der gewaltigsten
militärischen Macht auf dem Kontinent machen, und ihr wißt, was für eine Macht Rußland ist. Es ist eure Pflicht, das Land vor dem Verderben zu retten.
32
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
Handelt, bevor es zu spät ist." Der Aufruf ist im Namen der Neutrality League erlassen und von einer Reihe
bekannter Engländer und Engländerinnen unterzeichnet. Die Engländer werden, wenn man ihnen diese Stim men heute vorhält, erwidern, daß wir selbst sie zum Schwei
gen gebracht hätten durch die Schuld, die wir durch die Verletzung der belgischen Neutralität auf uns geladen
haben. Wir antworten darauf mit der Aufsordemng, Nr. 123 des englischen Blaubuches recht genau lesen zu wollen.
Als
Lichnowsky am 1. August fragte, ob England sich zur Neu
tralität verpflichten wolle, wenn Deutschland verspräche, die belgische Neutralität nicht zu verletzen, antwortete Grey mit einem Nein und verweigerte überhaupt, Bedin
gungen anzugeben, unter denen England neutral bleiben würde. Grey war an diesem Tage schon zum Kriege fest
entschlossen, und wir wissen, daß er von vornherein durch seine Haltung Rußland und Frankreich ermutigt hat, es zum Äußersten zu treiben. Hätte Grey auf die Stimmen der
jenigen seiner Landsleute gehört, die wir wiedergeben, so
würde der Weltkrieg nicht ausgebrochen sein. Er hörte lieber auf die Stimmen derjenigen, die nach der Gelegenheit lechzten, im Bunde mit Rußland und Frankreich Deutsch
land niederzuwerfen. Es ist überflüssig, auch sie hier wieder zugeben, denn sie führen noch heute das Wort. Aber auf
ein Zeugnis aus den Reihen der Kriegspartei muß man die Aufmerksamkeit lenken, weil es noch vor der Veröffent
lichung der österreichischen Note geschrieben ist und sich also nicht darauf berufen könnte, daß sich Österreich durch die Härte dieser Note ins Unrecht gesetzt habe. Das Abend«
33
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
blatt der Frankfurter Zeitung vom 23. Juli brachte einen Auszug aus einem Artikel der Times folgenden Inhalts:
die Hauptverantwortung für die Unruhe der österreichisch
serbischen Preßkampagne sei bei Wien. Der Besuch Poin-
cares in Petersburg könne da als „Mahnung" und als Antwort auf den Gedanken betrachtet werden, daß der Konflikt zwischen Österreich und Serbien lokalisiert werden
könne.
Heute sei Rußlands militärische Stellung ganz
anders als 1909. Mit anderen Worten: Österreich hüte sich, Serbien
zur strengen Rechenschaft zu ziehen, denn hinter Serbien steht der Dreiverband und wird das Schwert für Ser
bien ziehen. Das war der Standpunkt einer grundsätzlichen Feindschaft gegen Österreich und Deutschland, der dann triumphiert hat.
Wir schließen unsere Zusammenstellung mit dem Wiederabdruck der Erklärung englischer Gelehrter, die in der Times vom 1. August 1914 erschien und die wir damals
in
Deutschland
inmitten
der
sich
zusammenballenden
Sturmwolken als einen Hoffnungsstrahl begrüßten. Daß die Unterzeichner sich damals für den Fall, daß ihr Protest
von der Regierung überhört würde, zum Schweigen ver pflichteten, verstehen wir. Aber daß sie und die ihnen Gleichgesinnten auch zu der Verwüstung aller Kulturbe
ziehungen zwischen England und uns, deren sich ihre Lands leute schuldig gemacht haben, schweigen, das können wir
nicht mehr als eine Pflicht ihres Patriotismus gelten lassen. Oder sind uns ihre Äußerungen nur nicht zu Ohren gekommen? Wir wünschten, daß dem so sei. Meinecke, Probleme des Weltkriegs.
3
34
Politische Kultur und öffentliche Meinung.
We regard Germany as a nation leading the way in the Arts and Sciences, and we have all leamt and are learning from German scholars. War upon her in the interest of Servia and Russia will be a sin against civilization. If by reason of honourable obligations we be unhappily involved in war, patriotism might still our mouths, but at this juncture we consider ourselves justified in protesting against being drawn into the struggle with a nation so near akin to our own, and with whom we have so much in common. The signitaries are: — C. G. Browne, Professor of Arabic, Cambridge; F. C. Burkitt, Norrisian Professor of Divinity, Cambridge; J. Estlin Carpenter, Principal, Manchester College, Oxford; F. J. Foakes-Jackson, Fellow of Jesus College, Cambridge; H. Latimer Jackson, Rector of Little Canfield, Essex; Kirsopp Lake, Professor, Leden and Harvard; W. M. Ramsay, Professor Emeritus, Aberdeen University; W. P. Scibie, Principal, Mansfield College, Oxford; J. J. Thomson, Cavendish Professor of Experimental Physics, Cambridge.
Probleme des Weltkriegs. (Neue Rundschau, Juni 1916).
eiche Stellung und welche Bedeutung wird man einst der heutigen Weltkrisis inmitten der Flammen reihe der großen weltgeschichtlichen Revolutionen zumessen? Unsere eigenen Gedanken flattern, wie aufgescheuchte Bögel im Sturme, suchend hin und her. Nur das eine wissen wir sicher, daß noch niemals eine solche FWe und Masse gewaltiger, die ganze Welt umfassender Existenz-
ftagen der Völker und Kulturen gleichzeitig über Nacht zum Austrag gekommen ist und daß sie noch niemals mit so allgemeinem und Hellem, ja überreizt Hellem Bewußtsein
der Zeitgenossen ausgetragen worden sind. Die ftüheren großen Weltkrisen begannen gewöhnlich in örtlicher Be schränkung, erfaßten erst nach und nach die weitere Welt bühne, erfaßten zunächst auch nur gewisse Teile und Schichten der Gesellschaften und wurden erst nach und nach von dem
aufdämmernden Bewußtsein der Zeitgenossen verstanden. Wie lange Zeit hat die Tat Luthers bedurft, um die Welt zu durchwirken und umzugestalten. Die großen Koalitionskriege des ancien regime, die in so vieler Hinsicht an den
3*
36
Probleme des Weltkriegs.
heutigen Weltkrieg erinnern, waren Kriege der Regierun gen, aber nicht der Völker. Lange noch nach dem Ausbruch des Erdbebens von 1789 und selbst noch lange nachdem Goethe am Tage von Valmy den Ausbruch einer neuen Zeit geahnt hatte, lebten er und die Seinen in den Formen,
Gewohnheiten und Idealen der alten Zeit ruhig fort. Der Kamps Napoleons mit England um die Weltherrschaft,
in lang hingezogenen, erst allmählich sich steigernden und konzentrierenden Akten sich entladend, hat die alte sichere
Kulturgemeinschaft der west- und mitteleuropäischen Völker niemals und nirgends gefährdet, wie sie denn auch vorher
selbst durch die Krisen der Glaubensspaltung niemals gefährdet worden ist. Am ersten erinnert, was Plötzlich keit, Mgemeinheit und Bewußtheit der Krisis betrifft,
die heutige Weltlage an die große Erschütterung des Jahres
1848. Auch damals schien Mittel- und Westeuropa jählings in den Schmelztiegel geworfen zu werden, und das Gefühl
des Neuwerdens aller Dinge zuckte durch alle Köpfe. Aber die wirklichen Entscheidungen reiften nicht damals, sondern erst in dem Zeitraume zwischen 1859 und 1871 heran,
wiederum nach und nach sich entladend, wiederum nur jeweils auf einen Teil des Kontinents lokalisiert.
Es ist etwas wesenhaft Neues, was wir in der Ge neralkrisis der Gegenwart erleben. Die alten Revolutionen
hatten immer noch etwas von dem ruhigen Rhythmus
der Evolution, und der Demiurg, der sie hervorrief, über
hastete sich nicht. Wie die, die sie erlebten, doch ab und an noch Atem schöpfen konnten, so kann es auch die historische Betrachtung,
kann begreifen und
organisch
entwickeln,
37
Probleme des Weltkriegs.
wie ein Erdstoß dem andem folgte, kann dem ganzen Her gänge jene, man möchte sagen, ästhetische Form und Ab-
rundung verleihen, die wir nun einmal aus tiefem Be dürfnis des erkennenden Geistes den geschichtlichen Phä nomenen zu geben uns gedrungen fühlen. Ist nicht eben
das auch ein innerer Vorzug der älteren Weltkrisen, daß sie die Kontinuität der Verhältnisse nur hier und da und
mit dazwischen vergönnten Erholungspausen erschütterten? Denn alle menschliche Kultur behält, obwohl sie über die bloße Natur sich erheben soll, im untersten Grunde etwas Pflanzenhaftes und bedarf der Kontinuität und der inneren Übergänge, bedarf auch des schonenden Halbdunkels und
der Verhüllung des leise keimenden Neuen, bedarf der un
antastbaren Bindeglieder inmitten aller feindlichen Gegen
sätze.
So jähe Risse und Einschnitte, wie wir sie heute
allein schon in dem Kulturkämpfe fast der gesamten Welt
gegen uns, in dem Versuche, uns auszustoßen aus dem Kreise der existenzberechtigten Weltvölker, erleben, können
das
Vertrauen
auf
die
gedeihliche
Weiterentwicklung
der Menschheit einigermaßen ins Wanken bringen.
Mr
verlieren es trotzdem nicht, weil wir uns darauf verlassen,
daß die mächtigen Gemeinsamkeiten,
die in anderthalb
Jahrtausenden germanisch-romanischer Geschichte in der
Tiefe sich abgelagert haben, unzerstörbar sind. Aber wir haben ernsthafte Pessimisten unter uns, die der modemen
Welt ein ähnliches Schicksal Voraussagen wie der unter
gehenden alten Welt. Sie sehen gleichsam mit weit auf gerissenen Augen in das grelle Licht, das durch die gesteigerte Publizität der Dinge und durch die gesteigerte Nervosität
38
Probleme des Weltkriegs.
der Menschen entzündet ist. Aus überreizten Hirnen aber
gehen nicht nur überreizte Auffassungen, sondem auch überreizte Entschlüsse hervor. Weil das, was wir tatsäch lich erleben, schon alle Phantasie übersteigt, so glaubt sich
die Phantasie nur zu leicht aller Schranken enthoben und
schwingt sich zum Jkarusfluge auf. Wir blicken mit ernster Sorge in die Entwicklung der Gedanken und Forderungen unserer gebildeten Schichten. Nüchterne und rechnende Geschäftsmänner und nüchterne kritische Gelehrte sehen
wir, wenn sie über Mittel, Möglichkeiten und Ziele unserer
Kriegführung perorieren, nicht selten heute von einem phantastischen Rausche erfaßt, und ein großer Teil unserer Presse, darunter gerade solche Organe, die sich der beson
deren Gunst des national gesinnten gebildeten Publikums erfreuen, macht sich, getrieben und treibend, der gleichen Überhitzung schuldig.
Kritik und Selbstbeherrschung tun uns not. Die über
mächtigen, kaum übersehbaren Probleme dieses Krieges fordem vom Handelnden wie vom Betrachtenden ein ganz bewußtes Einsetzen aller kontrollierenden und zügeln den Kräfte des Geistes. Massen von neuen Gedanken und
Anschauungen sind durch den Krieg in Umlauf gebracht, neue Horizonte, die vor zwei Jahren noch nicht einmal die konstmierende Theorie kannte, sind vor uns aufgetaucht. Es ist nicht schwer, blendende Bilder der neuen Dinge zu geben und den Anschein einer besonderen individuellen
Geistesleistung dabei zu erwecken, wo es sich doch nur um ein ungewöhnlich rasch entstandenes kollektives Gedanken
gut handelt. Da gerade auch solche Gebiete, wo eine ganz
Probleme des Weltkriegs.
39
selbständige kritische Tätigkeit sehr am Platze wäre, von
der Zensur gesperrt werden mußten, so ergießt sich die auf geregte Schriftstellerei um so breiter auf die freigelassenen
Gefilde der Spekulation und Kombinaüon von Zukunsts
möglichkeiten. Mr sind dankbar dem sichtenden, säubemden und ordnenden Geiste, der diese verschiedenen, durchein
anderlaufenden und drängenden Gedankenreihen in einen festen und großen, kritisch durchdachten Zusammenhang zu bringen versucht. Mr sind ihm doppelt dankbar, wenn
er es von der ruhigeren Warte des neutralen Ausländers mit tiefem Verständnis für unsere Lage und warmer Sym pathie für unsere Art, aber von dem Wunsche nach reiner
Erkenntnis geleitet tut. Amica mihi Germania sed magis amica veritas ist das Motto, mit dem der schwedische
Professor Rudolf Kjellen seine Betrachtungen über „die politischen Probleme des Weltkrieges" einleitet (B. G.
Teubner, Leipzig). Sein prachtvolles Buch über die Groß mächte der Gegenwart, das am Vorabend des Weltkrieges erschien, ist noch in frischer Erinnerung als unwillkürlicher historischer Prolog der über uns hereinbrechenden Ereignisse.
Seine kleine Schrift über die Ideen von 1914, aphoristischer,
um nicht zu sagen dithyrambischer gehalten, war doch so ungemein bezeichnend für das Suchen und Tasten unserer besten Geister nach einem ideengeschichtlichen Verständnis
unserer Lage. Sein jetziges Buch kehrt wieder zu der kon kreteren und strafferen Art der „Großmächte" zurück und
erfüllt alle Erwartungen, die diese geweckt hatten. Kjellen gehört zu den Künstlematuren der Mssenschaft, er ist ein Meister der kraftvollen, anschaulichen Zusammenfassung, der
40
Probleme des Weltkriegs.
inneren Beseelung der Stoffmassen. Schon die Art der Dar stellung verrät unmittelbarer, als es meist der Fall ist, die besondere Art und Methode seines Denkens.
Jede Tatsache
und jede Zahl wird ihm sofort zum Ausdruck lebendig wir kender und weithin ausstrahlender Kräfte, und indem er den Leser von einem Anblick zum andern führt und ihn
gern auf überraschende Aussichtspunkte vorantreten läßt und ihm immer wieder ihren Zusammenhang mit den früher eröffneten Durchblicken klarlegt, spürt man ihm
an, mit welcher gehobenen Freude er selber diesen Weg zuerst geeilt ist, und versteht, daß sein geistiges Auge ganz
und gar auf weites perspektivisches Sehen eingerichtet
ist. Damit hängt seine besondere Auffassung von der Auf gabe der Staatswissenschaften zusammen. Er bricht bewußt
mit der abstrakten Systematik, die den Staat im Grunde,
wie es einst das Naturrecht und die Aufklärungsphilosophie tat, aus allgemeingültigen Prinzipien ableiten möchte und ihre besonderen Modifikationen, die sie nun einmal in
jedem einzelnen Staate antrifft und anerkennen muß, des halb nur deskriptiv darzustellen und wohl leidlich geschichtlich
zu erläutern, aber nicht in voller individueller Lebendigkeit anzuschauen vermag.
„Nach meinem Verfahren", sagte
er, „werden die Staaten nicht als wandelnde Verfassungs
schemata oder Rechtssubjekte angesehen, sondern als große
Leben, als überindividuelle Persönlichkeiten, die im Guten und Schlechten von Lebenstrieben erfüllt sind . .. jeder
an seine Daseinsbedingungen gebunden, wie sie aus der Entwicklung und der äußeren Umgebung erwachsen sind." Wir Historiker aus der Rankeschen Schule begrüßen freudig
41
Probleme des Weltkriegs.
den Siegeszug dieser uns längst vertrauten Auffassungs weise auf dem Gebiete der Staatswissenschaften und er kennen neidlos an, daß Kjellen sie kräftiger und durchgrei
fender übt wie viele von uns.
Ob wir nicht doch noch
nach einer gewissen Richtung darin weiter zu gehen gewöhnt sind als er, davon wird später zu reden sein. Dafür hat er
wieder von der Schule der Systematik her einen Vorzug,
den
die
erwirbt.
genetisch-historische
Betrachtung
nur
mühsam
Er kann das individuelle Gefüge eines Staats
problems nach großen Kategorien zerlegen, mit analogen Teilen anderer Staatsprobleme vergleichend zusammen legen und so den Anschein und die Durchsichtigkeit einer rein systematischen Behandlung erreichen, ohne doch die ineinandergewachsene Totalität des einzelnen Staats
problems zu zerreißen. Man hat die Teile und das Ganze
immer zugleich vor Augen, und das Vergleichen führt nicht zum eintönigen Schema, sondern zur reicheren An schauung des Individuellen. Bier große Gruppen von Problemen des Weltkrieges bildet er: Geopoliüsche, ethnopolittsche, soziopolitische,
verfassungs- und kulturpolitische. Die unmittelbaren Streit objekte des Krieges liegen in den beiden ersten Gruppen; sie sind deshalb am gründlichsten behandelt. Die geopoliüsche Betrachtung stellt drei elementare Forderungen an die wirkliche Großmacht: entsprechende
Ausdehnung, volle Bewegungsfreiheit, inneren Zusammen halt. Rußland,fehlt es am zweiten, England am dritten, Deutschland im Grunde an allen dreien. Um sich Bewe
gungsfreiheit zu schaffen, strebt Rußland zum steten Meere,
42
Probleme des Weltkriegs.
und obgleich das Mittelmeer für Rußland, wie Kjellen richtig sagt, nur ein Sack ist, den England zuschnüren kann, hat es sich doch aus nicht verächtlichen Gründen versteift
auf diesen Weg, der sich verzweigen und entweder über den Bosporus oder über Armenien nach Alexandrette gehen kann. England strebt, um besseren inneren Zusammenhalt zu gewinnen, nach einer breiten Brücke zwischen AfrikaÄgypten und Indien.
Deutschland mit seiner unglücklichen Mangelhaftigkeit hat viel zerteiltere Interessen: freien Ausweg aus den:
Kanal,
Sicherung
seiner
Kolonien,
Zusammenlegung
seines afrikanischen Besitzes zu einem haltbaren Block, Ausdehnung nach dem nahen Orient, die zur engsten Interessengemeinschaft mit Osterreich-Ungarn zwingt. Als ideales, selbst von Deutschen noch kaum geträumtes Ziel müsse ihm dann eine Zusammenlegung seines^afrikanischen Blockes mit seiner levantischen Interessensphäre vorschwe ben; also müsse Ägypten einmal erobert werden. Erst dadurch würde das Problem gelöst, würden die grundlegen
den Fehler in Deutschlands Reichsgestalt verbessert.
Aber
wie drei Flüsse von verschiedenen Bergen, strömen nun auf dem Gebiete der Türkei drei starke Willen zusam
men, um hier ihre Entwicklungswege zu sichern. Ausgleichs möglichkeiten sind vorhanden zwischen Rußland und Eng
land, zum Teil auch zwischen Deutschland und England,
aber zwei unversöhnliche Punkte bleiben nach Kjellens
Meinung unter allen Umständen übrig: Der Suezkanal zwischen Deutschland und England, die Dardanellen zwischen
Deutschland und Rußland.
Probleme des Weltkriegs.
43
Die verhältnismäßig einfach liegenden geopolitischen
Probleme der drei Hauptkämpfer des Krieges werden durch die reicher verzweigten ethnopolitischen Probleme
teils durchkreuzt, teils verstärkt.
Kjellön bekennt sich zu
der Lehre, daß die Nationalität das Wesen des modemen Staates ausmache, aber er kritisiert an der „Staatsschule", die den Borrang des Staates gegenüber der Nation betone
und zu der er auch mich rechnet, im Grunde doch nur gewisse Übertreibungen, die auch ich nicht teile, und geht den doktrinären Verfechtern des reinen Nationalitätsprinzips,
die sich aus sehr durchsichtigen Gründen im Lager der Gegner heute breit machen, viel kräftiger zu Leibe. Geopolitische Notwendigkeiten, sagt er sehr richtig, wiegen immer die
ethnologischen Notwendigkeiten auf. Das hat schon Rado witz im Paulskirchenparlament einst in die Worte gefaßt,
daß ein großes Volk seine unentbehrlichsten Bedürfnisse, die Bedingungen seiner Existenz nicht auf sein Sprachgebiet beschränken könne.
Unsere Gegner handelten und handeln
selber auf Schritt und Tritt danach.
Um von Englands
mit Sammet bezogener Eisenhand, mit der es sein Bündel fremder Nationalitäten beherrscht, ganz zu schweigen, schlägt Italiens Jrredantaforderung an Österreich sogleich über
zm Forderung deutscher und stawischer Sprachgebiete, und über Rußlands Praxis ist jedes Wort überflüssig. Sehr gut
.zeigt Kjellön, wie auch der panflawistische Rassengedanke letzten Endes dem realen geopolitischen Ziele Rußlands diene, indem ihm ein neuer Weg zum Mttelmeer, zur adriatischen Küste hin dadmch gebahnt werde. Ferner finde ich ihn darin ganz auf dem Boden der von mir vertretenen An-
44
Probleme des Weltkriegs.
schauungen, daß er die wachsende Macht des Staates auf die Ausbildung und auch Umbildung der Nationen aner kennt. Auch das moderne, im Grunde ja recht alte Mittel
der Umsiedlung und die neue Perspektive, die es für die
Verteilung und bessere Abgrenzung der Nationen eröffnet,
entgeht ihm nicht. So wünschenswert eine solche nationale Flurbereinigung allein schon für die Gemengelage in un
seren Ostmarken wäre, um unsere dringend nötige Interessen gemeinschaft mit den westslawischen Nationalitäten zu sichern,
so muß man doch vor jeder überschwenglichen Hoffnung sich hüten.
Der Zusammenhang zwischen Mensch und
Boden ist viel zäher, als unsere Evakuierungspolitiker sich vorstellen.
Ein
deutsch-russischer
Gefangener,
den
ich
als Arbeiter auf dem Hofe seiner in einem posenschen Ansiedlungsdorfe jetzt angesessenen Verwandten traf, sagte
mir, als ich ihn ermunterte, bei uns zu bleiben, recht zö-
gernd: „Das muß ich mir noch überlegen." Selbst die rohe Verjagung aus ihren Sitzen, die die Russen jetzt betreiben, wird diese erdenhaften Instinkte versprengter Volksgenos
sen nicht ganz ertöten. Mt eigenen Gefühlen wird man bei Kjellen den Katalog sämtlicher Jrredenten, die in diesem Kriege eine
Rolle spielen, von der irischen bis zur arabischen hin, nach lesen. Allein schon dadurch, daß man sie nacheinander auf
zählt, parodiert man sie.
Es ist handgreiflich, daß man
hier mit allgemein gültigen Axiomen nicht durchkommt,
daß es den Krieg aller gegen alle entfesseln hieße, wollte man jeder staatlich noch unselbständigen Nationalität das Recht geben und die Möglichkeit wünschen, sich einen eige-
Probleme des Weltkriegs.
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nett, alle Angehörigen umfassenden Nationalstaat zu schaf fen. Ebensowenig aber wird heute auch der extremste An hänger der „Staatsschule" noch geneigt sein, zu den Grund sätzen der Ära Metternich zurückzukehren und die Nationa litäten einzustampfen in den Mörsern der einmal vorhan denen Staatsgebilde. Es ist nicht anders, das geschichtliche
Leben ist nun einmal in hohem Grade irrational, und der
Kampf des Lebendigen gegen das Lebendige führt niemals zu glatten Lösungen. Und doch wird man auch die Hände nicht in den Schoß legen dürfen und den Kampf ums
Dasein und die Auslese der Besten durch ihn nicht als
einzige Weisheit gelten lassen.
Weder das geistige Be
dürfnis noch der politische Takt kann sich mit dieser biolo
gischen Auffassung begnügen, denn das reine Austoben der Kräfte gegeneinander würde zu viel unersetzliche, für den
Staat wie für die Kultur unersetzliche Werte sinnwidrig und zweckwidrig zerstören und nicht einmal die Ruhe des Kirch hofs erzwingen. Es bleibt nichts übrig, als nach einem
Kompromiß zwischen biologischer und historisch-kultureller Auffassung zu suchen und an Ideal und Wirklichkeit, an Staat und Kultur immer zugleich zu denken.
Kjellen
versucht ein solches Kompromiß, dem ich mit einer Ab
änderung beitreten kann. Das apriorische Recht der Na tion, sagt er, reicht bis zur Einheit, aber nicht bis zur Sou
veränität; dazu bedarf es im Namen der Ordnung der Anerkennung der bestehenden Staatsgesellschaft. Diese Anerkennung bedürfe gewisser Voraussetzungen.
Einmal
dürfen Brand- und Ansteckungsherde im Namen der Na tionalität nicht geduldet werden.
Femer müsse sie einen
Probleme des Weltkriegs.
46 gewissen Zuschuß
zur
allgemeinen
Kulturarbeit
sicher
stellen. Und schließlich, da sie ein Willens- und Wärme
element sei, das zwischen Fieber und unter Null auf und nieder steige, müsse auch eine gewisse mittlere Temperatur ihres subjektiven Bewußtseins da sein. Nationen, wie die
ukrainische wenigstens in ihrer Hauptmasse heute noch ist, müßten demnach „am Rande jenes Weges stehen, auf dem die Entwicklung der Welt fortschreitet".
Man wird gegen diese Sätze nicht einwenden dürfen, daß bei ihrer Anwendung auf den Einzelfall das Urteil doch immer wieder schwanken und zittern kann. Das liegt nicht an den Sätzen, sondern an der notwendig immer mangelhaften und unvollständigen Kenntnis des Einzel
falls. Kein Mensch kennt heute das ukrainische Volkstum
so genau, um sicher zu sagen, ob es immer am Rande jenes Weges stehen bleiben wird. Aber ein anderes möchte
ich gegen Kjellen einwendeu.
Ich kann nicht zugeben, daß
das apriorische Recht der Nationen bis zur Einheit reicht, wenn man die Einheit im politischen Sinne meint.
Die
politische Einheit einer Nation ist ebenso wie ihre Sou
veränität nur ein Ideal, ein Zielgedanke ihrer Entwick
lung, der aber erst dann zum Rechte wird, wenn jene
von Kjellen genannte Reihe anderer realer Voraussetzungen von ihr erfüllt wird. ständen,
aus
Das apriorische, unter allen Um
biologischen
wie
aus historisch-kulturellen
Gründen anzuerkennende Recht der Nation geht nach
meiner Meinung nicht weiter als das Recht des Indi viduums gegen den Staat. Und es ist weit genug, um ihr
die Bürgschaft der Existenz zu geben. Es ist das Recht auf
47
Probleme des Weltkriegs.
freie geistige Bewegung und Entfaltung ihrer geistigen
Kraft und Eigenart. Man kämpft gegen die Natur, wenn man es vergewaltigt, und man erstickt zugleich unersetz
liche Keime der Kultur.
Zur inneren geistigen Einheit
bringt es dann die Nation, die ihre Sprache und Literatur
frei entwickeln kann, ganz von selbst; der politischen Ein heit aber bedarf sie dafür nicht unbedingt. Deutsche Schwei zer, Deutsch-Österreicher und Deutsch-Ungam konnten und können auch ohne politische Bereinigung mit dem Deutschen
Reiche lebendige Glieder der einheitlichen deutschen Kulturnation sein; ein ähnliches geistiges Einheitsband er
hoffen und gönnen wir auch den Polen, die unsere Ost marken bewohnen, und den Bürgern des vom russischen
Joche
befreiten
polnischen
Zukunftsstaatswesens.
Wir
dürfen es in Zukunft, um dauerhafte Verhältnisse zu schaf fen, auch denjenigen kleinen Nationen an den Grenzen der Donaumonarchie nicht versagen, deren staatlich ge
einte Teile jetzt im Kampfe gegen sie stehen.
Freilich,
wird man einwenden, die Nationen begnügen sich auf
die Dauer mit der Einheit der Kulturnation nicht; sie streben früher oder später doch zur letzten idealen Erfül lung des Nationalgedankens, zum geschlossenen National staate, und poetisch und literarisch fängt es zwar an bei ihnen, aber politisch endet es. Mr geben zu, daß eine
solche immanente Entwicklungstendenz im modernen Na
tionalleben da ist und daß die Sehnsucht zur ungebro
chenen, Geistiges und Politisches umfassenden Gemein schaft des nottonalen Staates nie ganz zu beschwichtigen
ist und den Menschen nicht ausgeredet werden kann. Aber
48]
Probleme des Weltkriegs.
das Leben erfüllt nun einmal nicht jede uns eingepflanzte Sehnsucht; andere Notwendigkeiten begrenzen und dämpfen
sie, und der gereifte Charakter richtet sich ein mit ihnen und bleibt triebkräftig und gesund auch in der Resignation. Zu dieser Reife des Verzichtes haben es bisher nur die Deut schen außerhalb der Reichsgrenzen gebracht, — auch die
baltischen Deutschen konnten sie so lange üben, als ihnen das nationale Existenzminimum gewährt wurde. Aber ist denn, so müssen wir vom höchsten und vergleichenden
Standpunkte
aus
fragen,
das moderne
Nationalleben
überhaupt schon zum Stadium der männlichen Reife gediehen? Hier und da wohl, aber noch nicht allgemein
und sicher; nach wenig mehr als einem Jahrhundert nationa ler Aspirationen sind wir noch immer auf der Stufe der
Flegeljahre, und der aufgeregte Nationalismus intra et extra muros ist zum großen Teile Pubertätsfieber.
Wie
aus Haß und Mord der Religionskriege schließlich, durch innere geistige Umbildung wie durch Zwang der Verhält
nisse getrieben, die Idee der Toleranz emporblühte, so
könnte aus den Erschütterungen dieses Weltkrieges viel leicht auch ein föderatives und tolerantes Nationalgefühl in Mitteleuropa sich emporringen, das sich männlich bescheidet und die Notwendigkeiten der Lage anerkennt.
Denn zwingend und gebieterisch sind diese Notwendigkeiten.
Der furchtbare konzentrische Druck von Westen und Osten zwingt alle mitteleuropäischen Nationalitäten, sich zusam menzuschließen
zu
großen,
leistungsfähigen
Deichver
bänden und sich dabei gegenseitig die Grundlagen ihrer
nationalen Existenz zu garantieren. Je fester diese Deich-
Probleme des Weltkriegs.
49
verbände und je stärker die sie tragenden Solidaritätsgefühle sein werden, je mehr man aufeinander vertrauen lernt,
um so weiter kann das Maß der politischen Bewegungsfteiheit für
werden.
alle
angeschlossenen Nationalitäten
gesteckt
Reif werden dafür heißt alles, und unser aller
Existenz und Rettung hängt davon ab.
Nur sehen wir
nicht mehr mit der ftohen, unbedingten Hoffnung auf dieses Ziel, wie in den ersten Kriegswochen.
Denn das
innere deutsche Nationalgefühl hat sich noch lange nicht
reif genug dafür erwiesen, und der Riß zwischen Moderados und Exaltados geht, wie wir im Eingang schon andeuteten,
mitten durch die führenden Schichten unseres Volkes hin durch. Wohl geht er zum Glück nicht so tief hinunter, daß er unsere Kampfeskraft und Geschlossenheit nach außen irgend
wie gefährdete. Es ist durchaus etwa kein Gegensatz von größerer und geringerer Energie in der Wahrnehmung unserer nationalen Interessen, der die sogenannten Scharf macher
und
die
sogenannten Flaumacher
voneinander
trennt, — wenn wir, wie billig, von der kleinen und belang
losen Gruppe der sentimentalen Pazifisten hier absehen. Der voluntaristische Zug des modernen Lebens hat vielmehr
allen Nattonen und der unseren voran einen gewaltigen Grundstock zusammenhaltender und kämpfender Energien gegeben, wie er in dieser Ausdehnung und Mächtigkeit
noch nie erlebt worden ist. Noch weniger ist es ein Gegen satz etwa von realpolitischer und von idealistisch-gefühls mäßiger Denkweise, durch den sich die Geister heute bei uns scheiden. Melmehr sind, um es einmal rund Herauszu sagen, die wahren Erben Bismarckscher Realpolitik heute Meinecke, Probleme de» Weltlriea».
4
50
Probleme des Weltkriegs.
die Moderados und nicht die Exaltados. Denn deren Macht
rausch ist eine Sentimentalität, und ihre phantastischen Forderungen würde ein Bismarck mit seinem kühlen Sinne für das Mögliche und Erreichbare erbarmungslos kritisiert und unterdrückt haben. Ihr Herrengefühl, in dem die Quelle aller ihrer Übertreibungen liegt, ist fteilich in der Atmosphäre, die Bismarck in Deutschland geschaffen hat, groß geworden.
Aber das Bismarcksche Herrengefühl war unendlich viel Mger, geschmeidiger und maßhaltender als das ihrige. Möchten sie jetzt das Kjellensche Buch mit Verstand lesen. Dieser Freund unseres Volkes, dessen Vorstellungen
von der Größe und Zukunft Deutschlands nicht übertroffen
werden können, kennt, wie uns scheint, noch nicht die ganze Schärfe der uns heute im Jnnem bewegenden Gegen
sätze, aber er weiß genug von ihnen, um uns nachdrücklich
zu wamen. „Deutschland", sagt er im Schlußkapitel deut lich genug, „muß auch in seiner eigenen Seele Moskau
ganz überwinden." Er sieht in unserer eigentümlichen, auf
den Zusammenschluß mit unseren mitteleuropäischen Nachbam angewiesenen Lage die Garantie dagegen, daß Deutsch
land Welteroberungsansprüche erheben könne, — „eine
Garantie, wie sie kein Vorgänger oder Mitbewerber aufzu weisen vermochte". So dränge uns, meint er, alles zur Idee
des Hegemonischen Föderalismus.
Er hätte hinzufügen
können, daß damit nur die Idee der Bismarckschen Reichs gründung in loseren Formen auf die Weltstellung Deutsch
lands übertragen wird. Auch Bismarck hat diese Idee aus dem Zwange der Lage geschöpft, aus der weisen Abwägung
dessen, was die reine physische Macht, und dessen, was die
51
Probleme des Weltkriegs.
wohlverstandene Interessengemeinschaft von Führem und Geführten zu leisten vermag. Aber der Zwang der Lage
wird immer erst fruchtbar und schöpferisch durch die Geistes
und Willenskraft des großen Staatsmanns. Und damit berühren wir eine Lücke in den geistvollen
Ausführungen Kjellens, die er zwar absichtlich gelassen hat und die wir von seinem wissenschaftlichen Ausgangspunkte aus begreifen, aber die wir von unserm Standpunkte
nicht als schlechthin notwendig ansehen können. Er schil dert uns wohl ziemlich alle heute sich regenden Tendenzen, Möglichkeiten und Zielgedanken, er stellt die zu formenden Kräfte dar, aber sagt nichts von dem sie formenden Willen,
der unter den verschiedenen Wegen des Handelns aus wählt und damit das Kommende entscheidet.
„Die poli
tische Theorie", sagt Kjellen, „deckt Möglichkeiten auf;
auf die Staatskunst kommt es an, diese Möglichkeiten zu verwirklichen.
Darüber haben wir uns von dieser Stelle
aus nicht zu äußern." Der Historiker darf, wenn er als Publizist in die Gegenwart hineingreift, hier weiter gehen
als der Theoretiker der Politik, denn eben das Gebiet der Staatskunst muß ihn stärker locken, und mit den Erfahrungen,
die er an der Vergangenheit gesammell hat, darf er es wagen, auch der gegenwärtigen Staatskunst an den Puls zu fühlen. Mr verstehen es wohl, daß Kjellen auch als Ausländer
hier Zurückhaltung übte. Für uns aber hängt Sein und Nichtsein von der Frage ab, ob unser Steuermann das Schiff richtig steuert. Auch muß man einer zwar unbeab sichtigten, aber vielleicht möglichen Mrkung der Kjellenschen Bilder die Spitze abbrechen. Weil sie nämlich die äußersten
4»
52
Probleme des Weltkriegs.
und blendendsten Möglichkeiten unserer Weltstellung und
überhaupt alle, östliche und westliche, europäische und überseeische Ziele, die aus unserer Lage emporsteigen, vor Augen führen, könnten sie beitragen zu jener Über hitzung der Phantasie, die bei uns schon eingetreten ist und die das Werk unserer verantwortlichen Staatsmänner furchtbar erschweren kann. Kjellens Darstellung gibt auch,
weil ihr das Komplement der sichtenden Staatskunst fehlt, ein zu biologisches Bild unserer Lage. Me von Naturge walten geführt, scheint es, müssen wir den Weg zum Persi
schen Meerbusen uns bahnen und müssen wir dann unsere
asiatische Sphäre mit unserem afrikanischen Besitze zu vergliedern streben.
Der deutsche Industriestaat mit dem
türkischen Agrarstaat verbunden und in einem größeren Zirkel um den österreichischen Industrie- und den ungarischen
Agrarstaat können, so heißt es, „zu einer Welt für sich mit nahezu unbegrenzten Möglichkeiten" werden.
Gewiß
ein Ziel aufs innigste zu wünschen, und kein Zweifel ist, daß der Krieg ihm uns um ein gewaltiges Stück näher
gebracht hat, aber nur die Illusion kann glauben, daß es
schon das größere Stück des zurückzulegenden Weges ist. Mererlei Bedenken werden jeden weiteren Schritt und
jede
weitere Hoffnung begleiten müssen.
Einmal daß
die Arten und die Massen der Rohstoffe, die wir in abseh
barer Zeit aus dem nahen Orient beziehen könnten, heute
eine recht unbekannte, vorläufig noch gar nicht genügende Größe sind. tamische
Weiter daß der kleinasiatische und mesopo
Bauer,
Bergwerksarbeiter usw.,
der
sie uns
liefern soll, selber ein Gewächs ist, das erst gezogen werden
Probleme des Weltkriegs.
muß.
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Die ganze schwere Frage, bis zu welchem Grade
das türkische Staatswesen und Volkstum einer innerlichen
Modernisierung fähig ist, erhebt sich hier. Unser erzieherischer Arm muß weit hinüberlangen und kann nur mit milden und schonenden Handgriffen unsere selbstbewußten und eigenwüchsigen Freunde im Orient anleiten.
Drittens
wird die teure Landftacht den Austausch unserer Produtte mit dem Orient gewalttg belasten.
Und viertens wird
der Weg zum Orient immer durch die Zonen zweier
fremder Staaten führen, die uns zwar jetzt befteundet und verbündet sind und es auch in Zukunft sein wollen —
aber jede besonnene und erfahrene Staatskunst sieht ftemde
Staaten als ftemde Staaten an und rechnet mit dem
Wechsel der Dinge. Alle diese Schwierigkeiten sollen uns nicht entmutigen, sollen und können vielmehr auch auf
uns erzieherisch wirken und unserer Politik jenen Grad von Reife, Schmiegsamkeit und Mäßigung, jenes Ver ständnis für das Wesen ftemder Völker geben, wodurch
die Polittk erst zur Kultur wird.
Aber die Vorsicht ge
bietet, nicht unsere ganze Zukunft auf diese eine Karte zu setzen — und die Erwägung der jetzigen und künfttgen
Machtverhältnisse unserer Gegner gebietet, auch mit dieser Karte nicht aufs äußerste zu trumpfen.
Frankeich ist in
seinem Kampfe gegen England unter Ludwig XIV., Ludwig XV. und Napoleon I. unter einem Übermaße
konttnentaler und kolonialer Machtziele zusammengebro chen. Vestigia terrent. Unsere Orientpolitik und unsere Weltpolitik überhaupt kann nur dann auf eine solide und
gedeihliche Weiterentwicklung hoffen, wenn sie aus der
54
Probleme des Weltkriegs.
Zwickmühle der russisch-englischen Doppelgegnerschaft wieder
herauskommt.
Das ist nicht möglich ohne Entlastung
unserer Aufgaben, ohne Beschränkungen und Verzichte nach dieser oder jener Seite. Zum Glück haben doch auch wir eine gewisse Wahl der Wege; der überseeische Handel
und das unabweisbare Bedürfnis nach eigenen Kolonien
im tropischen Aftika weisen uns auch nach Westen und zu dem Versuche, den Frieden, den wir mit England einmal
schließen werden, nach dem Grundsätze „Leben und leben lassen" zu schließen. Auch in der furchtbarsten Steigerung
unseres Kampfes gegen England darf dieses Ziel nicht ver
gessen werden. Es kann, wenn erst die Vernunft wieder drü ben anfängt zu sprechen, erreicht werden ohne Schmä lerung unserer selbständigen maritimen Macht, die wir uns
nie aus der Hand winden lassen dürfen. Das Gerede von unversöhnlichen Weltgegensätzen, das uns entgegentönt, läßt uns ganz kalt. Unversöhnlich sind derartige Weltgegen
sätze recht oft nur durch den primitiven Geist der Machtpolitik geworden, durch Überspannung der Mittel, durch Miß verhältnis von Können und Wollen. Auf die sehr ernste
Möglichkeit, daß trotz aller Staatskunst die englisch-russische
Doppelgegnerschaft nicht zu sprengen sein wird, müssen wir uns gewiß einrichten und dann auf eine feste kontinentaleuropäische Autarkie hinarbeiten, an der sich der Ansturm
unserer Gegner wie jetzt so auch künftig brechen muß. Denn das ist ja mit die gewaltigste Erfahrung dieses Krieges,
daß die rationell durchgeführte militärische Defensive, ge tragen von der Kraft einer geistig und wirtschaftlich hoch entwickelten
Nation,
eine
ungeheure
Leistungsfähigkeit
Probleme des Weltkriegs.
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gewonnen und den modemen Großstaaten einen beinahe undurchdringlichen Schutzpanzer gegeben hat. Die Einsicht in diese Tatsache zwingt die moderne Staatskunst zu Kon
sequenzen, die der Geist einer primitiven Machtpolitik nicht ziehen würde. Primitiv aber ist es in der praktischen Politik, das Unmögliche zu begehren. Das Recht, dies zu
tun, haben die Götter der freien Sphäre des Geistes re
serviert. Dürfen wir darauf vertrauen, daß unser leitender
Staatsmann diesen Weg einer modernen und aufgeklärten Staatskunst gehen wird, die uns vielleicht nicht zum Idealen, aber zum Erreichbaren und Erträglichen führen kann? Ich sage mit voller Überzeugung: Ja. Wir wünschen ihm
manche Eigenschaften, die er nicht hat. Es fehlt ihm gewiß nicht an innerer Fühlung mit allen gesunden und großen
Kräften der Nation, aber an dem Triebe, sie für den Dienst
seiner Politik zu organisieren und damit den eigensüchtigen
Organisationen der Parteien und Interessen ein Gegen
gewicht zu schaffen. Seine geistige Natur hält ihn in einer vornehmen, aber nicht immer praktischen Einsamkeit fest. Aber diese Einsamkeit hat ihm die innere Freiheit gegeben,
die großen Interessen der Nation gereinigt von allem
Persönlichen und Subjektiven anzuschauen und in seinem Herzen zu bewegen. Mag es sein, daß bei seiner schweren und ernsten Art die Gedanken und Entschlüsse langsamer
heranreifen, aber sie reifen heran zu einer Kraft und ruhigen Entschlossenheit, die auch das Schwerste und Gewaltigste
auf sich zu nehmen vermochte. Mag es weiter sein, daß er zu sehr den großen und guten Grundkräften seiner
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Probleme des Weltkriegs.
Politik vertraut, um auch die kleineren und oft so nötigen Mittel zur Beherrschung der Menschen immer zu handhaben, — aber wir wollen nicht den Staatsmann Bethmann Hollweg erschöpfend charakterisieren, sondern nur das eine,
worauf es heute ankommt, kräftig hervorheben, daß er den echten, rechten Sinn für die Staatsräson und für das vernünftige Gleichmaß von Können und Wollen in der Po-
litik besitzt und daß hinter aller Zurückhaltung der starke Ehrgeiz lebt, der den schaffenden Staatsmann beseelen
muß. In seiner großen Rede vom 5. April 1916 hat er so deutlich, als es der Augenblick und die Rücksicht auf die Flüs
sigkeit der Verhältnisse erlaubte, die Grundzüge eines politischen Programms für den Friedensschluß gegeben,
das den vom Schicksal uns gewiesenen Weg richtig erkennt. Sie vernachlässigt nicht unsere kontinentalen Bedürfnisse
über den überseeischen und kolonialen, und wiederum diese nicht über jenen. Aber sie deutet zugleich jedem Verstehen
den an, daß wir uns nicht, wie einst Frankreich von Lud wig XIV. bis Napoleon I., in ein ftuchtloses Übermaß von Aufgaben und Zielen verbeißen wollen. Diesen furcht
barsten Fehler darf Deutschland unter keinen Umständen wiederholen, niemals dürfen wir uns selbst den Borwurf
zu machen haben, durch falsche Schachzüge unserer Politik
den im Grunde unnatürlichen Bund Englands und Ruß lands zu verewigen.
Grundsätzlich wäre unsere Politik
stets, wie wir nicht zweifeln, zu einem verständigen Separat
frieden sowohl mit England wie mit Rußland bereit gewe sen. Aber nachdem unsere Siege im Osten und Südosten
den locus minoris resistentiae im Gefüge der Gegnerschaft
Probleme des Weltkriegs.
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uns gezeigt haben, drängt alles darauf hin, unsere kon tinentale Machtstellung vor allem gegen Rußland auszu bauen. Nach Rumäniens Mederwerfung zeichnet sich die
Serechlinie vielleicht schon als künftige Grenze zwischen
Rußland und dem mitteleuropäischen Staatensystem ab. Sollte eine Verständigung mit Rußland auf dieser Grund
lage einmal möglich werden, so könnten hier im Südosten
zwar nicht gerade ideale, aber für uns erträgliche Ver hältnisse von längerer Dauer geschaffen weiden.
Auch bei den
„realen Garantien" gegen westliche
Feindschaften, die wir nötig haben, ist der Spielraum zwischen dem ideal Wünschenswerten und dem Erträglichen
nüchtern und genau zu erwägen. Wohl wäre eine besser
geschützte Grenze gegen Westen dringend zu wünschen. Mer wir vertrauen darauf, daß unsere verantwortlichen
Heerführer und Staatsmänner das Maß dessen, was hier zu erreichen ist, richtig abstecken.
Frankreich hat doch,
was schmerzlich für den Augenblick, aber tröstlich für unsere eigene Zukunft ist, nicht schlechte Erfahrungen mit seinem
Sperrfortsystem gemacht. Verbunden mit den Hilfsmitteln
des modernen Stellungskrieges kann es auch uns instand setzen, eine mächtig gepanzerte Grenze gegen Westen zu schaffen und unseren westlichen Gegnern damit die Lehre
einprägen, daß künftige Kriege gegen uns viel Kosten und wenig Gewinn verheißen.
Dies also müssen die Grundgedanken unseres künftigen
politischen Systems sein: die russisch-englische Doppelgegner schaft durch eine geschmeidige und kompromißwillige Diplo matie zu lockern, die eigene militärische und maritime Macht
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Probleme des Weltkriegs.
und den Schutz und Ausbau der Grenzen auf das höchste Maß des Erreichbaren zu steigern und durch einen klugen
Föderalismus die mit uns jetzt kämpfenden Staaten und
Nationalitäten in eine dauerhafte Interessengemeinschaft mit
uns zu ziehen. Mit innerster Befriedigung vemehmen wir
aus jener Kanzlerrede den freien und kräftigen Geist eines
föderativen
Nationalgefühls,
der
aus
diesem
Kriege
emporsteigen und die Zukunft Mitteleuropas tragen muß.
Es ist der Dreiklang von Macht, Nationalität und Kultur, der auch das Kjellsnsche Buch durchtönt, das Bekenntnis eines starken und klaren Willens und einer wahrhaftigen
Seele. Möge es die Nebel vertreiben, die unsere Exaltado-
heute aufgewirbelt haben.
Staatskunft und Leidenschaften. (Die Hilfe, 28. September 1916.)
Krieg ist hypertrophisch geworden.
Die furchtbare
Sommeschlacht scheint denselben Verlauf zu nehmen wie die kaum minder furchtbare Berdunschlacht: die Berge
kreisen und einige Dörfer werden genommen oder verloren. Durch Zusammenballung von Massen schwerer Artillerie und Munition werden unsere vordersten Linien derart mechanisch
zertrommelt, daß wir schließlich hier und da weichen müssen; aber unsere trotzige und zähe Kraft läßt sich jeden Fußbreit
Landes, den sie aufgibt, mit gewaltigen Opfern der Gegner
bezahlen und stellt ihnen immer neue, inzwischen ausge-
baute Linien entgegen. Wenn die Gegner hoffen, auf diesem Wege eine Entscheidung zu erzwingen, so müssen sie sich zugleich sagen, daß sie einen geradezu ungeheuerlichen
Preis dafür zahlen müssen und noch nicht einmal sicher sind, ob ihnen der Lohn ihrer Blut- und Geldopfer und der radikalen Zerstörung ganzer Landschaften ihres Gebietes
zuteil werden ivird. Das ist die neue, geradezu schauerliche Lehre dieses Krieges, vor allem des Krieges an der West-
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Staatskunst und Leidenschaften.
front, daß ein nie dagewesenes Aufgebot von Kraft, von raffinierter Zerstörungsindustrie und Heldentum kämpfender
Riesenheere hüben und drüben zu Ergebnissen führt, die in früheren Kriegen als ganz nebensächlich gegolten hätten, weil der eigenüiche Zweck und Sinn des Krieges, die Ver nichtung der feindlichen Hauptmacht, dabei nicht erreicht
werden kann.
Welchen Sinn kann dabei dieses Morden
vemünfttgerweise noch haben? Als wir unseren Angriff
auf Verdun untemahmen, war der Sinn offenbar nicht der, die ftanzösische Hauptmacht dadurch entscheidend zu zertrümmern, sondem den Franzosen endgülttg zu beweisen,
daß sie nicht mehr siegen könnten. Der Fall von Verdun, oder, wenn dieser nicht erreicht wurde, die hoffnungslose Einklemmung und Zermürbung der die Festung verteidigen-
den Feldheere hätte ihnen diesen Beweis in der Tat liefern und sie dadurch zum Frieden stimmen können.
Das
hatte Sinn und Verstand und konnte, wenn es glückte, die Bahn zum Friedenswerk öffnen. Hat aber das Unter nehmen der Gegner an der Somme noch Sinn und Ver
stand? Uns braucht man die Friedensstimmung nicht mit Gewalt einzuhämmern, wir sind bereit zu Verhandlungen,
wo hüben und drüben Gewinn und Verlust gegeneinander aufgerechnet, Faustpfänder ausgetauscht werden und
gesamt ein verständiger Kompromißfriede zustande kommen
kann.
Aber einen solchen Kompromißfrieden will man
drüben nicht und hat doch, menschlichem Ermessen nach,
nicht die Kraft und Möglichkeit, mehr zu erreichen. Ms ich kürzlich einem neutralen Politiker die Meinung äußerte,
daß der Friede, den wir jetzt schließen könnten, ungefähr
Staatskunst und Leidenschaften.
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ebenso aussehen würde wie der, der übers Jahr geschlossen werden würde, stimmte er mir zu, aber war mit mir der Mei
nung, daß er in der Tat erst im nächsten Jahre zustande kommen werde. Und in denselben Tagen hörte ich die gut beglaubigte Äußerung eines englischen Staatsmanns zu
einem Neutralen: Wenn Deutschland und England erst ein mal sich an den grünen Tisch setzen würden, so würde die Verständigung wahrscheinlich sehr rasch erfolgen. Also auch drüben blitzt vereinzelt die Einsicht in die wahre Lage der Dinge auf. Denn daß sie vereinzelt und vorläufig noch be
deutungslos ist, zeigt die Handlungsweise der Gegner, die mit
chr nicht zu vereinigen ist. Eine Zeitlang konstruierte ich mir die Motive unserer westlichen Gegner etwa so: „Schließen wir jetzt einen Frieden, einen Kompromißfrieden mit Deutsch
land, so würde er, auch wenn er zur Räumung Belgiens
führen sollte, doch immer noch einen moralischen Sieg Deutsch lands und einen Zusammenbmch des westeuropäischen Prestiges bedeuten, den wir nicht zugeben wollen und
dürfen. Da nun eine völlige Niederwerfung Deutschlands
nicht zu erreichen ist, so gilt es zum mindesten so viel mili
tärisches und politisches Prestige und so viel erreichbare Faustpfänder wie möglich noch einzusammeln und aufzu häufen, bevor wir an die unangenehme Arbeit des gegen
seitigen Aufrechnens, Marktens und Verhandelns gehen.
Damm die große Doppeloffensive in Ost und West im Sommer 1916, dämm die Knetung Griechenlands und
die Auspeitschung Rumäniens." Mer ich bin durch den Verlauf der Dinge irre geworden, ob man den Gegnem mit dieser rationellen Deutung ihrer Motive nicht zu viel
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Staatskmst und Leidenschaften.
staatsmännische Überlegung zutraut.
Ein sehr kundiger
Mann bemerkte mir, daß er im Verhalten der englischen
und französischen Staatsmänner keinerlei Klarheit und Wirklichkeitssinn mehr zu entdecken vermöge; die einmal mobil gemachten Leidenschaften wirkten automatisch weiter, es würden Schlachten geschlagen, Kräfte vergeudet, weil sie
einmal da seien, und so werde nur die völlige Erschöpfung
dem sinnlos gewordenen Kriege ein Ende machen. Es spricht in der Tat vieles für diese trübe Auffassung. Der Charakter der jetzigen gegnerischen Kriegführung im Westen mit
ihrem ungeheuerlichen und verzehrenden Kraftaufwand und ihren geringen Erfolgen und Aussichten ist so fanatisch und leidenschaftlich, daß man dahinter nur die wilde und doch chimärische Hoffnung vermuten kann, uns wirklich ganz
niederzuwerfen und zu vernichten. Wie aber, wenn dies durch eine verbissene Fortführung des Kampfes nach zwei,
drei Jahren doch noch gelingen sollte? Dann wäre es ein
Pyrrhussieg der Gegner im schlimmsten Sinne. Sie wären dann selber dermaßen erschöpft und machtlos, daß die beiden einzigen
noch
intakten
Weltmächte,
Nordamerika
und
Japan, automatisch in die Höhe schnellen und die Ent scheidungen der Weltpolitik bestimmen würden.
Insbe
sondere hätte dann Japan Trümpfe in der Hand, die es rücksichtslos ausnutzen würde. Das russisch-japanische Ab
kommen deutet darauf schon hin, wie Japan, den Rücken
frei gegen Rußland, und ohne, wie wir, in das Dilemma der russisch-englischen Doppelgegnerschaft zu geraten, dann
in Ostasien vorgehen würde.
Mll England nach dem
Weltkriege finanziell und militärisch stark genug bleiben.
EtaatSkunst und Leidenschaften.
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UM seine bisherige Machtstellung zu behaupten, so dürfte
es jetzt nicht Raubbau treiben durch eine Kriegführung, die ihr
letztes, höchstes Ziel, wenn überhaupt, doch nur durch eine schließliche Selbstentwaffnung erreichen kann.
Die Leidenschaft also, nicht die Staatskunst herrscht
jetzt anscheinend drüben.
Die russische Politik, der man
sonst einen primitiveren und roheren Charakter nachsagt, ist eigentlich, genau besehen, heute rationeller als die der westeuropäischen Großmächte.
Sie wäre wahrscheinlich
vollauf
Konstantinopel
zufrieden,
wenn
sie
gewänne.
Das ist ein bestimmtes, scharf umgrenztes Ziel, und wenn wir auch hier gewiß sind, daß sie an dem bulgarisch-türkisch-
deutschen Widerstande scheitern wird, so versteht man doch, vom russischen Standpunkte aus gesehen, daß man die
nie wiederkehrende Gunst der Weltlage erst noch einmal
ganz und gar auspressen und ausnutzen will, ehe man an Frieden denkt. Verschwommen, maßlos und schlecht durch
dacht mutet uns dagegen die Absicht unserer westeuropäischen Gegner an, ein großes, von unverwüstlicher innerer Lebens
kraft und Energie erfülltes Volk wie das deutsche in Gmnd und Boden stampfen zu wollen. Staatskunst und Leidenschaften, — ein großes, ge
waltiges, des schärfsten Nachdenkens und der eindringendsten historischen und politischen Untersuchung würdiges Thema.
Der verstorbene Münchener Historiker Felix Stieve hat einmal über Staatskunst und Leidenschaften im 17. Jahr
hundert lehrreich gehandelt und dabei ausgeführt, wie so manches, was wir als großartige Politik zu bewundem geneigt sind, mitunter nur die Frucht einer durchaus un-
64
Staatskunst und Leidenschaften.
staatsmännischen Leidenschaft war. Mir will es jetzt scheinen, als ob ganz große Wandlungen im Verhältnis von Staats kunst und Leidenschaften im Laufe der letzten Jahrhunderte,
zusammenhängend mit allen übrigen Wandlungen des Staaten- und Völkerlebens, vor sich gegangen sind. Anders verhielten sich Staatskunst und Leidenschaften zueinander
im ^Zeitalter der absoluten Monarchie, der sogenannten Kabinettspolitik, — anders im Zeitalter des nationalen Prinzips, des modemen Nationalstaats. Die Machtpolitik
des ancien rögime, der absoluten Herrscher, verfügte nur über begrenzte Mittel und Kräfte, rasch versiegende Finanzquellen, rasch zusammenschmelzende Söldnerheere.
Sie mußte mit diesen beschränkten Kräften kunstgerecht balancieren, mit möglichst geringem Aufwand möglichst große Ergebnisse zu erzielen suchen. Die Manöverstrategie
des 18. Jahrhunderts, die möglichst viel durch Manöver, langatmige und ermüdende Stellungskämpfe und Belagemn
gen erzielen, möglichst selten an den opferheischenden Schlachtengott appellieren wollte, veranschaulicht klassisch die damalige Lage. Die Staatskunst wurde zu einer rech nenden und klügelnden Schachspielkunst, die in Machiavell ihren Meister verehrte und von trüben und kleinen Leiden schaften, die das Auge blenden und die Hand irre machen
konnten, ftei zu bleiben suchte.
So Richelieu und Ma-
zarin, so Friedrich der Große und Kaunitz.
Dennoch ist
auch die Staatskunst des ancien rßginie von menschlichen
genugsam überschwemmt worden. Das waren aber die Leidenschaften eines kleinen Kreises von
Leidenschaften Menschen,
unfähigen
Monarchen,
ehrgeizigen
Rivalen
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StaaiSkunst und Leidenschaften.
der leitenden Staatsmänner, intrigierenden Fürstinnen, Höflingen, Maitressen usw. Mer man wird verstehen, daß
die absolutistische Regierungsform, wenn die Menschen danach waren, einer gereinigten und rationellen, immer zugleich wägenden und wagenden Staatskunst und Macht-
politik besonders günstige Entwicklungsbedingungen bot. Der Steuermann am Ruder konnte sich ganz auf seine Aufgabe konzentrieren.
Nur war sein Schiff eben zu Nein, um
sich weit aufs hohe Meer hinauszuwagen.
Die großen
Koalitionskriege des 17. und 18. Jahrhunderts konnten sich wohl jahrelang hinziehen, aber nur, weil mit den
beschränkten Mitteln und kleinen Heeren große, durchgrei
fende und rasche Erfolge nicht zu erzielen waren. Man brach sie ab, wenn die staatsmännische Überlegung sich sagte, daß mit dem vorhandenen Maße der Kräfte ein
Mehr nicht zu erreichen war. Eine neue Zeit in der Staatskunst zog mit der fran
zösischen Revolution und Napoleon herauf. Mt den Heeren
der Nationalstaaten, der Konskription und allgemeinen Wehrpflicht wurden höhere Ziele erreichbar, eine rücksichts
losere Machtpolitik möglich. Höflinge und Damen genierten
nicht mehr den großen Feldherrn und Staatsmann, aber
seine eigenen ungebändigten Leidenschaften konnten ihn dazu verführen, Mißbrauch mit den gewaltigen Kräften,
die ihm jetzt zur Verfügung standen, zu treiben. Das war
das Schicksal Napoleons.
Das Zeitalter der Restauration
und Heiligen Allianz dämmte darauf die Staatskunst und Machtpolitik wieder vielfach ein, brachte aber, worüber
ich hier nicht weiter reden will, wieder andere Trübungen Mei necke, Probleme bei Weltlrieas.
5
Staatskunst und Leidenschaften.
66 der
reinen,
rationellen
Staatskunst
hervor.
Bismarck
war dann der Mann, der die reine, wägend-wagende
Staatskunst des ancien regime, Richelieus und Friedrichs des Großen, wieder in ihre Ehre und ihr Recht einsetzte, aber sie nun ausübte mit den gewaltigen Hebelkräften
des modemen Nationalstaates. Diese Synthese der Staats
kunst und Machtpolitik des 18. und 19. Jahrhunderts, absolutistisch und national zugleich durchweht, kühn und
maßvoll zugleich, war eine Wunderleistung des geschicht lichen Lebens. Weder die Leidenschaften, die in ihm selbst
brannten, noch die Leidenschaften eines kleinen Kreises — Augusta und Harry von Arnim haben chm ja nichts anhaben können, — noch auch die Leidenschaften der staatlich
organisierten, zu Selbstgefühl und Machtbedürfnis erwach
senen Nation haben Blick und Hand dieses Steuermannes jemals beirrt.
Denn das ist ja nun die gefährlichste Quelle von Leiden schaften, die die Staatskunst in unserem Zeitalter trüben,
daß die
ungeregelten,
ganzen Nationen den
unerzogenen
Machtinstinkte
der
Steuermann am Ruder stoßen
und drängen können. Und um so gefährlicher, je gewaltiger
die Hilfsquellen der modemen Nation in militärischer, wirtschaftlicher und technischer Hinsicht sind. Und noch gefährlicher, wenn die Regiemngsformen des National staats es ehrgeizigen und skrupellosen Emporkömmlingen erreichtem, aus Ruder zu kommen, wo sie nun, gestoßen
und stoßend zugleich, hantieren.
So war es schon vor
Napoleon im Frankreich der Revolution, als die Girondisten
zum Kriege trieben und nach dem Frieden von Basel
67
Staatskunst und Leidenschaften.
die maßhaltenden Elemente überrannt wurden. Man muß es aussprechen, was übrigens auch schon Bismarck
gewußt hat, daß den modernen parlamentarisch und demo kratisch organisierten Staaten gewisse Bremsen der Staats
kunst fehlen, die den Mißbrauch ihrer enormen Macht mittel verhüten. Es fällt mir nicht ein, deshalb die Rückkehr
zum Absolutismus zu empfehlen oder auch nur vor dem demokratischen Wesen
wamen.
ausnahmslos und
schlechthin
zu
Steht, wie bei uns, den demokrattschen Einrich
tungen eine starke und unabhängige Monarchie gegenüber, so kann man ohne Gefahr in der Demokrattsierung des
inneren Staatslebens noch ein gutes Stück weiter gehen, als wir bisher gegangen sind, und man wird es sogar aus
Gründen vernünftiger Staatskunst tun müssen, um die Station so geschlossen wie möglich zu machen und so eng
wie möglich mit dem Staate zu verknüpfen. Aber die Unabhängigkeit der monarchischen und staatsmännischen Lei
tung von populären Tagesströmungen muß dabei gesichert bleiben, wenn wir nicht in einen ähnlichen Strudel geraten sollen,
wie unsere westeuropäischen Gegner.
Es wird
vielen Anhängern demokrattscher Gedanken schwer an kommen, auf das Ideal des parlamentarischen Regimes
zu verzichten. Und doch wünschte ich, daß sie sich die ernste Frage vorlegten, ob der spezifisch deutsche Typus von Demokratte, den wir auszubilden haben, desselben wirklich
bedarf und ob es uns nicht mehr Schaden als Nutzen bringen würde. Wir können uns der frischen Erfahrung nicht ent ziehen, daß es nur zu leicht der Demagogie der Straße, dem
Rufen und Schreien der Halb- und Dreiviertelgebildeten
ö*
68
Staatskunst und Leidenschaften.
erliegt und schlotterndes, vom Sturmwind der Leidenschaf ten gepeitschtes Advokatengesindel oder skrupellose Ge waltmenschen wie Lloyd George ans Ruder bringt. Die heu
tigen Träger der westeuropäischen Demokratie, die Asquith,
Poincare, Salandra und Sonnino diskreditieren, ztvar nicht das demokratische Prinzip überhaupt, aber den westeuro päischen Typus von Demokratie. Krieg und Staatskunst
sind deswegen jetzt hypertrophisch geworden, weil die De mokratie dort hypertrophisch geworden ist. Sie kann den
Weg in den Krieg hinein, aber nicht aus dem Kriege heraus zu einem staatsmännischen Frieden wieder finden.
So
treibt sie nun mit den ungeheuren Machtmitteln der modemen Nationen einen fürchterlichen Mißbrauch,
weil
die Machthaber zurückschaudem vor dem Tage, wo die Leidenschaften
schweigen
müssen
und
die
Staatskunst
wieder in ihr Recht treten und sie zur Verantwortung ziehen wird. Wieder muß man an die ftanzösischen Revo-
lutionskriege zurückdenken, an die Zeiten der Direktorial regierung, wo die Direktoren, kleine, aber ehrgeizig-heiße Menschen wie Poincare und Briand, Scheite auf Scheite in die Kriegsflammen warfen, um sich nur selbst, solange
gekämpft wurde, am Ruder zu halten und den Augen blick hinauszuzögern, wo die Heere vom Schlachtfelde in die Heimat zurückkehren würden. Unsere heutige deutsche Staatskunst ist, wie wir mit
ruhiger Gewißheit sagen können, frei von Leidenschaften,
wenigstens so frei, als es Menschen überhaupt zu sein ver mögen. Das schließt nicht aus, daß menschliche Schwäche
und Gebrechlichkeit auch in ihr spielen. Unsere Politik hat
69
Staats kunst und Leidenschaften.
in den letzten anderthalb Jahrzehnten zweifellos schwere
Fehler gemacht, über die später wohl erst gründlich und unverhüllt gesprochen werden kann, — ohne daß man die Frage, ob uns ein Bismarck den Weltkrieg erspart
haben würde, je wird mit Sicherheit beantworten können.
Auch fehlt es bei uns nicht an sozialen Elementen, die eine ähnlich verhängnisvolle Rolle in der auswärtigen Politik zu spielen geneigt sind, wie die Emporkömmlinge der west europäischen Demokratie. Aber diese Elemente bekreuzigen
sich bei uns zugleich gemeinhin mit großer Feierlichkeit
vor jeder Gemeinschaft mit dem „demokratischen Sumpfe" und gehaben sich als die wahren Vertreter alter guter Tradition und Kultur. Und doch ist unseren Annexionisten
die alte sichere Tradition einer festen und besonnenen Staats kunst ganz verlorengegangen, und von Bismarck haben
sie nur die Kürassierstiefel und nicht den Kopf geerbt. Me
es nun kommt, daß drüben die demokratisierte Gesellschaft, hüben
die
antidemokratisch
gestimmten
Schichten
zum
Nährboden einer trüben und leidenschaftlich überspannten
Machtpolitik werden konnten, das ist ein Problem, das für
sich erörtert werden muß.
Sehen wir genau zu, so sind
doch die sozialen Elemente, die hüben und drüben in Be
tracht kommen, sich im Grunde vielfach verwandter, als man nach ihrem politischen Glaubensbekenntnis vermuten möchte. Es ist die mächtige Schicht der Halb- und Drei
viertelgebildeten, die in der modemen Gesellschaft allent
halben emporgestiegen ist und sich breit macht, aus der vor allem die unllaren Leidenschaften und Überspannungen modernen Macht- und Lebenswillens emporsteigen.
Wer
70
Staatskunst und Leidenschaften.
wollte diesen Macht- und
Lebenswillen je
unterdrückt
wissen? Er ist es, der uns heute in unseren schwersten Schick salsstunden aufrecht hält und uns Freiheit und Sicherheit der Existenz erkämpfen wird.
Aber nur ein gezügelter
Mlle kann uns zum Ziele führen.
Dieser freilich muß
dann in sich aufs äußerste angespannt werden. Unseren Hee
ren brauchen wir das nicht zuzurufen, denn sie leisten schon das Übermenschliche. Aber ein Bolkswille, der auch das äußerste auf sich zu nehmen entschlossen ist, muß dahinter
stehen. Mr haben unseren Gegnern nicht nur den Willen zu einem staatsmännischen Frieden zu zeigen, sondern
auch den Mllen und die Kraft, sie in den Abgrund, in den sie uns stoßen wollen, mit hinunterzureißen.
Nur durch
solchen Anblick höchster Selbstzucht und höchster Entschlossen heit bei uns können wir sie noch einmal von der Leidenschaft zur Staatskunst zurückführen.
giltst Bülows Deutsche Politik. (Historische Zeitschrift 117, 1; 1916.)
ürst von Bülow hat seinen Beitrag zu dem 1913
erschienenen Sammelwerke „Deutschland unter Kaiser Wilhelm II." erheblich erweitert und durch die Erfahrungen
des Weltkriegs bereichert zu einem Buche umgestaltet, das in der historisch-politischen Literatur unserer Tage einen besonderen Rang behaupten wird. Es umfaßt, zuwei
len
erzählend,
häufiger erörtemd,
äußere
und innere
Politik und setzt gewissermaßen die literarische Gattung
der „Politischen Testamente" bedeutender Staatsmänner
und Regenten des ancien rtigime fort, ähnlich wie die „Ge danken und Erinnerungen" seines großen Amtsvorgängers,
doch ohne den memoirenhaften Charakter derselben.
Es
ist eine durchaus staatsmännische, nicht historische, aber auch nicht rein publizistische Hervorbringung.
Es will
rechtfertigen und einwirken zugleich. Es ist seinem Kerne
nach eine Darlegung der Grundgedanken und Leistungen seiner eigenen Amtsführung, und alle Linien, die aus ihr in die folgende Zeit und in den Weltkrieg hinein gezogen
72
Fürst Bülows Deutsche Politik.
werden, verlängern eigentlich nur diejenigen, die er für
seine eigene Amtsführung schon zeichnet, und bleiben sehr
viel skizzenhafter wie diese.
Man erwarte darum kein
volles und erschöpfendes Bild unserer Gesamtlage vor und während des Krieges, wohl aber ein höchst interessantes,
sehr überlegtes und zugleich unwillkürlich charakteristisches
Bild dieser Lage vom Standpunkte der Bülowschen Reichs kanzlerschaft aus.
Er hält offenbar auch absichtlich mit
seinen Urteilen über die Dinge seit 1909 zurück, und man kann nur an mehreren Stellen zwischen den Zeilen spüren, daß er kritisch über sie und über die Leistungen seines Nach folgers denkt.
Etwas deutlicher wird er wieder in der
Angabe seiner Kriegsziele.
Man vernimmt mit höchstem
Interesse, daß er die bekannten Forderungen der sechs
von
„rühmenswert"
großen
Wirtschaftsverbände
nennt.
Das gibt einen Anhalt für die jetzige Stellung
1915
Bülows zu den Parteien und heutigen Gegensätzen unseres
öffentlichen Lebens.
Mehr haben wir an dieser Stelle,
wo wir nicht die tagespolitische Bedeutung seines Buches zu würdigen haben, darüber nicht zu sagen.
Mit warmer Anerkennung aber nmß man es hervor heben, daß gerade die geschichtliche Seite seines Denkens sehr kräftig entwickelt ist. Er hat sich, Bismarck darin nach-
eifernd und vielfach von ihm beeinflußt, ein ganz bestimmtes Bild von den Grundkräften der deutschen Geschichte und
von den politischen Qualitäten des deutschen Volkes geformt: Natürlich nicht aus eigentlich wissenschaftlichem Erkennt-
nistriebe, sondern um die Unterlagen für staatsmännisches
Handeln in Deutschland zu gewinnen. Eine Grundansicht
Fürst Bülows Deutsche Politik.
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von ihm ist, daß unserem Volke bei aller Fülle großer Eigenschaften das politische Talent bisher versagt geblieben sei. Es liege im deutschen Charakter, die Tatkraft vorwie
gend im Besonderen zu üben, das allgemeine Interesse
dem einzelnen, dem engeren, unmittelbaren, fühlbaren nach zustellen, ja unterzuordnen. Der partikularistische Geist des Deutschen habe sich jetzt von den Einzelstaaten auf die
Parteien verlegt, die deutsche Treue zum Parteiführer
sei selbstlos, vorurteilslos und kritiklos.
Opposition gegen
die Regierung zu organisieren, sei in Deutschland niemals
schwer, aber immer sei es schwer, oppositionelle Bewe gungen innerhalb einer Partei zum Erfolge zu führen. So sieht er denn auch die Ursache für die verbitternde
Leidenschaftlichkeit unserer neueren wirtschaftlichen Kämpfe
nicht in Fehlem der Wirtschaftspolitik, sondem in der Unvollkommenheit unseres politischen Lebens.
„Deutsch
land war vielleicht das einzige Land, in dem die praktischen
wirtschaftlichen
Fragen
peinlich
und
kleinlich auf den
Leisten der Parteipolitik geschlagen wurden". Mt diesem
Partikularistischen Grundzuge hänge der Mangel an Kontinui tät in der ganzen deutschen Geschichte von Karl dem Großen bis Bismarck zusammen, in dem er unser Verhängnis sieht. Einmaliger großer Leistungen seien wir wohl fähig,
und so sei auch jetzt in diesem Kriege unser Volk über sich selbst hinausgewachsen; aber nur zu oft sei in früheren Zeiten
auf die durch die Not erzwungene Einigung ein Ausein anderfallen gefolgt. Wenn unser Volk trotz alledem politisch
in die Höhe gekommen ist, so liegt das nach Bülow, der sich dabei auf Goethes und Bismarcks Urteile beruft, an
74
Fürst Bülows Deutsche Politik.
einer anderen Eigenschaft des Deutschen. „Der Deutsche,
welches Stammes er immer sei, hat stets unter einer starken,
stetigen und festen Leistung das Größte vermocht, selten ohne eine solche oder im Gegensatz zu seinen Regierungen
und Fürsten." In Deutschland sei wie kaum in einem anderen Lande die Kraft der Regierungen ausschlaggebend. Bülow rechnet also mit einem einmal gegebenen un
veränderlichen Nationalcharakter.
Aus ihm erklärt er im
letzten Grunde die Besonderheit unseres politischen Lebens, aus ihm entnimmt er die Maximen des Handelns. Man
versteht, daß der Staatsmann nach solchen festen Gegeben heiten strebt. Der Historiker kann ihm nicht unbedingt
darin folgen.
Der Staatsmann steht in der Versuchung,
die Fülle seiner zeitgeschichtlichen Erfahrungen hinein zu
projizieren in die Vergangenheit und sie mit ihr zu einer konstanten Einheit zu verbinden, wo dann die Gefahr, das Mannigfaltige zu vereinfachen, sehr nahe liegt.
Der Historiker sieht mehr auf den Fluß der Dinge, auf die Ent
wicklung neuer Kräfte, auf die Wirkungen singulärer Schick sale und Ereignisse. Er versteht den Satz von der Kontinuität
alles historischen Geschehens nicht dahin, daß in der Tiefe alles beim Alten bleibt, sondem daß alles Neue int engsten
Konnexe mit dem Alten emporwächst. Grundeigenschaften der Bolkscharaktere erkennen auch wir an, erkennen auch
diejenigen an, die Bülow uns zuschreibt, aber können ihm nicht zustimmen darin, daß der ungeheure Umschwung von 1870 das Wesen des Deutschen unverändert gelassen
habe.
Wenn aus dem Charakter des Volkes seine Schick
sale, zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich mit
Fürst Bülows Deutsche Politik.
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erklärt werden dürfen, so muß auch der Charakter selber
wieder aus den ihn treffenden Schicksalen, gewiß nicht allein, aber recht wesentlich mit erklärt werden. Die Schick sale schaffen zwar keine neuen Charakterzüge, aber vermögen
die vorhandenen teils zu fördem, teils zu hemmen, so daß es schließlich doch zu ganz neuen Dosierungen dieser Züge
und damit auch wesentlichen Veränderungen des Gesamt charakters
kommen
kann.
Diese
historische
Auffassung
könnte selbst das staatsmännische Handeln beftuchten. Denn sie befreit von der lähmenden Vorstellung, daß das deutsche Volk, unpolitisch von Natur, ein für allemal darauf angewie sen sei, bloßes Instrument in der Hand starker Regierungen
zu sein.
Die politischen Fähigkeiten des deutschen Volkes
haben sich im 19. Jahrhundert ohne Frage gesteigert;
selbst auf den Umwegen, auf die der Deutsche durch seinen
verbissenen Parteipartikularismus geführt wurde, ist er doch schließlich vorangekommen, und die Erziehung durch die Parteien, Vereine, Gewerkschaften usw. kann propä
deutisch für den Staat vorbereiten.
Darf sich doch Fürst
Bülow selber als ein Erzieher der Parteien zum Staats
bewußtsein fühlen. Seine Blockpolitik hat, wie er mit Recht sagen kann, ein weiteres Stück Boden für den nationa
len Gedanken im Volke erobert und hat einen wesent lichen Anteil daran, daß die Wehrvorlagen, die früher gegen den Starrsinn der Parteiprogramme zu kämpfen hatten, fortan glatt durchgingen. Bemerkenswert ist dabei auch sein
Urteil, daß er in der Blockpolitik keine innerpolitische Universalmedizin gesehen und niemals eine dauernde Aus schaltung des Zentrums in seine Rechnung gestellt habe.
76
Fürst Bülows Deutsche Politik.
Die Blockpolitik war ein glücklicher Griff der Bülowschen Ära, der über die Bismarckschen Traditionen hinaus
ging und sie doch dabei fruchtbar fortentwickelte.
Auf
allen übrigen Gebieten der inneren Politik ist der Zusam menhang der Bülowschen Tendenzen mit den Bismarck schen Traditionen noch viel enger.
zu
einem
Büww bekennt sich
Staatskonservatismus und
unterscheidet
ihn
scharf vom Parteikonservatismus. In den Parteien Deutsch lands sieht er nur sekundäre Bildungen; als die eigent lichen Träger des Staatslebens erscheinen ihm die mon
archischen Regierungen,
und
für das
parlamentarische
System fehlen, meint er, bei uns die geschichtlichen Vor aussetzungen.
So dachte auch Bismarck, aber immerhin
spürt man bei Bülow trotz seiner scharfen Kritik am deut
schen Parteiwesen ein weicheres und nachgiebigeres Verhält nis zu den Parteien als bei Bismarck. Er steht ihnen nicht
so stark und herrisch gegenüber wie dieser; er wünscht ihnen etwas
von der
„leichten
Versöhnlichkeit"
seiner
eigenen gewandten Natur und redet Konservativen und Liberalen gut zu, daß sie einsehen möchten, wie sie als
Parteien immer dann am stärksten gewesen seien, wenn sie zusammengegangen seien.
Tiefere Weltanschauungs
und Kulturprobleme sucht er von der Behandlung politi scher Fragen möglichst fern zu halten. Das tat auch Bis marck, aber bei Bülow erscheint das alles lässiger und glatter,
und was er über die Sozialdemokratie sagt, ist trotz einiger guter Bemerkungen unbefriedigend und oberflächlich. Am engsten schloß sich Bülow den Bismarckschen
Traditionen in seiner Wirtschaftspolitik und Ostmarken-
Fürst Bülows Deutsche Politik.
77
Politik an. Die Regierung, so sagt er gut, darf nicht wie ein Kaufmann nur die Konjunkturen ausnutzen, sie muß
ihre Mrtschaftspolitik der gesamten nationalen unterordnen.
Politik
Nicht nur das gegenwärtige wirtschaftliche
Wohlbefinden, sondern vor allem die künftige gesunde
Entwicklung der Nation sei sicherzustellen.
Daß allein
schon die politische Selbstbehauptung mis zwingt, das System des kombinierten Agrar- und Industriestaats selbst mit Opfern für die städtische Bevölkerung aufrecht
zu halten, hat wohl der Krieg endgültig gelehrt, und man
versteht, wenn Bülow mit Genugtuung erklärt, daß der
Zolltarif von 1902 aus der Reihe der Voraussetzungen des Sieges in diesem Kriege nicht fortzudenken sei. Bei der Erör terung der Ostmarkenftagen wiederholt und unterstreicht
er die Bedenken, die Bismarck gegen ein autonomes Kon greßpolen oder gegen seine Verbindung mit Österreich geäußert hat.
Als Ziel unserer eigenen Ostmarkenpolitik
nennt er die Versöhnung der Staatsangehörigen polni
scher Nationalität mit dem preußischen Staate und der deutschen Nation, aber so, daß unter allen Umständen unser nationaler Besitzstand im Osten, die Einheit und Sou veränität
des preußischen
Staates sichergestellt
werde,
was ohne Härten und Schärfen nun einmal nicht möglich sei. Unzweifelhaft ein staatsmännisches Ziel; ungeheuer
wichtig und schwierig aber ist die Frage, ob die Wege zu diesem Ziele nach dem Kriege noch genau dieselben sein
können, wie vorher.
Im wesentlichen sind Bülows Erörterungen auch hier mehr voraugustlich orientiert.
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Fürst Bülows Deutsche Politik. Bismarcks auswärtige Politik wurde weniger ange
fochten als seine innere. Mrd es der Bülowschen Politik vielleicht einmal umgekehrt ergehen?
In der inneren
Politik konnte er im großen und ganzen dem sicheren Leit-
steme der Bismarckschen Tradition folgen. In der auswär tigen Politik hatte er über ganz neue Wege und Ziele sich zu entscheiden, denn der Eintritt Deutschlands in die Weltpolitik vollzog sich unter ihm. Die Weltlage, aus der der Krieg hervorbrach, bildete sich zur Zeit seiner Amtsführung.
Man muß sich gewiß von vornherein hüten, mit einem vorschnellen post hoc — propter hoc die Bülowsche Politik
dafür verantwortlich zu machen, daß der russisch-französische Zweibund sich zur Entente mit England erweiterte und so die gegnerische Koalition die gefährliche Überlast erhielt,
die zur Lawine wurde. Denn, so sagt er mit Recht, wir
sind in die Weltpolitik nicht hineingesprungen, wir sind in sie hineingewachsen. Mein schon durch den Ausbau der Flotte, den wir seit 1898 vomahmen, traten wir, um mit ihm zu reden, in eine Gefahrenzone erster Ordnung
ein, und Deutschland mußte dieses Wagnis aus unentrinn barem Zwange auf sich nehmen, wenn es nicht auf den
Schutz und die Geltendmachung seiner überseeischen In teressen verzichten wollte. Mit dem Flottenbau war zu gleich auch automatisch der Gegensatz zu England gegeben. War damit auch der früher oder später ausbrechende Krieg
Englands gegen Deutschland unentrinnbar und zwangs läufig? Bülow bestreitet es energisch und spottet mit
Recht über die naive Auffassung, die im Kriege ein unver meidliches Naturereignis wie Erdbeben oder Platzregen
Fürst Bülows Deutsche Politik.
sieht.
79
Da unsere eigene Weltpolitik anders als die der
früheren großen Rivalen Englands sehr viel mehr defensiv als offensiv war, so war es nicht aussichtslos für eine behut same und feste Staatskunst, den schmalen Weg durch die
Klippen der europäischen Gegnerschaften hindurchzusteuem.
Das war Bülows ausgesprochene Absicht, und er deutet es
mehr als einmal an, daß er einen Ruhmestitel seiner Kanz lerschaft darin sehe, diesen Weg zu seiner Zeit noch gefunden zu haben. Es ist nun heute noch nicht an der Zeit, in eine
eingehende Nachprüfung seiner Politik und des Bildes, das er in seinem Buche gibt, einzutreten. Wohl aber darf man ihm schon jetzt eine Reihe gewichtiger Fragen ent
gegenhalten und feststellen, daß er selber seinen Lesem
nur eine ungenügende Antwort auf diese Fragen bietet. Die verhängnisvolle Verschlechterung unserer Weltlage trat dadurch ein, daß sich die englische Gegnerschaft mit
der französisch-russischen Gegnerschaft verknüpfte.
Mußte
das geschehen? Die Voraussetzung dafür trat doch erst
dadurch ein, daß wir im Oriente eine ganz neue Reibungs fläche gegen Rußland erhielten, die zur Zeit Msmarcks
noch nicht bestanden hatte. Dasselbe Jahr 1898, das die erste Flottenvorlage erlebte, brachte auch die Rede des Kaisers in Damaskus, die das Symbol unserer neu ent
standenen orientalischen Interessen wurde.
Schon vorher
aber hat ein weitsichttger englischer Diplomat unsere ersten
Schritte in der anatolischen Bahnftage begrüßt und gefördett, weil nun Deutschland dadurch künfttg auch gegen Rußland engagiert sei! Man wird die ernste und schwere Frage nicht los, ob der Eintritt in die orientalischen Interessen
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Fürst Bülows Deutsche Politik.
für uns ebenso notwendig und unabweislich war, wie der Einkitt in die Flottenpolitik, ob es weise und richtig
war, zur selben Zeit die Grundlagen für eine künftige englische
und künftige russische
Die Bülowsche Darstellung
Gegnerschaft zu legen.
gleitet über dies Problem
hinweg. Die Rede von Damaskus aber und die Beziehungen zum Islam haben, wie Bülow selber erzählt, auch auf unsere Marokkopolitik 1905 eingewirkt.
„Wir hätten uns
um jeden Kredit in der islamischen Welt gebracht, wenn wir so kurze Zeit nach diesen Kundgebungen Marokko an die Franzosen verkauft hätten." Unsere orientalischerl
Rücksichten hinderten uns also im Jahre 1905 das zu tun, was im Jahre 1911 dann doch wirklich geschehen ist. Nun
läßt es Bülow zwar dahingestellt, ob Frankeich 1905
überhaupt geneigt war, einen uns annehmbaren Preis zu zahlen.
Sollten die Aken aber einmal ergeben, daß
Frankreich uns im Jahre 1905 wesentliche und wertvolle
Kompensationen für Marokko zu geben bereit war, so
würde die Bülowsche, im Grunde damals wohl von Hol stein gemachte Politik, die uns nach Algeciras und in alle
Marokkonöte der folgenden Jahre führte, schweren kriti
schen Einwänden ausgesetzt werden. Bülow meint fteilich, daß durch die Konferenz von Algeciras und durch ihre
wichttgsten Beschlüsse die Absichten der deutschen Politik mit Bezug auf Marokko im wesentlichen erreicht worden
seien.
Aber diese Beschlüsse schufen, wie die folgenden
Jahre zeigten, Lage.
eine ganz zweideuttge und unhaltbare
Sie waren ein
fatales diplomattsches Notwerk
81
Fürst Bülows Deutsche Politik.
und Flickwerk. Die Zufriedenheit Bülows mit ihnen kann seine Leser unzufrieden stimmen.
Begreiflicher ist die Befriedigung, mit der Bülow den Verlauf der bosnischen Krise schildert.
„Sie wurde",
erklärt er sogar, „tatsächlich das Ende der Einkreisungs-
politik Eduards VII." Durch sie, so sagt er weiter, wurde weder der Krieg entfesselt noch auch unser Verhältnis zu Rußland ernstlich geschädigt, und die Einkreisung Deutsch
lands habe sich als ein diplomatisches Blendwerk erwiesen,
dem die realpolitischen Voraussetzungen fehlten. Mr fürchten, daß man diese Aufmachung der Dinge selber später als Blendwerk bezeichnen wird.
Denn die real
politischen Voraussetzungen der Einkreisungspolitik waren mit ehemer Notwendigkeit gegeben, seitdem Rußland den Schwerpunkt seiner Machtpolitik von Ostasien wieder
nach dem nahen Orient verlegte und dort nun auf uns stieß. Der deutsche Erfolg in der bosnischen Krisis war ein bedeutender Augenblickserfolg, aber ohne dauemde Wir
kungen. Rußland wich, so wird man doch wohl vermuten dürfen, deswegen damals vor Österreich-Ungarn und uns zurück, weil es die Nachwirkungen des japanischen Krieges und der inneren Revolution noch nicht überwunden hatte,
weil es sich noch nicht stark und gerüstet genug fühlte, um so wie in den Augusttagen von 1914, auf England und
Frankreich gestützt, das große Spiel um Konstantinopel wagen zu können. Man könnte diese Fragen und Zweifel an der Soli dität der Bülowschen Politik noch vermehren. Sie treffen
aber, um es noch einmal zu betonen, nicht ihre Ziele, sott* Meinecke, Probleme des Weltkriegs.
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82
Fürst Bülows Deutsche Politik.
beut ihre Mittel und Wege, lassen sich auch erschöpfend heute
noch gar nicht diskutteren. Und noch weniger ist es heute angebracht und möglich, aus diesen Zweifeln irgendwelche Konsequenzen für unsere zukünftige Haltung zu ziehen.
Nur das historische Urteil über die nun hinter uns liegende Vorgeschichte des Weltkrieges und die Verteilung der Ver antwortungen in ihr gilt es zu klären und die spätere For schung darüber vorzubereiten durch Aufstellung von Fragen,
die in der glatten Bülowschen Darstellung entweder über gangen oder verwischt sind.
Die Reform des preußischen Wahlrechts. (Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung, V, 1.)
ie und wann auch der Weltkrieg zu Ende gehen mag, des Einen sind wir im Innersten gewiß, daß wir unzerbrochen aus diesem Anprall der Übermacht hervor
gehen werden. Zwei Ursachenreihen danken wir das, einer technisch-wirtschaftlichen und einer ethisch-politischen. Die heutigen technischen Kriegsmittel geben der Defen
sive eines hochorganisierten Staates eine so ungeheure Kraft, daß auch eine physische Überlegenheit an Menschen und Kriegsmitteln sie nicht niederzuzwingen vermag. Die guerre d'usure, auf die die Gegner hoffen, rechnet
falsch.
Denn die Verteidigung kann so geführt werden,
daß der Angreifer verhältnismäßig mehr
leiden
muß
als der Angegriffene, und den Sieg, den er durch einen jahrelang fortgesetzten Zermürbungskrieg erhofft, am Ende
doch nicht mehr zu erzwingen vermag, weil ihm die Kraft zu entscheidenden Stößen inzwischen selber ausgegangen ist. Ebensowenig führt die wirtschaftliche Zermürbung
zum Ziele.
Die Not machte den Angegriffenen erfinderisch
84
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
und schuf mit ehernem Zwange einen ganz neuen Apparat staatssozialistischer, binnenländischer Mrtschaft, der zwar
mangelhaft genug ins Leben trat, aber sich mehr und mehr
zu vervollkommnen strebt. Hinter Heeresleistung und Mrtschastsleistung aber steht die moralische Kraft einer Nation, die in der höchsten aller politischen Fragen, in dem Kampfe um Existenz und Freiheit von ausländischer
Gewalt, nur Einen Willen heute hat. Ist es nicht die höchste aller politischen Aufgaben, diese mächtige Willenseinheit mit allen erdenklichen und möglichen Mtteln zum
Maximum ihrer
Stärke
hinaufzutreiben?
Mr haben
ungewöhnliche, früher nie für möglich gehaltene Mttel
jetzt ergriffen, um die Physische Arbeitsleistung des Volkes für den Kriegsbedarf zu verdoppeln. Sollte uns das nicht
den Mut geben, Ungewöhnliches zu wagen, um auch die innerliche Quelle dieser Arbeit, die hingebende Lust und
Liebe der arbeitenden Massen, zu reinigen und zu ver
tiefen, damit ein Strahl von höchster Kraft aus ihr ent springe? Der Grundgedanke des Gesetzes über den vater-
ländischen Hilfsdienst ist es doch schon, daß die hier prokla
mierte Arbeitspflicht aller Männer der Nation nur dann leisten kann, was sie leisten soll, wenn sie gem und freudig
geleistet wird. Die Arbeitenden wollen und sollen sicher sein,
daß ihre materielle Lage durch die Umstellung ihrer Arbeit sich nicht verschlechtere, daß ihre persönlichen und genossen
schaftlichen Freiheitsrechte nicht mehr, als für den vorüber gehenden Zweck unbedingt nötig ist, eingeschränkt werden; daß
eine
unparteiische
Kontrolle sie schütze.
ihre
Interessen
mitvertretende
Indem die Regierung auf diese
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
85
berechtigten Forderungen einging, hat sie das erste und
dringendste getan, um die neue Bolkspflicht auch volks tümlich zu machen.
Kann sie nicht noch mehr und noch
Wirksameres dafür tun? Die Dinge drängen zu heroischen
Entschlüssen auf allen Gebieten, um neue Quellen der Macht zu erschließen.
Man hat den polnischen Staat
aufgerichtet und die Bedenken, die man dagegen haben mußte, nicht leichtsinnig vergessen, sondem zurücktreten
lassen hinter das Gebot der Stunde. Man hat die Arbeit
in den Werkstätten zu einer Ehren- und Zwangspflicht aller arbeitsfähigen Männer in der Heimat gemacht, ohne die wirtschaftlichen Erschütterungen zu scheuen, die sie haben könnte. Hier wie dort bricht man mit alten un tauglich gewordenen Tradittonen und wagt den Sprung
in das Neue. Sollte man ihn nicht auch da wagen, wo der Sprung schon längst erwogen und wiederholt angekün
digt war?
Jetzt und gerade jetzt ist der psychologische
Moment gekommen, um an die sogenannte Neuorientterung unserer inneren Politik, voran an die Reform des preußischen Wahlrechts zu gehen und damit nicht nur einen Haupt
wunsch unserer arbeitenden Massen zu erfüllen, sondern auch ein neues starkes Band um sie und den nationalen Staat zu knüpfen. Am Anfang der Entwicklung, die zu einem preußischen
Berfassungsleben geführt hat, steht ein noch heute sehr gültiges Wort des Freiherrn vom Stein, das er im Jahre 1808
niederschrieb,
um
seine
Berfassungsabsichten
zu
begründen: „Ich glaube, man muß bei den ruhigen Deut schen, die, wie einer unserer Schriftsteller sagt, unter allen
86
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
Zeiten am meisten die Bedenkzeit lieben, eher Reizmittel anwenden als Opiate." Memals sollte man den Ursprung
des
preußischen
Berfassungsgedankens
vergessen.
Ver
fassung und Volksvertretung sollten eine Waffe im Kampfe
um die nationale Existenz, den Stein damals schon ent fesseln wollte, sein. Die Volksvertretung sollte die Volks
erhebung einleiten.
Volksvertretung und Volkserhebung
wie Glieder einer Kette oder wie Griff und Schwert zu sammengeschmiedet, — wie muß uns dieses eherne Be
griffspaar noch heute, und gerade in der heutigen Stunde
packen! In Waffen und Sturm geboren, wäre das preu
ßische Bersassungsleben für immer durch die Weihe ge heiligt worden, von den unwägbaren Werten umwittert
worden, die die allgemeine Wehrpflicht aus allen Niederun
gen des Kasementons und Kommißdienstes immer wiederhoch gerissen haben. Auch der Urheber des Gesetzes über die allgemeine Wehrpflicht und der noch heute geltenden Heeresverfassung, Boyen, hat damals 1808 schon seine
Stimme erhoben und den König gebeten, eine preußische Volksvertretung einzuberufen.
Auch seine Worte können,
wie altväterisch sie auch klingen mögen, heute wieder ein aufmerksames Ohr beanspruchen: „Noch belebt das Gefühl treuer Anhänglichkeit an Eure Königliche Majestät den
bei weitem größten Teil Ihrer Untertanen, und besonders
die niederen Stände sind, wenn sie liebreich ermuntert und geleitet werden, großer Aufopferung fähig. Es schlum-
mem nur die Kräfte, aber die Menschen im Osten sind nicht schlechter als die im Westen, und jedes Volk will nur seine eigene Behandlung, um es für Gott,
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
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König und Vaterland zu begeistern." Heute müssen zwar etwas andere Töne angeschlagen werden, denn für lieb reiche Ermunterung und patriarchalische Leitung ist der Mann aus dem Volke nicht mehr recht empfänglich. Dafür
ist seine Aufopferungsfähigkeit noch so lebendig wie damals und vielleicht doch inhaltsreicher und wertvoller, weil sie aus hellerer Bewußtheit, aus reiferem Persönlichkeits gefühl und aus stärkerer Spannung aller Lebensverhält nisse hervorgeht.
Aber wie hoch steht dafür der sozial
psychologische Instinkt der preußischen Reformer von 1808, der in den damaligen einfachen und anspruchslosen, bei nahe vegetativ dahinlebenden Menschen der niederen Volksschichten die schlummernde Kraft und die Anlage zu politischer Selbsttätigkeit und Freiheit erkannte und
entwickeln wollte. Und wie bedeutend ist ihr staatspsycholo
gischer Gedanke, die Fragen der Verfassung und des Exi stenzkampfes in Einem Schmelztiegel vereint zusammen
zuschmelzen. Für große gesetzliche Neuerungen ist der Moment der Entstehung oft geradezu entscheidend. Ob kleine oder große Gesichtspunkte bei ihnen obwalteten, ob bloße Routine oder staatsmännische Erwägung, abnö tigender Zwang oder selbständiger Entschluß zu ihnen hinführten, ob sie, wie der Philosoph sagt, heteronom oder autonom entstanden sind, das prägt sich ihnen oft fast unverlierbar auf. Dem preußischen Berfassungswerke
ist es nicht gut gewesen, daß es fast drei Jahrzehnte zu
spät zum Abschluß kam. aus sozialen und
Ein Mißtrauen, das nicht nur
politischen
Sonderinteressen, sondem
auch aus einer geistigen Enge und Verständnislosigkeit
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
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für die treibenden Kräfte der Zeit erwuchs, hat die Zeiten
verpaßt, wo eine Berfassung für Preußen organisch und eigenartig preußisch als Abschluß der Stein-Scharnhorst,
schen Reformen, als Ausdruck der wertvollsten Tendenzen
des preußischen Staatslebens hätte ins Leben treten können. Das preußische Berfassungswerk verlor dadurch seinen bodenständigen preußisch-deutschen Charakter, wurde hin
eingerissen in die westeuropäischen Berfassungskämpfe und
durch sie vielfach gefärbt und abgelenkt. Das importierte Gedankengut des westeuropäischen Liberalismus und die
überlieferten Machtbedürfnisse des Staates wurden in der Berfassung.von 1850 nur in einer widerspruchsvolleil
Legierung miteinander verschmolzen.
So kam ein etwas
gequältes Kompromiß zustande, das widerwillig gegeben
und
mißtrauisch ausgenommen den Keim zu endlosen!
Hader in sich trug. Erträglich wurde es eigentlich dann erst einigermaßen, als Bismarck den Überbau der nationalen Einheit und der Reichsverfassung darüber wölbte und
die ungelösten Probleme, die in der preußischen Verfassung steckten, dadurch verdeckt wurden und in den Hintergrund
traten.
An der Reichsverfassung hafteten nun alle die
unwägbaren Werte, die eine große, das Leben der Nation
frei
überschauende
staatsmännische
Tat
ihren
Werken
mitzugeben vermag. Sie wurde — ihrer wenig volkstüm lichen Sprache zum Trotz — volkstümlicher als die preußische Berfassung, und sie wurde es nicht nur deswegen, weil
das Staatsleben der geeinten Nation naturgemäß fortan
eine stärkere und tiefere Teilnahme erregte als das Staats leben selbst des größten Einzelstaates. Sondern sie wirkte
89
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
vor allem deswegen so überzeugend
und
gewinnend,
weil man ihre Großzügigkeit, ihre Elastizität, ihre lebendige
Entwicklungsfähigkeit
von
vornherein
spürte,
weil
sie
Raum bot für die freie Bewegung aller in ihr vereinigten politischen Kräfte. Auch sie war ein Kompromiß zwischen den
Interessen der Regierenden und der Regierten und ein Werk nicht nur Bismarckscher Weisheit, sondern auch Bismarckscher List. Auch sie hat, wie die preußische Ver
fassung, starke Bastionen der Macht aufgerichtet für die
Regierung, die oft genug heiß und leidenschaftlich um kämpft worden sind.
Aber diese Leidenschaften hatten
ein Ventil, — das allgemeine gleiche Wahlrecht.
Wenn
es zu Auflösungen des Reichstags und zum Appell an die Wählerschaft kam, so hatte ihr Ausspruch doch jedesmal eine
gewisse
ausgleichende
und
beruhigende
Mrkung.
Mr denken hierbei gar nicht an die ja doch niemals ganz
zu befriedigenden Wünsche der einzelnen Parteien, die auch durch Auflösungen und Neuwahlen nicht aus der
Welt geschafft werden können,
sondern bemühen uns
lediglich, die Dinge ganz von oben zu sehen.
Man hat
sich doch.nur zu fragen, wie es gegangen wäre, wenn wir im Reiche statt des jetzigen Wahlrechts das preußische Dreiklassenwahlrecht gehabt hätten. Gewiß, vielleicht wäre
es dann nie zu Auflösungen gekommen, die Regierung hätte in manchen Dingen ein bequemeres Leben gehabt und die durch das Dreillassenwahlrecht begünstigten Parteien erst recht.
Wer eine brennende Unzufriedenheit in den
Massen wäre entstanden, mit der verglichen alle bisherige
Agitation der Sozialdemokratie harmlos genannt werden
90
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
kann. Ein fortlaufendes Stoßen, Pochen und Hämmem von unten, eine in Wahrheit revolutionäre Grundstimmung
hätte sich entwickelt. Die Regierung aber hätte die freie
Stellung über den Parteien, die sie sich wünscht und die auch wir ihr wünschen, verloren, und wäre unentrinnbar an die konservativen Parteien gekettet worden. Alle schon
vorhandenen Gegensätze im Reiche hätten sich verschärft
und verbittert, das Reich wäre nicht zusammen, sondern auseinander gewachsen. Man denke nur an die Macht der Gegenströmungen, die sich in den übrigen Bundes
staaten, voran den süddeutschen, mit ihrem freieren Wahl recht und ihren liberalen Traditionen entwickelt haben würden. In den Bundesrat wäre die Spaltung getragen
worden.
Hätte
die
Reichsregierung
die
Sozialreform
mit so freiet und staatsmännischer Abwägung der miteinan
der auszugleichenden Interessen, wie es doch im großen und ganzen gelungen ist, durchführen können? Die Wirt schaftspolitik hätte einen ganz exttemen Charatter erhalten,
die Heeresverstärkungen, die Flottengründung hätten, —
um von der einstigen Abneigung einzelner Konservattver gegen die „gräßliche Flotte" ganz zu schweigen, — niemals jenes Maß von nationaler Resonanz erreichen können, dessen sie bedurften.
Nach aller historischen Erfahrung,
wie sie uns die Zeit der Restauration, der Juli- und Februar
revolution liefert, darf man urteilen, daß auch die aus wärtige
Politik,
die
Geltendmachung
unserer
Lebens
und Machtinteressen in der Welt, schwer gelitten haben
würde unter der inneren Spannung, die die Regierung gezwungen haben würde, alle Kraft auf die mühsame
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
91
Verteidigung des herrschenden, durch und durch unpo pulären Systems zu konzentrieren. Die rivalisierenden fremden Großmächte würden im Deutschen Reiche einen der Revolution entgegenreifenden Staat gesehen und ihn danach eintaxiert und behandelt haben. Jeder einsichtige
deutsche Staatsmann hätte danach streben müssen, aus
solcher nach innen wie nach außen drückenden und pressen
den Lage herauszukommen.
Mer Wahrscheinlichkeit hätte
man es doch nicht, wie einst das mit seinen Bankiers, Fabrikbesitzern und Zweihundertfranks-Wählern in den Tag hineinlebende Julikönigtum, bis zum Äußersten kom men lassen, sondern das konservative Herrschaftssystem abzubauen begonnen. Aber mit wieviel Krisen und Ärger
nissen wäre es geschehen.
Wieviel weiser und richtiger
war es, es von vornherein im Reiche überhaupt nicht aufzurichten, sondern den Tropfen demokratischen Oles, dessen es bedurfte, sogleich herzugeben.
Wir beantworten also die alte Streitftage, ob Bis
marck recht getan hat mit der Verleihung des allgemeinen Reichstagswahlrechts, mit einem runden Ja. Wir tun
es im vollen Bewußtsein aller Mängel dieses Wahlrechts, mit voller Kenntnis aller Unerfreulichkeiten, die es ge bracht hat. Präsentiert man die Rechnung dieser Mängel
und Schäden, so kann man sofort eine überreichliche Gegen
rechnung der Schäden jedes anderen Weges präsentieren. Man könnte sich ja die Möglichkeit denken, daß Bismarck einen Mittelweg zwischen demokratischem und Dreiklas senwahlrecht gegangen wäre, etwa die Zahl der Reichs
tagswähler ähnlich beschränkt hätte, wie es noch heute
92
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
England mit seinen Parlamentswählern tut.
Aber jede
Beschränkung würde bei den Ausgeschlossenen die bittere Empfindung erregt haben, vom Reiche überhaupt aus
geschlossen zu sein, Staatsbürger zweiter Klasse, lediglich Objekt eines Herrschastsstaates zu sein. In England wirken
andere freie Einrichtungen und Eigenschaften des Staats
und Volkslebens dieser Empfindung entgegen.
Deutsch
land aber mit seinen starken monarchischen, militärischen
und bureaukratischen Einrichtungen
bedurfte notwendig,
als es sich zum volleren und breiteren Nationalstaate emporentwickelte, eines entsprechend starken Gegengewichtes,
um das Vertrauen der Masse nicht zu verscherzen.
Man
wird einwenden, daß es ja doch nicht erreicht habe, sie
zufrieden zu stellen, daß man sie, wieviel man auch gewähren möge, nie befriedigen werde, bis man nicht den ganzen
Staat an sie ausgeliefert habe.
Das ist fast das Haupt
argument, mit dem man sich in konservativen Kreisen
stark zu machen sucht gegen jedwede demokratische Konzession. Ein rechtes Argument für den kurzsichttgen und egoistischen
Durchschnittsmenschen, der seine Behaglichkeit nicht opfern
will.
Der Staatsmann aber hat lediglich zu fragen, wie
er sich gegenüber
elementaren Strömungen des Volks
lebens verhalten soll.
Er kann sie durch alle Deichbauten
nicht zwingen, sich in einen ruhigen Teich zu verwandeln,
wohl aber kann er sie zu einem ruhigen Abfluß zwingen. Und
das
ist
geschehen
durch
das
Reichstagswahlrecht.
Auch wir legen es hier nicht darauf an, die Zufriedenheit und volle Zustimmung der Demokratie und Sozial
demokratie zu gewinnen.
Mr argumentieren nicht vom
93
Die Reform des preußischen Wahlrechts. Boden
demokratischer
Interessen aus.
Ideale,
sondern
rein
staatlicher
Deutschland ist nun einmal nicht zur
reinen Demokratie geschaffen. In seinen bürgerlichen Schichten und in der ganzen bäuerlichen Bevölkerung wurzelt die monarchische Überlieferung so tief, daß die verständigen und realpolitisch denkenden Sozialdemokraten
schon jetzt mit ihr zu rechnen begonnen haben und wie zum Großherzog, so auch zum Kaiser den Weg zu finden wissen werden. Auch aristokratische Lebensauffassung ist trotz
aller demokratischen Massenbewegung so tief eingesenkt in deutsches Empfinden, so fest gestützt nicht nur durch unsere
gesellschaftliche Struktur und Sitte, sondem auch durch den Geist, den unsere höchste in Goethe gipfelnde Kultur ausströmt, daß, wenn man es nur richtig anfängt und die natürlichen Hergänge nicht stört, auch unsere Demo kratie aus sich selber neue Aristokratie entbindet und damit
organisch hineinwächst in die alte Gesellschaft und die nationalen Kulturzusammenhänge. Die allerstärkste Stütze der Monarchie aber ist der Zwang unserer politisch-geogra
phischen Lage, die stete Bedrohung von Ost und West, der nie aus der Welt zu schaffende Doppeldruck günstiger
gelegener Groß- und Weltmächte auf unsere Grenzen und Auslandsinteressen.
Nur eine fest in sich beruhende Mon
archie gibt uns die Bürgschaft straffer Zusammenhaltung unserer Machtmittel und besonnen-fester, weder schwäch
licher noch chauvinistisch extravaganter Außenpolitik.
Be
kannt ist das Wort Seeleys, daß das Maß von Freiheit
im Staate umgekehrt
Grenzen
lastenden
proporttonal
sei
militärisch-polittschen
dem
auf
Drucke.
den
Man
94
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
darf es freilich nicht mißbrauchen zur Rechtfertigung eines absolutistischen Militarismus. Richtiger und zugleich schlich ter müßte der Satz so lauten, daß das Maß der Machtmittel
und Machtzusammenfassung im Staate proporttonal sein müsse dem auf seine Grenzen ausgeübten Drucke. Die Machtzusammenfassung wird durch die Monarchie am stärksten gesichert.
Zu den Machtmitteln eines Staates
aber gehören nicht nur Soldaten und Kanonen und Disziplin,
sondem auch solche moralische Qualitäten einer Natton, die nur in der Luft sittlicher ünd polittscher Freiheit ge deihen können. Auch politische Freiheitsrechte können zu
Waffen im Kampfe um Macht, Unabhängigkeit und Exi stenz werden, und das Maximum polittscher und militärischer
Macht erreicht ein Nattonalstaat wie Deutschland dadurch,
daß er den Macht- und Freiheitsgedanken in sich vereinigt und die Grundmauern der Macht und Autontät, deren
er bedarf, zwar fest und graniten, aber so weit und ge räumig anlegt, daß das ganze flutende Leben einer bis in seine untersten Schichten von Selbstbewußtsein und
Persönlichkeitsstolz erfüllten Natton sich darin frei und mit Freuden entfalten kann. Die Formen und Grade dieses Verhältnisses von Autontät und Freiheit können
und müssen wechseln mit den veränderten Zeiten, aber
der synthettsche Grundgedanke drängt sich, seitdem über haupt ein polittsches Nationalleben bei uns erwacht ist,
in allen großen Krisen des Staates mit elementarer Gewalt
immer wieder auf und ringt nach Gestaltung. Es ist der gemeinsame Gedanke der Stein-Schamhorstschen Refor men und der Msmarckschen Reichsgründung, und selbst
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
95
der mit halber Kraft unternommene Versuch von Rado
witz 1849, die Revolution innerlich zu überwinden durch Aufrichtung eines konstitutionellen Nationalstaates, erhält
dadurch
seine
geschichtliche
Bedeutung
als
Mittelglied
einer Entwicklungsreihe von wunderbarer Einheitlichkeit.
Meder also ist nun nach einem halben Jahrhundert der geschichtliche Moment gekommen, für den Bund von
Macht und Freiheit eine neue Form zu finden. Mr bringen
den
tieferen
Sinn
der
Bismarckschen
Reichsgründung
wieder zu Ehren, indem wir die Umwallungen des freien Nationallebens, die er schuf, etwas weiter hinaus legen. Der Kem des Problems ist das Verhältnis des preußischen
Staates zum Deutschen Reiche. Die Bismarcksche Lösung
dieses Problems aber war, wie wir jetzt immer deutlicher erkennen, nichts anderes als ein geniales Provisorium;
eine Entwicklungsstufe, auf der schon das tatsächliche Leben und die unmerkbar sich fortbildende ungeschriebene Ver
fassung nicht stehen geblieben sind.
Bismarck stellte den
preußischen Staat, so wie er war, als Zitadelle in das Staatsleben des Reiches hinein. Ihn und seine Festigkeit
kannte er, aber nicht so genau kannte er die noch uner probten Kräfte, die sich im Reiche auswirken sollten. Man
versteht es, daß er deshalb Sorge trug, alle Macht- und
Herrschaftsmöglichkeiten, die in den Rechten des preußischen Königs und den Handhaben der preußischen Verfassung lagen, sorgfältig zu bewahren. Zur Zeit des norddeutschen Bundes hat er wohl vorübergehend an „eine Vereinfachung
des Räderwerkes", vielleicht dabei auch an eine Angleichung des von ihm damals bekanntlich aufs schärfste vemrteilten
96
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
preußischen Dreiklassenwahlrechts an das Reichstagswahl recht gedacht, aber auf dem vergrößerten Boden des Reiches lieferte ihm gerade der Dualismus von Abgeordnetenhaus
und Reichstag ein für ihn unschätzbares Herrschaftsmittel, — denn seine und des preußischen Staates Frontstellung
veränderte sich zugleich auf ihm ganz wesentlich. Sein ur
sprüngliches System war auf einen Bund der preußischen
Krone mit der deutschen Nationalbewegung gegangen — der demokratisch gewählte, unitarische Reichstag sollte der preußischen Monarchie und dem Kaisertum als Gegen
gewicht und nötigenfalls als Waffe gegen den Partikularis-
mus der Einzelstaaten dienen; umgekehrt selbstverständlich
auch der Bundesrat als Gegengewicht gegen eine zu demo kratische Entwicklung des Reichstages.
Diese
doppelte
Frontstellung verwandelte sich in eine einfache Frontstel lung durch die loyale Einfügung der Bundesstaaten in
den Reichsorganismus und durch das Aufkommen der neuen Massenparteien des Zentrums und der Sozialdemo
kratie.
Gegenüber einer oppositionellen Reichstagsmehr
heit Mndthorst-Richter-Grillenberger wuchs das seit den 80 er Jahren konservativ zusammengesetzte Abgeordneten
haus für die Regierung zum Range einer mächtigen Hilfs bastion heran. Kein deutscher und preußischer Staatsmann
konnte an eine Reform des Dreiklassenwahlrechts denken, solange die großen Macht- und Lebensbedürfnisse des Reiches, die Heeres-, Flotten- und Kolonialforderungen in Gefahr standen, von den Oppositionsparteien im Reichs
tage geleugnet oder verstümmelt zu werden. Mr wollen
uns hier nicht zu tief in die Frage einlassen, wie diese fatale
97
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
Atmosphäre des gegenseitigen Mißtrauens zwischen Regierung und Opposition entstanden ist und wer — denn die Schuld lag auf beiden Seiten — das größere Maß der
Schuld daran trug. Nach unserer Ansicht wiegen die Sünden der damaligen Opposition allerdings schwerer als die der Regierung.
Aber wie es immer geschieht, so arbeiteten
nun die Extreme für einander. Je schärfer der Würd von links wehte, um so schärfer wurde der Gegenwind von
rechts.
In diesen jahrzehntelangen Kämpfen gegen eine
zwar nicht immer gleichmäßig feste, aber in kritischen Momen
ten sich immer wieder zusammenschließende oder doch dro
hende Kampfesgemeinschaft von Zentrum, Linksliberalismus und Sozialdemokratie wuchs auch die Kampfes- und Hilfs gemeinschaft der Regierung und der Konservativen inner
lich neu zusammen, und der konservative Einfluß in Preußen
wie im Reiche und damit auch im letzten Grunde das Drei-
llassenwahlrecht konnten sich deswegen behaupten, weil der Reichstag dem Reiche nicht gab, was das Reich von der Vertretung der Nation verlangen konnte. In dieser Lage
konnte also das preußische Dreiklassenwahlrecht als ein unentbehrliches Korrektiv des Reichstagswahlrechtes er scheinen. Wir sprechen diesen Satz ruhig aus, ohne zu
fürchten, eines Widerspruches geziehen zu werden, wenn wir gleichzeitig daran festhalten, daß es richtig und poli tisch weise war, trotzdem das Reichstagswahlrecht nicht anzu tasten. Das Reichstagswahlrecht hat die Übel, mit denen man im inneren Leben des Reiches zu kämpfen hatte,
nicht hervorgerufen, sondem nur entschleiert und fühlbar gemacht im Tagesbetriebe der Gesetzgebung. Mr bleiben Mei necke, Probleme des Weltkriegs.
7
98
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
dabei, daß diese Übel auf die Dauer nur ärger geworden wären, wenn man das Reichstagswahlrecht beseitigt hätte.
Aber so eigentümlich verschränkt war nun die Lage, daß
derjenige, dem Reich und Nation int ganzen am Herzen lagen, weder dem Reiche das preußische, noch dem preußi schen Staate das Reichstagswahlrecht wünschen konnte. Wer das Reichstagswahlrecht gründlich reformieren wollte,
opferte die Zukunft dem Bedürfnis des Augenblicks. Wer
das preußische Wahlrecht gründlich reformieren wollte,
stand in Gefahr, die unabweisbaren Bedürfnisse des Augen blicks einer unsicheren Zukunftshosfnung zu opfern. Unsere
von großen Dualismen durchzogene Geschichte hat sich die Ironie solcher verzwickten Situationen nicht selten geleistet. Die Mitlebenden fteilich faßten sie nichts weniger
als heiter ironisch, sondern die einen verbissen und trotzig,
die anderen dumpf und resigniert auf.
Schließlich aber
können zwei ineinander gefahrene Wagen nicht ewig die Landstraße versperren, und das gesunde Leben einer Nation
wird auch mit ihnen fertig. Bon zwei Seiten her kam die Wendung zu einem
anderen und besseren Zustande, setzten Entwicklungen ein, die auf eine Lösung des Dilemmas hindrängten. Die eine ging von den Bedürfnissen des Reichs und der Reichs regierung, die andere von den Parteien aus.
Ungewollt,
aber durch elementare Gewalt ist das Staatsleben des
Reiches immer unitarischer geworden.
Kein Staatsmann
hat daran gedacht, die föderalistische Struktur des Reiches planmäßig zu ändern, die Rechte des Bundesrates bewußt zu verkürzen. Sie bestehen noch heute genau so, wie Bis-
99
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
marck sie mit den Regierungen der Einzelstaaten verein barte, und doch hat sich der Schwerpunkt der Reichsgesetz gebung völlig verschoben.
Nicht im Bundesrate, sondern
in den Reichsämtern entstehen die meisten der Entwürfe
für die Gesetze, die der Bundesrat dem Reichstage vorlegt,
und für die Verordnungen, die er erläßt. Der Bundesrat
kann diese Vorarbeit der Reichsämter gar nicht mehr entbehren, aber er >vird dadurch von ihnen nun doch tat
sächlich sehr abhängig.
Die Reichsbureaukratie wird so
zum Hebel des Unitarismus.
Sie kann gar nicht anders,
als unter dem Gesichtspunkte des einheitlichen Reichs
ganzen denken und wollen, arbeiten und entwerfen. Und
sie hat ihr einheitliches Zentrum im Reichskanzler, dem
Vorgesetzten der Staatssekretäre.
Zu Bismarcks Zeiten
war es seine mächtige Persönlichkeit, die alle Fäden im
Reiche und zwischen Reich und Preußen zusammenhielt. Jetzt ist im Reiche selbst ein mächtiger Organismus von
Zentralbehörden erwachsen, der nun durch seine Schwer kraft und durch die Bedeutung und die Fülle seiner Arbeit die Dinge im Reiche zusammenhält. Der Reichskanzler bürgt durch seine übergeordnete Macht dafür, daß inner halb dieses Organismus keine zwiespälügen Tendenzen
aufkommen, aber die Last, die er früher trug, wird jetzt von zahlreicheren Schultern mit getragen.
Und die Gesamt
macht dieses Reichsorganismus, für den der Name „Reichs
leitung" aufgekommen ist, ist immer noch im Steigen, und zumal während des Krieges, der ihm ganz neue ungeahnte
Aufgaben und Erweiterungen gebracht hat.
Ein solcher
Organismus aber will, das liegt in seiner Natur, sich dehnen
7*
100
Tie Reform des preußischen Wahlrechts.
und strecken, will nicht nur arbeiten, sondern auch frei und aus eigener Wurzel heraus arbeiten. Das bedeutet nicht,
daß er nach bureaukratischem Absolutismus streben muß. Im modernen Staate kann es keine einzelne absolute Ge walt mehr geben, sondem Ausgleich und Kompromiß und Suchen nach der Diagonale der Kräfte ist in ihm die stete
Losung. Aber dieser Ausgleich darf nicht zu schwer gemacht
werden; die Zahl der Räder, die ineinander greifen, darf
nicht zu groß werden.
Soll der Steuermann nicht nur
nach rechts und links, sondern auch hinter sich immer Um schau halten, um Zusammenstöße zu vermeiden, so arbeitet er unsicher und schlecht.
Unsere Reichsleitung hat gerade
genug zu tun, wenn sie ihre Arbeiten auf die Billigmlg des Monarchen und auf die Fühlung mit Bundesrat und
Reichstag einstellt. Aber sie darf nicht durch einen preu ßischen Sonderwillen in ihrem schweren Werke gehemmt werden. In der preußischen und der Reichsregierung darf,
wenn das ganze verwickelte Getriebe gut funktionieren
soll, nur ein einziger Geist herrschen und muß ein einheit
licher Wille imstande sein, sich durchzusetzen. Unsere jetzigen Verfassungsformen aber geben denr Reichskanzler als preußischen
Ministerpräsidenten
geringere
Rechte
über
seine Ministerkollegen, als er sie gegenüber den Staats sekretären des Reiches ausübt. Das erschwert allein schon die Ausgleichung zwischen preußischem und Reichswillen.
Selbstverständlich wünschen
wir keine völlige Ertötung
des preußischen Regierungswillens, auch keine Vernichtung der preußischen Staatsindividualität. Es ist unumgäng lich und durchaus in der Ordnung, daß alle wichtigeren Ent-
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
101
würfe der Reichsämter, bevor sie an den Bundesrat gehen,
dem preußischen Staatsministerium zur Prüfung vorge legt werden.
Ganz unvermeidlich werden sich dabei ost
besondere preußische Auffassungen den an den obersten
Reichsstellen
gewonnenen
Auffassungen
entgegenstellen.
Sind diese Bedenken von Gewicht, so wird der leitende Staatsmann, der sich durch seine Doppelstellung als Kanz ler und preußischer Ministerpräsident auch für das besondere
preußische Interesse verantwortlich fühlen muß, sie zweifel los berücksichtigen. Aber er darf nicht in die Lage kommen,
einem preußischen Ressortminister, der sich auf die Mehrheit
des Staatsministeriunis stützt, nachgeben zu müssen. Zu for dern ist also, daß er allein schließlich darüber entscheide, welche
der beiden streitenden Auffassungen der höchsten Entschei dung des Monarchen zu unterbreiten sei und dadurch zur Grundlage für die Instruktion der preußischen Bundesrats stimmen werde.
Solange er das Vertrauen des Monarchen
überhaupt besitzt, muß er seine allgemeine Politik auch gegen versteckten Mderstand einzelner preußischer Minister durchzu
setzen imstande sein und, wie es schon zu Bismarcks Zeiten der Fall war, stark genug sein, widerstrebende Ministerkollegen zu Falle zu bringen. Denn es ist schlechterdings unleidlich
und unerträglich, daß die allgemeinen Intentionen des
Kanzlers durch einzelne preußische Ressortminister gehemmt werden können.
Beseitigt man diese Möglichkeiten, so
übt man Machtzusammenfassung an der richtigen Stelle. Unser Berfassungsleben steht, wie wir oben sagten, unter dem Zwange unserer politisch-geographischen Lage und verlangt eine ganz starke, in sich" einheitlich geschlossene
102
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
monarchische Spitze.
Gerade als überzeugter Monarchist
verfechte ich den Satz, daß der Monarch inmitten der mannig fachen Gewalten und komplizierten Verhältnisse des deut
schen und preußischen Staatslebens nur dann wahrhaft stark ist, wenn auch sein Regierungswille ganz einheitlich
und geschlossen sich äußert, wenn sein preußischer wie sein
deutscher Witte völlig zusammengeschmolzen erscheinen. Mcht also soll man, wie noch jetzt in linksliberalen Kreisen vielfach geschieht, die Übertragung der kollegialischen Mi nisterverfassung auf das Reich, sondern umgekehrt fordern, daß der Mnisterpräsident zu den Ressortministern ähnlich
gestellt werde, wie der Kanzler zu den Staatssekretären. Das heißt ritornar al segno, denn zur Zeit des Norddeutschen
Bundes hat das schon Bismarck verlangt und darin das Ideal des zwischen Preußen und dem Bunde herzustellenden Berfassungszustandes erblickt: „Ich bin so weit entfernt", sagte er am 16. April 1869, „die Hand dafür zu bieten, daß
diese fehlerhafte Einrichtung (der kollegialischen Minister verfassung) auf den Bund übertragen werde, daß ich viel
mehr glaube, Preußen würde einen immensen Fortschritt machen, wenn es den Bundessatz akzeptiere und nur einen einzigen verantwortlichen Minister hätte."Die starke Monarchie ist heute auf eine starke, auf eine in Preußen
und im Reiche gleich starke Premierministerschaft angewiesen. Daß ein Majordomat daraus erwachse, haben die Hohen-
zollern, meine ich, nicht zu fürchten.
So eigentümlich also hat sich die Verfassungsentwick lung im Reiche seit Bismarck vollzogen, daß sie, obwohl
mit Naturgewalt hinausstrebend über die bundesratlichen
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
103
Wege, die er der Reichsgesetzgebung gegeben hatte, und breit sich entladend in einem mächtigen und einflußreichen
Organismus von Reichsämtern, nun eben durch dessen Schwergewicht dazu gedrängt wird, neue Einheit und
Konzentration zu suchen und die Hemmungen zwischen preußischem und Reichswillen dadurch zu überwinden,
daß die Machtstellung, die Bismarck in Preußen und dem Reiche tatsächlich schon besaß, nun auch organisch und verfassungsmäßig wiederhergestellt wird. Das könnte in gewissem Umfange erreicht werden schon durch eine Än
derung der Bestimmungen von 1890, die das Verhältnis
des Ministerpräsidenten und der Mnister zum Monarchen
regeln. Aber das würde allein noch nicht genügen. Denn neben ihren vom Monarchen ihnen zugewiesenen Rechten gegenüber dem Mnisterpräsidenten haben die preußischen
Ressortminister noch zwei andere Quellen der Macht: die Zusammensetzung der preußischen Verwaltungsbehörden
und das nach dem Dreiklassenwahlrechte gewählte preu ßische Abgeordnetenhaus.
Auf dessen konservative Mehr
heit stützen sie sich,-wenn sie ihr Ressort in konservativem Geiste verwalten. Dieser Zusammenhang von konservativer Mehrheit und konservativer Verwaltung ist ganz gewiß
nicht in jedem Augenblicke wirksam und nicht so eng und
augenfällig, als er es in parlamentarisch regierten Staaten sein kann.
Auch
konservativ
gesinnte
Mnister wollen
Pflichtgemäß und bewußt dem Staatsinteresse und nicht dem Parteiinteresse dienen. Mer ob es ihnen immer gelingt, ist eine andere Frage. Und durch die homogene Zusammen
setzung der höheren Berwaltungsbeamtenschaft in Preußen
104
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
und durch die sozialen Bande, die sie und insbesondere
die Landräte mit dem konservativen Grundadel verknüpfen, ist der konservative Einfluß im preußischen Beamtenstaate
nun einmal notorisch sehr mächtig. Zwischen dem Geiste, der in den Reichsämtem lebt und dem Geiste, der in den preußischen
Provinzial-
und
Kreisverwaltungsbehörden
herrscht, ist eine ähnliche Kluft wie einst zwischen den Organen
des modemen Mlitärstaats, die Friedrich Wilhelm I.
ausbildete, und den altständisch-konservativ gefärbten „Re
gierungen" des ancien regime Preußens.
Damals wie
heute stoßen dabei zentrale und partikularistische Tendenzen
gegeneinander, nicht gerade immer in offenem Kampfe
und oft nur mit einem latenten Mißtrauen gegeneinander.
Wer man weiß ja, daß Herr von Oldenburg, als er die Verordnungen der Reichsbehörden über die Kriegswirt schaft
kritisierte,
mit
Befriedigung
zugleich
vermerkte,
daß ihre Ausführung in der Hand der preußischen Land räte liege. (Sine Anekdote läuft um von einem adligen preußischen Regierungsassessor, der vor der Wahl stand,
seine Laufbahn als Hilfsarbeiter im Reichsamt des Innern oder in der preußischen Provinzialverwaltung zu beginnen.
Ein konservativer Verwandter riet der Familie ab: „Was, der Junge will in das Reichsamt des Innern? Das ist ja sozialistisch verseucht!" Wir bürgen nicht für die wörtliche
Richtigkeit der Anekdote. vergnügtes
Verständnis
Schon daß sie entstehen und finden
konnte,
beleuchtet
die
Gegensätze.
Diese drei BoNwerke der Macht also hat das preußisch
konservative Wesen: die selbständige Stellung der preußi-
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
105
scheu Ressortminister gegenüber dem Ministerpräsidenten,
den Geist des preußischen Berwaltungsbeamtentums und das Dreiklassenwahlrecht.
Es wäre utopisch zu hoffen,
sie alle drei rasch und vollständig zu erobern, denn man wird sie mit Löwenkraft verteidigen.
Und obgleich ich
brennend wünschte, daß sie über kurz oder lang einmal erobert würden, muß ich doch gleich den Wunsch hinzu fügen, daß dieser Kampf zwar mit größter Kraft, aber ohne Haß und ohne den Willen, den Gegner radikal zu
vernichten, nicht mit Parteigesinnung, sondern mit Staats gesinnung geführt werde.
Denn die preußischen Konser
vativen sind ein Element von einer geschichtlichen Lebens
kraft und Fruchtbarkeit, das wir auch in einem freieren Staatsleben nicht missen wollen.
Nur ihre ins Kraut
geschossene Macht gilt es zu beschneiden, allerdings mit
ganz energischer Schere. Denn sie hemmt auf den Spitzen des Staatslebens die freie Entfaltung eines einheitlichen
Reichswillens und sie hemmt in den Tiefen und Grund lagen des Staatslebens das Schönste und Heilvollste,
was der Krieg uns im Jnnem beschert hat — die Gewin nung der Arbeitermassen für den nationalen Staat, die
Nationalisierung der ganzen Nation.
Und damit kommen wir zu der zweiten Entwicklungs reihe, die darauf hindrängt, die Reibungsflächen zwischen Preußen und dem Reiche aus der Welt zu schaffen. Das
Dreillassenwahlrecht war, wie wir sehen, nur soweit und insofern ein Korrektiv des Reichstagswahlrecht, als der Reichstag
der Reichsregierung
keine
unbedingt
sichere
Stütze in den großen Grund- und Machtftagen des nationa-
106
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
len Daseins bot und die stärkste der deutschen Parteien ihre internationalen Ideale höher zu stellen schien, als die gemeinsamen nationalen Interessen aller Parteien. Lang
sam, Schritt für Schritt und nicht ohne Rückschläge da zwischen hat sich dieser Zustand schon vor dem Kriege zu
wandeln begonnen. Zentrum und Linksliberalismus sind mehr und mehr hineingewachsen in die nationale Arbeits
gemeinschaft, und schließlich hat auch die Sozialdemokratie
am 4. August 1914 sich ein Herz zu ihr gefaßt und hat in
ihrer überwiegenden Mehrheit die Konsequenzen dessen, was sie an diesem Tage tat, mutig und einsichtig auf sich genommen.
Warum rühmen wir denn den 4. August
als einen der Höhetage unserer nationalen Geschichte? Daß die übrigen Parteien die Kriegskredite bewilligen würden, war selbstverständlich, nnd von ihrer Tat war
kein Aufheben zu machen. Wenn aber der verlorene Sohn in das Vaterhaus zurückkehrt, so hat die Familie aller
dings das Recht, einen Feiertag zu begehen, — auch wenn
der ältere tugendhafte Bruder hinterdrein etwas sauer
und eifersüchtig darein schauen sollte. Die Sozialdemokraten, so hieß es hinterher wohl hier und da, können keinen Lohn für eine eigentlich selbstverständliche Pflichterfüllung be anspruchen. Mer hier handelt es sich auch nicht um Lohn
und Dank, sondern um eine politische Notwendigkeit, die allerdings auf sittlichem Grunde ruht.
Staatsethik, nicht
Privatethik hat hier zu sprechen. Man darf unter keinen Umständen Einrichtungen auftecht erhalten, die
einem
großen Teile der Bürger die Freude am Staate vergällen
müssen. Mochten sie notwendig sein, solange die von ihnen
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
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Getroffenen sich selber nicht als Bürger des nationalen
Staates im vollen Sinne fühlten, so müssen sie nun so rasch wie möglich weggeräumt werden.
Den Pfahl im
Fleische sitzen zu lassen, ist unklug und unrecht zugleich.
Oder will man durchaus den revolutionären Stachel des
Klassenkampfes, den dieser früher hatte, verewigen? Sollten wir nicht froh sein, aus dem alten Elend jetzt endlich heraus zukommen? Mr können in Zukunft vor unseren sozial
demokratischen Volksgenossen nicht mehr die Augen auf
schlagen, wem: wir ihnen, die in heroischer Anstrengung mit allen übrigen Schichten der Nation gewetteifert haben, auch ferner die politische Gleichberechtigung im preußischen Staatsleben versagen.
Aber, so sagt man, sie leugnen die monarchische Grund
lage dieses Staates. Der monarchische Gedanke darf doch nicht zum Geßlerhute vergröbert und zur dogmatischen
Glaubensformel veräußerlicht werden.
Auch wir haben
den Wunsch, daß die Sozialdemokratie den Anschluß an die Monarchie noch einmal ebenso finden möchte, wie sie den Anschluß an die Nation gefunden hat. Dann lerne man aber auch durch die Erfahrung von der Art, wie sie national geworden ist.
Solange man Hurrahpatriotismus
von ihr verlangte, bockte sie, und gegen die fertigen Formeln des von den gebildeten Schichten entwickelten nationalen
Ideals sträubte sie sich, — denn sie hatte die Lebensvor gänge ihrer Entstehung nicht mit erlebt. Zu allem Be
kennen, das Wert haben soll, führt der Weg durch das Erleben, durch Zweifel und Kritik, durch alle Unfertig keiten und Widersprüche des wirklichen Lebenskampfes.
108
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
Und ehe die bewußte Überzeugung heranreift, muß sie
durchs Unbewußte hindurch, muß sie wie die Pflanze im Mauerwerk langsam und instinktiv das Hindernde beiseite drängen und dem nicht zu Verdrängenden sich
anschmiegen.
Kein Gesinnungswechsel ist gewaltsam zu
erzwingen, aber die süllwirkende Lebens- und Arbeits gemeinschaft kann ihn hervorbringen.
Man fordere also
von der Sozialdemokraüe kein monarchisches Credo, man sei zufrieden mit ihrer loyalen Mitarbeit am Staate und
rechne mit festem Vertrauen darauf, daß eine weitherzige, volkstümliche und aufgeklärte Monarchie auch ihre Gegner auf den Weg von kühler Achtung zu warmer Anerken
nung schließlich führen wird.
Und
vor allem räume
man die Schranke des Dreiklassenwahlrechts hinweg, die zwischen der Monarchie und den arbeitenden Massen des Volkes steht.
Denn, wie die Dinge heute liegen, stützt
sie nicht, sondern hindert sie den monarchischen Gedanken, sich die Köpfe zu erobern. Er ist stark genug bei uns, um in der freien Bewegung der Ideen sich zu behaupten und
gerade in ihr noch stärker zu werden. Auch Treitschke hat als junger Mensch einst die Republik für die vemünfügste
Staatsform erklärt. Der bürgerliche Republikanismus der vormärzlichen Zeit ist überwunden worden nicht durch
Metternich und die Reaktion, sondern durch die Leistungen der nationalen Monarchie.
Nicht anders kann jetzt der
sozialistische Republikanismus überwunden werden.
Und
mag er theoretisch selbst noch recht lange sein Dasein fristen. Auch die klerikalen Katholiken haben höchst bedenkliche Theorien über das Verhältnis von Staat und Kirche, die
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
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kein Staat anerkennen kann und die noch viel tiefer wur
zeln als die republikanischen Theorien der Sozialisten. Der Kulturkampf hat sie nicht erschüttert, aber der modus vivendi, den wir mit der Kirche fanden, hat sie für uns
unschädlich gemacht.
Ein gesunder Organismus vermag
so mancherlei Bazillen in sich einzukapseln. Es ist im tiefsten Grunde also das starke und frohe Vertrauen auf die Gesundheit unserer Staats- und Volks gemeinschaft, das uns den Mut gibt, ein denukratisches
Zugeständnis von unserem Staate zu fordern. Wir fordern es nicht, um eine Etappe auf dem Wege zur einförmigen Demokratie zu erzwingen, sondern um die Mischung der
Kräfte, deren unser vielformiger Staat bedarf, wieder in ein gesundes Gleichgewicht zu setzen.
Darum verbinden
wir mit der Forderung an den Staat auch eine Forderung an die Demokratie. Wir verlangen von ihr, daß sie die Er
fahrungen dieses Weltkrieges, der auch die Staatsformen auf die Wagschale gelegt hat, einmal ganz unbeschwert durch alte liebgewordene Überzeugungen nachprüfe, gleich
sam als ob sie mit reifem Urteile zum ersten Male an ent ganz neues
Problem herantrete.
Mr wiederholen es
noch einmal, nur eine sehr starke und fest in sich beruhende Monarchie gibt uns die Bürgschaft straffer Zusammenfas sung der Machtmittel, deren wir in unserer immer und
ewig gefährdeten Lage bedürfen.
Wohl faßt auch heute
die französische und englische Demokratie die staatlichen Machtmittel straff zusammen, aber sie hat es leichter wie wir, sie schöpft aus einem breiteren und ungefährdeteren Reservoir, sie hat den Rücken frei und stützt sich auf die
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Die Reform des preußischen Wahlrechts.
Hilfsquellen der ganzen Welt.
Der Gebrauch aber, den
sie von diesen Machtmitteln gemacht hat, müßte unsere deutschen Demokraten irre machen an dem absoluten Werte der reinen Demokratie überhaupt. Denn die wildesten und leidenschaftlichsten Exzesse einer überspannten Macht politik findet man heute bei unseren Gegnern, und zwar nicht ausschließlich, aber zum großen Teile erklärt sich
das aus ihren Berfassungsformen.
Parlamentarische Mi-
nisterien haben nun einmal nicht die Stabilität und Kon tinuität, die den Regierungen des monarchischen Konsti tutionalismus eigen ist. Und auf keinem Gebiete der
Politik ist Stabilität und ruhige Festigkeit und Freiheit von störenden Nebeneinflüssen so dringend erforderlich
wie auf dem der auswärtigen Politik, — und in der moder nen Welt, deren furchtbare Abgründe und Möglichkeiten wir jetzt erst im vollen Umfange kennen gelernt haben, mehr als je. Der modeme National- und Großstaat muß
heute vor sich selber geschützt werden, vor dem Mißbrauch,
der mit seinen ungeheuren Machtmitteln getrieben werden
kann. Der Staatswagen entgleist bei dem rasenden Tempo, dessen die modeme Lokomotive fähig ist, wenn nicht ganz starke Bremsen ihn hemmen. Mehrheitsministerien vermö gen das, wie die Erfahmng gezeigt hat, nicht zu leisten. Sie
haben im entscheidenden Augenblicke nicht den Mut, auf
wallenden Leidenschaften zu trotzen, und einmal hinein
gerissen in ihren Strudel, schaffen sie, getrieben und trei bend, Situationen, aus denen die Rückkehr zu staatsmän
nischer Vemunft immer schwerer wird. Das alles haben wir überwältigend erlebt und erleben es jeden Tag, der
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
111
uns Kunde aus England und Frankreich bringt, von neuem. Auch die Demokratie muß, wie der Staat, vor sich selber geschützt werden.
Mag der Mehrheitswille eines Volkes
in seinen Tiesen noch so friedlich gestimmt sein, mag der
Chauvinismus auch zunächst nur getragen sein von kleinen
Gruppen überhitzter Intellektueller und rechnender In teressenten, — er kann wie ein Gift rapide sich verbreiten
über die Parteien und eine Phrasenherrschaft aufrichten, der sie nicht zu widerstehen wagen. Eben die Möglich keit,
die
Volksleidenschaften jählings zu erwecken und
aufzupeitschen und dadurch eine verhängnisvolle Triebkraft
für sich zu gewinnen, kann auf parlamentarische Regierun gen so überaus verführerisch wirken. Man wende nicht ein,
daß die ruhigere deutsche Bolksart französischer Wildheit und englischer Brutalität nicht fähig sei. Auch wir sind, wie schon unsere inneren politischen Kämpfe zeigen, ein
im Grunde leidenschaftliches Volk, in dem es kochen und gären kann.
Ohne Leidenschaften
kein großes Wollen
und Können, — aber der bessere, der eigentliche Volks
wille muß selber wünschen, daß seine Geschicke nur mit gezügelter Leidenschaft gelenkt werden, daß seine Staats männer den starken Rückhalt haben müssen, um auch eine
vorübergehend
unpopuläre
Politik
der
Bemunft
und
Besonnenheit wagen zu können. Man wiegt sich zwar nun merkwürdigerweise in die Illusion, daß gerade ein verstärkter Einfluß der Parlamente
auf die auswärtige Politik sie vor abenteuerlichen Ent gleisungen schützen werde.
Auch wir wünschen lebhaft,
daß man sich nicht nur in den Parlamenten, sondern in
112
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
allen denkenden Kreisen des Volkes so ernst und eindringend
wie inöglich mit den auswärtigen Fragen, diesen Grund-
und Existenzftagen der Staaten,
beschäftige.
Aber je
ernster und gründlicher man es tut, um so kritischer wird man dabei gegen sich selbst und das eigene, rasch sich hervor
drängende Urteil, um so ablehnender gegen die Massen der Dilettanten, die sich auf diesem Gebiete tummeln. Um nur allein schon ein gewisses allgemeines Maß von
Takt in der Beurteilung auswärtiger Politik zu gewinnen,
bedarf es entweder einer wissenschaftlichen Schulung durch das Studium vergangener politischer Zusammen hänge oder einer langen praktischen Erfahrung; auf dem einen wie dem anderen Wege verschärft und verfeinert sich der Blick für das verschlungene Durcheinander großer
allgemeiner und singulärer persönlicher oder lokaler Kräfte und der Sinn für das Mögliche. Um aber, so ausgerüstet, schwebende Fragen der auswärtigen
Politik beurteilen
zu können, muß man auch alle Falten und Hintergründe
des Einzelfalles kennen, muß man so informiert sein, wie es nur der Diplomat und jeweilig verantwortliche Staats mann eigentlich sein kann.
Auswärtige Politik ist und
wird immer in hohem Grade Vertrauenssache, Vertrauens
diktatur sein.
Auch parlamentarische Mnisterien hüten
sich, wie wir es sattsam erlebt haben, ihre Geheimnisse
preiszugeben. Verlangen die Parlamente von ihnen genaue
Information, so macht man etwas zurecht für sie, was so aussieht. Setzt man Organe zur ständigen Kontrolle ein, wie es bei uns verlangt worden ist, so führt man sie freund
lichst in den Borhof der Politik ein und läßt die Tür zum
113
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
Hause geschlossen — durchaus nicht allein aus Herrschsucht, sondem aus dem richtigen Instinkte dafür, daß viele Köche den Brei verderben und vieles einfach nicht mitteilbar ist.
Zugleich aber werden nun gerade durch solche parlamen
tarischen
Kontrollorgane
neue
Einfallspforten für
Invasion der Stimmungen und
die
Leidenschaften kleiner
chauvinistischer Kreise in die auswärtige Politik geöffnet.
Denn mag der verantwortliche Staatsmann sich ihrer noch
so sehr erwehren wollen, so wird es ihm doch auf die Dauer
um so weniger gelingen, je abhängiger er von den Parla menten im ganzen ist.
Das parlamentarische System der
Mehrheitsministerien wird so gerade und voran auf dem Gebiete der auswärtigen Politik zum Herrschastsmittel
entschlossener Minoritäten.
Die Kunst, den Mnderheits-
wünschen den Schein des Mehrheitswillens zu geben und diesen selbst im entscheidenden Augenblick zu hypnotisieren,
ist leicht zu lernen. Mes, was wir sagten, wird nicht nur
durch die Kriegspolitik der englischen und ftanzösischen Mnisterien, sondem auch durch frische Erlebnisse im eigenen Hause demonstriert.
Auch die monarchische Leitung der auswärtigen Politik schützt nicht unbedingt vor Entartung und Berwildemng. Auch auf sie können kleine, aber mächtige Cliquen unheilvoll einwirken.
Darum eben
wünschen wir den leitenden
Staatsmann im Reiche und in Preußen so stark, damit er auch imstande sei, unverantwortliche Nebeneinflüsse höfischer und militärischer Koterien niederzuhalten. Im übrigen aber
steht jede Leitung auswärtiger Politik, mag man sie organi sieren, wie man will, in hohem Grade unter dem Satze Meinecke, Probleme des Weltkriegs.
8
114
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
feit unda nee regitur.
Zu völliger Unabhängigkeit von
unerwünschten Einflüssen kann sie es bei der Fülle der Friktionen, mit denen sie sich abzumühen hat, nie bringen. Sie ist abhängig und mächtig zugleich. Aber die Mischung
von Abhängigkeit und eigener Macht ist gerade bei den
parlamentarischen Mnisterien so gefährlich dosiert, daß der Mißbrauch der Macht, dessen sie fähig sind, und die miß
bräuchliche Beeinflussung ihrer Macht durch Parlament, Volksströmung usw. in der Wurzel zusammenwachsen. Wägt man also ganz kühl ab, welches System im modernen
Großstaate den größeren Schutz bietet, so kann die Antwort
nicht zweifelhaft sein. Und wenn wir demnach auch wün schen, daß die Berufung des verantwortlichen Staatsmanns
bei uns nach wie vor allein von der freien Entscheidung des Monarchen abhänge, so wünschen wir damit doch keines
wegs seine Verantwortung vor der Nation und dem Parla
mente auszuschalten. Aber es ist grobsinnlich und primitiv, diese Verantwortung allein durch den Mechanismus der
Mehrheitsabstimmung und Ministerstürzerei garantiert zu glauben. Machen wir uns doch von diesen Überlebseln vormärzlicher Ideale und dem falschen Borbilde der west
europäischen Demokratie endlich frei. Parlamente, die auf
breitem demokratischen Wahlrechte
beruhen,
das volle
Mtentscheidungsrecht in Gesetzgebung und Finanzen be sitzen und dieses Recht vernünftig gebrauchen, wirken mit
ungeheuerer Wucht auf den Geist der Regierungen und werden es, wenn in Preußen-Deutschland erst die Hemmung
des Dreiklassenwahlrechts weggefallen ist, erst recht tun. Mr möchten den Staatsmann sehen, der, wenn er in
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
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Reichstag und Abgeordnetenhaus fortan mit gleichen oder ähnlichen Mehrheitsverhältnissen zu rechnen hat, dauemd sie ignorieren und vergewaltigen könnte.
Er wird sich
ihnen im ganzen anpassen müssen, auch wenn er nicht in jedem Augenblicke ihr sklavischer Diener ist. Dafür wird sich
aber auch das Parlament der Tatsache anpassen müssen,
daß auswärtige Politik nach anderen Normen zu führen ist als innere Gesetzgebung und Steuerbewilligung.
Es
muß der Sicherheit des Staates das Opfer bringen, aus
parlamentarische Ministerien zu verzichten, und sich mit dem allgemeinen Einflüsse zu begnügen, den es auf den vom
Monarchen ernannten Staatsmann immer haben wird. Und so fest auch das freie Ministerernennungsrecht der Krone
stehen muß, so muß sie doch in der neuen Gestaltung der Dinge selber das Interesse haben, „freie Bahn dem Tüch tigen" auch für die höchsten verantwortlichen Ämter zu öffnen
und unter Umständen auch bedeutende Parlamentarier zu ihnen zu berufen. Vielleicht kommt es dabei noch einmal zu einer neuen Übergangs- und Mittelform zwischen rein
monarchischem und rein parlamentarischem Regime, derart,
daß man schließlich nicht mehr weiß, ob der verantwort liche Staatsmann mehr der Vertrauensmann der Krone gegenüber den Parlamenten oder der Vermittler zwischen
Krone und Parlament ist.
Die Verstärkung der Rechte
des preußischen Ministerpräsidenten, die Herausarbeitung einer starken Premierministerschast in Preußen wie im Reiche, würde eine solche durchaus erwünschte Entwick
lung begünstigen. Und wiederum würde die Angleichung
des preußischen an das deutsche Wahlrecht auch zu einer
8»
116
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
Angleichung der preußischen Mnisterialverfassung an die
Berfassung der Reichsämter hindrängen, damit die Re gierung den einheitlicheren Parlamenten auch einheitlicher
und geschlossener gegenüberstehe.
An den bestehenden
Rechten des Bundesrates dagegen dürfte nicht gerührt werden. Sie sind so, wie sie sich in der Praxis entwickelt
haben, unschädlich für den einheitlichen Geist der Reichspolitik; sie sind aber zugleich unentbehrlich, um vereint mit den Rechten des Kaisers und Königs von Preußen
den Schutzwall gegen ein rein parlamentarisches Regime zu bieten. Denn unser ceterum censeo ist, daß die auswärtige
Politik ihre Aufgabe, die Gesamtinteressen der Nation zu vertreten, dann am besten etfülft, wenn der Steuermann
am Ruder ungestört bleibt und festen Kurs halten kann.
Würde unsere Demokratie auf das parlamentarische Regime verzichten, so würde sie die Erfüllung aller ihrer
übrigen Wünsche unendlich erleichtern und ein Vertrauens
verhältnis zwischen sich und der Monarchie Herstellen, das die ganze Lage beherrschen und den Geist unseres Staatslebens erneuern könnte.
Und sie würde auf ein
nicht nur falsches, sondern auch unerreichbares Ideal ver zichten, denn sie würde auf Granit beißen, wenn sie es
ertrotzen wollte. Wir wagen nun nicht zu hoffen, daß eine alteingewurzelte Lieblingsmeinung von heute auf morgen
verschwinde.
Es wäre aber schon etwas, wenn sie auf
Grund der Erfahrungen dieses Krieges neu geprüft, hin
und her erwogen und so kritisch erschüttert werden würde. Sie mag dann als Ideal allmählich ebenso eintrocknen, wie der republikanische Gedanke. Solange sie aber emsthaft zur
117
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
politischen Forderung erhoben wird, wird die Monarchie
und Regiemng automatisch ihre Zuflucht bei den Konser vativen suchen. Auch das sollte man jetzt im Lager der Demokratie bedenken. Versteht sie die Gunst der Stunde, so kann sie jetzt mehr gewinnen, als sie zu opfem hat. Dies also sei der Sinn der großen Transaktion: Die Regierung verzichte auf das Dreiklassenwahlrecht und die Demokratie verzichte, wenn auch nicht gleich grundsätzlich, so doch tat
sächlich,
auf das parlamentarische Regime.
Gewinnen
würden dann nicht nur Regierung und Linksparteien,
sondern auch Staat und Nation.
*
*
*
Unsere Hauptaufgabe sollte sein, die geschichtlichen
und politischen Voraussetzungen der Wahlreform zu klären und die alten, unbrauchbar gewordenen Steine zu lockern, damit Platz werde für das neue Gemäuer. Aber man wird von uns auch eine Antwort auf die Frage, wie wir
uns den Inhalt der Wahlreform denken, fordem.
Wir
wollen sie wenigstens in großen Zügen geben.
Linksliberalismus und Sozialdemokratie wünschen schlecht und recht das Reichstagswahlrecht für Preußen. Wir fühlen uns weder der einen, noch der anderen Partei verbunden, versuchen vielmehr lediglich das staat liche Gesamtinteresse zu erkennen. Ohne Frage würde die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen einen gewaltigen Sprung in ganz neue Verhältnisse, zu
gleich aber die verfassungsgeschichtlich glatteste und einfachste Lösung bedeuten. Kann man den Sprung heute wagen, kann
118
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
man darauf bettrauen, daß die Lebensinteressen des deutsch
preußischen Gesamtstaates dadurch nicht gefährdet werden? Mr betonten, daß Deutschland zur reinen Demokratie
nicht geschaffen ist und haben es auch nicht verschwiegen,
daß das allgemeine gleiche Wahlrecht schwere Mängel hat.
Ohne Frage kommen bei ihm die gebildeten und be
sitzenden Klassen, die Träger zugleich unserer Kulturtraditio-
nen, zu schlecht weg. Sie müssen jetzt bei den Reichstags
wahlen mühsam ringen, ihre Kandidaten durchzusetzen, und müssen, um Erfolg zu haben, diese oft nach schlechten Rücksichten lokaler oder agitatorischer Natur auswählen und auf die Aufstellung der Geeignetsten und Besten nur zu oft verzichten, weil sie nicht populär sind, weil man sie nicht durchbringt. Das Proportionalwahlsystem würde einen Teil dieser Übelstände wesentlich mildem und
den einzelnen Parteien gestatten, bei der Auswahl der
Kandidaten die Kirchturms- und
Spießbürgerinteressen
zurückzudrängen. Es würde auch dem üblen und demora
lisierenden Schachergeschäfte bei den Stichwahlen ein Ende machen. Aber immer würde, wenn man sich zu ihm ent
schließen wollte, die Frage bleiben, ob nicht durch die
völlige Demokratisierung des preußischen Wahlrechts das notwendige und heilsame Maß von Demokratisierung,
deren das preußische Staatsleben heute bedarf,
über
schütten wird. Ob man diese Frage bejaht oder verneint, das hängt
von der Beantwortung zweier Vorftagen ab. Erstens: Sind die Massen unseres Volkes heute politisch so weit herangereift,
daß sie in die bestehenden monarchischen und militärischen
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
119
Machtgrundlagen unseres Staatslebens organisch sich einzu fügen imstande sind? Und zweitens: Sind diese Machtgrundlagen so stark verankert, daß sie auch den stärkeren demo-
kratischen Strömungen, die zu erwarten sind, standhalten werden? Unsere zweite Frage zeigt schon, daß wir die
erste Frage nicht mit unbedingter und absoluter Exaktheit zu bemitworten vermögen.
Aber das liegt im Charakter
dieser Frage. Es ist die große Vertrauensfrage, die heute das alte Deutschland an das neue Deutschland richtet:
Willst du mit mir Zusammenleben? Wollen wir uns gegen
seitig anerkennen? Will einer dem anderen geben, was er für sich beanspruchen kann, damit das eigentliche, höhere, über uns beiden schwebende Deutschland, das Deutschland
der Idee, das Vergangenheit und Zukunft in sich verknüpft, dabei bestehen und zu seinem höchsten Ausdruck kommen
kann?
Vertrauensfragen dieser Art aber lassen
sich niemals exakt beantworten.
Können wir denn
die Vertrauensfrage an unsere eigene nationale Kraft, ob sie ausreiche zur ehrenvollen Selbstbehauptung gegen eine Übermacht von Feinden, exakt beantworten? Und
doch haben wir sie mutig gestellt und bejahend beantwortet. Was wir aber in diesem Kriege an den Massen unseres
Volkes erlebt haben, gibt uns das Recht, auch die Ber-
trauensfrage einer demokratischen Wahlreform bejahend zu
beantworten.
Mes, was wir zur Rechtfertigung einer
preußischen Wahlreform überhaupt ausführten, recht fertigt auch das Vertrauen, daß ihre gründlichste Lösung heute gewagt werden darf. Unsere Massen haben in und durch diesen Krieg den Sinn und Wert staatlicher Macht
120
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
und damit auch staatlicher Autorität verstehen gelernt.
Das war das A und O, was wir von ihnen verlangen mußten.
Wieder behaupten wir aus tiefstem Vertrauen,
daß die harte Schule dieser Zeit von ihnen nicht vergessen werden wird, daß die Gemeinschaft auf Leben und Tod,
die sie mit der Monarchie und den besitzenden Klassen heute eingegangen sind, unauflösbar werden kann, wenn wir ihr inneres Hemmnis vollständig und gründlich aus
dem Wege räumen.
Mer um, wie wir sagten, die Demokratie vor sich sel ber zu schützen und um den Staat vor den Überlebseln ihrer älteren Irrtümer und Illusionen zu schützen, bedarf
es allerdings bestimmter Gegengewichte, wenn wir jetzt die linke Schale mit der Demokratisierung des preußischen Wahlrechts beschweren.
Wenn im Reiche der Bundesrat
mit helfen muß, um die unzulässige Forderung der reinen Mehrheitsherrschaft abzuwehren, so muß es in Preußen das
Herrenhaus künftig in verstärktem Maße tun können. Die
Berfassungsreformen in Baden, Württemberg und Hessen seit 1904 weisen einen gangbaren Weg dafür. Das Votum des Herrenhauses in Etatsfragen dürfte also nicht beschränkt bleiben auf ein Ja oder Nein im ganzen, sondern müßte
auch in den Einzelheiten zur Geltung gebracht werden. Bei unausgleichbaren Meinungsverschiedenheiten zwischen Abgeordnetenhaus und Herrenhaus hätten dann beide
Kammern zusammenzutreten zu einer Gesamtabstimmung.
Hierbei wird man nun fteilich um die längst notwendige
Reform in der Zusammensetzung des Herrenhauses nicht herum kommen.
Damit es seinen Zweck erfülle und
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
121
alle aristokratischen Kräfte der Gesellschaft in gerechter Verteilung vertrete, muß es neben dem Geburts- und Gmndadel auch den natürlichen aristokratischen Elemen ten, die auf den Spitzen der übrigen sozialen Schichten sich entwickeln, neben den gewordenen Aristokratien also
auch den werdenden Aristokratien weiteren Eingang ge währen. Auch in der Demokratie, so sagten wir, ist immer
etwas neue Aristokratie im Werden. Würde jeder Bürger einer Berufsgenossenschaft zugeteilt und hätten die Spitzen dieser Berufsgenossenschaften dann auch das Wahl- oder
Präsentationsrecht zum Herrenhause, so gewännen wir einen ganz organischen Übergang von demokratischen zu
aristokratischen Vertretungsprinzipien. Wir waren ursprünglich der Meinung, daß man mit der Reform des Wahlrechts für das Abgeordnetenhaus nicht
warten dürfe bis zur Reform des Herrenhauses. Die jüngsten
Reden des Grafen Dorck v. Wartenburg und des Herrn v. Buch im Herrenhause (März 1917) lehren zum mindesten, daß die Reform des Herrenhauses so rasch wie nur irgend
möglich der des Abgeordnetenhauses folgen muß, damit es der Aufgabe gewachsen sei, ein aristokratisches Gegengewicht
gegen das demokratischer zusammengesetzte Abgeordneten
haus zu bilden.
Eine fossile Aristokratie, und mag sie auch
charaktervoll vertreten sein, darf nicht mehr in die Lage kommen, unbedachtes Unheil anzusttften. Mgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahl
recht für das Abgeordnetenhaus und gleichzeitige Ver stärkung der Rechte des Herrenhauses also erscheint uns
diejenige Lösung zu sein, die die dauerhaftesten und gesun-
122
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
besten Verhältnisse schafft, die am meisten dem Geiste des neuen, aus dem Kriege hervorgehenden Deutschlands entspricht. Aber wir müssen mit der Möglichkeit rechnen,
daß die Regierung so weit nicht zu gehen wagen wird. Dann kommt alles daraus an, daß der Mttelweg, den sie
wählen wird, den Massen wenigstens als eine erträgliche und wertvolle Annäherung an ihre Wünsche erscheine, daß er nichts sozial und politisch Aufreizendes an sich habe. Einen solchen Mttelweg hat Friedrich Thimme gezeigt,
der Mann, der mit glühender Hingabe der Aufgabe dient, das Kriegserlebnis zum Erlebnis des inneren Friedens zu steigern und die deutsche Arbeiterschaft mit Staat und
Monarchie zu versöhnen.
Sein Vorschlag für Preußen
läuft auf ein vemünftiges Pluralwahlrecht, verbunden
mit geheimer und direkter Wahl, hinaus. Ich gebe ihn wieder, wie er ihn in den „Grenzboten" vom 23. August
1916, S. 237, entwickelt hat. „Es ließe sich etwa Vorschlägen, zu der einem jeden
Wähler über 25 oder auch über 21 Jahren zustehenden Stimme noch 1—5 Zusatzstimmen an folgende Qualifi kationen zu knüpfen: 1. Wer seiner Dienstzeit im stehenden Heer und in der Landwehr genügt hat
(wobei zu erwägen bliebe,
ob nicht allen Kriegsteilnehmern diese Zusatzstimme als
ein Zeichen der unauslöschlichen Dankbarkeit für unsere Feldgrauen zu verleihen sein möchte). 2. Wer vier lebende eheliche Kinder oder doch zwei Söhne hat, die zum Mlitärdienst tauglich befunden worden
sind.
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
123
3. Wer 10 Jahre dem Staate unmittelbar oder mit
telbar in einem staatlichen, kommunalen oder gleichwertigen Ehrenamt gedient hat (auch Ärzte, Rechtsanwälte usw. ließen sich in diese Kategorie einreihen). 4. Wer 10 Jahre als Arbeitgeber für eine größere Anzahl von Arbeitern Beiträge zur staatlichen Sozial
versicherung geleistet hat (wobei, um der besonderen Be deutung der Landwirtschaft für den Staat Rechnung zu tragen, die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter höher
bewertet werden könnte); oder wer als Arbeiter die doppelte
Anzahl von Jahren solche Beiträge geleistet hat. 5. Wer 10 Jahre hindurch einen gewissen nicht zu nied
rigen Satz von direkten Staatssteuem beigetragen hat (wo bei wiederum, um der besonderen Bedeutung des Grund
und Bodens und vor allem auch des befestigten Grund und Bodens Rechnung zu tragen, die Grund- und Gebäude steuer mit dem doppelten, vom befestigten Grund und
Boden mit dem vierfachen Betrage angesetzt werden könnte)." Der einleuchtende Grundgedanke dieses Vorschlages
ist, „die staatliche und soziale Leistung und Bewährung
in ihren hauptsächlichen Momenten zum Grund- und Echtein des Wahlrechts zu erheben" und demnach auch
nicht im Besitze an sich, sondern in der Erhaltung des Be
sitzes eine staatliche Leistung zu sehen, die eine Zusatz stimme rechtfertigt. Keine der Bevorzugungen kann ich als ungerecht oder unbillig ansehen.
Der ältere bewährte Ar
beiter kann es dabei auf ebensoviel Zusatzstimmen bringen,
wie durchschnittlich die Angehörigen der besitzenden Klassen.
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
124
Während diese Zeilen geschrieben wurden,
erging
am 12. Dezember 1916 die Friedensbotschaft Deutschlands und seiner Verbündeten an unsere Feinde. Sie ist ein neuer
Beweis des Geistes maßvoll-fester Machtpolitik,
den wir durch unsere monarchischen Institutionen am
besten verbürgt finden. Wir sind bereit zum Frieden, aber auch gerüstet zu einem Kampfe, der das Äußerste von jedem Volksgenossen nun fordem würde.
Kommt es,
was man kaum hoffen kann, zum baldigen Frieden, so wird die Wahlreform die erste und dringendste Friedens
aufgabe sein und die schönste Empfangspforte für unsere heimkehrenden Krieger werden. Und will die Regierung nur mit wirklich starkem Willen, so wird der Widerstand
der Konservativen zusammenbrechen.
Damm darf
sie
es auch getrost schon während des Kampfes wagen, wenn
sie uns jetzt zum letzten und äußersten Waffengange auf rufen müßte. Die Unzufriedenheit der Konservativen würde von der mächtigen Wirkung überbraust werden, die
dieses neue Feldpanier nicht nur auf die deutsche Arbeiter
schaft, sondem auf alle Freunde einer freien nationalen
Monarchie üben würde.
*
*
*
Seit der ersten Dmcklegung dieses Aufsatzes im Januar 1917 sind die Ereignisse abermals mächtig vorangeschritten.
Unser Friedensangebot beantworteten die Feinde mit einem fanatischen Übermute, der uns zwang, das äußerste
und stärkste Mittel, ihnen Vemunft und Selbstbesinnung beizubringen, zu ergreifen.
Stärker als je ist nun unsere
Die Reform des preußischen Wahlrechts.
125
Bolkskraft anzuspannen, dringender als je, meinen wir,
wäre es jetzt, durch eine freie und große Gewährung dem lebendigen Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Volks
massen, auf dem unsere Widerstandskraft im Kriege so
wesentlich mit beruht, einen mächtigen und weithin sicht baren Ausdruck zu geben. Den Feinden würde sie lehren,
daß wir einiger als je sind und werden wollen, daß die letzten der inneren Gegensätze unter uns, auf die sie hoffen mochten, überwunden werden.
Sie wollen uns
mit unverschämter Herablassung zum Typus der west
europäischen Demokratie erziehen und verletzen dadurch das heiligste der nationalen Rechte, das Recht nach eigenem individuellen Bedürfnis Formen und Maße des Staats
lebens zu bestimmen.
Denjenigen unter ihnen aber, die
sich noch einen Rest von geschichtlichem Verstehen und An erkennen ftemder Bolksart bewahrt haben, würde unser
Entschluß zeigen, daß auf dem Boden unserer nationalen Monarchie ein spezifisch deutscher Typus von Demokratie
lebenskräftig sich entwickelt hat und fremder Rezepte nicht
bedarf.
Der Rhythmus des Weltkriegs. (Frankfurter Zeitung, 31. Dezember 1916.)
anz deutlich fällt diesmal die Jahreswende mit einem organischen Abschnitt des kriegerischen Dra mas zusammen. Unsere Heere haben, nachdem sie ihre Haupt aufgabe in der Walachei glorreich gelöst haben, nach kurzer Atempause soeben einen neuen Siegeslauf begonnen, der
mancherlei glückverheißende Möglichkeiten in sich birgt. Zu gleich steht auch der Krieg im großen in einer Atempause,
erfüllt von der Erwartung, ob es nun zum friedlichen Ende oder zu einer neuen furchtbarsten Steigerung des Kampfes kommen wird. Organisch aber ist der Abschnitt, vor dem wir
stehen, auch in einem noch tieferen Sinne zu nennen. Denn
das große Phänomen des Weltkrieges tritt mehr und mehr in seinem eigentlichen geschichtlichen Sinne und Zusammen hang hervor, und der gesetzliche Rhythmus, der das Ganze durchschwingt, und die Bindeglieder und Übergänge,
die seine Teilerscheinungen miteinander verknüpfen, werden
immer deutlicher. Zwar bleibt der Versuch, diesen gesetz lichen Zusammenhang aufzudecken, immer ein Wagnis, so-
Der Rhythmus des Weltkriegs.
127
lange die endgültige Entscheidung noch nicht gefallen ist. Noch immer sind Überraschungen möglich, die das heute sich
darbietende Bild dieses Zusammenhanges verschieben könn
ten.
Dennoch wird das geschichtliche Bedürfnis sich nicht
abweisen lassen, schon jetzt nach dem „vertrauten Gesetz in des Zufalls grausenden Wundem" zu suchen. Und mancherlei, was vermutlich Bestand haben wird, läßt sich schon heute
sagen. Wir begannen den Krieg als einen Verteidigungskrieg im politischen Sinne, als einen Niederwerfungskrieg im
militärischen Sinne. Ausgerüstet mit den Erfahrungen der Napoleonischen und Btoltkeschen Kriege und den Lehren von Clausewitz, stellten wir alles auf eine gewaltige Zusammen ballung überlegener Massen, die, konzentrisch vorwärts stür mend, die feindliche Hauptmacht in offenen Feldschlachten
aufsuchen und zertrümmern sollten.
Das erste Ziel war,
Frankreich rasch niederzuwerfen und zum Frieden zu zwin
gen. Dieser Friede wäre, da wir das Interesse hatten, die Zahl unserer Gegner rasch zu vermindem, für Frankreich wahrscheinlich sehr glimpflich ausgefallen. Gelang es damit,
so konnten wir uns rasch drehen, denselben militärischen Ge danken auch gegen Rußland mit bester Aussicht auf Erfolg
ausführen und mit dem aus dem Kontinente waffenlos ge
wordenen England unter günstigen Bedingungen den End
frieden vereinbaren, der fteilich wiederum, wie der erste mit Frankreich abgeschlossene, in hohem Grade den Charakter eines Kompromißfriedens hätte tragen müssen, da wir Eng lands Seeherrschaft selbst niederzuwerfen nicht hoffen konn ten. Dies ganze Programm, glänzend begonnen, scheiterte
128
Der Rhythmus des Weltkriegs.
an den Toren von Paris in der Marneschlacht, die zwar nichts weniger als ein taktischer Sieg der Franzosen war,
aber mit einem großen strategischen Erfolge für sie endete. Es wäre vielleicht nicht gescheitert, wenn wir unseren ur sprünglichen strategischen Gedanken ganz streng durch
geführt, unsere Hauptmassen fest zusammengehalten und Ostpreußen zunächst preisgegeben hätten.
Aber vielleicht
lagen die Ursachen des Scheiterns auch schon tiefer. Die
Franzosen hätten an der Marne nicht so stark auftreten
können, wenn nicht Italien damals schon den Weg be schritten hätte, der es aus unserem Lager in das Lager der
Gegner führte. Italien kämpfte tatsächlich schon für unsere Gegner, als es den Franzosen erlaubte, ihre Alpengrenze zu entblößen. War nun aber gegenüber einer derartigen Übermacht überhaupt noch eine solche militärische Ent
scheidung von uns zu erzwingen, die auch den Frieden von allen Gegnem hätte erzwingen können? DieClause-
witzsche Lehre, daß im Kriege alles auf die Zertrümmerung
der feindlichen Hauptmacht ankomme, verlor dabei nichts
von ihrer ewigen Wahrheit. Wo es nur irgend möglich war, in ihrem Sinne zu handeln, haben wir es getan bis zur heutigen Stunde und werden es unter Hindenburgs Führung auch weiter tun. Aber die Grenzen dieser Mög lichkeit wurden uns nun viel enger gesteckt, als sie einem Napoleon, Gneisenau und Moltke gesteckt waren. Wir zogen
rasch und entschlossen die Konsequenz aus der neuen Lage
und gingen zum Stellungskrieg über, immer bereit und
willens, dabei so viel Bewegungskrieg, so viel Niederwerfungsstrategie wie nur irgend möglich zu treiben. Die Geg-
Der Rhythmus des Weltkriegs.
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ner folgten notgedrungen unserem Beispiele, und so wurde
das bis dahin unbekannte Geheimnis des Stellungskrieges entdeckt, die Möglichkeit, den furchtbaren Angriffsmitteln des modernen Krieges ebenso moderne, wirksame und elastische
Verteidigungsmittel entgegenzusetzen, den Bewegungskrieg zu hemmen und zu stauen und weite, eroberte Landgebiete
mit einem verhältnismäßig dünnen, weit auseinandergezo genen Gürtel von Truppenmassen abzuschließen und zu be
haupten. Der Schützengraben wurde zum Ausdruck und Symbol unserer Lage — Mitteleuropa, von der ganzen Welt berannt, lebte und atmete im Schutze seiner Gräben
und Unterstände, seiner Maschinengewehre und Mörser, weit ausgedehnt nach Ost und West, fest und kraftvoll weiter. Man kehrte in gewissem Sinne damit von der Meder-
werfungsstrategie zur Ermattungsstrategie des 18. Jahr hunderts zurück, ohne sich doch auf sie sestlegen zu wollen, weil man hüben und drüben sich gedrungen und stark genug fühlte, raschere und vollständigere Entscheidungen herbei zuführen, als es die bloße Ermattung vermag.
So ging
nun zwischen Zusammenballung und Auseinanderziehung
wie zwischen Arterien und Venen der Blutumlauf des Krieges weiter. Man versuchte es mit dem gewaltsamen Durchbruch durch die Stellungen. Er mißlang uns an der
Dser, an der Bzura und Rawka, er mißlang aber auch den
Franzosen in der Champagne. Schon kam bei uns hier und da die Meinung auf, daß moderne Stellungen überhaupt
nicht zu durchbrechen seien, daß der Krieg am Ende doch auf eine moderne Ermattungsstrategie Hinauslaufe.
Da ent
deckten wir, wieder als die ersten, das Geheimnis des DurchMeiiiecke, Probleme des WeltlrieaS.
9
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Der Rhythmus des Weltkriegs.
bruchs, und die Schlacht von Tarnow-Gorlice vom 2. Mai 1915 öffnete die Bahn zur großartigsten, Galizien, Pole« Litauen und Kurland erobemden Bewegungsstrategie mit operierenden, marschierenden, Schlachten schlagenden, Fe
stungen stürmenden Massenheeren — um schließlich wieder, bis auf weiteres, gehindert durch die Weiträumigkeit Ost europas, in der Sicherung des Eroberten durch weitgedehnten Stellungsgürtel zu enden. Die Gegner versuchten nun
von unserer Durchbruchstaktik zu lernen, häuften wie wir Massen von schwerer Artillerie und Stoßtruppen an aus
ersehener Stelle — und abermals mißglückte es ihnen, in der Lorettoschlacht, in der Champagne und bei Ypern. Hüben und drüben steigerten sich nun wieder Menschenwitz und Menschenlist, um den Gegner doch noch zu übertrumpfen.
Nun hieß es bei uns vor einem Jahre: Nicht im unfaßbaren, weiten Osten, sondern im dichtgedrängten, von allen Nerven
strängen feindlicher Kraft erfüllten Westen muß die Ent scheidung gesucht werden, aber eine Entscheidung nicht im alten Sinne auf Durchbruch und Aufrollung des feindlichen
Widerstandes zielend, denn solche hielt man hier im Westen wohl nicht mehr für möglich, sondern eine Entscheidung, die
mehr den temperierenden Erfahrungen des Stellungs
kampfs und psychologischer Berechnung angepaßt ist, — indem wir nämlich an einer besonders kritischen Stelle
einbrächen, den Franzosen einen ihrer höchsten Affektions werte zerstörten und ihnen damit bewiesen, daß sie nicht
mehr siegen könnten und besser täten, den aussichtslos ge
wordenen Krieg zu beenden. So entstand unser Untemehmen auf Verdun.
Aber der neue militärisch-politische
Der Rhythmus des WelüriegS.
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Gedanke führte diesmal nur zu einer heroischen Episode. Hätten die von uns mit gewaltiger Energie und mit Be
nutzung aller bisherigen Stellungs- und Durchbruchser
fahrungen
erzielten
Anfangserfolge
im
selben
Tempo
rasch fort- und zum Ziel geführt werden können, so wäre der politische Zweck vielleicht erreicht worden.
Aber in
zwischen rafften sich die Gegner zu noch gigantischerer Lei
stung auf. England lernte von uns die allgemeine Wehr pflicht und die Umstellung der Industrie auf Erzeugung eines ntächttgen Waffen- und Munitionsquantums, stützte sich zu gleich auf die industrielle Kraft Amerikas und vermochte so,
indem auch Japan mithalf, zugleich auch die neugebildeten russischen Massenheere mit dem Waffenapparate auszu statten, den wir ihnen das Jahr zuvor zerschlagen hatten. So
kam es im Juni und Juli 1916 zur großen Doppeloffensive unserer Gegner in Ost und West, bei Luck und an der Somme.
Sie erreichte es, daß wir das Untemehmen auf Verdun unter brechen mußten, sie hatte auch, namentlich im Osten, Teil
erfolge, — aber das eigentliche Ziel, den Durchbruch und die
Aufrollung, war trotz einer über Tarnow-Gorlice noch hinausgehenden Intensität des Angriffs und Überlegenheit
der technischen Mittel unserer westlichen Gegner nicht zu er zwingen, — denn auch wir hatten inzwischen den Stellungs kampf zu noch größerer Leistung hinaufgesteigert. Als die monatelange Sommeschlacht zu Ende ging, konnte wiederum,
und diesmal auf Gmnd noch reicherer und furchtbarerer Er fahrung die Meinung Gehör beanspruchen, daß Entschei dungen im vollen, friedenerzwingenden Sinne bei einem
solchen Gleichgewichte angreifender und verteidigender Kräfte 9*
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Der Rhythmus des Weltkriegs.
überhaupt nicht mehr herbeizuführen seien. Der moderne
Krieg schien sich selbst zu widerlegen. Gerade auf dem Schau
platze des Westens, wo er auf den höchsten Grad gesteigert
werden konnte, führte er bei wahnwitzigen Opfem nur zu minimalen positiven Ergebnissen; hier galt das Wort: haeret aqua. Aber drängte sich angesichts der Gesamtlage
nicht der Gedanke gebieterisch aus, daß die Opfer, die die
Fortführung des Krieges forderte, in keinem Verhältnisse mehr ständen zu den noch zu erwartenden militärischen Er
gebnissen, daß es staatsmännisch, einsichttg und weise sei, die Bernichtungsabsicht, die doch nicht zur Vernichtung führt,
auszugeben und nach einem verständigen Ausgleich zu suchen. Für uns freilich, die wir im politischen Sinne die Angegrif
fenen sind und um unser Dasein kämpfen, kann kein Opfergroß genug sein, um einen Frieden zu verhüten, der uns demütigt. Mer eben weil wir in dieser Lage und zugleich
dessen ganz sicher sind, daß wir einen solchen Frieden durch unseren Widerstand verhüten werden, konnten wir wiederum
die ersten sein, die den neuen rettenden Gedanken ausspra chen, daß dieser Krieg nur durch einen Kompromißftieden einmal ein Ende finden kann — je eher, um so besser. Meder
also wie auf allen früheren Stufen des Dramas waren wir es, die den ersten Schritt zur nächsten Stufe taten, die am rasche
sten die (Situation begriffen, am entschlossensten die Mittel
wählten, die ihr entsprachen. Vom Einmarsch in Belgien an bis zum Friedensrufe Deutschlands und seiner Verbündeten
durchwaltet dies Gesetz unser Tun. Man wird in ihm später den großartigen Rhythmus, das geistige Bindeglied unseres
heroischen Berteidigungskampfes sehen.
Der Rhythmus des Weltkriegs.
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Unsere Lage war es, die uns dies Gesetz unseres Han
delns aufzwang. Der um seine Existenz ringende Verteidiger mußte das Mnus seiner physischen Mittel durch das Plus einer moralischen, politischen und technischen Überlegenheit
und Voraussicht ausgleichen. Dabei hat aber der Krieg noch
eine weitere Lehre gebracht, die wir ebenfalls zu seinen gesetzmäßigen Erfahrungen rechnen können.
Denjenigen
kleinen Nachbarmächten, die im Vertrauen auf die physische Überlegenheit unserer Gegner auf sie gesetzt oder gar unmittelbar sich ihnen angeschlossen haben, haben wir mit
einer betrübenden Regelmäßigkeit jedesmal bewiesen, daß sie
falsch gesetzt haben. Wehe den Kleinen, die sich an uns ver
greifen wollen!
Das Schicksal Belgiens, das sich von den
Westmächten einfangen und betören ließ, Serbiens, Mon tenegros und Rumäniens, die sich am Raubzuge der Großen gegen uns beteiligen wollten, wird die kleinen Mächte Euro pas dauemd, weit über den Krieg hinaus, belehren, daß
es für sie lebensgefährlich ist, an den elektrisch geladenen Draht zu rühren, der Mtteleuropa schützt. Auch diese Lehre gehört in das Kapitel von den „realen Garantien", die
Europa braucht, um den Frieden künftig zu sichern.
Aber auch die anderen Gmnderfahrungen, die der Krieg gebracht hat, können, wenn eine empfängliche Bemunft sie in sich aufnimmt und konsequent durchdenkt, zu solchen
„realen Garantien" werden.
Auf lange hinaus wird der
Satz gelten müssen, daß der Niederwerfungsstrategie im Kampfe der Großen gegeneinander bestimmte Grenzen
gesteckt sind. Das heißt aber, daß auch eine Niederwerfungspolitik, eine auf grundstürzende Umwälzung der
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Der Rhythmus des Weltkriegs. Nachwort.
europäischen Machtverhältnisse gerichtete Politik, schlechte
Geschäfte macht und nicht auf ihre Kosten kommt. Nur der jenige kommt wirklich auf seine Kosten, der mit reinem Ge
wissen seine Existenz und seine Ehre zu verteidigen hat
gegen den Vernichtungswillen seiner Gegner.
Das aber
waren wir.
Nicht Niederwerfung, sondern Gleichgewicht heißt die politische Losung der Zukunft.
Nachwort. Ich gebe den Aufsatz, von wenigen geringfügigen Ver besserungen abgesehen, genau so wieder, wie er in der
„Frankfurter Zeitung" vom 31. Dezember 1916 gestanden hat. Die englische Presse hat sich sogleich über ihn hergemacht, zuerst mit Erstaunen darüber, daß man in Deutschland unbefangen genug sei, Mßerfolge der eigenen Kriegfüh rung einzugestehen, dann rasch dahinter bemüht, durch
grobe Entstellungen und Verschweigungen meiner Gedanken
eine Bestätigung dessen aus ihm herauszulesen, was die Gegner vom Gange des Weltkrieges behauptet haben (»Times« vom 3. und 5. Januar 1917),
Poldhu-Dienst
vom 14. Januar
1917
bis dann der den
verlogenen
Funkenspruch über die ganze feindliche Welt verbreitete, ich „hätte das plumpe Geständnis abgelegt, daß ein Sieg für die Mittelmächte unmöglich sei".
Die Wahrheit dessen, was ich meinte, und der wahre
Charakter
unserer
Lage
bedarf
keiner
Funkensprüche,
Der Rhythmus des Weltkriegs.
Nachwort.
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sondern nur der Zeit und der Macht der Tatsachen, um sich durchzusetzen. Mr haben, so war der Sinn meiner Aus führungen, im Kampfe gegen ein unerhörtes Übergewicht
der zählbaren feindlichen Kräfte Gewaltiges erreicht, wenn wir auch nur ein Gleichgewicht der militärischen Lage her stellten und durch 2Vz Jahre erfolgreich behaupteten.
Wir haben so viel erreicht, als wir brauchen, um einen unsere Kriegsziele verwirklichenden Frieden schließen zu können. Keiner der Gegner kann das gleiche von sich be
haupten, weil ihre Kriegsziele, anders wie unsere, schimärisch und unerreichbar waren und sind. In dem sicheren Bewußt sein unserer Unerschütterlichkeit konnten wir sie auffordern, auf den Boden der Wirklichkeit zurückzutreten und den Frieden zu schließen, der dem besonderen Charakter dieses
Krieges entspricht. In demselben Bewußtsein unserer Stärke und der stolzen und großartigen Gesamtleistung unserer Heerführer und Heere haben wir es auch leichter
als die Gegner, der Wahrheit die Ehre zu geben und auch
das Maß dessen, was wir nicht erreicht haben, ruhig anzu
geben und einzuräumen. Wer dann vor dem Urteil der Weltgeschichte einmal als der währe Sieger gelten wird, darum sind wir keinen Augenblick besorgt. Abermals sind wir seitdem in eine neue Epoche des Kampfes eingetreten, abermals waren wir es, die durch
unsere Jnitiaüve den Charakter dieser Epoche bestimmten. Weil die verblendeten Gegner den Kompromißfrieden ausschlugen, mußten ivir neue, schärfere Waffen hervor
holen, um nunmehr den Frieden endlich und rasch zu er
zwingen. Mr haben sie nicht eher hervorgeholt, als bis sie
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Der Rhythmus des Weltkriegs.
Nachwort.
nötig und unvermeidlich und zugleich scharf genug geworden waren, um ihr Ziel zu erreichen und den Gegner an der empfindlichsten Stelle zu treffen. In einem früheren Zeit
punkte ergriffen, hätten sie ihr Ziel — so schließen wir aus
der Haltung unserer politischen und militärischen Führer —
nicht erreicht.
Jetzt traf die Vermehrung und technische
Vervollkommnung unserer Tauchboote zu unserem Heile
mit dem politischen Momente zusammen, wo so zahlreiche
und so leistungsfähige Tauchboote da sein mußten, um un seren Friedenswillen durchzusetzen und den Vernichtungs willen der Gegner zu brechen. Mit den jeweilig stärksten und wirksamsten Waffen in immer wieder neuer An passung an alle militärischen und politischen Möglichkeiten
erreichbare Ziele zu erkämpfen, das war, wie der Aufsatz
ausführte, der Sinn und Rhythmus unseres Kampfes von vomherein. Wägen und Wagen galt es immer mit äußerster Straffheit zu vereinigen, um den schmalen Grat zwischen
Wollen und Können zu finden.
Nur solche Selbstzucht,
wie unsere Führer sie bewiesen und uns vorgelebt haben, vermag das Schicksal zu zwingen.
Verlag R. Oldenbourg, München NW. 2 u. Berlin W. 10
Weltbürgertum und Nationalstaat Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates von
Friedrich Meinecke Vierte, durchgesehene Auflage
X u. 534 Seiten Oktav. Preis geh. M. 13.—, geb. M. 15.— on dem Buche des bekannten Berliner Historikers, das in die Genesis
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Sie berücksichtigt alles, was aus der Literatur der letzten Jahre des Anmerkens wert erschien. In einem Nachworte hat der Verfasser sich angelegen sein lassen, das preußisch-deutsche Problem im Lichte der durch den Weltkrieg geschaffenen Lage zu betrachten. So wird das einst in ruhiger Betrachtung entstandene Buch jetzt auch den Bedürf nissen unserer Zeit etwas bieten.
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