Probleme des deutschen Wirtschaftslebens: Erstrebtes und Erreichtes. Eine Sammlung von Abhandlungen [Reprint 2020 ed.] 9783111574691, 9783111202631

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German Pages 874 [876] Year 1937

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Table of contents :
Widmung
Vorwort
INHALTSVERZEICHNIS
I. DIE WIRTSCHAFTSZWEIGE
Allgemeine Probleme der deutschen Verkehrsentwicklung
Die Deutsche Reichsbahn 1918—1936
Die Deutsche Reichspost
Das deutsche Bankwesen; Strukturwandlungen und Neubau
Die deutschen Banken in der Krise
Der deutsche Immobiliarkredit seit der Inflation
Grundfragen der deutschen Absatzwirtschaft
Die Deutschen Versicherungen
Die deutsche Energiewirtschaft
Die deutsche Seeschiffahrt im Wandel der Nachkriegsjahre bis 1936
Das Siedlungswerk der deutschen Industrie
II. STAAT UND VOLKSWIRTSCHAFT
Reichshaushalt und Reichsfinanzen
Die Hauptlinien der deutschen Handelspolitik
Die Etappen der Reparationspolitik
Reichsbank und Währung
Kapitalbildung Und Kapitalmarkt In Deutschland Seit Der Stabilisierung
Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe
III. VOLKSWIRTSCHAFT UND WELTWIRTSCHAFT
Volkswirtschaft Und Weltwirtschaft. Unter Besonderer Berücksichtigung Der Rohstofflage
Industrialisierung und Weltwirtschaft
Die Kreditbanken im Welthandel
IV. GRUNDPROBLEME
Weltanschauung, Wissenschaft und Wirtschaft
Recht und Wirtschaft
Die agrarischen Grundlagen der Sozialverfassung
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Probleme des deutschen Wirtschaftslebens: Erstrebtes und Erreichtes. Eine Sammlung von Abhandlungen [Reprint 2020 ed.]
 9783111574691, 9783111202631

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DEUTSCHES INSTITUT FÜR BANKWISSENSCHAFT UND BANKWESEN

B E R L I N UND LEIPZIG 1937

WALTER DE GRUYTER & CO. vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlags* buchhandluDg — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp.

PROBLEME DES DEUTSCHEN WIRTSCHAFTSLEBENS ERSTREBTES UND ERREICHTES

EINE SAMMLUNG VON ABHANDLUNGEN H E R A U S G E G E B E N VOM

DEUTSCHEN INSTITUT FÜR BANKWISSENSCHAFT UND BANKWESEN

BERLIN UND LEIPZIG 1937

WALTER DE G R U Y T E R & CO. vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp.

Alle Rechte

vorbehalten

Archiv»Nr. 2 4 5 9 3 7 Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 Printed in Germany

DEM PRÄSIDENTEN

DES

REICHSBANKDIREKTORIUMS, BEAUFTRAGTEN REICHSWIRTSCHAFTSMINISTER UND VORSITZENDEN DES AUFSICHTSAMTS FÜR DAS KREDITWESEN

DR. H J A L M A R S C H A C H T ZUM VOLLENDETEN 60. L E B E N S J A H R E AM 22. JANUAR 1937 GEWIDMET

VORWORT

Dr. Hjalmar S c h a c h t , Präsident der Deutschen Reichsbank in längerer Amtszeit und zugleich beauftragter Wirtschaftsminister seit mehr als zwei Jahren, dem Arbeitsbereich des Deutschen Instituts für Bankwissenschaft und Bankwesen durch seine Stellung als Vorsitzender des Aufsichtsamts für das Kreditwesen besonders verbunden, vollendet am 22. Januar 1937 das 60. Lebensjahr. Die Stellung Dr. Schachts im öffentlichen Leben Deutschlands, die besonderen Umstände persönlicher Art wie die gesamte Zeitlage verleihen diesem Tage eine allgemeine Bedeutung. Der Eintritt Dr. Schachts in das öffentliche Leben erfolgte mit seiner Ernennung zum Reichswährungskommissar im November 1923. Wenige Wochen später wurde ihm das durch den Tod Havensteins frei gewordene Amt des Reichsbankpräsidenten übertragen, von dem er sich im April 1930 aus triftigen politischen Gründen wieder trennte, um drei Jahre später unter geänderten innerpolitischen Verhältnissen, dem Rufe des Führers und Reichskanzlers folgend, in die Reichsbank zurückzukehren. Auch in der dreijährigen Zwischenzeit hatte Dr. Schacht nicht aufgehört, Einfluß zu nehmen auf die Gestaltung der wirtschaftlichen und finanziellen Schicksalsfragen Deutschlands., Die deutsche Wirtschaft hat durch Krieg, „Friedens"-Diktat, Inflation und sonstige Kriegsauswirkungen, unter denen die Reparationslasten sowie die Bindungen des Versailler „Vertrages" für unsere Außenhandelspolitik im Vordergrund standen, Schädigungen erlitten und Veränderungen erfahren, deren Ausmaß größer war, als es je irgendeiner Volkswirtschaft gleichen Umfanges zugemutet worden war. Die Jahre der Scheinblüte nach dem Währungsneubau, die Wirtschaftskrise und die außerordentlichen Anstrengungen und Leistungen des deutschen Volkes im Kampf um seine Wiedererstarkung und seinen Neuaufstieg waren nicht minder bewegt.

VIII

Vorwort

Seit der Stabilisierung der Mark ist das Lebenswerk des Mannes, dem das vorliegende Buch gewidmet ist, mit dem Schicksal der deutschen Wirtschaft eng verbunden, gleichviel ob er an verantwortlicher amtlicher Stelle bei der Ingangsetzung der neuen deutschen Währung mitarbeitete und sich um die Überleitung der aus den Fugen gegangenen deutschen Wirtschaft in gesunde, normale Verhältnisse bemühte, ob er als Privatmann der wirtschaftlichen Vernunft und der politischen Erkenntnis die Wege zu bahnen suchte, ob er in der Zeit seiner selbstgewählten „ M u ß e " sich den Vorkämpfern des neuen Reiches anschloß oder ob er an der Spitze wiederum der deutschen Zentralbank und bald auch des deutschen Wirtschaftsministeriums die Gesamtverantwortung übernahm für die fast übermenschliche Aufgabe, den Schutz der wirtschaftlichen Grundlagen Deutschlands gegenüber den Rückwirkungen der Weltkrise weiter zu verbessern, die Tragfähigkeit der deutschen Wirtschaft entsprechend den vermehrten Anforderungen der politischen Erstarkung zu steigern, die einheimische Versorgung zu erweitern und vor allen Dingen auf die Schaffung von innerdeutschen wirtschaftlichen Voraussetzungen hinzuarbeiten für eine einstige Wiedereingliederung Deutschlands in eine von den gegenwärtigen Hemmnissen befreite Weltwirtschaft auf einem seiner Bedeutung entsprechenden Platz. Der 60. Geburtstag Dr. Schachts gibt somit reichlich Anlaß zu einem Versuch der Rechenschaftslegung über „Erstrebtes und E r reichtes". Man fragt sich, wo steht die deutsche Wirtschaft, welches sind die großen Linien, die ihre Entwicklung in den einzelnen Zweigen bis zum gegenwärtigen Augenblick genommen hat, was ist der heutige Stand, welche Hauptentwicklungslinien lassen sich für die unmittelbare Zukunft erkennen? Zur Behandlung dieser Fragen haben sich eine Reihe von Persönlichkeiten, die an den Angelpunkten des mit der Wirtschaft verknüpften staatlichen Lebens sowie in der Wirtschaft selbst an führender Stelle stehen, und eine Reihe von Wissenschaftlern, die ihr Lebenswerk der Beobachtung und Erforschung wirtschaftlicher Probleme gewidmet haben, zusammengefunden, um ihre Erfahrungen, Beobachtungen und Auffassungen über den gegenwärtigen Stand deutscher Wirtschaftsprobleme zusammenzustellen und dem Jubilar bei der Vollendung seines 60. Lebensjahres vorzulegen, auf der anderen Seite aber auch, um durch Beleuchtung unserer gegenwärtigen Wirtschaftslage V e r ständnis zu wecken für die Arbeit von Staatsführung, Wissenschaft und Wirtschaft bei dem gewaltigen Kampfe um den Wiederaufstieg des deutschen Volkes.

IX

Vorwort

Die Mitarbeiter an dem vorliegenden Werk haben sämtlich in ihrer beruflichen Tätigkeit die unheilvollen Folgen, die das losgelöste Nebeneinander von Staatsführung und Wirtschaftsgestaltung für das deutsche Volk gehabt hat, aus eigener Erfahrung kennengelernt. So verschieden in den vorliegenden Beiträgen die Betrachtungsgegenstände, die Betrachtungsmethoden und die Betrachtungsmaßstäbe sein mögen, so finden sie doch ihr einigendes Band in dem Bestreben, die Erkenntnis von der Wirtschaft als einem dienenden Glied des staatlichen Ganzen sowie von dem rechten Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft zu vermehren und so einen Beitrag zur inneren Gesundung des deutschen Wirtschaftslebens zu liefern, der die Staatsleitung zur Bewältigung ihrer weltgeschichtlichen Aufgaben bedarf. Das „Deutsche Institut für Bankwissenschaft und Bankwesen" rechnet es sich zur Ehre an, daß ihm die beteiligten Verfasser die Federführung bei der Herausgabe des vorliegenden Buches übertragen haben.

Deutsches Institut für Bankwissenschaft und Bankwesen Das Präsidium: 0 . Chr. Fischer

b

F. Reinhart

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

Dr. Heintze

Dr. Mosler

INHALTSVERZEICHNIS

Widmung

V

Vorwort

VII

I. Paul Freiherr v o n

WIRTSCHAFTSZWEIGE

Eltz-Rübenach

Reichspost- und Reichsverkehrsminister Allgemeine Probleme der deutschen Verkehrsentwicklung

3

D r . I n g . e. h. J u l i u s D o r p m ü l l e r Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn Die Deutsche Reichsbahn D r . I n g . e. h. W i l h e l m

1918—1936

Ohnesorge

Staatssekretär im Reichspostministerium Die Deutsche Reichspost D r . j u r . et phil. O t t o Christian

61

Fischer

Leiter der Reichsgruppe Banken, Vizepräsident der Internationalen Handelskammer, Mitglied des Vorstandes der Reichs-Kredit-Gesellschaft Aktiengesellschaft Das deutsche Bankwesen; Strukturwandlungen und Neubau Friedrich

83

Reinhart

Preußischer Staatsrat, Leiter der Wirtschaftsgruppe Privates Bankgewerbe, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Commerz- und Privat-Bank Aktiengesellschaft, Präsident der Industrie- und Handelskammer zu Berlin, Präsident der Börse zu Berlin Die deutschen Banken in der Krise c

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

163

XII

Inhaltsverzeichnis

Dr. jur. Hermann Kißler Geheimer Finanzrat, Mitglied des Vorstandes der Deutschen Rentenbank und der Deutschen Rentenbank-Kreditanstalt (Landwirtschaftliche Zentralbank) Der deutsche Immobiliarkredit seit der Inflation

.

. 197

Dr. rer. pol. Carl Lüer Leiter der Reichsgruppe Handel, Präsident der Industrie- und Handelskammer Frankfurt a. M., Honorarprofessor an der Universität Frankfurt a. M. Grundfragen der deutschen Absatzwirtschaft

. .

.

243

Eduard H i l g a r d Leiter der Reichsgruppe Versicherungen, Mitglied des Vorstandes der Allianz und Stuttgarter Versicherungs-A. G. DieVerein deutschen Versicherungen

345

Carl Krecke Leiter der Reichsgruppe Energiewirtschaft, Mitglied des Vorstandes der Berliner Kraft- und Licht (Bewag)-Aktiengesellschaft Die deutsche Energiewirtschaft

.

.

.

.

.

. 381

Karl L i n d e m a n n Bremischer Staatsrat, Vorsitzender des Aufsichtsrats des Norddeutschen Lloyd Die deutsche Seeschiffahrt im Wandel der Nachkriegsjahre bis 1936

405

Gottfried Dierig i. Fa. Christian Dierig A. G. Langenbielau Leiter der Reichsgruppe Industrie Das Siedlungswerk der deutschen Industrie

.

.

.421

II. STAAT UND VOLKSWIRTSCHAFT Lutz Graf S c h w e r i n von Krosigk Reichsminister der Finanzen Reichshaushalt und Reichsfinanzen

445

Dr. jur. Hans Ernst Posse Staatssekretär im Reichs- und Preußischen Wirtschaftsministerium Die Hauptlinien der deutschen Handelspolitik .

.

.481

Dr. jur. Hugo Fritz Berger Ministerialdirigent im Reichsfinanzministerium Die Etappen der Reparationspolitik

515

XIII

Inhaltsverzeichnis

Friedrich W . D r e y s e Reichsbank-Vizepräsident, Stellvertretender amtes für das Kreditwesen

Vorsitzender

des

Aufsichts-

Reichsbank und Währung .

• 555

Dr. jur. Wolfgang R e i c h a r d t Ministerialdirektor, Präsident des Statistischen Reichsamts

Kapitalbildung und Kapitalmarkt in Deutschland seit der Stabilisierung 585 Dr. phil. Friedrich

Syrup

Geheimer Regierungsrat, Präsident der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung

Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe . . . . . . . .618

III. V O L K S W I R T S C H A F T U N D Dr. rer. pol. Constantin v o n

WELTWIRTSCHAFT

Dietze

o. Professor an der Universität Berlin

Volkswirtschaft und Weltwirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Rohstofflage • 651 Dr. rer. pol. Andreas P r e d ö h l o. Professor an der Universität Kiel, Direktor des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel

Industrialisierung und Weltwirtschaft .

.

.

.

.

675

Dr. jur., phil. et oec. K u r t W i e d e n f e l d Geheimer Legationsrat, o. Professor an der Universität Leipzig, Ministerialdirektor i. R .

Die Kreditbanken im Welthandel

IV.

.

.

.

.

.

697

GRUNDPROBLEME

Dr. Dr. Werner S o m b a r t Geheimer Regierungsrat, o. Professor an der Universität Berlin, Dozent an der Wirtschaftshochschule Berlin

Weltanschauung, Wissenschaft und Wirtschaft .

• 749

XIV

Inhaltsverzeichnis

Dr. jur. Justus W. H e d e m a n n o. Professor an der Universität Berlin, Leiter des Instituts für Wirtschaftsrecht an der Universität Berlin Recht und Wirtschaft

.

.

791

Dr. rer. pol., jur., phil. Max Se r i n g Geheimer Regierungsrat, o. Professor an der Universität Berlin, Vizepräsident der Internationalen Konferenz für Agrarwissenschaft Die agrarischen Grundlagen der Sozialverfassung

.

-823

I. DIE WIRTSCHAFTSZWEIGE

1

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

ALLGEMEINE PROBLEME DER DEUTSCHEN VERKEHRSENTWICKLUNG VON

P A U L F R E I H E R R VON

ELTZ-RÜBENACH

A U F B A U U N D S T R U K T U R DES D E U T S C H E N V E R K E H R S , wie wir sie gegenwärtig vor uns sehen, sind das Ergebnis eines hundertjährigen Kampfes zwischen dem Gedanken einer das ganze Reichsgebiet umfassenden Verkehrshoheit und den eigenstaatlichen Bestrebungen der früheren Bundesstaaten und späteren Länder. Wenn die nationalsozialistische Revolution von 1933 den Reichsgedanken auf allen Gebieten des völkischen Lebens zum Siege geführt hat, so ist die Begründung der Verkehrshoheit des Reichs Abschluß und Anfang zugleich: Die Führung des Verkehrs liegt nicht mehr bei den Bundesstaaten der Verfassung von 1871 oder den Ländern des Zwischenreiches, sondern in der Hand des Reichs. Das deutsche Verkehrswesen wird auch in den Teilen, in denen es von der Unternehmerpersönlichkeit getragen wird, vom Staatsgedanken beherrscht und staatlich geleitet. I. Der erste große und tatsächlich durchgeführte Schritt in Richtung auf die Verkehrshoheit des Reichs war Artikel 54 der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 26. Juli 1867, der später gleichlautend

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Paul Freiherr von

Eltz-Rübenach

in die Verfassung des Deutschen Reichs v o m 16. April 1871 überging. Er lautete: „ D i e Kauffahrteischiffe aller Bundesstaaten bilden eine einheitliche Handelsmarine". Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, die deutsche H a n d e l s f l o t t e als eine Einheit anzusehen, d a ß wir uns der Tragweite dieser Verfassungsbestimmung kaum noch b e w u ß t sind; und doch müssen wir uns daran erinnern, d a ß es in dem alten Deutschen Bund, der 1815 errichtet wurde, hamburgische, bremische, preußische, mecklenburgische, lübische und oldenburgische Handelsschiffe gegeben hat, von denen die hamburgische Handelsflotte ihre Flagge in allen Weltteilen gezeigt und sich bei allen Seehandel treibenden Nationen Anerkennung und Ansehen erworben hatte. In der Kommission, welche auf G r u n d eines Beschlusses der Deutschen Bundesversammlung am 15. J a n u a r 1857 zur Beratung eines allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuchs in Nürnberg zusammentrat, wurde bereits die A n r e g u n g gegeben, daß ,,in Ansehung der Nationalität der zur See fahrenden Kauffahrteischiffe die Staaten des Deutschen Bundes eine Einheit bilden, und der Bund in dieser Beziehung als ein einheitlicher Staat gelten soll, dessen Einheit durch die von allen Schiffen der Bundesstaaten als National- oder Landesflagge zu führende neue Bundesflagge repräsentiert w e r d e " . Damals war die Zeit für die Überwindung des deutschen Partikularismus noch nicht reif. Bei der Errichtung des Norddeutschen Bundes gelang es aber, trotz der erheblichen Bedenken, welche der hamburgische Bevollmächtigte Kirchenpauer bei dem Fürsten Bismarck geltend machte, die Einheit der Handelsmarine unter der schwarz-weißroten Handelsflagge zu begründen. Die frühzeitige Schöpfung der einheitlichen, den Farben des Reiches verpflichteten deutschen H a n delsmarine war eine T a t , die den großen wirtschaftlichen Aufschwung des Deutschen Reichs in den letzten Jahrzehnten vor dem Weltkriege entscheidend vorbereitet hat. Der zweite Schritt in der Richtung auf die Verkehrshoheit des Reichs wurde unter dem Eindruck der Kriegserfahrungen in der Weimarer Verfassung v o m 11. August 1919 getan. Artikel 89 lautet in seinem ersten Absatz: „ A u f g a b e des Reichs ist es, die dem allgemeinen V e r k e h r dienenden E i s e n b a h n e n in sein Eigentum zu übernehmen und als einheitliche Verkehrsanstalt zu verwalten." In V o l l z u g dieser Bestimmung gingen die bis dahin v o n Preußen, Hessen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Mecklenburg-Schwerin und Oldenburg betriebenen Staatseisenbahnen mit W i r k u n g v o m I . A p r i l 1920 in das Eigentum des Reichs über (Staatsvertrag v o m

Allgemeine Problems der deutschen Verkehrsentwicklung

5

3 1 . März 1920). Die Reichsverfassung von 1871 hatte sich darauf beschränkt, das Eisenbahnwesen der Beaufsichtigung und der Gesetzgebung des Reiches zu unterstellen (§ 4 Ziffer 8); sie hat aber von den Bundesstaaten verlangt, daß sie die Eisenbahnen im Interesse des allgemeinen Verkehrs wie ein einheitliches Netz verwalten und auch die neuen Bahnen nach einheitlichen Normen anlegen und ausrüsten ließen. Die alte Reichsverfassung wollte, wie es Fürst Bismarck in einem Votum an das Preußische Staatsministerium vom 8. J a n u a r 1876 ausdrückte, „der nationalen Idee wie den Bedürfnissen des Verkehrs und der Landesverteidigung entsprechend, ein einheitlich geordnetes Eisenbahnsystem, die Erhebung der Eisenbahnen zu einer wahrhaft n a t i o n a l e n Verkehrsanstalt". Fürst Bismarck gelang es trotz seiner überragenden Stellung in dem neu geeinten Reiche nicht, diese Gedanken zur Geltung und Durchführung zu bringen. Das Reichseisenbahnamt, welches durch Gesetz vom 27. J u n i 1873 errichtet wurde, hat es nicht vermocht, den Reichsgedanken gegenüber den starken partikularen Kräften der Bundesstaaten durchzusetzen. Der Versuch, ein Reichseisenbahngesetz zu schaffen, scheiterte ebenso wie die Absicht, einheitliche Grundsätze im Tarifwesen durchzuführen. Fürst Bismarck faßte schließlich den Plan, die gesamten deutschen Eisenbahnen, und zwar sowohl die Staatseisenbahnen als auch die in Preußen noch sehr mächtigen Privatbahnen für das Reich aufzukaufen. Er sah die Erreichung des Zieles, welches er sich in der Verfassung von 1871 gesteckt hatte, als eine Aufgabe des Reiches an und hielt deshalb zunächst damit zurück, die großen Privateisenbahnen durch Preußen zu erwerben. Er fürchtete, daß ein durch den Erwerb der Privateisenbahnen vergrößerter preußischer Staatsbahnbesitz den preußischen Partikulareinfluß erweitern und ein verstärktes, die außerpreußischen Bundesstaaten bedrückendes, mit Abneigung aufgenommenes Übergewicht Preußens begründen würde. E r erbat darum und erhielt vom preußischen Landtag durch das Gesetz vom 4. J u n i 1876 die Ermächtigung, dem Reiche die preußischen Staatsbahnen zum Kauf anzubieten und die preußischen Hoheitsrechte über die Privatbahnen dem Reiche zu übertragen. Zu diesem Angebot der preußischen Staatsregierung auf Übernahme der preußischen Staatsbahnen durch das Reich ist es aber nicht gekommen. Der Preußische Finanzminister Camphausen hatte dem Beschluß des preußischen Staatsministeriums auf Übernahme der preußischen Staatseisenbahnen innerlich widerstrebend zugestimmt. Er stellte dem preußischen Handelsminister, der damals noch das Eisenbahnwesen verwaltete und das Angebot an das Reich auszuarbeiten hatte, in der Bemessung des Kauf-

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Paul Freiherr von

Eltz-Rübenich

preises, welcher vom Reiche verlangt werden sollte, Bedingungen, die der Handelsminister nicht vertreten zu körnen erklärte. In einer Rede im Preußischen Abgeordnetenhause v^m 23. März 1878 beschwerte sich Fürst Bismarck bitter darüber, daß „er sich, obschon Ministerpräsident, absolut habe unfähig finden müssen, die Sache (Überleitung der preußischen Staatsbahnen auf das Reich) auch nur einen Schritt weiter zu bringen. Der passive Widerstand sei so groß gewesen, daß auch nur die Frage, ob und in welcher Form Preußen an das Reich herantreten solle, nicht zur Erörterung im Preußischen Staatsministerium zu bringen gewesen wäre." Nach dem Rücktritt des Finanzministers Camphausen im Frühjahr 1877 wäre eine Verständigung der preußischen Ressorts möglich gewesen. In den beiden Jahren seit Verabschiedung des preußischen Gesetzes war aber der Widerstand Sachsens und der süddeutschen Bundesstaaten gegen die Übernahme der preußischen Staatseisenbahnen durch das Reich so groß geworden, daß Bismarck den Plan einer Reichseisenbahn aufgeben mußte und gegen seine ursprüngliche Absicht an den Erwerb der großen Privatbahnen durch Preußen heraiging. Die Vereinheitlichung des deutschen Eisenbahnwesens, die am 1. Januar 1872 im Betriebsreglement für die Eisenbahnen Deutschlands (später Eisenbahnverkehrsordnung genannt) und im Bahnpolizeireglement für die Eisenbahnen Deutschlands (heute Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung) ihren Anfang genommen hatte, wurde im Weje der Selbstverwaltung der deutschen Eisenbahnverwaltungen in gegenseitiger Verständigung ausgebaut. Der Gedanke, die Eisenbahnen in der Hand des Reiches zusammenzufassen, ist gleichwohl niemals ais der Erörterung verschwunden. Unter dem Zwange des Weltkrieges wurden die deutschen Eisenbahnen, wenn auch unter militärischer Oberleitung, tatsächlich vom Reich als Einheit betrieben. Die Aufgabe, welche die Verfassung von Y/eimar dem Reiche gestellt hatte, die dem allgemeinen Verkehr dienenden Eisenbahnen in sein Eigentum zu übernehmen, ist mit dem Staatsvertrag vom 31. März 1920 noch nicht erfüllt. Der Staatsvertrag beschränkt sich ausdrücklich auf die Übernahme der bisher yon den sieben Bundesstaaten betriebenen Staatseisenbahnen. Wir hiben heute noch 86 Unternehmer von Privatbahnen mit einer Streckenlänge von etwa 4500 km und weiter 263 Unternehmer von nebenbahnähnlichen Kleinbahnen mit einer Streckenlänge von annähernd 10000 km. Die Bedeutung dieser dem Reiche nicht gehörenden Bahnen darf zwar nicht unterschätzt werden, ist aber doch nicht so groß, daß sich das Reich in seiner Verkehrspolitik dadurch beschränkt fühlen könnte. Es kann

Allgemeine Probleme der deutschen Verkehrsentwicklung der Entwicklung überlassen bleiben, in welchem Zeitmaß und unter welchen Bedingungen das Reich bei Ablauf der Konzessionen oder aus anderem Anlaß diese Bahnen in das Netz der Reichseisenbahn eingliedert. Das Reich ist durch die deutsche Reichsbahn auf dem Gebiet des Eisenbahnwesens führend und es ist das große Verdienst der deutschen Reichsbahn, daß sie die früheren 7 Eisenbahnverwaltungen in überraschend kurzer Zeit zu einem einheitlichen deutschen Eisenbahnunternehmen zusammengeschweißt hat. Die Verschiedenheiten, welche sich in dem A u f b a u , dem Betrieb und den Personalverhältnissen der einzelnen Verwaltungen fanden, sind ausgeglichen. Die Fahrplanmauern sind gefallen. Die Tarifpolitik ist auf den Reichsgedanken abgestellt. V o r allem ist der Geist, welcher die Eisenbahnerschaft beherrscht, einzig und allein auf Dienst an Volk und Staat gerichtet. Der dritte Schritt in der Richtung auf die Verkehrshoheit des Reichs ist ebenfalls in der Verfassung von Weimar geschehen. Artikel 97 besagt in seinem ersten Absatz: „ A u f g a b e des Reichs ist es, die dem allgemeinen Verkehr dienenden W a s s e r s t r a ß e n in sein Eigentum und seine Verwaltung zu übernehmen". I n Vollzug dieses Artikels gingen die dem allgemeinen Verkehr dienenden Wasserstraßen, welche in einem besonderen Verzeichnis namentlich aufgeführt wurden, mit Wirkung vom 1. April 1921 in das Eigentum und die Verwaltung des Reiches über (Staatsvertrag vom 29. J u l i 1 9 2 1 ) . Der Gedanke, die Wasserstraßen der Reichsgewalt anzuvertrauen, war bereits in dem Ersten Verfassungsentwurf enthalten gewesen, welcher der Nationalversammlung in Frankfurt/Main im J a h r e 1848 vorgelegt wurde. Die preußische Regierung hatte sich in einer Denkschrift, welche den späteren ersten Präsidenten des Bundeskanzleramts, Rudolf v. Delbrück, zum Verfasser hatte, gegen die Unterstellung aller Wasserstraßen unter das Reich ausgesprochen. Die Denkschrift wies auf die Schwierigkeiten hin, die sich aus einer Spaltung der bisher einheitlich ausgeübten Staatshoheit über die Flüsse ergeben würden, einer Spaltung in eine Reichshoheit, welcher die Sorge für die Schiffahrt obliege, und in eine bei den Mitgliedstaaten verbleibende Landeshoheit, welche die Uferanlieger vor Überschwemmungen zu schützen und über die Anlage von Fähren und Brücken zu entscheiden habe. Unter den unausbleiblichen Konflikten der beiden Staatsgewalten würden die Betroffenen am meisten zu leiden haben. Trotz der Unzuträglichkeiten, welche die preußische Regierung aus einer Teilung der einheitlichen Flußhoheit befürchtete, kam sie für die mehrere deutsche Staaten durchfließenden Ströme doch zu dem Ergebnis, daß die Verwaltungs-

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Paul Freiherr von

Eltz-Rübenach

erschwernisse durch die Vorteile, welche eine einheitliche Zusammenfassung der Wasserwirtschaft mit sich bringe, aufgewogen würden und sprach sich für die gemeinschaftlichen Flüsse für eine Zentralverwaltung und Unterhaltung durch das Reich aus. A u f Grund dieser Denkschrift, die uns heute noch zeigt, wie stark schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts .der Gedanke einer Verkehrshoheit des Reiches lebendig war, beschränkte der Verfassungsausschuß der Nationalversammlung von Frankfurt/Main seine Vorschläge über die Tätigkeit des Reiches für die Verwaltung der Wasserstraßen in zweiter Lesung auf die gemeinschaftlichen Flüsse und wurde damit für die Gestaltung der Reichsverfassung von 1871 maßgebend. Der Bau von Wasserstraßen im Interesse der Landesverteidigung und des allgemeinen Verkehrs, sowie der Flößerei- und Schiffahrtsbetrieb auf mehreren Staaten gemeinsamen Wasserstraßen und der Zustand der letzteren, desgleichen die Seeschiffahrtszeichen (Leuchtfeuer, Tonnen, Baken und sonstige Tagesmarken) wurden in der alten Reichsverfassung der Beaufsichtigung und der Gesetzgebung des Reiches unterstellt. Das Reich konnte aber die ihm in der Verfassung zugewiesene Aufsicht praktisch nicht ausüben. I m Reichstage wurde über die mangelnde Einheit in den strombaulichen Maßnahmen am Rhein, an der Weser und an der Elbe vergeblich Beschwerde geführt. A u c h der für die Lösung des Unterweser-Problems eingesetzte Reichskommissar mußte sich darauf beschränken, Bremen den R a t zu geben, sich mit Preußen und Oldenburg zu einigen, wenn es die Unterweser als Seezufahrtsstraße zu den stadtbremischen Häfen ausbauen wollte. Nur die Aufsicht über die Schiffahrtszeichen (Leuchtfeuer, Tonnen, Baken und sonstige Tagesmarken), welche von der Reichsmarine ausgeübt wurde, hatte Erfolg. Die Betonnung und Befeuerung der deutschen Seewasserstraßen wurde nach einheitlichen, von der Kriegsmarine gegebenen Richtlinien durchgeführt. Das Gesetz vom 24. Dezember 191 x, welches mit der Errichtung von Strombauverbänden die partikularen Wasserstraßenhoheiten zu einheitlicher Arbeit zusammenfassen wollte, blieb ohne Wirkung. Es scheiterte in der Durchführung an den Bestimmungen der revidierten Rheinschiffahrtakte von Mannheim aus dem Jahre 1868 und dem deutsch-österreichischen Staatsvertrag vom 22. Juni 1870, welcher die Erhebung von Schiffahrtsabgaben auf der Elbe ausschloß. Die Reichsregierung hatte sich bei der Übernahme der Wasserstraßen von den Ländern auf das Reich im Jahre 1921 verpflichten müssen, die von den Ländern begonnenen Bauten fortzusetzen und außerdem drei große Bauvorhaben durchzuführen, soweit es die Finanz-

Allgemeine Probleme der deutschen

Verkehrsentwicklung

9

läge erlaube: den Mittellandkanal von Hannover bis Burg mit Anschluß nach Leipzig zu vollenden, im Zuge der Rhein-Main-DonauVerbindung zunächst den Main über Würzburg bis Bamberg zu kanalisieren und die Schiffahrtsstraße bis Nürnberg fortzusetzen sowie die Donau von Kehlheim bis zur Reichsgrenze für die Großschiffahrt auszubauen und schließlich im Zuge der Rhein-Neckar-Donau-Verbindung den Neckar von der Mündung über Heilbronn und Stuttgart bis Plochingen zu kanalisieren. Der Mittellandkanal bis zur Elbe wird voraussichtlich im Frühjahr 1938 fertiggestellt sein. Die Main-Schifffahrtsstraße von Aschaffenburg aufwärts bis Würzburg wird im Jahre 1938 dem Betrieb übergeben werden können, die Arbeiten zur Regulierung der Donau von Regensburg abwärts sind weit vorgeschritten, die der Schiffahrt sehr gefährliche Stromschnelle des Kachlet oberhalb Passau ist mit einem Kostenaufwand von über 30 Millionen R M . überstaut. Der Neckar ist von Mannheim bis Heilbronn kanalisiert, Heilbronn ist als unterster württembergischer Hafen an die Großschiffahrtsstraße des Rheins angeschlossen. Der weitere Ausbau des Neckars von Heilbronn bis Plochingen ist durch große Arbeiten, welche für den Hochwasserschutz ausgeführt werden mußten, unterhalb und oberhalb Stuttgarts vorbereitet. Neben diesem Bauprogramm, welches das Reich damals zwangsläufig von den Ländern übernehmen mußte, hat die Reichsregierung ein eigenes Wasserstraßen-Bauprogramm entwickelt und begonnen, die Elbe, die Weser und die Oder, welche bei der früheren partikularen Zersplitterung nicht einheitlich ausgebaut werden konnten, sowie den Dortmund-Ems-Kanal für die Schiffahrt zu und von den deutschen Seehäfen zu regulieren oder zu erweitern. Entsprechend der alten traditionellen Seehafen-Tarifpolitik der preußischen Staatseisenbahnen sollen nunmehr auch die Wasserstraßen stärker als es früher geschehen konnte, in den Dienst der deutschen Seehäfen gestellt und die deutsche Ein- und Ausfuhr möglichst über die deutschen Seehäfen geleitet werden. Der Rhein, welcher von jeher den größten Anteil am Binnenschiffahrtsverkehr hat und bei seinen natürlichen Vorzügen auch künftig erhalten wird, wird darum keineswegs vernachlässigt. In Gemeinschaft mit der Schweiz ist die Regulierung des Oberrheins von Kehl bis Basel in Angriff genommen und schon zu einem Erfolge geführt worden. In Ostpreußen ist der Pregel als Zubringer zum Hafen von Königsberg verbessert und der Bau des Masurischen Kanals, der vor dem Kriege begonnen, aber nach dem Kriege stillgelegt war, wieder aufgenommen worden. Die Bezeichnung der Fahrwasser in den Seewasserstraßen ist mit den neuesten Mitteln der Physik und Fernmeldetechnik ausgestaltet worden.

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Eltz-Rübenach

An den L a n d s t r a ß e n war die Verfassung von Weimar fast vollständig vorübergegangen. Sie beschränkte sich im wesentlichen darauf, die Verfassung von 1871 zu übernehmen und dem Reich die Gesetzgebung für den Bau von Landstraßen zu übertragen, soweit es sich um den allgemeinen Verkehr und die Landesverteidigung handelte. Die Landstraßen, die zur Zeit des Alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation schon einmal Reichsstraßen gewesen waren und mit der Auflösung des alten Reiches im Jahre 1806 den Territorial-Staaten zufielen, waren von Preußen im Jahre 1875 den Provinzialverbänden überlassen, bei den außerpreußischen Staaten in der Verwaltung der Länder geblieben. Sie waren lange Jahre hindurch die ausgesprochenen Stiefkinder unter den Verkehrswegen. Man glaubte, daß die Landstraßen bei der fortschreitenden Entwicklung der Eisenbahnen nur noch für die Landwirtschaft und den Ortsverkehr Bedeutung hätten. Die Nachkriegsregierungen machten von der Befugnis, die ihnen die von ihnen selbst geschaffene Weimarer Verfassung bot, das Landstraßenwesen im Wege der Gesetzgebung zu regeln, keinen Gebrauch. Die deutschen Straßen wurden von 11 preußischen Provinzen, den beiden Landeskommunalverbänden Wiesbaden und Kassel, 16 außerpreußischen Ländern sowie von 670 Bezirken und Kreisen verwaltet. Daneben waren mehr als 63000 Gemeinden im Straßenwesen tätig. Der Zersplitterung in der Verwaltung entsprach der unterschiedliche Zustand im Ausbau dieser Straßen. Erst die nationalsozialistische Regierung brachte Ordnung in das Landstraßenwesen durch das Gesetz über die einstweilige Neuregelung des Straßenwesens und der Straßenverwaltung vom 26. März 1934. Das Reich übernahm die Unterhaltung und den Ausbau eines Straßennetzes von etwa 40000 km und bestimmte weitere 75000 km Straße zu Landstraßen I. Ordnung, welche in Preußen von den Provinzen und in den außerpreußischen Ländern von den staatlichen Straßenverwaltungen nach einheitlichen Grundsätzen zu unterhalten sind. Zum Leiter der gesamten Straßenverwaltung wurde der Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen bestellt, welcher alle Behörden in Ländern, Provinzen und Gemeinden, die in irgendeiner Form mit der Straßenverwaltung beauftragt sind, mit Anordnungen und fachlichen Anweisungen versehen kann. Auch die L u f t f a h r t hat die Verfassung von Weimar, obgleich sie zahlreiche, in einem Verfassungsgrundgesetz sonst nur selten zu findende Bestimmungen enthält, stiefmütterlich behandelt. Sie beschränkt sich darauf, dem Reich die Gesetzgebung über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen in der Luft zu geben, soweit es sich um den allgemeinen

Allgemeine Probleme der deutschen

Verkehrsentwicklung

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Verkehr und die Landesverteidigung handelt. Das Luftverkehrsgesetz vom I.August 1922 erklärte die Benutzung des Luftraumes durch Luftfahrzeuge für frei und schnitt damit die Entwicklung einer preußischen, bayerischen, sächsischen oder gar lippischen Lufthoheit ab. In den Hoheitsaufgaben auf dem Gebiet des Luftverkehrs überließ das Gesetz aber den Landesregierungen weitgehende Rechte. Erst das Gesetz über die Reichsluftfahrtverwaltung vom 15. Dezember 1933, das von der nationalsozialistischen Regierung verabschiedet wurde, schuf die alleinige und ausschließliche Zuständigkeit des Reiches für alle Fragen der Luftfahrt. Den stärksten Ausdruck findet der Reichsgedanke auf dem Gebiet des Verkehrs in dem von dem Führer und Reichskanzler persönlich befohlenen Bau der R e i c h s a u t o b a h n e n . Ich glaube, daß es kaum zu irgendeiner Zeit ein Geschlecht oder einen Staat gegeben hat, welchem die Aufgabe gestellt war, in kurzer Zeit ein großes neues Straßennetz nach einheitlicher Planung über das ganze Land zu spannen. Die Reichsautobahnen' sollen die Wege für das Kraftfahrzeug sein, sie sollen den Straßenfahrzeugen dieselben Möglichkeiten der Entwicklung geben, wie sie den Schienenfahrzeugen vom ersten Tage des Baues von Eisenbahnen geboten worden sind. Als im Jahre 1825 die erste Schienenbahn in England gebaut und in Betrieb genommen war, waren es industrielle Kreise im Westen, die sich gegen den Bau von Schienenbahnen in Deutschland wandten und den Gedanken verfochten, daß es möglich sein müsse, mit der in England erfundenen Dampfmaschine auch Straßenfahrzeuge zu betreiben. Man ging vor 100 Jahren sogar schon soweit, die Forderung aufzustellen, daß für solche Fahrzeuge entweder die eine Hälfte der Straße freigehalten oder eigene Straßen gebaut werden müßten. Erst nach der Erfindung des Motors, der es mit seinem kleinen Raumbedarf und seinem geringen Gewicht ermöglichte, die Antriebskraft wirtschaftlich in einem Straßenfahrzeug einzubauen, konnte an die Erfüllung der vor 100 Jahren aufgestellten Forderung gedacht werden. Die Reichsautobahnen, mit denen sich Deutschland führend an die Spitze der Nationen gestellt hat, werden über viele Generationen hinweg von dem einheitlich zusammengefaßten Willen Deutschlands zur Verkehrseinheit künden. II. Die Deutsche R e i c h s b a h n , welche in Auswirkung des Dawes-Plans aus dem unmittelbaren Betrieb durch das Reich abgelöst und zu einer selbständigen Gesellschaft umgestaltet wurde, ist trotz ihrer äußeren Form ausschließlich ein Reichsunternehmen und wird allein von Staat-

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liehen Gesichtspunkten geleitet. Die Deutsche Reichsbahn bewältigt — abgesehen von dem Nahverkehr, der sich überwiegend in den Händen der Gemeinden befindet — etwa 90—92 v. H. des Personenverkehrs und rund 75 v. H. der gesamten Güterbewegung im Deutschen Reich. Die Deutsche Reichsbahn ist damit das Rückgrat des deutschen Verkehrswesens und drückt dem deutschen Verkehr im Gegensatz zu fremden Staaten, insbesondere zu Frankreich und England, wo die Privatbahnen vorherrschen, den Stempel der staatlichen Führung auf. Der Staatsbahngedanke ist in den deutschen Bundesstaaten schon bei dem Bau der ersten Eisenbahnen lebendig gewesen. Bayern, Württemberg, Baden und Hessen haben die wichtigsten Bahnen sogleich als Staatsbahnen gebaut. Sachsen hatte zunächst ein gemischtes System und ging erst 1895 zum reinen Staatsbahnsystem über. In Preußen waren es politische Hemmnisse, welche dem Bau der Eisenbahnen durch den Staat entgegenstanden. Friedrich Wilhelm III. hatte sich in dem von Hardenberg entworfenen Staatsschulden-Edikt vom 17. Januar 1821 dahin gebunden, daß er keine neuen Anleihen und Schulden für den Staat aufnehmen werde, solange nicht die zu bildenden Reichsstände den Anleihen zugestimmt hätten. Er konnte sich aber bis zu seinem T o d e im Jahre 1840 nicht entschließen, Preußen die bereits am 22. Mai 1815 feierlich versprochene Konstitution zu geben, und so war der Preußische Staat bis zur Verkündung der konstitutionellen Verfassung außerstande, Kredite aufzunehmen. Immerhin konnte die Preußische Regierung aus den laufenden Einnahmen Bahnbauten durch Zinsgarantien oder verlorene Zuschüsse unterstützen und auch selbst kleinere Strecken bauen. Als es für Preußen in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts staatsrechtlich möglich wurde, den Staatsbahngedanken zu verwirklichen, machten sich die liberalen Kräfte geltend, die grundsätzlich für die Aufrechterhaltung der Privatbahnen eintraten. Im Jahre 1866 legte die Preußische Regierung sogar einen Gesetzentwurf wegen des Verkaufs der westfälischen Staatseisenbahn vor. Ein späterhin sehr angesehener Abgeordneter erklärte dazu, daß er das preußische V o l k dazu beglückwünschen müsse, daß die Staatsregierung auf dem Wege sei, die Staatsbahnen Privaten zu überlassen. Ein preußischer Minister pries im Jahre 1876 die Initiative der Privatindustrie als das belebende Element, welches durch Unternehmungsgeist, Überwindung technischer Schwierigkeiten, kaufmännische U m sicht, Erkenntnis und Benutzung der derzeitig obwaltenden Verkehrsverhältnisse seinen anregenden Einfluß auf den Bau und die Verwaltung der Staatsbahn ausgeübt habe und noch fortgesetzt geltend mache. Würden die gesamten Privatbahnen in die Hand des Staates

Allgemeine

Probleme der deutschen

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überführt, so befürchtete derselbe Minister, daß Lehre und Anregung, welche aus der freien Entwicklung quöllen, wegfiele und die Gefahr bürokratischer Erstarrung drohe. Fürst Bismarck hat, nachdem sein Reichseisenbahnplan gescheitert war, die liberalen Widerstände gebrochen und in einem unerhörten Schwung die Verstaatlichung der großen Privatbahnen Preußens durchgeführt. Die liberalen Gedanken des vorigen Jahrhunderts sind nach dem Kriege von führenden Ruhrindustriellen wieder aufgenommen worden. Einen Erfolg haben die Bestrebungen der Entstaatlichung der Reichsbahn aber nicht gehabt. Den letzten Angriff gegen das Staatsbahnsystem haben die beiden Eisenbahn-Sachverständigen, der Engländer Sir William Acquorth und der Franzose Leverve, geführt, die von dem Dawes-Komitee zu einem Bericht über die deutschen Eisenbahnen aufgefordert waren. Sie knüpften an ein Wort an, welches damals gerade in einer Eisenbahnschrift erschienen war: „Die Staatseisenbahnen sollen sich in erster Linie mit der fortschreitenden Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens des Landes befassen und dürfen die Erzielung eines Reinertrages erst als einen Gegenstand zweiter Ordnung ansehen". Sie vertraten den Standpunkt, daß eine Eisenbahn in erster Linie einen ausreichenden Reinertrag zu erzielen habe und sich nur nebenher mit der Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens beschäftigen dürfe. Sie suchten durch eine entsprechende Organisation der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft den Einfluß der Regierung und des Parlaments zu beseitigen und durch die Zusammensetzung des Verwaltungsrats und durch Richtlinien für die Betriebsführung in dem Reichsbahngesetz an die Stelle des gemeinwirtschaftlichen Strebens rein kapitalistischen Erwerbsgeist zu setzen, damit die Reichsbahn die ihr aufgezwungenen gewaltigen Reparationssummen zahlen konnte. Die Reichsbahn hat auch diesen Angriff abgeschlagen. Sie hat sich durch die Lockung sogenannter kaufmännischer Grundsätze nicht dazu verführen lassen, die ihr von den bundesstaatlichen Eisenbahnverwaltungen überkommene Tradition zu verletzen, sondern sie hat trotz den ihr auferlegten Fesseln den sozialistischen Gedanken des Dienstes an der Allgemeinheit hochgehalten. Die Deutsche Reichsbahn ist, und dasselbe gilt von der Deutschen Reichspost, gegenüber den liberalen Anschauungen der lebendige Beweis dafür, daß ein Gemeinschaftsunternehmen auch ohne privatkapitalistische Tendenz und ohne privatkapitalistische Führung möglich ist. Reichsbahn und Reichspost haben Zeugnis dafür abgelegt, daß der Trieb zum Geldverdienen, der nach privatkapitalistischen Doktrinen einer überlebten Zeit das alleinige Agens der Entwicklung und des

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Fortschritts sein sollte, durch den Appell an das Pflichtgefühl der Mitglieder der Gemeinschaft ersetzt werden kann. Reichsbahn und Reichspost haben gelehrt, daß der technische Fortschritt nicht abhängig ist von dem Wettbewerb oder einem sonstigen Druck von außen, sondern ebensowohl in einer Organisation erzielt werden kann, die allein auf Pflichterfüllung aufgebaut ist. Die Deutsche Reichsbahn hat als oberstes Ziel nicht die Erwirtschaftung eines Gewinnes, sondern die Befriedigung des Verkehrsbedürfnisses und gibt mit dieser Zielsetzung den Ton an, auf welchen die nicht vom Staat getragenen Verkehrsunternehmungen abgestimmt werden müssen. Die Deutsche Reichsbahn besitzt weder für die Personen- noch für die Güterbeförderung ein Monopol. Neben ihr nehmen die Binnenschiffahrt, das Kraftfahr- und das Fuhrgewerbe an der Personen- und Güterbewegung teil, ebenso wie die Privatbahnen, die nebenbahnähnlichen Kleinbahnen und Straßenbahnen. Aufgabe der Verkehrspolitik ist es, diese nicht vom Staat betriebenen Verkehrsunternehmen in einer Richtung so zu steuern, daß sie als leistungsfähige Verkehrsträger erhalten und auch weiter entwickelt werden, ohne d a ß das sozialistische Gefüge der Reichsbahn gefährdet oder gar aufgerissen wird. So unerträglich es für die deutsche Wirtschaft wäre, wenn die Reichsbahn ihren Betrieb nicht mehr nach gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen führen würde, so schwer würde sie es empfinden, wenn ihr bei ihren vielseitigen Bedürfnissen nicht möglichst verschiedenartige Verkehrsmittel zur Verfügung ständen. Das K r a f t f a h r g e w e r b e hat sich als freies Gewerbe entwickelt. Als nach dem Kriege die großen Heeresbestände an Nutzkraftwagen frei wurden, hätten die Reichsbahn oder das Reich die Wagen in die zivile Güterbeförderung einsetzen und in einer Organisation, wie sie später das Unternehmen Deutsche Reichsbahn erhielt, betreiben können. Die leitenden Stellen erkannten aber nicht die große verkehrliche Bedeutung des Lastkraftwagens und überließen es Privaten, sich Wagen zu beschaffen und mit ihnen einen Güterbeförderungsdienst einzurichten. Es entstand das Unternehmertum im Kraftfahrgewerbe, das sich nicht aus großen kapitalkräftigen Gesellschaften, sondern aus zahlreichen Einzelunternehmern zusammensetzte, die sich mit den meist auf Abzahlung gekauften Wagen eine neue Existenz zu gründen suchten. In harter Arbeit mußten die Unternehmer des Kraftfahrgewerbes ihren Unterhalt verdienen und daneben die Zinsen und Tilgungsbeträge für die gestundeten Kaufpreise herauszuwirtschaften suchen. So haben sie in zähem Kampf sowohl den Personenkraftwagen und Kraftomnibus als auch den Nutzkraftwagen in die

Allgemeine Probleme der deutschen

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Wirtschaft eingeführt. Es kann den Unternehmern im Kraftfahrgewerbe nicht verdacht werden, daß sie die im Werttarif der Reichsbahn sich bietenden Verdienstmöglichkeiten ausnutzten, der bewußt die hochwertigen Waren mit höheren Frachtsätzen belastet, damit die geringwertigen Güter und die für die Bevölkerung unentbehrlichen Lebensmittel billiger befördert werden können. Der Kraftwagen, der sich seine Güter frei wählen konnte, unterbot also die überhöhten Tarife der Reichsbahn für die wertvolleren Güter. Indem sich der Kraftwagen aber gerade die hochwertigen Güter heraussuchte, bedrohte er die Reichsbahn in ihrer Fähigkeit, den Ausgleich für die niedrigeren Tarifsätze von Massengütern und Lebensmitteln zu finden. U m diese Gefahr zu beseitigen, wurde der Kraftwagen durch eine Notverordnung vom 6. Oktober 1931 verpflichtet, für seine Transporte mindestens die gleichen Frachten wie die amtlich veröffentlichten Reichsbahngütertarife zu erheben. Wenn diese Notverordnung sich auch als praktisch undurchführbar erwiesen hat, so ist sie trotzdem in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Sie zeigte den klaren und ernsten Willen der Regierung, das Gewerbe der Güterbeförderung mit Kraftwagen nicht dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen, sondern der auf den Dienst an der Allgemeinheit gerichteten Verkehrspolitik der Deutschen Reichsbahn anzupassen. Der gewerbliche Personenverkehr wurde durch das Gesetz vom 4. Dezember 1934, der gewerbliche Güterfernverkehr durch das Gesetz vom 26. J u n i 1935 geregelt. Beide Gesetze wollen und sollen den Kraftwagen in seiner Entwicklung nicht hemmen, gleichzeitig aber dem Staat die Möglichkeit geben, den Kraftwagen in seinem Fortschreiten zu beobachten und jederzeit dort mit einzugreifen, wo es gilt, den Gesamtverkehr vor Erschütterungen zu bewahren. Die gewerbsmäßige Beförderung von Personen mit Kraftwagen ist unter den staatlichen Erlaubniszwang gestellt und von der Prüfung der Bedürfnisfrage abhängig gemacht worden. Für den gewerblichen Güterfernverkehr ist der Reichskraftwagen-Betriebsverband errichtet worden, der alle im Güterfernverkehr tätigen Unternehmer zwangsweise zusammenfaßt und seine Tarife im Einvernehmen mit der Deutschen Reichsbahn, nötigenfalls nach Entscheidung des Reichsverkehrsministers, festsetzt. Der Kraftwagen soll der deutschen Wirtschaft neben der Schienenbahn und der Binnenschiffahrt als drittes großes Verkehrsmittel zur Verfügung gestellt werden, und die Deutsche Reichsbahn wird sich nicht dagegen wehren, dem Kraftwagen den Verkehrsanteil freizugeben, der ihm nach seiner Eigenart zukommt. Die Gesetzgebung bietet die Möglichkeit, die Entwicklung

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des Kraftwagens und seine Eingliederung in das Verkehrswesen mit der Gesamtlage des Verkehrs und der Befriedigung des Verkehrsbedürfnisses in Übereinstimmung zu bringen. Die B i n n e n s c h i f f a h r t ist bis heute als frei wirtschaftendes Gewerbe erhalten geblieben. Sie nimmt im Verhältnis zur Reichsbahn mit etwa 22 v. H. an der Güterbewegung teil und beweist damit ihre große Bedeutung für die Wirtschaft. Sie hat ebenso wie der Kraftwagen der Deutschen Reichsbahn Transporte abgenommen und wird es auch weiterhin tun. Allein sie erschöpft sich nicht darin, nur solche Güter zu befördern, die bei der Reichsbahn über die durchschnittlichen Selbstkosten hinaus tarifiert sind, sondern sie hat durch ihre Transporte industrielle Produktionen und landwirtschaftlichen Absatz geschaffen, die allein auf der Schiene kaum hätten entwickelt werden können. Ziffernmäßige Berechnungen lassen sich darüber allerdings nicht geben. Die Klage der Binnenschiffahrt über den Wettbewerb, der ihr durch Tarifmaßnahmen der Deutschen Reichsbahn verursacht wird, ist verständlich. Die Deutsche Reichsbahn ist technisch und betrieblich in der Lage, einen erheblichen Teil der Binnenschiffstransporte durch Ausnahmetarife von der Wasserstraße auf die Schiene zu ziehen. Solche Ausnahmetarife würden aber letzten Endes keinen Vorteil für die Wirtschaft, sondern nur eine Verkehrsverlagerung zur Folge haben. Die Binnenschiffahrt hat Anspruch darauf, daß ihr die Lebensmöglichkeit erhalten bleibt und ihre Betriebe nicht durch Auswirkungen der Reichsbahntarife zum Erliegen gebracht werden. Die Binnenschiffahrt setzt sich aus einer Unzahl von Einzelunternehmern zusammen, die in der schweren Krise, welche die deutsche Wirtschaft in den Jahren nach 1929 heimsuchte, zwangsweise zusammengefaßt werden mußten, damit sie sich nicht gegenseitig vernichteten. Den größeren Reedereien, welche im Osten und Mitteldeutschland über ein Drittel und auf dem Rhein über die Hälfte des Binnenschiffsparks und der Schleppkraft verfügen, wurde aufgegeben, zur Durchführung ihrer Transporte auch dann Einzelschiffer heranzuziehen, wenn sie die Beförderung mit eigenem Schiffsraum oder eigener Schleppkraft hätten abwickeln können. Das Verhältnis, in welchem die Reeder Schiffsraum von Kleinschiffern in Anspruch nehmen mußten, wurde auf den verschiedenen Stromgebieten im gegenseitigen Einvernehmen festgesetzt. Auf dem Rhein haben es die Reeder übernommen, mit dem Kleinschifferverband Raumgestellungsverträge abzuschließen, die der Kleinschiffahrt auch in den verkehrsarmen Zeiten eine gewisse Beschäftigung sichern. Die

Allgemeine Probleme der deutschen Verkehrsentwicklung

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Errichtung von Frachtenausschüssen, in welchen die Verlader und Spediteure in demselben Verhältnis wie die Binnenschiffahrt vertreten sind, und die Befugnis der Frachtenausschüsse, mit verbindlicher Kraft Mindestfrachten festzusetzen, bürgen dafür, daß die Binnenschiffahrt nicht zu Frachten abgleitet, die ein wirtschaftliches Durchhalten der Unternehmer unmöglich machen würden. Der Schutz der Binnenschiffahrt gegen die Reichsbahn auf der einen Seite und marktordnende Maßnahmen innerhalb der Binnenschiffahrt sind die beiden Mittel, mit denen die Binnenschiffahrt in den letzten Jahren der verfrachtenden Wirtschaft als leistungsfähiges Verkehrsinstrument erhalten worden ist. Außerhalb zwar des Binnenverkehrs, aber doch in engem unlösbaren Zusammenhang mit den binnenländischen Verkehrsunternehmungen, arbeitet die S e e s c h i f f a h r t . Die Handelsmarine ist eine notwendige Funktion des Außenhandels. Ein Staat wie Deutschland mit seinem ausgesprochenen Industriecharakter kann einer hochentwickelten Handelsmarine nicht entraten. Welche Chancen hätten wir in den Jahren 1933—34 unseren Boykottgegnern gegeben, wenn wir keine Handelsmarine besessen hätten. Wie leicht wäre es für die Boykottgegner gewesen, die Frachtraten für unseren Export und Import heraufzutreiben oder uns gar von dem Welthandel auszuschließen. Es erscheint uns heute wie ein böser Traum, wenn wir an die Januar-Tage des Jahres 1919 zurückdenken, als Erzberger in den Verhandlungen über die Verlängerung des Waffenstillstandes die gesamte deutsche Handelsflotte an die Alliierten auslieferte. Alle Schiffe von mehr als 1600 Bruttoregister-Tonnen, die Hälfte aller Schiffe zwischen 1200 und 1600 Br. Reg. T . mußten ausgeliefert werden. Deutschland besaß kein Schiff mehr, welches einen transatlantischen Dienst hätte aufnehmen können. Der Norddeutsche Lloyd schrieb in seinem Geschäftsbericht, daß er auf den Stand zur Zeit seiner Gründung zurückgeworfen sei und wieder an der Stelle anfangen müsse, wo er 1857 aufzubauen begonnen hätte. Es ist und bleibt eine der wenigen, aber umso größeren Taten der Nachkriegszeit, daß es den deutschen Reedern bis zum Ablauf des Jahres 1923 gelang, teils durch Rückkauf, teils durch Neubau, wieder eine Handelsflotte in Dienst zu stellen, welche ein Drittel der Vorkriegstonnage umfaßte und ausreichte, um die dringendsten Bedürfnisse der deutschen Wirtschaft zu befriedigen und auf dem Weltmeer die deutsche Flagge zu zeigen. Dieser Erfolg bleibt ein Verdienst der Männer, welche die großen Reedereien zu jener Zeit leiteten und dieses Verdienst soll man nicht vergessen, wenn unter den gleichen 2

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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Paul Freiherr von Eltz-Rübenach, Deutsche Verkehrsentwicklung

Männern später Konzentrationen in der Seeschiffahrt durchgeführt wurden, die sich bis in die jüngsten Tage unheilvoll ausgewirkt haben. Die deutsche Seeschiffahrt leidet heute schwer unter der Abwertung der englischen und der amerikanischen Währung, weil alle Frachten, auch die Raten im deutschen Küstenverkehr, in englischen Pfunden quotiert werden. Das gleiche gilt für die Passagen. Nur die im Nordatlantischen Dienst geltenden Passageraten werden in USA.-Dollar festgesetzt. Da die Raten auf dem internationalen Frachtenmarkt trotz der Abwertung nicht erhöht wurden, so verringerten sich die in Reichsmark umgerechneten Einnahmen der deutschen Reeder, nicht aber die auf Reichsmark gestellten Ausgaben, insbesondere für den Kapitaldienst. Zum Ausgleich dieses Währungsunterschiedes, der bei der Seeschiffahrt nicht, wie in der Industrie und Landwirtschaft, durch Zölle unschädlich gemacht werden kann, wird den Reedereien seit Mai 1933 eine allgemeine Währungsbeihilfe gewährt, die nach Bruttoregistertonnen und dem Arbeitsbedarf bemessen wird. In langwierigen Verhandlungen sind die ungesunden Konzernbildungen auf ein vernünftiges Maß zurückgeführt worden. Der selbständige verantwortungsbewußte Reeder tritt wieder in den Vordergrund. Eine großzügige Sanierung hat die Folgen verfehlter Transaktionen beseitigt. Wir dürfen heute hoffen, daß die deutschen Reeder aus eigener Kraft die großen Aufgaben erfüllen werden, die ihnen als Exponenten des deutschen Außenhandels und als politischen Trägern deutscher Kultur und deutschen Wesens im Auslande zufallen. III. Reichsbahn, Reichspost, Privatbahnen, nebenbahnähnliche Kleinbahnen, Straßenbahnen, Binnenschiffahrt, Kraftfahrgewerbe, Seeschiffahrt, Fuhrgewerbe, Spedition und Reisevermittlung sind im Reichsverkehrsrat unter dem Vorsitz des Reichsverkehrsministers in Gruppen als Verkehrsträger mit Vertretern von Wirtschaft, Kultur und Sport als den Verkehrsnutzern zusammengefaßt worden. Aufgabe des R e i c h s v e r k e h r s r a t s ist es, die Anforderungen zu erfüllen, die Staat, Volk, Wirtschaft und Kultur an den Verkehr stellen, für die Durchdringung seiner Mitglieder mit den gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen der staatlichen Verkehrsführung Sorge zu tragen und den Gedanken an das große verkehrspolitische Ziel lebendig zu erhalten: Die Zusammenfassung der verschiedenartigen Verkehrsmittel zur Entwicklung der Wirtschaft, zur Stärkung der kulturellen Beziehungen, zum inneren und äußeren Schutz des Staates.

DIE DEUTSCHE REICHSBAHN 1 9 1 8 — 1 9 3 6

VON

JULIUS

DORPMÜLLER

GLIEDERUNG: I. Eisenbahn und Staat — Organisation II. Verkehrs- und Tarifpolitik III. Betrieb I V . Reichsbahn und LandesVerteidigung

DIE

GESCHICHTE

DER

V. VI. VII. VIII. IX. X.

DEUTSCHEN

Finanzpolitik Personal- und Sozialpolitik Bauwesen Rollendes Material Beschaffungspolitik Verwaltung und Recht

REICHSBAHN

IN

DEN

Jahren 1918 bis 1936 umfaßt die bewegtesten Zeiten der deutschen Eisenbahngeschichte überhaupt. Sie ist bestimmt durch folgende Tatsachen: durch die Bestrebungen zur Vereinheitlichung des gesamten Eisenbahnwesens aus einer Vielzahl von selbständigen Staatsbahnverwaltungen und durch die Leidensgeschichte der Einspannung der Reichsbahn in den Reparationsdienst des Feindbundes. Den Ausklang dieser Entwicklungszeit bildet die völlige Befreiung von den Tributlasten und die Überwindung der letzten Spuren des Partikularismus in der Organisation der Verwaltung. I. E I S E N B A H N U N D S T A A T —

ORGANISATION

Da die Entwicklung der Organisation der Reichsbahnverwaltung und ihrer regionalen Gliederung sowie das Verhältnis „EISENBAHN 2*

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Julius

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U N D S T A A T " eins der wichtigsten Glieder der Geschichte dieses Zeitabschnittes sind, darf ich die Behandlung dieser Frage voranstellen. Nur mit Schrecken denken wir Eisenbahner zurück an die Zustände am Ende des Krieges und nach dem politischen Zusammenbruch. Wohl hatten die Eisenbahnen und die Eisenbahner bis zum Ende des Krieges durchgehalten und ihre Aufgaben erfüllen können. Der Raubbau am Material, die Zermürbung der Menschen traten aber immer mehr in Erscheinung, und der schwerste Schlag, der die deutschen Eisenbahnen traf, war der Waffenstillstand, der uns Tausende von Lokomotiven und Zehntausende von Wagen wegnahm. Der technische Wiederaufbau hat fast ein ganzes Jahrzehnt erfordert; denn in den ersten Jahren nach dem Krieg ließen uns Inflation und Ruhrbesetzung nicht aus den unmittelbarsten Sorgen herauskommen, und an eine geordnete Wirtschaftsführung war überhaupt erst zu denken, als die Mark stabilisiert war. Dagegen sind wir auf dem Gebiet der Organisation schon in den Jahren 1919 und 1920 ein großes Stück vorwärtsgekommen. A m 1. Mai 1920 waren die R e i c h s e i s e n b a h n e n da, um deren Zustandekommen sich seit Bismarcks vergeblichem Versuch im Jahre 1875 mehr als eine Generation im alten Kaiserreich erfolglos bemühte. Wir Älteren erinnern uns noch der unerfreulichen Streitigkeiten zwischen den verschiedenen deutschen Staatseisenbahnen und ihrer gegenseitigen Wettbewerbskämpfe, die so recht den Partikularismus jener Zeit verkörperten. Man fragt sich, wie es dann 1919/20 so schnell zu den Reichseisenbahnen gekommen ist. Heute sehen wir ganz klar, daß es nicht bloß eine Folge der Finanznot und beginnender Inflation gewesen ist, als die Bundesstaaten freiwillig ihre Bahnen dem Reich überließen, nachdem sie noch in den Jahren zuvor die Selbständigkeit ihrer Eisenbahn„Hoheit" verfochten hatten. Heute wissen wir, daß, für die meisten ganz unbewußt, eine innere Umstellung der Geister während des Krieges eingetreten war. Das gemeinsame Kriegserlebnis hatte bei den Hunderttausenden deutscher Eisenbahner und darüber hinaus ebenso bei all denen, die die Leistungen der Eisenbahnen im Kriege mit ansahen, die Anschauung gefestigt: diese Eisenbahnen sind in Wirklichkeit die e i n e große Verkehrsanstalt, die dem deutschen Volk und zum deutschen Volk gehört und die nun auch in ihrer Verfassung so ausgestaltet werden muß, daß sie ihre Aufgabe für Deutschland richtig erfüllen kann. Das gemeinsame Kriegserlebnis hatte den Eisenbahnpartikularismus überwunden. Allerdings ist nach dem Krieg dieser Partikularismus doch noch einmal aufgeflackert. Als die Verfassung der Reichseisenbahnen 1920 in einem Staatsvertrag nieder-

Die Deutsche Reichsbahn

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gelegt wurde, haben die Regierungen der Länder, die immer noch in den alten Gedankengängen befangen waren, allerhand Vorbehalte vereinbart, die uns über ein Jahrzehnt lang noch viel zu schaffen machten. Durch diese Vorbehalte suchten die Länder dem Reich gegenüber sich noch eine Mitwirkung bei der Verwaltung und natürlich eine solche im partikularistischen Sinn zu sichern und die Organisation der Reichsbahn nach dieser Richtung hin festzulegen. Das augenfälligste Beispiel dieser Art war die besondere Gruppenverwaltung Bayern, die mit besonderen Zuständigkeiten und Freiheiten das Reichsbahnnetz in Bayern verwaltete. Erst dem Dritten Reich mit seinem erstarkten Gefühl für die Einheit Deutschlands war es möglich, diese ebenso wie andere Reste des Partikularismus mit starker Hand zu beseitigen. Das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches hat, indem es die Landeshoheit aufs Reich überführte, auch in der Eisenbahnverfassung den Gedanken der einheitlichen Reichsverwaltung restlos verwirklicht. Als wir Ende 1923 die Inflation glücklich überwunden hatten und damit diese wichtigste Voraussetzung für die innere wirtschaftliche Gesundung der Reichsbahn geschaffen war, wurde die Reichsbahn in folgenschwerer Weise in die Außenpolitik des Reichs hineingezogen. Es mag außenpolitisch notwendig gewesen sein, bei der Liquidierung der Ruhrbesetzung eine Regelung der Reparationsfrage zu versuchen, und es mag auch für Deutschland unabwendbar gewesen sein, daß damals die Eisenbahnen zu Reparationsleistungen herangezogen wurden. In der Folge hat aber diese Einspannung der Reichsbahn in den Reparationsapparat sich in doppelter Hinsicht schwer nachteilig ausgewirkt. Einmal wurden — das ist allgemein bekannt — unter dem Titel der Reparation jahrelang Hunderte von Millionen aus der Reichsbahn und über die Reichsbahn aus der deutschen Wirtschaft herausgepreßt. Daß diese Reparationspolitik auf die Dauer nicht haltbar war, hat sich gezeigt, aber leider erst so spät, daß die deutsche Wirtschaft an den Rand des Untergangs gekommen war. Weniger bekannt und doch für die Reichsbahn nicht minder schädlich war eine Folgeerscheinung der Reparationsregelung: Die Reichsbahn war in die Form einer selbständig wirtschaftenden Reparationsanstalt gebracht und gleichzeitig war dem Ausland ein maßgebender Einfluß auf die Reichsbahn eingeräumt worden. Der eigentliche Verwaltungsapparat der Reichsbahn war zwar in all diesen Jahren rein deutsch geblieben, und wir haben auch unsere Reichsbahn ganz im deutschen Sinne verwalten können. Wir waren aber durch unsere Verfassung genötigt, uns von zu weitgehender Einflußnahme der Regierungen

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und des Parlaments freizuhalten und damit in schwere Gegensätze zum Reichstag und teilweise auch zur Reichsregierung gekommen. Der Reichstag, in Wirklichkeit die parlamentarischen Parteien, haben dafür gesorgt, daß sich beim deutschen Volk die Anschauung festsetzte, die Reichsbahn sei eine „ausländische Gesellschaft" und sie vertrete die Interessen des Auslandes. In Wirklichkeit waren es gerade Regierungen und Parlament gewesen, die das Reichsbahngesetz mit all den Reparationsbindungen erlassen hatten, und unsere, wie wir heute sehen, erfolgreichen Bemühungen, die Reichsbahn wirklich deutsch zu erhalten, hat damals niemand anerkannt. Auch hier hat die neue Zeit, indem sie mit dem Parlamentarismus aufräumte, die Reichsbahn wieder an unmittelbare Zusammenarbeit mit der Reichsregierung herangebracht, und heute ist die Reichsbahn auch nach außen hin wieder anerkannt als die große Verkehrsanstalt, die dem Reich gehört und allein für das deutsche Volk arbeitet. II. V E R K E H R S - U N D T A R I F P O L I T I K Die Deutsche Reichsbahn ist das größte Verkehrsunternehmen der Welt. Die Erfüllung ihrer V E R K E H R S A U F G A B E N und ihre T A R I F P O L I T I K sind für weite Zweige der deutschen Volkswirtschaft von lebenswichtiger Bedeutung. Hier war auf allen Gebieten Aufbauarbeit zu leisten und dem Gütertarifsystem das durch die Vereinheitlichung des Eisenbahnwesens notwendige einheitliche Gerüst zu geben. Durch den Krieg und die Ablieferungen auf Grund des Waffenstillstands und Friedensdiktates war der Lokomotiv- und Güterwagenpark der deutschen Eisenbahnen außerordentlich geschwächt. Die Bedürfnisse der Wirtschaft konnten deshalb nur ganz unzulänglich befriedigt werden. Große Aufwendungen waren nötig, um den Güterwagenpark aufzufüllen und den bis 1929 allmählich wieder ansteigenden Verkehr zu bedienen. Durch Schaffung günstigster B e f ö r d e r u n g s g e l e g e n h e i t e n wurde versucht, der Wirtschaft zu helfen und den Wagenumlauf zu beschleunigen. Waren im Zeichen der Scheinkonjunktur bis zum Jahre 1929 die Verkehrsziffern ständig gestiegen, so war in den Jahren 1930 bis 1932 bei rückläufiger Konjunktur der Wagenpark nur teilweise ausgenutzt. Nach dem Umschwung 1933 belebte sich der Güterverkehr dank der von der Reichsregierung großzügig eingeleiteten Maßnahmen sprunghaft, doch ist es stets gelungen, auch den erhöhten Anforderungen restlos zu genügen. Als Maßnahmen, die die Reichsbahn den volkswirtschaftlichen Forderungen auf Erleichterung des Haus-Hausverkehrs entsprechend durchführte, wurden besonders gefördert:

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1. der Behälterverkehr, 2. der Einsatz des Straßenfahrzeugs. Der Behälterverkehr soll in erster Linie die Haus-Hausbedienung im Stückgutverkehr herstellen. Er hat sich schon nach wenigen Jahren so eingelebt, daß die Deutsche Reichsbahn ihren Behälterbestand auf fast 15000 Stück erhöhen mußte. Der Einsatz des Straßenfahrzeugs ermöglicht es, ganze Eisenbahnwagen auch auf schienenlosen Wegen zu befördern und so auch den Ladungsversendern oder Empfängern die Vorteile zu verschaffen, die bisher nur Gleisanschlußbesitzern zugute kamen. In der G Ü T E R T A R I F P O L I T I K war der 1. Dezember 1920, der T a g des Übergangs zum Staifeltarifsystem, ein Wendepunkt und Markstein in der Tarifentwicklung. Neben der Verreichlichung der Ländereisenbahnen, die endlich eine einheitliche Tarifpolitik zuließ, waren die A u f h e b u n g der Vorkriegsausnahmetarife unter dem Z w a n g des Versailler Diktats, die Notwendigkeit, die Rohstoffrachten auf weitere Entfernungen zu verbilligen und so die Grenzgebiete näher an das Reich heranzuziehen, wirtschaftlicher und politischer A n l a ß zu diesem Schritt. Entsprechend den mit der Entfernung fallenden Selbstkosten entlastet der Staffeltarif die weiteren Entfernungen frachtlich in stark steigendem Umfange, ohne j e d o c h den Nahverkehr allzu fühlbar mehr zu belasten. Vorwiegend unter der Wirkung dieses Tarifs ist die durchschnittliche Beförderungsweite um rund ein Viertel gestiegen. Das neue Tarifsystem hat sich nach anfänglichen Widerständen bestimmter Wirtschaftskreise jetzt voll eingelebt und in kritischen Zeiten als eine K l a m m e r der Reichseinheit bewährt. Die durchschnittliche Gesamttarif höhe, die am 1. November 1923, dem T a g e des Übergangs vom Inflations- zum Goldtarif, doppelt so hoch wie vor dem Kriege war, ist inzwischen durch wiederholte allgemeine und außerordentlich zahlreiche Einzeltariferleichterungen erheblich gesenkt worden und stellte sich Mitte 1936 ohne Beförderungssteuer auf das rund i,23fache der Vorkriegshöhe. Sie liegt damit noch etwas unter der allgemeinen Lebenshaltungskennziffer. Als zu Anfang 1925 der Wegfall von Bindungen des Versailler Vertrages eine freiere Tarifpolitik ermöglichte, ist die Reichsbahn trotz der ihr auferlegten politischen Lasten verantwortungsbewußt dazu übergegangen, die deutsche Volkswirtschaft wieder durch Ausnahmetarife allgemeiner wie besonderer Natur in weitestem Umfange zu fördern. Diese eigentlichen Unterstützungstarife kommen der Erzeugung für Rohstoffbezug und Absatz, dem Verbraucher durch Preisverbilligung zugute. In erheblichem M a ß e fördern sie ferner S t a a t -

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liehe Verkehrs- und Wohlfahrtsaufgaben, wie denn gerade auch die Reichsbahn bestrebt ist, die allgemeine Politik des Dritten Reichs freudig und kräftig zu unterstützen. Unter diesem Gesichtspunkte sind noch über das frühere Maß hinaus besonders notleidenden Gebieten oder Wirtschaftszweigen eine größere Zahl von sogenannten Notstandstarifen gewährt und die Wiedereingliederung des Saarlandes in den deutschen Wirtschaftskörper erleichtert worden. Aus völkischen wie aus Wettbewerbsrücksichten ist ferner auch die deutsche Ausfuhr und ihr Wettbewerb auf dem Weltmarkt durch Ausnahmetarife für alle verkehrswichtigen Güter sowohl über die trockene wie über die nasse Grenze gefördert worden. Ganz besonders sind in diesem Rahmen auch die ständig weiter ausgebauten Seehafentarife hervorzuheben, die den deutschen Seehäfen den Wettbewerb mit Auslandshäfen erleichtern sollen. Diese Tarife gehen in ihrer heutigen Gestalt nach Umfang und gewährtem Entgegenkommen über die Zugeständnisse der Vorkriegszeit erheblich hinaus und gelten nicht nur für die Ausfuhr nach Übersee, sondern auch f ü r die Einfuhr lebenswichtiger Rohstoffe. In bescheidenerem, aber in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzendem Umfange erleichtern ausgleichsweise auch Binnenumschlagtarife unter allgemein volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten den Zu- und Ablauf nach und von deutschen Binnenhäfen. Nicht nur zur berechtigten Wahrung ihres Besitzstandes, sondern auch zum Nutzen der deutschen Volkswirtschaft, der damit Einnahmen beträchtlicher Höhe und Devisen zufließen, hat die Reichsbahn schließlich auch eine Reihe eigenwirtschaftlicher Tarife eingeführt, die heute in der Hauptsache den Wettbewerb mit ausländischen Schienenwegen aufnehmen. Den nach der geographischen Lage Deutschlands mit Recht zu beanspruchenden, aber durch Auslandstarifkampfmaßnahmen, Währungsschwierigkeiten usw. vielfach bedrohten Durchgangsverkehr suchte sich die Reichsbahn besonders durch sogenannte, auf die Wettbewerbslage abgestellte Durchfuhrtarife zu erhalten. Die Einführung dieser Tarife war eine wesentliche Voraussetzung für die Wirkung gerade auch des Scripsverfahrens. Bei dauernden gegenseitigen Tarifunterbietungen hat die Reichsbahn auch den Weg sogenannter Auslobungen gewählt, indem sie die auf Wettbewerbswegen erreichbaren billigeren Frachten durch Rückvergütungen gewährt. Die Deutsche Reichsbahn hat auch — über den Ausbau des allgemeinen Tarifs hinaus — den Grundgedanken der Reichsregierung auf volkswirtschaftlichem und sozialpolitischem Gebiet durch besondere Tarifmaßnahmen Rechnung getragen. So hat sie es sich an-

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gelegen sein lassen, die umfangreichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Reichsregierung (Arbeiten des Sofortprogramms 1933, des Arbeitsbeschaffungsprogramms vom I . J u n i 1933 und des Arbeitsbeschaffungsprogramms für das Saarland 1935, Arbeiten zum Zwecke der landwirtschaftlichen Siedlung und der vorstädtischen Kleinsiedlung sowie Arbeiten des Reichsarbeitsdienstes) sowie die Ziele des Reichsnährstandes durch Zubilligung von Frachtermäßigungen zu unterstützen. Ganz besonders aber hat sie seit Jahren dem großen Liebeswerk des deutschen Volkes, dem W i n t e r h i l f s w e r k , eine weitgehende Förderung dadurch zuteil werden lassen, daß sie die zahlreichen Liebesgabensendungen dieses Hilfswerkes auf den Reichsbahnstrecken f r a c h t f r e i befördert hat. I m Winter 1935/36 entsprach diese Beförderungsleistung einem Frachtbetrage von 15 419000 R M . Nach der Verreichlichung der vormaligen Deutschen Staatseisenbahnen im Jahre 1920 konnte endlich auch an die Vereinheitlichung der deutschen E i s e n b a h n - P E R S O N E N - , G E P Ä C K - UND E X P R E S S G U T TARIFE herangegangen werden, ein Ziel, das in früheren Jahren wohl wiederholt angestrebt, aber nur zum kleinen Teil im Jahre 1907, unter anderem mit Abschaffung der Rückfahrkarten und Einführung eines einheitlichen Gepäcktarifs, erreicht worden war. Eine weitere Maßnahme von einschneidender Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft brachte dann im Jahre 1928 die Abschaffung der 4. Wagenklasse. Hierbei trat wohl eine geringe Verteuerung der Reisen für die bisherigen Benutzer der 4. Wagenklasse ein, es wurde aber auch den minderbemittelten Volkskreisen bei gleichzeitiger Senkung des Satzes für die nunmehr niedrigste (3.) Wagenklasse eine größere Reisebequemlichkeit (Sitzplätze für alle) und eine Beschleunigung der Fahrzeiten geboten. Soweit sich bei Durchführung dieser einschneidenden Tarifmaßnahmen Härten herausgestellt hatten, sind sie im Laufe der Jahre, besonders aber seit der Machtübernahme durch die N S D A P , durch Erweiterung der bestehenden und Schaffung neuer Ausnahmetarife nach Möglichkeit gemildert worden, und zwar in einem Ausmaß, wie dies zu Zeiten der früheren Deutschen Staatseisenbahnen nicht möglich war. Dies trifft besonders für den B e r u f s - u n d S i e d l u n g s v e r k e h r mit seinem starken Verkehr auf Zeitkarten zu (Monats- und Teilmonatskarten, Schülermonatskarten, Arbeiter- und Angestelltenwochenkarten, Kleingärtnerkarten, Zehnerkarten usw.). A u f s o z i a l e m G e b i e t wurden ebenfalls bestehende Vergünstigungen ausgebaut und neue eingeführt, z. B. für Blinde bei Berufs-

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reisen, Schwerkriegsbeschädigte, Kriegsteilnehmer, Schwerbeschädigte der nationalen Erhebung, zum Gräberbesuch Kriegshinterbliebener. Durch Einführung einer besonderen Fahrpreisermäßigung für k i n d e r r e i c h e F a m i l i e n wurden die bevölkerungspolitischen Maßnahmen der Reichsregierung weitgehend unterstützt. S c h u l - u n d J u g e n d p f l e g e f a h r t e n wurden durch Herabsetzung der Mindestteilnehmerzahl (auf 5 + 1 Führer) erleichtert und dem E r h o l u n g s b e d ü r f n i s weiter Volkskreise durch großzügigen Ausbau der Sonntagsrückfahrkarten und Feriensonderzüge, sowie der Fahrpreisermäßigungen für Gesellschaftsfahrten und Sonderzüge (darunter besonders die Sonderfahrten der NS-Gemeinschaft „ K r a f t durch Freude") sowie durch Einführung von Urlaubskarten (Ostpreußenrückfahrkarten) Rechnung getragen. Für den Fremdenverkehr nach Deutschland wurde in letzter Zeit durch Einführung einer besonderen A u s l ä n d e r e r m ä ß i g u n g mit 60% erfolgreich geworben. Schließlich ist auch der beste K u n d e der Reichsbahn, der kaufmännische Berufsreisende, mit besonders verbilligten Netz- und Bezirkskarten und Einführung eines ermäßigten Gepäcktarifs für Warenproben und Muster bedacht worden. I m Zusammenhang damit wurden auch der Gepäck- und der Expreßguttarif in den letzten Jahren wiederholt ermäßigt (zuletzt 1934 der Gepäcktarif um durchschnittlich 30%), auch wurden die den Waren- und Gepäckverkehr belastenden Überführungsgebühren an Orten mit mehreren Bahnhöfen (z. B. Berlin, Breslau) mit wenigen Ausnahmen (Verkehr mit Privatbahnen) im Jahre 1933 beseitigt. Die Frage E I S E N B A H N — K R A F T W A G E N ist erst ein Problem der Nachkriegszeit. I m Jahre 1929 lenkte die Reichsbahn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den ständig wachsenden Kraftwagenverkehr und auf die gefährlichen Folgen, die bei seiner ungehemmten Entwicklung der Gesamtwirtschaft dadurch drohten, daß die Reichsbahn auf die Dauer nicht in der Lage sein werde, ihr gemeinwirtschaftliches Tarifsystem mit der besonderen Begünstigung der Massengüter aufrecht zu erhalten. Nachdem die Notverordnung vom Jahre 1931, die sowohl den Güter- als auch den Personenverkehr betraf, sich als nicht ausreichend erwiesen hatte, die Einhaltung des Reichskraftwagentarifs durchzusetzen, ist die Frage durch das Gesetz über die Beförderung von Personen zu Lande vom 4. Dezember 1934 und das Gesetz über den Güterfernverkehr mit Kraftfahrzeugen vom 26. Juni 1935, das am 1. April 1936 in K r a f t getreten ist, vorläufig gelöst. Die getroffene Regelung wird ihre endgültige Bewährung beweisen müssen.

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Schon seit Jahren hat die Reichsbahn das neue Verkehrsmittel zur Sicherung ihres Verkehrsbesitzes, zur Beschleunigung ihrer Verkehrsbedienung und zur Erweiterung ihres öffentlichen, der Allgemeinheit dienenden Betätigungsbereiches eingesetzt. Viele Kraftwagen hat die Reichsbahn selber in ihren Dienst gestellt. Ihre Beteiligung am Kraftwagengüterverkehr, den sie zum Teil mit eigenen Fahrzeugen, zum Teil mit Fahrzeugen von Unternehmern betreibt, ist erheblich erweitert worden. Auf dem Gebiete des Personenverkehrs hatte die Reichsbahn in den letzten Jahren am Kraftwagenverkehr regelmäßig nur noch an dem von der Deutschen Reichspost betriebenen Omnibusverkehr teilgenommen. Dagegen hat sie in der letzten Zeit den fahrplanmäßigen Kraftwagenlinienbetrieb auf allen bisher eröffneten Reichsautobahnstrecken aufgenommen. Besondere Aufmerksamkeit hat die Reichsbahn der Ausgestaltung des Rollfuhrdienstes in den letzten Jahren zugewandt, insbesondere ihn auf die Anfuhr der Stückgüter zum Versandbahnhof sowie die An- und Abfuhr von Wagenladungen ausgedehnt, und eine einheitliche und möglichst niedrige Festsetzung der Rollgebühren durchgeführt. III. B E T R I E B S F Ü H R U N G Eine besondere schwere Aufgabe war es für die deutschen Eisenbahnen, bei Ende des Weltkrieges ihren B e t r i e b s d i e n s t vom Kriegsauf den Friedenszustand umzustellen. Unter den außerordentlichen Leistungen zur Unterstützung des kämpfenden Heeres an den ausgedehnten Fronten und zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft im Innern des Reiches war der gesamte Betriebsapparat bis aufs äußerste ausgenutzt worden. Sowohl der weithin auch in Feindesland verstreute Fahrzeugpark wie die baulichen Anlagen der heimischen Strecken hatten stark gelitten; ein großer Teil des ehemaligen gut eingearbeiteten Personals aller Dienstzweige war durch den Kriegsdienst seiner Arbeit entrissen. Dazu kam die im Waffenstillstandsvertrag geforderte Schwächung des Fahrzeugbestands um 5000 Lokomotiven und 150000 Eisenbahnwagen, die durch Ablieferung an den Feindbund dem deutschen Netz die brauchbarsten Einheiten raubte. Und nicht minder groß waren die Schwierigkeiten, die sich ergaben aus der den Bedarf weit überschreitenden Übernahme der rückkehrenden Krieger in den Eisenbahndienst, deren Arbeitswille und -erfolg durch die Einflüsse der Staatsumwälzung aufs stärkste gemindert war. Zu diesen in den Eisenbahnunternehmen selbst liegenden Behinderungen rascher Gesundung des Betriebs traten J a h r e hindurch

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schwerste Störungen politischer Art. Der Friedensschluß mit seinen Gebietsabtretungen, die Eingriffe der Besatzungstruppen sowohl in den Eisenbahnbetrieb wie in die gesamte deutsche Wirtschaft, die Ruhrbesetzung, Aufstände und Landverluste im Osten, Putsche und Streiks in fast allen Teilen des Reichs, schließlich der katastrophale Währungsverfall: all das wirkte sich nicht zuletzt im Verkehrswesen aufs härteste aus. So konnte auch die inzwischen aus den ehemaligen Länderbahnen zur Einheit zusammengeschweißte Reichsbahn zunächst nur langsam die Neuordnung ihres Betriebes durchführen. Das Netz der deutschen R E I S E V E R B I N D U N G E N , das vor dem Kriege in jahrzehntelanger Arbeit so weit ausgebaut war, daß es allen billigerweise zu stellenden Ansprüchen anerkanntermaßen entsprach, war 1918 durch die Wirkungen des verlorenen Krieges völlig zerstört worden. Die Reisegeschwindigkeit der Züge war bereits während des Krieges infolge des schlechten Unterhaltungszustandes der Lokomotiven und Wagen sowie des Oberbaues erheblich gesunken, die Höchstgeschwindigkeit der Schnellzüge von 90 km/h auf 75 km/h und die der Personenzüge von 75 km/h auf 60 km/h herabgesetzt. Ebenso hatte man die Zahl der Züge mehr und mehr einschränken müssen. • Pünktlichkeit und Bequemlichkeit der Reisezüge ließen infolge des mangelhaften Zustandes der Betriebsmittel viel zu wünschen übrig. Nach dem unglücklichen Ausgang des Weltkrieges konnte es sich beim Wiederaufbau des Reisezugfahrplans nicht nur darum handeln, lediglich den Vorkriegszustand wieder herzustellen. Durch die Abtretung großer Teile deutschen Landes sowie die Schaffung neuer Nachbarstaaten waren die Verkehrsbeziehungen innerhalb und außerhalb der Grenzen so grundlegend verändert worden, daß ein völlig neuer Fahrplan geschaffen werden mußte. Nicht zuletzt verlangte auch die Neuregelung der Arbeitszeit im Berufsleben eine völlige Neugestaltung des dem Berufsverkehr dienenden Fahrplans. Unter dem Druck der ständig schwieriger werdenden Wirtschaftslage waren Verbesserungen der Reiseverbindungen nur schwer durchführbar. Die Zahl der Reisemöglichkeiten war zunächst nur gering. Die wenigen Schnellzüge hatten meist große Zuglast und hielten an vielen kleinen Bahnhöfen. Erst 1920 waren die ersten Fortschritte zu verzeichnen: Pünktlichkeit und Ordnung nahmen im Personenverkehr zu. 1922 wurden für die minderbemittelten Kreise auf verkehrsreichen Strecken beschleunigte Personenzüge mit wenig Halten geschaffen. Ein Jahr später verkehrten für den hochwertigen Reiseverkehr erstmalig besondere Fernschnellzüge, bei denen die Zuglast durch Ausschließung der 3. Wagenklasse und durch Erhebung eines besonderen Zuschlags

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so niedrig gehalten wurde, daß ihre Reisegeschwindigkeit etwa die der Vorkriegszeit erreichte. Der Zustand der Betriebsmittel verbesserte sich von J a h r zu J a h r : 1926 konnte für D-Züge, 1928 für Personenzüge wieder die vor dem Kriege gültige Höchstgeschwindigkeit zugelassen werden. 1929 war der Wiederaufbau der Reiseverbindungen schließlich soweit gediehen, daß die gesamten Reisezugleistungen der Reichsbahn etwa so groß waren, wie vor dem Kriege. Inzwischen waren der Reichsbahn im Reisezugdienst neue Aufgaben entstanden. Durch die stürmische Entwicklung, die die Technik des Verbrennungsmotors in den Jahren nach dem Kriege nahm, waren Kraftwagen und Flugzeug zu kräftigen Konkurrenten der Eisenbahnen geworden. Im Wettbewerb dazu waren die Eisenbahnen aller Länder bestrebt, die Zahl der Reisemöglichkeiten zu vermehren, die Reisegeschwindigkeit der Züge zu erhöhen und die Reisebequemlichkeit zu steigern. Trotz der zu erzielenden Verbesserungen durfte die Wirtschaftlichkeit der Beförderungsleistung nicht leiden. Für die Vermehrung der Reisemöglichkeiten, die Verdichtung des Fahrplans durch Ersatz weniger schwerer durch viele leichte Züge, war die Entwicklung neuzeitlicher, im Betrieb billiger Verkehrsmittel nötig: der Triebwagen. Das bei kleinen Lokomotivzügen sich ungünstig gestaltende Platzgewicht erhält im Triebwagen, der kein besonderes Triebfahrzeug benötigt, einen wesentlich niedrigeren Wert; damit sinken die Fortbewegungskosten. Auch der Personalaufwand für meist nur einen Führer anstatt eines Lokomotivführers und Heizers ist im Triebwagenbetrieb niedriger. Infolgedessen hat der Triebwageneinsatz allgemein einen bereits großen Umfang angenommen; bei der Reichsbahn ist der Anteil der durch Triebwagen ausgeführten Zugleistungen, der 1 9 1 3 im deutschen Netz nur von geringster Bedeutung war, bis 1935 auf über 1 3 % der Zugkilometer gestiegen. Für den weiteren Einsatz von Triebwagen mit eigener Kraftquelle ist von der Reichsbahn ein Programm auf weite Sicht aufgestellt worden, wonach mit Ausnahme der schweren Fernpersonen- und Berufszüge allmählich der gesamte Personenverkehr unter gleichzeitiger Erhöhung der Fahrgeschwindigkeit auf Triebwagen umgestellt werden soll. Die Schnellzüge mit ihren zum Teil internationalen Kurswagen und Speisewagen werden dabei in der jetzigen Form erhalten bleiben. Bei dem allmählichen Ersatz von abgängig werdenden Personenwagen durch Triebwagen wird darauf Rücksicht genommen werden, daß zur Bewältigung von Verkehrsspitzen zu den großen Festen und zum Ferienbeginn sowie für Sonderzugleistungen bei großen Massen-

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bewegungen, z. B. Reichsparteitag, stets eine ausreichende Zahl von Dampfzügen gefahren werden kann. Durch technische und organisatorische Maßnahmen sind erfolgreiche Beschleunigungen der Zugläufe erreicht worden. Besonders zum Sommerfahrplanwechsel 1934 wurden die schnellfahrenden Züge so beschleunigt, daß die Gesamtlänge der täglich mit mehr als 95 km/h mittlerer Fahrgeschwindigkeit zurückgelegten Zugläufe auf das Fünffache stieg. Besonders hervorzuheben ist die Geschwindigkeitserhöhung bei den hochwertigen Zügen. 1 9 1 4 fuhr der schnellste deutsche D - Z u g mit 88,8 km/h, 1 9 3 1 mit 90,0 km/h, 1932 mit 9 6 , 1 k m / h , 1935 jedoch — bei 160 km/h Höchstgeschwindigkeit — mit 132,6 km/h mittlerer Fahrgeschwindigkeit. Deutschland hat damit den schnellsten Z u g der Welt; er wird durch einen Dieselschnelltriebwagen gefahren. Zur Zeit sind bereits die wichtigsten deutschen Großstädte mit Berlin durch Schnelltriebwagenfahrten verbunden, und zwar mit Reisezeiten, die erheblich unter derjenigen der bisher besten Lokomotivzüge liegen. A m weiteren Ausbau der Schnelltriebwagenverbindungen wird gearbeitet. Daneben wird aber auch die fahrplanmäßige Verbesserung der mit Lokomotiven gefahrenen Züge nicht vernachlässigt. Durch die neuen StromlinienLokomotiven sind auch im Dampfbetrieb auf den Strecken Berlin— Hamburg und Berlin—Dresden so hohe Geschwindigkeiten bei größeren Zuggewichten erzielt worden, daß sie denen der Schnelltriebwagen nahe kommen. Neben der Pflege des Nah- und Fernverkehrs im Reich hat die Reichsbahn sich auch den Ausbau des Stadt- und Vorortverkehrs der Reichshauptstadt angelegen sein lassen. Durch die zwischen 1927 und 1933 ausgeführte Elektrisierung der Stadt- und Ringbahn sowie der Wannseebahn ist das Reichsbahnschienennetz Berlins wieder zu einem hochwertigen Schnellverkehrsmittel geworden. Die für 1938 vorgesehene Fertigstellung der zur Zeit im Bau befindlichen, die südlichen und nördlichen Vorortstrecken verbindenden Nordsüd-S-Bahn wird als Markstein in der Entwicklung des Berliner Verkehrswesens betrachtet werden müssen. Seit dem Regierungsantritt Adolf Hitlers hat die Reichsbahn mehrfach gewaltige Massen von Volksgenossen an die Tagungsorte befördert und ist damit zu einem unentbehrlichen Mittel für die großen repräsentativen Veranstaltungen des Dritten Reiches und f ü r die Durchdringung unseres Volkes mit dem Gedankengut des Nationalsozialismus geworden. A u f die reibungslose und sichere Durchführung so gewaltiger Transporte wie zum Reichsparteitag in Nürnberg 1935 (1042 Sonderzüge) darf die Deutsche Reichsbahn stolz sein.

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A u c h für die Durchführung der Aufgaben der NS-Gemeinschaft „ K r a f t durch Freude" hat sich die Reichsbahn als wertvolles Werkzeug erwiesen. In den letzten Jahren sind, gefördert durch besonders billige Tarife, alljährlich rund 3 Millionen Volksgenossen in der NSGemeinschaft „ K r a f t durch Freude" mit der Reichsbahn zur Erholung und Entspannung in die schönsten Teile Deutschlands gefahren. Hierfür wurden an einzelnen Sommersonntagen bis zu 135 Züge gleichzeitig eingesetzt. Ebenso wie im Reisezugbetrieb konnten sich durchgreifende bessernde Maßnahmen im G Ü T E R Z U G B E T R I E B erst einige Jahre nach Kriegsende durchsetzen. Hier brachte das Jahr 1924, in dem nach Überwindung des Ruhrkampfs und der gröbsten Folgen der Umwälzung von 1918 der systematische N e u a u f b a u begonnen werden konnte, den Wendepunkt in der Entwicklung. Unter Ausschaltung der alten Länderbahn-Interessen wurde zunächst eine planmäßige Neuordnung des Güterzugbildungswesens vorgenommen; die Rangieraufgaben wurden auf den geeigneten Verschiebebahnhöfen zusammengefaßt und als Beförderungswege des Ferngüterverkehrs diejenigen ausgewählt, die sowohl nach Verkehrsaufkommen wie nach Gestalt und Leistungsfähigkeit der Strecke über die anderen hervorragten. Durch Ausschaltung nicht unbedingt nötiger Umstellungen und damit verbundener Aufenthalte, sowie durch Stillegung von Rangierbahnhöfen konnten damit einerseits kürzere Beförderungsdauern, andererseits niedrigerer Zugbildungsaufwand erreicht werden. I m gleichen Sinne wirkte die Beschleunigung der Güterzugfahrt, die sich mit Einführung der durchgehenden Luftdruckbremse der Güterwagen erzielen ließ; die größere Bremssicherheit der nun vom Lokomotivführer allein beherrschten Züge wurde zur höheren Fahrtgeschwindigkeit ausgenutzt unter gleichzeitiger Verminderung der Zugbegleiter. Die Beschleunigung kam vor allem den Durchgangsgüterzügen zugute, die auf weite Entfernungen fahren und nur auf größeren Bahnhöfen halten. So ermäßigte sich in unermüdlich durch Jahre hindurch fortgesetzten Bemühungen die Beförderungsdauer von Frachtgutwagenladungen beispielsweise zwischen Berlin und Hamburg Dresden Breslau Bremen

von 1918 mit Stunden

9 11 14 15

bis 1935 auf Stunden

5 5 o 9

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zwischen Berlin und Königsberg Saßnitz Nürnberg Frankfurt (Main) Köln München Stuttgart

von 1918 mit Stunden 21 22 26 34 34 41 52

bis 1935 auf Stunden 19 18 15 21 17 23 28

Durch die Beschleunigung der Güterzüge sind die deutschen Lande sozusagen einander nähergerückt. Auch der Nahverkehr wurde verbessert: leichte Güterzüge übernahmen ab 1927 in steigendem Maße die Bedienung des Stückgutverkehrs und entlasteten damit die Nahgüterzüge, denen die Wagenladungen und somit Unterwegsrangieraufgaben verblieben, von den langen Ladeaufenthalten. Beide Arten von Nahzügen wurden damit beschleunigt. In der Folge erfuhren die Wagenladungszüge eine weitere Kürzung ihrer Aufenthalte durch Einsatz von Kleinlokomotiven und von Wagenschiebern als Rangierhilfsmittel der kleineren Bahnhöfe; die leichten Güterzüge wurden, soweit dies wirtschaftlich und für die Beförderungszeit vorteilhaft war, zum Teil durch Lastkraftwagen als Zubringer und Verteiler im Stückgutverkehr ersetzt. Der Erfolg dieser Maßnahmen ist sowohl bei den Durchgangsgüterzügen wie bei den Nahverbindungen eine Kürzung der Reisezeiten auf etwa 2/3 derjenigen von 1918. Dabei ist zu berücksichtigen, daß trotz Steigerung der Geschwindigkeiten die Zuggewichte allgemein erhöht wurden, eine Folge der Verwendung stärkerer Lokomotiven und größeren Ladegewichts der Wagen. Besonders günstig sind die für den Massenverkehr z. B. von Kohlen, Koks, Erden seit 1926 gefahrenen geschlossenen Züge mit Selbstentladewagen (2000 t brutto, etwa 1430 t Nutzlast); in geeigneten Fahrplänen gelangen sie unmittelbar ohne Rangierhalte von den Versand- nach den Verbrauchsgebieten. Besondere Pflege und Sorge erfahren auch die für die Lebensmittelversorgung des gesamten Volkes wichtigen Eilgüterzüge. Schon 1923 wurde begonnen, ihren Fahrplan umzugestalten und Durchgangseilgüterzüge auf weite Entfernungen mit nur wenigen Unterwegshalten und hohen Geschwindigkeiten zu schaffen. Damit können auch verderbliche Güter, wie z. B. Gemüse, frische Seefische und Bananen und andere mehr, in der bisherigen Beförderungszeit viel weiter als früher gefahren und ihr Absatzgebiet wesentlich erweitert werden. Ein Eilgüterzug von Basel nach Aachen fährt beispielsweise 80 km/h Höchst-

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geschwindigkeit und bringt damit Lebensmittelsendungen von Italien nach England in der gleichen Zeit wie auf dem 200 km kürzeren Weg durch Frankreich—Belgien. Seit 1934 verkehrt während der Frühobsternte in Mittelbaden, in der Pfalz und am Rhein ein Schnellgüterzug von Basel nach Berlin mit einem Flügelzug nach Hamburg und entsprechenden Anschlußzügen; bei einer Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h haben diese Züge dem von ihnen beförderten Obst weite Märkte — bis nach Königsberg — erschlossen, da es z. B. in Berlin, Hamburg, Bremen, Leipzig, Dresden schon am ersten T a g e nach der Ernte die Frühmärkte erreicht. Die Fortentwicklung des Güterzugfahrplans wird dauernd überwacht durch das seit 1925 eingeführte Reichsgüterkursbuch, das auch der Öffentlichkeit, insbesondere den Spediteurkreisen die günstigen Verbindungen für einen schnellen Austausch der Rohstoffe und Erzeugnisse innerhalb des Reiches sowie für die Ein-, Aus- und Durchfuhr bekannt gibt. Angesichts der Verbesserungen, die sowohl im Reise- wie im Güterzugbetrieb seit 1918 erzielt worden sind, ist die günstige Entwicklung der Wirtschaftlichkeit des Betriebes von besonderem Interesse: Seit 1913 bis 1935 haben sich die jährlichen Beförderungsleistungen im Reiseverkehr von 36,6 auf 39,5 Milliarden Personenkilometer oder von 100% auf 108%, im Güterverkehr von 57,0 auf 63,5 Milliarden Tonnenkilometer oder von 100 % auf 1 1 1 % gehoben. Die Zugleistungen dafür sind bei den Reisezügen von 420 Millionen auf 486 Millionen Zugkilometer, d . h . auf 1 1 5 % gestiegen, die Achskilometer in diesen Zügen dagegen auf 97 % gesunken; darin kommt einerseits die Umstellung des Reisezugbetriebes auf häufigere Streckenbedienung mit kleineren Zügen zum Ausdruck, anderer108 seits ist die bessere Ausnutzung der Züge aus der auf = 111,5% gestiegenen Zahl der Reisenden j e Achse deutlich erkennbar. Ähnlich ergibt sich im Güterverkehr trotz obiger auf 1 1 1 % erhöhter Beförderungsleistung ein Absinken der Güterzugkilometer von 251 auf 248 Millionen Zugkilometer oder auf 9 8 , 7 % und der Achskilometer auf 97,3 % ; das Ausnutzungsverhältnis j e Z u g ist demnach auf j e Z u g und auf 3

97.3

98,7

= 112,5%

= 1 1 4 % j e Achse verbessert, eine Folge des Ein-

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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satzes stärkerer Lokomotiven und von Wagen größerer Tragfähigkeit. Aus letzterem Grunde sind trotz des stärkeren Verkehrs auch die Wagenstellungen seit 1913 mit 40,7 Millionen bis 1935 auf 37,7 Millionen oder auf 9 3 % gesunken. Wirtschaftlich günstige Ergebnisse zeitigt die erhöhte Geschwindigkeit auch bei den Fahrzeugen; beispielsweise waren 1926 noch 25 921 Lokomotiven mit einer mittleren Jahresleistung von etwa 33800 km je Lokomotive, 1935 trotz höherer Zugkilometerleistung nur mehr 21656 Lokomotiven mit i. M. 43000 km jährlich vorhanden. Von dieser Mehrleistung, die je Lokomotive etwa 2 7 % ausmacht, entfallen etwa 7 % auf den seit 1926 günstiger gewordenen Ausbesserungsstand, die restlichen 20% auf die durch das raschere Fahren mitverursachte bessere Ausnutzung. Diese wenigen Beispiele zeigen, daß der Geschwindigkeitserhöhung nicht nur werbende Kraft durch schnelle Bedienung des Reise- wie des Güterverkehrs innewohnt, sondern daß ihr infolge der Umlaufsteigerung von Personal und Material erhebliche wirtschaftliche Bedeutung zukommt. Würden die Beförderungsleistungen im Reisezugdienst von heute noch mit den 1932 angewandten Geschwindigkeiten ausgeführt, so wären dafür etwa 22 Millionen R M . mehr als bei den jetzigen kürzeren Fahrzeiten nötig; im Güterverkehr sind durch das schnellere Fahren die jährlichen Kosten um einen etwa gleichen Betrag gesenkt worden. IV. REICHSBAHN U N D L A N D E S V E R T E I D I G U N G Neben den ihr sonst obliegenden Aufgaben ist die Reichsbahn ein wichtiges und wertvolles Glied der L A N D E S V E R T E I D I G U N G . Sie war und ist unzweifelhaft auf absehbare Zeit hinaus das leistungsfähigste und damit wichtigste Transportmittel für die Wehrmacht und ihre Bedarfsgegenstände. Die Entwicklung der übrigen Transportmittel, insbesondere des Kraftwagens und der Luftverkehrsmittel in den Nachkriegsjahren und besonders in der jüngsten Zeit hat die Bedeutung, welche die Eisenbahnen in dieser Hinsicht im letzten großen Kriege innegehabt haben, nicht abschwächen können; ihre Bedeutung ist vielmehr dadurch noch gestiegen, daß sie einen großen Teil der Treibund Ersatzstoffe für diese neuen Transportmittel zu befördern haben werden. Darüber hinaus ist die gesamte Kriegswirtschaft ohne die Eisenbahnen undenkbar. Es ist selbstverständlich, daß die Reichsbahn bemüht ist, allen in dieser Hinsicht an sie herantretenden Forderungen auf materiellem und personellem Gebiete gerecht zu werden.

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FINANZPOLITIK

Die Zeit von 1918 bis 1936 war auch für die F i n a n z w i r t s c h a f t der Eisenbahn eine Zeit unruhiger Entwicklung, neuer noch unerprobter Gedanken, eine Zeit, die fast täglich die Leitung der Bahn vor Aufgaben weittragender Bedeutung stellte. Die ersten J a h r e nach dem Weltkriege brachten in der Entwicklung der deutschen Eisenbahnen einen entscheidenden Wendepunkt mit dem Zusammenschluß der Ländereisenbahnen zu einer Deutschen Reichsbahn, einem langersehnten Ziele, für dessen nunmehrige Erreichung die außerordentlich schwierige finanzielle Lage der Ländereisenbahnen mitbestimmend gewesen war. Nach Artikel 92 der Reichsverfassung von 1 9 1 9 sollten die Reichseisenbahnen zwar als selbständiges wirtschaftliches Unternehmen verwaltet werden; sie blieben aber in den Reichshaushalt eingegliedert, ebenso wie bisher die Ländereisenbahnen in die Länderhaushalte eingegliedert waren. Die 1 e t z t e Verantwortung für die Reichseisenbahnfinanzen lag beim Reichsfinanzminister, da die Reichseisenbahnen keine selbständige Kreditpolitik führen konnten. Um so größer waren die Aufgaben auf dem Gebiet der inneren Wirtschaftsführung. Während vor dem Kriege die deutschen Bahnen sehr geordnete und günstige finanzielle V erhältnisse hatten — so betrug damals der jährliche Betriebsüberschuß bei den deutschen Bahnen 800—900 Millionen Mark, bei einer Betriebszahl von 72 — hatte sich ihre wirtschaftliche Lage schon während des Krieges und in immer steigendem Maße nach dem Kriege verschlechtert und ihren tiefsten Punkt im J a h r e 1923 erreicht mit einer Betriebszahl von 302; die reinen Betriebsausgaben waren somit auf das Dreifache der Einnahmen gestiegen. Der vordringlichsten Aufgabe der Finanzwirtschaft — Erhaltung und Weiterentwicklung der Vermögenswerte der Reichseisenbahnen bei ausgeglichener Gesamtrechnung — stellten sich außerordentliche Schwierigkeiten entgegen. Auf der Ausgabenseite erforderte vor allem die Erneuerungsbedürftigkeit des Betriebsapparates, der in den Kriegsjahren übermäßig in Anspruch genommen und der zudem durch Ablieferungen an die Feinde stark geschwächt worden war, die Anspannung aller Kräfte. Hinzu traten die stark übersetzten Personalausgaben, verursacht durch die Notwendigkeit, die aus dem Krieg zurückflutenden Menschenmassen in Arbeit und Brot zu bringen. Und nicht zuletzt häuften sich die Schwierigkeiten durch das sprunghafte Sinken des Markwertes. Vor allem auf der Einnahmeseite stellte die Geldentwertung immer schwierigere Aufgaben. Man entschloß sich angesichts des staatlicherseits lange Zeit festgehaltenen Grundsatzes, daß Mark gleich Mark sei, nur zögernd, die Geldentwertung durch Tariferhöhun3*

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gen abzufangen. Später wurden die Tarife in immer kleineren A b ständen erhöht, bis man sie schließlich fortlaufend, zuletzt täglich aus Grundzahlen und Multiplikatoren bildete. Der Geldentwertung konnte man aber auch damit nicht ganz folgen. Als der Reichsfinanzminister trotz größter Anspannung der Notenpresse nicht mehr in der Lage war, die Finanzbedürfnisse der Reichseisenbahnen zu decken, griff die Deutsche Reichsbahn am Ende der Inflation zur Herstellung eigenen Notgeldes, das vom Reichsverkehrsminister, den Reichsbahndirektionen und den nachgeordneten Stellen herausgegeben wurde. Die Neuordnung der Währungsverhältnisse Ende 1923 führte schließlich am 15. November 1923 zur Abtrennung der Reichsbahnfinanzen von den allgemeinen Reichsfinanzen, einer Maßnahme, die in der Notverordnung vom 12. Februar 1924 gesetzlich verankert wurde und durch die Schaffung des Unternehmens „Deutsche Reichsbahn" nach außen in die Erscheinung trat. Den Reichseisenbahnen wurde es, ohne daß sie dafür Vorbereitungen treffen konnten, überlassen, sich künftig aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Ohne wesentliche Barmittel und ohne Reichsunterstützung wurden sie über Nacht auf eigene Füße gestellt. Die Überwindung dieser ernsten Krise gelang nur durch rücksichtslose Abdrosselung sämtlicher Ausgaben, Einstellung von Bauten und Beschaffungen und durch Verminderung des Personalstandes. Die Tarife wurden auf wertbeständige Basis umgestellt. Trotzdem mußte auch jetzt noch zur Besserung der Kassenlage Notgeld ausgegeben werden; die notwendigen Beschaffungen wurden im Wege eines Wechselkredits bei der Reichsbank kurzfristig finanziert. Trotz der ungeheuren Schwierigkeiten gelang es doch verhältnismäßig schnell, in der Betriebsrechnung zu geordneten Verhältnissen zu kommen. Die kurzfristige Verschuldung aus dem Notgeld und dem Wechselkredit konnte bald abgedeckt werden. Eine weitere tiefgreifende Umstellung der gesamten Finanzwirtschaft brachte die organisatorische Neugestaltung durch das Reichsbahngesetz von 1924. Die Deutsche Reichsbahn, der ein wesentlicher Teil der Reparationslast aufgebürdet war zur Auslösung der besetzten Gebiete und der Rhein-Ruhr-Eisenbahnen, sah sich vor die Aufgabe gestellt, ihre gesamte Wirtschaftsführung und insbesondere ihre Rechnung nach kaufmännischen Gesichtspunkten zu orientieren und ihre Buchführung danach einzurichten. Als Wichtigstes aus dem finanziellen A u f b a u der Deutschen Reichsbahn sei erwähnt, daß als Hauptbestandteil des Gesellschaftsvermögens das mit 24,5 Milliarden R M . ausgewiesene Betriebsrecht eingesetzt wurde, d. h. das ausschließliche Recht zum Betrieb der Reichseisenbahnen und damit zur Ausnutzung des

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im Eigentum des Reiches verbliebenen Reichseisenbahnvermögens. Dieser Wert von 24,5 Milliarden R M . entspricht dem seinerzeit als Wert des statistischen Anlagekapitals ermittelten Betrag. Dem Betriebsrecht entsprechen auf der Passivseite der Bilanz die auf den Namen des Reiches lautenden 13 Milliarden R M . Stammaktien und 500 Millionen R M . Vorzugsaktien der Gruppe A, die dem Reich 1925 von den insgesamt 2 Milliarden R M . Vorzugsaktien des Grundkapitals unentgeltlich überlassen wurden. Dazu kamen 1 1 Milliarden R M . Reparationsschuldverschreibungen. Die restlichen 1,5 Milliarden R M . Vorzugsaktien waren dazu bestimmt, die Kapitalbedürfnisse der Reichsbahn in erleichterter Form zu befriedigen. Davon wurden von September 1925 bis Februar 1928 insgesamt 606 Millionen R M . in den Serien I I — V auf den Markt gebracht, so daß einschließlich der dem Reich unentgeltlich überlassenen 500 Millionen R M . insgesamt 1106 Millionen R M . begeben sind, wovon 25 Millionen R M . sich noch im Portefeuille der Reichsbahn befinden. In Auswirkung des Reichsbahngesetzes mußten unter grundsätzlicher Beibehaltung der bewährten kameralistischen Buchführung die Unterlagen für eine Betriebsrechnung, Gewinn- und Verlustrechnung und für die Bilanz neu geschaffen werden; sie wurden später mehr und mehr ergänzt und verfeinert und auf einen Stand gebracht, der eine einwandfreie Aufstellung von Jahres- und auch Monatsbilanzen sowie von Gewinn- und Verlustrechnungen gestattet. Die neue Organisation im J a h r e 1924 brachte der Reichsbahn die Belastung mit einer Reparationsschuld von 1 1 Milliarden R M . Die Reparationsverpflichtungen betrugen jährlich 660 Millionen R M . mit der Maßgabe, daß in den ersten 3 Jahren „ n u r " 200, 595, und 550 Millionen R M . zu zahlen waren. Trotz dieser ungeheuren Belastung konnten in den Jahren 1925 bis 1929 Betriebsüberschüsse herausgewirtschaftet werden; sie betrugen nach Abzug der Reparationszahlungen in den Jahren 192 5 192 6 192 7 192 8 192 9

361,5 Millionen R M . 285,9 290 „ „ 206,5 >> » 201,6 „ „

Die Betriebszahl (prozentuales Verhältnis zwischen Betriebsausgaben und Betriebseinnahmen) betrug im J a h r e 1929 83,93. Diesen Jahren einer aufsteigenden Wirtschaftsentwicklung, die allerdings sehr bald als eine Scheinblüte der deutschen Wirtschaft erkannt wurde, folgte im J a h r e 1930 eine neue schwere Krise, die sich natur-

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gemäß auch auf die Reichsbahnfinanzwirtschaft auswirkte. Die Einnahmen sanken von fast 5,4 Milliarden R M . im J a h r e 1929 auf 4,6 Milliarden R M . im Jahre 1930; sie betrugen 1931 rund 3,8 Milliarden R M . und im Jahre 1932 nur noch 2,9 Milliarden R M . Trotz aller Anstrengungen, die Ausgaben den gesunkenen Einnahmen möglichst anzupassen, gelang es unter den Auswirkungen dieses Niederganges in den Jahren 1932 und 1933 nicht, die Betriebsrechnung auszugleichen. Dennoch brauchte die Reichskasse dank der vorsichtigen Finanzpolitik der Reichsbahn nicht in Anspruch genommen zu werden. Trotz des Absinkens der Konjunktur blieb die Reparationsbelastung zunächst ihrer Höhe nach dieselbe. Nur wurde durch die Novelle zum Reichsbahngesetz vom 13. März 1930 der Dienst der Reparationsschuldverschreibungen in eine Reparationssteuer umgewandelt. Eine Befreiung von den Tributlasten brachte erst das Abkommen von Lausanne: seitdem 1. J u l i 1932 werden keine Reparationszahlungen mehr geleistet. Allerdings hat die Reichsbahn nach wie vor 70 Millionen R M . als Beitrag an das Reich abzuführen. Als Hauptträger der Reparationslast hat die Reichsbahn bis 1935 insgesamt rund 4,2 Milliarden R M . für das Reich gezahlt. Die finanzielle Entwicklung seit 1933 steht ganz im Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs als unmittelbare Folge der Machtübernahme durch die nationalsozialistische Bewegung. Unter dem Einfluß der tatkräftigen Maßnahmen der neuen Regierung zur Belebung der Wirtschaft und Eingliederung der über 7 Millionen Arbeitslosen in den Arbeitsprozeß, Maßnahmen, an denen die Deutsche Reichsbahn von Anfang an mit stärkster Einsatzbereitschaft beteiligt war, begann die wirtschaftliche Besserung sich langsam aber stetig auf den gesamten Verkehr und damit auch auf die Reichsbahnfinanzen auszuwirken. Für das J a h r 1933 war schon dadurch viel erreicht, daß der Rückgang der Einnahmen dank der allgemeinen Wirtschaftsbelebung zum Stillstand kam. Erst das J a h r 1934 brachte eine Steigerung der Einnahmen um 400 Millionen R M . auf 3326 Millionen R M . Im J a h r e 1935 stiegen die Einnahmen weiter auf 3586 Millionen R M . an. Die Betriebszahl betrug im Jahre 1933: 104,66, 1934: 99,28 und 1935: 95,75. Während noch im Jahre 1933 in der Betriebsrechnung ein Fehlbetrag von 136 Millionen R M . zu verzeichnen war, schlössen die Jahre 1934 und 1935 bereits mit einem Betriebsüberschuß von 24 und 152,2 Millionen R M . ab. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, daß die Reichsbahn noch erhebliche politische Lasten zu tragen hat. Es handelt sich dabei insbesondere um den Beitrag an das Reich von jährlich 70 Millionen R M . , um die Vorzugsdividende von 35 Millionen R M .

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für die seinerzeit dem Reich unentgeltlich überlassenen 500 G M . Vorzugsaktien, um politische Personallasten (Ruhegehälter usw.) in Höhe von rund 160 Millionen R M . , um Mehrkosten aus neuer Grenzziehung sowie um die Beförderungsteuer. Diese politischen Lasten beliefen sich im J a h r e 1935 zusammen auf rund 500 Millionen R M . ; das sind 1 3 , 9 % der gesamten Betriebseinnahmen dieses Jahres. An politischen Lasten hat die Reichsbahn seit ihrer Errichtung insgesamt über 6 Milliarden R M . getragen; einschließlich der vorhin erwähnten Reparationszahlungen von 4,2 Milliarden R M . hat die Reichsbahn bisher mehr als 10 Milliarden R M . für das Reich geleistet. Dazu kommen zahlreiche Sonderausgaben, die an sich außerhalb des eigentlichen Geschäftsbereichs der Reichsbahn liegen, von ihr aber aus allgemeinen politischen, wirtschaftlichen und anderen Gründen übernommen werden mußten. Sie beliefen sich im J a h r e 1935 auf rund 100 Millionen R M . Der Kapitalbedarf der Reichsbahn wurde in den Jahren bis 1928 durch die Emission von Vorzugsaktien gedeckt, für die Zertifikate der Reichsbank ausgegeben wurden. Da die Geldbeschaffung über die Vorzugsaktien wegen ihrer Ausstattung nach der Entwicklung des Geldmarkts nicht mehr zweckmäßig war, ist später eine Reihe anderer lang- und mittelfristiger Kredite aufgenommen worden. Hierher gehört zunächst der Anteil der Reichsbahn an der internationalen 5 1 /2P r o z - Anleihe des Deutschen Reiches 1930 (Younganleihe), von deren Erlös die Reichsbahn bei einem Disagio von rund 41 Millionen R M . rund 253 Millionen R M . erhalten hat. Weiter sind im J a h r e 1 9 3 0 1 5 0 Millionen R M . 6proz. Reichsbahn-Schatzanweisungen ausgegeben worden, und zwar auf Wunsch des Reiches zur Gewinnung von Mitteln für die Arbeitsbeschaffung. Die Anleihe wurde bei Fälligkeit am 1. September 1935 in eine 4 1 / 2 proz. 6jährige Anleihe umgetauscht. Aus den gleichen Gründen zusätzlicher Arbeitsbeschaffung wurde im J a h r e 1931 eine 4 1 / 2 p r o z . steuerfreie Reichsbahnanleihe begeben, deren Erlös rund 263 Millionen R M . betrug. Die Anleihe ist von 1937 ab in gleichen jährlichen Teilen bis zum J a h r e 1941 durch Auslosung zum Nennwert oder durch Rückkauf zu tilgen. Zur weiteren Unterstützung der Arbeitsbeschaffungsbestrebungen der Reichsregierung ist ferner in den Jahren 1932—34 ein Wechselkredit von insgesamt 860 Millionen R M . aufgenommen worden. Die Wechsel, die teils bis 1938, teils bis 1941 zu verlängern sind, werden von den Lieferern der Reichsbahn auf eine von der Deutschen Verkehrs-Kredit-Bank A G . gegründete Reichsbahn-Beschaffungs-GmbH. gezogen, von dieser akzeptiert und von der Deutschen Verkehrs-Kredit-Bank A G . diskontiert. Die Reichsbank hat die

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Rediskontierung der Wechsel übernommen. Diese drückende kurzfristige Verschuldung, die die Reichsbahn im Interesse der Arbeitsbeschaffungspolitik des Reiches auf sich nehmen mußte, wird zum größeren Teil in den kommenden Jahren konsolidiert werden müssen, da eine Rückzahlung aus laufenden Betriebseinnahmen nicht zu rechtfertigen ist. Dementsprechend ist die im Januar 1936 begebene 41/2proz. Anleihe der Reichsbahn über 500 Millionen R M . zu 1/5 zur Einlösung der Arbeitsbeschaffungswechsel verwandt worden, während 4/5 der Gesellschaft „Reichsautobahnen" zur Verfügung gestellt wurden, die dafür die Zins- und Tilgungsverpflichtung unter Garantie des Reichs übernommen hat. Die künftige Deckung des Kapitalbedarfs der Reichsbahn begegnet insofern gewissen Schwierigkeiten, als der offene Kapitalmarkt zur Zeit fast gänzlich für die besonderen Zwecke des Reiches in Anspruch genommen ist. Die Reichsbahn ist deshalb auf die Aufnahme kleiner und kleinster Kredite angewiesen, wobei allerdings nicht verkannt werden darf, daß für ein Unternehmen von der Größe der Reichsbahn, das naturgemäß für die Erhaltung und Weiterentwicklung seines Betriebsapparates auf langfristige Kreditaufnahmen angewiesen ist, eine Abschließung vom Anleihemarkt nur für eine kurze Übergangszeit tragbar ist. Der Schuldenstand der Reichsbahn einschließlich der ausgegebenen Vorzugsaktien betrug Ende 1935 insgesamt rund 2900 Millionen R M . Im Vergleich zu den in den Reichsbahnanlagen enthaltenen Werten kann diese Belastung als durchaus erträglich angesehen werden. Bemerkenswert ist, daß — abgesehen von der Younganleihe — Valutaverpflichtungen nur in ganz geringem Umfange bestehen. Es zeugt von der Vorsicht in der Finanzpolitik der Reichsbahn, daß in den Jahren der Scheinblüte von 1925—1929, als aus dem Ausland große Kapitalien in die deutsche Wirtschaft flössen, keinerlei Valutaverpflichtungen eingegangen worden sind. VI. PERSONAL- UND

SOZIALPOLITIK

Die Entwicklung des E I S E N B A H N P E R S O N A L W E S E N S in der Zeit von 1918—1936 ist ein Spiegelbild der Wandlungen der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik dieser Zeit. Nach dem unglücklichen Ausgang des Krieges mußten die deutschen Staatsbahnen einspringen, um aus innerpolitischen Gründen auch in ihrem Bereich die aus dem Felde zurückflutenden Massen ins Erwerbsleben zurückzuführen. Außerdem hatten sie den größten Teil

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des Personals aus den abgetretenen Gebieten aufzunehmen. Der starke Leistungsabfall, der als Folge der schematischen Verkürzung der Arbeitszeit und der Abschaffung des Prämien- und Akkordsystems sowie auf Grund der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit eintrat, und die Notwendigkeit, die im Kriege bis zum Äußersten ausgenutzten technischen Einrichtungen wiederherzustellen, hatten ein weiteres Anschwellen des Personalstandes zur Folge. So stieg die Zahl der bei den deutschen Staatsbahnen beschäftigten deutschen Beamten und Arbeiter von 693000 im J a h r e 1 9 1 3 auf 1 123000 im J a h r e 1919. Mit dem Fortschreiten der Inflation und dem beginnenden Niedergang der deutschen Wirtschaft erwiesen sich durchgreifende Maßnahmen zur Verminderung dieser gewaltigen Zahl als unerläßlich, wollte man zu einer auch nur einigermaßen wirtschaftlichen Betriebsführung gelangen. So schieden von 1 9 1 9 bis 1926 rund 400000 Personen aus dem Staatsbahndienst aus. Im J a h r e 1930 betrug die Zahl der Bediensteten der Deutschen Reichsbahn rund 686000 Köpfe. Die folgenden J a h r e brachten weitere Einschränkungen. Alle diese Maßnahmen, die mit einem allgemeinen Abbau der Gehälter und Löhne Hand in Hand gingen, wurden zwar mit der größtmöglichsten Schonung durchgeführt, Härten waren jedoch naturgemäß nicht immer zu vermeiden. Das J a h r 1933 brachte dann den entscheidenden Wendepunkt. An die Stelle der wirtschaftlichen und politischen Unsicherheit trat die Stetigkeit aller Verhältnisse. Mit dem Beginn des Aufschwungs der deutschen Wirtschaft wurden auch bei der Reichsbahn wieder Neueinstellungen in erheblichem Umfange möglich. Insgesamt konnte das Personal seit Februar 1933 einschließlich 12000 saardeutscher Eisenbahner um rund 106000 Köpfe vermehrt werden. Von diesen Einstellungen wurden in erster Linie die um die nationale Erhebung verdienten Männer, die Frontkämpfer und die Soldaten der Wehrmacht erfaßt. Auch Junghelfer, Dienstanfänger und Lehrlinge konnten wieder in größerem Umfange angenommen werden. Danach umfaßt die Gefolgschaft der Deutschen Reichsbahn heute wieder rund 656000 Köpfe, eine Zahl, die in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung für sich selbst spricht. Wollte man alle diese Menschen ansiedeln, so müßte man zwei Großstädte wie Bremen und Magdeburg entvölkern, und wollte man gar ihre Familien dazu nehmen, so würden Hamburg, Köln und München zusammen gerade ausreichen, um diese große Eisenbahnerfamilie aufzunehmen. Mehr als 2V2 Millionen Menschen — oder anders ausgedrückt, jeder 25. Volksgenosse — hängen in ihrem täglichen Dasein von der Deutschen Reichsbahn ab.

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Rund 280000 Beamte und 376000 Hilfsbeamte und Arbeiter beschäftigt die Deutsche Reichsbahn heute außer den zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallenden Angestellten. Auf BEAMTEN r e c h t l i c h e m G e b i e t e sind seit dem Kriegsende erhebliche Wandlungen vor sich gegangen. Infolge der Verreichlichung der Staatseisenbahnen wurden die Beamten der Ländereisenbahnen Reichsbeamte. Die Schaffung des Unternehmens „Deutsche Reichsbahn" im Februar 1924 änderte hierin nichts. Von einschneidender Bedeutung für die Beamtenschaft aber wurde die Gründung der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft im Zusammenhang mit der DawesGesetzgebung. Nur mit Mühe gelang es hier gegenüber dem Verlangen der Feindbundstaaten, die Beamten des Unternehmens Deutsche Reichsbahn sollten künftig ihren Dienst als Angestellte verrichten, den deutschen Standpunkt durchzusetzen, daß es für die zu gründende Gesellschaft untragbar sei, auf die Vorteile eines gesicherten Beamtenstandes mit seinen Vorzügen für eine geordnete und leistungsfähige Geschäftsführung zu verzichten. Reichsbeamte konnten die Beamten der Gesellschaft aber nicht bleiben. So entwickelte man einen neuen Beamtentyp, den des Reichsbahnbeamten. Er ist Beamter im Sinne der Reichsverfassung, aber Beamter eigenen Rechts, dessen Rechte und Pflichten durch das Reichsbahngesetz und die Reichsbahnpersonalordnung geregelt werden. Mit dem Übergang der Ländereisenbahnen auf das Reich und der Schaffung der Deutschen Reichsbahn war es auch möglich, die aus den Ländereisenbahnen herrührenden Verschiedenheiten in den Beamtenlaufbahnen zu beseitigen und einheitliche, für die ganze Reichsbahn geltende Laufbahnen einzuführen. Die weitere Entwicklung seit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus wird auf beamtenrechtlichem Gebiet vor allem durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums gekennzeichnet, das der deutschen Beamtenschaft die ethischen Werte wahren Staatsdienertums zurückgab. Bei der Deutschen Reichsbahn hat es dank der deutschbewußten Haltung ihrer Beamten auch in der Systemzeit nur verhältnismäßig geringfügige Auswirkungen gehabt. Auch die R e c h t s - u n d D i e n s t v e r h ä l t n i s s e d e r E i s e n b a h n ARBEITER sind in der Nachkriegszeit starken Wandlungen unterworfen worden. Der Umsturz von 1918 brachte auf lohnpolitischem Gebiet die Beseitigung der Lohnabstufung nach dem Leistungsprinzip durch Verminderung der Lohnklassen, die Aufhebung der Stellenzulagen, die Abschaffung der Akkordarbeit, weiter die schematische Einführung des 8-Stundentages, den Grundsatz der Regelung der Arbeitsverhält-

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nisse durch Kollektivvertrag u. a. m. Ein allgemeiner starker Rückgang der Arbeitsleistungen war die unmittelbare Folge. Nach dem Übergang der Ländereisenbahnen auf das Reich konnte jedoch bereits am i i . März 1921 mit den Gewerkschaften nach ähnlichen Vorverträgen der Länder ein für das ganze Reichsbahngebiet geltender Lohntarifvertrag abgeschlossen werden, der die schlimmsten Schäden der Novemberzeit beseitigte. Er brachte u. a. die unentbehrliche Aufteilung der Arbeiterschaft nach mehreren Lohngruppen, die Wiedereinführung des Akkordwesens in Form eines Zeitgedinges und erhebliche Abwandlungen in der Arbeitszeit. Dieser Tarifvertrag ist mit vielfachen Änderungen bis zum 1. Mai 1934 in Kraft geblieben. Wenn er auch wesentlich zur Festigung der Verhältnisse beitrug, so gaben doch fast ununterbrochene Lohnkämpfe der Gewerkschaften mit all ihren unerfreulichen Begleiterscheinungen dem Zeitabschnitt seiner Geltungsdauer das Gepräge. Bis zum Jahre 1929 standen die Löhne im Zeichen einer fortgesetzten Steigerung, um dann vom Jahre 1931 ab in drei Stufen auf den Stand des Jahres 1926 zurückgeführt zu werden. Der Sieg der nationalsozialistischen Weltanschauung ermöglichte es der Deutschen Reichsbahn, zugleich mit dem Inkrafttreten der Gesetze zur Ordnung der nationalen Arbeit und der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben, als erste aller öffentlichen Verwaltungen und Betriebe das Dienst- und Lohnverhältnis ihrer Arbeiterschaft im Sinne einer verstärkten Fürsorgepflicht, der Betriebsgemeinschaft zwischen Betriebsführer und Gefolgschaft und des Leistungs- und Führerprinzips völlig neu zu gestalten. Denn bereits am 1. Mai 1934 wurde der alte Lohntarifvertrag durch eine neue D i e n s t - u n d L o h n o r d n u n g abgelöst. In ihr hat die Deutsche Reichsbahn den Lohn der Arbeiter nach sozialen Gesichtspunkten neu geregelt — neben den reinen Leistungslohn sind die sozialen Lohnbestandteile in der Form des Familienlohns und der Dienstalterszulagen getreten — und die treue Verbundenheit des Arbeiters mit dem Betrieb durch die Gewährung von Treuegeldern, die Verleihung der Unkündbarkeit nach 25jähriger Betriebszugehörigkeit und in der Bemessung der Kündigungsfristen und des Urlaubs gewertet. Daneben ist auch das gewaltige von den Ländereisenbahnen überkommene Gebäude der S O Z I A L V E R S I C H E R U N G u n d d e r W o h l f a h r t s u n d S e l b s t h i l f e e i n r i c h t u n g e n der Eisenbahner in der Nachkriegszeit tatkräftig ausgebaut worden. Hier galt es zunächst, die Schäden der Inflation zu überwinden, die Unterschiede, die auf diesem Gebiete vielfach zwischen Nord und Süd, Ost und West noch bestanden, zu beseitigen und schließlich den Gedanken der Reichseinheit tatkräftig

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zu fördern. Nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus war die Bahn hierfür frei. In der gesetzlichen Sozialversicherung ist die Reichsbahn heute Träger einer eigenen Unfallversicherung, die sie durch ihre Reichsbahndirektionen ausführen läßt. Für die Invalidenversicherung der Eisenbahnarbeiter besteht eine besondere Reichsbahn-Versicherungsanstalt einheitlich für das ganze Reichsgebiet. Die Krankenversicherung führen 25 in einem Verband zusammengeschlossene Reichsbahnbetriebskrankenkassen durch. Alles in allem hat die Reichsbahn im Jahre 1934 rund 85 Millionen R M . an Beiträgen für diese gesetzlichen Versicherungseinrichtungen aufgewendet. Dem Schutz der Beamten und ihrer Angehörigen gegen Krankheit dient eine freiwillige Reichsbahnbeamten-Krankenversorgung, die heute rund 1,1 Millionen Personen betreut. Eine besondere Krankenund Hinterbliebenenkasse sichert den Arbeitern eine zusätzliche Krankenversicherung. Der Reichsbahn-Waisenhort betreut aus freiwilligen Spenden des Personals und der Verwaltung die Waisen aus dem Kreise der Reichsbahnbediensteten und sorgt für ihre Berufsausbildung. Besondere Bedeutung kommt in dem mit großen Gefahren für die Bediensteten verbundenen Eisenbahnbetrieb der Unfallverhütung zu, die der Gegenstand ständiger Sorge der Verwaltung ist. Eine große Anzahl von Reichsbahnärzten sorgt auf Kosten der Verwaltung für die dauernde Beobachtung der Beamten des äußeren Dienstes auf ihre körperliche Tauglichkeit. Rund 113000 bahneigene und 66500 mit Unterstützung der Reichsbahn erbaute Wohnungen — neuerdings auch Kleinsiedlerstellen — sichern die gesunde und preiswerte Unterbringung der Bediensteten. 1260 in einem Reichsverband zusammengeschlossene Eisenbahnvereine mit rund 500000 Mitgliedern, 21 eigenen Erholungsheimen und 10 Kinderheimen widmen sich neben der Pflege der Berufskameradschaft durch ihre Bezirksfürsorgen der Kranken- und Wohlfahrtspflege. Ihnen angeschlossen sind u. a. über 400 Reichsbahn-Turn- und Sportvereine mit gegen 200000 Mitgliedern, ferner die Organisationen „Reichsbahnkleinwirtschaft" und die „Vereinigung der Reichsbahn-Gesangvereine". Die Reichsbahn-Sparkassen, der Versicherungsverein deutscher Eisenbahnbediensteter gegen Feuer und Diebstahl, die Eisenbahn-Sterbekassen, die Brennstoffversorgung für Eisenbahner mögen hier nur erwähnt werden, um das Bild zu vervollständigen. Rund 65 Millionen R M . stellt die Reichsbahn jährlich für diese freiwillige Wohlfahrtspflege zur Verfügung. Abschließend sei noch auf das eine kurz hingewiesen: Die Deutsche Reichsbahn bildet mit ihrer Gefolgschaft von rund

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656000 Köpfen nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch einen ins Gewicht fallenden Faktor. Sie kann es für sich in Anspruch nehmen, daß es ihr in der Vergangenheit gelungen ist, durch die Ausschaltung des parlamentarischen Einflusses alle jene schlimmen Auswüchse von den Reihen ihrer Gefolgschaft ferngehalten zu haben, die das Personalwesen und die Personalpolitik anderer Verwaltungen bei der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus kennzeichneten. Sie ist sich als größter deutscher Betriebsführer, als Führer eines zutiefst mit dem Volke verbundenen Unternehmens aber auch voll und ganz der gewaltigen Aufgabe und Pflicht bewußt, die von ihr hier in Gegenwart und Zukunft noch zu erfüllen bleibt, der Pflicht, durch Pflege des Gemeinschaftsgedankens unablässig die Einstellung des einzelnen Gefolgschaftsmitgliedes zu Staat und Volk zu formen und so die weltanschauliche Geschlossenheit der Nation zu fördern. VII.

BAUWESEN

Als die Reichsbahn nach dem Kriege ins Leben gerufen wurde, übernahm sie die von den Staatseisenbahnen der größeren Länder in einer 85jährigen wechselvollen Geschichte entwickelten Eisenbahnanlagen. Wenn sich auch das deutsche Eisenbahnnetz bei dem Nebeneinander von staatlicher und privater Initiative und durch die Einwirkung der Ländergrenzen zuerst nicht immer planvoll entwickelt hatte, so entstand doch durch den späteren großzügigen Ausbau ein Eisenbahnnetz, das den beispiellosen industriellen Aufstieg Deutschlands ermöglichte und sich im Kriege als brauchbares Werkzeug der Landesverteidigung bewährte. In der Kriegs- und Inflationszeit litt die Pflege und Weiterentwicklung der Anlagen Not und so erwuchs der neugebildeten Reichsbahn die Aufgabe, die Kriegsschäden der Reichsbahnanlagen zu beseitigen, das Netz den durch Verkehrsumlagerungen veränderten Ansprüchen anzupassen und mit der technischen Entwicklung auf den verschiedenen Gebieten des EISENBAHNBAUES Schritt zu halten. Einen Antrieb erfuhren diese Aufgaben auch vielfach durch Arbeitsbeschaifungsprogramme der Reichsregierung. Jedoch mußte sich die Reichsbahn dabei im R a h m e n ihrer jeweiligen finanziellen Möglichkeiten halten. Als nach der Inflation die Konjunktur der Jahre 1926—1929 der Reichsbahn reichliche Einnahmen zufließen ließ, wurden diese eingesetzt, um die vernachlässigte Unterhaltung und Erneuerung der baulichen Anlagen nachzuholen und den Verfall zum Stillstand zu bringen. Hierbei wurde darauf Bedacht genommen, die Unterhaltungsmethoden zu verbessern und die erneuerten Anlagen den neuzeitlichen

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gestiegenen Ansprüchen anzupassen. So sind namentlich beim Oberbau, dem wertmäßig bedeutendsten Anteil der baulichen Anlagen, beachtliche wirtschaftliche und technische Fortschritte erreicht worden. Durch Einsatz maschineller Geräte und planvoller Stoffwirtschaft hat sich der Unterhaltungszustand trotz sinkenden Aufwands verbessern lassen. Weitere Erfolge können erhofft werden, wenn der im Jahre 1926 eingeführte Reichsoberbau, von dem trotz erhöhter Zuggeschwindigkeiten eine längere Lebensdauer erwartet wird, die älteren Formen verdrängt haben wird. Dieser Oberbau und die neuen Reichsbahnweichen, die mit ihrem größeren Krümmungshalbmesser ein schnelleres Befahren ermöglichen und geringeren Materialverschleiß verursachen, haben sich bestens bewährt. Auch im Stahlbrückenbau hat die Reichsbahn für den technischen Fortschritt bei der Einführung hochqualifizierten Baustahls und der Schweißtechnik bahnbrechend mitgewirkt und sich bei der Erneuerung der älteren Bauwerke den inzwischen stark gestiegenen Betriebslasten angepaßt. Als die Reichsbahn in den Jahren 1930 bis 1933 alles daransetzte," durch die Wirtschaftskrise aus eigener Kraft hindurchzukommen, hat sie sich bei der Pflege ihrer baulichen Anlagen Einschränkungen auferlegen müssen. Das in dieser Zeit Versäumte wird sie aber jetzt infolge der erfreulichen Wiederbelebung des Verkehrs nachholen können. Diese durch den neuen Lebensrhythmus des Nationalsozialismus vorwärtstreibende Wiederbelebung des Verkehrs stellt aber die Reichsbahn auch vor die Aufgabe, ihre Anlagen gesteigerten Ansprüchen anzupassen. Ohne Neuinvestierungen würde die Eisenbahn die ihr auch nach dem Auftreten neuer Verkehrsmittel noch zukommenden Aufgaben nicht erfüllen können. Gewiß ist ihr Netz sehr leistungsfähig und hat den großen Verkehr des Jahres 1929 und die großen Aufmarschleistungen von Nürnberg und den Olympiaverkehr reibungslos abgewickelt. Aber man darf auch nicht übersehen, daß dem Netz, das zum Teil aus einer Zeit stammt, in der man die jetzige Entwicklung der Eisenbahn nicht vorausahnen konnte, an vielen Stellen Mängel und Unzulänglichkeiten anhaften, die einer neuzeitlichen Betriebsführung hemmend entgegenstehen. Als die Fahrzeugtechnik eine Steigerung der Geschwindigkeit im Personen- und Güterverkehr ermöglichte, mußte auch der Eisenbahnbau die Voraussetzungen dafür schaffen. So müssen nach und nach die schlimmsten Trassierungsfehler im Rahmen des finanziell Möglichen beseitigt werden und die Sicherungsanlagen für die gesteigerten Ansprüche des Schnellverkehrs vervollkommnet werden. Durch die Einführung der Zugbeeinflussung

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und mehrbegriffiger Signale sollen die Gefahren der höheren Geschwindigkeiten abgewehrt und darüber hinaus die Sicherheit der deutschen Eisenbahn auf ihrer bisher unerreichten Höhe erhalten bleiben. Die starke Zunahme des Kraftwagenverkehrs lenkt immer mehr die Aufmerksamkeit auf die Gefahren der zahlreichen schienengleichen Wegeübergänge. Neben der besseren Signalisierung und Kenntlichmachung dieser Gefahrpunkte wird sich die Reichsbahn in steigendem Maße im Verein mit den Straßenbaubehörden die Beseitigung der verkehrsreichsten durch Erbauung von Über- oder Unterführungen angelegen sein lassen müssen. Das wird die Aufwendung erheblicher Mittel erfordern. Der Ausbau des Reichsbahnnetzes durch neue Strecken beschränkte sich hauptsächlich auf die durch Reichshilfe ermöglichte Fertigstellung einiger im Kriege stillgelegter Bahnbauten und den Bau der Bahnen des Osthilfegesetzes vom J a h r e 1931. Der Bau weiterer Bahnen wird auf ganz vereinzelte Ausnahmefälle beschränkt bleiben können. Dagegen wird es auch in Zukunft nicht zu umgehen sein, überlastete Strecken und Bahnhöfe auszubauen. Eine größere Zahl solcher Bauten ist seit längerer Zeit im Gange. Sie konnten im letzten Jahrzehnt wegen Mangel an Baukapital zumeist nur langsam gefördert werden. Wo sich bei dem von der Reichsbahn übernommenen Bauprogramm die Aufschiebbarkeit ergeben hat, sind die Bauten stillgelegt worden. Andere aber müssen weitergebaut und vollendet werden, weil die Anspannung, unter der jetzt der Betrieb abgewickelt werden muß, für Menschen und Material nicht länger erträglich ist und die durch den Bau herbeigeführten Zwischenzustände unmöglich verewigt werden können. U m einige Beispiele zu nennen, sei auf den viergleisigen Ausbau der Strecke von Köln nach Duisburg mit dem Engpaß Düsseldorf und weiter auf die Bahnhöfe Duisburg, Oberhausen im Brennpunkt des Industrieverkehrs, auf die Bahnhöfe Zwickau, Dresden, Chemnitz und Plauen in dem wenig vorausschauend ausgebauten sächsischen Netz, und auf die Bahnhöfe Braunschweig und Heidelberg hingewiesen. Auch die seit langem begonnenen Umgestaltungen der Bahnanlagen um Hamburg werden wieder aufgenommen werden müssen, wenn Hoffnung auf Belebung des Überseeverkehrs besteht. An neu eingeleiteten Bauten, die ohne Verzug vollendet werden müssen, sind die Bahnbauten beim Nürnberger Parteitaggelände und die Berliner Nordsüd-S-Bahn zu nennen. Der letztgenannte Bau hatte nicht nur für die Arbeitsbeschaffung Berlins Bedeutung, sondern beseitigte auch eine fühlbare Lücke im Groß-Berliner Verkehrsnetz und wird wahrscheinlich noch eine Ergänzung von Vorortlinien auslösen. Auch

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im Ruhrgebiet zwischen Duisburg und Dortmund werden die Verhältnisse zur Schaffung eines Gleispaares mit Ausbau der berührten Bahnhöfe drängen. Ebenso wie bei diesen wenigen Großbauten entstehen an vielen Punkten des ausgedehnten Netzes Notwendigkeiten zum Ausbau an Betriebsanlagen geringeren Ausmaßes. So erfordert die Elektrisierung von Fernbahnen vor der Überspannung mit der Fahrleitung die Beseitigung von Mängeln des Gleisnetzes und die Motorisierung auf der Schiene den Bau von Triebwagenschuppen und Werkstätten und der Einsatz bahneigener Kraftwagen besondere Schuppenbauten für Güter und Kraftwagen. Nachdem der Wirtschaftsaufstieg seit 1933 gezeigt hat, daß die Eisenbahn trotz Aufkommens neuer Verkehrsmittel in fast ungemindertem M a ß e der Mittler des Verkehrs der deutschen Volkswirtschaft bleiben wird und ihr darüber hinaus auch neue Aufgaben, wie der Massenverkehr der „Kraft-durch-Freude"-Fahrer und der großen Aufmärsche neu zugewiesen werden, wird sie sich die Pflege und Weiterentwicklung des Netzes zur Erfüllung ihrer volkswirtschaftlichen Aufgabe auch weiterhin angelegen sein lassen. VIII. ROLLENDES

MATERIAL

Die von Jahr zu J a h r steigenden Anforderungen an den Schienenverkehr haben in den letzten 1 x/2 Jahrzehnten zu einer stetigen Fortentwicklung der F A H R Z E U G E geführt, die während der verflossenen 3 Jahre besonders stürmische Formen annahm. U m die bei dem Übergang der Ländereisenbahnen auf das Reich vorhandenen rund 270 Dampflokomotivgattungen nach und nach einzuschränken, wurden für die verschiedenen Verwendungszwecke leistungsfähige und wirtschaftlich arbeitende Einheitslokomotiven entwickelt, die v o m Jahre 1925 ab, als die erste Einheitsschnellzuglokomotive (Baureihe 01) in Dienst gestellt werden konnte, ausschließlich beschafft wurden. Die damals bereits im allgemeinen Maschinenbau üblichen Grundsätze der Normung und des Austauschbaues wurden im Interesse einer wirtschaftlichen Fertigung und Unterhaltung auch auf die Dampflokomotiven übertragen. Neben den Einheitslokomotiven entstanden in den folgenden Jahren eine Reihe von Versuchslokomotiven, bei denen zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit Druck und Temperatur des A r beitsdampfes erhöht oder der A b d a m p f niedergeschlagen wurde. Es sind dies Lokomotiven für Dampfdrücke von 25, 60 und 120 atü, sowie Lokomotiven mit Turbinenantrieb und Kondensation. Außerdem wurden mehrere Güterzuglokomotiven mit Kohlenstaubfeuerung ausgerüstet. Das Endergebnis einer 100jährigen Entwicklung waren

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schließlich Dampflokomotiven für 175 km/h Höchstgeschwindigkeit, die zur Herabminderung des bei hohen Geschwindigkeiten beträchtlichen Luftwiderstandes vollständige Stromlinienverkleidung erhalten haben. Neben einer verkleideten Tenderlokomotive, die zusammen mit einem ebenfalls strömungsgünstig ausgebildeten 4 Wagen-Zug besonders leichter Bauart eine geschlossene Einheit bildet (HenschelWegmann-Dampfzug), sind mehrere verkleidete Schnellzuglokomotiven (Baureihe 05) für die Beförderung von FD-Zügen gebaut worden. Eine dieser Lokomotiven erreichte bei Versuchsfahrten eine Spitzengeschwindigkeit von 200 km/h und ist damit die schnellste Lokomotive der Welt. Auch die Entwicklung der Diesellokomotive hat die Reichsbahn durch den Bau mehrerer Versuchsfahrzeuge gefördert. Das vorläufige Endergebnis dieser Entwicklung ist eine 1 C 1 "Diesellokomotive mit Voith-Flüssigkeitsgetriebe für 100 km/h. Daneben sind in größerer Zahl ebenfalls neu durchgebildete „Motorkleinlokomotiven" beschafft worden, leichte 2-achsige Triebfahrzeuge, die den Verschiebedienst auf kleineren Bahnhöfen übernehmen. Durch die damit verbundene Entlastung der Zuglokomotiven der Güterzüge von Verschiebearbeiten konnte die Reisegeschwindigkeit der Güterzüge wesentlich verkürzt werden. An diesen mit Rädergetriebe, Flüssigkeitsgetriebe oder elektrischer Kraftübertragung ausgerüsteten Kleinlokomotiven werden gleichzeitig umfangreiche Versuche mit Sauggaserzeugern für die im allgemeinen volkswirtschaftlichen Interesse wichtige Verwendung von Schwelkoks durchgeführt. Der elektrische Zugbetrieb der Deutschen Reichsbahn ist nach dem Kriege wesentlich erweitert und in seinen technischen Anlagen und Fahrzeugen vervollkommnet worden. Er hat besonders auf Strecken mit starken Steigungen und im Stadtbahnverkehr beachtliche Fahrzeitverkürzungen ermöglicht. Gegenüber 300 km Streckenlänge im Jahre 19x9 wurden Ende 1935 rund 2300 km elektrisch betrieben. Davon sei als besonders bemerkenswert die Elektrisierung der Berliner Stadtbahn hervorgehoben. Die Entwicklung der Ellok ist in der Hauptsache gekennzeichnet durch den Übergang von Stangen- auf den Einzelachsantrieb, durch Erhöhung der Leistung und Vereinheitlichung der Bauarten. Die Entwicklung der letzten Jahre führte zur Durchbildung von 4 neuen Einheitslokomotivbauarten, für die verschiedenen Zugarten, darunter einer Schnellzuglokomotive für 150 km/h. Daneben sind Wechselstromtriebwagen zur Auflockerung des Verkehrs auf den Fernstrecken und als Schnellverkehrsmittel für 120 und 160 km/h Höchstgeschwindigkeit sowie Triebwagen der Berliner Stadtbahn für 80 und 120 km/h entstanden. 4

Probleme des Deutschen "Wirtschaftslebens

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Die notwendige Verdichtung des Verkehrs auf der Schiene führte zu einem verstärkten Einsatz von Dieseltriebwagen, der naturgemäß die Durchbildung zahlreicher neuer Bauarten notwendig machte. So entstanden 2- und 4-achsige Triebwagen mit Motorleistungen zwischen 150 und 420 PS für Höchstgeschwindigkeiten von 75 bis 120 km/h mit Steuerwagen und Beiwagen. Für den Schnellverkehr wurden zweiteilige und dreiteilige Triebwagen mit 2 X 420 und 2 X 600 PS Motorleistung für 160 km/h gebaut, die nach den Erfolgen des erstmalig im Mai 1933 in Dienst gestellten „Fliegenden Hamburgers" nunmehr Berlin mit verschiedenen wichtigen Großstädten Deutschlands verbinden. Während die Triebwagen kleinerer Leistung meist mechanische Getriebe besitzen, sind die größeren Triebwagen mit elektrischer oder hydraulischer Kraftübertragung ausgerüstet. Bei Bedarf können mehrere zusammengekuppelte Triebwagen von dem führenden Wagen aus gesteuert werden. Die im Zusammenhang mit der verstärkten Einführung von Triebwagen geleistete Entwicklungsarbeit, vor allem auf dem Gebiete der Fahrzeugdieselmotoren, hat die Ausfuhr der einschlägigen Industrie stark befruchtet. Im Personenwagenbau ist die Entwicklung durch die Einführung einheitlicher, stählerner Bauarten, neuerdings unter weitgehender Anwendung von Schweißkonstruktionen, sowie durch die Verbesserung der Innenausstattung und der Laufeigenschaften gekennzeichnet. Das Schweißen brachte Gewichtsersparnisse von durchschnittlich 2 5 % . Verbesserte Heizung, zum Teil mit selbsttätiger Regelung, elektrische Beleuchtung, Vergrößerung der Abteile, bessere Ausstattung der Wagen und die Einführung neuer Drehgestellbauarten und Radreifenformen erhöhten die Annehmlichkeit des Reisens. Durch die Fortentwicklung und Verbesserung der Druckluftbremseinrichtungen wird auch bei den neuen Höchstgeschwindigkeiten ausreichende Sicherheit gewährleistet. Auch für die Fortentwicklung der Güterwagen war die Schaffung von einheitlichen Bauarten, Verringerung des Eigengewichts durch Anwendung des Schweißens und in neuester Zeit Eignung für hohe Fahrgeschwindigkeiten maßgebend. In der Zeit nach dem Kriege wurde die Druckluftbremse für Güterzüge eingeführt, die eine wesentliche Heraufsetzung der Fahrgeschwindigkeit ermöglichte. Außer den Wagen normaler Bauart sind die verschiedensten Wagen für Sonderzwecke, z. B. Tiefladewagen, Kühlwagen usw. entwickelt worden. In den letzten Jahren hat die Reichsbahn für den Zubringerverkehr — vielfach unter Verwendung von Behältern — eine größere Anzahl von Lastkraftwagen in Dienst gestellt. Außerdem wurden für die Beförderung von besonders schweren und sperrigen Lasten (z. B. Eisenbahn-

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fahrzeugen) auf der Straße neuartige Schwerlast-Straßenfahrzeuge entwickelt. Ferner sind für den Personenverkehr auf den Reichsautobahnen Schnellreiseomnibusse in Stromlinienform durchgebildet und beschafft worden. Schließlich ist auch der Schiffspark der Deutschen Reichsbahn seit 1 9 1 8 durch viele Neubauten verbessert worden. 1926 wurde ein neues Hochseefährschiff „Schwerin" auf der Strecke Warnemünde—Gedser in Dienst gestellt. Für den Bodensee sind bis Ende 1935 insgesamt 18 neue Schiffe an Stelle ausgemusterter Dampfschiffe beschafft worden. Die neueren Motorschiffe der Bodenseeflotte sind mit Voith-Schneider-Antrieb ausgerüstet worden, mit dessen Einführung die Reichsbahn bahnbrechend vorgegangen ist. Den neuzeitlichen Fahrzeugen mußten auch die Einrichtungen zu ihrer Behandlung im Betriebe angepaßt werden. Die technischen Einrichtungen in den Bahnbetriebwerken zur Bekohlung, Entschlackung, Besandung, zum Auswaschen und zur Unterhaltung der Lokomotiven wurden vervollkommnet, neue Lokomotivschuppen, Drehscheiben und Schiebebühnen für die größeren Lokomotiven gebaut oder alte Anlagen erweitert. Für die Triebwagen und Wagen wurden ebenfalls neue Schuppen sowie besondere Anlagen für die Reinigung und Unterhaltung geschaffen. Die Leistung der Wasserversorgungsanlagen wurde erhöht und der Speisewasserpflege besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Bei der Erstellung dieser Anlagen wurde vor allem darauf Rücksicht genommen, den Bediensteten die teilweise anstrengenden Arbeiten weitgehend zu erleichtern und Unfallgefahren möglichst auszuschalten. Durch die Verbesserung der Diensteinteilungen und die Einführung langer Lokomotivläufe bis zur Rückkehr in das Heimatbetriebswerk konnten die Lokomotiven wesentlich besser als früher ausgenutzt werden. Die Besetzung der Lokomotiven mit nur 2 Personalen, die Einführung der Lokomotivleistungsprämie, die Durchführung bestimmter Unterhaltungsarbeiten an den Lokomotiven in regelmäßigen Zeitabschnitten, schließlich auch die planmäßige Unterhaltung der Lokomotiven in den Reichsbahnausbesserungswerken führte zu einer wesentlichen Erhöhung der Laufleistung zwischen zwei Hauptuntersuchungen und zu einer Senkung der spezifischen Erhaltungskosten. Neben den baulichen Verbesserungen an den Lokomotiven brachten auch die Kohlenprämie und die laufende Belehrung des Lokomotivpersonals im Dienstunterricht Ersparnisse im Brennstoffverbrauch. Die Werkstätten der damaligen deutschen Ländereisenbahnen waren nach Beendigung des Krieges hohen Belastungen ausgesetzt. Außer den früheren Werkstättenarbeitern mußten auf Anordnung des Demobil4*

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machungskommissars zur Linderung der Arbeitslosigkeit alle sich meldenden Arbeiter eingestellt werden, ob sie geeignet waren oder nicht. Die Belegschaft wuchs hierdurch in kurzer Zeit um über 150% der Friedensstärke an. Mit den auftretenden Verkehrsschwierigkeiten wuchsen die Arbeitsaufträge für die Werkstätten außerordentlich an. Hinzu kam, daß die auf Grund der Waffenstillstandsbedingungen abzugebenden Fahrzeuge vor der Abgabe betriebsfähig hergerichtet werden mußten. U m die Arbeiten leisten zu können und die Arbeitslosigkeit weiter zu lindern, wurden in größerem Umfange Privatwerke und Staatsbetriebe mit etwa 60000 Mann noch zur Fahrzeugausbesserung herangezogen. Nach Eintritt ruhiger Verhältnisse mußte die Werkstättenbelegschaft wieder dem wirklichen Bedarf angepaßt werden. Gleichzeitig wurden erhebliche Mittel aufgewendet, um die Werkstattseinrichtungen und maschinellen Anlagen zu verbessern. Mit der Vergrößerung des Fahrzeugparkes und der ständig wachsenden Beanspruchung der Fahrzeuge im Betriebe wuchsen die Eisenbahnwerkstätten nach und nach von Klein- zu Großbetrieben an. Die bestehende Organisation, die auf handwerkliche Fertigung zugeschnitten war, wurde für diese Großbetriebe unzureichend. Im Jahre 1919 wurden deshalb von den damaligen Preußisch-hessischen Staatseisenbahnen die Arbeiten für die Neuordnung der Verwaltung der Eisenbahnwerkstätten wieder aufgenommen und nach sorgfältigen Vorbereitungen verwirklicht. Nach Übergang der Eisenbahnen auf das Reich wurde die organisatorische Neugliederung 1925 auch im Reich durchgeführt. Die neue Organisation teilte das Gebiet der Deutschen Reichsbahn in 10 Werkstättenbezirke, die nach Rückgliederung der Saarbahnen auf 9 Bezirke verringert werden konnten. Die Größe dieser Werkstättenbezirke gewährleistet die erforderliche einheitliche Geschäftsführung, den wirtschaftlichen Ausgleich der Arbeit und ermöglicht eine weitgehende Sonderung des Auftragsbestandes der Werke mit dem Ziele, jedem Werk möglichst wenige Fahrzeuggattungen zur Unterhaltung zuzuweisen. Hierdurch konnte der Fabrikationsbetrieb in Form und Wirtschaftlichkeit verbessert, die Arbeitsverfahren vervollkommnet und die Vorratswirtschaft für die Ersatzstücke vereinfacht werden. Nach den wechselvollen Zeiten der Nachkriegsjahre bringen jetzt die im Werkstättendienst getroffenen Maßnahmen die erhofften Erfolge und tragen dazu bei, die Reichsbahn zu einem machtvollen Faktor der deutschen Wirtschaft zu machen. Die S T O F F W I R T S C H A F T der Deutschen Reichsbahn hat in den Jahren 1918—1936 eine äußerst lebhafte Entwicklung durchgemacht. In den Nachkriegsjahren waren zuerst alle Bestände wieder auf vollwertige

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Ware umzustellen, da die behelfsmäßige Ersatzstoffwirtschaft der Kriegszeit eine völlig unübersichtliche Fülle von meist nur bedingt brauchbaren Stoffen und Ersatzstücken zurückgelassen hatte. Besondere Aufwendungen verursachte dabei die Wiederherstellung eines brauchbaren Metallstockes. Die ersten J a h r e der Nachkriegszeit waren auch damit ausgefüllt, aus den Erfahrungen des Krieges zu lernen und nach Möglichkeit Auslandstoffe durch geeignete Inlandstoffe zu ersetzen. Bei dem Lagermetall gelang es, für die Lager sämtlicher Wagen an Stelle des 82 % Zinn enthaltenden Regelweißmetalles eine zu 98,6 % aus Blei bestehende Legierung einzuführen und bei dem Rotguß den Zinngehaltvon i o a u f 5 % erfolgreich herabzusetzen. Aufdem Gebiete der Schmiermittel wurden beträchtliche Ersparnisse an ausländischem Heißdampfzylinderöl durch Verwendung von Emulsionsöl erzielt. Die Stopfbüchsenpackungen aus Textilien oder auch aus Weißmetall wurden mit wirtschaftlichem Erfolg durch gußeiserne Stopfbuchsenringe ersetzt und bei den Anstrichmitteln an Stelle von Leinölfarben in erheblichem Umfange leinölsparende Anstrichmittel und Nitro-Anstrichstoffe eingeführt. Vom wirtschaftlichen Standpunkte aus war es auch notwendig, die Lagerbestände durch straffere Durchbildung des Lagerwesens und der Beschaffung maßgeblich zu vermindern. In der Eröffnungsbilanz der Deutschen Reichsbahn im J a h r e 1924 wurden die Stoffvorräte mit 631,6 Millionen R M . bewertet, während sie heute ohne jede Störung der Versorgung bei den Verbrauchsstellen auf 202,4 Millionen R M . heruntergegangen sind. Wenn schon in der ersten Nachkriegszeit die Nützlichkeit der Verwendung heimischer Stoffe erkannt war, so wurde die zwingende Notwendigkeit einer solchen Maßnahme doch erst nach dem Aufbruch der Nation vollständig klar. Es setzten dabei auch in erhöhtem Maße durchgreifende Bestrebungen ein, in der Stoffversorgung die Reichsbahn von dem Auslande und von Devisenzahlungen möglichst unabhängig zu machen. Heute enthalten die gesamten Beschaffungen der Deutschen Reichsbahn im Werte von rund 1,5 Milliarden R M . jährlich an mittelbaren und unmittelbaren Devisen nurmehr etwa 30 Millionen R M . Auf allen wichtigen Stoffgebieten, wie für Stahl, für Nichteisenmetalle und besonders Leichtmetalle, für Textilien, Gummi und Leder, für Anstrichmittel, für Schmiermittel und Treibstoffe, für Holz und für Stoffe der elektrischen Anlagen arbeiten in Arbeitsgemeinschaften die Männer des Betriebes, der Werkstätten, des Einkaufs und der einschlägigen wissenschaftlichen Richtungen Hand in Hand miteinander, um mit Erfolg die Einführung deutscher Stoffe voranzutragen, wobei

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nicht behelfsmäßige Ersatzstoffe geschaffen, sondern wirtschaftlich und technisch auf die Dauer befriedigende Lösungen gefunden werden sollen. Bei diesen Arbeiten spielt auch die Frage der Rückgewinnung der Altstoffe eine wichtige Rolle. Als Beispiel für die erfolgreiche U m stellung auf vollwertige Heimstoffe seien erwähnt die weitgehende Verwendung von Zellwolle und Kunstseide bei den Textilien, die Herstellung von tausenden von Brems- und Heizschläuchen sowie von Kraftfahrzeugreifen aus Buna, die Einführung von Leichtmetall im Fahrzeugbau besonders für Beschläge, Fensterrahmen, der weitgehende Ersatz noch zinnhaltiger Lagermetalle und Bronzen durch devisensparende Legierungen, die Verwendung von Stahlfeuerbüchsen und Stahlstehbolzen in den neuen Lokomotiven, die Benutzung von Aluminium in den elektrischen Anlagen und der Ersatz von hochwertigen nickelhaltigen Stählen durch Molybdänstahl. Die Deutsche Reichsbahn hat es auf sich genommen, bei dieser Umstellung auf eine erfolgreiche Heimstoffwirtschaft durch großzügige Versuche voranzugehen. Sie hat dabei die wirtschaftlichen Gesichtspunkte vorerst weitgehend zurückgestellt, u m einen raschen Fortschritt der Umstellung und die frühzeitige Feststellung brauchbarer und wirtschaftlich befriedigender Lösungen der Heimstoffwirtschaft auch für die Allgemeinheit des deutschen Volkes sicherzustellen. IX.

BESCHAFFUNGSPOLITIK

Die Deutsche Reichsbahn ist der größte A U F T R A G G E B E R der deutschen Wirtschaft. I m Jahre vergibt sie durchschnittlich für 1,5 Milliarden R M . Aufträge. In den Jahren 1931 und 1932 war die Auftragssumme bis auf 1 Milliarde R M . und darunter gesunken. Nach der nationalen Erhebung stieg sie wieder an und beträgt jetzt bereits wieder fast 1,5 Milliarden R M . Die erheblichen Summen, die auf diese Weise jährlich der deutschen Volkswirtschaft zufließen, beeinflussen naturgemäß das soziale Leben des deutschen Volkes in starkem Maße. Fast alle Teile von Industrie, Gewerbe und Handel sind unmittelbar oder mittelbar an Lieferungen für die Deutsche Reichsbahn beteiligt. Während früher die Ländereisenbahnen jede für ihren Bezirk beschafften, ist die Einkaufszuständigkeit jetzt dahingehend geregelt, daß bestimmte Teile und Waren, die in großen Mengen gebraucht werden, sowie die Fahrzeuge durch die Zentralämter in Berlin und München für den gesamten Bereich der Reichsbahn beschafft werden. Für alle anderen Einkäufe sind die Reichsbahndirektionen und die unterstellten Ämter zuständig, die beide auch alle Bauausführungen vergeben. Durch die Normung der Werkstoffe und Ersatzstücke, die Einführung einheitlicher

Die Deutsche Reichsbahn

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Lieferbedingungen und Vergebungsvorschriften und die Verminderung der Stoffsorten und Bauformen konnte die Lagerhaltung wirtschaftlicher gestaltet werden. Wegen ihrer besonderen Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft ist die Deutsche Reichsbahn bemüht, ihre Aufträge auf die einzelnen Industrien unter dem Gesichtspunkt des Wohles der gesamten deutschen Wirtschaft möglichst gerecht zu verteilen. Die Bestrebungen der Reichsregierung in bezug auf Senkung der Arbeitslosenzahl und auf eine gleichmäßige Beschäftigung aller Gaue und Landesteile werden — vielfach unter Zurückstellung der eigenen Belange der Reichsbahn — tatkräftig unterstützt, z. B. durch Verlängerung der Lieferfristen, zeitliche und örtliche Verteilung der Aufträge nach dem Beschäftigungsgrad der betreffenden Industriezweige usw. Eine Industrie, die überwiegend für die Deutsche Reichsbahn beschäftigt ist, sind die Fahrzeugbauanstalten. Seit dem J a h r e 1918 betrugen die Ausgaben für FahrzeugbeschafFungen im Haushaltjahr 1918

rund 349,5 Millionen GM.

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Hiernach waren die Ausgaben in den ersten Jahren nach dem Kriege (1920—1923) am höchsten. Dies ist vor allen Dingen darauf zurückzuführen, daß sich die Deutsche Reichsbahn infolge der durch den Waffenstillstands- und den Versailler Vertrag bedingten großen Fahrzeugabgaben (etwa 8300 Lokomotiven, 13500 Personenwagen und 279000 Güter- und sonstige Wagen aller Art) gezwungen sah, zur Aufrechterhaltung des Eisenbahnbetriebes neue Fahrzeuge in einem erheblichen Umfange zu beschaffen. Insbesondere sollte aber auch durch diese Beschaffungen der Industrie die Umstellung von der Kriegs- auf die Friedensproduktion erleichtert werden.

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Diese umfangreichen Beschaffungen brachten dann nach und nach einen erheblichen Überbestand an Fahrzeugen mit sich, als die Verkehrsleistungen in den folgenden Jahren stark sanken. Da sich naturgemäß auch die Verkehrseinnahmen erheblich verminderten, mußte die Deutsche Reichsbahn zu einer starken Drosselung derFahrzeugbeschaifungen schreiten. Es wurden nur die notwendigsten Beschaffungen vorgenommen, und zwar auch nur in einem solchen Umfange, daß die Fahrzeugbauanstalten nicht vollständig zum Erliegen kamen und in der Lage waren, wenigstens einen kleinen Stamm ihrer Arbeiterschaft erhalten zu können. Die folgenden Jahre von 1927 ab brachten infolge Verbesserung des Verkehrs auch eine günstigere Entwicklung der Einnahmen mit sich. Deshalb konnte die Deutsche Reichsbahn auch wieder größere Fahrzeugbeschaffungen vornehmen und dadurch mit dazu beitragen, die infolge der ungünstigen Wirtschaftslage der letzten Jahre entstandene große Arbeitslosigkeit wesentlich herabzumindern. Nach dem Jahre 1929 mußte sich die Reichsbahn wiederum infolge des starken Verkehrsrückganges den verminderten Verkehrseinnahmen anpassen und die Fahrzeugbeschaffungen einschränken. Nach Ablauf des Jahres 1933 wurde durch die Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung und durch die damit verbundene Verminderung der Erwerbslosenziffer die deutsche Volkswirtschaft wieder in einem erheblichen Umfange angekurbelt. Dies hatte auch eine entsprechende Verkehrsentwicklung der Deutschen Reichsbahn zur Folge. Die damit verbundenen erhöhten Verkehrseinnahmen und die infolge Erhöhung der Fahrgeschwindigkeit notwendige Weiterentwicklung der Fahrzeugbauarten führten die Deutsche Reichsbahn dann wieder dazu, Fahrzeugbeschaffungen in einem von Jahr zu Jahr steigenden Umfange zu machen. Konnten im Jahre 1932 von den für Fahrzeugbeschaffungen zur Verfügung gestellten Mitteln durch Reichsbahnaufträge etwa 29000 Volksgenossen Arbeit und Brot finden, so erhöhte sich diese Zahl für das Jahr 1935 bereits auf etwa 72000. X. VERWALTUNG UND RECHT Getreu der Überlieferung der deutschen Staatsbahnen, unter denen man wohl die preußischen an erster Stelle nennen darf, hat sich auch die Deutsche Reichsbahn seit ihrer Gründung im Jahre 1920 bemüht, ihren Betrieb unter Wahrung der Belange der deutschen Volkswirtschaft zu führen. Das gilt vornehmlich auch für den Bereich der von ihr zu betreuenden V E R W A L T U N G S - und R E C H T S angelegenheiten. Welche Aufgaben auf diesem Gebiete zu bewältigen sind, zeigt schon die Tat-

Die Deutsche Reichsbahn

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sache, daß die Reichsbahn der größte Grundeigentümer des Reiches ist. Nicht weniger als 200500 ha umfaßt der zum Reichseisenbahnvermögen gehörende Grund und Boden, der damit um 10000 ha größer ist als das jetzt dem Reich zurückgewonnene Saargebiet. Aus der Verwaltung eines so umfangreichen Grundbesitzes ergeben sich naturgemäß eine Unmenge von Fragen aus den verschiedensten Rechtsmaterien, von denen hier nur beispielsweise die wichtigsten Gebiete der Enteignung, der Planfeststellung, des Wasser-, Berg- und Wegerechts genannt seien. Da der nach Umfang und Wert gleichermaßen bedeutende Grundbesitz der Reichsbahn nach Möglichkeit erhalten bleiben muß, wird nur in Ausnahmefällen Grund und Boden veräußert und regelmäßig gleichwertiger Ersatz in Land gefordert. Von den oben genannten 200500 ha stehen übrigens mehr als 2000 ha der Wirtschaft als L a g e r p l ä t z e zur Verfügung, von denen etwa 1500 ha vermietet sind. Die enge Verbundenheit zwischen Reichsbahn und Wirtschaft zeigt sich auch deutlich auf dem Gebiete der Privatgleisanschlüsse. Diese für Massenbeförderungen schlechterdings unentbehrliche Einrichtung dient dem Zweck, Erzeugungs-, Lagerungs- oder Verbrauchsstellen der Industrie und Landwirtschaft von den eigentlichen Ladeanlagen der Reichsbahn unabhängig zu machen. An solchen Gleisverbindungen mit der Reichsbahn sind zur Zeit mehr als 13 000 mit einer Gleislänge von nahezu 16000 km vorhanden. Die Zahl der auf ihnen behandelten Wagen, die im Jahre 1932 fast 17 Millionen betrug — nachdem sie im Jahre der Hochkonjunktur 1929 nahezu die doppelte Höhe erreicht hatte —, gibt zugleich verläßlichen Aufschluß über die Entwicklung der von den Anschließern unterhaltenen Wirtschaftsbetriebe. Von Bedeutung für die Volkswirtschaft ist auch das Verhältnis der Reichsbahn zur R e i c h s p o s t - und Telegraphen-Verwaltung, da j a die Postsendungen zum überwiegenden Teile auf der Reichsbahn befördert werden und von der geschickten Zusammenarbeit der beiden Verwaltungen und einer schnellen Beförderung des brieflichen Geschäftsverkehrs sowie aller sonstigen Postsendungen viel für die Wirtschaft abhängt. Es ist in dieser Hinsicht im Laufe der Zeit außerordentlich viel geleistet und durch gemeinsame Arbeit der beiden Verwaltungen eine Pünktlichkeit und Schnelligkeit in der Beförderung der Postsendungen erreicht worden, die allen Belangen der Wirtschaft gerecht werden dürfte. Daß die Leistungen der Reichsbahn für die Reichspost zwecks Klarstellung der beiden Haushalte angemessen abgegolten werden, sei nur nebenbei erwähnt, und naturgemäß ist auch diese Abgeltungsberechnung zwischen den beiden Verwaltungen

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Julius Dorpmüller

so einfach gestaltet worden, daß große Arbeit daraus nicht erwächst. Ähnlich eng sind in gewisser Hinsicht die Beziehungen zur Z o l l v e r w a l t u n g gestaltet, da die Reichsbahnen die Hauptzollstraßen f ü r die Ein- und Ausfuhr sind und eine enge Zusammenarbeit zwischen Reichsbahn und Reichszollverwaltung sich von selbst ergibt. Durch starke Einschaltung der Reichsbahnbeamten in die Aufgaben der Zollverwaltung, durch Vereinfachung der Zollkontrolle und der Erhebung der Zölle einerseits und durch Verbesserung der Sicherungsmaßnahmen gegen den Schmuggel und die Zollhinterziehungen anderseits ist viel Vorteilhaftes f ü r die Volkswirtschaft erreicht worden. Der Gedanke, der Volkswirtschaft durch Beseitigung von Schwierigkeiten und Vereinfachung des Zollverkehrs zu helfen, war stets für beide Verwaltungen richtunggebend bei ihrer Zusammenarbeit. Ein Ausgleich der gegenseitigen Leistungen beider Verwaltungen erfolgt auch hier in der einfachsten Weise. Die Bestimmungen über „ V e r g e b u n g v o n L e i s t u n g e n u n d L i e f e r u n g e n " sind in ständiger Fortentwicklung infolge des Neuaufbaus der Wirtschaft und deren Einordnung in die staatspolitischen Erfordernisse begriffen. Es war daher notwendig, auch die Vergebungsvorschriften entsprechend zu gestalten, um sowohl hinsichtlich der Auswahl der Bieter als auch hinsichtlich des Wettbewerbs und der Leistungsfähigkeit des einzelnen Bieters den Grundgedanken der Neuordnung der Wirtschaft zu entsprechen. Enge Beziehungen zur deutschen Volkswirtschaft bestehen auch auf dem Gebiet der g e w e r b l i c h e n N e b e n b e t r i e b e , von denen 3265 Bahnwirtschaften, 875 Bahnhofsbuchhandlungen und 1346 Verkaufsstände vorhanden sind. Die sämtlichen Betriebe werden von der Deutschen Reichsbahn nicht in eigener Regie verwaltet, sondern sind an Einzelunternehmer und Firmen verpachtet. Hierdurch sind zahlreiche selbständige Existenzen geschaffen worden. Daß durch Aufstellung von über 1 2 5 0 0 Warenautomaten auf den Bahnhöfen die Automatenindustrie erheblich gefördert worden ist und dauernd beschäftigt wird, bedarf keiner weiteren Begründung. Auf i n t e r n a t i o n a l e m Gebiet sind die Eisenbahnverträge mit dem Ausland (Grenzübergänge) und die Ansprüche des Reiches sowie die Forderungen gegen das Reich auf Grund des Versailler Vertrages erwähnenswert. Z u r Zeit sind hier besonders wichtig die Verträge mit Österreich, der Tschechoslowakei und mit Polen sowie die Abkommen mit Frankreich über Grenzbahnhöfe und Rheinbrücken. Bei allen 4 Nachbarländern waren mehr oder weniger schwierige Verhandlungen

Die Deutsche Reichsbahn

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nötig, die aber zum Teil noch nicht abgeschlossen sind. Anläßlich der Rückgliederung des Saargebietes ist auch die Frage der sogenannten „strittigen Strecken", das sind Teilstrecken der vormaligen Reichseisenbahnen, die auf preußischem Hoheitsgebiet lagen und deren Eigentum Frankreich für sich beanspruchte, endgültig zu unseren Gunsten entschieden worden. Neben der an anderer Stelle erwähnten Beförderungssteuer hat die Deutsche Reichsbahn noch erhebliche Beträge für Umsatzsteuer, Wechselsteuer, Grund- und Gebäudesteuer, Grunderwerbsteuer sowie für Kanalisationsgebühren, Straßenbau und Reinigungskosten aufzubringen. Dazu kommen Beiträge zum Reichsnährstand^ Kirchen-, Schul- und Armenlasten, Deichlasten usw. Zur Abgeltung der Forderungen von Gemeinden, in denen verhältnismäßig zahlreiche Reichsbahnbedienstete wohnen, auf Entrichtung von Verwaltungskostenzuschüssen hat die Deutsche Reichsbahn jährlich einen festen Betrag von 5 Millionen R M . an die Reichsregierung zu zahlen, die die Grundsätze der Verteilung auf die Gemeinden festsetzt (§ 15 R B G . ) . Insgesamt betrugen die Ausgaben für Steuern (ohne Beförderungssteuern), Haftpflichtentschädigungen und Ersatzleistungen im J a h r e 1935 33,6 Millionen R M . In den Jahren nach der Machtergreifung war es für die Reichsbahn selbstverständliche Pflicht, zu ihrem Teile dazu beizutragen, das große Ziel der Schaffung eines einheitlichen deutschen Rechts im nationalsozialistischen Geiste zu erreichen. Die engen Beziehungen zwischen der Reichsbahn und der deutschen Volkswirtschaft bringen es mit sich, daß die meisten Gebiete des öffentlichen und des privaten Rechts den Bereich der Reichsbahn irgendwie berühren. Die Reichsbahn fühlt sich deshalb berufen, an einer großen Zahl von Gesetzentwürfen im Zusammenhang mit der Erneuerung des deutschen Rechts mit zu arbeiten. U m aus der Fülle des Stoffes nur einige Beispiele herauszugreifen, seien die gesetzgeberischen Vorarbeiten der Reichsbahn auf dem Gebiete des Enteignungsrechts, der Förderung der Energiewirtschaft und des Patentwesens genannt. Dabei war die Reichsbahn auch bestrebt, mehr und mehr dem Gedanken Geltung zu verschaffen, daß ihr als einem öffentlich-rechtlichen, im Interesse der deutschen Volkswirtschaft verwalteten Unternehmen des Reiches in der Gesetzgebung die gleiche Stellung gebührt, wie den übrigen Zweigen der Reichsverwaltung.

DIE DEUTSCHE REICHSPOST VON

WILHELM OHNESORGE

D I E E N T W I C K L U N G S T E N D E N Z E N S E I T 1918 IM WELTKRIEG UND DURCH DIE BESTIMMUNGEN DES Versailler Vertrages hatte auch die Deutsche Reichspost Opfer zu bringen. Die in den Kolonien und den nach dem Versailler Vertrag abzutretenden Gebietsteilen bestehenden Posteinrichtungen gingen an die Feindmächte über. Ferner verlangte Teil V I I I Anl. V I I des Friedensvertrages die Auslieferung sämtlicher Überseekabel. Die vielen Verflechtungen, die Deutschland mit den anderen Nationen des Erdballs verbanden, sollten womöglich für immer zerrissen, Deutschlands kultureller Einfluß, der nach allen Ländern ging, sollte damit vernichtet werden. Die Jahre nach dem Kriege mußten daher vorab der Wiederanknüpfung der alten Verkehrsbeziehungen sowie der Beseitigung der im Kriege entstandenen Schäden gewidmet werden. Am schnellsten gelang die Wiederanknüpfung der Auslandsbeziehungen. Alsbald nach dem Kriege, im Jahre 1920, übernahm Deutschland wieder in einer der drei auf dem Weltpostkongreß Madrid gebildeten Kommissionen den Vorsitz. Auch in den vorbereitenden Ausschüssen war unser Land neben Frankreich und England sofort wieder vertreten. Auf der Funkkonferenz in Washington im Jahre 1927 wurden Deutschland für die verloren gegangenen Kolonialstimmen sogar Zusatzstimmen gewährt.

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Wilhelm Ohnesorge

Schwieriger war der Wiederaufbau des innerdeutschen Postwesens. Einen Schritt vorwärts zu diesem Wiederaufbau bildete die Übernahme der Postverwaltungen Bayerns und Württembergs durch das Reich. Diese Vereinheitlichung des deutschen Postwesens hätte sich schon damals für den Wiederaufbau des Post- und Fernmeldewesens sehr günstig auswirken können, denn j e größer ein einheitlich verwaltetes Verkehrsgebiet ist, um so umfassender sind die Entwicklungsmöglichkeiten bei der Gestaltung und dem Ausbau der Einrichtungen. Die partikularistischen Strömungen waren aber noch stark genug, um zunächst eine vollkommene Vereinheitlichung des deutschen Postwesens zu verhindern. Während Artikel 170 der Weimarer Verfassung bestimmte, daß die Post- und Telegraphenverwaltungen Bayerns und Württembergs auf das Reich übergehen sollten, wurden in den mit Bayern und Württemberg daraufhin abgeschlossenen Staatsverträgen den beiden Ländern weiterhin eine Reihe von Zugeständnissen gemacht und besondere Rechte auf dem Gebiet des Post- und Fernmeldewesens eingeräumt. Erst das von der nationalsozialistischen Regierung erlassene Vereinfachungsgesetz vom 27. Februar 1934 (Reichsgesetzblatt I S. 130) brachte mit der Beseitigung dieser letzten partikularistischen Sonderrechte ein einheitliches Postwesen für das Deutsche Reich. Der Wiederaufbau der Deutschen Posteinrichtungen nach dem Weltkrieg wurde durch die bald einsetzende Geldentwertung aufs schwerste gehemmt. Die Deutsche Reichspost, die als unmittelbare Reichsverwaltung genau so wie jede andere unmittelbare Reichsverwaltung organisiert war und deren Haushalt im Reichshaushalt in Erscheinung trat, konnte die durch die Geldentwertung erforderlichen Gebührenerhöhungen nur auf Grund von Gesetzen vornehmen. Durch die Schwerfälligkeit des Gesetzgebungswegs und durch die immer schneller fortschreitende Geldentwertung konnten diese Gebührenerhöhungen nicht rechtzeitig vorgenommen werden, so daß sie meistens bei ihrem Inkrafttreten schon wieder völlig wertlos waren. Eine ordnungsmäßige Gebührenpolitik war infolgedessen unmöglich, und unsere Verwaltung, die vor dem Kriege stets mit einem Überschuß (1913 90 Millionen M) gearbeitet hatte, wurde zu einer Zuschußverwaltung. Als Mitte November 1923 die Inflation und damit das unheilvolle Sichtreibenlassen des Wirtschaftslebens beendet war, stellte der Reichsfinanzminister bei Stillegung der Notenpresse die Zahlung jedes weiteren Zuschusses an die Deutsche Reichspost ein. Die Post mußte infolgedessen aus eigenen Kräften ihren Haushalt in Einnahme und Ausgabe ausgleichen. Es galt nun, aus diesem tatsächlichen Zustand auch die rechtlichen Folgerungen zu ziehen. Die Aufgabe, den Haushalt selbst auszugleichen, war nur dann dauernd

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erfüllbar, wenn die Verwaltung für ihre Wirtschaftsführung eine angemessene Bewegungsfreiheit und die Möglichkeit rascher Dispositionen erhielt. U m dies zu erreichen mußte die Mitwirkung des Reichstags und des Reichsrats, die bei ihrer bekannten Schwerfälligkeit für eine große staatliche Verkehrsanstalt wie die Deutsche Reichspost nur einen Hemmschuh bildeten, beseitigt werden. Das geschah durch das Reichspostfinanzgesetz vom 18. M ä r z 1924 (Reichsgesetzblatt I S.287). Nach diesem Gesetz wurde das dem Reichspost- und Telegraphenbetrieb gewidmete und in ihm erworbene Vermögen des Reichs und alle öffentlichen wie privaten Rechte und Verbindlichkeiten der Reichspost- und Telegraphenverwaltung zum Sondervermögen erklärt, das von dem übrigen Vermögen des Reichs, seinen Rechten und Verbindlichkeiten getrennt zu halten war. Mit der Verwaltung dieses Sondervermögens wurde das „selbständige Unternehmen" „Deutsche Reichspost" unter Leitung des Reichspostministers und unter der beschließenden Mitwirkung eines Verwaltungsrats, der in sich die bisherigen Befugnisse von Reichstag und Reichsrat vereinigte, betraut. Trotz dieser Bezeichnung als selbständiges Unternehmen war aber die Deutsche Reichspost — anders als die Deutsche Reichsbahn, die in Art einer Aktiengesellschaft zu einer selbständigen Rechtsperson umgewandelt worden war — unmittelbare Reichsverwaltung und damit Hoheitsverwaltung geblieben. Ebenso blieben die Postbeamten unmittelbare Reichsbeamte. Die Zusammensetzung des Verwaltungsrats der Deutschen Reichspost hat in der Folgezeit geschwankt. Zuletzt bestand der Verwaltungsrat aus 41 Mitgliedern, die vom Reichspräsidenten ernannt wurden. 11 dieser Mitglieder wurden vom Reichstag, 10 vom Reichsrat und eines vom Reichsfinanzminister vorgeschlagen. Weiter hatte der Reichspostminister das Recht, im Benehmen mit dem Reichsfinanzminister und dem Reichsrat 7 Mitglieder aus dem Personal der Deutschen Reichspost zu benennen. Schließlich sollten bis zu 12 Mitgliedern aus Kreisen genommen werden, denen auf dem Gebiete der Wirtschaft und des Verkehrs besondere Erfahrungen zur Seite standen. Mit dem Reichspostfinanzgesetz war — und das war wichtig — die wiederholt geforderte Privatisierung der deutschen Post verhindert worden. Z w a r wird nirgends in der ganzen Welt die Post als Privatunternehmen betrieben, überall wird sie als Staatsanstalt verwaltet. Lediglich der Fernmeldeverkehr ist in einigen Ländern an Privatunternehmen überlassen worden. Der R u f nach Privatisierung der Post in Deutschland zeigte also letzten Endes nur die Schwäche der damaligen Staatsgewalt und den starken Einfluß überzogener liberalistischer Wirt-

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Wilhelm Ohnesorgt

schaftsauffassung. Der riesenhafte Nachrichtenapparat der Postverwaltung ist nun einmal ein Machtmittel in der Hand dessen, der ihn spielen läßt, und ein gut organisierter auf der höchsten Stufe der Leistungsfähigkeit stehender Nachrichtendienst bildet eine Lebensnotwendigkeit für den Staat. Eine starke Staatsführung muß also stets bestrebt sein, das Nachrichtenwesen fest in ihrer Hand zu halten und alle Einflüsse, von welcher Seite sie auch kommen mögen, auszuschalten. In der Zeit vor 1933 war dies nicht der Fall und auch der neugeschaffene Verwaltungsrat wurde von den verschiedensten Seiten, sei es der Parteipolitik oder der freien liberalistischen Wirtschaft, angestoßen, um Einfluß auf das Nachrichtenwesen des Reichs zu gewinnen. Es wurde dabei für die Post eine Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit, ähnlich der Reichsbahn, gefordert. Daß die Reichsbahngesellschaft ihre Form als Aktiengesellschaft nur erhalten hatte, weil sie Trägerin eines Teils der Reparationen werden sollte, und daß deshalb in der gleichen Forderung hinsichtlich der Reichspost eine nationale Würdelosigkeit lag, interessierte hierbei offenbar nicht. Es wurde u. a. die Umbildung der Deutschen Reichspost in eine selbständige Betriebsgesellschaft, die Deutsche Reichspost AG., mit einem Generaldirektor an der Spitze vorgeschlagen (vgl. Salinger, Reichsverkehrsreform, Magazin der Wirtschaft 1930, S. 1666ff.). Die Betriebsform der Aktiengesellschaft war nach Auffassung der jüdisch-kapitalistischen Kreise nach 1918 schlechthin das Ideal. Es hätte sich so nicht nur der ständige Einfluß dieser Kreise wahren, sondern auch am besten die finanzielle Ausnutzung im Privatinteresse ermöglichen lassen. Auch die Denkschrift eines Studienausschusses „Post-Eisenbahn" beim Deutschen Industrie- und Handelstag vom März 1932 verfolgte kaum andere Ziele als eine Schwächung des Einflusses des Reichs und eine Stärkung des Einflusses der privaten Wirtschaft auf die Deutsche Reichspost. Hier wurde für die Post die Trennung von Leitung und Aufsicht gefordert; nur die Aufsichtsrechte sollten dem Reich vorbehalten, die Leitung dagegen nach Möglichkeit verselbständigt werden. Der Einfluß der Wirtschaft im Verwaltungsrat sei nicht stark genug; es wurde deshalb ein ausreichender Einfluß von Sachverständigen aus diesen Kreisen gefordert. Wohin der Weg dieses Vorschlags gehen sollte, zeigen die Verhandlungen auf der Sitzung des Deutschen Industrie- und Handelstages vom 25. Februar 1932. Hier führte der Vorsitzende des Ausschusses (Prof. Dr. Most, Duisburg) wörtlich aus: „Man hat, als man daran ging, das Reichspostfinanzgesetz zu erlassen, auch hier die verschiedenen Möglichkeiten erwogen. Man hat dabei vor einer zu weitgehenden Verselbständigung gewarnt, und zwar im

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Reichspost

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Hinblick auf die vorhin schon erwähnten öffentlichen Aufgaben. Seitdem gesammelte Erfahrungen lassen zweifelhaft erscheinen, ob die Geltendmachung eines starken unmittelbaren Reichseinflusses auf gerade die Betätigungsgebiete der Postverwaltung stets zum Segen ausschlägt; es sei an den Rundfunk erinnert." (Verhandlungen des Deutschen Industrie- und Handelstages, 1932, Heft 2, S. 28.) Diese Ausführungen beweisen, daß man bestrebt war, die Post und den Rundfunk zu privatisieren und der Privatwirtschaft auszuliefern. An einer andern Stelle identifiziert sich der Verfasser sogar ausdrücklich mit der Forderung Salingers auf Umwandlung der Post in eine Aktiengesellschaft (Verhandlungen a. a. O. S. 31). Erst nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler wurde, um alle anderen Einflüsse auszuschalten und den Einfluß des Reichs auf die Deutsche Reichspost restlos wiederherzustellen durch das Vereinfachungsgesetz vom 27. Februar 1934 der Verwaltungsrat aufgehoben. Nach diesem vom Nationalsozialismus getanen Schritt ist anscheinend aus einem früheren Saulus ein Paulus geworden; denn der Verfasser der früheren Denkschrift „Post — Eisenbahn" erklärt auf der Tagung des Studienkreises der Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster (Westfalen) am 20. Juli 1934: „Zweitens hat in jenem Gesetz vom 27. Februar 1934 die Deutsche Reichspost eine wesentliche Umgestaltung erfahren, in E r f ü l l u n g eines e b e n f a l l s l a n g g e h e g t e n , und in der damaligen Denkschrift des Handelstages formulierten W u n s c h e s : nämlich Ersatz des großen politischen, mit weitgehenden Beschlußbefugnissen ausgestatteten Verwaltungsrats durch einen Sachverständigenbeirat des Reichsverkehrsministers, welch letzterer allein die Entscheidung fällt." (Verkehrswissenschaftliche Forschungen, Heft 1: Zur Verkehrspolitik im Dritten Reich, Münster 1934, S. 17/18.) Wir haben zu dieser Erklärung weiter noch zu bemerken, daß nach dem Vereinfachungsgesetz an der Spitze der Deutschen Reichspost nicht der Reichsverkehrsminister, sondern der Reichspostminister steht, der auch den Vorsitz in dem bei der Deutschen Reichspost gebildeten Beirat führt. Es muß allerdings daraufhingewiesen werden, daß vor 1933 derartige Forderungen, wie die von Salinger und Most vertretenen, durch die Stellungnahme der Postverwaltung selbst begünstigt wurden. In Aufsätzen führender Postbeamter wurde immer wieder daraufhingewiesen, daß die Deutsche Reichspost zwar staatsrechtlich eine unmittelbare Reichsverwaltung sei, daß dies jedoch mehr der äußere Rahmen sei, denn nach den Aufgaben, die ihr gestellt seien und nach den Zielen, die sie verfolge, sei sie eine Wirtschaftseinrichtung (Sautter, Wand5

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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lungen im Deutschen Post- und Telegraphenwesen, in Strukturwandlungen der Deutschen Wirtschaft, herausgegeben von Harms, Berlin 1928). Und in dem Wirtschaftserlaß des Reichspostministers vom 25. Juli 1925 (Amtsblatt des Reichspostministeriums S. 385) wird ausgeführt, daß es nun nach einjährigem Bestehen des Reichspostfinanzgesetzes ein unabweisbares Gebot gesunder organischer Fortentwicklung sei, weitere Folgerungen aus dem Reichspostfinanzgesetz in dem Sinne zu ziehen, daß die Deutsche Reichspost als selbständiger und als vollwertig anerkannter Wirtschaftskörper immer mehr der allgemeinen Wirtschaft eingegliedert werde. Das Reichspostfinanzgesetz wurde hierbei allerdings vom Reichspostminister stark vergewaltigt, denn auch nach diesem Gesetz war die Deutsche Reichspost unmittelbare Reichsverwaltung und damit Hoheitsverwaltung geblieben. Und wenn es in der Begründung zum Gesetz hieß, daß ermöglicht werden sollte, die Deutsche Reichspost nach kaufmännisch-wirtschaftlichen Grundsätzen zu leiten, so war hiermit lediglich die Form für gewisse Gebiete der Haushaltsführung und Rechnungslegung, nicht aber die ungebundene Erfolgswirtschaft gemeint. Die Reichspost hat als große staatliche Verkehrsanstalt der Wirtschaft und dem gesamten Volke zu dienen, zur Wirtschaft und zum Verkehrsgewerbe selbst gehört sie nicht. Die Post ist weder Kaufmann im Sinne des Handelsgesetzbuchs noch ein Gewerbebetrieb im Sinne der Gewerbeordnung, und die Verordnung über den organischen Aufbau des Verkehrs vom 25. September 1935 (Reichsgesetzblatt I S. 1169), die zur Durchführung des Gesetzes zur Vorbereitung des organischen Aufbaues der deutschen Wirtschaft vom 27. Februar 1934 erlassen ist, erklärt daher folgerichtig, daß die öffentlich verwalteten Verkehrsbetriebe, also Reichsbahn, Reichspost, Reichsautobahnen, die Verkehrsluftfahrt und das Straßenwesen, nicht zum Verkehrsgewerbe gehören. Diese Auffassung, daß die Post kein reines Wirtschaftsunternehmen ist, bestimmt seit der Führer- und Reichskanzlerschaft Adolf Hitlers auch die Tarifpolitik der Deutschen Reichspost. Das Tarifwesen im Nachrichtenverkehr ist heute keine starre Form mehr, das nur auf den Erwerbszweck gerichtet und daher möglichst unveränderlich zu halten ist. Für die Gebührenpolitik sind vielmehr die Grundsätze der Gemeinnützigkeit maßgebend. Das Reichspostfinanzgesetz ist, wie schon erwähnt, nach der Regierungsübernahme durch den Nationalsozialismus durch das Gesetz zur Vereinfachung und Verbilligung der Verwaltung vom 27. Februar 1934 ersetzt worden. Der Artikel II dieses Gesetzes bestimmt die Staatsrecht-

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liehe Stellung der Deutschen Reichspost, so daß man es als deren Verfassungsgrundgesetz bezeichnen kann. Die Deutsche Reichspost bleibt weiterhin unmittelbare Reichsverwaltung mit einem Reichspostminister an der Spitze. Auch an der Rechtsstellung des Sondervermögens der Deutschen Reichspost ist nichts geändert worden. Wie bereits oben erwähnt ist, wurden die noch bestehenden Sonderrechte Bayerns und Württembergs auf dem Gebiet des Postwesens beseitigt und der Verwaltungsrat durch einen lediglich beratend mitwirkenden Beirat ersetzt. Der Beirat, der in grundsätzlichen und besonders wichtigen Fragen zu hören ist, besteht aus 6 Mitgliedern, die von der Reichsregierung auf die Dauer von 3 Jahren ernannt werden und ehrenamtlich tätig sind. Bei der Auswahl der Mitglieder des Beirats sind diejenigen großen Teile unseres Erwerbs- und Wirtschaftslebens besonders berücksichtigt worden, die den weitaus größten Kundenkreis der Deutschen Reichspost ausmachen, deren Vertreter mithin in ganz besonderem Maße berufen und in der Lage sind, die Verkehrsbedürfnisse von Volk und Wirtschaft gerecht zu beurteilen und entsprechende Wünsche und Ratschläge an die Verwaltung heranzubringen. Über die Vermögensverwaltung und die Haushaltsgebarung sind im Vereinfachungsgesetz im Gegensatz zum Reichspostfinanzgesetz nur einige wenige Bestimmungen getroffen. Eine Ergänzung bringt daher die auf Grund des § 7 des Vereinfachungsgesetzes erlassene Verordnung über die allgemeinen Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Haushaltsgebarung und Vermögensverwaltung der Deutschen Reichspost vom 6. April 1934 (Reichsgesetzblatt I S. 305). Durch das Vereinfachungsgesetz und durch diese Verordnung ist die unabhängige Stellung, die die Deutsche Reichspost in finanziellen Fragen gegenüber dem Reichsfinanzminister hatte, gewahrt geblieben. Durch § 15 des Reichspostfinanzgesetzes waren die Bestimmungen der Reichshaushaltsordnung für die Deutsche Reichspost außer Kraft gesetzt, soweit sie eine weitere Beteiligung des Reichsfinanzministers als sie im Reichspostfinanzgesetz vorgesehen war, enthielten. Diese Vorschrift ist inhaltlich durch § 12 der Verordnung über die Haushaltsgebarung und Vermögensverwaltung bestätigt worden. Die Deutsche Reichspost hat danach einen eigenen Voranschlag aufzustellen, der der Zustimmung des Reichsministers der Finanzen bedarf. Es gilt der Grundsatz: „Keine Ausgabe ohne Deckung". Der vorherigen Verständigung zwischen dem Reichspostminister und dem Reichsminister der Finanzen bedürfen: Die Aufnahme von Anleihen und Krediten, die dabei nur zu Schaffung von Anlagewerten aufgenommen werden sollen, die Bestellung von Sicherheiten, die Übernahme von Bürgschaften und Gewährleistungen 5«

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und die allgemeinen Grundsätze für die Anlage und Verwendung des Postscheckguthabens sowie für die Anlage der Rücklage. Die Schulden der Deutschen Reichspost werden wie bisher nach den für die Verwaltung der allgemeinen Reichsschuld geltenden Grundsätzen durch die Reichsschuldenverwaltung verwaltet. Zur Deckung von Fehlbeträgen ist eine Rücklage von 100 Millionen Reichsmark zu bilden. Die Entlastung über die Jahresrechnungen der Deutschen Reichspost erteilt die Reichsregierung. Die Deutsche Reichspost hat von ihren jährlichen reinen Betriebseinnahmen, wenn sie weniger als 2,2 Milliarden Reichsmark betragen, 6 v. H., bei 2,2 bis einschließlich 2,4 Milliarden Reichsmark 6 1 / 2 v. H. und bei 2,4 Milliarden Reichsmark und mehr 62/3 v. H. an das Reich abzuliefern. Die Deutsche Reichspost hat auf Grund dieser Bestimmungen von 1926 bis 1935 über 1V2 Milliarden Reichsmark-an das Reich abgeführt. Ferner gelang es ihr, das ihr 1924 überlassene Sondervermögen des Reichs bis zum Jahre 1935 von rund i 1 / 2 Milliarden auf über 2,1 Milliarden Reichsmark zu erhöhen. Mit Rücksicht darauf, daß das Sondervermögen der Deutschen Reichspost getrennt von dem übrigen Vermögen des Reichs zu verwalten ist und daß der Reichspostminister jährlich eine Gewinn- und Verlustrechnung aufzustellen hat, weist die Rechnungsführung der Deutschen Reichspost wesentliche Besonderheiten auf. Zwar hat auch die Post die kameralistische Buchführung wie die übrigen Reichsverwaltungen beibehalten, allein sie hat sie für ihre Zwecke so umgebildet, daß sie auf Grund der Buchungen in der Lage ist ordnungsmäßige Bilanzen sowie Gewinn- und Verlustrechnungen aufzustellen. Durch die oben skizzierte haushaltsrechtliche Sonderstellung ist für die Deutsche Reichspost die Möglichkeit rascher Dispositionen gegeben, so daß wir in der Lage sind, den Anforderungen des Verkehrs stets rasch und sicher nachzukommen. Es würde aber den Aufgabenkreis der Deutschen Reichspost zu eng aufgefaßt bedeuten, wollte man ihre Aufgabe nur darin erblicken, Dienerin der Wirtschaft und des Verkehrs zu sein. Im Gegenteil, ein großer Teil der Aufgaben der Deutschen Reichspost liegt auf rein kulturellem Gebiet, ein weiterer sehr wichtiger auf dem Gebiete der Landesverteidigung. Schon diese so ganz verschiedenartigen Aufgabenkreise machen es unmöglich, die Deutsche Reichspost mit andern Verkehrszweigen zusammen in ein Schema zu pressen und für alle gleichmäßige Richtlinien zu suchen. Abgesehen davon weist die Deutsche Reichspost im Gegensatz zu andern Verkehrszweigen, deren Aufgaben sich im wesentlichen auf die Beförderung von Personen und Gütern beschränken, noch erhebliche Besonderheiten auf. Zwar tritt auch sie im Personen-

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und Paketverkehr als Beförderer auf, aber schon der Paketverkehr beruht durch den Schutz des Postgeheimnisses auf einer wesentlich andern Grundlage als z. B. der Expreßgutverkehr der Reichsbahn. Im übrigen erschöpft sich der Aufgabenkreis der Deutschen Reichspost nicht in diesen Güterbeförderungsleistungen. Beim Briefverkehr, ihrem stärksten Verkehrszweig, ist es nicht das Stück Papier, die Materie, die der Post zur Beförderung anvertraut wird, sondern das in dieser Materie enthaltene Gedankengut. Und die Post soll diesen verkörperten Gedanken nicht nur an einen andern Ort gelangen lassen, sondern sie soll ihn auch als fremdes Geistesgut unter dem Schutz des Postgeheimnisses halten und dementsprechend behandeln. Die Übermittlungstätigkeit der Deutschen Reichspost wird daher von einem besonderen Vertrauen des Volkes getragen. Ganz klar kommt diese eigenartige Stellung der Deutschen Reichspost beim Fernmeldeverkehr und beim Funkverkehr zum Ausdruck. Hier wird überhaupt nichts befördert, sondern die Deutsche Reichspost stellt hier nur ihre Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung und zur Übermittlung von Geistesgut zur Verfügung. Und wie sehr diese Form der Nachrichtenübermittlung dem ureigentlichsten Wesen der Post entspricht, beweisen die Strukturwandlungen im Nachrichtenverkehr innerhalb der letzten Jahrzehnte. Untersuchungen des Instituts für Konjunkturforschung haben nämlich gezeigt, daß im sogenannten Ortsverkehr, bei welchem die Tarifsätze des Briefverkehrs mit denen des Fernsprechverkehrs fast gleich gelagert sind, eine immer stärker werdende Abwanderung zum Fernsprecher einsetzt. Während im Jahre 1906 der Anteil des Fernsprechers am Nachrichtenverkehr innerhalb der Orte etwa 20 v. H. betrug, stieg dieser Anteil bis 1913 bereits auf 24 v. H. und bis zum Jahre 1928 weiter auf 38 v. H. und betrug im Jahre 1935 bereits mehr als 45 v. H. DIE EINZELNEN DIENSTBETRIEBE DER REICHSPOST

DEUTSCHEN

Ihre für Staat und Volksgemeinschaft unentbehrlichen Dienste sucht die Deutsche Reichspost mit den jeweils vollkommensten und schnellsten Mitteln zu erfüllen. Nachrichtenübermittlung, Güter- und Personenbeförderung sowie Geldverkehr sind die Grundaufgaben der Deutschen Reichspost. Das Schwergewicht der Leistungen liegt staatspolitisch und volkswirtschaftlich bei der Nachrichtenübermittlung. Die älteste Form der Nachrichten, welche die Deutsche Reichspost übermittelt, ist der B r i e f . Das Rückgrat des Briefbeförderungsdienstes

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ist die E i s e n b a h n . Mußte früher auf Grund des Eisenbahnpostgesetzes aus dem Jahre 1875 die Bahn die Postbeförderung unentgeltlich ausführen, so hat die Deutsche Reichspost auf Grund des Reichsbahngesetzes vom 30. August 1924 der Deutschen Reichsbahn diese Leistungen angemessen abzugelten. Die Vergütung erfolgt nach einem Achskilometersatz. Im Jahre 1935 betrug die Zahl der geleisteten Achskilometer 521 Millionen, wofür der Deutschen Reichsbahn eine Summe gezahlt wurde, die im Posthaushalt nicht unerheblich ins Gewicht fällt. Die Wahrnehmung des Bahnpostbetriebs auf den großen Eisenbahnstrecken liegt 22 Bahnpostämtern ob, deren Personal in den der Deutschen Reichspost gehörigen Bahnpostwagen den Postbrief- und Güterverkehr versorgt. Nach Übersee wird Briefpost in geschlossenen Beuteln mit denjenigen Dampfern befördert, die das Ziel am schnellsten erreichen. Mit den wichtigsten deutschen Schiffahrtsgesellschaften bestehen vertragliche Abmachungen. Die Post geht im allgemeinen zuletzt an Bord und zuerst von Bord. Schiffe, die sie tragen, führen den Postwimpel. Die Vergütung, die für die Postbeförderung gezahlt wird, gründet sich auf Bestimmungen des Weltpostvertrags. Zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika verkehren mit Fachbeamten besetzte Seeposten, die sich mit der Umarbeitung der Post während der Fahrt befassen, so daß sie bei der Ankunft sogleich den einzelnen Bestimmungsorten zugeführt werden kann. In dem Bestreben, schnellste Postübermittlung zu gewährleisten, wandte die Deutsche Reichspost frühzeitig ihre Aufmerksamkeit dem K r a f t f a h r z e u g zu und hat seine Verwendung für die verschiedensten Dienstzweige nutzbar gemacht. Wo früher fahrende Landbriefträger mit ihrem Gefährt des Weges zogen, da bringen jetzt hurtige Eintonnerwagen der Landkraftposten Brief-, Zeitung-, Paket- und Wertpost zu den in den einzelnen Orten eingerichteten Poststellen, von deren Inhabern die Sendungen sogleich abgetragen werden. In täglich zwei Rundfahrten durch die zu versorgenden Ortschaften lassen sich Zustellung und Abholung der Postsendungen auf dem Lande viel ergiebiger gestalten, als es zuvor durch die Bestellgänge der Landbriefträger möglich war. Der Postverkehr des flachen Landes und der Siedlungen hat hierdurch eine erhebliche Verbesserung erfahren. Nebenher können diese Landkraftposten auch, soweit es die Ladung gestattet, ein bis drei Personen befördern und bieten so der Landbevölkerung eine beliebte Fahrgelegenheit. 1500 vorhandene Landkraftposten befahren heute eine Streckenlänge von insgesamt 86 000 km. Noch wichtiger und an Zahl größer sind die Kraftpostlinien, die aus den Bedürfnissen der Post-

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Sachenbeförderung heraus entstanden, in Kraftomnibussen den Personen- und Postverkehr über Land vermitteln. Personenbeförderung mit Pferdegespann war jahrhundertelang Angelegenheit der Post, bis die leistungsfähigere Eisenbahn diesen Verkehr übernahm. Mit der beschleunigten Beförderung der Post über Land durch Kraftfahrzeuge nach Plätzen, zu denen das Schienennetz der Bahnen nicht führt, unterzog sich die Deutsche Reichspost erneut der Aufgabe, mit diesen Linien zugleich den Bedürfnissen des Personenverkehrs Rechnung zu tragen. Nicht Ertragsrücksichten waren bei der Einrichtung dieser Linien maßgebend; abseits des Schienenverkehrs sollte zugleich mit der Beförderung der Postsachen der Landbevölkerung eine zuverlässige und möglichst billige Verkehrsmöglichkeit geschaffen werden, dem Zu- und Abbringerverkehr für das Schienennetz zweckmäßig gedient und verkehrsarme und abgelegene Gebiete erschlossen werden. Mit der Deutschen Reichsbahn wurde im Jahre 1929 ein Abkommen getroffen, das zur Vermeidung einer Zersplitterung des Kraftverkehrs der öffentlichen Hand eine Regelung des Personen- und Güterverkehrs über Land unter Vermeidung gegenseitigen Wettbewerbs bezweckte. Hiernach wurde der Personenverkehr im Kraftfahrzeug über Land grundsätzlich der Deutschen Reichspost und der Güterkraftverkehr grundsätzlich der Deutschen Reichsbahn überlassen. Mit dem Entstehen der Reichsautobahnen ist in dieser Entwicklung insofern ein neues Moment entstanden, als die Deutsche Reichsbahn jetzt auch eigenen Kraft-Personenverkehr betreibt. Beide Verwaltungen arbeiten nunmehr zusammen auf Grund der allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen über die Beförderung von Personen zu Lande, die im Dezember 1934 erlassen worden sind. Umfangreich ist außerdem die Verwendung der Kraftfahrzeuge in andern Dienstzweigen der Deutschen Reichspost, so für Güterfahrten zwischen den Postämtern in den großen Städten und zu Bahnhofsfahrten, für Paketzustellfahrten sowie beim Bau und der Unterhaltung der Telegraphen- und Fernsprechlinien. Kabelmeßwagen, Elektrokarren, Traktoren und Spezialfahrzeuge der verschiedensten Art werden im Telegraphen-, Fernsprech- und Funkdienst vielfach und mit gutem Erfolg angewendet. Kraftfahrräder geben im Eilzustelldienst und bei der Briefkastenleerung die nötige Beschleunigung her. Fahrbare Postämter bedienen auf dem Reichsparteitag in Nürnberg oder am Erntedankfest auf dem Bückeberg die herbeigeströmten Besucherscharen. Kraftkursposten versuchen auf den Strecken Berlin—Leipzig, Berlin—Magdeburg und Berlin—Stettin diejenigen Tageszeiten für die Postbeförderung nutzbar zu machen, in denen die Eisenbahn keine

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Bahnpostwagen mitnehmen kann. Wo überhaupt die Deutsche Reichspost auf ihrem Gebiete den Gedanken der Motorisierung Förderung angedeihen lassen kann, tut sie es. Mit ihrem Wagenpark von 15 000 Kraftfahrzeugen und 2700 Anhängern stellt sie ein gewaltiges Verkehrsunternehmen dar, das in seinen gepflegten und stets einsatzbereiten Kraftomnibussen der Reichsregierung auch für besondere Zwecke jederzeit einen bedeutsamen Verkehrsapparat zur Verfügung stellen kann. Bei den außerordentlichen Möglichkeiten, die das Flugzeug für die Beschleunigung der Postbeförderung bot, war es eine Selbstverständlichkeit für die Deutsche Reichspost, die Luftfahrt sogleich in den Dienst der Nachrichtenbeförderung einzustellen. Beginnend mit den Heeresflügen zwischen Berlin und Köln im Kriegsjahr 1918 wurden danach alle regelmäßigen Verkehrsflüge zur L u f t p o s t b e f ö r d e r u n g benutzt, soweit hierdurch eine Verbesserung der Postbeförderung zu erzielen war. Wenn zunächst auch — durch die politischen Verhältnisse bedingt — die deutsche Verkehrsluftfahrt auf die Linien innerhalb Deutschlands angewiesen war, so war sich die Deutsche Reichspost doch von Anfang an darüber klar, daß dem zwischenstaatlichen Luftpostverkehr eine ungleich größere Bedeutung beizumessen sei. Planmäßig hat sie daher die Zusammenarbeit mit fremden Verwaltungen betrieben und auf der Luftpostkonferenz im Haag 1927 in weitgehendem Maße bei Festsetzung der Bestimmungen für den zwischenstaatlichen Luftpostverkehr mitgewirkt. Zunächst standen für die Beförderung der Luftpostsendungen nur Flüge des gemischten Verkehrs zur Verfügung, die auch dem Personenverkehr dienten und an die Tagesstunden gebunden waren. Da das Hauptaufkommen von Briefpost aber in die Abendstunden fällt, konnten die Tagesflüge allein auf die Dauer nicht genügen. Die Deutsche Reichspost hat daher 1929 mit der Einrichtung von „Reichspostflügen" begonnen, die lediglich der Postbeförderung dienen und nachts verkehren. Die technische Durchführung wurde der Deutschen Lufthansa übertragen. Die erste Linie war die Verbindung Berlin—Hannover—Köln—London, der die Linie Köln—Brüssel—Paris folgte. Das deutsche Reichspostflugnetz hat bei den ausländischen Verwaltungen lebhaftes Interesse erregt, so daß Schweden, Norwegen, Dänemark, Finnland, die Niederlande und die Schweiz in Anlehnung an das deutsche Netz Nachtpostflüge eingerichtet haben. Dieses Interesse ist erklärlich, denn die Nachtflüge bringen die Post nach und vom Auslande meistens schon bis zum andern Morgen zur ersten Zustellung heran. Heute werden insgesamt 99 Luftpostlinien von der Deutschen Reichspost betrieben mit einer Streckenlänge von 42500 km. Die

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bedeutendste Luftpostverbindung ist die rund 15 500 km lange Linie nach Südamerika. Sie wurde 1934 eröffnet und führt von Berlin über Stuttgart—Bathurst (Gambia)—Natal—Rio de Janeiro—Buenos Aires nach Santiago (Chile). Die Beförderungszeit Berlin—Santiago (Chile) beträgt nur viereinhalb Tage. Auf der südamerikanischen Linie werden auch die Luftschiffe der deutschen Zeppelinreederei zur Entlastung der Flugzeuge eingesetzt. Die Deutsche Reichspost hat beim Südamerikadienst, und zwar schon bei den Vorbereitungen, sowohl für die Flüge als auch für die Luftschiffahrten, nach Kräften wirtschaftliche Hilfe geleistet. Eine neue Hochstraße des Verkehrs hat vor kurzem das Luftschiff „Hindenburg" der Zeppelinreederei über den Nordatlantik nach den Vereinigten Staaten von Amerika erschlossen, auf der es die Post auf der ersten Hinfahrt in 62 Stunden und auf der Rückfahrt in 48 Stunden überbrachte. Durch die Einführung des P o s t s c h e c k v e r k e h r s hat die Deutsche Reichspost den bargeldlosen Zahlungsverkehr den breiten Schichten des Volkes ermöglicht. Seine Entwicklung hat gezeigt, wie sehr er seiner Aufgabe gerecht wird und welcher Beliebtheit er sich trotz der Zinslosigkeit der Postscheckguthaben erfreut. Die schwere Wirtschaftskrise hat sein Wachstum nicht aufgehalten und mit mehr als 1 Million Postscheckkonten steht Deutschland an der Spitze aller Länder, die Postscheckverkehr eingerichtet haben. Die 44 000 Postanstalten und 20 Postscheckämter eröffnen überall in Stadt und Land die Möglichkeit, sich des Postschecks für bargeldlose Überweisung und für Barverkehr zu bedienen. Hatte die Kriegszeit die Entwicklung des Postscheckverkehrs nicht aufzuhalten vermocht, so brachte die schließlich dem Verfall im Jahre 1923 zueilende Geldentwertung mit dem ungeheuren Anwachsen der Beträge, dem immer schneller werdenden Umsatz und den Gebühren- und Preisänderungen zeitweilig große Schwierigkeiten. Der Umsatz betrug im Jahre 1923 2300 Trillionen Papiermark. Die Einführung der Rentenmark an Stelle der Papiermark im Dezember 1923 ließ die Zahl der Konten etwa um ein Drittel sinken. Ein J a h r später wurde von Rentenmark auf Reichsmark umgestellt. Der Verkehr hob sich jedoch bald wieder und wuchs dauernd an bis zu der jetzt erreichten Zahl von über 1 Million Konten. Bei der Zahlungskrise im Juli 1931 waren zwar die Vorsteher der Postscheckämter ermächtigt, die Höhe der Barzahlungen vorübergehend nach dem Stande der Barmittel zu beschränken; aber der im übrigen uneingeschränkte Zahlungsverkehr — abgesehen von zwei Bankfeiertagen — und die Pünktlichkeit des Überweisung- und Scheckverkehrs haben

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wesentlich zur Beruhigung der Bevölkerung beigetragen. Das Wiederaufblühen der deutschen Wirtschaft nach der Machtübernahme durch unseren Führer Adolf Hitler zeigt sich auch in der Belebung, die der jährliche Gesamtumsatz im Postscheckverkehr in seinen Hunderten von Millionen an Buchungen und durch die Höhe des Reichsmarkbetrags aufweist. 703 Millionen Buchungen im Gesamtbetrag von 103 Milliarden Reichsmark im Jahre 1932 stehen im Jahre 1935 808 Millionen Buchungen mit 128 Milliarden Reichsmark gegenüber. Raum und Zeit werden am restlosesten durch die e l e k t r i s c h e n N a c h r i c h t e n m i t t e l überwunden. Die Grundlage für das Hoheitsrecht der Deutschen Reichspost auf dem Gebiete des Fernmeldewesens war das Gesetz über das Telegraphenwesen des Deutschen Reichs vom 6. April 1892. Im Gesetz über Fernmeldeanlagen von 1928 ist das alleinige Recht der Deutschen Reichspost, Fernmeldeanlagen zu errichten und zu betreiben, erneut verankert worden. Das älteste elektrische Nachrichtenmittel ist der T e l e g r a p h . Das Teuerste an einer Telegraphenanlage für große Entfernungen ist die Leitung; deshalb ging zunächst die Entwicklung dahin, die Leitung durch immer leistungsfähigere Apparate erhöht auszunutzen. Über den Morse- und Hughesapparat hinweg kam man zu den Schnelltelegraphen, welche die physische Leistung des Telegraphisten durch maschinelle Betätigung ersetzen und dadurch die Telegraphierleistung von 120 Zeichen in der Minute beim Hughesapparat auf 1000 Zeichen in der gleichen Zeit beim Siemens-Schnelltelegraphen steigerten. Nach dem Kriege schritt man dazu, an Stelle der Leistungssteigerung der Apparate die Leitung selbst in erhöhtem Maße auszunutzen. Bei diesem Vorgehen konnte man unter Verzicht auf die Schnelltelegraphen wieder zu einfach zu bedienenden Apparaten zurückkehren. Der neuzeitliche Apparat, der zur Zeit verwendet wird, ist der Springschreiber. Äußerlich einer Büroschreibmaschine ähnelnd, kann er von Schreibmaschinenschreibern ohne besondere Ausbildung bedient werden, während alle früheren Apparate eine mindestens einmonatige Ausbildung erforderten. Man besitzt heute die technischen Mittel, um die Leitungen auf verschiedene Weise mehrfach auszunutzen. So gestattet z. B. die Wechselstrommehrfachtelegraphie, in einer Doppelleitung bis zu 18 Telegraphierstromkreise zu betreiben mit Hilfe von ebensoviel Wechselstromfrequenzen als Träger der telegraphischen Zeichen, wobei es keinen Unterschied macht, mit welchen Apparatsystemen in den einzelnen Leitungen gearbeitet wird. Seit Jahren arbeitet die Telegraphie mit Unterbilanz. Der Fern-

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Sprecher, der die mündliche Unterhaltung ermöglicht, hat die schriftliche Nachrichtenübermittlung in Telegrammform zurückgedrängt. Immerhin bleibt im Geschäftsverkehr das Bedürfnis, schriftliche Unterlagen zu haben, bestehen. Die Möglichkeit, besondere Leitungen für die unmittelbare Telegrammübermittlung zu mieten, hatte bereits seit langem bestanden. Die Kosten waren jedoch nur für große Unternehmungen mit bedeutendem Verkehr tragbar. Im Herbst 1933 ist daher die Deutsche Reichspost dazu übergegangen unter Verwendung des Springschreibers einen F e r n s c h r e i b v e r k e h r v o n T e i l n e h m e r z u T e i l n e h m e r zu ermöglichen. Die Teilnehmer wählen sich, wie im automatischen Fernsprechverkehr, gegenseitig selbst und tauschen ihre Nachrichten unmittelbar schriftlich miteinander aus. Die Nachrichten können auch übermittelt werden, wenn der Empfangsapparat nicht besetzt, d. h. der Empfänger der Nachricht von Haus abwesend ist. Nachdem ein Betriebsversuch zwischen Hamburg und Berlin günstig ausgefallen war, wurden weitere Vermittlungen in Dortmund, Düsseldorf, Essen, Köln, Bremen, Magdeburg und neuerdings in München und Nürnberg eingerichtet. Dem Bedürfnis entsprechend soll das Netz über das ganze Reich ausgedehnt werden. Auch mit Teilnehmern im Ausland können Verbindungen nach den Niederlanden, der Schweiz, Dänemark und Frankreich hergestellt werden. Eine besondere Ergänzung hat die Deutsche Reichspost dem Telegrammnachrichtendienst im Jahre 1927 durch die B i l d t e l e g r a p h i e gegeben. Bei Einführung der Bildtelegraphie glaubte man, daß sie auch zur Übertragung von Zeichnungen, Dokumenten, Stenogrammen usw. benutzt werden würde. Heute werden vor allem die Bildaufnahmen der Bildberichterstatter für Zeitungen auf diesem Wege übermittelt, sofern nicht eine schnelle Luftpostverbindung für die Beförderung des Originals zur Verfügung steht. Deutschland ist neben Frankreich das einzige Land, das mehrere öffentliche Bildstellen unterhält, und zwar in Berlin, Frankfurt (Main), Köln und München. Diese Stellen verkehren unmittelbar mit Stationen in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, England, Dänemark, Schweden, Norwegen, Österreich, Polen und Italien. Ihre ganz besondere Nützlichkeit hat die Bildtelegraphie bei den olympischen Spielen bewiesen und wird dies bei ähnlichen Gelegenheiten auch weiterhin tun. In demselben Maße, wie nach dem Weltkriege ein Rückgang im Telegrammverkehr zu beobachten war, ergab sich eine Steigerung des F e r n s p r e c h v e r k e h r s . An die Stelle der schriftlichen telegraphischen Übermittlung trat das Ferngespräch, das, ergiebiger als das Telegramm, Frage und Antwort gestattet. Die Entfernungsgrenzen, die dem Fern-

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sprechverkehr zunächst durch die elektrischen Eigenschaften der Leitungen gesetzt waren und die im allgemeinen bei 500 bis 600 km lagen, wurden völlig aus dem Wege geräumt durch die im Kriege seitens des Großen Generalstabes erfolgte Einführung der Verstärkerapparate in die Fernsprechtechnik. Entfernungsgrenzen für die telephonische Unterhaltung gibt es seitdem nicht mehr. Dadurch wurde auch die Zeit reif, anstelle des oberirdischen Leitungsnetzes ein weit störungsfreieres Kabelnetz für Fernsprechbetrieb zu schaffen. Das F e r n k a b e l netz der Deutschen Reichspost hat heute eine Linienlänge von 13600 km. Das Vorgehen Deutschlands hat dann andere europäische Länder angeregt. So ist es vornehmlich der Deutschen Reichspost zu danken, daß im Zusammenschluß der wichtigsten europäischen Länder ein alleuropäisches Fernkabelnetz entstanden ist, das einen Fernsprechweitverkehr gewährleistet, bei dem die größten Entfernungen für die Verständigung keine Rolle mehr spielen. Infolge seiner zentralen Lage ist Deutschland dabei in beträchtlichem Umfange zum Vermittlungsland berufen. Aus dem deutschen Fernkabelnetz sind zahlreiche Leitungen für den unmittelbaren Verkehr fremder Länder zur Verfügung gestellt worden, außerdem vermitteln deutsche Ämter Gespräche vom Ausland zum Ausland. Um für den steigenden Fernverkehr eine ausreichende Leitungszahl bereitzustellen, das Kupfer in den Kabeln besser auszunutzen und die Gestehungskosten für den einzelnen Fernleitungsweg herabzusetzen, werden sämtliche für den Weitverkehr benutzten Kabeladern so eingerichtet, daß gleichzeitig zwei oder sogar vier Gespräche ohne gegenseitige Störung geführt werden können. Entsprechend der allgemeinen Lage der Wirtschaft hatte sich nach dem Kriege die Zahl der F e r n s p r e c h s t e l l e n vermehrt; sie erreichte im Jahre 1930 ihren Höchststand mit 3247000 Sprechstellen. Die Wirtschaftskrise hatte dann aber für die Deutsche Reichspost bis Mitte 1933 einen Verlust von 294000 Sprechstellen zur Folge. Die Belebung der deutschen Wirtschaft nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus spiegelt sich ebenso im Fernsprechwesen der Deutschen Reichspost günstig wieder. Wir haben diese Entwicklung allerdings durch Gebührensenkungen in beträchtlichem Umfange unterstützt. Dabei ist den immer wieder geäußerten Wünschen von Handel, Industrie und Teilnehmerschaft nach Gebührenermäßigungen in großzügiger Weise entsprochen worden. So brachten der Wiederaufstieg der Wirtschaft und der Wegfall der Apparatbeiträge (1933 für neue Fernsprechhauptanschlüsse und 1934 für Nebenanschlüsse) zunächst das ständige Absinken der Zahl der Sprechstellen zum Stillstand, bis dann, besonders nach der Ermäßigung der monatlichen Gebühren

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für Hauptanschlüsse um 25 v. H. im Mai 1934, eine ständige Wiederzunahme der Zahl der Sprechstellen einsetzte. Der angeführte Verlust von 294000 Sprechstellen war Ende September 1935 etwa zu 80 v. H. wieder ausgeglichen. Jetzt ist der Höchststand von 1930 mit der Zahl von 3349000 Sprechstellen bereits überschritten. Die Wirtschaftsbelebung hat ihren Ausdruck natürlich auch in der jährlichen Zunahme der Orts- und der Ferngespräche gefunden. Im Jahre 1932 sind 1935 Millionen Ortsgespräche und 230 Millionen Ferngespräche vermittelt worden, im Jahre 1935 dagegen 2168 Millionen Ortsgespräche und 267 Millionen Ferngespräche. Der mit der fortschreitenden Technik an die Stelle des Handbetriebs getretene W ä h l b e t r i e b hat bereits mehr als 80 v. H. aller Fernsprechhauptanschlüsse erfaßt, während von den Vermittlungsstellen etwa die Hälfte umgestellt worden ist. Fast alle großen Ortsnetze, darunter auch Berlin, sind dem Wählbetrieb schon hundertprozentig angepaßt. Es ist zu hoffen, daß der Wählbetrieb in 5 Jahren völlig durchgeführt ist und damit allen Fernsprechteilnehmern — unabhängig von der vermittelnden Hand der Beamtin — zu jeder Zeit, auch bei Nacht, Gelegenheit gegeben wird, sich des in dringenden Fällen des Lebens so segensreichen Fernsprechers zu bedienen. D i e B e s c h l e u n i g u n g des F e r n v e r k e h r s fördert die Deutsche Reichspost durch die planmäßige Vermehrung der Fernleitungen, durch Auslegung vielpaariger Kabel und die Mehrfachausnutzung der Leitungen. Das Bestreben ist, möglichst viele Ferngespräche unmittelbar im Anschluß an die Anmeldung auszuführen. Ein weiterer Schritt auf diesem Wege ist die Einführung des Selbstwählfernverkehrs, der von der Umstellung der Vermittlungsstellen auf den Wählbetrieb abhängt und sich bisher auf Netzgruppen in Süd- und Südwestdeutschland beschränkt hat. Seine weitere Ausdehnung ist beabsichtigt. Um die Verbreitung des Fernsprechers zu fördern und weiteren Bevölkerungskreisen die Anschaffung eines Fernsprechers zu ermöglichen, hat die Deutsche Reichspost immer ihr Augenmerk darauf gerichtet, die Anlagekosten für Fernsprechanschlüsse nach Möglichkeit zu senken und damit die Gebühren zu verbilligen. Das kann bei den Kosten für die technischen Einrichtungen der Stellen und für die Leitung nur bis zu einer gewissen Grenze geschehen. Eine Verbilligung läßt sich jedoch erzielen durch bessere Ausnutzung der vorhandenen Einrichtungen, besonders der Anschlußleitungen der Wenigsprecher. Nachdem die Wählertechnik praktisch brauchbare Zusatzeinrichtungen entwickelt hat, ist die Deutsche Reichspost dazu übergegangen, einen Versuch mit G e m e i n s c h a f t s a n s c h l ü s s e n zu machen. Das Wesen eines Ge-

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meinschaftsanschlusses liegt darin, daß mehrere nahe beieinander liegende Sprechstellen mit geringem Sprechverkehr zu einem Gemeinschaftsanschluß zusammengefaßt werden. Die so zusammengefaßten Sprechstellen brauchen nur eine gemeinsame Anschlußleitung. Jede Sprechstelle kann unabhängig von der anderen ihren Sprechverkehr abwickeln, ohne irgendwie gestört oder abgehört zu werden. Der Versuch soll zeigen, wie sich die Öffentlichkeit zu der Neueinrichtung stellt und wie das Ergebnis für die Deutsche Reichspost selbst ausfällt. Im Bestreben, dem Fernsprechteilnehmer nützlich zu sein, ist im Jahre 1931 auch der F e r n s p r e c h k u n d e n d i e n s t eingeführt worden. Er übernimmt es, abwesende oder verhinderte Fernsprechteilnehmer zu vertreten, Nachrichten an Teilnehmer oder Nichtteilnehmer zu übermitteln und Weckaufträge auszuführen. Zunächst waren Telegraph und Fernsprecher in ihrer Entwicklung abhängig von der Leitung, welche die elektrische Energie zum Empfangsort führt. Hiervon wurden sie für bestimmte Fälle frei durch den F u n k b e t r i e b . Er übermittelt drahtlos die Nachrichten in die fernsten Länder sowohl im Telegramm- wie im Sprechverkehr. Die Deutsche Reichspost betreibt mit i h m Ü b e r s e e v e r k e h r , E u r o p a f u n k , S e e f u n k u n d R u n d f u n k . Dem Überseeverkehr dient die Großfunkstelle Nauen. Als Versuchsstation von der Telefunkengesellschaft errichtet, ging sie nach dem Weltkrieg in den Besitz der „Transradio AG. für drahtlosen Überseeverkehr" über, die eine Konzession für den Betrieb erhielt. Am 1. Januar 1932 wurden die Anlagen und der Betrieb von der Deutschen Reichspost übernommen. Nauen enthält die Sendeanlagen, während die Empfangsanlagen sich in Beelitz befinden. Betätigt werden die Anlagen von den Betriebszentralen im Haupttelegraphenamt und im Fernamt Berlin. Entsprechend der Zunahme des Verkehrs und der Entwicklung der Technik ist die Großfunkstation ausgebaut worden mit Langwellen- und Kurzwellensendern. U m die Energie der kurzen Wellen in bestimmte Richtungen lenken zu können, wurden besondere Richtantennen geschaffen, die der geographischen Lage der Empfangsstation entsprechend aufgebaut sind. Der Ü b e r s e e f u n k v e r k e h r der Deutschen Reichspost umfaßt heute 16 Verkehrslinien, und zwar nach den Vereinigten Staaten von Amerika, Ägypten, Argentinien, Nordchina, Niederländisch Indien, Brasilien, Japan, Philippinen, Chile, Mexiko, Siam, Kuba, Persien, Südchina, Syrien und Venezuela. Neben dem Telegrammverkehr ist auf 8 Linien Sprechverkehr eingerichtet, und zwar nach Argentinien, Niederländisch Indien, Brasilien, Siam, Venezuela, Ägypten, Philippinen und Japan.

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Mit e u r o p ä i s c h e n L ä n d e r n wickelt die Deutsche Reichspost funktelegraphischen Verkehr über die Stationen Wien, Budapest, Zagreb, Riga, Reval, Helsingfors, Bukarest, Vatikanstadt, Sofia, Barcelona, Moskau, Istanbul, Madrid und Lissabon ab. Die Sendestelle für den Europafunkverkehr ist die Hauptfunkstelle Königs-Wusterhausen, die zugehörigen Empfangsanlagen befinden sich auf der Hauptfunkempfangsstelle Berlin-Zehlendorf. Gearbeitet wird mit langen und kurzen Wellen. Große Bedeutung im Weltnachrichtenverkehr besitzt auch der S e e f u n k d i e n s t . Darunter ist der Nachrichtenaustausch zwischen Schiffen in See untereinander und mit der Küste, zwischen Bordfunkstellen und Küstenfunkstellen zu verstehen. Von den 31 deutschen Küstenfunkstellen ist Norddeich die bedeutendste. Sie ist die Trägerin des großen Weitverkehrs mit den im Ozean befindlichen Schiifen und hat eine Reichweite von 8000 km. Der Funkverkehr wickelt sich telegraphisch und telephonisch ab. Der Funksprechverkehr gibt den Fahrgästen der. großen Ozeandampfer die von ihnen gewünschte Sprechmöglichkeit, wie er der Besatzung des kleinen Fischdampfers den fehlenden Funker ersetzt. Die Deutsche Reichspost hat die technische Ausstattung der Küstenfunkstellen außerordentlich verbessert, damit sie ihrem Dienst und den Sonderaufgaben — Seenotmeldedienst, Schiifswetterdienst, nautischer Auskunftsdienst und anderes — voll gewachsen sind. Den R u n d f u n k hat die Deutsche Reichspost im Jahre 1920 zunächst versuchsweise über einen Sender der Hauptfunkstelle KönigsWusterhausen durch Aussenden von Musikdarbietungen, hauptsächlich an Sonntagen, eingeleitet. Hieraus entstand der „Deutschlandsender". Im April 1924 waren 4 Sender in Berlin, Leipzig, München und Frankfurt (Main) in Betrieb, die von der Deutschen Reichspost selbst gebaut waren. Im gleichen J a h r folgten noch 10 weitere Sender. 1928 waren 10 Haupt- und 14 Zwischensender in Tätigkeit. Bis zum Jahre 1929 lagen die gesamten technischen Aufgaben vom Aufnahmemikrophon bis zum Sender und zur Antenne in den Händen der Deutschen Reichspost. Dann wurde die Bedienung und Verwaltung der Aufnahmeräume sowie die zur Aufnahme erforderlichen Regeleinrichtungen von der Deutschen Reichspost abgetrennt und mit der Programmgestaltung in eine Hand gelegt. Die R e i c h s r u n d f u n k g e s e l l s c h a f t übernahm diese Betriebsstellen. Das gesamte Übertragungsnetz, das auf dem Fernkabelnetz der Deutschen Reichspost aufgebaut ist, mit den am Ende der Übertragungsleitungen liegenden Rundfunksendern wird aber von der Deutschen Reichspost betrieben und verwaltet. Um ganz Deutschland einwandfrei mit Rundfunk zu versorgen und einen Empfang auch

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Wilhelm Ohnesorge

mit einfachen Apparaten zu ermöglichen, wurden die Leistungen der Sender immer mehr verstärkt, daneben wurde die Zahl der Sender vermehrt. Da jedoch auf Grund zwischenstaatlicher Abmachungen Deutschland nur über eine bestimmte Anzahl Wellen verfügt, mußte man u. a. mehrere Sender auf der gleichen Welle betreiben und errichtete so „Gleichwellensender". Auch die Ausrüstung der Sender mit schwundmindernden Antennen hat dazu gedient, das einwandfreie Empfangsgebiet zu vergrößern. Eine besondere Aufgabe erfüllt die Kurzwellenanlage in Z e e s e n , welche die gesamte Welt mit deutschem Rundfunk versorgt. Kurzwellensender mit den dazu gehörigen Richtstrahlern dienen diesem Zweck. In 6 Strahlrichtungen eilen die Funkwellen nach Nordamerika, Mittelamerika, Südamerika, Afrika, Ostasien, Südasien und Australien. Es wird ein allgemeiner deutscher Kurzwellenrundfunk für die Auslandsdeutschen und ein internationaler Programmaustauschdienst gesendet, • der vom Ausland über seine Rundfunksender weiter verbreitet wird. In den entlegensten Teilen der Welt kann somit der Deutsche Fühlung mit seiner Heimat behalten und sich über das große Geschehen und den Wiederaufstieg im neuen Reich lebendig unterrichten. Einen neuen Weg, Rundfunk auch in die Gegenden zu tragen, in denen nicht zu jeder Zeit mit einfachen Geräten ausreichender Rundfunkempfang möglich ist, hat die Deutsche Reichspost mit dem hochfrequenten D r a h t f u n k beschritten. Der Drahtfunk ist leitungsgerichteter Rundfunk. Nach erfolgreichen Versuchen in Berlin und an einigen Stellen außerhalb Berlins werden weitere folgen. Die Energie wird den Teilnehmern über die Fernsprechanschlußleitungen zugeführt. Die Drahtfunkteilnehmer brauchen aber nicht Fernsprechteilnehmer zu sein, es können vielmehr an jede Fernsprechanschlußleitung eine Reihe von Drahtfunkteilnehmern angehängt werden. Ein wesentlicher Vorteil des Drahtfunks ist seine Unabhängigkeit von atmosphärischen Störungen. Er wird den Teilnehmern die Möglichkeit bieten, unter mehreren Programmen auswählen zu können und fordert von neuen Rundfunkteilnehmern nur einfache und billige Apparate, z. B. den Volksempfänger. Im Drahtfunk stellt die Deutsche Reichspost dem Staat ein weiteres staatspolitisch wichtiges Nachrichtenmittel zur Verfügung. Eine große wegweisende und erfolgreiche Leistung hat die Deutsche Reichspost in der Entwicklung des F e r n s e h e n s vollbracht. Schon vor 9 Jahren hat sie das Problem des Fernsehens aufgegriffen. In den Laboratorien des Reichspostzentralamts und in Gemeinschaftsarbeit mit einigen Firmen ist die Fernsehtechnik bis zum heutigen viel bewunderten Stand entwickelt worden. Das Fernsehen kam in seinen

Die Deutsche Reichspost

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Anfängen dadurch zustande, daß der zu übertragende Gegenstand Punkt für Punkt abgetastet wurde. Die den einzelnen Punkten eigentümlichen Helligkeitswerte wurden in entsprechende elektrische Stromwerte umgewandelt und zum Empfangsort übertragen. Dort werden sie wieder in Helligkeitswerte umgesetzt, die richtig zusammengefaßt das ursprüngliche Bild ergeben. J e größer die Zahl der Bildpunkte ist, umso höher die Bildgüte. Schon 1929 sandte das Reichspostzentralamt regelmäßige Fernsehsendungen über den Rundfunksender BerlinWitzleben aus. Die Sendungen der Anfangsjahre dienten der Entwicklungsarbeit, besonders auch der Industrie, die sich mit der Herstellung von Empfangsgeräten befaßte. 1933 wurde ein Ultrakurzwellenfernsehsender in Berlin-Witzleben in Betrieb genommen. 1934 war die Bildgüte durch die Zerlegung der Bilder in 40000 Bildpunkte bei 25 maligem Bildwechsel in der Sekunde so weit gesteigert, daß das Fernsehen im Fernsehrundfunk der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden konnte. Während bis dahin nur Filme übertragen wurden, gelangte man 1935 durch die Einführung eines Personenabtastgerätes zu einer weiteren Entwicklungsstufe, die das unmittelbare Fernsehen zur Möglichkeit machte. Die Deutsche Reichspost richtete nun öffentliche Fernsehstellen in Berlin ein, zu denen jedermann freien Zutritt hat, um den weitesten Kreisen Gelegenheit zur Teilnahme am Rundfunkfernsehen zu geben. Gleich darauf wurde das weitere Ziel, der Allgemeinheit eine gegenseitige Fernsehunterhaltung zu ermöglichen, erreicht, wenngleich der erste erfolgreiche Versuch in dieser Richtung auch bereits im Jahre 1929 zu verzeichnen war. Diese Gegensehanlage, der sogenannte Fernsehsprechdienst, wurde zuerst im Juni 1935 auf der Tagung des Verbandes Deutscher Elektrotechniker in Hamburg vorgeführt. Eröffnet wurde der Fernsehsprechdienst gelegentlich der Leipziger Frühjahrsmesse 1936 zwischen Berlin und Leipzig. Das für diesen Zweck von Berlin nach Leipzig verlegte Kabel stellt eine neue Kabelart dar, die für den Fernsehbetrieb erst geschaffen werden mußte, da das vorhandene Kabelnetz der Deutschen Reichspost nicht geeignet war. Die deutsche Kabelindustrie hat die ihr von der Deutschen Reichspost gestellte Aufgabe glänzend gemeistert. Das neue Kabel wird zugleich für Telegramm- und Sprechverkehr mitbenutzt werden können. Anläßlich der Berliner Olympiade führten die Reichspost und die Industrie der Öffentlichkeit ihre wesentlich gegenüber früher vereinfachten Fernsehaufnahmeapparate, die Fernseh-Bildfänger vor, die ganz neue noch nicht abzusehende Perspektiven eröffnen. Deutschland schreitet im Fernsehen der Welt voran; es wird bemüht bleiben, seine führende Stellung zu behaupten. 6

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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Wilhelm. Ohnesorge, Die Deutsche

Reichspost

Die Bedeutung der Aufgaben, welche die Deutsche Reichspost für die Volksgemeinschaft, die Wirtschaft, die Kultur und besonders die staatliche Ordnung zu erfüllen hat, bedarf keiner besonderen Unterstreichung. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, wie die mit diesen Aufgaben betraute Reichsbehörde unablässig bemüht geblieben ist, die ihrer Hoheit unterstellten technischen Mittel ständiger Vervollkommnung entgegenzuführen, u m sie immer wirksamer und ergiebiger zu gestalten und dem Führer des Reichs damit einen Apparat in die Hand zu geben, dessen er sich jederzeit erfolgreich und durchschlagend für Staat und Volk bedienen kann. Aber nicht nur den technischen Apparat hat die Deutsche Reichspost geschaffen und weiter entwickelt, sie hat auch die Beamten, Angestellten und Arbeiter, die ihn bedienen müssen, bereitzustellen. Ungeeignete Elemente sind sogleich nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus und anschließend auf Grund der ergangenen gesetzlichen Bestimmungen entfernt worden. Danach ist unter der Führung altbewährter Kräfte die erfolgreiche Durchbildung und Schulung des Personals im Sinne nationalsozialistischer Weltanschauung zum großen festen Kameradschaftsblock vorgenommen worden, innerhalb dessen sich jeder der großen Aufgabe bewußt ist und bleibt, an der er als unentbehrlicher Teil mitzuwirken hat.

DAS DEUTSCHE BANKWESEN STRUKTURWANDLUNGEN UND NEUBAU VON

OTTO CHRISTIAN F I S C H E R

WENN MAN SICH FRÜHER ÜBER DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN Staat und Wirtschaft ein Bild zu machen versuchte, stellte sich unwillkürlich eine Szene aus „Hermann und Dorothea" vor das geistige Auge. Wenn Dorothea dort den liebesseligen und daher auch zu häuslichen Diensten bereiten Hermann mit den Worten abwehrt: „Dienen lerne beizeiten das Weib nach seiner Bestimmung; denn durch Dienen allein gelangt sie endlich zum Herrschen, zu der verdienten Gewalt, die ihr doch im Hause gehöret," so ist damit etwas ausgesprochen, dessen tieferer Sinn über den Bereich von Familie und Haus hinausreicht und das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft kennzeichnet. So wichtig das Hauswesen ist, es ist immer nur ein Teil des übergeordneten Begriffes Familie. Mögen aber Begriff und Sinn der Familie noch so weit zu fassen sein, auch die Familie kann nur bestehen, wenn das Hauswesen in Ordnung ist. Die Hausfrau muß wissen, daß die Familie höher steht als das Hauswesen, und der Familienvater muß innerlich davon überzeugt sein, daß seine Familie körperlich, geistig und seelisch nur gedeihen kann, wenn die Frau Leiterin des Hauswesens und nicht der Prügelknabe in der Familie ist. Nur wenn die Gewalten richtig verteilt sind, kann im Hause jene Erkenntnis der gegenseitigen Verantwortlichkeit und Abhängigkeit wal6*

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Otto Christian

Fischer

ten, die die Grundlage der Harmonie, des Friedens und des Aufstiegs der Familie bildet. Ein diesem Vorbild entsprechendes Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft mußte so lange vorhanden sein, wie der Staat sich für die allgemeine Wohlfahrt auch im wirtschaftlichen Sinne voll verantwortlich fühlte, der Wirtschafter aber nicht vergaß, daß sein Wirtschaften kein Selbstzweck ist, sondern nur dann einen Sinn hat, wenn es zur Förderung des Gesamtwohls und zur Stärkung der staatlichen und kulturellen Lebensgrundlagen beiträgt. Wenn unter der Wucht der ungeheuerlichen technischen Fortschritte des 19. Jahrhunderts diese Erkenntnis verblaßte und das Bewußtsein der Schicksalsgemeinschaft zwischen Staat und Wirtschaft bei vielen immer schwächer wurde, so war das menschlich darin begründet, daß gegenseitige Rücksichtnahme nicht immer bequem ist. Damals glaubte m a n solchen Unbequemlichkeiten am besten dadurch aus dem Wege zu gehen, daß man den Grundsatz proklamierte, daß als Folge der Disharmonie eine erhöhte — weil auf den mit der Disharmonie gemachten schlechten Erfahrungen beruhende — Harmonie entstehen würde. Diesem mangelnden Zusammengehörigkeitsgefühl mußte ein Ende gemacht werden, als die Bedeutung des Funktionierens des Wirtschaftsapparates für das staatliche Leben und die staatliche Autorität klar in Erscheinung trat. DIE ENTWICKLUNG S E I T D E R M I T T E DES 19. J A H R H U N D E R T S Der gleiche Vorgang spiegelt sich auch in der Entwicklung der Beziehungen zwischen Staat und Bankwesen wider. Soweit festumrissene Einteilungen für Vorgänge des lebendigen Lebens überhaupt möglich und zulässig sind, lassen sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts drei deutlich voneinander sich abhebende Stufen dieser Entwicklung unterscheiden. I n der ersten Phase beschränkte sich die Verantwortung des Bankiers — der vielfach das Bankgeschäft neben einem Speditions-, Kommissions- oder auch Warengeschäft, das „das Bankgeschäft nach sich zog" betrieb und bei dem zu einem erheblichen Teile das auf der Währungszersplitterung beruhende Wechselgeschäft eine besondere 1

) „Das Soll und Haben v. Eichborn & Co. in 200 Jahren", München und Leipzig 1928, S. 7/8, vgl. dazu ferner: Geschichte d. Familie Metzler und des Bankhauses B. Metzler, seel. Sohn & Co. zu Frankfurt a. M. 1674—1924, Frankfurt a. M. 1924. Schnabel, Deutsche Geschichte, Freiburg i. B. 1934, Bd. I I I S. 410 fr. Pallmann, Simon Moritz v. Bethmann, 1898. 1 7 5 Jahre Bankhaus Gebrüder Löbbecke & Co., Braunschweig 1936.

Das deutsche Bankwesen

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Rolle spielte — auf den Bereich des persönlichen Erfolges oder Mißerfolges, der Wagnisse und Gewinnaussichten des privaten Wirtschafters, während darüber hinausgehende Verantwortlichkeiten weder verlangt wurden noch vorhanden waren. I n der zweiten Phase fiel die Verantwortung des Bankiers für das eigene Geschäft mehr und mehr mit einer Verantwortung für die Kundschaft, das bedeutet genau genommen: mit einer Verantwortung für einen großen Teil der übrigen Wirtschaft zusammen. Das Ende der ersten Phase ist dadurch gekennzeichnet, daß die Funktion der Gewährung von Kontokorrentkrediten gegenüber dem Wechselziehungsgeschäft und der Kreditvermittlung oder auch der Betätigung im Warengeschäft in den Vordergrund tritt. Die zunehmende Wichtigkeit der Kreditgewährung aus eigenen Mitteln bzw. aus Kundschaftseinlagen ist eine Begleiterscheinung der Industrialisierungsperiode, da durch sie in Deutschland in höherem Maße und in schnellerem Tempo als in Frankreich und England Schwierigkeiten der Kapitalbeschaffung entstanden, die nur durch planmäßige Kapitalsammlung, wie sie durch Banken und Börse erfolgte, zu lösen waren. Die so bedingte Entwicklung der Kreditwirtschaft brachte naturgemäß eine weitgehende gegenseitige Abhängigkeit zwischen Kreditgeber und Kreditnehmer mit sich. Zwischen ihnen entsteht stets eine Schicksalsgemeinschaft, der weder der eine noch der andere entrinnen kann. Mag ein Kredit noch so sicher erscheinen, und mögen bei seiner Gewährung alle Grundsätze bankmäßiger Vorsicht gewahrt bleiben, so bleibt doch, wie gerade auch die Geschäfte des internationalen Bankwesens der allerletzten Zeit gelehrt haben, stets ein unwägbares Risiko bestehen, das um so größer ist, je unsicherer die politische und wirtschaftliche Lage ist, je schwankender der Geldwert ist und j e geringere mobile Reserven die Volkswirtschaft im Verhältnis zu ihrem Produktionsapparat besitzt. Es folgt eine dritte Phase, in der die Banktätigkeit in steigendem Maße in eine V e r a n t w o r t u n g f ü r d i e G e s a m t h e i t hineinwächst, weil infolge des Wachsens der wirtschaftlichen Gebilde allmählich das Schicksal einzelner Unternehmungen von entscheidender Bedeutung wird f ü r das Schicksal des Staates oder anderer Teile der Wirtschaft, der Verbraucher oder der Arbeiter und Angestellten. J e umfangreicher und weitreichender die wirtschaftlichen Gebilde werden, die die kapitalistische Wirtschaftsform mit sich bringt, je mehr ihre Tätigkeit in den Bereich anderer Wirtschaftszweige eingreift, um so gebieterischer verlangt die Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl nach ihrem Recht, und je größer der Wirkungsbereich des einzelnen wirtschaftlichen Unternehmens ist, um so mehr nähert es sich in den Fragen

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seines Bestandes oder Unterganges dem Punkt, wo die Frage seiner ordnungsmäßigen Führung, seines Bestandes oder Unterganges die Allgemeinheit berührt, wo sein Schicksal mit dem der Gemeinschaft so eng verknüpft ist, daß es in allen seinen wirtschaftlichen Entschließungen und Handlungen die Verantwortung für einen größeren oder kleineren Teil der Gesamtheit mitträgt. Nicht nur diese Entwicklung selbst, sondern auch der mit dieser Entwicklung wachsende Kapitalbedarf der Wirtschaft, der zunehmende Umfang des volkswirtschaftlichen Gütertausches und der ihm entsprechenden Geldvorgänge sowie die sich steigernde Empfindlichkeit des wirtschaftlichen Apparates gegenüber Störungen und Hemmungen machen die Erfüllung der den Banken zugewiesenen Aufgabe der Kreditverteilung und der Erledigung des volkswirtschaftlichen Zahlungsverkehrs zu einer Angelegenheit des öffentlichen Interesses, woraus sich wiederum umgekehrt entsprechende Folgewirkungen für die Verantwortung ergeben, die der Staat für die Aufrechterhaltung der Gebrauchsfähigkeit des Bankapparates trägt. DIE A U S W E I T U N G D E R B A N K G E S C H Ä F T L I C H E N A U F G A B E UND DER BANKWIRTSCHAFTLICHEN V E R A N T W O R T U N G Ein Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die im Hochkapitalismus ihren Höhepunkt fand, zeigt, mit welcher Wucht sich die Ausweitung des volkswirtschaftlichen Rahmens und damit der bankgeschäftlichen Aufgabe und der bankwirtschaftlichen Verantwortung vollzog. Dabei ist rein zahlenmäßig davon auszugehen, daß die Bevölkerung des späteren Reichsgebietes einschließlich der 1919 abgetrennten Gebiete von 35,3 Millionen bis zur Jahrhundertwende auf 56 Millionen stieg, und daß von dieser Bevölkerung in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch mehr als 60 % landwirtschaftlich tätig waren, daß das Volksvermögen um diese Zeit mit rund 700 Mark für den Kopf der Bevölkerung geschätzt wird, während es in England zur selben Zeit schon 2800 Mark pro Kopf der Bevölkerung betrug, und die Werte der Einund Ausfuhr im Jahresdurchschnitt noch um je eine halbe Milliarde Mark sich bewegten. Bedenkt man, welche Sorgen noch vor wenigen Jahren eine Vermehrung der arbeitsfähigen Bevölkerung um wenige hunderttausend Köpfe den damaligen Regierungen in Deutschland verursachte, so kann man sich ein Bild machen, welch starke Kräfte am Werk gewesen sein müssen, um dieses, von ungeheuren Umwälzungen geistiger, seelischer, kultureller und sozialer Art begleitete Resultat zustande zu bringen.

Das deutsche Bankwesen

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Die mengenmäßige Verbreiterung der volkswirtschaftlichen Grundlagen wird noch beleuchtet durch die Zahlen, welche die Erweiterung der Urproduktion und der industriellen Werteschaffung anzeigen. Die Steinkohlenproduktion, die im J a h r e 1850 noch eine Jahresförderung von 5,8 Mill. t aufwies, steigerte sich bis zum J a h r e 1860 auf 12,3 Mill. t und bis zum J a h r e 1913 auf 190 Mill. t Jahresleistung. Die Roheisenproduktion stieg von einer Jahresleistung von 0,21 Mill. t im J a h r e 1850 auf 19,30 Mill. t im J a h r e 1913. Die dieser Ausweitung der Rohproduktion entsprechende mengenmäßige Steigerung der gesamten Industrieproduktion ergibt sich aus folgender den Berechnungen des Instituts für Konjunkturforschung entnommener Zahlenreihe, die, wenn man die Produktion des Jahres 1913 = 100 setzt, folgende Verhältniszahl für die einzelnen J a h r e ergibt: 1860 13,8% von 1913 1881 26,8% „ 1913 = Verdoppelung nach 21 J a h r e n 1891 41,4% ,, 1913 = Verdreifachung bereits nach 31 J a h r e n 55>9% >> 1913 = Vervierfachung nach 37 J a h r e n fo 1900 64,7% ,, 1913 = u m die Jahrhundertwende das 4,7 fache 1913 das 7,25fache von 1860. Die Produktionsgütererzeugung hat sich sogar vom Jahre 1860 bis zum Jahre 1878 verdoppelt, bis zum Jahre 1899 versechsfacht und bis zum J a h r e 1913 verzehnfacht. Diese wenigen Zahlen mögen genügen, um den ungeheuren Wachstumsprozeß zu kennzeichnen, dem sich der Apparat der Kreditwirtschaft anpassen mußte, wenn er seiner Aufgabe der Kapitalbeschaffung für diesen Vorgang genügen wollte. Rein äußerlich geht dieser Anpassungsvorgang aus der Aufeinanderfolge der Gründung der wesentlichsten Bankinstitute hervor. Es wurden gegründet im Jahre: 1848 der A. Schaaffhausensche Bankverein 1851 die Disconto-Gesellschaft 1853 die Bank für Handel und Industrie (Darmstädter Bank) 1856 die Allgemeine Deutsche Creditanstalt 1856 die Berliner Handelsgesellschaft 1856 der Schlesische Bankverein 1870 die Deutsche Bank 1870 die Commerz- und Disconto-Bank 1871 die Bergisch-Märkische Bank 1872 die Dresdner Bank 1881 die Nationalbank für Deutschland 1898 die Deutsche Nationalbank, Bremen, als Nordwestdeutsche Bank Kommandit-G. a.A.

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Fischer

Eine Übersicht über die innere Entwicklung des Bankgeschäftes in der Zeit von 1883 bis 1913 vermittelt die nachfolgende, den Berechnungen des „Deutschen Ökonomist" entnommene Übersicht über die bilanzmäßige Entwicklung des Bankgeschäftes bei Kredit-, Hypotheken- und Notenbanken zusammen in dieser Zeit (Beträge in Mill. M.): Zahl Geder schäftsBanken jahr "3 165 205

1883 1900 1913

Debitoren 1080 4249 9384 = 7,8fach

Immobilien bezw. Hypotheken

Kreditoren

Depositen

1958 7081 12676 = 6,5fach

769 2810 6280 = 8,2fach

515 1706 5614 = io,9fach

Zum Vergleich: Industrieproduktion im Jahre 1913 seit 1883 3,3fach bzw. bei den Produktionsgütern 3,8fach.

Die eigene Kapitalausrüstung, die dieser Bankapparat erforderte, mußte sich ebenso sprunghaft den wachsenden Bedürfnissen anpassen. Die in der Verwaltung der sämtlichen Kreditbanken ( 1 9 1 3 = 160 Institute) befindlichen e i g e n e n und f r e m d e n Gelder beliefen sich (nach den Zusammenstellungen des „Deutschen Ökonomist") am Jahresschluß: 1883 auf 1961,7 Millionen Mark 1890 „ 3149)9 1900 „ 6958,0 1913 „ 16229,8 Der Zunahme der Risiken und der Notwendigkeit, auch den großen Kreditbedürfnissen der aus den Zusammenschlüssen wirtschaftlicher Unternehmungen sich entwickelnden Großbetriebe gerecht zu werden, mußte der deutsche Bankapparat sich durch eine entsprechende Kapitalkonzentration anpassen, die für das Jahr 1904 folgendes Ergebnis der von den einzelnen Bankgruppen vertretenen Kapitalmacht zeitigte: 1. Gruppe d. Deutschen Bank: Akt.-Kap. -f- Res. 718 Millionen, davon Deutsche Bank selbst 296 Millionen; 2. Gruppe d. Disconto-Ges.: Akt.-Kap. + Res. 524 Millionen, davon Disconto-Ges. selbst 227 Millionen; 3. Gruppe d. Dresdner Bank: Akt.-Kap. -j- Res. 250 Millionen, davon Dresdner Bank selbst 201 Millionen; 4. Gruppe d. Schaaifhausenschen Bankverein: Akt.-Kap. -{- Res. 235 Millionen, davon Schaaffhausen selbst 148 Millionen; 5. Gruppe d. Darmstädter Bank: Akt.-Kap. Res. 254 Millionen, davon Darmstädter Bank selbst 181 Millionen. Die 5 Gruppen umfassen also eine Kapitalmacht von rd. 2 Milliarden.

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Das deutsche Bankwesen

Die organisatorische und technische Ausweitung des Kreditapparates innerhalb der Volkswirtschaft kennzeichnet die nachfolgende Gegenüberstellung der Betriebe und Beschäftigten im gesamten Geld- und Kredith^ndel: Zahl d. darin Zahl d. beschäftigten Geschäfte Hilfspersonen 1 ) 602 J

1907

CO Ui

1858

1172

Zahl d. Gewerbebetriebe 6829

Zahl d. darin beschäftigten Personen

Zahl d. Gewerbebetriebe

Zahl d. darin beschäftigten Personen

36175

99

67282

) in Preußen.

Die acht Berliner Großbanken hatten: Ende des Jahres

1895 1896 1900 1902 !

9°5

DepositenNiederlaskassen u. sungen (Sitz Wechselu. Filialen) stuben im im Deutschen Deutschen Reich Reich 18 20 25 33 46

26 27 53 87 149

Komman- Ständige Bediten (Bank- teiligungen geschäfte im an deutschen Deutschen AktienReich) banken 13 14 12 II 12

2 2 9 l6 34

Summe der Anstalten

59 63 99 147 241

Welche Anforderungen die Erfüllung der dem Kreditwesen in dieser Zeit zufallenden Kapitalbeschaffungsaufgabe stellte, zeigt eine Übersicht über die Neugründung von Aktiengesellschaften, die in Preußen betrug von 1801—1825 16 1826—1850 102 1851—1870 295 1870—1874 857 1876—1883 1620 und in Deutschland im Jahre l872 479 42von I 8 7 6 - I 8 7 9 192 im Jahre 1883 70 3 3 33 1885 360 1889 33 3 3 92 3 3 33 l894 33 33 3ß4 1899 Das jährlich neu aufgelegte Kapital schwankte in den letzten 20 Jahren des vorigen Jahrhunderts zwischen 56 und 800 bis 1000 Millionen.

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Otto Christian Fischer

Die Beanspruchung des Emissionsmarktes durch die verschiedenen Bedarfsgruppen ergibt in den Zeiträumen von 1886—1933 folgendes Bild: I Öffentlicher ; Kredit

Bodenkredit

Handel, Industrie

Inlandswerte

in M i l l i o n e n Mark bzw. Reichsmark

1886—1890 1891—1895 1896—1900 1901—1905 1906—1910 1924—1928 1929—1933

1782 1765 1679 3320 6073 2695 2623

1248 2189 1879 2262 2588 7242 55'7

1275 831 4295 2659 4859 5477 2466

4360 4833 8216 8339 12615 15414 10606

Die durch diese Zahlen gekennzeichnete Ausweitung der Volkswirtschaft, die aus der Zunahme der Bevölkerung und aus dem Wachsen des Bedarfs folgte, konnte auch nicht ohne tiefgreifende Wirkungen auf die internationalen Beziehungen der Wirtschaft bleiben. Nicht das Streben des einzelnen Wirtschafters nach persönlichem Reichtum oder kapitalistische Vorstellungen von Wohlstand und Luxus in einem durch Ausbeutung ärmerer Länder reicher gewordenen Land, noch auch die bloße Lust an internationaler Betätigung war maßgebend für die wachsende Beteiligung am internationalen Geschäft, sondern die absolute Notwendigkeit, angesichts des wachsenden Rohstoff- und Nahrungsbedarfs, der aus der eigenen Volkswirtschaft nicht zu decken war, im Ausland einzukaufen, zwang dazu, die deutsche Ware in zunehmendem Maße auch am Weltmarkt anzubieten. Als die deutsche Ware im Jahre 1876 auf der Weltausstellung in Philadelphia zum ersten Male in großem Umfang in die Weltmarktkonkurrenz eingeführt wurde, lautete das Urteil der Welt über diese Ware einheitlich: billig und schlecht. Sehr bald zeigte sich, daß es nicht die Aufgabe der deutschen Industrie, der wissenschaftliche Forschungsmöglichkeiten größten Ausmaßes zur Verfügung standen, sein konnte, für breite Käuferschichten in Betracht kommende Waren und Werkzeuge auf Kosten der Qualität preislich zu unterbieten. Das ureigenste Gebiet der deutschen Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt konnte nur bei den hochwertigen Waren, vor allem aber beim hochwertigen Produktionsgut liegen. Das Ziel der deutschen Ausfuhrpolitik mußte deshalb auf das technische Spitzenerzeugnis eingestellt werden, ein Ziel, das in der Gegenwart durch die Zeppelinluftschiffe, durch die Ozeandampfer wie „Europa" und „Bremen", durch die weltbekann-

Das

deutsche

Bankwesen

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ten Wunder der deutschen Optik und die Erzeugnisse der deutschen Elektroindustrie, Chemie, Maschinenindustrie usw. in beinahe ungeahnter Vollkommenheit verwirklicht worden ist. Dem Bankwesen wurde durch die der deutschen Wirtschaft mit dieser Zielsetzung gestellte Aufgabe eine wichtige Rolle zugewiesen. Die mit der Schaffung einer Weltmarktstellung für die deutsche Ware zusammenhängenden umfangreichen finanziellen Vorgänge stellten entsprechende Anforderungen an das deutsche Bankwesen, dem mit der Frage, ob es die über die Grenzen der Volkswirtschaft hinausgehenden Aufgaben des Zahlungsverkehrs und der Absatz- und Umsatzfinanzierung erfüllen konnte, eine erhebliche Mitwirkung bei der Entscheidung darüber zufiel, ob Deutschland die von ihm angestrebte Stellung auf dem Weltmarkt erreichen und behaupten konnte oder nicht. Das deutsche Bankwesen durfte deshalb bei Inangriffnahme der mit diesem Aufgabenbereich zusammenhängenden Probleme auch den — seit Anfang der internationalen Betätigung immer wiederkehrenden — Vorwurf einer internationalen Interessenverquickung nicht scheuen und mußte internationalen Boden betreten, um Deutschland mit einem zur Teilnahme an der außerdeutschen Absatz- und Umsatzfinanzierung geeigneten Apparat zu versehen. Das Bankwesen mußte auch seine Hilfe zur Verfügung stellen, u m den Zahlungsverkehr zwischen deutschen Kaufleuten und dem Auslande von dem damals auf dem Weltmarkt unumstritten vorherrschenden Bankplatz London möglichst unabhängig zu machen. I n dieser Hinsicht bestand das nächste Ziel darin, der beherrschenden Stellung des Pfundwechsels auf dem Weltmarkt durch allmähliche Einbürgerung des Markakzeptes entgegenzuwirken. Angesichts der Tatsache, daß England bereits eine feste und kaum mehr bestrittene Welthandelsstellung innehatte, als Deutschland anfing, sich eine solche aus den ersten Anfängen heraus zu schaffen, war die Stellung des Londoner Platzes als Vermittler des „alles beherrschenden und ausgleichenden Geld Verkehrs" 1 ) und die Bedeutung der englischen Währung als Wertmesser im internationalen Warenverkehr so stark, daß es für den deutschen Außenhandel eines „Anlehnungspunktes" dringend bedurfte, „und zwar in Gestalt eines in der Hauptstadt Deutschlands angesessenen und in den Hafenplätzen allmählich durch Kontore vertretenen Institutes, welches Kredit, Auskunft und Anregung . . . zu bieten imstande" war. Es war das geradezu der Hauptzweck der Gründung der Deutschen Bank, deren provisorischer x

) Eingabe des provisorischen Verwaltungsrates der Deutschen Bank vom 8. 2. 1870.

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Verwaltungsrat in seiner Eingabe vom 8. Februar 1870 an den Bundeskanzler Graf v. Bismarck, mit dem die Genehmigung zur Gründung nachgesucht wurde, diese Worte schrieb und zugleich ausführte, daß der Geldverkehr „zum großen Schaden der nationalen Interessen hinter dem eigentlichen Austausch der Handelsgegenstände selbst zurückgeblieben sei", und: „dieser entsagenden Stellung der deutschen Handelswelt zum Ausland soll die neue Bank Abhilfe schaffen". Aber nicht nur im Zentrum des Welthandels schien diese Hilfeleistung des deutschen Bankwesens zur Wegbereitung für die deutsche Ware unerläßlich, sondern man glaubte auch an der Peripherie des Weltwarenverkehrs vorgeschobene Posten des deutschen Bankwesens zur Unterstützung des deutschen Exportkaufmanns zur Verfügung halten zu müssen. Die Deutsche Bank ging mit der Gründung der German Bank in London (1871) nach Überwindung großer Schwierigkeiten voran, ihr folgten die Niederlassungen der Deutschen Bank in Yokohama und Shanghai (1872). Diese Gründungen waren im Gegensatz zu dem Londoner Institut nicht von nachhaltigem Erfolg begleitet und mußten schon 1875 wieder eingezogen werden. Wenig Erfolg hatten neben diesen Filialen der Deutschen Bank auch andere außereuropäische Bankniederlassungen, wie z. B. in New York, wobei der Umstand eine Rolle spielte, daß die Erfahrungen der deutschen Banken auf diesem Gebiet noch sehr gering waren und die Besetzung dieser Niederlassungen nicht immer sehr glücklich war, weil das erforderliche Material an im Auslandsgeschäft erfahrenen Beamten fehlte. Dagegen entwickelten sich andere Auslandsfilialen sehr gut, insbesondere die Filiale der Deutschen Bank in London, die 1879 die German Bank ganz ablöste. Die Auslandsfilialen der deutschen Banken in London — der Filiale der Deutschen Bank folgte im Jahre 1900 eine Filiale der Discontogesellschaft und im Jahre 1901 eine Filiale der Dresdner Bank — wurden zu den wichtigsten Stützpunkten des deutschen Außenhandels und haben in der Wegbereitung für die deutsche Ware im Ausland eine Rolle gespielt, die heute häufig weit unterschätzt wird. Welche wesentliche Hilfe sie dem deutschen Außenhandel geleistet haben, wird am besten durch die Tatsache beleuchtet, daß der Akzeptumlauf der drei deutschen Großbankfilialen in London bei Beginn des Krieges die Grenze von 300 Millionen Mark überschritten hatte. Die beachtlichen Erfolge, die gerade die Auslandsfiliale der Deutschen Bank in London aufzuweisen hatte, überzeugten auch die bisher dem Gedanken einer bankgeschäftlichen Förderung des Außenhandels

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fernerstehenden Kreise von der Notwendigkeit, an den Hauptstellen des Weltwarenverkehrs Stützpunkte für die deutsche Ware zu haben. Es kam deshalb der Gedanke einer mit Reichsunterstützung zu errichtenden und unter Reichskontrolle stehenden Übersee-Reichsbank auf, der zwar nicht verwirklicht wurde, der aber doch sehr dazu beitrug, die vorwiegend von der Initiative der Deutschen Bank getragenen Gründungen von Auslandsbanken zu fördern. So wurde im Jahre 1886 die Deutsche Überseebank, im Jahre 1889 die Deutsch-Asiatische Bank gegründet. Die Tätigkeit dieser Auslandsbanken, denen nach der Jahrhundertwende noch eine Reihe von neuen Gründungen (u. a. 1906 Deutsch-Südamerikanische Bank, 1906 Deutsche Orientbank) folgte, war von wechselndem Erfolg begleitet 1 ). Ohne ihr Vorhandensein und ihre Tätigkeit wäre es aber für Deutschland nicht möglich gewesen, denjenigen Anschluß an den Weltkapitalmarkt zu finden, der notwendig war, um Deutschland die seiner wirtschaftlichen Struktur entsprechende Stellung eines Gläubigerlandes zu sichern. Mit der Umstellung der deutschen Exportpolitik auf das Ziel, ein hochwertiges technisches Erzeugnis auf dem Weltmarkt anzubieten, trat nämlich zugleich ein neues Problem hervor, das in der Frage der Finanzierung solcher Weltmarktlieferungen lag. Hochwertige Artikel sind teuer und die Möglichkeit, sie auf dem Weltmarkt anzubieten, erfordert andere Finanzierungsgrundlagen als der Verkauf billiger Massenware. Die deutschen Exportprobleme beschränkten sich deshalb sehr bald nicht auf die Frage, was und wohin exportiert werden sollte, sondern es mußte im Ausland zunächst einmal die Voraussetzung für die Möglichkeit der Abnahme und Bezahlung solcher deutschen Industrieerzeugnisse geschaffen werden, d. h. es mußte auf Grund von Kreditgewährungen in den verschiedensten Formen vorgeleistet werden. Die Gläubigerstellung, die Deutschland durch diesen Kapitalexport in der Weltwirtschaft erworben hat, war in ihren Anfängen nicht das Ergebnis einer bestimmten volkswirtschaftlichen Zielsetzung, die man mit dem Kapitalexport verfolgt hätte. In der ersten Periode einer Betätigung der deutschen Banken auf dem Gebiete der auswärtigen Finanzgeschäfte, also insbesondere auf dem Gebiet der Übernahme und Unterbringung von Anleihen, waren vielmehr in erster Linie die günstigen Gewinnaussichten, die dieser Geschäftszweig brachte, für die Beteiligung an dieser Tätigkeit bestimmend2). Diese Gesichtspunkte V g l . „Deutsche Überseeische B a n k " , Jubiläumsschrift zum 50jährigen Bestehen a m 2. Oktober 2

1936.

) Model-Loeb berichtet in „ D i e großen Berliner Effektenbanken", J e n a

1896,

über die großen Gewinne aus russischen Emissionen im J a h r e 1887 (S. 3 4 ) , öster-

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Otto Christian Fischer

traten später, insbesondere nach dem deutsch-französischen Kriege, auf der Bankseite mehr und mehr in die zweite Linie gegenüber der Erkenntnis der Notwendigkeit, daß sich Deutschland auch in die internationalen Kapitalvorgänge einschalten mußte. Nach Überwindung der sogenannten Gründerkrise (1873) waren alle binnenwirtschaftlichen Kräfte auf Konsolidierung und Beruhigung ausgerichtet; in Neuinvestitionen dagegen, die die volkswirtschaftliche Kapitalbildung in Anspruch genommen hätten, wurde starke Zurückhaltung geübt. Der Produktionsindex zeigt erst wieder in den Jahren 1885/86 ein sprunghaftes Ansteigen der Kurve, während in den Depressionsjahren nach der Gründerkrise für das Kapital geringe neue Betätigungsmöglichkeiten offenstanden: Produktionsindex (1913 = 100) Jahr 1881

Produktionsgüter-

Verbrauchsgüter-

industrien

industrien

1883

23,2 25,0 26,3

36>9 38,2 41,8

1884

26,9

44,0

1885

45,o

1887

27.7 28,3 30,0

1888

31,1

1889

33.1

49,9 54,2

1890

34,7

56,1

1882

1886

45,' 49,3

Die Jahre der geringsten Produktionsintensität waren naturgemäß auch die Jahre der höchsten Auswandererziffern. Die Auswanderung stieg im Zehnjahresabschnitt 1881—1890 auf 1,3 Millionen, während sie im vorangehenden bzw. nachfolgenden Zehnjahresabschnitt um 0,5 Millionen schwankte. Die Folge der geringen Inanspruchnahme des Kapitalmarktes durch die inländischen Unternehmer war eine wachsende Verflüssigung der Kreditmärkte. Die deutsche Kapitalbildung stand im Zeichen erfreulicher Zunahme, zumal die mit dem deutschen Zollgesetz vom 15. Juli 1879 eingeleitete landwirtschaftliche Schutzzollpolitik gerade auch im Agrarsektor eine günstige Preisentwicklung zur Folge hatte, die in den Jahren von 1880/81 ihren Höhepunkt erreichte und z. B. reichisch-ungarische

Finanzgeschäfte im J a h r e

1893

(S. 87) und

„gewinnreiche

Operationen" aus Anlaß der serbischen Emissionen im J a h r e 1884 (S. 102).

95

Das deutsche Bankwesen

mit einem Roggenpreis von 195 Mark je Tonne und einem Weizenpreis von 219 Mark je Tonne (Berliner Marktpreise) landwirtschaftliche Erträge brachte, die in Jahrzehnten vorher und nachher nicht erzielt worden sind. Infolge der Flüssigkeit der Kreditmärkte sank der Privatdiskont in Berlin in den achtziger Jahren auf durchschnittlich 2,10% (gegenüber 4—5% in New York und noch höheren Sätzen in den sonstigen Überseebereichen). Alle diese Umstände kamen einer Verlagerung der Investitionstätigkeit auf Auslandsanlagen, d. h. dem Kapitalexport entgegen, der sich in der Emissionsstatistik der Auslandswerte wie folgt niedergeschlagen hat: Deutsche

Emissionen1)

Kurswert deutscher

in

Millionen |

Mark

ausländischer

Papiere 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892

453)9 374,8 389.1 53°>2 598,6 i3i7,4 "57,7 1134,8

973,0 777,6

299,8

529,7 509,7 485,1 409,5 667,3

583,9

385,7 244,7 171,6

Der deutsche Besitz an ausländischen Effekten für die Zeit vor 1883 wird von Schmoller (Bericht z. Börsen-Enquetekommission) auf 4—5 Milliarden Mark, von Christians (Deutscher Ökonomist vom 27. J a nuar 1894) auf etwa 11 Milliarden Mark geschätzt. Die Zeit der geringsten Inanspruchnahme des Kapitals im Inland (vgl. Produktionsziffern S. 94) zeigt naturgemäß ein sprunghaftes Steigen der Auslandsanlagen und entsprechendes Zurückbleiben der Inlandsanlagen, während nach Überwindung der Depression die Tendenz wieder in entgegengesetzte Richtung weist. *) Unterlagen für eine statistische Erfassung der Emissionen sind erst seit der E i n führung des Effektenstempels im J a h r e 1881 gegeben.

Die erste und anerkannteste

Emissionsstatistik stammt von W . Christians, dem Herausgeber und Redakteur des „ D e u t s c h e n Ökonomist". Seine Zahlen sind auch von Helfferich verwendet worden. Abweichungen gegenüber der Statistik S . 90 ergeben sich daraus, daß von Helfferich Berichtigungen der Statistik berücksichtigt worden sind.

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Otto Christian Fischer

Zu der zunächst durch den Anreiz höherer Rendite bedingten Bevorzugung der Auslandsanlagen kamen die volkswirtschaftlichen Erwägungen der notwendigen Eingliederung der eigenen Volkswirtschaft in den Weltwirtschaftsorganismus. Solche Gesichtspunkte wurden zur Richtschnur für internationale Finanztransaktionen des deutschen Bankwesens, als „die rein geschäftlichen Gesichtspunkte der Verteilung des Risikos durch Kapitalanlagen in den verschiedensten Ländern und der Teilnahme an den Gewinnen, die aus der Erschließung großer,, bisher fernab vom Weltverkehr gelegener Gebiete erwartet werden konnten, sich zusammenfanden mit den wirtschaftlichen Gesichtspunkten der Förderung der Handelsbeziehungen, der Eröffnung und Entwicklung von Bezugsländern für Rohstoffe und Nahrungsmittel sowie von Absatzmärkten für die deutsche Industrie" 1 ). Die wirtschaftlichen und geschäftlichen Gesichtspunkte vereinigten sich schließlich mit sehr wichtigen und weitreichenden politischen Zielen, als es sich z. B. darum handelte, mit der Beteiligung an der Finanzierung der Kleinasiatischen Eisenbahnen ein bisher wirtschaftlich unerschlossenes und politisch noch nicht in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis stehendes Verbrauchergebiet für den deutschen und den europäischen Markt zu erschließen. Es stellt zweifellos ein Ruhmesblatt der Geschichte des deutschen Bankwesens dar, daß diese großen Gesichtspunkte erstmals in den Köpfen der führenden Bankiers zum Durchbruch kamen, als z. B. ein Georg von Siemens in Erkenntnis der ökonomischen Zusammenhänge an eine zielbewußte Leitung flüssiger Kapitalien ins Auslandsgeschäft heranging. Die Kreditgewährung in Gestalt der Kapitalausfuhr leistete damit für die eigene Volkswirtschaft wichtige Pionierdienste; sie bildet gleichsam, wie Adolf Weber darlegt, die Brücke, auf welcher der Handel, der Verkehr und die Industrie nachrückt, um neue Märkte und neue Austauschmöglichkeiten und damit erweiterten Nahrungsmittelspielraum für die eigene wachsende Bevölkerung zu gewinnen. Der deutsche Kapitalexport schlug sich in Auslandsguthaben der deutschen Wirtschaft nieder, die im Jahre 1914 die Summe von rund 25 Milliarden erreicht hatten und an Zinsen einen jährlichen Zahlungsbilanzeingang von rund 1 Milliarde Mark erbrachten, so daß Deutschland, dessen Handelsbilanz in der Zeit zwischen 1880—1890 von einem Aktivsaldo von 120 Millionen Mark (1880) auf einen Passivsaldo von 819 Millionen Mark (1890) umschlug, in der Lage war, um den Betrag der Zinsen für Auslandsanleihen zuzüglich des Wertes der *) Vgl. Helfferich, G.V.Siemens, 3. Bd. S. 15.

Das deutsche Bankwesen

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Dienstleistungen und sonstiger Einnahmen aus ausländischen Beteiligungen mehr zu importieren als zu exportieren, ohne seine Zahlungsbilanz zu gefährden, und damit mehr Menschen auf einem sich ständig bessernden Lebensstandard in Deutschland zu ernähren, als es aus dem unmittelbaren innerdeutschen Ertrag der Wirtschaft hätte geschehen können. Die enge Verbindung zwischen Banken und Industrie, zu welcher die dargestellte Entwicklung zwingende Veranlassung gegeben hatte, konnte nicht ohne nachteilige Folgen auf die L i q u i d i t ä t s l a g e der Banken, insbesondere der Aktienbanken bleiben, von denen ein Teil von vornherein mit dem Ziele gegründet worden war, Kredite zu gewähren, welche dem Privatbankier aus irgendeinem Grunde nicht lagen oder unbequem waren, da für diesen der Grundsatz gelten mußte, es im Kreditgeschäft so zu machen wie es der »vorsichtige Banquier« bereits im J a h r e 1733 (vgl. Anmerkung S. 1 0 1 ) lehrt, nämlich »wie die Elephanten im gehen, die heben keinen Fuß auf, sie haben dann den aufgehobenen vorher wieder niedergesetzt«. Kredite an die Industrie, welche zu Investitionszwecken benutzt werden, sind in hohem Maße von der Aufnahmefähigkeit oder dem Aufnahmewillen des Kapitalmarktes abhängig, und rückläufige Konjunkturbewegungen mußten es mit sich bringen, daß ein erheblicher Teil des bei Beginn einer Konjunkturperiode verfügbaren flüssigen Kapitals, wenn es sich in I n v e s t i t i o n e n verwandelt hatte, einfror oder notleidend wurde. Die im J a h r e 1873 einsetzende Krisis war in dieser Hinsicht ein harter Lehrmeister für die Banken und ihre Lehren haben nachhaltig auf die Banken gewirkt, wenn sich auch hierin — wie auf allen Gebieten des Lebens — immer wieder gezeigt hat, daß die besten Lehren schwächer sind als die Macht der Tatsachen. Ein Überblick über die Entwicklung der Bankbilanzen in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zeigt, daß die die Verbindung des Bankwesens mit der Wirtschaft am deutlichsten anzeigenden Bilanzpositionen in ihrem Auf und A b sich weitgehend der im Index der industriellen Produktionsgütererzeugung zum Ausdruck kommenden Wirtschaftskurve anpassen. So steigt in der Aufschwungsperiode von 1888 bis 1891 der Produktionsgüterindex ( 1 9 1 3 = 100) von 3 1 , 1 auf 35,5, der Posten Wechsel und Debitoren der deutschen Kreditbanken von 1577 Mill. Mark auf 2158 Mill. Mark und die Posten Kreditoren und Depositen von 1 0 1 8 Mill. Mark auf 1281 Mill. Mark. In der sich anschließenden konjunkturellen Niedergangsperiode bis 1893, in der der Produktionsgüterindex auf 33,8 im J a h r e 1892 sinkt, um dann 1893 wieder auf 36,8 zu steigen, verlangsamt sich auch der Anstieg 7

P r o b l e m e des D e u t s c h e n

Wirtschaftslebens

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der entsprechenden Bilanzposten bei den Banken für Kreditoren und Depositen. Sie stellen sich 1892 auf 1281 Mill. Mark und 1893 auf 1322 Mill. Mark. In der darauf folgenden Aufschwungsperiode bis 1900, in der der Produktionsgüterindex bis auf 62,1 ansteigt, wachsen sie auf 3128 Mill. Auch der Posten Wechsel und Debitoren steigt in dieser Zeit entsprechend von 2176 Mill. Mark auf 5186 Mill. Mark. Selbst die konjunkturelle Abschwächung des Jahres 1901, die den Produktionsgüterindex auf 61,1 absinken ließ, kommt in der Bilanzposition mit entsprechenden Verkürzungen zum Ausdruck (Wechsel und Debitoren 4819 Mill. Mark, Kreditoren und Depositen 3015 Mill. Mark). Die Zeit des konjunkturellen Aufschwunges von 1901 bis 1914 ist naturgemäß auch die Zeit der höchsten Blüte des deutschen Bankwesens gewesen. Die deutsche Wirtschaft befand sich in diesem Zeitpunkt auf einem Höchststand ihrer Entfaltung und demgemäß zeigten auch die verschiedenen Positionen der Bankbilanzen, in denen sich der Wirtschaftsverlauf widerspiegelt, einen Höhepunkt an. Wie im Jahre 1913 Kreditoren und Depositen von 160 Kreditbanken mit 9,7 Milliarden Mark den Höchststand der Vorkriegszeit erreichten, so ist auch die für 1913 ausgewiesene Summe der Debitoren mit 8,3 Milliarden und des Wechselbestandes mit 3,4 Milliarden vorher nicht erreicht worden. Entsprechend stiegen die ausgewiesenen Bruttogewinne der gesamten Kreditbanken von 258 Mill. Mark im Jahre 1901 auf 543 Mill. Mark im Jahre 1913 und erreichten damit ebenfalls den Höchststand der Vorkriegszeit. Trotzdem konnte bei verantwortungsbewußter Betrachtung der damaligen Lage nicht übersehen werden, daß diese Blüte des deutschen Bankwesens einen durchaus anderen Charakter aufwies, als sie durch die gleichen Ziffern z. B. im englischen Bankwesen nachgewiesen worden wäre. Immer wieder zeigt sich, daß der schnelle Aufbau des industriellen Apparates und die dadurch bewirkte Illiquidität der Volkswirtschaft mit der Forderung nach einer Verbesserung der Liquidität des Bankwesens nicht in Einklang zu bringen war. Die in diesem Zustand für die Gesamtwirtschaft liegenden Gefahren hat das deutsche Kreditwesen damals nicht übersehen. Es ist aber auch darüber nicht im Zweifel gewesen, daß zur Beseitigung dieses Mangels durchzuführende Kreditrestriktionen, soweit sie nicht etwa durch einen Zufluß ausländischer Mittel auszugleichen gewesen wären, die damals im Gang befindliche und nach ihrer einmal erfolgten Einleitung auch zu Ende zu führende Industrialisierung Deutschlands und die Schaffung einer Weltmarktstellung für die deutsche Industrie aufgehalten, vor allem aber eine Verlangsamung des Tempos der

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Bankwesen

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deutschen Rüstung zu Wasser und zu Lande und des Aufbaues der deutschen sozialen Gesetzgebung bedeutet hätten. Hier liegt der Konflikt, der dem verantwortungsbewußten Bankier jener Zeit in der Entscheidung entgegentrat, ob er im Einzelfalle den ihm sich bietenden gewinnbringenden Geschäften oder den Rücksichten auf die volkswirtschaftliche Liquidität den Vorzug zu geben hatte, mit anderen Worten, ob dem Bankwesen die Pflicht oblag, unter Verzicht auf sich bietende Verdienstmöglichkeiten sich bestimmten Kreditanforderungen zu entziehen, um eine den volkswirtschaftlichen Liquiditätsansprüchen zuwiderlaufende — aber den steigenden Ansprüchen einer sich schnell vermehrenden Bevölkerung entsprechende — wirtschaftliche Entwicklung zu stoppen. Daß das Bewußtsein der in dieser Entscheidung liegenden Verantwortung vorhanden war, beweisen die Verhandlungen des Bankiertages 1912 in München. Aus den Niederschriften über diese Verhandlungen spricht das Bewußtsein, daß die Banken eine öffentliche Funktion erfüllen, deren Bedeutung von Wirkl. Legationsrat Professor Dr. Helfferich in seinem immer wieder lesenswerten Referat über „Die zeitweise übermäßige Inanspruchnahme der Reichsbank, ihre Ursachen und die Mittel zur Abhilfe" in die von der Versammlung mit Zustimmung und Beifall aufgenommenen Worte gekleidet worden ist, daß die zur Verhandlung stehende Frage „so sehr im Mittelpunkt unserer ganzen wirtschaftlichen und finanziellen Organisation steht, daß sie in ihren Ausstrahlungen die wichtigsten Gebiete des wirtschaftlichen und staatlichen Lebens berührt" und daß „das deutsche Wirtschaftsleben an Solidität und Stabilität ganz erheblich gewonnen hat nicht zum wenigsten durch das gewachsene Verantwortungsgefühl und die strengere Selbstzucht der Banken". Nur einem inzwischen jenseits der Grenzen sitzenden Journalisten war es vorbehalten, den Standpunkt zu vertreten, daß der Bankier Geschäfte machen müsse und nicht „jedes Mal bei sich entscheiden könne, ob seine Handlung vereinbar mit den Interessen der Volkswirtschaft ist". Dieses v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e Verantwortungsbewußtsein, dem Helfferich für das deutsche Bankwesen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in der Darstellung des Lebenswerkes Georg v. Siemens ein Denkmal gesetzt hat, war das Ergebnis der sich aus der allmählich fühlbar werdenden Schicksalsgemeinschaft zwischen Staat und Wirtschaft ergebenden Erkenntnis, „daß auf die Dauer nur solche Geschäfte Gewinn bringen, die der Allgemeinheit nützen" 1 ). Helfferich, Georg v. Siemens, Berlin 1923.

100

Otto Christian Fischer

Diese Schicksalsgemeinschaft bringt es mit sich, daß der Wirtschafter im Einzelfalle immer wieder vor die verantwortliche Entscheidung gestellt ist, ob sein Handeln und Unterlassen, auch wenn es seinen individuellen Erwerbsinteressen nützlich ist, der Volkswirtschaft nützlich oder schädlich ist: Die Welt dreht sich nicht um das Unternehmen, sondern das Unternehmen dreht sich um die Welt. Die Fähigkeit, über das, was der Volkswirtschaft nützt oder schadet, ein zutreffendes Urteil zu fällen, setzt immer voraus, sich soweit über die verwirrenden Einzelheiten erheben zu können, daß die großen Umrisse des Gemeininteresses wirklich zu übersehen sind. Der verantwortliche Organisator des An- und Abmarsches der Besucher der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele konnte nicht mitten unter den Besuchern stehen, er schwebte im Luftschiff" über dem Gelände und konnte von dort zwar nicht beurteilen, ob hier oder dort eine kleine Störung vorlag, aber um so sicherer übersehen, wo der Strom sich gefahrdrohend staute und wo mit entscheidenden Anordnungen eingegriffen werden mußte. Weder hätte ein 30 Meter hoher Turm das Luftschiff ersetzen können noch hätte ein Stratosphärenballon bessere Dienste geleistet: auf den r i c h t i g e n Abstand des Beobachters kommt es an. Ein solcher zwar über die Einzelheiten sich erhebender aber auch nicht weltferner Beobachtungsstandpunkt ist aber gegenüber der Wirtschaft in hervorragendem Maße dem Bankwesen gegeben, da ihm durch seine enge Verbindung mit der Wirtschaft, durch den Einblick in die wechselnden Geschäftserfolge der einzelnen Betriebe, durch seine persönlichen Beziehungen zur Kundschaft und seine stete Anteilnahme an den Sorgen der Kundschaft einerseits sowie seine ständige Verbindung mit dem Ausland andererseits Beobachtungsmöglichkeiten gegeben sind, wie sie aus dem unmittelbaren Tageserleben keinem anderen Wirtschaftszweig zur Verfügung stehen. Dabei entsteht die Frage, ob es richtig ist, daß ein Wirtschaftszweig sich um die Sorgen anderer Wirtschaftszweige oder gar der Wirtschaft im ganzen kümmert und ihnen Ratschläge erteilt oder Warnungen zukommen läßt. Gerade die Banken selbst haben es häufig als wenig angenehm und unangebracht empfunden, wenn andere Wirtschaftszweige ihre wirtschaftskritische Aufgabe hauptsächlich darin erblickten, den Splitter im Auge des Nächsten zu suchen und die Schuld für alles, was sich Unerfreuliches ereignete, bei jeder Gelegenheit auf die Banken abzuwälzen. Aber jeder in der Wirtschaft Tätige weiß und rechnet damit, daß die Banken infolge der Eigenart des Kreditgeschäftes ständig die Hand am Puls der Wirtschaft haben und haben müssen, denn für die Erfüllung der Aufgabe der Kreditgewährung oder Kapitalbeschaffung

Das

101

deutsche Bankwesen

genügt es nicht, sich einen Einblick in die Bilanz des Kreditnehmers zu verschaffen und sie auf ihre Geeignetheit als Kreditunterlage zu prüfen. Eine Bilanz gibt immer nur ein bestimmtes Augenblicksbild aus dem Leben eines Unternehmens wieder. Dieses Bild kann sowohl durch Maßnahmen des Unternehmers oder seiner Vertreter als auch durch eine Veränderung in der Wirtschaftslage sehr schnell ein ganz anderes Aussehen erhalten, und darum ist es bei der Befassung mit dem Kreditgeschäft unerläßlich, sich ständig über die Entwicklungstendenzen innerhalb der g a n z e n Wirtschaft unterrichtet zu halten, um im Einzelfall daraus die richtigen Erkenntnisse ziehen zu können. Dabei ist davon auszugehen, daß das Wirtschaftsleben ständig Änderungen unterliegt, welche teils durch die Wirtschaft, teils durch die Politik bedingt sind . Man wird also in der Hochkonjunktur auf die Anzeichen der Depression, im Frieden auf die Anzeichen politischer Störungen zu achten haben. Für solche Vorgänge ist das Bankwesen ein sehr gutes Barometer, da sich in ihm schon früher, als es nach außen erkenntlich ist, Anzeichen eines bevorstehenden Umschwungs bemerkbar machen und für das Bankwesen ganz besonders der Satz gilt, daß Sich-nicht-überraschen-lassen zwar nicht alles, aber doch sehr viel ist. J e größer ein Unternehmen ist, je größer seine internationale Betätigung ist, desto wichtiger ist es, die wirtschaftlichen Beobachtungen durch Einbeziehung des weltpolitischen Ablaufs in den Gesichtskreis der Betrachtungen zu ergänzen, desto wichtiger können aber auch die so gewonnenen Beobachtungsergebnisse für andere Wirtschaftsgruppen, ja *) Schon die von einem unbekannten A u t o r herausgegebene „ A n w e i s u n g " für d e n „vorsichtigen Banquier" aus d e m Jahre

1733

(gedruckt und

herausgegeben

v o n Joh. Friedrich Rüdiger, Buchhändler zu Prag und Nürnberg) faßt diese E r kenntnis in die Worte: Ein kluger Banquier m u ß nicht allein die auf der Post täglich

anlangende

Wechsel-Course genau gegeneinander zu calculiren, und daraus, wo ein Profit z u machen, wissen, sondern auch bey allen mercklichen und subiten Veränderungen des Courses genaue Informationen, so viel möglich einzuziehen suchen / w a r u m und aus was Ursachen sothane Veränderung vorgefallen, und sothane U m s t ä n d e , wo nicht in ein apartes Memorial, jedennoch sich seinem Gedächtnüs starck imprimiren: Was mit der Zeit vor Nutzen daraus entstehet, wissen rechtschaffene Cambisten besser / als es sich hier beschreiben läßt; Zeitungen, StaatsConjuncturen, Allianzen, worinnen ein Potentat d e m andern Subsidien zu zahlen sich obligirt,Kriegs-Marchender Armeen, und alle merckliche Veränderungen und politische Vorfalle, haben einiger maßen Influenz in die Wechsel-Handlung, und meritiren also eines attenten Banquiers genaue Observation und Speculation allerdings, gleichwie solches auch einem jeden, der nur einigen Begriff von der WechselH a n d l u n g hat, gar leicht in die A u g e n fallt, also ist es ohnnöthig, sich darüber weitläufftiger heraus zu lassen.

102

Otto Christian

Fischer

vielleicht sogar für den Staat sein. J e mehr ein Land in der Weltwirtschaft steht, um so mehr wird das Augenmerk seiner Wirtschafter auch auf außenpolitische Probleme gerichtet sein, während im anderen Falle Probleme der Innenpolitik und der Binnenwirtschaft im Vordergrund stehen werden. Im allgemeinen wird man sagen können, daß eine richtige Beobachtung der wirtschaftlichen Entwicklung die Beobachtung der politischen Gestaltungstendenzen nicht ersetzen kann, wie es andererseits völlig verfehlt wäre, zu glauben, daß eine gute Beobachtung der politischen Entwicklung allein genügte. Den Banken erwächst vielmehr aus ihrer Stellung in der Volkswirtschaft die Pflicht, die politischen Beobachtungen durch die ihnen aus ihrem privaten Interessenkreis zufallenden Beobachtungsmaterialien zu ergänzen. Wenn vom heutigen Standpunkt aus eine Kritik an dem in der Vorkriegszeit aus dem Vorhandensein dieser Beobachtungsmöglichkeiten vom Bankwesen für die Gesamtwirtschaft gezogenen Nutzen angebracht ist, so wird sie sich in der Richtung bewegen müssen, daß man noch zu sehr in der Unterstellung befangen war, daß die Entwicklung der Wirtschaft als solcher ein gegebener Tatbestand und die dafür entscheidenden Faktoren im wesentlichen unbeeinflußbare Kräfte seien, und daß jeder Wirtschaftszweig sein Schicksal unabhängig von dem der Gesamtwirtschaft meistern müsse, woraus man die Berechtigung zog, die Dinge zunächst, und vielleicht sogar ausschließlich vom Bankstandpunkt zu sehen und zu beurteilen. Es mag dahingestellt bleiben, ob das Vorherrschen des „Nichts als Fachmanns" ein speziell deutsches Übel ist oder ob es sich in Deutschland deswegen besonders bemerkbar gemacht hat, weil der Zustand der Unübersichtlichkeit und Unübersehbarkeit aller Lebenserscheinungen, der eine rein natürliche Folge des Ersatzes der Natur durch die Technik war, einen besonders günstigen Nährboden für denjenigen bot, der sein Fach gründlichst beherrschte. Natürlich kann es in der Wirtschaft wie auf allen Gebieten gar nicht genug tüchtige Fachmänner geben, aber führen kann nur derjenige, der mit dem Fachmann in sich bereits fertig geworden ist. Wen nur interessiert, was unmittelbar in sein Fach schlägt, wem jede fachliche Grenzüberschreitung als „unseriös" oder gar als Verrat am Fach erscheint, wer jede von außen an ihn herandringende Stimme als „laienhaft" ablehnt, wird leicht in die Gefahr geraten, bedenkliche Vorgänge und Entwicklungen, die ihn nicht unmittelbar angehen, so lange zu übersehen, bis die Katastrophe eingetreten ist, und dies ist um so verhängnisvoller, je mehr sich der mehr universell veranlagte Kollege dem Terror des Nurfachmannes unterwirft. Diese Gefahr ist im Bankwesen besonders groß, denn es hat einerseits unter allen Wirtschafts-

Das deutsche Bankwesen

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zweigen sicherlich den universellsten Charakter, auf der anderen Seite aber erfordert die Beherrschung des Bankbetriebes ein fachmännisches Wissen von sehr großem Ausmaß, und es ist nicht immer einfach, die richtige Synthese zwischen dem Spezialistentum und dem Universalismus zu finden, d. h. dafür zu sorgen, daß bei genauester Erledigung der täglichen Arbeit und der geschäftlichen Einzelvorfälle die großen Richtpunkte nicht aus dem Auge verloren werden und daß die Gebundenheit an die allgegenwärtigen Aufgaben des Alltags den Blick für die in die Zukunft weisenden Entwicklungslinien nicht trübt. Dieses Spezialistentum und das auf seiner Grundlage sich entwickelnde rein fachmännische Denken war nicht zuletzt eine allgemeine Folgeerscheinung eines häufig zu einseitigen Erziehungszieles, dem das höhere Schulwesen zuneigte. Auch das humanistische Gymnasium hat trotz eines universalen Lehrzieles die Bildungsansprüche des werdenden Kaufmanns nicht befriedigt, nicht etwa weil es allzusehr auf einen wenig gegenwartsnahen Lehrstoff eingestellt war — auch für den künftigen Kaufmann ist die Beschäftigung mit dem Altertum sehr nützlich — sondern weil es in der Übergangszeit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zu sehr an der modernen Entwicklung vorbeilebte und sein Stoff gegenüber den an das unentbehrliche Rüstzeug des Kaufmanns zu stellenden Erfordernissen allzusehr verblaßte. Die Folge war eine zunehmende Geringschätzung des „unmodernen" Universalismus und eine Überschätzung des Fachwissens und Fachdenkens, dessen Vorwiegen im Bankwesen eine starke Konzentration der gedanklichen Einstellung auf das Industriegeschäft herbeiführen mußte. Denn die wichtigsten, gewinnbringendsten und natürlich auch unter Umständen risikoreichsten Geschäfte lagen auf dem Gebiet der in ständiger Aufwärtsentwicklung befindlichen Industrie. Insofern ist in der Entwicklung zweifellos ein Gegensatz zwischen dem deutschen Bankwesen und dem englischen und französischen Bankwesen festzustellen. Der englische Handel war stets so sehr vom weltpolitischen Geschehen abhängig, daß es das Ziel des englischen Bankiers sein mußte, alle Kräfte zum Ausbau der Stellung Englands als eines beherrschenden Vermittlers der Weltumsätze einzusetzen. Der hieraus resultierende enge Zusammenhang zwischen den politischen und wirtschaftlichen Problemen zwingt den Bankier zum politischen Denken; er kann sich, wenn das politische Barometer schon tief steht, aber der wirtschaftliche Himmel noch im schönsten Sonnenschein erstrahlt, nicht mit der Bläue des Himmels beruhigen. Auch der französische Bankier, der aus den Kapitalinvestitionen in anderen Ländern einen erheblichen Teil seiner Gewinne zog, mußte sich selbstverständlich

104

Otto Christian Fischer

mit außenpolitischen Dingen sehr viel mehr beschäftigen, als das deutsche Bankwesen, dessen Sorge auf die Frage konzentriert war, wie es seiner aufstrebenden Industrie ausreichende Beschäftigung und den durch die zunehmende Industrialisierung ihrer ländlichen Ernährungsbasis entzogenen Menschen Nahrung und Bekleidung sichern sollte, und das darum den Fragen der internationalen Wirtschaft und Politik ferner stand als das der genannten Länder. Diese Konzentration auf das industrielle Denken ist für das deutsche Bankwesen zweifellos nicht von Vorteil gewesen, da, wie bereits hervorgehoben, jede wirtschaftliche Entwicklung auch unter politischen Gesichtspunkten gesehen werden muß und die politische Seite für Deutschland mindestens ebenso wichtig gewesen wäre wie für England und Frankreich, da England, gestützt auf sein Empire, und Frankreich mit der Rußland-Allianz im Hintergrund, schon von Natur eine andere politische und wirtschaftliche Machtstellung inne hatten als Deutschland, wo man geneigt war, „alles Heil von der Wirtschaft zu erwarten und die machtpolitische Sicherung der Wirtschaft zu vernachlässigen" (vgl. Helfferich a. a. O.). Mit dieser vorwiegenden Einstellung des Denkens auf die industriellwirtschaftliche Seite hing es auch zusammen, wenn die p o l i t i s c h e B e t ä t i g u n g des Wirtschäfters in Deutschland' nicht besonders geschätzt war und von den der Politik fernstehenden Wirtschaftern als Zeitvergeudung angesehen wurde. Soweit Bankiers in den Parlamenten mitwirkten, galten sie nur als „Fachleute", und hatten deshalb bei Vorgängen, die nach der Meinung des Parlaments über den unmittelbaren Fachkreis hinausgingen, nicht mitzusprechen. Dabei wurde der unmittelbare Fachkreis außerordentlich eng gefaßt und so finden wir in den Berichten Helfferichs (a. a. O.) die Mitteilung, daß Georg v. Siemens von seiner eigenen Partei in die Kommission zur Beratung des Bankgesetzes (1874) nicht entsandt wurde. Man kann auch zweifelhaft darüber sein, ob eine politische Betätigung des Wirtschafters in der Form der parlamentarischen Tätigkeit der damaligen Zeit für die Wirtschaft oder die Politik wirklich fruchtbringend hätte sein können. Gewiß war es möglich, mit fachmännischen wirtschaftlichen Kenntnissen im Einzelfall belehrend einzugreifen, aber das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung war doch so in der Fraktionspolitik erstarrt, daß das Auftreten auf der Tribüne der Parlamente für einen Wirtschafter, der gewohnt ist, zu einem positiven Ergebnis bei seinen Verhandlungen zu kommen, wenig Aussicht auf greifbare Erfolge bot. Gegenüber leeren Worten und dema-

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gogischer Bauernfängerei hatte der Wirtschafter aber aus den gleichen Gründen eine begreifliche Abneigung. So lebten Bankwesen und Staat in einer gewissen — wenn auch beiderseitig respektvollen — Isolation und erwarteten eine Lösung der Frage ihres beiderseitigen Verhältnisses von der weiteren Entwicklung. DIE U N T E R B R E C H U N G DER NORMALEN ENTWICKLUNG DURCH DEN KRIEG Die mutmaßliche Fortsetzung der damals im Gange befindlichen normalen Entwicklung ist rückblickend mit einiger Sicherheit insoweit abzusehen, als die Zentralisierung des deutschen Banksystems, wie sie i n dem Fusionsvorgang und der Konzentration der Kapitalmacht (vgl. S. 88) zum Ausdruck kommt, voraussichtlich weitere Fortschritte gemacht hätte, und ein Anstieg des Kapitalbedarfes, den die Aufrechterhaltung und Steigerung des Außenhandels und die zunehmende Erkenntnis der Lebenswichtigkeit des Außenhandels in Verbindung mit dem steigenden Lebensstandard der Bevölkerung gefordert hätte, eine zunehmende Verflechtung der dargestellten Verantwortungstteziehungen zwischen Bankwesen und Gesamtwirtschaft einerseits und Wirtschaft und Staat andererseits bedingt hätte. Aus einer notwendigen engeren Zusammenarbeit zwischen dem Bankwesen und den Leitern •der Wirtschaftspolitik hätte sich jene Hellhörigkeit für die politischen und wirtschaftspolitischen Gestaltungstendenzen und jene klare Erkenntnis der gegenseitigen Abhängigkeit und Verantwortlichkeit entwickeln können, die anders als die lediglich organisierte Zusammenarbeit des Staates mit der Wirtschaft im Wege der behördlichen Einflußnahme oder des wirtschaftlichen Rätesystems dem Idealzustand des Verhältnisses zwischen der staatlichen Führung und der wirtschaftlichen Exekutive nahekommt. Das normale Weiterwachsen der sachlichen Verbindung und Verflechtung hätte die Zusammenarbeit, die der Nachkriegsstaat zu erzwingen versuchte, zur Selbstverständlichkeit werden lassen. Das bedeutet auf das Bankwesen angewandt allerdings nicht, daß die Kreditpolitik nun immer die vom Staate vorgezeichneten Wege gegangen wäre oder hätte gehen müssen, denn es kann nicht häufig genug betont werden, daß eine Wirtschaft wie die deutsche nicht ohne ständige Bereitschaft zu Versuchen auskommen konnte, was mit der Bereitschaft zur Übernahme von Risiken identisch ist, sich aber sehr wohl unterscheidet von der Spekulation. Spekulation heißt, irgend ein Geschäft nur des zu erwartenden Gewinnes wegen machen, vor allem

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Fischer

Waren oder Effekten kaufen, n u r u m sie gewinnbringend weiterzuverkaufen, — Risiken dagegen geht man ein, um eine bestimmte volkswirtschaftlich nützliche Sache zu fördern oder ein Unternehmen zu verbessern, a u c h w e n n der geschäftliche Ausgang ungewiß ist. Wer solche Risiken eingeht, erleidet aber selbstverständlich auch ab und zu Verluste. Für die auf Friedenszeiten eingestellte Wirtschaftspolitik des Staates — in vollstem Gegensatz zu den Erfordernissen einer Kriegswirtschaft— ist es aber kennzeichnend, daß er die Übernahme von zunächst nicht genau übersehbaren Verlusten, die in der wirtschaftlichen Betätigung erlitten werden können, grundsätzlich ablehnt — er zahlt höchstens „Zuschüsse", die dann freilich auch in vollem Maße verausgabt werden müssen, weil ihre NichtVerausgabung meist noch größere Schwierigkeiten für die Buchführung des Staates bereitet, als die Bewilligung" des Zuschusses. Hinzu kam, daß die Erfahrungen, die der Staat beim Betreten von wirtschaftlichem Neuland gemacht hat, keineswegs immer günstig gewesen waren, wobei namentlich die Industrialisierungsversuche in der Danziger Gegend hervorzuheben sind. Infolgedessen konnte es dem Staat nicht unerwünscht sein, wenn die Privatwirtschaft bisweilen Wege ging, die nicht ganz risikofrei waren, ja, die keineswegs alle an sie geknüpften Hoffnungen erfüllten, und die vielleicht sogar im Widerspruch zu den offiziellen Anschauungen und Wünschen standen. Gelang das Experiment der Privatwirtschaft, so bedeutete das eine Vermehrung der wirtschaftlichen Gesamtleistungsfähigkeit, mißlang es r so war die Harmonie zwischen den Anschauungen der Regierung und denen der Wirtschaft durch die Macht der Tatsachen wieder hergestellt,, ohne daß die Regierung an Autorität eingebüßt hätte und nicht ohne daß die aus dem Mißerfolg gewonnenen Erfahrungen häufig recht fruchtbringend verwertet worden wären. Daß es dabei zu erheblichen Kapitalverlusten kommen konnte, barg keine allzu großen Gefahren in einer Wirtschaft, deren Erträge in dauerndem Wachstum begriffen waren und in der ein Ausgleich von Verlusten sich infolgedessen in kurzer Zeit zu vollziehen pflegte. Engere Verantwortungsbeziehungen zwischen Staat und Wirtschaft und der daraus folgende Zwang zur Zusammenarbeit hätte aber aller Voraussicht nach zu einer weitgehenden Annäherung zwischen Staats- und Wirtschaftsführung geführt, in deren Verlauf der Staat zu einer immer mehr ins Bewußtsein tretenden Führung gelangt und der Wirtschaft in ihrem Bereich trotzdem jene Selbständigkeit und Handlungsfreiheit geblieben wäre, die für eine dynamische Wirtschaft unerläßlich ist.

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Der K r i e g bedeutete eine völlige Umwälzung des bisherigen Verhältnisses zwischen Staat und Wirtschaft. Durch den Krieg wurde der Staat und sein Schutz zum Mittelpunkt der wirtschaftlichen wie der politischen Aufgabe. Daraus folgte nicht n u r eine im Verlaufe des Krieges sich immer mehr ausdehnende Umstellung der produzierenden Wirtschaft auf Kriegsbedürfnisse, sondern auch eine weitgehende Aufhebung der privaten Initiative in der Wirtschaft, die immer weitere Kreise zog und die gesamte Wirtschaft in ein Netz der planwirtschaftlichen Reglementierung und Bevormundung verstrickte, in dem von einer freien wirtschaftlichen Betätigung kaum mehr die Rede sein konnte. Es sind kaum abzusehende Verwüstungen, welche die ursprünglich nur für eine vorübergehende Notzeit gedachte Kriegswirtschaft in den Köpfen der Geschäftswelt dadurch für lange Zeit angerichtet hat, daß feste Einkaufs- und Verkaufspreise, die Freistellung von den Sorgen des Rohstoffeinkaufs und des Warenverkaufs und die vielgestaltigen Abnahme- und Garantieverpflichtungen des Staates die Risikobereitschaft weitgehend erstickt hatten. Aus der Zusammenarbeit der Wirtschaft mit den Behörden wurde sehr bald eine Einmischung in sämtliche Angelegenheiten der Wirtschaft, welche -wieder die Wirkung des für alle Zeiten gültigen Gesetzes erkennen ließ, daß das Eindringen der Bürokratie in einen Bezirk der Wirtschaft automatisch die Tendenz zum Übergriff auf andere Bezirke und zur Zurückdrängung der unternehmerischen Initiative auslöst. Es war eine wundervolle Zeit für die leidenschaftliche Spielart der Bürokratie, nämlich den trotz seines ehrwürdigen Alters ewig jungen Assessorismus, d. h. für den Glauben des ehemaligen Rechtsstudierenden an die Überlegenheit des formalen Rechts über das organisch Entstehende und Wachsende, wobei der Gerechtigkeit halber bemerkt werden muß, daß der verwaltungsmäßig tätige Kaufmann sich häufig die Sporen des Beamten dadurch verdienen zu müssen glaubte, daß er sich dem Fachbeamten in dem Suchen und Finden bürokratischer Schwierigkeiten noch überlegen zeigte. Es war unvermeidlich, daß während des Krieges, in dem sich übrigens die Banken große Verdienste um die Rohstoffversorgung der Wirtschaft erwarben, außer einer weitgehenden Umstellung und Abnutzung des Produktionsapparates sich eine völlige Entblößung der Wirtschaft von liquiden Mitteln, insbesondere also Vorräten aller Art, vollzog, während gleichzeitig der Geldumlauf eine erhebliche Steigerung erfuhr. In Gold (Dollarnotierungen) ausgedrückt, betrug der Umlauf an Reichsbanknoten:

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1913 I9H I9I5 I9l6 1917 1918

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2 593 4672 5534 6196 9174 11804

Die vergleichbaren Bilanzen deutscher Großbanken entwickelten sich in den Jahren 1913—1924 (umgerechnet auf Goldmark) wie folgt:

in Mill. G M

1. 1. 3 1 . 12. 3 1 . 12. 3 1 . 12. 3 1 . 12. 3 1 . 12. 3 1 . 12. 3 1 . 12. 1924 3 1 . 12. I9,3 i9!7 1 9 1 8 1 9 1 9 1920 I92I 1922 Goldm. 1924 Eröffn. I

I. A k t i v a 480 1. Kasse 2469 2. Wechsel 3. Reports u. Lom1228 bards 4. Warenvorschüsse 589 5. Debitoren 4777 6. Eigene Effekten. 348

1257 7464

876 7502

227 2162

1896 220 4780

1308 86

178 88 1121

115 1174

958

30

34

19

4288

58

3013 52 85 56

237

3354 162

289 2449 124

162 1298 150 116

67 236

134 51

10

20 81 607

234

IOIO

89

50 274 1174 82

1098

»336

3805

5 1

5 589 211

36 582 205

48 272 0

II. P a s s i v a 1. 2. 3. 4.

Kreditoren . . . . Akzepte Aktienkapital.. . Reserven

6825 1986 2023

15535 455 1687

12972 252 1061

4034 118 132

589

573

352

65

74 146

3

Diese Zahlen erhalten ihre eigentliche Bedeutung dadurch, daß die Kreditoren einen sehr labilen Charakter hatten, weil sie gewissermaßen nur darauf lauerten, sich in zum Teil nur aus dem Ausland erhältliche Waren umzuwandeln, während auf der andern Seite die deutsche Wirtschaft ihrer Auslandsguthaben völlig beraubt war. Dies zeigt der rasche Abstieg der Ziffern der Kreditoren von 15,5 Milliarden im Jahre 1917 auf 4 bzw. 3 bzw. 1 Milliarde in den Jahren nach dem Kriege mit besonderer Deutlichkeit. Eine Überwindung dieser schweren Störungsfaktoren setzte neben einer energischen und zielbewußten, sich von einer großen Zahl überlieferter Gedankengänge freimachenden Wirtschaftspolitik im Innern die Möglichkeit einer umfangreichen Betätigung im Außenhandel voraus. Der Ausbruch einer offenen Krisis, durch die auch das Bankwesen auf das Stärkste betroffen werden mußte, wäre unvermeidlich gewesen, wenn nicht in der Inflation die wahre Lage erneut verschleiert worden

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wäre. Die Folgen der Inflation und der Labilität der Kreditoren zeigten sich bei Aufstellung der Goldmarkbilanzen darin, daß sich das Eigenkapital der Großbanken von 1413 Mill. Goldmark Ende 1918 auf 800 Mill. Goldmark am 1. 1. 1924 und ihre Kreditoren gleichzeitig von 12972 Mill. auf 1336 Mill. Goldmark verminderten. D I E S C H E I N B L Ü T E U N T E R D E M Z U S T R O M D E R AUSL A N D S K R E D I T E 1924 BIS 1929 Durch die Inflation wurde die aus den geschilderten Verhältnissen folgende Widerstandsunfähigkeit der deutschen Wirtschaft unter Beweis gestellt. Sie führte zu einer Aufsaugung der am wenigsten krisenfesten und das Wesen der Inflation am wenigsten durchschauenden Unternehmen durch diejenigen, welche finanziell stärker waren und nicht aufhörten, in Gold bzw. Sachwerten zu rechnen. Die Wiederherstellung einer wertbeständigen Geldrechnung im J a h r e 1924 zeigte freilich, daß auch die Sachwertrechnung nicht stimmte, weil in ihr die Ertragsminderungen und die Kapitalschwäche Deutschlands nicht genügend berücksichtigt waren. Die Krise, die durch die Inflation zunächst verdeckt wurde, hätte schon damals eintreten müssen, wenn nicht in der Hereinnahme von Auslandsgeldern ein neues Mittel gefunden worden wäre, um die durch Krieg und Kriegsfolgen verursachten Lücken in der Ausrüstung der deutschen Wirtschaft mit Eigenkapital vorübergehend zu schließen. Daneben hatte aber die Ankurbelung der Wirtschaft mit Hilfe von Auslandskrediten und die Anteilnahme der Banken an diesen Bestrebungen der Wirtschaft, wie insbesondere der Verlauf des Kölner Bankiertages im J a h r e 1928 zeigte, noch eine weitere Bedeutung. Man glaubte nämlich, mit ihrer Hilfe die Befreiung der Wirtschaft von der Vormundschaft des Staates, die mit dem Einfluß politischer Strömungen immer mehr eine bewußte und gewollte geworden war, zu fördern. Es erschien als die dringlichste Aufgabe, eine n e u e V e r t e i l u n g d e r V e r a n t w o r t l i c h k e i t e n z w i s c h e n S t a a t u n d W i r t s c h a f t vorzunehmen und der Wirtschaft ihre volle unternehmerische Freiheit zurückzugeben. Dabei ging man davon aus, daß der beste Weg zur Erreichung dieses Zieles darin bestände, daß jeder Wirtschaftszweig sich so intensiv wie möglich b e t ä t i g t e , und glaubte nach der eingangs hervorgehobenen Grundanschauung von der selbsttätig sich wiederherstellenden Harmonie, daß eine eventuelle Überbetätigung sich von selbst durch die aus dem Wirtschaftsleben sich ergebenden Reaktionen

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regulieren würde und daß ernsthafte Bedenken hiergegen einem müden Pessimismus gleichzusetzen wären. Was das sachliche Ziel des Wiederaufbaus anlangt, so wird man nicht leugnen können, daß ohne die Hereinnahme eines Teiles der Auslandsgelder eine Wiederherstellung der Rentabilität der deutschen Wirtschaft und die Wiedererringung einer beachtenswerten Stellung im internationalen Handel nicht möglich gewesen wäre, und zwar deshalb, weil es sonst an den nötigen Ersatz- und Rohstoffen gefehlt hätte. Dagegen muß es als sehr fraglich erscheinen, ob man sich nicht hinsichtlich des Ausmaßes und der Dauerhaftigkeit der volkswirtschaftlichen Rentabilität allzu sehr in veralteten Gedankengängen bewegt, d. h. die Wirtschaft des Nachkriegsdeutschland der des Vorkriegsdeutschland allzu weitgehend gleichgesetzt hat. Es ist auffallend, wie lange dieses v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e R e n t a b i l i t ä t s p r o b l e m übersehen worden ist, obwohl sich offensichtlich die Voraussetzungen für die volkswirtschaftliche Rentabilität im Deutschland der Nachkriegszeit gegenüber der Vorkriegszeit völlig verschoben hatten. Wichtige Gebiete landwirtschaftlicher Erzeugung und wesentliche industrielle Rohstoffquellen waren verloren gegangen. Neue Industrieländer, die speziell für Deutschland einen starken Wettbewerb bedeuteten, waren erstanden und wichtige Abnehmer der •deutschen Ware aus der Weltwirtschaft ausgeschieden. Vor allem aber war die Stellung Deutschlands infolge seiner Versetzung aus der Kategorie der bisherigen Gläubigerländer in die der Schuldnerländer gegenüber der Vergangenheit eine völlig andere geworden. Eine solche Lage erfordert die Zusammenfassung aller nationalen Kräfte und die einheitliche Ausrichtung der gesammelten Kräfte auf •ein gemeinsames Ziel. Daß eine solche einheitliche Direktive, die selbstverständlich nur vom Staat hätte ausgehen können, nicht vorhanden war und daß der Staat, wenn eine solche einheitliche Direktive vorhanden gewesen wäre, infolge der durch die Nachwirkungen der Revolution bestehenden politischen Verhältnisse zu ihrer Durchsetzung nicht die Autorität oder die Macht gehabt hätte, war die Ursache, daß die Entwicklung von hier aus zum Zusammenbruch des Wirtschaftssystems führen mußte. So konnte es geschehen, daß der Staat die Gefahren des übermäßigen Hereinströmens der Auslandsmittel, mit denen die verkürzte deutsche Kapitaldecke zur Ermöglichung der erforderlichen Investitionen erweitert wurde, und die Fehler in der Verwendung •dieser Gelder zwar sah, j a , daß er durch seine Organe vor der hemmungslosen Hereinnahme solcher Gelder warnte, gleichzeitig aber die Devisen als willkommene Hilfe für den Transfer der politischen Tribut-

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Zahlungen begrüßte und die aus der Umwechslung der Devisen folgende Verflüssigung der Wirtschaft für die Aufrechterhaltung des sozialpolitischen und damit politischen Friedens einsetzte, und daß alle gegen die Auslandsverschuldung auftretenden Warner sogar Gefahr liefen, als Saboteure des sozialen Friedens angeprangert zu werden. Der entsprechende Vorgang spielte sich auch innerhalb der Privatwirtschaft ab, wo zwar die Hereinnahme der Auslandskredite kritisiert wurde, auf der anderen Seite aber die Geneigtheit, Kreditrestriktionen auf sich zu nehmen, nicht vorhanden war, und wo man zwar unter dem Überfluß des Angebotes an Auslandsgeld seufzte, den labilen Charakter dieser Gelder bei ihrer Verwendung für die Zwecke langfristiger Investitionen aber geflissentlich übersah. Der damalige Reichsbankpräsident Dr. S c h a c h t hat mit großem Nachdruck auf die Zusammenhänge hingewiesen, die zwischen dem Maß der Verschuldung der Volkswirtschaft und den Ertragsaussichten der Volkswirtschaft in ihrer Gesamtheit bestehen. Seine Warnrufe, daß man in einer Volkswirtschaft, ebenso wie in einer Hauswirtschaft nicht Schulden machen und gleichzeitig besser leben könne, ohne eines Tages vor unerfüllbaren Rückzahlungspflichten gegenüber dem Ausland zu stehen, wurden aber mit dem Hinweis auf die damals erfundene volkswirtschaftliche Auffassung zurückgewiesen, es brauchten sich nur die Räder zu drehen, dann würden Werte geschaffen, die auf der Aktivseite dem Schuldensaldo entgegenzustellen seien. Der volkswirtschaftliche Organismus lebt wie der Einzelbetrieb nach Gesetzen, die kein lebender Körper ungestraft verletzen kann: wo in einem Körper echte Lebenskräfte zur Bewältigung bestimmter Anstrengungen nicht vorhanden sind, müssen zunächst die entsprechenden Kräfte gesammelt werden, nicht aber können Stimulantien auf die Dauer diese Kräfte ersetzen, ohne daß der Zusammenbruch unvermeidbar ist. Auch der Kölner Bankiertag im Jahre 1928, der unter dem Zeichen der Erörterungen über die Auslandsverschuldung der deutschen Wirtschaft stand, ist sicher ein interessantes Dokument dafür, daß man damals in den Kreisen der Banken noch nicht hinreichend die für die Bankwirtschaft bestehende Verpflichtung erkannt hatte, die Wirtschaft im Ganzen als lebendigen Organismus ins Auge zu fassen und sich nicht auf Teilbetrachtungen zu beschränken. Diese Verpflichtung des Bankwesens ergibt sich daraus, daß das Bankwesen allen Teilen der Wirtschaft zur Verfügung steht und sein Schicksal von dem der übrigen Wirtschaft nicht unabhängig machen kann. Aus diesem Grunde schießen auch die Anklagen, die damals seitens

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des Bankwesens gegen das Vordringen des öffentlichen Sektors der Wirtschaft erhoben wurden, z. T . über das Ziel hinaus. Man ging in dem grundsätzlich richtigen Bestreben nach sachlicher und verantwortungsmäßiger Trennung der Bezirke der Wirtschaft und des Staates zu weit. Denn man wollte nicht sehen, daß infolge der durch den Krieg' verursachten Rückständigkeit und Erneuerungsbedürftigkeit der öffentlichen Einrichtungen automatisch eine Vergrößerung der wirtschaftlichen Betätigung des Staates zur Notwendigkeit geworden war, d. h. ein volkswirtschaftlicher Investitionsbedarf sich aufgestapelt hatte, bei dessen Behebung zwar keine kaufmännisch errechenbare Rentabilität der erforderlichen Aufwendungen, aber eine wesentliche und für den Wiederaufbau der Wirtschaft unerläßliche Verbesserung der Rentabilitätsvoraussetzungen der privaten Wirtschaft zu erwarten war. Das Hinweggleiten über diese volkswirtschaftlichen Gesichtspunkte bargebensolche Gefahren in sich wie der innere Widerspruch, der insofern in der damaligen Haltung der Wirtschaft gegenüber dem Staat lag, als man auf der einen Seite die Einmischung und Beteiligung des Staates weitgehend ablehnte, andererseits aber von der kriegsmäßigen Vorstellung, daß der Staat auch bei einer Wirtschaftskrise die ultima ratio sei, noch nicht sehr weit entfernt war; auf das Bankwesen angewandt: daß man zwar für die privatwirtschaftliche Richtigkeit des rein bankenmäßigen Handelns die Garantie übernehmen wollte, nicht aber für die volkswirtschaftliche Richtigkeit. KRISE UND WIEDERAUFBAU Die geschilderte Zeit ist gekennzeichnet durch ein Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft, bei dem beide Teile sich gegenseitig der Fehldispositionen beschuldigten, obwohl objektiv die Schuld an Zuständen und Ereignissen lag, an denen weder Staat noch Wirtschaft allein schuld waren, und denen beide nur durch sinnvolles Zusammenwirken hätten begegnen können. Auch über die Schuld an der B a n k k r i s e i m J a h r e 1931 sind lebhafte Diskussionen geführt worden, ohne daß es damals möglich gewesen wäre, zu entscheiden, was in jenen Vorgängen Schuld und was unentrinnbares Schicksal war. Jedenfalls haben alle Erörterungen über dieses Thema ergeben, daß es abwegig ist, den Staat o d e r die Wirtschaft für den Eintritt der Gründe verantwortlich zu machen, die den letzten Anstoß zur Krise gegeben haben. Die Krise wurde unvermeidlich, als das mit dem Rückgang des Inlands- und Auslandsabsatzes der deutschen Wirtschaft sinkende Vertrauen in die wirtschaftliche und

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politische Lage Deutschlands die Sicherheit der Kredite als gefährdet erscheinen ließ, und als diese Gefährdung der Sicherheit das Vertrauen und das weiter schwindende Vertrauen wiederum die Sicherheit beeinträchtigte, insbesondere, nachdem man voraussehen konnte, daß die viel gerühmten hohen Ausfuhrziffern in Wirklichkeit eine Entblößung Deutschlands von lebenswichtigen Vorräten bedeuten würden. Aber die tieferen Gründe für die kurzfristige Rückforderung der Auslandsgelder und das Zusammentreffen dieser Rückforderungsansprüche mit einer unzureichenden eigenen Kapitalkraft Deutschlands lagen — ganz abgesehen von dem de facto weltwirtschaftsfeindlichen und von politischen Sentiments und Ressentiments beherrschten Verhalten eines großen Teiles der ausländischen Geldgeber — im Fehlen einer einheitlichen wirtschaftspolitischen Direktive und in der mangelnden Autorität des Staates, übergeordneten staatspolitischen Rücksichten in der Wirtschaftspolitik Anerkennung zu verschaffen. Die ersten Voraussetzungen für die endgültige Überwindung der Krise mußten infolgedessen in der Beseitigung dieser tieferen Gründe der Krise gesehen werden. Deshalb bestand der entscheidende Schritt für die Wiederherstellung geordneter Verhältnisse, auch nachdem die Sanierung im technischen Sinne schon vorangegangen war, in der Herstellung der unumstrittenen A u t o r i t ä t d e s S t a a t e s durch die nationalsozialistische Regierung. Die Totalität der staatlichen Führung, die die nationalsozialistische Regierung zum ersten Grundsatz der Staatspolitik wie der Wirtschaftspolitik erhob, schließt in sich die Unterordnung des individuellen Wirtschaftszieles des Wirtschafters unter die vom Staat gesetzten politischen und wirtschaftlichen Ziele. Eine Einheitlichkeit der wirtschaftspolitischen Zielsetzung wäre aber damit allein nicht gewährleistet worden, wenn nicht gleichzeitig auch die Politik dem Willen einer übergeordneten Führung unterstellt und damit die Periode des parlamentarischen Neben- und Gegeneinanderregierens zum Abschluß gekommen wäre. Der Nationalsozialismus ging deshalb den einzigen Weg, der Rettung vor dem Untergang des Staates wie der Wirtschaft versprach, wenn er sich nicht in den Streit u m das beste Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft hineinbegab, sondern die rettende T a t allen langwierigen Erwägungen voranstellte. Der Staat konnte deshalb weder auf die im Automatismus des Krisenverlaufs voraussichtlich sich einstellende Kapitalbildung warten, um sie zur Konjunkturbelebung auszunutzen, noch die Wirtschaft eigene Wege gehen lassen, bis die private Initiative sich auf die Linie der staatlichen Zielsetzung eingespielt hatte, sondern mußte im Rahmen 8

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einer zentral geleiteten aktiven Konjunkturpolitik alle Kräfte einheitlich für ein gemeinsames Ziel einsetzen. Bei den großen Opfern, die dieser Kräfteeinsatz zur Überwindung der Krise der Allgemeinheit zumutete, lag es nahe, daß sich die Frage erhob, ob nicht bei der weitgehenden Schicksalsgemeinschaft zwischen Staat und Wirtschaft die verantwortlichen Funktionen des Kreditwesens in der Wirtschaft seine Übernahme in die Hände des Staates erforderlich machten. Diese Frage wurde zum Gegenstand einer von Dr. S c h a c h t veranlaßten Untersuchung über das Bankwesen im Jahre 1933/34 gemacht, deren Ergebnis das R e i c h s g e s e t z ü b e r das K r e d i t w e s e n v o m 5. D e z e m b e r 1 9 3 4 d a r s t e l l t . Durch dieses Gesetz werden unter grundsätzlicher Aufrechterhaltung des durch die Leistungen der Vergangenheit bewährten — nämlich des gemischten — Systems der Bankwirtschaft die privatwirtschaftlichen Gesichtspunkte, die für das Funktionieren des Kreditapparates unerläßlich sind, gleichberechtigt neben die Ansprüche der Gesamtheit auf eine der wirtschaftspolitischen Zielsetzung der Staats- und Wirtschaftsführung entsprechende Beaufsichtigung und Lenkung des Kreditwesens gestellt. Bei dieser Sachlage erscheint es, wie dies im Leben eines Volkes von Zeit zu Zeit der Fall ist, angemessen, eine das gesamte Leben der Nation umfassende Bilanz des Überkommenen und Überlieferten aufzustellen und auch anscheinend Feststehendes darauf zu prüfen, ob es sich wirklich auch jetzt noch bewährt und daher weiter aufrechterhalten werden kann und muß. Je länger eine solche bisweilen notwendige Bilanzbereinigung hinausgeschoben wird, je länger Werte, die keine Werte mehr sind, als Aktivposten weitergeführt werden, um so größer und schmerzhafter sind, wie die Geschichte zeigt, die Einschnitte, die vorgenommen werden müssen, um jene Scheinposten und abschreibungsbedürftigen Werte aus der nationalen Bilanz zu entfernen, die eine Gesundung des nationalen Lebens unmöglich machen. Eine solche Zeit stellt kategorisch die Frage, ob die Form auch dem Inhalt entspricht, ob die alten Schläuche noch für den jungen Wein passen. Sie verlangt daher eine gründliche Bereinigung der gesamten nationalen Bilanz von jenen Posten, die nicht dem Fortschritt dienstbar gemacht werden können, selbst wenn mit ihrer Beseitigung zunächst eine einschneidende Kapitalverminderung verbunden ist. U m so stärker ist die Verpflichtung, das abgeschriebene Kapital auf kürzestem Wege durch Neuaufbau, Neugestaltung und Opferbereitschaft zu ergänzen. I m folgenden kurz „Kredilgesetz" genannt.

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Dabei wird man sich über die gegenüber der Vergangenheit veränderte Stellung der Banken im Wirtschaftsleben klar werden müssen, insbesondere was ihre Bedeutung für die Herbeiführung oder die Beendigung einer Konjunktur anlangt. Wenn man davon ausgeht, daß Konjunktur „Kaufwille in Verbindung mit Kaufvermögen" bedeutet, so war das Bankwesen insofern früher einer der Träger der Konjunktur als das Kaufvermögen in sachlicher Hinsicht vor allem durch Bankguthaben repräsentiert wurde. Diese Bankguthaben bildeten das Fundament der Konjunktur. Sie kamen dadurch zustande, daß sich in jeder Krise die Produktionskräfte vermehren. Im Tiefpunkt der Depression nach der Krise 1891 sank der Produktionsgüterindex auf 33,8 (1892), die Krise des Jahres 1900 nahm trotz der Kürze der dazwischen liegenden Zeit schon von einem Produktionsgüterindex von 60 ihren Ausgang. Die Steigerung der Produktionskräfte fand jeweils ihren Niederschlag in den Bankdepositen und diese Verstärkung des Depositenbestandes führte in Verbindung mit der Möglichkeit der Kreditschöpfung im In- und Ausland auch dazu, daß die Banken Antreiber der Konjunktur wurden. Denn sie stellten, wenn die durch die Flüssigkeit des Kreditmarktes bedingten billigen Zinssätze zu einer erweiterten Kreditnachfrage führten, das Geld denen zur Verfügung, die einen größeren Kaufwillen als Kaufvermögen besaßen. Die Banken waren gleichzeitig die Konjunkturmesser, weil der Ablauf der Konjunktur sehr stark im Zusammenhang stand mit der Entwicklung der Bankbilanzen (vgl. S. 97 ff.). Dadurch waren sie auch zum Konjunkturbeobachter prädestiniert, insofern sie aus den Vorgängen innerhalb ihres Geschäftes einen besonders tiefen Einblick in den Konjunkturablaufnehmen konnten, und sie waren endlich ein Konjunkturwerkzeug, da ja ein großer Teil der für die Konjunktur bedeutsamen Geschäfte durch die Banken technisch abgewickelt wurde. In einer Zeit, in der die Konjunktur nicht aus in der Krise gebildeten Bankguthaben heraus entwickelt werden kann, sondern zum Konjunkturantrieb auf die natürlichen Grundlagen der Wirtschaft, nämlich Arbeitskräfte und Rohstoffe, zurückgegriffen werden muß, und in der das Kaufvermögen weder im Inland noch im Ausland durch Kreditschöpfung vermehrt werden kann, hört die Eigenschaft der Banken als Konjunkturträger, Konjunkturantreiber und Konjunkturmesser auf, eine ausschlaggebende Rolle für die Konjunkturentwicklung zu spielen. Was bleibt, ist die Fähigkeit zur Konjunkturbeobachtung, es bleibt aber ferner auch die Eigenschaft der Banken als Konjunkturwerkzeug, weil ja nach wie vor die technische Abwicklung der Geschäfte über die Banken geht. Natürlich bleiben die Banken auch — wenn auch in

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beschränktem Umfang — Konjunkturantreiber, da sie in erster Linie ihre Kredite konjunkturbedingt, d. h. denen geben werden, die .für die Förderung dieser auf Einsatz der Arbeitskräfte und Rohstoffe beruhenden Konjunktur besonders in Betracht kommen. Nichts wäre verkehrter, als anzunehmen, daß die Banken deshalb eine nur handwerksmäßige Tätigkeit ausübten, denn gerade in Zeiten der Kapitalknappheit ist die Entscheidung über die Kapitalverteilung um so schwieriger und verantwortungsvoller und erfordert einen besonders hohen Grad an Ubersicht über die Entwicklung der Volkswirtschaft. Aus diesem Sachverhalt ergeben sich die verschiedenen Verantwortungsbereiche, denen das Bankwesen im Neuaufbau der Volkswirtschaft gegenübersteht. Sie trennen sich in einen volkswirtschaftlichen Bereich, in dem die Frage der R e n t a b i l i t ä t , der künftigen T ä t i g k e i t a u f d e m K a p i t a l m a r k t und der A u s l a n d s b e t ä t i g u n g eingeschlossen sind, einen o r g a n i s a t o r i s c h e n B e r e i c h , der den nach dem Höchstgrad der Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit sich ergebenden inneren Aufbau der Kreditinstitute und die Erziehung des Nachwuchses betrifft, und schließlich einen öffentlichen Bereich, innerhalb dessen d a s V e r h ä l t n i s d e r K r e d i t i n s t i t u t e u n t e r e i n a n d e r und die P u b l i z i t ä t s p f l i c h t e n d e s K r e d i t g e w e r b e s in erster Linie interessieren. DER VOLKSWIRTSCHAFTLICHE

VERANTWORTUNGS-

BEREICH I. R e n t a b i l i t ä t Aus Amerika hat man auch in Europa die Gewohnheit übernommen, alle Lebensgüter in Dollar umzurechnen. Der Mensch entgeht ebensowenig wie ein Tizian oder die St. Patrick-Kathedrale oder die Gesundheit eines Petroleumfürsten dem Schicksal „kapitalisiert" zu werden. Dies ist selbstverständlich auch für wirtschaftliche Investitionen aller Art der Fall, wobei dann zu der Feststellung, daß eine Investition als unnütz anzusehen sei, wenn sie nicht sofort Erträge in klingender Münze bringt, nur ein kurzer Schritt ist. Damit machte man den Begriff der Barrentabilität zur Beherrscherin des Wirtschaftslebens und man wird anerkennen müssen, daß damit ein Begriff auf den Thron erhoben wurde, der für die Beherrschung der Gesamtwirtschaft nicht geeignet ist, denn es wird stets Kapitalinvestitionen geben, bei denen weder die Substanzbilanz einwandfrei in Geld in Erscheinung treten kann, noch eine in klingender Münze sich ausdrückende Gewinn- und Verlustrechnung möglich ist. Dies trifft zu einem er-

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heblichen Teil für Investitionen innerhalb des öffentlich-wirtschaftlichen Sektors zu, die vielfach keinen unmittelbaren Ertrag abwerfen, aber häufig die Voraussetzung für ein ertragreiches Arbeiten der übrigen Wirtschaft bilden; es gilt dies aber — wenn auch in anderem Sinn— ebenfalls für die Landwirtschaft und Industrie, da sich vielfach Verbesserungen der Produktionsunterlagen einerseits und die Apparaturabnutzung oder der Substanzverbrauch andererseits nur abschätzungsweise und mit dem Vorbehalt der Konjunktur- und Strukturstabilität berechnen lassen. Natürlich bringt die Möglichkeit, die Erträge exakt in Geld auszurechnen, große Vorteile mit sich (u. a. auch für den Steuerfiskus) , aber kein vernünftiger Mensch wird deshalb auf die abwegige Idee verfallen, Investitionen, welche für das Funktionieren der Wirtschaft unerläßlich sind, deswegen abzulehnen, weil ihr Ertrag in Geld nicht ausdrückbar oder errechenbar ist. Aber man darf auch nicht in den entgegengesetzten Fehler verfallen und sich den Beweis der Notwendigkeit einer Investition dadurch erleichtern, daß man eine Ertragsberechnung als überflüssig von vornherein ablehnt. Auch bei Investitionen, die niemals einen Ertrag bringen, aber aus politischen, sozialen oder wirtschaftspolitischen Gründen notwendig sind, wird es zweckmäßig sein, festzustellen, daß die Investition vorgenommen werden muß, obwohl mit einem Ertrag nicht zu rechnen ist. Es kann dahin gestellt bleiben, ob die Gebiete der Wirtschaft, welche ohne den Begriff der Barrentabilität auszukommen vermögen, zahlenmäßig umfassender sind als die anderen. Auf jeden Fall gibt es in der Privatwirtschaft große Gebiete, auf denen ein Mangel an Ertrag sichere Rückschlüsse entweder auf Mängel des einzelnen Unternehmens oder der Wirtschaft im Ganzen zuläßt, wie es endlich Unternehmungen gibt, bei denen ein Unterlassen der Geldrechnung schon deswegen zur Absurdität führen würde, weil ihre Ware das Geld ist, bei dem also in ihrer Bilanz und Rechnung immer das Geld dem Gelde ohne den Umweg über Waren oder Investitionen irgendwelcher Art gegenübersteht. Die Gläubiger einer Bank, die von ihren i ooo ooo M. Kreditoren 200 000 M. in später nicht realisierbare Aktiven hereinsteckt, können bei eintretenden Zahlungsstockungen nicht damit beruhigt werden, daß die restlichen 800 000 M. Debitoren dafür innerlich um so wertvoller seien. Für die Bank bleiben sie stets 800 000 M., mag der Wert des durch den Schuldner Geschaffenen noch so hoch sein, während eine schlechte Anlage der 800 000 M. durch den Schuldner allerdings wahrscheinlich die Bank und die Gläubiger der Bank gemeinsam treffen würde. Gleichwohl gibt es auch in den Bankbilanzen einige Posten, die sich

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der exakten Berechnung entziehen. Zu ihnen gehören bei Aufstellung der Aktiven und Passiven der „good will" — der freilich von der geldlichen Ertragsfähigkeit nicht getrennt werden kann —, die Bewertung von Dauerbeteiligungen, großer Teile des Effektenbesitzes und langfristiger Forderungen, der Währungsforderungen und -Verbindlichkeiten. Hinter der Gewinn- und Verlustrechnung können sich Gewinn und Verlust aus noch nicht endgültig abgewickelten Geschäften verbergen, darüber hinaus kann eine starke Unsicherheit in sie hineingetragen werden durch nationale und internationale Währungsschwankungen. Indes ändert sich dadurch nichts an der Tatsache, daß die Vertrauenswürdigkeit und damit Lebensfähigkeit einer Bank davon abhängt, ob die Geldsumme der realisierbaren Aktiven diejenigen der Passivseite einschließlich des Kapitals deckt und ob Überschüsse vorhanden und in barem Gelde zur Verfügung stehen. Mit Hoffnungen auf Substanzverbesserungen pflegen sich die Einleger nicht zufrieden zu geben. Daraus ergibt sich, daß die Banken für die Erfüllung solcher Aufgaben nicht in Betracht kommen, die zwar volkswirtschaftlich oder staatspolitisch, kulturell oder wissenschaftlich bedeutsam sind, aber einen ausreichenden Erfolg nicht bringen. Ebensowenig wie man zweckmäßigerweise mittels eines Kraftwagenmotors abwechselnd den Wagen und eine Webmaschine in Betrieb hält, ebensowenig eignen sich die Banken für die Finanzierung ertragloser Investitionen. Hierfür können nur Institute in Frage kommen, die mit fremden Mitteln nicht arbeiten und daher weder auf Erträge noch auf die Aufstellung einer exakten Bilanz angewiesen sind, und denen Mittel zufließen, bei denen der Geber nicht auf Rückgabe rechnet. Wenn die Banken anfangen, von der Ertragsrechnung abzuweichen, sind für sie Grenzen überhaupt nicht mehr gegeben und damit ist ihr Zusammenbruch sicher — es sei denn, daß sie für derartige Zwecke Mittel verwenden, die gewissermaßen außerhalb ihrer Bilanz stehen, und deren Erträge auch für ihre Gewinn- und Verlustrechnung gleichgültig sind. Wenn, wie hervorgehoben wurde, vor dem Kriege die Banken es sich leisten konnten — und diese Leistung als ein officium nobile ansahen —, nämlich Kapitalien auch in Geschäfte, die eines experimentellen Charakters nicht entbehrten, zu stecken und der Verwirklichung neuer Ideen technischer und organisatorischer Art im In- und Ausland ihre Unterstützung zu leihen, so konnten sie das tun, weil diese Transaktionen bei einem Erfolg einen großen privat- und volkswirtschaftlichen Nutzen erbrachten und weil andererseits ein Mißerfolg die eigentliche Bilanz nicht berührte und im normalen Geschäftsgang

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rasch verschmerzt werden konnte. Dies setzt aber eine Beschaffenheit der Bankbilanzen voraus, wie wir sie vor dem Kriege kannten, und es wäre gefährlich, hieraus auf anders gelagerte Verhältnisse die gleichen Folgerungen zu ziehen. Man wird vielmehr gegenüber der Klage, daß die Banken sich volkswirtschaftlich wichtigen Aufgaben mit der Begründung entzögen, daß eine hinreichende Rentabilität und Liquidität nicht gewährleistet sei, stets die Frage stellen müssen, ob dieser Vorwurf schwerer wiegt als der Vorwurf der Gefährdung der Zahlungsfähigkeit. Aber nicht nur hinsichtlich der grundsätzlichen Frage, wie weit das Rentabilitätsprinzip das Bankgewerbe beherrscht, sondern auch bezüglich des Problems der t a t s ä c h l i c h e n Rentabilität haben sich die Ansichten und Zustände im Vergleich zu früher in vieler Hinsicht geändert. In der als erste Phase der Entwicklung bezeichneten Periode der Banktätigkeit war die Rentabilität des eigentlichen damals, wie bereits gesagt, häufig mit einem anderen Erwerbsunternehmen verbundenen Bankgeschäftes zu einem erheblichen Teil von dem Geldwechsel und daneben von dem Erfolg einzelner Finanzierungsgeschäfte, die keineswegs eigentliche Bankiergeschäfte im heutigen Sinne zu sein brauchten, abhängig. Das, was man heute als „Sondergewinn" bezeichnen würde, wurde damals als der normale Geschäftsgewinn betrachtet. Der Betriebsüberschuß bestand also vor allem aus Provisionen für Kapitalbeschaffung, Entgelten für Dienstleistungen, Gewinnen aus Wechsel- und Arbitragegeschäften und aus gelegentlichen Gründergewinnen. Im weiteren Verlauf der Entwicklung zeigen die Einnahmen, die nicht auf dem Kreditgeschäft und dem Zahlungsverkehr beruhen, eine im Verhältnis zum Gesamtgewinn abnehmende Tendenz. Ist doch z. B. die Höchstziffer der Gewinne auf Effekten, die im Gründerjahre 1871 von der Bank für Handel und Industrie erreicht wurde und die damals 27,6% des Gesamtbruttogewinns ausmachte, bis zum Ende des Jahrhunderts — spätere Zahlenangaben sind überhaupt nicht vergleichbar — nie wieder erreicht worden. Sie betrugen z. B. in dem Jahrfünft von 1891—95 8,6 und in dem Zeitraum von 1896 bis 1900 nur noch 4,5% durchschnittlich 1 ). Demgegenüber läßt sich bei allen Gewinnen aus Gemeinschaftsgeschäften und Finanzoperationen, die zwar sehr konjunkturabhängig, aber doch nicht in demselben Maße anormale Gewinne sind wie die Gewinne aus dem Effektengeschäft, keine so deutliche Tendenz feststellen. Sie betrugen beispielsweise 1871 27,8% des Gesamtgewinns, im Durchschnitt von 1891—95 13,0 1

) Zahlenangaben aus: Bosenick, Neudeutsche gemischte Bankwirtschaft, ein Versuch zur Grundlegung des Bankwesens (München und Berlin 1912).

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und von 1896—1900 19,1%. Die meisten Banken haben die Effektenund Konsortialgeschäfte wegen ihres engen Zusammenhanges nicht getrennt ausgewiesen, doch ist auch aus den Ausweisen der Deutschen Bank die rückläufige Tendenz des Gewinnanteils des Effektengeschäfts, die auch durch die Steigerung des Anteils des Konsortialgeschäfts nicht ausgeglichen wird, seit der Mitte der achtziger Jahre bis in die Vorkriegszeit ersichtlich. So betrugen z. B. bei der Deutschen Bank von 1886 bis 1890 die Gewinne aus dem Effektengeschäft 16,1, aus Konsortialgeschäften 5,6% des Gesamtgewinns, während die Zeit von 1906 bis 1910 die entsprechenden Ziffern 4 und 1 1 % ausmachten. Entgegen den abnehmenden Erträgen des Effektengeschäftes brachte das wachsende Kreditgeschäft unter Ausnutzung der Zinsspanne zwischen Kreditoren und Debitoren bzw. Wechselbeständen eine zuverlässige Verdienstmöglichkeit mit sich, deren Größe freilich bei den einzelnen Banken relativ und absolut unterschiedlich war. So sind z . B . bei der Bank für Handel und Industrie die Anteile der Zinsen und Provisionen für Kreditgewährung, Kassenumsätze und dergl., die in dem Jahrfünft von 1871 bis 75 durchschnittlich 43,1 bzw. 9,1, zusammen also 52,2% betragen hatten, bis zum letzten Jahrfünft des vergangenen Jahrhunderts auf 52,0 bzw. 13,7, zusammen also 65,7 = rund 2/3 aller Einnähmen gestiegen. Diese Entwicklung hat sich im Durchschnitt aller Banken bis zum Kriege fortgesetzt, so daß die übrigen Gewinne, insbesondere die aus Kursschwankungen resultierenden, immer mehr in den Hintergrund traten, und nichts ist verkehrter als die Annahme, die Banken seien an Kurs- und Preisschwankungen besonders interessiert. Die Banken sind vielmehr gegenteilig interessiert, weil diese Schwankungen wesentlich dazu beitragen können, die Zahlungsfähigkeit der Bankschuldner, die doch das Rückgrat, des heutigen Bankgeschäfts bilden, zu gefährden. A u f die Ausnutzung solcher Schwankungen brauchten die Banken früher um so weniger Wert zu legen, als vor dem Kriege, wenn nicht allzu große Fehler bei den Aktivgeschäften gemacht und die Unkosten sorgfältig kontrolliert wurden, aus der Zinsspanne nicht nur ein im Verhältnis zum verantwortlichen Kapital angemessener Betriebsgewinn erzielt, sondern auch Reserven gebildet werden konnten. Solche Reserven entstanden bei den Spitzeninstituten naturgemäß in erheblichem Umfange, und es war das auch notwendig, weil nur durch das Reservenpolster jene Krisenfestigkeit gewährleistet wurde, die bei den besonderen Aufgaben des deutschen Bankwesens unentbehrlich war, und die Möglichkeit geschaffen wurde, später durch den Kapitalmarkt abzulösende Zwischenfinanzierungen vorzunehmen.

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Bei der rasch vorwärts drängenden Entwicklung der deutschen Wirtschaft waren solche Zwischenfinanzierungen von langfristigen Investitionen — d. h. die bankmäßige Liquidität beeinträchtigende und "unter Umständen auch nicht ganz risikofreie Kreditgewährungen — unerläßlich. Die Gründe, die in der letzten Entwicklungsperiode einen weitgehenden U m s c h w u n g auf diesem Gebiete herbeigeführt haben, sind hinreichend bekannt. Sie lassen sich dahin zusammenfassen, daß der ungeheure Verlust an Kapital, vor allem aber an beweglichem Kapital, der im Verfolg des Krieges eingetreten war, sich in erster Linie bei den Banken auswirken mußte. Was der Krieg übrig gelassen hatte, nahm die Inflation fast gänzlich fort, und der mit Hilfe der Auslandskredite durchgeführte Wiederaufbau konnte einer Weltkrise wie der 1929 beginnenden nicht nur nicht standhalten, sondern der mit dieser Krise verbundene Erdrutsch brachte die Fundamente des Bankwesens in ein gefährliches Schwanken. Von drei Seiten zugleich wurden die Rentabilitätsvoraussetzungen, •die für jedes Gewerbe Geltung haben, im Bankwesen beeinträchtigt. Der U m f a n g des Geschäfts schrumpfte infolge des Kreditorenschwundes und der eingetretenen Kapitalverluste auf einen Bruchteil zusammen, ohne daß die U n k o s t e n zurückgingen: die R e s e r v e n wurden dadurch dezimiert, gleichzeitig aber nahmen die R i s i k e n zu. Die Einschrumpfung des Geschäfts ergab sich zwangsläufig aus dem Rückgang der für die Kreditgewährung zur Verfügung stehenden Mittel und dem daraus folgenden Zwang, bei der Kreditverteilung so vorsichtig wie möglich zu sein. Dabei muß berücksichtigt werden, wie viel stärker bei dem in Deutschland herrschenden Verhältnis zwischen Depositenstand und dem Umfang des Zahlungsverkehrs die Depositen durch den Zahlungsverkehr in Anspruch genommen werden als etwa in England. Zwei Zahlen verdeutlichen das: D i e 10 e n g l i s c h e n C l e a r i n g - B a n k e n h a t t e n E n d e J u n i 1936 e i n e n D e p o s i t e n s t a n d von r u n d 25 M i l l i a r d e n RM., d i e B e r l i n e r G r o ß b a n k e n w i e s e n zum g l e i c h e n Z e i t p u n k t e i n e n D e p o s i t e n b e s t a n d v o n r u n d 6 M i l l i a r d e n R M . aus. Selbst angenommen, daß der Zahlungsverkehr in England größer ist als in Deutschland, so bedarf es doch keiner näheren Darlegung, ein wieviel größerer Teil der Depositen sich im englischen Bankgeschäft in Ruhe befindet, also mit weniger Unkosten belastet ist, als es bei den deutschen Kreditinstituten der Fall ist. Diese Entwicklung steht in Verbindung mit einer V e r r i n g e r u n g d e r G e w i n n a u s s i c h t e n des B a n k w e s e n s v o n d e r E i n n a h m e n -

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s e i t e h e r , wobei nur hingewiesen zu werden braucht auf das Aufhören und die starke Einschränkung des Devisen- und Börsengeschäftes. Für diesen Ausfall im regulären Geschäft einen Ausgleich in Sondergewinnen nach der alten Methode zu finden, war bei dem Fehlen solcher Geschäfte auch für den besten Bankleiter mit der oft zitierten Initiative der „Bankpioniere des 19. Jahrhunderts" aussichtslos. Auch heute noch wird bisweilen darüber geklagt, und zwar in allen Kreisen des Bankgewerbes — seitens der Gefolgschaft ebenso wie seitens der Betriebsführung —, daß die Banken nicht genug „Geschäfte" machten und daß das Minus an Geschäften ein Beweis für die Notwendigkeit einer Bluterneuerung innerhalb der Bankführung sei. Dabei vergißt m a n zuweilen, daß das Bankgewerbe, soweit es den Warenumsatz und -absatz finanziert, also als Hilfsgewerbe für Industrie und Handel tätig ist, nur d i e Geschäfte zu machen hat, welche zur Bewältigung des Warenumsatzes unbedingt notwendig sind. Man kann keine Devisenarbitrage-Geschäfte machen, wenn es keinen normalen Außenhandel gibt, es sei denn, daß man die Devisengeschäfte der Inflationszeit f ü r vorbildlich hält. Zum zweiten aber übersieht man, daß die Geschäfte,, welche früher das Staunen des Publikums, die Bewunderung der Presse und selbst bei den Behörden eine respektvolle Haltung hervorriefen, zumeist Geschäfte waren, die entweder Überleitungen von Geldvermögen auf den Kapitalmarkt oder teils überflüssige, teils nützliche, häufig sicher auch notwendige Umlagerungen innerhalb des Kapitalmarktes zum Gegenstand hatten. Keiner der Kritiker vermag leider das Rezept zu verraten, wie bei der derzeitigen Knappheit an Mitteln einerseits und der weitgehenden Reservierung des Kapitalmarktes für die Zwecke des Staates und der damit verbundenen Zurückdrängung der privaten Initiative auf dem Kapitalmarkt andererseits ein solches Plus an Geschäften zustande kommen soll, ganz abgesehen davon, d a ß ihr z. T. wenig erfreulicher Ausgang zur Nacheiferung nicht anreizt. Auch von der Seite der U n k o s t e n aus betrachtet waren nach der Krise die Voraussetzungen für eine normale Rentabilität denkbar u n günstig. Zunächst hat sich die aus der Vorkriegszeit mit ihren ganz anderen Verhältnissen übernommene Übung, einen Teil der Bankleistungen dem Publikum ohne Gegenleistung zur Verfügung zu stellen, zu einer übermäßigen Belastung des Bankwesens ausgestaltet. Die Entwicklung des Bankwesens hat es mit sich gebracht, daß nicht für jede einzelne Leistung der Bank eine Gegenleistung des Begünstigten verlangt wurde, was die Banken sich auch vielleicht leisten konnten, solange Erträgnisse aus anderen lohnenden Geschäften, wie insbesondere dem Effekten- und Devisengeschäft, zur Verfügung standen.

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Das Effektengeschäft hat sich aber ebenfalls inzwischen in ein Zuschußgeschäft verwandelt, und aus dem Devisengeschäft ist, insbesondere nach Einführung der Devisenbewirtschaftung für die Banken eine erhebliche Kostenlast statt eines Ertrages entstanden. Hinzu kommt, daß der Mitarbeiterstab der Banken, der in der Inflation eine unverhältnismäßige Vermehrung durch Angestellte ohne bankmäßige Vorbildung gefunden hatte, nach der Inflation zahlenmäßig überhöht war, ohne daß die Leistungshöhe der Vorkriegszeit erwartet werden konnte, und daß dieses Mißverhältnis, wenn man soziale Härten vermeiden wollte, nur sehr allmählich wieder ausgeglichen werden konnte. Wer nach Verbesserung der Organisation ruft, muß sich klar darüber sein, daß im Bankgewerbe Organisationsverbesserungen im wesentlichen auf Arbeitsersparnis hinauslaufen. Dies ist auch bei Prüfung der Frage zu berücksichtigen, ob in technischer Hinsicht, einschließlich der Kontrollen, bereits das Maximum an Zweckmäßigkeit und Einfachheit erzielt worden ist, ob insbesondere die im Vergleich zu anderen Ländern festzustellende Präponderanz des Überweisungsverkehrs vor dem Scheckverkehr gerechtfertigt ist und ob nicht auf dem Gebiete des Überweisungsverkehrs ungenutzte Verbesserungsmöglichkeiten vorliegen. Es spricht manches dafür, d a ß mit der Durchführung von Verbesserungen auf diesem Gebiet noch erhebliche Ersparnisse erzielt werden können, wozu es freilich des Einverständnisses und der Mitwirkung der Reichsbank und des Postscheckamtes und guter Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Kreditinstituten bzw. Gruppen von Kreditinstituten bedarf. Die unausbleibliche F o l g e d e r u n z u r e i c h e n d e n R e n t a b i l i t ä t ist der Mangel an den für die ordnungsmäßige Erfüllung der Aufgaben des Bankwesens unerläßlichen Reserven, was u m so mehr beachtet werden muß, als einer Erhöhung der Eigenkapitalien zur Zeit große Schwierigkeiten entgegenstehen — ganz abgesehen davon, daß die Unterbringung von Bankaktien im Publikum in kapitalknappen Zeiten sehr leicht zu empfindlichen Rückschlägen führen kann. Ebenso aber wie ein Mensch nur dann als voll gesund anzusprechen ist, wenn ihm ausreichende Kraftreserven für anormale Beanspruchungen des Organismus zur Verfügung stehen, so kann auch ein wirtschaftliches Unternehmen nur dann als gesund und als ein wertvolles Glied der Volkswirtschaft angesehen werden, wenn es Kraftreserven auch für außergewöhnliche Umstände besitzt. Es muß deshalb daran festgehalten werden, daß von einem wirklichen Geschäftsgewinn erst gesprochen werden kann, wenn den latenten Risiken hinreichende Reserven gegenüberstehen. Daraus ergibt sich auch, daß die Bildung

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der stillen Reserven in der Gewinn- und Verlustrechnung nicht zum Ausdruck zu kommen braucht. Selbstverständlich kann es sich dabei nicht darum handeln, dem Staat oder den von ihm bestellten Organen, insbesondere also dem Reichskommissar oder dem Steuerfiskus etwas zu verheimlichen, sondern lediglich um die Frage, ob es den Ansprüchen, welche die Öffentlichkeit an die Bilanzwahrheit mit Recht stellt, widerspricht, wenn die zur Reservenbildung gemachten Rückstellungen nicht in der Bilanz ausgewiesen werden. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß das Geschäftsjahr, über welches die Bilanz Rechenschaft ablegt, vielfach einen keineswegs als normal anzusprechenden und in sich abgeschlossenen Zeitabschnitt aus dem Leben des Unternehmens bildet, daß ein großer Teil der Geschäfte im Augenblick der Bilanzaufstellung noch unabgewickelt ist und daß auch für das Bankgeschäft das Wort gilt, daß man den Tag nicht vor dem Abend loben soll. Wenn die Banken die Notwendigkeit des Vorhandenseins von Reserven stark betonen, so tun sie es nicht um ihrer selbst willen oder in Erinnerung an die früheren Zeiten, sondern weil, wie sich gezeigt hat, mangelnde Krisenfestigkeit des Bankwesens zu einer weitgehenden Schädigung der gesamten Volkswirtschaft führen kann. Eine Zeit, in der der Wiederaufbau einer durch die Krise ihrer gesunden Kapitalgrundlage beraubten Wirtschaft das Bankwesen vor ungewöhnliche Finanzierungsprobleme stellt, bringt selbstverständlich auch Risiken mit sich, auf die sich das Bankwesen — in ähnlicher Weise wie in der Zeit des Aufbaues der Industriewirtschaft —• unter dem Gesichtspunkt einzurichten hat, daß es sich den von staatspolitischen Gründen diktierten wirtschaftspolitischen Aufgaben nicht nur nicht verschließen darf, sondern auch eine große Verantwortung für die Förderung dieser Aufgaben mitträgt. Andererseits aber trägt das Bankwesen auch die Verantwortung dafür, daß die von ihm übernommenen Risiken mit seiner Kapital- und Reservenausrüstung in Einklang stehen. Deshalb erfüllt das Bankwesen im Streben nach vernünftigen Rentabilitätsgrundlagen, mit denen es allein die Auffüllung seiner Reserven sicherstellen kann, eine volkswirtschaftliche Pflicht gegenüber der A l l g e m e i n h e i t , weil beim Fehlen ausreichender Reserven von den bei rückläufiger Konjunktur unvermeidlichen Verlusten volkswirtschaftlicher Werte über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinaus immer die A l l g e m e i n h e i t betroffen wird. II. T ä t i g k e i t auf d e m K a p i t a l m a r k t Das gemischte Banksystem, das es mit sich bringt, daß die deutschen Banken sich mit den Geschäften sowohl des Waren- als auch des Kapitalumsatzes befassen, ist von jeher — namentlich auch im Aus-

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lande — der Gegenstand vieler Angriffe und Bedenken gewesen. Es kann selbstverständlich darüber gestritten werden, ob die Betätigung auf dem Kapitalmarkt angesichts der daraus für die Liquidität der Banken resultierenden Gefahren vertretbar ist. Tatsache ist, daß ein Ersatz für die Banken in dieser Hinsicht nicht vorhanden wäre und daß die bisherige Tätigkeit der Banken auf diesem Gebiet für den Aufbau der Industrie gar nicht hätte entbehrt werden können. Gleichwohl wird man sich darüber klar sein müssen, daß auch auf diesem Gebiete sich wesentliche Änderungen vollzogen haben, die teils als Reaktionserscheinungen gegen frühere Ausschreitungen zu werten sind, teils aus der Änderung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft folgen. Was das erste anlangt, so kann rückblickend kaum ein Zweifel darüber sein, daß in manchen, zeitweise für das Bankwesen tonangebenden Kreisen die Finanzierung des Kapitalmarktes und die damit zusammenhängenden Geschäfte immer mehr in den Vordergrund traten, wobei geschäftlicher Übereifer und eine Verkennung der Funktionen der Bankleitung dazu beigetragen haben, daß das Geschäftemachen und die daraus resultierenden Agiogewinne höher gewertet wurden als die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit der Geschäfte selbst. Aber auch da, wo auf den ersten Blick ein erstrebenswertes wirtschaftliches Ziel vorzuliegen schien, wie etwa bei einigen der großen Fusionen, ergab sich nicht selten, daß es schon deswegen nicht erreicht werden konnte, weil die hierfür benötigten Persönlichkeiten nicht vorhanden waren. Diese Auffassung von der überragenden Wichtigkeit der Kapitalmarktgeschäfte kann sehr leicht zu einer Vernachlässigung der eigentlichen Aufgabe der Banken, also der Finanzierung des Warenumlaufes, führen. Selbstverständlich ist auch an der Finanzierung des Warenumschlages schon viel Geld verloren worden; es ist auch zuzugeben, daß Warenumschlag und Warenerzeugung nicht immer scharf getrennt werden können, und daß daher eine scharfe Scheidung zwischen Waren- und Investitionskrediten nicht existiert — selbst in den Ländern, in denen das gemischte Banksystem im Prinzip abgelehnt wird. Das besagt aber nur, daß es in der Wirtschaft keine Risikofreiheit gibt und daß alle wirtschaftlichen Vorgänge irgendwie zusammenhängen, es ändert aber nichts an der Tatsache, daß ein Übermaß an Kapitalgeschäften die Krisenfestigkeit einer Bank in ganz besonderem Maße schwächt, weil es im Falle einer Krise, die regelmäßig von einem Versagen der Börse begleitet sein wird, keine Ausweichmöglichkeiten gibt, vor allem auch, weil das sichtbare Scheitern solcher Finanzierungen — und für diese Sichtbarkeit wird schon immer von den verschiedensten Seiten gesorgt —starkes Mißtrauen im Publikum hervorruft. Ferner ist noch zu berück-

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sichtigen, daß die hohen Gewinne, welche derartige Finanzierungsgeschäfte versprechen, die im normalen Kreditgeschäft zu erzielenden Gewinne leicht als quantité négligable erscheinen lassen und damit zu einer ungenügenden Pflege dieses Geschäftszweiges führen können. Sehr häufig hat sich auch gezeigt, daß die Börsenoperationen immer mehr zum Selbstzweck wurden, daß die Börse aus einem gewissermaßen den Gang der Wirtschaft widerspiegelnden und nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten orientierten Markt zu einem Hilfsmittel für Finanztransaktionen riesigsten Ausmaßes wurde, und daß bei Vorhandensein starker Persönlichkeiten die Börse so unter ihren Einfluß geriet, daß ihre wirtschaftsregelnde Funktion schließlich völlig aussetzte. Dies bezieht sich keineswegs nur auf Banken; es ist bekannt, daß große Industriegesellschaften die Deckung ihres Finanzbedarfes durch Hochtreiben der Kurse ihrer eigenen Aktien zu erreichen versuchten und dadurch unmittelbar in die Spekulation hineingezogen wurden. Zur Frage des subjektiven Verschuldens für die Krise 1931 wurde bereits hervorgehoben, daß die Kapitalnot Deutschlands eine beinahe lebensgefährliche war, daß ihre Behebung zumeist nur auf dem Kreditwege erfolgen konnte, daß die Regierung auch vor einem erstaunlichen, im In- und Auslande zu Schlußfolgerungen von fragwürdiger Richtigkeit führenden Personenkult nicht zurückschreckte und damit zur Förderung dieser Manipulationen beitrug, und daß es daher außerordentlich schwer ist, zu entscheiden, wem die Hauptschuld bei der Verwechslung von Depositenbank und Emissions- und Börsenhaus wie von Finanzierung und Spekulation zufällt. Sicher ist nur, daß das gemischte System zu seiner Aufrechterhaltung voraussetzt, daß der Satz „safely first" mit eiserner Konsequenz angewandt wird, nicht allein im Interesse der Banken, sondern der Volkswirtschaft im ganzen. Verwechslungen zwischen Finanzierungen und Spekulation bilden die stärkste Gefährdung der Sicherheit, auch wenn der Spekulation ein volkswirtschaftliches Mäntelchen umgehängt wird. Das bedeutet keine Verwerfung jedes spekulativen Gewinnstrebens, dessen „Anreizfunktion" jeder Beobachter des Wirtschaftslebens als unentbehrlich erachten wird. U m so mehr aber muß daran festgehalten werden, daß die Spekulation nicht zum Selbstzweck werden darf. Wird die Anreizfunktion mißbraucht, wird die Spekulation zum eigentlichen Lebensinhalt des wirtschaftlichen Handelns, so ist die Zerstörung der produktiven Kräfte im Wirtschaftsorganismus auf die Dauer unausbleiblich, und daraus ergibt sich ganz von selbst die für die Banken gebotene Stellung gegenüber der Spekulation. Auch die legitime Betätigung der Banken auf dem Kapitalmarkt

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unterliegt heute sehr viel weitergehenden Beschränkungen, als es früher der Fall war. Dabei ist davon auszugehen, daß das Kapitalvermittlungsgeschäft der Banken in allen Ländern von jeher mehr oder weniger unter staatlichem Einfluß gestanden hat, wobei außenpolitische Rücksichten eine besondere Rolle spielten. Keine Regierung wünschte durch Kapitalhergabe die Kriegsbereitschaft und die Kriegsabsichten künftiger Gegner zu unterstützen. J e mehr sich die wirtschaftliche Tätigkeit unter dem Gesichtspunkt kommender kriegerischer Verwicklungen orientiert und im Vordergrund politischen Geschehens die Bildung von Allianzen steht, um so mehr sind auch bei der Überlassung von Kapital an andere Länder politische Gesichtspunkte maßgebend. Daneben kommen selbstverständlich auch wirtschaftliche Erwägungen in Betracht, die auf eine Stärkung der eigenen Wirtschaft, daneben freilich auch, als erwünschte Nebenwirkung, auf eine Schwächung der Konkurrenz der anderen Länder hinauslaufen. Die Gründe, welche zu dieser Beeinflussung des Kapitalmarktes seitens der Obrigkeit in den großen Gold- und Gläubigerländern, vor allem also England, Frankreich und Amerika, geführt haben, haben in Ländern, denen es an Kapital mangelt, und die insbesondere einen Schuldenüberschuß bei Aufstellung ihrer internationalen Zahlungsbilanz aufzuweisen haben, wie Deutschland, doppelte Geltung, und es wurde schon vor dem Umbruch mit Recht die Forderung nach einer staatlichen Beeinflussung des Kapitalmarktes, wie sie später zur Tat gewordenist, aufgestellt. Es bringt dies eine starke Einschränkung des Bankgeschäftes mit sich, insofern als in der Wichtigkeitsskala des Investitionsbedarfs, solange die dringendsten Staatsbedürfnisse nicht gedeckt sind, an der untersten Stelle diejenigen Anlagekredite stehen, für deren Vermittlung die Banken bisher vorzugsweise tätig gewesen sind, d. h. die Kapitalbeschaffung für gewerbliche Zwecke und für den Wohnungsbau. Man wird die sich daraus für die Wirtschaft ergebenden Schwierigkeiten nicht, wie es bisweilen geschieht, durch den Hinweis darauf als bedeutungslos hinstellen können, daß es in Zukunft einen großen, mit Hilfe der Banken zu befriedigenden Kapitalbedarf der Privatwirtschaft, vor allem der Industrie und des Transportwesens nicht mehr geben werde, weil der erforderliche Investitionsbedarf aus den eigenen Erträgen dieser Unternehmungen bestritten werden könne. Selbst angenommen, diejenigen Erträge, welche wirkliche Überschüsse und nicht nur Vorrats- oder Substanzersatz darstellen, würden entgegen manchen Berechnungen ausreichen, um den normalen Umänderungsund Erweiterungsbedarf (der Industrie und des Transportwesens) — Deutschland braucht jedes Jahr für etwa 160000 Mann neue Arbeits-

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plätze 1 ) — zu decken, so erscheint es doch als sehr unwahrscheinlich, daß dies auch für Bedürfnisse außergewöhnlicher Art der Fall sein könnte. Fortschritte in der Produktionstechnik, welche in konkurrierenden Ländern gemacht werden, können jede noch so sorgfältig aufgestellte Kalkulation hinsichtlich des Kapitalbedarfes über den Haufen werfen, ganz abgesehen davon, daß aus staatspolitischen Gründen Erweiterungsnotwendigkeiten auftreten können, für welche die vorhandenen Mittel bei weitem nicht ausreichen und für deren Beschaffung Fremdkapital herangezogen werden muß, namentlich wenn die Erweiterungsnotwendigkeiten eine sehr rasche Erfüllung erfordern. Noch mehr trifft das für Neugründungen oder die von der Regierung für zweckmäßig gehaltenen Reprivatisierungen und selbstverständlich auch für die Renationalisierungen zu, die ohne den Kapitalmarkt und gelegentliche Zwischenfinanzierungen seitens der Banken nicht durchgeführt werden können. Soll der S t a a t nicht zur einzigen Quelle der Kapitalbeschaffung werden und damit eine von ihm bisher aus guten Gründen abgelehnte volle Verantwortlichkeit für die wirtschaftliche Entwicklung übernehmen, so wird es auch in Zukunft zu den Obliegenheiten der Banken gehören, mit Hilfe einer ihrer gewaltigen Aufgabe moralisch und geldlich gewachsenen Börse die notwendigen Kapitalien für die private Wirtschaft zu beschaffen, wenn auch in geringerem Maße als in der Zeit, in welcher der Industrie- und Verkehrsapparat Deutschlands geschaffen wurde. Die Aufgabe der Banken und der Börse wird aber erheblich schwieriger sein als damals. Das Größenverhältnis zwischen Staatsbedarf und dem Bedarf der privaten Wirtschaft hat sich insofern geändert, als, wie oben erwähnt, der öffentliche Sektor innerhalb des gesamten Wirtschaftskreises nicht unerheblich zugenommen hat, und angesichts des Vorranges und der größeren Durchschlagskraft des Staatsbedarfes und der daraus folgenden Verringerung des für die private Wirtschaft verbleibenden Kapitals wird bei der Verteilung des Restes besonders sorgfältig neben dem Gesichtspunkt der Rentabilität des zu investierenden Kapitals der Gesichtspunkt der v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e n N ü t z l i c h k e i t des I n v e s t i t i o n s z w e c k e s beachtet werden müssen. Hierfür läßt sich eine allgemein und dauernd gültige Wichtigkeitsskala nicht aufstellen, denn die Bedürfnisse der Wirtschaft werden nach Maßgabe ihrer Dringlichkeit zu entscheiden sein, und unter ihnen werden, N a c h der im Jahre

1931 v o m Statistischen Reichsamt veröffentlichten, jetzt

infolge der Strukturwandlungen des Arbeitsmarktes nur noch bedingt zutreffenden. Vorausberechnung für die Jahre Reichs).

1937—39

(Bd. 408 der Statistik des Deutschen

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wiederum diejenigen voranstehen, deren Befriedigung der Wirtschalt den größten Mehrertrag liefert. Dabei darf nicht übersehen werden, daß, wenn die für die private Wirtschaft verfügbaren Mittel auf bestimmte Zwecke konzentriert werden, die Mehrbeschäftigung in e i n e m Wirtschaftszweig stets auch andere Wirtschaftszweige berühit und der von einer wirtschaftspolitischen Maßnahme ausgehende Kapitalbedarf sich in der Fortwirkung dieser Maßnahme auf die übrige Wirtschaft leicht vervielfältigen kann. Das wirtschaftspolitische Ziel kann aber unter Umständen verfehlt werden, wenn diese Wirkung auf die Steigerung des Kapitalbedarfes bei der Kapitalverteilung nicht berücksichtigt wird. Diese Gesichtspunkte beleuchten in Verbindung mit der in Rechnung zu ziehenden Kapitalknappheit die Schwierigkeiten, von denen die künftige Tätigkeit der Banken auf dem Gebiet der Kapitalvermittlung begleitet sein wird. Hieraus ergibt sich auch, wie viel schwerer es für die Banken in Zukunft sein wird, das zu tun, was früher üblich und für das Wachstum der deutschen Wirtschaft unentbehrlich war, nämlich die Hergabe von später mit Hilfe der Börse abzulösenden Zwischenkrediten für langfristige Investitionen. Dieses Verfahren setzt, wie immer wieder betont werden muß, eine gut funktionierende Börse voraus, die weniger an einem Mangel der Mittel leidet, als es zur Zeit der Fall ist, und es wird daher damit zu rechnen sein, daß das Kapitalvermittlungsgeschäft erst ganz allmählich einen größeren Umfang annehmen wird. Hinzu kommt, daß die Zerstörung der Vermögen durch die Inflation den Kreis des für Übernahme von Effekten in Betracht kommenden Publikums wesentlich verringert hat. Vor allem aber wird der Käufer von industriellen Werten — namentlich nach internationaler de-jureStabilisierung — an die Frage des inneren Wertes eines Papieres und seiner Rentabilitätsaussichten schon aus der Zunahme des festverzinslichen Denkens 1 ) und aus der Abneigung heraus, irgendwelche Risiken zu übernehmen, mit größerer Kritik und Zurückhaltung herangehen, als es vielfach früher der Fall war, was leicht zu einer Verstärkung der bereits zu beobachtenden Tendenz führen kann, daß die Kapitalhergabe auch für außerhalb des eigenen Betriebes liegende Zwecke aus der produzierenden Wirtschaft selbst heraus erfolgt, m. a. W., daß Unternehmungen ihre Mittel in den Aktien anderer Unternehmungen anlegen. Die hieraus entstehenden Folgen für die Liquidität der Wirtschaft können naturgemäß nicht ohne Rückwirkung auf die Gestaltung der Bankbilanzen bleiben und u. U. eine weitere Erschwerung der Tätigkeit der Banken auf dem Kapitalmarkt mit sich bringen. 1)

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V g l . dazu Kapitel: „ D a s Verhältnis der Kreditinstitute untereinander, S. 149. Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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Unter den Kapitalmarktgeschäften hat der sogenannte P a k e t h a n d e l von jeher die besondere Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gelenkt. Niemand wird bestreiten können, daß mit diesem Pakethandel sehr viel Unfug getrieben worden ist, daß er vielfach nur den Zweck hatte, Gewinne aus den durch den Paketkauf in ihrer Machtstellung bedrohten Verwaltungen von Unternehmungen herauszupressen oder Fusionen vorzunehmen, die vielleicht für die a u f k a ufende Bank, aber keineswegs für die Allgemeinheit von Nutzen waren, oder Börsenbewegungen hervorzurufen, die mehr oder weniger auf eine Suche nach dem allzu Harmlosen herauskamen. Gleichwohl wird auch in Zukunft der Paketverkauf nicht ganz zu entbehren sein, weil er sehr häufig den einzigen Rückweg zur organischen Gestaltung der Wirtschaft darstellt. Man muß dabei von der unbestrittenen Tatsache ausgehen, daß die Nachkriegszeit, insbesondere die Zeit der Inflation oder auch die Periode der Auslandskredite, vielfach durch Zusammenballung wesensfremder Unternehmungen eine unorganische Gestaltung der Wirtschaft hervorgebracht hat, der man auch nicht durch Organisation, die vielfach nur auf Ersatz der Sachkenntnis durch Vermehrung des Personals hinauslief, entgegenarbeiten konnte. Vielfach ist durch gutgemeinte Organisationsversuche die Verwirrung sogar noch vergrößert worden, was wiederum auf die Verwaltung und ihre Zusammensetzung und damit auch auf das Verhältnis zwischen Betriebsführung und Gefolgschaft auf das nachteiligste wirken mußte. Will man hier Ordnung schaffen, so wird vielfach der einzige Weg sein, Pakete entweder im Publikum unterzubringen oder sie einer volkswirtschaftlich und nicht nur spekulativ interessierten Stelle zuzuführen. Man darf ferner nicht vergessen, daß Krieg, Inflation und Auslandskredite auch die Gründung bzw. Aufrechterhaltung von nicht — oder zum mindesten ohne Anlehnung nicht — lebensfähigen Unternehmungen zur Folge gehabt haben und man wird damit rechnen müssen, daß große Änderungen, welche sich in der Struktur der Wirtschaft vollziehen, auch in Zukunft wieder derartige Folgen nach sich ziehen können. Nichts ist verkehrter und dem Fortschritt abträglicher als das Streben solcher Unternehmungen, ihre Eigenexistenz für immer zu erhalten, weil hierdurch höchst bedenkliche Ansteckungsherde wirtschaftlicher und sozialer Art hochgepäppelt werden können. Der geeigneteste Weg, um wirtschaftliche Nachteile zu verhindern, wird dabei häufig die Aufnahme eines schwachen Betriebes durch einen stärkeren bzw. die Anlehnung an diesen sein, und der Widerstand, der hiergegen zumeist von der Minorität der nur für ihre eigene Tasche Besorgten ausgeht, kann oft auf dem Wege des Paketkaufes überwunden werden. Maßgebend

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für die Beurteilung einer solchen Transaktion ist also nicht die Titulatur „Paketkauf" und „Pakethandel", sondern lediglich die volkswirtschaftliche Nützlichkeit, von der selbstverständlich die sozialen Gesichtspunkte nicht zu trennen sind. Neben dem Pakethandel wird das K o n s o r t i a l g e s c h ä f t mit besonderem Mißtrauen betrachtet. Auch hierbei darf man nicht aus Mißbräuchen auf die Verwerflichkeit des Institutes im ganzen schließen. Bankkonsortien, d. h. die Verabredung mehrerer Banken, bestimmte Geschäfte gemeinsam durchzuführen, insbesondere also einem Kunden gemeinsam Kredite zu gewähren oder Kapital zu überlassen oder zu beschaffen, können ihre Ursache darin finden, daß der Kunde selbst mit mehreren Banken zu arbeiten wünscht, oder aber daß das in Betracht kommende Geschäft für eine einzelne Bank zu groß ist, d. h. daß die in das Geschäft investierten Mittel entweder einen zu hohen Prozentsatz der eigenen Mittel der Bank in Anspruch nehmen, oder ein zu großes Risiko im Verhältnis zur eigenen Leistungsfähigkeit darstellen. Daß mit Konsortialgeschäften mancherlei Mißbrauch getrieben worden ist, insofern als man sich bei Geschäften von zweifelhafter Sicherheit in Gesellschaft wohler fühlte als mit sich allein, und als man die Verantwortlichkeit ein wenig verschleiern zu können glaubte, hat niemand mehr getadelt als der deutsche Bankmann Georg v. Siemens, dessen Aussprüche über das außerhalb Deutschlands betriebene Konsortialgeschäft immer wieder lesenswert sind, der aber andererseits mit Recht auf die besseren Gewohnheiten in Deutschland hinweisen konnte. „Assekuranzen für Erleichterung des Betruges", wie er sie im Falle eines von einem ausländischen Konsortium eingeleiteten Geschäftes nannte (Helfferich, Georg v. Siemens II, S. 178), waren sie in Deutschland zweifellos nicht. Zwei Gefahren werden beim Konsortialgeschäft stets zu beachten sein: einmal die geringere Bewertung des Risikomomentes infolge der Verteilung des Risikos auf mehrere Schultern, was unter Umständen eine zu reichliche Gewährung von Krediten zur Folge haben kann. Diese Gefahr kann sich leicht steigern, wenn unter den Konsorten Prestige- und Interessenkämpfe stattfinden, und der eine den anderen an „Entgegenkommen" und „Kulanz" überbieten will. Dies wird namentlich dann der Fall sein, wenn es der Wunsch gerade des Kunden ist, mit mehreren in einem Konsortium vereinigten Banken zu arbeiten. Das Gefühl, zu mehreren zu sein, kann aber auch im Verhältnis der Teilnehmer am Konsortium zu dem führenden Institut zu einer übermäßigen Vertrauensseligkeit führen, — es wird, was Prüfung und Kontrolle der Kreditfähigkeit der Kreditnehmer anlangt, allzuviel der 9*

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Führung überlassen, die es vielleicht unter Umständen sogar als kränkend ansieht, wenn irgendwelche Fragen an sie gestellt werden. Wenn auch selbstverständlich die Führung einerseits eine ganz besondere Verantwortlichkeit hat, so bleibt daneben die Mitverantwortlichkeit der Konsorten in vollem Maß bestehen, und die daraus folgenden Pflichten werden verletzt, wenn die Konsorten eine nach ihrer Überzeugung mangelhafte Unterrichtung durch die Führung des Konsortiums stillschweigend hinnehmen. I m übrigen aber hat sich die Notwendigkeit des Zusammenschlusses zu Konsortien gegen früher nicht vermindert, sondern gesteigert, und zwar einmal dadurch, daß das Verhältnis von Kreditangebot zu Kreditnachfrage ungünstiger geworden ist, d. h. daß die Entwicklung der deutschen Industrie, die immer mehr die Finanzierung großer Bestellungen, insbesondere großer Aggregate braucht, größere Kredite erfordert, während auf der anderen Seite die für. solche Zwecke den Banken zur Verfügung stehenden Mittel zurückgegangen sind. Hinzukommt, daß nach den Vorschriften des Kreditgesetzes die Hergabe von Krediten bestimmte Grenzen nicht überschreiten soll, und daraus ergibt sich von selbst die Notwendigkeit der Bildung von Kreditkonsortien. Auch bei den aus der Betätigung am Kapitalmarkt folgenden Geschäften ist zu bedenken, daß das Eigenvermögen der Banken, wie es früher vor allem durch die Reserven repräsentiert wurde, auch noch nicht wieder jene Stärke und Elastizität hat, wie es für die Wechselfälle des Kapitalmarktes erforderlich ist. Man darf aber des weiteren nicht übersehen, daß ein Konsortium auch nicht mit der Durchführung des einzelnen Geschäftes zu Ende ist, daß vielmehr der Kunde von ihm auch eine bankmäßige Unterstützung in schlechten Zeiten erwartet, und daß die Banken nicht nur im Interesse des Kunden, sondern auch ihres eigenen Ansehens wegen diese Unterstützung solange gewähren müssen, als es mit den Rücksichten auf die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Existenz vereinbar ist. Diesen Notwendigkeiten gegenüber werden allmählich unfruchtbare Prestigefragen und Prestigebedenken, wie sie sich bei der Quotenverteilung immer wieder bemerkbar machen, zurücktreten müssen. Sie sind Schönwettererscheinungen und vor nichts muß sich der Bankier mehr hüten, als an ewig blauen Geschäftshimmel zu glauben und zu meinen, daß die Bäume wirklich einmal in den Himmel wachsen könnten. III. A u s l a n d s b e t ä t i g u n g Die Zusammenarbeit des deutschen Bankwesens mit ausländischen Banken im internationalen Geschäft, die sich aus den verschiedenartigsten Bedürfnissen der entwickelteren Länder nach Teilnahme a m

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internationalen Geld- und Kapitalmarkt ergeben hat, brachte bestimmte internationale Beziehungen zwischen dem Kreditwesen der verschiedenen Länder mit sich, die äußerlich in einer gewachsenen Arbeitsteilung und Ordnung im internationalen Zahlungsverkehr, in den international anerkannten Formen des Scheck- und Wechselrechtes, in der Organisation eines internationalen Arbitragehandels, in gegenseitiger Auskunfterteilung u. a. zum Ausdruck kamen und ergänzt wurden durch die für die gegenseitigen Beziehungen sehr fruchtbare Gepflogenheit, daß deutsche Bankangestellte einen Teil ihrer Ausbildungszeit bei ausländischen Banken zubrachten und umgekehrt. Bei allen im internationalen Zahlungs- und Kapitalverkehr anerkannten Regeln und Gebräuchen, wie auch bei der als Selbstverständlichkeit angesehenen Gemeinsamkeit des Vorgehens bei Zahlungsverzügen oder -Verweigerungen handelte es sich um keine organisierten Beziehungen, sondern alle diese verschiedenen Fälle der Zusammenarbeit waren begründet auf sachlicher Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit sowie auf persönlichen Beziehungen, dem dadurch gewonnenen Vertrauen und auf der geschäftlichen Anständigkeit des Partners. Es konnte nicht ausbleiben, daß durch diese internationale Zusammenarbeit auch die gegenseitige Kenntnis der Verhältnisse der einzelnen Länder untereinander wuchs und damit auch das Verständnis für die Bedürfnisse und die Leistungsfähigkeit der beiderseitigen Wirtschaftsapparate für nationale und internationale Zwecke. Die Voraussetzungen für eine solche Zusammenarbeit waren verhältnismäßig günstig, da es Störungsfaktoren, wie sie in späterer Zeit etwa das internationale Schulden- oder das Währungsproblem darstellten, nicht gab, wie es anderseits selbstverständlich war, daß sich zwischen den Gläubigerländern viele gemeinsame Gesichtspunkte bei der Verfolgung ihrer Ziele ergaben. Auch auf diesem Gebiete brachten Krieg und Nachkriegszeit so starke Veränderungen hervor, daß der Wert der internationalen Zusammenarbeit zwischen den Banken für immer in Frage gestellt erschien. Die fast entschädigungslose Beschlagnahme der deutschen Auslandswerte durch einen Teil der Kriegsgegner beseitigte nahezu völlig die sichersten und wertvollsten Möglichkeiten für eine gemeinsame Betätigung auf dem Gebiete des Kapitalmarktes. Die wichtigsten Auslandsfilialen der deutschen Banken, insbesondere in London, Brüssel und Antwerpen, mußten ihre Geschäftsbetriebe einstellen, die Auslandsbanken verloren zeitweilig ganz die Verbindung mit ihren Niederlassungen und die Übersicht über ihren Vermögensbestand — die Deutsch-Asiatische Bank hat dreizehn Jahre (1914—1927) keine Bilanz

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vorlegen k ö n n e n — und nur mit großen Schwierigkeiten war es möglich, die deutschen Bankgründungen in Osteuropa, Rumänien, Bulgarien, Türkei und Ägypten und die Auslandsbanken in China, Spanien und Südamerika aufrechtzuerhalten. Dadurch verlor Deutschland seine Unabhängigkeit im internationalen Zahlungsverkehr und die Möglichkeit einer ausreichenden Teilnahme an kurzfristigen internationalen Kreditgeschäften, wozu auch die finanziellen und politischen Schwierigkeiten, welche sich für die noch verbliebenen Filialen und Auslandsbanken ergaben, beitrugen. Bei der Behandlung des Reparationsproblems konnte man schwerlich den Eindruck haben, daß die Banken der Feindesländer von ihrer besseren Erkenntnis genug Gebrauch gemacht hatten, um die Politiker von ihren finanziellen Wahnvorstellungen und Irrtümern zu befreien. Der Juli 1931 bewies im großen ganzen einen solchen Mangel an Einsicht in die Verhältnisse Deutschlands und in die Pflichten eines Gläubigers gegenüber einem zahlungswilligen Schuldner, daß die Wertlosigkeit einer internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Bankverkehrs damit erwiesen erschien, und dies um so mehr, als die Fehler, die seitens der Gläubiger bei der Kreditgewährung gemacht worden waren, klar zutage lagen. I m Vordergrund der Erörterungen zwischen deutschen und ausländischen Bankvertretern stand in der Folgezeit nicht etwa das Problem, wie man in Zukunft die gemachten Fehler vermeiden könnte, sondern ausschließlich die Frage der Liquidierung der alten Beziehungen, eine Erörterung, die u m so unfruchtbarer für den Wiederaufbau der internationalen Beziehungen werden mußte, je länger sie dauerte. I m weiteren Verlauf wurde durch die Verringerung und Verlagerung der internationalen Kapitalinvestitionen, durch das Vorwiegen kurzfristiger Ausleihungen — auch da, wo langfristige am Platze gewesen wären — durch die der Zusammenschrumpfung des Welthandels parallellaufende Einschrumpfung des internationalen Zahlungsverkehrs und schließlich durch die als Folge der Devisenbewirtschaftung in vielen Ländern eintretende Einschaltung der Notenbanken in den internationalen Zahlungsverkehr die Grundlage einer internationalen Zusammenarbeit im Geld- und Kapitalverkehr immer wieder eingeschränkt. Endlich kam noch der Währungskampf hinzu, in dem die Grundsätze sinnvoller Zusammenarbeit nicht nur beiseitegeschoben wurden, sondern offenbar alle Beteiligten verschworen waren, ihnen entgegenzuhandeln. Eine alte Erfahrung bestätigt, daß der internationale Bankverkehr in erster Linie bestimmt ist durch n a t i o n a l e u n d p o l i t i s c h e G e -

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s i c h t s p u n k t e , und daß alles Internationale sofort zurücktritt, sobald die nationalen und politischen Gesichtspunkte vorwiegen, selbst wenn die politischen Gesichtspunkte, wie es z. B. bei der Reparationsfrage bei den meisten ausländischen Bankiers sicherlich der Fall gewesen sein dürfte, der Überzeugung des Bankiers widersprechen. Daraus folgt, daß die internationale Betätigung stets nur eine Begleiterscheinung und ein Anhang der nationalen sein darf, und daß man sich keinen Illusionen hinsichtlich der Haltbarkeit internationaler Beziehungen im Ernstfalle hingeben darf. Entscheidend bleibt im internationalen Verkehr das auf der Stärke der Nationalwirtschaft beruhende Ansehen. So kann man z. B. mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß Amerika sich im Juli 1931 gegen England anders verhalten haben würde als gegen das damals dem Tiefpunkt seiner politischen Schwäche sich nähernde Deutschland. Nur wer die damaligen Zeiten praktisch miterlebt hat, kann das Maß der Unkenntnis über die wirtschaftlichen Verhältnisse, die gerade in einigen kreditgebenden Ländern vorhanden war, ermessen, eine Unkenntnis, deren Wirkungen weit über das Kreditwesen hinausgingen und auch heute noch hinausgehen. Das vernunftwidrige „we want our money" und das wirtschaftszerstörende ,,no-discrimination"-Geschrei wird dem deutschen Bankier für immer in den Ohren klingen. Das ändert nichts an der Tatsache, daß für Deutschland eine Betätigung im internationalen Bankverkehr solange unentbehrlich ist, als es am internationalen Handel teilnimmt und teilnehmen muß, wenn es nicht eine empfindliche Herabsetzung seines Lebensstandards auf sich nehmen will. Dies gilt nicht nur für den Zahlungsverkehr und die kurzfristige Finanzierung der Ein- und Ausfuhr, sondern vor allem auch für die Kapitalhergabe. Ein Land wie Deutschland, das in zunehmendem Maße auf die Ausfuhr hochwertiger Kapitalgüter von langer Lebensdauer angewiesen ist, würde hinter der Konkurrenz der übrigen Exportländer stark zurückstehen, wenn es nicht in der Lage wäre, seinen Abnehmern Kredite zu gewähren. Hierzu bedarf es des Zusammenwirkens mit dem Auslande, das hierzu auch geneigt sein wird, teils weil ein ablehnendes Verhalten leicht zu einer Verschärfung des internationalen Wettbewerbs führen könnte, sodann aber, weil die wirtschaftliche Bedeutung Deutschlands im Zusammenhang mit dem wiedergewonnenen politischen Ansehen es den Gläubigerländern wünschenswert erscheinen lassen wird, auf wirtschaftlichem Gebiete eine Atmosphäre herzustellen, die auf die politischen Beziehungen günstig einwirkt, statt sie noch weiter zu erschweren. Es liegt also im deutschen Interesse, die Beziehungen zu denjenigen ausländischen Banken, mit denen eine vertrauensvolle Zusammenarbeit

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sich als möglich erwiesen hat, vor allem also den englischen, weiter zu pflegen und diese Beziehungen über die Zeit der Geschäftsstille hinwegzuretten. So wenig reizvoll es vom rein geschäftlichen Standpunkt erscheinen mag, in einer Zeit des Clearings und der Stillhalteabkommen devisenverzehrende Reisen, die keine unmittelbaren Geschäftsabschlüsse zur Folge haben können, zu unternehmen, so notwendig ist es, gerade in einer solchen Zeit die persönlichen Beziehungen nicht abreißen zu lassen. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint es besonders dankenswert, daß die Internationale Handelskammer zu Paris durch die Errichtung eines „Comité International Bancaire" wichtige organisatorische Voraussetzungen für eine internationale Zusammenarbeit und einen internationalen Erfahrungsaustausch des Bankwesens geschaffen hat. Seine Arbeiten können wesentlich dazu beitragen, daß man endlich mit dem Versuch aufhört, die Probleme auf dem Wege mechanischer Rückentwicklung zu lösen, etwa wie man einen Film vom Schluß bis zum Anfang rücklaufen lassen kann, sondern erkennt, daß es neuer konstruktiver Lösungen bedarf, wenn die Kreditseite bei dem Wiederaufbau der internationalen Wirtschaftsbeziehungen die ihr gebührende und von ihr viel zu lange abgelehnte Rolle spielen soll. Aber auch in Deutschland wird noch manches geschehen müssen, um überall die Überzeugung durchzusetzen, daß die internationale Betätigung des Bankwesens die Erfüllung einer hohen nationalen Pflicht bedeutet. „Wir stehen in einem schweren Kampf um die Erhaltung unserer Absatzmärkte und um die Versorgung mit den Rohstoffen, die das eigene Land nicht hergibt. Die deutsche Industrie und der deutsche Handel sollen in diesem Kampf weiter auf den vollen Einsatz der deutschen Banken und ihrer Mitarbeiter drinnen und draußen rechnen dürfen" 1 ). Dabei müssen die Erinnerungen an die Mißerfolge der ersten Auslandsbeziehungen der deutschen Banken als Warnung dienen. Es wurde erwähnt, daß die geringen Auslandserfahrungen der deutschen Banken zu diesen Mißerfolgen beigetragen haben. Die weitgehende Abschließung vom internationalen Bankgeschäft bringt die Gefahr mit sich, daß das große und wertvolle Erfahrungskapital, das sich inzwischen allmählich angesammelt hatte, mangels Gebrauches verrostet. Dies gilt weniger für das kurzfristige Finanzierungsgeschäft, von dem j a noch Reste vorhanden sind, als für das langfristige Kreditgeschäft, insbesondere das Anleihegeschäft, von dem Deutschland schon in seiner Eigenschaft als Schuldnerland so gut wie ausgeschlossen ist. Es wird manches geschehen müssen, um die wertvollen Erinnerungen Vgl. Schlieper: Banken und Außenhandel (Schriftenreihe Die Bank, Heft 4, Bankverlag G. m. b. H.).

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und Erfahrungen noch lebender Persönlichkeiten aus der Zeit der ersten Auslandsbeziehungen des deutschen Bankwesens vor dem Aussterben zu bewahren, selbst wenn wir uns mangels praktischer Übung entschließen müssen, dazu den dem geschäftsfreudigen Bankmann nie besonders sympathischen Weg über das theoretische Studium zu gehen. DER

ORGANISATORISCHE

VERANTWORTUNGSBEREICH

Die jetzt in den drei Filialgroßbanken zusammengeschlossenen 38 früher selbständigen Banken verfügten 1913 über 145 ordentliche Vorstandsmitglieder und 43 stellvertretende Vorstandsmitglieder, während 1935 die gleichen Banken noch 14 ordentliche und 17 stellvertretende Vorstandsmitglieder hatten. Das besagt dreierlei: einmal, daß die Größe der Betriebe die p e r s ö n l i c h e F ü h l u n g n a h m e zwischen den Vorständen und der Gesellschaft e r s c h w e r t , zweitens, daß die durch Verringerung der Aufstiegsmöglichkeiten in Verbindung mit der Erweiterung der Betriebe bestehende G e f a h r einer M e c h a n i s i e r u n g u n d S c h e m a t i s i e r u n g des kaufmännischen Geistes erhöht wird, und endlich, daß die V e r a n t w o r t l i c h k e i t sich auf i m m e r w e n i g e r S c h u l t e r n verteilt. Die Frage der Verantwortlichkeit des Vorstandes von Aktienbanken hat von jeher zur Erörterung Anlaß gegeben. Privatbankiers, namentlich der älteren Schule, für welche, wie bereits erwähnt wurde, die Aktienbanken häufig nur eine Abladestelle für unerwünschte Kredite waren, pflegten vom kollegialen Vorstand der Aktienbank nicht immer in Ausdrücken rückhaltloser Bewunderung zu sprechen. Sie meinten, daß der Bankdirektor auch in kritischen Zeiten keine schlaflosen Nächte zu haben brauchte, weil er sein eigenes Vermögen auch bei schlechtem Geschäftsgang nicht riskiere. Diese Beurteilung der Geistesverfassung des Bankdirektors hatte sicherlich für die große Mehrzahl schon seit langem keine Berechtigung mehr. Wer glaubt, daß die Bankleiter ihren Beruf nur des Gelderwerbes wegen ausgeübt hätten, übersieht, daß für die große Mehrzahl die seelische Bindung an den Beruf und die Stellung als solche in hohem Maße neben die materiellen Interessen getreten war, und daß für die weitaus meisten die Interessen ihrer Bank über ihren eigenen Interessen standen. Ausnahmen hiervon gibt es überall, bei Banken ebenso wie bei anderen Gewerbezweigen, bei Aktiengesellschaften ebenso wie bei Einzelfirmen, und auch bei den Banken läßt sich nicht vermeiden, daß die Minderzahl bisweilen mehr von sich reden gemacht hat als die Mehrzahl. Tatsächlich liegt und lag der Grund für die Bemängelung der Stellung

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des Bankdirektors auf einem anderen Gebiet — nämlich in dem unzureichenden Hervortreten der Person, die in einem anonymen Kollegium verschwand und daher für die Öffentlichkeit nicht faßbar war: für ein schlechtes Geschäft wurde in der Öffentlichkeit die „Bank" verantwortlich gemacht und nicht Herr X oder Herr Y, und wenn jemand persönlich verantwortlich gemacht wurde, war es häufig nicht einmal der richtige. Das Unbehagen, das von jeher hierüber in der Öffentlichkeit empfunden war, mußte naturgemäß eine starke Steigerung erfahren, als man nach den Ereignissen des Jahres 1931 einen eigentlich Schuldigen nicht fassen konnte, obwohl in der allgemeinen, über die Gesamtlage ebenso wie über die Einzelheiten nur flüchtig unterrichteten Meinung kein Zweifel darüber war, daß ein oder mehrere für die verschiedenen Unglücksfälle Verantwortliche doch eigentlich vorhanden sein m ü ß t e n . Daraus folgten allerhand Erörterungen nicht nur darüber, ob die Verantwortlichkeit innerhalb der Verwaltung der Aktienbanken richtig verteilt sei, sondern auch darüber, ob sie hinreichend hervortrete, und was geschehen müsse, um eine Verschleierung des eigentlichen Trägers der Verantwortlichkeit in Zukunft unmöglich zu machen, mit anderen Worten, ob nicht die Anonymität des Kapitals noch durch die Anonymität des Vorstandes in einer für die Allgemeinheit unerträglichen Weise vermehrt worden sei. Will man zu dieser Frage Stellung nehmen, so muß man davon ausgehen, daß nach dem gegenwärtigen Rechtszustand die A k t i o n ä r e den Aufsichtsrat wählen, wobei die Mehrheit der Stimmen entscheidend ist. O b die Majorität auch Vertreter der Minorität in den Aufsichtsrat wählt, ist eine Frage der Klugheit und Taktik, deren Beantwortung zumeist von der Höhe des von der betreffenden Minorität vertretenen Kapitals abhängt. Wenn dem A u f s i c h t s r a t die Pflicht zufällt, sich einen zuverlässigen Einblick in den wirklichen Gang der Geschäfte bei dem Unternehmen zu verschaffen, so ist er immer mehr oder weniger auf die Mitteilungen des Vorstandes der Aktiengesellschaft angewiesen, und somit besteht seine wichtigste Aufgabe in der Bestellung eines geeigneten V o r s t a n d es und in der Beobachtung seiner Tätigkeit. Diese Aufgabe ist bei den Banken zweifellos schwieriger als in anderen Wirtschaftszweigen, welche den die persönliche Bewegungsfreiheit des Bankleiters einschränkenden Bestimmungen des Kreditgesetzes nicht unterliegen und daher eine größere Anziehungskraft auf kenntnisreiche und selbstbewußte Wirtschafter ausüben als das Bankwesen, ein Umstand, der sich voraussichtlich in Zukunft immer mehr bemerkbar machen wird.

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Die Beobachtung der Vorstandstätigkeit wird sich im wesentlichen darauf beschränken müssen, festzustellen, ob das Unternehmen solide geführt wird und ob die erforderlichen Voraussetzungen für ein rentables Arbeiten gegeben sind und ihre Aufrechterhaltung gewährleistet ist. Beides stellt große Anforderungen an die Fachkenntnisse und Beobachtungsgabe des Aufsichtsrates; denn weder lassen erzielte Überschüsse mit Sicherheit auf ein gewinnbringendes l a u f e n d e s Geschäft schließen, noch gibt ein günstiges Äußeres der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung auch die volle Gewähr dafür, daß das Unternehmen in technischer und organisatorischer Hinsicht auf der Höhe seinei Wettbewerbsfähigkeit steht. Dazu gehören Kenntnisse der Branche, der Konkurrenz, der Kundschaft und die Fähigkeit, die Einwirkung der voraussichtlichen Wirtschaftsentwicklung auf das Unternehmen einigermaßen richtig einzuschätzen. Im Kreditgewerbe bietet diese eingehendere Durchdringung der gesamten geschäftlichen Lage eines Unternehmens besondere Schwierigkeiten. Gewiß ist es leicht, die Feststellungen der Bilanz und der Gewinnund Verlustrechnung und die Bewertung von Effekten und Forderungen nachzuprüfen, um so schwerer aber ist es, sich über die „lebenspendenden Bodenbakterien" des Geschäftes, d. h. über die Unmenge persönlicher Kenntnisse und Beziehungen, die für die Entwicklung des Unternehmens in hohem Maße entscheidend sind, ohne eingehende Mitarbeit zuverlässige Kenntnisse zu verschaffen. Selbstverständlich kann sich der Aufsichtsrat ohne Schwierigkeiten darüber informieren, an wen Kredite gegeben worden sind und ob diese Kredite bankmäßigen Liquiditäts- und Sicherheitsgrundsätzen und neuerdings auch den Bestimmungen des Kreditgesetzes entsprechen. Es wird aber ohne Kenntnis der Person des Kreditnehmers oder der Besonderheiten seines Geschäftes fast unmöglich sein, sich ein Bild darüber zu machen, welche aus der Bilanz nicht erkennbare Risiken in der gesamten Kreditgewährung stecken, d. h. ob die Debitoren sowohl nach der Seite der volkswirtschaftlichen Wichtigkeitsskala wie nach der privatwirtschaftlichen Rentabiiitäts- und Risikoseite richtig verteilt sind. Fast unmöglich ist es, das unendliche Zahlenwerk, das die Beziehungen zur Kundschaft darstellt, auf seinen wirklichen wirtschaftlichen Inhalt zu durchleuchten, sich über die persönlichen Beziehungen zur Kundschaft unterrichtet zu halten und sich aus dem Bilanzmaterial ein Bild vom einwandfreien Arbeiten eines Kreditinstituts zu machen, wenn nicht der Aufsichtsrat nach seiner Zusammensetzung dafür ganz besondere Voraussetzungen mitbringt. Es ist kein Geheimnis, daß dieser Gesichtspunkt bei der Zusammen-

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setzung des Aufsichtsrates vielfach keine besondere — oder vielleicht besser gesagt — nur eine zufällige Rolle gespielt hat. In der Regel war es so, daß die Zusammensetzung der Aufsichtsräte der Kreditinstitute zu einem erheblichen Teil mehr oder weniger zwangsläufig aus den Geschäften der Bank folgte, d. h. daß Vertreter derjenigen Firmen, mit denen die Bank in besonders enger Beziehung stand und in deren Aufsichtsrat vielleicht die Bank selbst vertreten war, in den Aufsichtsrat gewählt wurden. Man hat dieses System der wechselseitigen Organverbundenheit von Kreditinstituten und kreditnehmenden Unternehmungen häufig unter Berufung auf sicherlich feststellbare Auswüchse getadelt, und es sind auch im Kreditgesetz weitgehende Sicherungen gegen Mißbräuche der Einflußmöglichkeit auf die Entschließungen des Kreditgebers eingebaut worden. Trotzdem entspricht die gegenseitige verwaltungsmäßige Verflechtung zwischen Kreditinstituten und kreditnehmenden Unternehmungen dem Bedürfnis nach einer intimeren Vertrautheit mit der Entwicklung des kreditnehmenden Unternehmens. Ein industrielles Kreditgeschäft ist nicht möglich ohne enge persönliche Beziehungen zu den Leitern der kreditnehmenden Unternehmen und ohne Kenntnis deren täglicher Sorgen — eine Kenntnis, die auch kein Wirtschaftsprüfer und keine Treuhandgesellschaft, mögen sie einen ausgesprochenen Sinn für das Wesentliche haben, ersetzen kann. Solche Beziehungen lassen sich am zuverlässigsten durch Mitarbeit der großen Kunden im Aufsichtsrat erreichen, wie umgekehrt engere Beziehungen zu Großkunden der Bank durch Einbeziehung ihrer Vertreter in den Aufsichtsrat der Bank nur gefestigt und zum Nutzen der Bank fruchtbar gemacht werden können. Das setzt allerdings voraus, daß private Interessen auf der einen oder anderen Seite nicht die sonstigen pflichtgemäßen Rücksichten auf Liquidität und Sicherheit der Bank oder des kreditnehmenden Unternehmens zurückdrängen 1 ). Ein Austausch von Aufsichtsratssitzen zwecks AbändeEs wird sich nicht bestreiten lassen, daß die in der Nachkriegszeit zu konstatierenden Mißbräuche mit dieser Institution ihre Wurzel schon in einer früheren Periode haben, insofern der Aufsichtsratssitz immer mehr zur Prestige- und Einkommensfrage wurde. So falsch es sein würde, denjenigen, der eine Gesellschaft verantwortlich berät und damit schöpferisch mitarbeitet, von den materiellen Früchten seines Rates auszuschließen, so läßt sich doch nicht leugnen, daß, ähnlich wie mancher Forstfunktionär sich viel mehr für die Hirsche im Walde interessiert als für den Wald selbst, bei einzelnen Bankvertretern die einträgliche Aufsichtsratsbetätigung vor der eigentlichen Banktätigkeit in den Vordergrund trat und daß sich durch die Entartung einer an sich nützlichen Einrichtung vielfach Einkommen ergaben, die zu der Arbeitsleistung und der Rolle, welche das betreffende Aufsichtsratsmitglied innerhalb des Aufsichtsrates spielte, in keinem angemessenen Verhältnis

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rung oder Verschleierung sonst in Geltung befindlicher geschäftlicher Grundsätze, wie er namentlich in der Nachkriegszeit zu finden war, muß auf das schärfste abgelehnt werden. Es gehört zu den Aufgaben des Vorsitzenden eines Aufsichtsrats, solcher Interessenpromiskuität, wenn sie sich bemerkbar macht, in geeigneter Weise entgegenzutreten und dazu gehört Vertrautheit mit der Besonderheit des Bankgeschäftes. Überhaupt wird man gerade in Aufsichtsräten von Banken die Mitwirkung von wirklichen Sachverständigen nicht entbehren können, also insbesondere von ehemaligen verdienten Vorstandsmitgliedern oder auch von Filialdirektoren der Kreditinstitute. Letztere Methode, die auch gleichzeitig eine Brücke zwischen den Außenstellen der Banken mit der Zentralverwaltung zu schaffen geeignet ist, wird namentlich bei manchen englischen Banken geübt. Die Notwendigkeit, auf dem Weg über den Sitz im Aufsichtsrat enge Beziehungen mit der wertvollsten und kenntnisreichsten Kundschaft aufrechtzuerhalten, läßt die Forderung berechtigt erscheinen, daß die Zahl der Aufsichtsratsmitglieder nicht allzusehr beschnitten werden sollte. Andererseits ist nicht zu leugnen, daß die eigentliche dem Aufsichtsrat obliegende Arbeit nur von verhältnismäßig wenigen geleistet werden kann, und das System der Bildung von Ausschüssen, welchen die in Bank- und Kreditfragen wirklich kompetenten und erfahrenen Mitglieder des Aufsichtsrats angehören und an welche die Entscheidung einer Anzahl der an sich dem Beschluß des gesamten Aufsichtsrats unterliegenden Fragen übertragen werden kann, erscheint als durchaus zweckmäßig und für die praktische Erledigung vieler Aufgaben als das einzig mögliche 1 ). Das wichtigste Mitglied dieser Ausschüsse ist naturgemäß der V o r s i t z e n d e d e s A u f s i c h t s r a t s . Seine Stellung ist mit einer hohen Verantwortlichkeit verbunden, denn sie erfordert neben umfassenden wirtschaftlichen Kenntnissen eine eingehende Vertrautheit mit dem Bankwesen, insbesondere aber dem Kreditgeschäft, und eine wirkliche Übersicht über die Entwicklung des Geschäftes, die nur bei enger Zusammenarbeit mit dem Vorstand und nicht durch die Leistanden.

A b e r auch das Prestigebedürfnis führte vielfach zu Übertreibungen, ins-

besondere zu einer über das, selbstverständlich anzuerkennende gegenseitige V e r tretungsbedürfnis hinausgehenden, vielköpfigen Vertretung manchen Aufsichtsräten.

einzelner Banken

in

E s kann auch nicht übersehen werden, daß häufig Per-

sönlichkeiten im Aufsichtsrat vertreten waren, bei denen die Gründe, aus denen sie früher einmal in den Aufsichtsrat berufen worden waren, längst keine Geltung mehr hatten. 1

) V g l . Fischer, K o m m e n t a r zum Reichsgesetz über das Kreditwesen, Berlin 1 9 3 5 ,

A n m e r k u n g 3 b zu § 14.

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tung einiger Sitzungen gewonnen werden kann. Die Aufgabe des Aufsichtsratsvorsitzenden ist es nicht, dem Vorstand die Verantwortung für einzelne Geschäfte abzunehmen — also etwa Entscheidungen zu treffen, wenn der Vorstand sich nicht einig ist. Welche Geschäfte der Vorstand machen will, muß dieser selbst wissen — dagegen gehört es sehr wohl zu den Funktionen des Aufsichtsratsvorsitzenden, Einspruch gegen ihm nicht zweckmäßig erscheinende Geschäfte zu erheben. Das Verhältnis des Aufsichtsratsvorsitzenden zum Vorstand muß so sein, daß hinsichtlich der im großen und ganzen zu befolgenden Geschäftspolitik auch ohne sehr viele Worte Übereinstimmung besteht, und auf die Herbeiführung dieser Übereinstimmung hat der Vorsitzende des Aufsichtsrats schon insofern einen starken Einfluß, als er bei der Besetzung des Vorstandes entscheidend mitwirkt. Aus dem Treueverhältnis zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsratsvorsitzenden folgt, daß der Vorstand die Pflicht hat, den Aufsichtsratsvorsitzenden über alle wichtigen Ereignisse zu unterrichten und ihm stets ein völlig klares Bild über den Gesamtzustand der Bank zu geben, während es selbstverständliche Pflicht des Aufsichtsratsvorsitzenden ist, die Interessen des Vorstandes, solange sich seine Ansichten mit denen des Vorstandes in Einklang bringen lassen, wahrzunehmen und zu verteidigen, eine Aufgabe, die in bewegten Zeiten leicht über das rein Geschäftliche hinauswachsen kann. Träge Herzen, die, um mit Goethes Worten zu sprechen, im Berichtigen stark, im Nachhelfen schwach sind, gehören nicht auf solche Posten. Das bedeutet auf der anderen Seite, daß der Aufsichtsratsvorsitzende in der Lage und willens sein muß, sich mit besseren Erkenntnissen gegenüber schlechteren Erkenntnissen innerhalb des Vorstandes durchzusetzen. Denn wenn auch nach der bewährten deutschen Uberlieferung die Entscheidung über den Abschluß von Geschäften bei dem Vorstand zu liegen hat, so darf es auf der anderen Seite nicht dazu kommen, daß der Vorsitzende des Aufsichtsrates im wesentlichen seine Aufgabe darin sieht, Sitzungen oder sonstigen Zusammenkünften des Aufsichtsrats zu präsidieren. Daß dies in der Vergangenheit bisweilen der Fall war, hat zur Verschärfung der Bankkrise sicherlich mit beigetragen. Aus den bisherigen Darlegungen folgt, daß den Vorsitzenden des Aufsichtsrats im allgemeinen eine Verantwortlichkeit für das einzelne Geschäft nur insoweit trifft, als er von seinem Recht und seiner Pflicht zum Einspruch gegen die Vornahme des Geschäftes keinen Gebrauch macht. Das P r o b l e m d e r V e r a n t w o r t l i c h k e i t konzentriert sich infolgedessen darauf, ob bei dem Vorhandensein eines mehrköpfigen

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Vorstandes das K o l l e g i a l s y s t e m und die daraus nach außen folgende Gesamtverantwortlichkeit beizubehalten ist oder ob sich die Einführung des sogenannten F ü h r e r p r i n z i p s empfiehlt. Da inzwischen allgemeine Übereinstimmung darüber herbeigeführt worden ist, daß die Gründe, die bezüglich des Führerprinzips auf politischem und militärischem Gebiet Geltung haben, keineswegs ohne weiteres auch für die Wirtschaft zutreffen, ergibt sich die Frage, ob die mit dem bisherigen System gemachten Erfahrungen eine Änderung des Systems durch Einführung des Führerprinzips erforderlich erscheinen lassen. Das Führerprinzip wird dann stets ganz von selbst Geltung haben, wenn eine Persönlichkeit mit Führereigenschaften vorhanden ist, d. h. eine Persönlichkeit, die neben geschäftlicher Phantasie und sicherem Instinkt eine auf Urteilsfähigkeit und Sachkenntnis beruhende Autorität, die erforderliche Charakter- und Willensstärke und die Fähigkeit zum Umgang mit Menschen sowie zur Führung der Gefolgschaft besitzt. Findet sich eine solche ganz besonders qualifizierte Persönlichkeit, so erscheint es empfehlenswert, daß der Aufsichtsrat aus dieser Sachlage die entsprechenden Folgerungen zieht und aus dieser de-factoFührung eine de-jure-Führung macht. Nur dadurch können in einem solchen besonderen Fall die Verantwortlichkeiten so abgegrenzt werden, wie es der Wirklichkeit entspricht, und mancher nervenverbrauchende Kleinkrieg und manche Unordnung im Betriebe lassen sich vermeiden. Für den Regelfall aber wird man davon ausgehen können, daß im Innenverhältnis eine Aufteilung der Verantwortlichkeit unter mehreren Vorstandsmitgliedern stattfindet, d. h. daß die Geschäftsverteilung auch die Verantwortlichkeit des Einzelnen für den ihm zugewiesenen A b s c h n i t t des Gesamtgeschäftes in sich schließt. Dies gilt namentlich für alle positiven, d. h. auf den Abschluß von Geschäften hinzielenden Maßnahmen, und zwar auch dann, wenn die Entscheidung nach Einholung der Meinungsäußerung des Kollegiums erfolgt, weil auch in diesem Falle die Ansicht des Sachbearbeiters als die ausschlaggebende anzusehen sein wird. Es ist ein gesunder Grundsatz, daß Risiken nur mit Einstimmigkeit des Kollegiums, d. h. unter der Verantwortung a l l e r eingegangen werden dürfen, aber dieser Grundsatz schließt nicht aus, daß im Kreise der Kollegen der eigentliche Sachbearbeiter für das Geschäft geradezustehen hat. Da durch diese innere Verteilung der Verantwortung die Haftung des Vorstandes nach außen nicht berührt wird, erhebt sich die Frage, ob hierdurch eine Verwischung der Verantwortlichkeiten eintritt. Daß der Verantwortliche gefunden werden kann, wird bei Vorhanden-

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sein einer klaren Geschäftseinteilung und bei einwandfreiem Funktionieren der Zusammenarbeit stets der Fall sein. Es kann sich also nur darum handeln, ob das Hervortreten des eigentlichen Trägers der Verantwortung bzw. des Sachbearbeiters nach außen — ohne daß dadurch die rechtliche Seite der Gesamthaftung berührt wird — erwünscht erscheint, und diese Frage wird man grundsätzlich bejahen müssen, wenn man dem Vorwurf des verschleiernden Anonymität mit Erfolg begegnen will, wie man j a bei jedem Kollegium danach streben muß, das Verantwortlichkeitsgefühl des de facto Verantwortlichen zu stärken, gleichgültig, ob im Einzelfall das Kollegium ohne weiteres seinen Vorschlägen gefolgt ist, oder ob er sich im Kampf durchsetzen mußte. Daß das Kollegium für die verwaltungsmäßige Zusammenarbeit und für die Vertretung der Bank nach außen, insbesondere für die an die Bank herantretenden öffentlichen Aufgaben eines Vorsitzenden bedarf, ist selbstverständlich, weil sonst auch beim besten Willen Kompetenzschwierigkeiten, bei denen es zuletzt mehr auf die Abgrenzung der Arbeit als die Arbeit selbst ankommen würde, unvermeidlich wären. Damit ist sicherlich in vieler Hinsicht eine erhöhte moralische und tatsächliche Verantwortlichkeit des Vorsitzenden verbunden, ohne daß — juristisch gesehen — dadurch die Grundsätze der Gesamthaftung berührt werden dürfen und ohne daß der Vorsitzende juristisch eine stärkere Stimmkraft erhält, als sie die übrigen Vorstandsmitglieder haben. Bei der Behandlung aller dieser Fragen wird im Vordergrund die Erkenntnis stehen müssen, daß Aufsichtsrat und Vorstand die Träger jener persönlichen Beziehungen sind, die für das Gedeihen eines Bankgeschäftes unerläßlich sind und die einen erheblichen Bestandteil des für die Bewertung der Sicherheit und Zuverlässigkeit eines Kreditinstitutes besonders wichtigen „good will" ausmachen. Man wird auf eine sachgemäße Regelung hiermit zusammenhängender persönlicher Fragen um so mehr Gewicht legen müssen, als die zunehmende Größe der Betriebe die Gefahr des Ersatzes der individuellen Behandlung der Geschäfte durch Geschäftsanweisungen, Statuten und generelle Anweisungen leicht nach sich ziehen kann, ganz abgesehen davon, daß die Bestimmungen des Kreditgesetzes und die Devisenvorschriften schon eine starke Einschränkung der Bewegungsfreiheit mit sich gebracht haben. Selbstverständlich läßt es sich nicht vermeiden, daß für eine große Anzahl regelmäßig wiederkehrender geschäftlicher Vorkommnisse Regeln aufgestellt oder ein bestimmtes Vorgehen vorgeschrieben oder vereinbart wird. Das Wesentliche wird aber immer bleiben, daß man im Schema nicht die letzte Weisheit, sondern einen Notbehelf

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sieht, der es dem Vorstand zur Pflicht macht, ganz besonders darüber zu wachen, daß Schema und Simile nicht über den Geist siegen und nicht das Wesentliche in der Masse des Unwesentlichen untergeht. Ein Geschäftsmann, der sich dem Gebot des Augenblicks verschließt, weil der Augenblick etwas in dem bisherigen Programm nicht Vorgesehenes erfordert, hat keinen Anspruch, an leitender Stelle zu stehen. Über allen Fragen der Zuständigkeit und Verantwortlichkeit hat aber der Grundsatz der Leistungsgemeinschaft zu stehen und dieser G r u n d s a t z d e r L e i s t u n g s g e m e i n s c h a f t in der Wirtschaft muß auch bestimmend sein für die Stellung der Gefolgschaft im Bankwesen. Der nationalsozialistische Leistungsgedanke fordert, daß jeder Volksgenosse ohne Rücksicht auf Herkunft und Vermögen die Möglichkeit erhält, seine Leistung an dem Platz einzusetzen, an dem er nach seiner Veranlagung und nach seiner erworbenen Leistungsfähigkeit den höchsten Nutzen für die Gesamtheit erarbeiten kann. Die Verwirklichung dieses Zieles schließt in sich, daß alle V o r a u s s e t z u n g e n geschaffen werden müssen, u m dem vorwärtsstrebenden Menschen den Nachweis seiner Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft zu ermöglichen und den Aufstieg des wirklich Leistungsfähigen zu erleichtern. Auch auf diesem Gebiete haben sich wesentliche Änderungen vollzogen, über die man sich klar werden muß, um zu einem den jetzigen Verhältnissen entsprechenden Resultat zu kommen. Der deutsche Bankbeamte hat von jeher ein auf Kenntnissen und Zuverlässigkeit begründetes Ansehen auch außerhalb der Grenzen seines engeren Vaterlandes genossen. Die Vielseitigkeit des gemischten Systems erforderte „allround men", d. h. in allen Sparten des Bankwesens ausgebildete Mitarbeiter, die hierzu von ihren Lehrmeistern erzogen wurden. Die Ausbildung erfolgte im wesentlichen in der Praxis, und sie konnte hauptsächlich in der selbstverständlich von theoretischem Selbstunterricht begleiteten Praxis erfolgen, weil die kleinen Verhältnisse erfahrenen Lehrmeistern eine eingehende Beschäftigung mit dem Lernwilligen gestatteten. Ganz abgesehen davon, daß das eigene Interesse es diesen gebot, für tüchtigen Nachwuchs zu sorgen, wurde das Lernen den Bankbeamten dadurch erleichtert, daß es im wesentlichen nur gelernte Bankbeamte gab, und somit der jüngere Gelegenheit hatte, von dem älteren zu lernen. Ein relativ hoher Prozentsatz hatte mit dem Kredit-, Sekretariats- und Auslandsgeschäft zu tun und diese Tätigkeit forderte Kenntnisse und Fähigkeiten, die sich durch mechanische Geschicklichkeit irgendwelcher Art nicht ersetzen ließen. Auch der Schalterverkehr, vor allem aber die Beratung 10

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des Publikums erforderte eine gewisse Vertrautheit mit dem Gang und dem inneren Zustand der Wirtschaft — denn das ratbedürftige Publikum wollte j a nicht wissen, was es in den Zeitungen lesen konnte, sondern wollte hören, was es nicht in den Zeitungen fand. J e höher die an den Bankbeamten gestellten Anforderungen wurden, um so mehr machte sich das Bedürfnis nach einer Ergänzung des in der Praxis Gelernten durch praktischen Unterricht bemerkbar. Die Zunahme des Zahlungsverkehrs ändert das Verhältnis zwischen Denken und mechanischer Tätigkeit zugunsten des letzteren. Selbstverständlich erfordert die Beschäftigung im Zahlungsverkehr die größte Zuverlässigkeit und Aufmerksamkeit — auch auf diesem Gebiet gibt es individuelle Bedienung, die von dem Kunden dankbar empfunden wird. Gleichwohl ist damit eine Menge rein mechanischer Arbeit verbunden, die mit Zunahme des Zahlungsverkehrs einen immer größeren R a u m innerhalb des Gesamtgeschäfts einnahm und einnimmt und heute bei einer Filialgroßbank auf 60 % geschätzt wird, während dort auf das Kreditgeschäft 3 0 % und auf das Effektengeschäft 1 0 % der Gesamttätigkeit entfallen. Der Krieg hat in den Stamm der Mitarbeiter des Bankwesens eine grausame Lücke gerissen. Die Inflation brachte zeitweise einen ungeheuren Zuwachs an ungelernten Angestellten mit sich, und zwar auch älteren, die selbst lernbedürftig waren und dem jüngeren Nachwuchs an Kenntnissen nur wenig zu bieten vermochten 1 ). Unter diesen Umständen gewann die Übermittlung von Kenntnissen auf dem Wege des Unterrichtes wesentlich an Bedeutung, und dies um so mehr, als die Anforderungen, welche an die Fähigkeit und das Können des Bankbeamten gestellt werden, infolge der zunehmenden Kompliziertheit des Wirtschaftslebens zweifellos gewachsen sind, während die Übermittlung der Kenntnisse von Mensch zu Mensch aus den hervorgehobenen Gründen nachgelassen hat. Hierzu hat bis zu einem gewissen Grade auch die durch die Zunahme des Zahlungsverkehrs bedingte Maschinisierung der Betriebe beigetragen, die auch auf die menschlichen Beziehungen innerhalb des Bankkörpers nicht ohne Einfluß bleiben konnte. Man darf nie vergessen, daß es im Bankgewerbe so etwas wie Arbeit an einem sichtbaren Werk nicht gibt, und damit entfällt die im beruflichen Verkehr vielleicht wesentlichste Grundlage für die Herstellung der Beziehungen von Mensch zu Mensch, gleichgültig, welche Stellung er im Betrieb einnimmt. Stets wird der plastisch in Erscheinung tretende Gegenstand oder Arbeitsvorgang ein geeigneteres AnV g l . Fischer, V o r t r a g im Institute of Bankers, 18. M ä r z 1936, veröffentlicht vom Deutschen Institut für Bankwissenschaft und Bankwesen.

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knüpfungsmittel für die Unterhaltung und damit für das menschliche Sichnähertreten sein als der mit Zahlen beschriebene Papierbogen. Ein in der Herstellung befindlicher Glasballon im Wert von fünf Mark gibt mehr Gesprächsstoff als eine Gutschrift von einer Million, bei der man von außen nicht sehen kann, was hinter ihr steckt. Daher ist im Bankbetriebe die Gefahr eines Aneinandervorbeiarbeitens und damit einer ungenügenden Würdigung der Arbeit des anderen besonders groß. Ein Betrieb kann aber nicht gedeihen, wenn nicht die in vorgerückten Stellungen befindlichen Mitarbeiter das richtige Verständnis für die Arbeit und die Sorgen der unter ihrer Führung arbeitenden Gefolgschaftsmitglieder besitzen. Umgekehrt kann in einem Betriebe jene Ordnung und Disziplin, ohne die eine Gewähr für ein sicheres Funktionieren des Betriebes nicht übernommen werden kann, nicht herrschen, wenn nicht anerkannt wird, daß auch ein Wirtschaftsbetrieb der Offiziere nicht entbehren kann, die sich ihrer Verantwortlichkeit in menschlicher und sachlicher Hinsicht voll bewußt sind, für welche der Kameradschaftsgeist nicht ein leeres Wort, sondern die unersetzliche Grundlage für Berufs- und Lebensfreude ist, bei denen Herz und Verstand am richtigen Fleck sitzen und denen daher der Anspruch auf autoritäre Führung nicht versagt werden kann. Ohne sie kann kein noch so tüchtiger Vorstand für das Funktionieren, vor allem aber auch für die Sicherheit des Betriebes die Gewähr übernehmen, und die Zusammensetzung des Stabes wird stets ein Prüfstein für die Tüchtigkeit einer Bankleitung sein. Dieser Grundsatz ist für das Bankwesen deswegen ganz besonders zu beachten, weil j a dieses für keinen Posten — abgesehen von den juristischen und volkswirtschaftlichen Abteilungen — eine außerbankliche Vorbildung, insbesondere eine akademische, voraussetzt, und somit auch die leitenden Stellen in den Zentralen und Filialen aus der Gefolgschaft selbst sich ergänzen. Unter diesen Umständen mußte im Zusammenwirken mit der B e t r i e b s g e m e i n s c h a f t B a n k e n u n d V e r s i c h e r u n g e n i n d e r D e u t s c h e n A r b e i t s f r o n t dafür gesorgt werden, daß die vorhandenen außerbetrieblichen Unterrichtsmöglichkeiten vereinfacht und die Lehrpläne so ausgestaltet werden, daß sie auch den in der Praxis bereits bewährten und zur Menschenführung geeigneten Mitarbeitern etwas zu bieten vermögen. Dies machte es notwendig, den Unterricht in drei Stufen zu zerlegen, nämlich eine für Lehrlinge, eine andere für die jungen ausgelernten Beamten und eine weitere für solche Gefolgschaftsangehörige, die auf Grund ihrer bisherigen Leistungen und Kenntnisse für das Auf10»

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rücken in leitende und mitleitende Stellen geeignet erscheinen. Während die Teilnahme an den Lehrlingskursen obligatorisch gestaltet werden muß, ebenso wie die an diese Kurse sich anschließende Prüfung, ist die Teilnahme an den weiteren Kursen freiwillig. Nur diejenigen, welche das Streben haben, ihre Kenntnisse und ihr Können zu erweitern, brauchen daran teilzunehmen. Eine weitere Frage war die, ob den Teilnehmern an den freiwilligen Lehrgängen die Möglichkeit geboten werden sollte, sich einer Prüfung zu unterziehen. Die Erwägungen, welche dafür und dagegen sprachen, haben hinsichtlich der mittleren Stufe zu einer bejahenden Entscheidung geführt, und Reichsbankpräsident Dr. S c h a c h t hat den Ehrenvorsitz des für die Durchführung der Prüfungen zuständigen Kuratoriums übernommen. Bei dem Kursus für Fortgeschrittene, dem sogenannten Reichslehrgang Banken, dessen Ehrenvorsitzender gleichfalls Dr. S c h a c h t ist, sind Prüfungen nicht eingeführt worden, da diese Kurse ohnehin in Form von prüfungsmäßigen gemeinsamen Unterhaltungen abgehalten werden . Sie stellen somit einen Leistungswettbewerb dar und sollen die Geeignetheit zur Beratung des Publikums, rasche Entschlußfähigkeit und kameradschaftlichen Sinn unter Beweis stellen. Selbstverständlich ist die Frage der beruflichen Ausbildung nur ein Teil des Gesamtproblems. Daneben gilt es, den Gefolgschaftsmann mit Berufsfreude und Berufsstolz zu erfüllen und ihn dazu zu erziehen, daß er sich bei seiner Tätigkeit nicht nur als Bankfachmann, sondern auch als Mitkämpfer in dem Kampf um die Erstarkung und Festigung der deutschen Wirtschaft fühlt. Man darf nicht verkennen, daß die Verknüpfung des Berufes des Bankmannes mit dem Milieu der städtischen Bürohäuser, des Aktenbetriebes und des Zahlenwerkes ihn leicht dem eigentlichen Leben, das in den Bankvorgängen sich spiegelt, also der Produktion, dem Handel, dem Verkehr usw. räumlich entrückt und ihn so zu einer gewissen Weltfremdheit führen kann, die bei manchen vorzeitige Müdigkeit und Interesselosigkeit, bei anderen wieder eine übertriebene Vorstellung von der Wichtigkeit ihrer beruflichen Tätigkeit zur Folge haben kann. Hiergegen muß man ein Gegengewicht dadurch schaffen, daß der Gefolgschaft der Bank durch praktische Anschauung plastische Vorstellungen von dem geistigen Inhalt der Banktätigkeit vermittelt werden; sie muß wissen, was hinter den Zahlen eigentlich steckt. Wer ,sich klar wird, welche Bedeutung Vgl. Fischer, Die Berufsausbildung in der Reichsgruppe Banken. Bankarchiv X X X V Nr. 15. Vgl. auch Caulcutt, Das Ausbildungswesen bei den englischen Banken, Vortrag beim Deutschen Institut für Bankwissenschaft und Bankwesen, herausgegeben von diesem.

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die Banktätigkeit für den Kunden hat, sowohl nach der Seite des Zahlungsverkehrs als auch der Kreditgewährung hin, wird nicht nur größere Freude an dem Beruf als solchen haben, er wird sich vor allem auch mit seinem eigenen Betrieb und dessen Wohlergehen mehr verwachsen fühlen. U m die innere seelische Verbindung der Arbeit des Einzelnen mit der Verantwortung für die Gesamtheit herzustellen, ist aber noch mehr nötig als die Arbeit und Leistung im Betrieb. Hinzukommen muß für die hierzu Geeigneten die Eingliederung in den Rahmen des öffentlichen Lebens, die ihnen eine über ihre berufliche Tätigkeit hinausgehende Verantwortung für einen bestimmten Komplex ö f f e n t l i c h e r Interessen zuweist. Wer in der großen Organisation der Arbeit und Wirtschaft, an welcher Stelle es auch immer sei, mitarbeitet, wird sich ganz von selbst als Glied des Ganzen fühlen und es wird sein selbstverständliches Streben sein, diese Auffassung auf die betreuten Arbeitskameraden zu übertragen. Dies gilt für die Zusammenarbeit im Betrieb ebenso wie für die Zusammenarbeit in den großen, vom nationalsozialistischen Staate geschaffenen Organisationen. Alles das wird dazu helfen, die auf überholten sozialen Einstellungen, auf gedankenlosen Vorurteilen, auf Mißtrauen und Dünkel beruhenden Spannungen und Verständnislosigkeiten endgültig zu überwinden. Wer in der Lage ist, sich ein klares Bild zu machen über die Bedeutung seines Betriebes für die Wirtschaft und die Volksgemeinschaft, über den Wert seiner und seiner Berufskameraden Arbeit für den Betrieb, wer bereit ist, die Leistungen aller Berufskameraden, an welcher Stelle auch immer sie wirken mögen, vorbehaltlos anzuerkennen, wer gewillt ist, die Sorgen der Betriebsführung ebenso wie die Sorgen der Gefolgschaft zu würdigen, wird dazu beitragen, daß Dünkel, Minderwertigkeitsgefühle und Verbitterung bald der Vergangenheit angehöien und echtem Gemeinschaftsgeist Platz machen. DER ÖFFENTLICHE

VERANTWORTUNGSBEREICH

I. V e r h ä l t n i s d e r K r e d i t i n s t i t u t e u n t e r e i n a n d e r Wenn man vom Bankwesen spricht, sei es in freundlichem, sei es in weniger freundlichem Sinne, kann leicht der Gedanke an eine Einheitsfront der Banken auftauchen. Eine solche Einheitsfront hat nicht einmal nach außen jemals existiert, ebensowenig wie jemals — von gewissen Grundsätzen abgesehen — einheitliche Auffassungen der Banken über die Kreditpolitik zu finden waren. Zwar wurden bei den von Zeit zu Zeit stattfindenden Bankiertagen einstimmige Resolutionen gefaßt,

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aber hinter diesen Resolutionen, die sich naturgemäß mit den großen Fragen beschäftigten, verbargen sich häufig weitgehende Meinungsverschiedenheiten über bankpolitische Zweckmäßigkeiten, vor allem aber scharfe Kämpfe der Banken nicht nur um den Kunden, um die Anknüpfung oder Befestigung internationaler und nationaler Bankverbindungen, sondern auch um Prestigefragen — sei es, daß es sich um die Führung innerhalb einzelner großer wirtschaftlicher Unternehmungen oder um eine besonders angesehene Stellung gegenüber dem Staat und der Gesamtwirtschaft handelte. Man wird vielleicht sogar behaupten können, daß diese Prestigefragen zeitweise eine größere Rolle gespielt haben als materielle Fragen, wenn man natürlich auch nicht übersehen darf, daß ein Zuwachs an „good-will" auch seine wohltätige materielle Folge zu haben pflegte. Diese Verschärfung des Wettbewerbes war eine natürliche Folge der Veränderung der Stellung der Banken innerhalb der Wirtschaft. In der ersten Phase der Tätigkeit des Bankwesens war der Wettbewerb der Banken untereinander nicht besonders ausgeprägt und berührte die Wirtschaft im ganzen nur in geringem Maße. Auf die einzelne Bank entfiel ein sehr viel höherer Prozentsatz der Bevölkerung als heute, so daß zu einem gegenseitigen Abjagen der Kunden weder Veranlassung noch Gelegenheit war. Nach Sombart (Die Entwicklung der Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert) bestanden im Jahre 1842 im Geld- und Kredithandel in Preußen 422 „Handlungen", so daß auf 36000 Einwohner ein „Kreditinstitut" entfiel, während im Jahre 1933 im Reichsdurchschnitt auf ca. 3000 Einwohner ein „Kreditinstitut" entfiel 1 ). Es handelte sich dcmnach damals bei dem Wettbewerb der Kreditinstitute lediglich darum, sich aus der großen Masse der in Frage kommenden Kunden diejenigen herauszusuchen, denen der Verkehr mit einer Bank Vorteile für die Verwaltung ihres Vermögens bringen konnte, und für die Aufnahme einer Bankverbindung kam in der Regel nur eine Bank in Betracht. Hinzu kam, daß die Geschäfte selbst einen viel individuelleren Charakter hatten; viele Bankiers lehnten es geradezu ab, von jedermann Depositen anzunehmen. Bei den nichtgewerblichen Kunden handelt es sich vielmehr zum größten Teil um die Beratung und Mitwirkung bei der Anlage des Vermögens, und diese Beratung kann mit Erfolg nur gegeben werden, wenn man die indiviDer Präsident der New York Bankers Association und der Bankers Trust Company, New York, machte in einem Vortrag in New York am 20. Juni 1936 die Feststellung, daß in England auf 4000 Einwohner eine Bankstelle entfiel, während in New York auf 9400 Einwohner und in den Vereinigten Staaten auf 6900 Einwohner und in Kanada auf 3000 Einwohner eine Bankstelle kommt.

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duellen Verhältnisse des Kunden berücksichtigt, denn es ist z. B. ein Unterschied, ob der Kontoinhaber bei seiner Vermögensanlage auf das Vorhandensein von Erben Rücksicht nehmen muß oder nicht, ob die Söhne Kaufleute, Offiziere oder Beamte werden, und ob die Töchter Landwirte oder Diplomaten oder Künstler heiraten. Aber auch die gewerbliche Kundschaft bedurfte einer individuellen Beratung, weil die geschäftliche Tätigkeit in der damaligen Zeit viel häufiger in völliges Neuland führte als in der heutigen Zeit. Allgemein anwendbare Erfahrungen hinsichtlich der mannigfachen, in der Kreditgewährung steckenden Gefahren waren nicht vorhanden, die Technik der Bilanzprüfung wenig vorgeschritten, das Auskunftswesen kaum in den ersten Anfängen und die Beurteilung der Zukunftsaussichten — sei es für die Wirtschaft im ganzen, sei es für die einzelnen Unternehmungen — war in noch stärkerem Maße als heute von rein stimmungsmäßigen Momenten abhängig. Der Kunde war also keine „vertretbare" Angelegenheit und der Kreis der für Bankgeschäfte zu gewinnenden Kunden wuchs zu schnell, als daß gerade das gegenseitige Abjagen von Kunden besonders gereizt hätte. Natürlich gab es Persönlichkeiten, öffentliche Anstalten, Firmen oder Geschäftshäuser, deren Bankier zu sein ein besonderer Vorzug war, und diese werden entsprechend umworben gewesen sein, aber was man diesen Kunden als Anreiz bot, waren die besonderen Eigenschaften der ihre Dienste anbietenden Persönlichkeit und nicht das Angebot niedrigerer Zinsen oder vordatierter Valutierungen. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Zunahme der Bankkonten auf die wachsende Notwendigkeit, sich der Banken für Zwecke des Zahlungsverkehrs zu bedienen, zurückzuführen ist oder auf die Aufklärung, welche dem Publikum über die Vorzüge eines Bankkontos zuteil wurde. Ersteres wird vorzugsweise den Geschäftsmann, der sein Geschäft immer weiter über den Standort des Unternehmens ausdehnte und in immer höherem Maße gleichzeitig Kreditgeber bei seiner Kundschaft und Kreditnehmer bei Lieferanten und Banken wurde, letzteres mehr den Privatmann beeinflußt haben. Sicher ist nur, daß, je kleiner das noch unabgegraste Gebiet wurde, um so schärfer die Konkurrenz der Banken untereinander werden mußte: dabei ist die Frage nicht unwichtig, ob die Erlangung von Debitoren oder von Kreditoren im Vordergrunde stand. Man wird diese Frage nicht mit voller Klarheit nach der einen oder nach der anderen Richtung beantworten können, aber vielfach wird es so gewesen sein, daß bei den Banken in ihrem Ausdehnungsdrang die Erlangung eines Zuwachses an Kreditoren im Vordergrund stand, da sie Debitoren bereits hinreichend besaßen,

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während die Geschäftsleute und die spekulierenden Privatleute den Wunsch nach einem neuen Kreditgeber hegten. Daraus ergaben sich wichtige Folgen für den W e t t b e w e r b . Ein Zuwachs an Kreditoren ist bei Gleichheit des Sicherheitsfaktors und der allgemeinen Leistungen in erster Linie durch Entgegenkommen in der Zinsfrage zu erreichen, und dies gilt auch für die Debitoren, wobei es freilich noch die weitere Möglichkeit gibt, sich höhere Zinseinnahmen dadurch zu verschaffen, daß man weniger guten und daher zur Zahlung höherer Zinsen bereiten Personen Kredit gibt. Es ist weiter klar, daß, wenn die Konkurrenz sich allmählich auch auf die z w e i t k l a s s i g e n Schuldner erstreckte, eine Gefährdung der Sicherheit mit ihren Rückwirkungen auf die Bankbilanzen und die Schuldnermoral eintreten m u ß t e — denn niemand läuft ungestraft einem schlechten Schuldner nach. Es muß daher als großes Verdienst gewertet werden, wenn die zunächst für andere Zwecke unter Führung der Direktion der Discontogesellschaft gegründete Stempelvereinigung Auswüchsen auf diesem Gebiet weitgehend entgegentrat, nicht nur, weil dadurch eine schließlich nur den weniger kreditwürdigen Elementen zugute kommende und daher volkswirtschaftlich in ihren Auswirkungen schädliche Debitorenjagd weitgehend unterbunden wurde, sondern weil dadurch auch der Grundstein zu einer rationellen Rentabilitätsberechnung gelegt wurde. Natürlich besteht bei solchen Vereinbarungen immer die Gefahr einerseits der allzu engen Auslegung, andererseits des Suchens nach Umgehungsmöglichkeiten, und zwar besonders dann, wenn nachgeordnete Verwaltungsstellen bei den Banken den Sinn einer solchen Bedingungsgemeinschaft nicht voll erfassen und sich zur Entschuldigung gegenüber dem umworbenen Geschäftsmann darauf berufen, daß an der Unmöglichkeit weiteren Entgegenkommens die Direktion der Zentrale oder dieses oder jenes Abkommen schuld seien, statt ihn über die Berechtigung der zwischen den Banken getroffenen Vereinbarung aufzuklären. Die dadurch erzeugte Verständnislosigkeit für die Belange des Bankwesens ist u m so bedenklicher, als die Zahl der zweitklassigen oder gar der abgelehnten Schuldner weit größer ist als die der erstklassigen und den ersteren deshalb mehr Ohren und Zungen zur Verfügung stehen als den Banken oder den erstklassigen Schuldnern. Es kann selbstverständlich nicht der Sinn von Wettbewerbsabkommen sein, d a ß die Banken sich gegenseitig einen bestimmten Besitzstand garantieren. Das würde in kurzer Zeit zu einer Bevorzugung der geringeren Leistung und damit zur Nichtbefriedigung legitimer Kreditbedürfnisse führen. Die bessere Leistung muß sich im Geschäftsbetrieb

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auch bei den Banken durchsetzen können, und die Leistungen der Banken drücken sich ja keineswegs im wesentlichen in der Höhe der Zinsen und Provisionen aus. Im Verkehr mit den Banken wird stets das persönliche Moment eine Rolle spielen. Selbst beim Zahlungsverkehr kann trotz technisch gleicher Einrichtungen die Zufriedenheit mit der Bedienung eine außerordentlich verschiedene sein. Vor allem setzt die bankmäßige Beratung bei der Kapitalanlage und Kreditbewilligung ein nur durch anerkannte Sachkenntnis zu erwerbendes persönliches Vertrauensverhältnis zwischen Bank und Kundschaft voraus. Daß alles das unter den schwierigen Verhältnissen, wie sie die Nachkriegszeit mit sich gebracht hat, eine besondere Rolle spielt, bedarf kaum der Hervorhebung. Dies muß bei der Behandlung der Wettbewerbsfragen naturgemäß sorgfältig beobachtet werden, wenn nicht das Streben nach Hebung der Leistungen darunter leiden soll. Es ist natürlich, daß in einem Lande, in dem der Kapitalbedarf besonders dringlich war, aufdie Heranziehung von Depositen ein besonderes Augenmerk gerichtet wurde, da nur hierdurch die erforderliche Leistungsfähigkeit im Kreditgeschäft erreicht werden konnte. Es konnte nicht ausbleiben, daß das Streben nach Vergrößerung der Einlagen bei den der Annahme von Spargeldern dienenden Instituten zu Übergriffen in die Bankensphäre, bei den übrigen Instituten zu Ansprüchen auf die für Sparzwecke geeigneten Gelder führte. Dies mußte um so mehr der Fall sein, als es keine Unterscheidungsmerkmale gibt, die in jedem Falle erkennen lassen, in welche Kategorie die betreifenden Guthaben gehören. Dadurch wurde der Wettbewerb aus der innerbanklichen Sphäre hinausgetragen und zu einer das gesamte Kreditwesen interessierenden Angelegenheit. Auch auf diesem Gebiet hat die Entwicklung der Nachkriegszeit zu einer wesentlichen Verschärfung beigetragen. Zu der allgemeinen Verkürzung der Kapitaldecke — soweit man zeitweise überhaupt von einer solchen noch sprechen konnte — kam, wie bereits hervorgehoben wurde, hinzu, daß das wirtschaftliche Denken durch den Krieg und die Nachkriegszeit sich immer mehr in ein „festverzinsliches Denken" verwandelt hat*). Es ist klar, daß hierdurch in vielen Kreisen der Wirtschaft ein Denken erzeugt wurde, das mit dem, welches bis dahin für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands maßgebend und unentbehrlich gewesen war, im krassen Widerspruch stand. Zur Erweiterung des statischen, d. h. also festverzinslichen Denkens und zur Einschränkung der Risikobereitschaft trug aber weiter noch J)

V g l . Schwarzkopf, Q u e l l e n und L a g e des Kapitalmarktes, Bankverlag, Berlin

1936, S. 5.

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die Zunahme der Festbesoldeten, vor allem die Gewerkschafts- und Versicherungspolitik bei, und das hatte in vielen Kreisen die Folge, daß man die Risikoübernahme seitens eines Unternehmens als fragwürdiges Hasardspiel betrachtete und die Banken, welche dem Unternehmen Kredite gaben, in erster Linie als Einrichtungen gewaltigen Umfanges für die Förderung des unternehmerischen Hasardspiels ansah. Dies trug dazu bei, daß der Konkurrenzkampf nicht nur um Spargelder, sondern auch um die Prinzipien scharfe Formen annahm und daß — wie so häufig — mit Moralbegriffen gearbeitet wurde, wo es sich um nüchterne Wirtschaftsprobleme handelt. Dieser Kampf wurde nicht nur zwischen den Sparkassen und Banken, sondern vor allem auch zwischen Sparkassen und Genossenschaften, deren Klientel strukturell vielfach identisch ist, ausgetragen, und zwar wurde er um so schärfer geführt, als man vielfach auf den verschiedenen Seiten von der Überflüssigkeit der anderen Seite überzeugt war. Dieser Kampf konnte auf die Dauer keiner der Parteien Vorteile bringen, nicht nur weil das Kampfziel unerfüllbar war, sondern weil die Erreichung des Kampfzieles volkswirtschaftlich unerträglich gewesen wäre. Es muß als ein Verdienst des Schöpfers des Kreditgesetzes, Dr. S c h a c h t , und der Bemühungen des Reichskommissars für das Kreditwesen, Dr. E r n s t , angesehen werden, daß man diesem Zustande ein Ende gemacht hat, bevor der Beweis seiner volkswirtschaftlichen Unerträglichkeit durch die Macht der Tatsachen erbracht worden war, und d a ß man versucht hat, eine reinliche Scheidung zwischen den den verschiedenen Kreditgruppen zustehenden Geldern und Kapitalien herbeizuführen und die Wettbewerbsbedingungen einigermaßen gleichzugestalten. Selbstverständlich können gesetzgeberische Akte oder organisatorische Maßnahmen allein nicht zum Ziel führen. Dazu gehört die Einsicht, daß die Begriffe Wettbewerb und Kameradschaftlichkeit sehr wohl miteinander in Einklang stehen können. Kameradschaftliches Handeln bedeutet die Überwindung von Schwierigkeiten durch gleichgestimmtes Handeln, und erst dann, wenn überall darüber Klarheit besteht, daß es beim Kreditwesen nicht auf die Erfüllung von Prestige- und Machtansprüchen, sondern nur darauf ankommt, wie der Kreditbedarf der Wirtschaft am besten gedeckt und der Zahlungsverkehr am vollkommensten bewältigt werden kann, wird der positive Gehalt des Wettbewerbsprinzips zur Geltung kommen und nicht nur den Banken, sondern der Gesamtheit zum Nutzen gereichen.

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Gesetzgeberische und verwaltungsmäßige Akte können immer nur den äußeren Rahmen solcher organisatorischen Gemeinschaftsarbeit schaffen, Inhalt und Leben müssen ihm die Glieder und Gruppen der Wirtschaft, vor allem aber die diese vertretenden Persönlichkeiten selbst geben. Dazu genügt nicht eine äußerliche Gleichrichtung, sondern in der kleinsten Zelle des Wirtschaftsorganismus muß der unbeugsame Wille, im Sinne der nationalsozialistischen Wirtschaftsführung tätig zu sein, zur Selbstverständlichkeit werden. Dieser Wille ist wichtiger als die Organisation selbst, die j a stets nur ein wenn auch unentbehrliches Hilfsmittel für die Bildung gemeinsamer Fronten sein kann. Niemals darf diese Wirtschaftsorganisation zum Selbstzweck werden. Organisationsfanatiker haben in der Wirtschaft keinen Platz, denn wenn die Organisation den Geschäftsmann erdrückt, statt ihn zu fördern, wird es bald etwas Organisierbares nicht mehr geben. Dem Kreditwesen bietet in organisatorischer Hinsicht die R e i c h s g r u p p e B a n k e n mit ihren U n t e r g l i e d e r u n g e n e i n e r s e i t s , die Reichsbetriebsgemeinschaft Banken und Versicherungen andererseits den äußeren Rahmen für die Mitarbeit des Kreditwesens und der in ihm Tätigen am Aufbau der deutschen Wirtschaft. Die Aufgabe der Reichsgruppe besteht in der Vertretung der gemeinsamen Interessen des Kreditwesens, also insbesondere in der Behandlung von Fragen des Wettbewerbs, der Ausbildung, in der Stellungnahme zu Rechtsfragen, in der Förderung der Banktechnik und der wissenschaftlichen Forschung usw. Sie hat auch Beschwerden über angeblich ungerechtfertigte Kreditverweigerung nachzugehen, wobei zu bemerken ist, daß den meisten bisher bearbeiteten Beschwerden Verwechslungen über Kredit und Kapital oder Produktions- und Konsumkredit zu Grunde lagen. Durch die Eingliederung der Reichsgruppe in die Reichswirtschaftskammer bzw. den Bereich der Reichswirtschaftskammer ist eine willkommene Gelegenheit zur Zusammenarbeit mit den übrigen Wirtschaftszweigen gegeben. Sie wird dann von besonderem Nutzen sein, wenn bei allen Beteiligten die Überzeugung von der organischen und nicht nur organisierten Zusammengehörigkeit der einzelnen Wirtschaftszweige entsteht und wachgehalten wird, und die Sorgen der anderen auch als eigene Sorgen angesehen werden. Sie ist weder eine geeignete Nährstätte für „Fraktionen", d. h. also für eine Vereinigung Die Reichsgruppe Banken umfaßt folgende Wirtschaftsgruppen: Privates Bankgewerbe, öffentliche Banken mit Sonderaufgaben, öffentlich-rechtliche Kreditanstalten, Sparkassen, Kreditgenossenschaften, Kreditunternehmungen verschiedener Art.

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der Interessenverbundenen, so wichtig ein Meinungsaustausch für diese ist, noch ein Tummelplatz für Nurfachleute, so unentbehrlich selbstverständlich auch hier gründliche Fachkenntnisse sind, und so wünschenswert es ist, daß die Besonderheiten und Nöte eines Berufes, Gewerbszweiges oder Bezirkes mit auf Erfahrung beruhender Gründlichkeit dargestellt werden. Denn es ist immer wieder betrübend, bei den verschiedenen Gelegenheiten feststellen zu müssen, wie wenig eigentlich die Berufe sich gegenseitig kennen, wie gering bei jedem Beruf das Verständnis für die Bedürfnisse und Sorgen des anderen Berufes ist und wie wenig die gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen Berufe erkannt wird. D a das Bankwesen mit a l l e n Berufen in Verbindung stehen muß und deshalb auch auf Verständnis bei allen Beruf en rechnen muß, erklärt es sich, daß das Bankwesen auch als Prügelknabe für die Nöte aller Berufe einen fast aussichtslosen Kampf gegen seine eigene Unpopularität zu führen hat. Durch die sogenannte Leipziger Vereinbarung zwischen dem Reichswirtschaftsminister, dem Reichsarbeitsminister und dem Leiter der Deutschen Arbeitsfront, der später noch der Reichsverkehrsminister beigetreten ist, sowie durch die Bildung des Reichsarbeits- und Wirtschaftsrates ist die deutsche Wirtschaftsorganisation mit der Arbeitsfront, und zwar das Kreditwesen mit der Reichsbetriebsgemeinschaft Banken und Versicherungen organisch verbunden worden. Damit ist die Grundlage für eine Zusammenarbeit zwischen Betriebsführung und Gefolgschaft geschaffen, welche die Voraussetzung für die von beiden Teilen gewünschte und im nationalsozialistischen Staat unerläßliche endgültige Abwendung von Spannungszuständen und Gegensätzen zur Anerkennung der grundsätzlichen Interessenidentität und für die Durchsetzung des Leistungsprinzips bildet. II. P u b l i z i t ä t s p f l i c h t e n d e s K r e d i t g e w e r b e s Das Reichsgesetz über das Kreditwesen stellt nicht nur die Rentabilitätspflicht des Bankwesens fest und schafft Voraussetzungen für die Verbesserung der Rentabilitätsgrundlagen, sondern verlangt auch vom Bankwesen, daß es der interessierten Öffentlichkeit über E r f o l g o d e r M i ß e r f o l g seiner wirtschaftlichen Handlungen und damit über das Maß der Sicherheit der von ihm angenommenen Einlagen und verwalteten Vermögenswerte Rechenschaft ablegt. Aber die Rechenschaftspflicht des Bankwesens geht über die Ermöglichung dieser sehr wichtigen Kontrolle weit hinaus, insofern mit Recht verlangt wird, daß das Bankwesen seine Beobachtungen über den Ablauf der wirtschaftlichen Entwicklung, wie sie sich gerade aus der bankgeschäft-

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liehen Tätigkeit ergeben, der interessierten Öffentlichkeit unterbreitet, also nicht nur den Aktionären und Depositären, sondern auch allen übrigen Interessenten, insbesondere also auch der im Dienste aller Beteiligten stehenden Wirtschaftspresse, wobei selbstverständlich die gebotene Rücksicht auf die Staatsinteressen genommen werden muß. Die Lösung dieser Aufgabe wird sich in Zukunft noch schwieriger gestalten, als es bisher schon der Fall war, da in der nächsten Zukunft an die Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung andere Maßstäbe zu legen sein werden als bisher. Es hat sicherlich zu dem ungeheuren Ausmaß des hinter uns liegenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs beigetragen, daß die Warnungssignale, welche sonst vor Eintritt einer Krisis aufzutreten pflegen und sich auf dem Geld- und Kapitalmarkt besonders bemerkbar machen, infolge der Kreditaufnahmen im Ausland für eine überlange Zeit unbeachtet geblieben sind. Dies hat, namentlich im Zusammenhang mit der durch forcierte Ausfuhr herbeigeführten Vorratsentblößung, zweifellos dazu beigetragen, daß der Wiederaufbau der Wirtschaft nicht aus vorhandenem Kapital erfolgen kann, sondern daß Fundament und Grenzen des Aufbaus durch Arbeitskraft und Rohstoffe gebildet werden. Zu oft wird übersehen, daß es ein auf Kreditschöpfung beruhendes Kaufvermögen nur noch in ganz geringem Maße gibt und daß infolgedessen die auf der Kreditausweitung beruhenden Konjunkturbeurteilungsmaßstäbe gegenstandslos geworden sind. Die Konjunkturentwicklung in Deutschland steht insofern in einem offenbaren Gegensatz zur englischen Konjunktur, wo die Kapitalmarktprobleme insbesondere in bezug auf die Zinsbildung im Vordergrund stehen, während die Probleme der Materialbeschaffung und des Arbeitseinsatzes zunächst nur eine untergeordnete Rolle spielen. Auf der anderen Seite bleibt der Anteil, welchen die Banken an der Beobachtung des Wirtschaftsablaufes haben, zum mindesten ebenso groß wie früher. Die engen Beziehungen der Banken zu der Gesamtwirtschaft bringen es mit sich, daß Fortschritte und Schwierigkeiten sich sehr rasch in ihrem Blickfeld zeigen. Als für Veröffentlichungen geeignetes Material stehen im Vordergrunde die Jahresbilanzen und die Geschäftsberichte der Kreditinstitute, sodann die in sehr viel kürzeren Zeitabständen erscheinenden Veröffentlichungen der Monatsbilanzen, die von der Volkswirtschaftlichen und Statistischen Abteilung der Reichsbank zusammengestellt werden. Wünschenswert wäre es, daß diese Bilanzveröffentlichungen von wirtschaftspolitisch interessierten Stellen auch wirklich zur Kennt-

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nis genommen und in ihrem wirklichen Gehalt erfaßt werden. Dazu gehört natürlich die Fähigkeit, Bilanzen zu verstehen, die Unterschiede zwischen Industrie- und Bankbilanzen zu erkennen und aus dem Bilanzbild das Wesentliche herauszulesen. Die sinnvolle Analyse von Bilanzen setzt eine Fülle von volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Kenntnissen voraus. Fehlen diese, so muß es eine vergebliche Bemühung bleiben, aus den Bankbilanzen Aufschlüsse zu vermitteln, ebensowenig wie man einem Menschen, der noch nie in seinem Leben etwas vom Wesen und Funktionieren von Explosionsmotoren und von Kraftübertragung gehört hat, die Feinheiten und Besonderheiten eines besonders vollendeten Motors klarmachen kann. Hier liegen Beschränkungen, die auszugleichen und zu bessern nur soweit im Einflußbereich der Banken liegt, als die Verwaltung dafür zu sorgen hat, daß die Bilanzen und Geschäftsberichte bei der Generalversammlung durch mündliche Erläuterungen — sei es seitens des Aufsichtsratsvorsitzenden, sei es seitens des Vorstandes selbst — erweitert werden, die das Geschäftsergebnis im Rahmen der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung beleuchten und erklären. Die in England üblichen Reden des Chairman of the Board bei der Generalversammlung geben dafür ein besonders interessantes Beispiel. Dabei entsteht die Frage, ob das Zahlenwerk als solches oder die textliche Erläuterung der Bilanzen, die gewissermaßen das geistige Band zum Verständnis der reinen Zahlen durch Darlegung der wichtigsten das Zahlenbild bestimmenden Geschäftsvorgänge zu bilden hat, größeren Wert für die Herstellung des nötigen Verständnisses der tatsächlichen Vorgänge hat. Jedem Bilanzkundigen leuchtet es ohne weiteres ein, daß die reinen Bilanzzahlen, für sich allein betrachtet wie auch in ihren Veränderungen gegenüber dem Vorjahresstand gesehen, noch keinen Aufschluß über die wirkliche Entwicklung geben. Hinter einer Debitorensumme von 100 Millionen Mark kann sich qualitativ sehr Verschiedenartiges verbergen, ihre Veränderung gegenüber dem Vorjahr ist jeweils der Saldo aus einer großen Zahl vielfältiger Bewegungen und Umschichtungen. In jedem Falle setzt die Möglichkeit, weitere Kreise wirklich aufzuklären, voraus, daß das Material in möglichst allgemeinverständlicher Form geboten, daß durch laufende Veröffentlichungen seine Kontinuität gesichert wird, und daß wichtige Vorgänge besonders kenntlich gemacht werden. O b durch besondere Aufgliederungen mit Hilfe von ausgeklügelten Bilanzschematas wesentliche Fortschritte erzielt werden können, darf füglich bezweifelt werden. Nur Ignoranten und Pedanten können annehmen, daß ein für alle Zeiten gültiger Frage-

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bogen oder ein ausgeklügeltes Formular jeden Schleier von den „Geheimnissen" der Bankbilanzen ziehen kann. Es gibt kein Formular, das den verschiedenen Vorgängen gerecht wird, hier können nur Fragen und Antworten Zweifel und Unklarheiten beheben, und es ist selbstverständlich, daß sachlich begründete Fragen der Publizistik, der j a die Termine der Generalversammlungen vorher bekannt sind, auch mit der gebührenden Gründlichkeit beantwortet werden. Das Bankwesen erkennt es stets dankbar an, wenn die Presse sich der Bankfragen mit besonderer Sorgfalt annimmt; dies um so mehr, als die Einarbeitung in die Bankprobleme große Erfahrungen und Kenntnisse sowohl des inländischen als des ausländischen Bankwesens und des organischen Zusammenhangs zwischen Wirtschaft und Bankwesen voraussetzt. Die Förderungen, welche das Bankwesen hierdurch erfahren hat, wird man hoch veranschlagen müssen; es kann die Kritik nicht entbehren, wobei natürlich auch die Kritik sich darüber klar sein muß, daß eine sachlich nicht gebotene Beeinträchtigung des Vertrauens in die Banken leicht Folgen haben kann, die einem durch ein achtlos weggeworfenes Streichholz verursachten Waldbrand nicht unähnlich sind. Aber auch bei sachlichster Kritik werden immer Probleme offenbleiben, die in Artikeln der Wochen- und Tageszeitungen nicht erschöpft werden können, sondern einer gründlicheren wissenschaftlichen Durchleuchtung und Bearbeitung bedürfen. Auch auf diesem Gebiet des Bankwesens kann man ohne Kenntnis der historischen Zusammenhänge leicht auf Irrwege geraten. Niemand wird zu einem gerechten Urteil über die Tätigkeit der Banken auf dem Kapitalmarkt gelangen können, der nicht einen Überblick über die g e s a m t e E n t w i c k l u n g hat. Die vorhandene Literatur ist nicht sehr umfangreich und, um dem darin liegenden Mangel abzuhelfen, ist das „Deutsche Institut für Bankwissenschaft und Bankwesen" gegründet worden, das die Aufgabe hat, besonders wichtige Beobachtungen aus der Banktätigkeit durch wissenschaftliche Bearbeitung und Aufbereitung für die Allgemeinheit fruchtbar zu machen. AUSBLICK Das in Nürnberg am 8. September 1936 verkündete Wirtschaftsprogramm verpflichtet alle schaffenden Deutschen zur sinn- und planvollen Mitarbeit an dem großen Werk, Deutschlands Wirtschaftslage so zu gestalten, daß eine Rohstoffblockade in Zukunft nicht mehr als geeignetes Mittel zur Niederzwingung Deutschlands in Betracht kommen

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kann. Zur Erreichung dieses Zieles, dessen staatspolitische Notwendigkeit die Geschichte der letzten 22 Jahre bewiesen hat, müssen alle seelischen, geistigen und wirtschaftlichen Energien der Nation eingesetzt werden, ein Einsatz, dessen Erfolg dann sicher ist, wenn sich jeder einzelne darüber im klaren ist, daß der Dienst am Staat und an der Volksgemeinschaft allem anderen vorangeht. Die der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus vorangehende Zeit hat uns die Augen geöffnet und die Folgen gezeigt, die eintreten müssen, wenn die Wirtschaft sich nicht klar ist über ihre Verantwortlichkeit gegenüber dem Staat, der Staat aber alles tut, um das Verantwortlichkeitsgefühl zu schwächen oder es vielleicht sogar als eine naturwidrige Einmischung in staatliche Angelegenheiten aufzufassen. Wenn die Wirtschaft sich mit allen Kräften in den Dienst am Staat stellt, so tut sie dies nicht nur, weil die gegenwärtigen Verhältnisse dies gebieten, sondern weil die Vergangenheit gelehrt hat, daß ein Gemeinwesen nicht bestehen kann, wenn die Wirtschaft andere Wege geht als die durch staatspolitische Notwendigkeiten vorgeschriebenen. Was von der Wirtschaft im großen gilt, gilt vom Bankwesen im kleinen, und zwar in ganz besonderem Maße, weil die richtige Verteilung der bei den Kreditinstituten sich ansammelnden Wirtschaftsenergien in hohem Maße zum Gelingen der gesamten wirtschaftlichen Arbeit beitragen kann. Die politische und wirtschaftliche Entwicklung seit 1914 hat es mit sich gebracht, daß die bei den Kreditinstituten sich ansammelnden Gelder in einem ungünstigen Verhältnis zu den Bedürfnissen stehen, und es ist selbstverständlich, daß sich dies in einer Zeit höchster wirtschaftlicher Anstrengung und Anspannung sehr bemerkbar machen muß. U m so wichtiger ist die sparsame und richtige Verwendung der vorhandenen Mittel entsprechend der Devise des alten Preußentums: mit kleinen Mitteln Großes schaffen. Unter solchen Umständen tritt die Notwendigkeit einer planvollen Behandlung des Kapitalmarktes immer mehr in den Vordergrund. Sie wird in erster Linie die Deckung der staatlichen Bedürfnisse im Auge haben, ohne dabei aber zu übersehen, daß die Wirtschaft häufig nur dann in der Lage ist, diese Bedürfnisse zu befriedigen, wenn sie nicht von der Kapitalzufuhr abgeschnitten wird. Die Beobachtungsmöglichkeiten, welche dem Bankwesen zur Verfügung stehen, können bei richtiger Benutzung die Ausfindigmachung des dringlichsten und wichtigsten Kapitalbedarfes erleichtern und dadurch dazu beitragen, daß Produktionsstockungen aus Kapitalmangel vermieden werden. Die enge organisatorische Verbindung, welche auf Grund des Kreditgesetzes zwischen der Reichsbank und dem Wirtschaftsministerium hergestellt ist, sorgt und bürgt dafür,

Das deutsche

Bankwesen

i6;

d a ß die Kreditpolitik der Banken sich im Rahmen der staatlichen Wirtschaftspolitik und demnach der Staatspolitik bewegt. Aber der Staat und das Gemeinwohl fordern ein weiteres von dem Verantwortlichkeitsgefühl des Kreditwesens, nämlich die Betätigung schöpferischer Initiative innerhalb dieses Rahmens. Immer werden es nur die großen Direktiven sein können, welche vom Staat ausgehen; die Exekutive blieb bei denjenigen, welche die Verantwortlichkeit für den Gang des Unternehmens haben und Exekutive bedeutet nicht nur die mechanische Ausführung erteilter Aufträge, sondern die Lösung der Frage, wie diese Aufträge in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht am zweckmäßigsten ausgeführt werden, welche Umstellung in den Betrieben notwendig ist und an welche Voraussetzungen diese Umstellungen gebunden sind und welche Folgen wirtschaftlicher und sozialer Art sich aus ihnen ergeben. Die Banken müssen aus einem Zustand der Statik, der im wesentlichen in einer V e r t e i l u n g d e s V o r h a n d e n e n b e s t e h t , wieder zu einem Zustand der Dynamik kommen, bei dem die V e r m e h r u n g d e s V o r h a n d e n e n im Vordergrund steht. Damit wird eine Denkarbeit von größtem Umfange gefordert, die nicht nur ein erhebliches Maß von Kenntnissen und Erfahrungen bei den für die Führung des Unternehmens Verantwortlichen voraussetzt, sondern auch ein starkes Einfühlungsvermögen für das, was im Augenblick notwendig ist, und vor allem den aus dem Verantwortlichkeitsgefühl für das Ganze geborenen Willen, im Kleinen wie im Großen persönliche Empfindung und Empfindlichkeit hinter die Forderungen der Sachlichkeit zurücktreten zu lassen. Wirklichen Erfolg wird auch die beste Leitung nur dann haben, wenn sie auf verständnisvolle und durch ihr Pflichtgefühl gegenüber Unternehmen und Volkswirtschaft beseelte Mitarbeiter trifft. Der Vorstand einer Bank ist nicht — wie schon so häufig gesagt — der Knopf der Fahnenstange, sondern die Spitze einer Pyramide. J e breiter ihre Basis ist, um so kraftvoller der Aufbau, um so gesicherter das Bauwerk im ganzen. Dafür, daß der Aufbau des Unternehmens in sozialer, technischer, finanzieller, kaufmännischer und organisatorischer Hinsicht den billigerweise zu stellenden Anforderungen entspricht, ist die Leitung verantwortlich, deren wichtigste Aufgabe es daher auch ist, den Mitarbeiterstab so zusammenzusetzen und so zu erziehen, daß, was auch immer sich ereignen mag, stets in allen Teilen des Betriebes Männer vorhanden sind, die das Kommando so führen, wie die Besonderheit des Betriebes und die Verpflichtungen gegenüber der Volksgemeinschaft es erfordern. N u r w e n n die F ü h r u n g des S t a a t e s sich u n b e d i n g t auf die 11

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

162

Otto Christian Fischer, Das deutsche

Bankwesen

Selbstverständlichkeit der Pflichterfüllung jedes Staatsbürgers verlassen kann, wird jenes Verhältnis von Staat und W i r t s c h a f t erreicht werden können, das dem S t a a t e die unbedingte Garantie dafür gibt, daß Erreichbares nicht an der Unzulänglichkeit der Wirtschaft scheitert, und d a ß sich auf der a n d e r e n Seite die W i r t s c h a f t j e n e r Acht u n g und A n e r k e n n u n g im Staatswesen e r f r e u t , die der W i r t s c h a f t d e r Z u k u n f t m e h r b e d e u t e n w i r d als G e l d u n d Gut.

DIE DEUTSCHEN BANKEN IN DER KRISE VON

FRIEDRICH REINHART

EIGENTLICHE URSACHE UND UNMITTELBARE VERANLASSUNG von Geschehnissen haben in der Regel wenig oder nichts miteinander zu tun. Es ist deshalb nicht richtig, wenn man, wie es häufig geschieht, die Vorkommnisse im Juli 1931, die zunächst zur Zahlungseinstellung der Darmstädter und Nationalbank, zu Bankfeiertagen und im weiteren Verlauf zu Hilfsmaßnahmen des Reichs gegenüber dem öffentlichen und privaten Bankwesen und zu Stillhalteverhandlungen mit den ausländischen Gläubigern führten, als den Ausgangspunkt der Krise oder gar die Krise selbst bezeichnet. Auch mit der Weltwirtschaftskrise stehen diese Vorkommnisse nur in sehr losem Zusammenhang. Man kann sogar ernstlich im Zweifel darüber sein, ob man das, was sich so planmäßig und folgerichtig ankündigte, was so zwangsläufig entstanden und verlaufen ist, überhaupt eine Krise im gewöhnlichen Sinne des Wortes nennen darf. Jedenfalls aber erschütterten die Vorgänge im Juli 1931 und ihre Folgen die deutsche Wirtschaft stärker in ihren Grundfesten als irgendeine der großen Wirtschaftskrisen der letzten Jahrzehnte. Sie haben blitzartig die Erkenntnis von vielem Unheil vermittelt, das längst wirksam geworden war. Zu fragen, inwieweit Schuld, inwieweit Schicksal dabei eine Rolle gespielt haben, ist müßig, schwere Fehler sind auf allen Seiten gemacht ii*

164

Friedrich

Reinhart

worden. Hier steht nur die Darstellung der Vorgänge selbst und ihrer Folgen für das deutsche Bankgewerbe zur Erörterung. Die deutsche Krise, wie man sie wohl nennen muß, begann, ohne daß man sich damals darüber klargeworden wäie, als man nach Beendigung der Inflation und nach der Stabilisierung der deutschen Währung versuchte, in Deutschland eine neue goldgedeckte Währung aufzuziehen und die in der Übergangszeit geschaffene Rentenmark zu ersetzen. Die natürlichen Voraussetzungen für die Schaffung einer goldgedeckten Währung fehlten. Die deutsche Zahlungsbilanz war in hohem Grade passiv und mit Tributschulden belastet. Die Möglichkeit der Ansammlung einer Gold- und Devisendeckung auf normalem Wege war daher ausgeschlossen, zumal man auch dem internationalen Güteraustausch die größten Schwierigkeiten bereitete. Der einzige Weg, zu einem Gold- und Devisenbestand zu kommen, war die Aufnahme mehr oder weniger kurzfristiger Auslandsschulden, und diesen Weg beschritt man. Diese Schulden dienten aber nicht nur der Ansammlung eines Gold- und Devisenbestandes bei der Reichsbank — was besondere Gefahren kaum eingeschlossen hätte — , sondern sie wurden auch in sehr großem Umfang zur Zahlung von Tributen, zur Bestreitung der Zinsen und zum Ausgleich des Passivsaldos der Warenhandelsbilanz benutzt. Als man dann im Juli 1931 auf der sogenannten Londoner Konferenz dazu kam, sich Rechenschaft über die tatsächliche Lage und ihre großen internationalen Gefahren abzulegen, beschloß man, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel aufzufordern, unverzüglich einen Ausschuß einzusetzen, um den sofortigen weiteren Kreditbedarf Deutschlands zu untersuchen und die Möglichkeit der Umwandlung eines Teils der kurzfristigen Kredite in langfristige zu prüfen. Der Ausschuß faßte dann seine Meinung dahin zusammen, daß das Beispiel Deutschlands die eindrucksvollste Illustration der Tatsache sei, daß die Welt in den vergangenen Jahren vergeblich versucht habe, zwei verschiedene sich widersprechende politische Grundsätze zu verfolgen, indem sie die Entwicklung eines internationalen finanziellen Systems zuließ, das die jährliche Zahlung großer Summen von Schuldner an Gläubiger mit sich bringe, demgegenüber aber gleichzeitig der freien Güterbewegung Hindernisse in den Weg lege. Der von diesem Ausschuß erstattete Bericht kam zu dem Ergebnis, daß nach Abzug von 3 Milliarden Mark Einnahmen für deutsche Dienstleistungen gegenüber dem Ausland die gesamte Kapitaleinfuhr nach Deutschland in den Jahren 1924—1930 rund 18 Milliarden Mark betragen habe, und daß zuzüglich der erwähnten 3 Milliarden also insgesamt 21,2 Milliarden Mark wie folgt verwandt wurden:

Die deutschen Banken in der Krise

165

Zur Bezahlung des Passivsaldos der Warenhandelsbilanz 6,3 Milliarden Mark für Zinsen 2,5 ,, für Tribute 10,3 ,, ,, zur Vergrößerung des Gold- und Devisenbestandes der Reichsbank 2,1 „ „ zusammen 21,2 Milliarden Mark. Die Kontrahierung dieser Schulden ist im Grunde der Ausgangspunkt für die deutsche Krise. Man war sich damals nicht klar über die wirtschaftliche Bedeutung der Auslandskredite und ihre Auswirkung. Man übersah, daß diese Kredite jederzeit in größtem Ausmaß aus beliebigem Anlaß zurückgefordert werden konnten und daß diese Rückforderung unfehlbar zu einer wirtschaftlichen Katastrophe führen mußte. Man übersah, daß Geld niemals die Landesgrenze übersteigt, daß das geborgte Pfund nur in England, der geborgte Dollar nur in Amerika, der geborgte Schweizer Franken nur in der Schweiz ausgegeben werden konnten und daß deshalb schon bei Kontrahierung der Schulden eine Rücküberweisung der geborgten Devisen stattfinden mußte und tatsächlich stattfand. Es war deshalb gar nicht zu vermeiden, daß bei der t a t s ä c h l i c h e n Rückforderung der Kredite die deutsche Wirtschaft mangels genügender internationaler Zahlungsmittel in die größten Schwierigkeiten geriet. Zutreffend hat man das daraus entstandene Problem später das Problem der „doppelten Transferierung" genannt, und ebenso folgerichtig mußte man die auf den geborgten Devisen aufgebaute Goldwährung eine geborgte Goldwährung nennen. Geblieben ist abgesehen von den Devisen- und Goldbeständen der Reichsbank und den naturgemäß nicht allzu großen DevisenLiquiditätsreserven der Privatbanken die mit dem Ankauf der Devisen durch die Reichsbank entstandene Kreditausweitung. Die mit dieser Kreditausweitung verbundene innerdeutsche Geldschöpfung wurde zunächst der Ausgangspunkt für einen großen wirtschaftlichen Aufschwung, zumal sie die Eigenschaft jeder produktiv verwandten Geldschöpfung hatte, sich dauernd in der Wirtschaft zu vermehren und neues Kapital zu bilden. Wir verzeichnen dementsprechend Ende 1930 eine innerdeutsche Verschuldung der deutschen Wirtschaft und der deutschen öffentlichen Stellen von beinahe 100 Milliarden Mark, der selbstverständlich eine inländische Vermögensneubildung in gleicher Höhe gegenüberstehen mußte. Der mancherseits vertretenen Auffassung, daß diese Neuverschuldung und Vermögensneubildung nach Tempo und Umfang ein volkswirtschaftlich besonders interessantes

166

Friedrich

Reinhart

Phänomen darstellten, j a sogar als wirtschaftliches Wunder bezeichnet werden müßten, ist nicht beizutreten. Sie waren, solange die deutsche Gütererzeugung nicht gestört wurde, eine durchaus natürliche Entwicklung und Erscheinung. Die Gefahren dieser Entwicklung lagen immer nur darin, daß die Auslandskredite, die die Grundlage und der Ausgangspunkt für die Geldschöpfung gewesen waren, Sachgüter nach Deutschland gebracht hatten, die konsumiert und zu Investitionszwecken verwandt worden waren und daher im Augenblick der kurzfristigen Rückforderung der Auslandskredite nicht liquide gemacht werden konnten. Es kann kein Zweifel darüber sein, daß von der kreditnehmenden Industrie wie auch von den Kommunen bei der Verwendung der kurzfristigen Auslandsgelder schwere Fehler gemacht worden sind; für die Frage der Rückzahlungs- und Transfermöglichkeit, von der der entscheidende Anstoß zum Ausbruch der Krise ausgegangen ist, waren diese Fehler aber ohne Belang. Soweit die Kapitaleinfuhr in Gold stattfand, blieb der Gegenwert der Auslandsverschuldung zunächst in natura erhalten; das war selbstverständlich nur in kleinstem Umfang der Fall. Dadurch, daß aber ein großer Teil der Auslandskredite in Form von Konsumgütern eingeführt worden war, zeigte sich das Fehlen der zur Rückzahlung der Kredite nötigen liquiden Werte erst in dem Augenblick, als das Rückzahlungsverlangen gestellt wurde. Hätte man darauf bestanden, daß der Gegenwert der Auslandskredite nur in Gold nach Deutschland gebracht werden dürfe, so hätte sich das System der Auslandsverschuldung wohl schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt totgelaufen, denn die ausländischen Gläubiger wären kaum geneigt gewesen, ihre Kredite auf Basis einer effektiven Goldtransferierung zu gewähren. Außerdem hat die Sachgütereinfuhr teilweise zu einer unerträglichen Konkurrenz für die inländische Gütererzeugung, insbesondere der Landwirtschaft geführt, unter der diese besonders schwer gelitten hat. Soweit die Auslandsverschuldung der Bezahlung von Tributen diente, hat sie gewiß keinen Gegenwert nach Deutschland gebracht. Mit der Bezahlung von Tributen hat man nur die politische Schuld des Deutschen Reiches zu einer privaten Schuld der deutschen Wirtschaft gemacht. Zusammenfassend ist also nochmals zu betonen, daß die Auslandsverschuldung, von den bereits erwähnten Ausnahmen abgesehen, keine dauerhafte Vermehrung des Nationalkapitals in Deutschland gebracht hat und bringen konnte, und daß der Ausgangspunkt der Krise bereits in der Tatsache der Aufnahme dieser so gearteten Auslandsschulden und in der immerwährenden Gefahr ihrer Rückforderung lag. Ein Schutz gegen diese

Die deutschen Banken

in der

Krise

167

Gefahr ist, nachdem man einmal den Weg der Aufnahme von Auslandskrediten beschritten hatte, überhaupt nicht vorhanden gewesen, es sei denn, daß man die Devisen- und Goldvorräte der Reichsbank und die Devisen-Liquiditätsreserven der Privatbanken in einem Ausmaß unterhalten hätte, daß die Aufnahme der Auslandsschulden von vornherein völlig zwecklos gewesen wäre. Denn schließlich war einer der Hauptgesichtspunkte für die Aufnahme der Auslandskredite auch die Schaffung von Betriebskapital für die deutsche Wirtschaft, nachdem sie nach der Inflation völlig blutleer geworden war und aus eigener Kraft einen Ausweg aus dem Zusammenbruch nicht finden konnte. Sie hatte auch keine Rohstoffe mehr und, soweit die Auslandskredite der Beschaffung von Rohstoffen und demgemäß der Wiederingangsetzung der Gütererzeugung dienten, waren auch grundsätzlich Bedenken dagegen nicht geltend zu machen. Reine Rohstoffkredite liquidieren sich erfahrungsgemäß innerhalb angemessener Fristen in der Regel von selbst. Aber die Auslandskredite, d. h. ihr deutscher Gegenwert, wurden auch dazu benutzt, der deutschen Wirtschaft die fehlenden Betriebs- und Anlagekapitalien zu verschaffen, und damit beginnt das Verhängnis. Es wäre gewiß zu überlegen gewesen, ob nicht ein Land wie Deutschland mit solcher Kapitalarmut sich auf eine andere Währungstheorie hätte besinnen und die erforderliche Geldschöpfung auf einem anderen Weg in die T a t hätte umsetzen sollen. Ein Vergleich mit der heutigen Zeit liegt nahe. Man hat diese Überlegung nicht angestellt, sondern versucht, die Geld- und Währungspolitik der Reichsbank in Fortsetzung der Vorkriegsgrundsätze neu aufzubauen. Damit hat man auch der notwendigen Geldbeschaffung für die deutsche Wirtschaft den Weg gewiesen. Daß es dabei zu maßlosen Übertreibungen gekommen ist, ist bekannt. Man hat den deutschen Banken bis weit in die neueste Zeit hinein den Vorwurf gemacht, daß sie die Sachlage nicht erkannt und deshalb wesentlich zur Entstehung der Krise beigetragen hätten. Ihrer Vermittlungstätigkeit sei es in der Hauptsache zu danken, daß der Strom der Auslandskredite nach Deutschland schließlich einen so großen Umfang angenommen hätte, und sie träfe deshalb die Hauptschuld an den späteren so unglücklich verlaufenen Ereignissen. Diese Vorwürfe sind billig. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß eines der Hauptmotive für die Einschaltung der Auslandskredite in das deutsche Wirtschaftsleben auch die völlige Kapitalarmut der deutschen Wirtschaft war. Unter dieser Kapitalarmut litt naturgemäß die deut-

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Friedrich

Reinhart

sehe Gütererzeugung. Das führte zur Arbeitslosigkeit mit allen ihren zur Genüge bekannten Folgen. Angesichts dieser Schwächung unseres auch zum Teil überalterten Produktionsapparates war es nur zu begreiflich, daß man auf Abhilfe sann und, da ein anderer Weg ja nicht gangbar war, in der Aufnahme ausländischer Kredite ein willkommenes Hilfsmittel sah. Während aber die ausländischen Gläubiger in den von ihnen gewährten Krediten zutreffend einen Güterexport ihres Landes sahen und sich mit dem Gedanken trösteten, daß Deutschland wohl schon wieder einmal in der Lage sein werde, mit s e i n e m Güterexport den Ausgleich, d. h. die Rückzahlung der Kredite, herbeizuführen, glaubte man in Deutschland, damit Kapital zu bekommen, geeignet, dem deutschen Kapitalmangel abzuhelfen. Der äußere Vorgang bei diesen Kreditaufnahmen täuschte auch über den wahren Sachverhalt hinweg. Man bekam Devisen zur Verfügung gestellt, verkaufte diese — letzten Endes an die Reichsbank — und erhielt Geld, mit dem man nach Belieben in Deutschland Geschäfte machen zu können glaubte. Dabei beging man vor allen Dingen den Fehler, daß man den seiner Natur nach kurzfristigen Kredit des Auslands zum Teil in langfristige inländische Debitoren umwandelte. Gewiß hat nicht von vornherein die Absicht bestanden, Gelder auf lange Fristen auszuleihen, man hätte aber aus Erfahrung wissen können, daß in einer möglichen Krise auch die kurzfristigen Kredite ohne weiteres langfristig werden, jedenfalls dann eine etwa beabsichtigte Konsolidierung der Kredite in Obligationen und Aktien nicht mehr möglich sein würde. Aber von diesen nicht immer entschuldbaren Irrtümern und Übertreibungen abgesehen, wird man dem deutschen Bankgewerbe zugestehen müssen, daß es den ernsten Willen hatte, mangels einer anderen Möglichkeit mit den Auslandskrediten der deutschen Wirtschaft wertvolle Dienste zu leisten und ihr aus völliger Lethargie den Weg zu einem neuen Aufschwung zu ebnen. Das ist ihm zunächst auch gelungen. In den Jahren 1929/1930 hatten wir nicht nur eine Scheinkonjunktur, wie oft behauptet wird, sondern eine tatsächliche wirtschaftliche Blüte. Gütererzeugung und Lebensstandard der breiten Masse erreichten ihren Höhepunkt. Auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens waren Höchstumsätze festzustellen. Daß die Börse, die zeitweise durch die vorübergehend anzulegenden aus der Umwechselung der geborgten Devisen herrührenden Gelder alimentiert wurde, ihrer optimistischen Auffassung über die Dauer und das Ausmaß dieser Wirtschaftsblüte einen etwas allzu phantastischen Ausdruck verlieh, hat sie bitter büßen müssen. Es ändert aber an dem damaligen gün-

Die deutschen Banken in der Krise

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stigen Gesamtbild nur wenig. Soviel zur Vorgeschichte der Ereignisse! Wodurch erfuhr nun die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland sobald eine grundlegende Wendung zum Schlechten? Nur dadurch, daß das eintrat, womit man von Anfang an hätte rechnen müssen, nämlich, daß das Ausland erst in langsamem, später in beschleunigtem Tempo seine Darlehen zurückforderte. Ohne diesen „ R u n auf Deutschland" hätte der Zusammenbruch der deutschen Konjunktur kaum jemals ein so erschreckendes Ausmaß und so furchtbare Folgen haben können. Eine rein deutsche Krise hätte nach alten immer wieder bestätigten Erfahrungen einen ganz anderen Verlauf genommen. Sie hätte dem einen oder anderen Unternehmen, das in seinen finanziellen Dispositionen nicht die erforderliche Vorsicht hatte walten lassen, schwerste Verlegenheiten bereiten, es vielleicht auch in seiner Existenz bedrohen können, ein Schicksal, das mit seinen Folgen die Beteiligten ausschließlich selbst hätten verantworten müssen. Der „ R u n auf Deutschland", d. h. die Entziehung des Betriebskapitals der deutschen Wirtschaft durch Rückzahlung der Auslandskredite in einem so großen Ausmaß mußte aber schließlich die ganze deutsche Wirtschaft in die Katastrophe mithineinziehen. Wußte man nicht rechtzeitig den abrollenden Ereignissen Einhalt zu gebieten, auch das solideste Unternehmen hätte sich am Ende vor den Folgen der Katastrophe nicht schützen können. Damit aber hoben sich die Ereignisse und ihre Folgen aus der Verantwortlichkeit der einzelnen Wirtschaftsführer heraus, und die gesamte Wirtschafts- und Staatsführung wurde für alles, was vorgegangen ist, verantwortlich. Der Einzelne stand schließlich dem Ablauf der Geschehnisse vollkommen macht- und hilflos gegenüber. Es war später leicht, zu sagen, daß die Wirtschaft es soweit nicht hätte kommen lassen dürfen und von der Staatsführung längst ein Einschreiten hätte herbeiführen müssen. Es ist zuzugeben, daß es an Wamungszeichen nicht gefehlt hat. Sie wurden erstmalig sichtbar, als im Herbst 1930 im Zusammenhang mit dem damals vom Ausland ungünstig aufgenommenen Ergebnis der deutschen Reichstagswahlen eine Rückforderung von Auslandskrediten einsetzte, jedenfalls der Zustrom von Geld aus dem Ausland völlig aufhörte. Die Gestaltung der außenpolitischen Lage, der große Widerspruch, den das deutschösterreichische Zollunionsprojekt auslöste, ließen auch weiterhin eine günstige Atmosphäre nicht aufkommen. Ganz unvermeidlich führten 76 8,09 8,39 8,74 8,06

Wirtschaftsjahr 1925/26 1926/27 1927/28 1928/29 1929/30 1 930/31 1931/32

a1) 3,76 5,09 6,65 6,01 4,81 2,19 -8,71

b2) 4,75 5,65 6,71 6,42 6,45 4,75 2,56

*) a = Saldo aus Reingewinn und Reinverlust in v. H. d. bilanzm. Eigenkapitals. ) b = Dividendensumme in v. H. des dividendenberechtigten Eigenkapitals.

s

189

Die deutschen Banken in der Krise

Danach war also die Verlustquote im Wirtschaftsjahr 1931/32 noch etwas höher als die höchste überhaupt je erzielte Gewinnquote, die von 1912/13, ein Zeichen für die ungewöhnliche Schärfe der Ertragskrise, in die die Wirtschaft geraten war. Sehr deutlich kommt ferner die rapide Verschlechterung der Ertragslage in den folgenden Ziffernreihen der amtlichen Statistik zum Ausdruck, die den Anteil der dividendenlosen Gesellschaften an den amjahresende bilanzierenden Börsenund Millionengesellschaften für die Jahre 1927 bis 1931 erkennen lassen. Da sich der statistisch erfaßbare Kreis der Aktiengesellschaften von Jahr zu Jahr verschiebt, kann eine fortlaufende Zahlenreihe zwar nicht gegeben werden, es ist vielmehr nur jeweils für zwei aufeinanderfolgende Jahre eine Zusammenfassung derselben Gesellschaften möglich:

2)

1927 1928

a1) 24,47 28,96

b2) 14,39 16,90

1928 1929

28,58 33,76

16,15 16,85

1929 1930

34.59 44)13

!7>33 28,90

1930 I931

40,61 58,83

24,77 5i,4i

a = Zahl der dividendenlosen A.-G. in % aller A.-G. b = Dividendenloses Stammkapital in % d. gesamten Stammaktienkapitals.

Bei fast drei Fünfteln der Gesellschaften und auf über die Hälfte des Stammaktienkapitals erfolgte also Ende 1931 überhaupt keine Ertragsverteilung mehr: so weit war der Prozeß der Ertragsvernichtung bereits gediehen, der die Zahl der Konkursanträge von 7870 im Jahre 1922 auf 19254 im Jahre 1931 anschwellen ließ, Geschäftsaufsichtsbzw. Vergleichsverfahren in den entsprechenden Jahren von 1437 Fällen auf 8628 Fälle erhöhte. Es wird schwer sein zu unterscheiden, in welchem Umfange diese Ertragsvernichtung auf den natürlichen Ursachen einer Wirtschaftskrise beruhte, wie sie in dieser Schwere die Wirtschaftsgeschichte noch nicht erlebt hat, in welchem Ausmaß sie dem Schuldkonto einer staatlichen Politik zu belasten ist, die nichts Besseres zu tun wußte, als die Auswirkungen einer solchen Krise durch eine Kette von wirtschaftsund rechtspolitischen Eingriffen zu steigern. Wir wollen die einzelnen

190

Friedrich Reinhart

Positionen dieses Kontos nicht näher durchgehen, uns mit den unendlich vielen Einzelmaßnahmen, den Ergebnissen langwieriger und zeitraubender Kleinarbeit nicht näher befassen, die es als der Weisheit letzten Schluß betrachtete, durch eine rigorose Politik der Einkommensund Preisdeflation bei schärfster Anspannung der Steuerschraube die N o t der Wirtschaft und das Elend der Arbeitslosigkeit weiter zu steigern, nicht ohne zugleich durch demoralisierende

Zwangseingriffe in be-

stehende Vertragsrechte der Vertrauenskrise ständig neue N a h r u n g zu geben.

Dieser Rigorismus hat sich gelohnt.

Er hat die Wirtschaft an

d e n R a n d des Abgrundes, den Bauern zur offenen Empörung, Arbeitslosen zur Verzweiflung getrieben.

die

Er hat, ohne in weiter Sicht

aufbauend zu wirken, den Schuldner einseitig zu Lasten des Gläubigers begünstigt und damit die Vertrauensgrundlage zerstört, auf der allein schuldrechtliche Verhältnisse sich zu entwickeln vermögen.

Hören

wir, was über die Auswirkungen eines der schwerstwiegenden dieser Eingriffe, des mit der Osthilfe-Notverordnung v o m 17. November 1931 eingeführten Sicherungsverfahrens, eine im Osthilfegebiet tätige

be-

deutende Provinzbank, die Mecklenburgische Depositen- und WechselBank, in ihren Berichten für die Jahre 1931 und 1932 schreibt:

„ V o r allem ist die für unser engeres Heimatland besonders wichtige und jeden Agrarkredit hindernde O s t h i l f e - N o t v e r o r d n u n g ein Fehlschlag. Sollte sie eine Hungersnot in Deutschland verhindern, so mußten die Lasten der Hilfe von allen Bedrohten, d. h. von der Bevölkerung des ganzen Reiches, nicht aber nur von Ostdeutschland und auch hier bloß von einem Teil der Einwohner, den landwirtschaftlichen Gläubigern, getragen werden. Bezweckte sie dagegen oder daneben eine Besserung der Lage der Landwirtschaft, so übersieht sie, daß solche nicht von Zahlungsaufschub oder Schuldenermäßigung zu erwarten ist, sondern lediglich von der Schaffung einer Rentabilität der landwirtschaftlichen Betriebe, ohne die eine alsbaldige Neuverschuldung nicht ausbleiben kann." 1932: „ D i e bisherigen Erfahrungen bei der Durchführung der Sicherungs- und Entschuldungsverfahren und des Vollstreckungsschutzes bestätigen die Berechtigung unserer im vorjährigen Bericht geübten Kritik leider vollauf. Die Osthilfe, die nur einzelnen Landwirten nützt und bei Fortdauer der jetzigen Preisverhältnisse für ländliche Produkte und der überspannten öffentlichen Lasten auch ihnen nur in seltenen Fällen endgültige Hilfe bringt, hat den gesamten landwirtschaftlichen Kredit vernichtet, hat die Gläubiger — auch einwandfrei gesicherte — empfindlich geschädigt, hat ein verhängnisvolles Gefühl von Rechtsunsicherheit geschaffen und hat das Geschäftsleben aufs stärkste gehemmt. In unserem industriearmen, nur von der Landwirtschaft lebenden Heimatland ist geradezu eine wirtschaftliche Vereisung eingetreten."

Die deutschen Banken in der Krise

191

Im übrigen konnte es nicht ausbleiben, daß entgegen den gesetzgeberischen Absichten der Schutz des Osthilfesicherungsverfahrens quantitativ in weit höherem Umfange in Anspruch genommen wurde, als dies dem berechtigten Schutzbedürfnis der beteiligten Landwirte entsprach. Fälle schwersten und teilweise empörenden Mißbrauchs des Sicherungsund Entschuldungsverfahrens durch des Schutzes nicht bedürftige oder nicht würdige Schuldner wurden nicht nur vereinzelt bekannt. Nicht minder einschneidend und vertrauenvernichtend war die Zwangssenkung der Zinsen, die die vierte Notverordnung vom 8. Dezember 1931 brachte. Nach dem bestimmten Dementi, das die Reichsregierung noch im November ausgab, kam diese Maßnahme allgemein überraschend. Wieder war ihre Wirkung die einer völlig einseitigen Begünstigung, die wohlerworbene Rechte mißachtete. Sie war ein schwerer Schlag gegen das Sparkapital und hatte, statt zu einer allgemeinen Senkung des Landeszinsfußes zu führen, eine starke Kurssenkung der Rentenwerte, damit aber eine unerwünschte Erhöhung der EfFektiwerzinsung zur Folge, die auf die Bedingungen, unter denen n e u e Schuldverhältnisse eingegangen werden konnten, nicht ohne Einfluß blieb. Weit davon entfernt, die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts wiederherzustellen, hat sie die Anlagebereitschaft vollends zerstört und jede Konsolidierung schwebender Verbindlichkeiten unmöglich gemacht. Wie gesagt, auf die ganze Kette der weiteren wirtschaftszerstörenden Maßnahmen einzugehen, wie sie insbesondere die Eingriffe in bestehende Mietverhältnisse durch gesetzliche Mietsenkung und durch das außerordentliche Kündigungsrecht der Mieter, das Hypothekenmoratorium und der Vollstreckungsschutz auch für den städtischen Grundbesitz darstellten, wollen wir uns versagen. Lediglich die Wirkungen der gesetzgeberischen Maßnahmen auf dem Gebiete des Kommunalkredits seien noch kurz behandelt, Wirkungen, wie sie in Preußen vor allem aus der Verordnung vom 3. September 1932 über die Zwangsvollstreckung in das Gemeindevermögen sowie aus dem etwas später ergangenen Erlaß über die Rangordnung der kommunalen Zahlungsverbindlichkeiten erwuchsen. Schloß die erstgenannte Verordnung in ihrer praktischen Handhabung alle Zugriffsmöglichkeiten auf das Gemeindevermögen auch in denjenigen Fällen aus, in denen die Vermögenswerte die Verschuldung weit überstiegen, so verlieh der zu zweit erwähnte Erlaß der Erfüllung des kommunalen Schuldendienstes einen nachgeordneten Rang, der die Gläubiger von Forderungsrechten in erheblichem Umfange leer ausgehen ließ. Schließlich wiesen am 30. September 1933 von insgesamt etwa 1200 Gemeinden und Gemeindeverbänden (erfaßt wurden alle Gemeinden

192

Friedrich

Reinhart

mit über 10 ooo Einwohnern) nicht weniger als rund 800 Gemeinden und Gemeindeverbände, d. h. also zwei Drittel der Gesamtzahl, Zahlungsrückstände im Gesamtbetrage von 595 Mill. R M . auf, von denen 244 Mill. RM., somit fast 40% auf Rückstände aus dem Schuldendienst entfielen. Das ist ein ganz enormer Betrag, der in der Ertragsrechnung vor allem der Kreditinstitute aller Art damals ausfiel, derselben Kreditinstitute, die auch die große Zahl ihrer sonstigen schwach gewordenen Debitoren nicht durch brutale Rückforderung der Kredite einfach vernichten konnten, die aber selbst niemals zucken durften, ihren Verpflichtungen gerecht zu werden und ihre eigenen Gläubiger pünktlich zum Termin zu bezahlen. Bei den Banken also, bei privaten und öffentlichen, mußte der Schaden am stärksten sich geltend machen, der aus der Wirtschaftskrise entstanden und durch den Deflationskurs der Regierung, durch ihre rechtspolitischen Eingriffe in stärkstem Maße verschärft worden war. Große Teile des Anlagevermögens der Kreditinstitute waren völlig vernichtet, weitere Teile der Forderungsrechte konnten aus Rücksicht auf die Lage des Schuldners nicht geltend gemacht werden, andere wieder wurden durch den gesetzlichen Schuldnerschutz jeglichem Zugriff entzogen. Wenn irgendwann und irgendwo der Begriff der Reparationen, der „Wiedergutmachung", einen guten und berechtigten Sinn hatte, dann hier im Verhältnis des Staates zu den Kreditinstituten. Was die staatliche Wirtschaftspolitik bewußt oder unbewußt an Aktivwerten der Banken vernichtet oder immobilisiert hatte, das mußte aus Mitteln des Staates, d. h. also der Allgemeinheit, wenigstens zu einem Teil dem Kreditgewerbe wiedererstattet werden, sollte der blutleer gewordene Wirtschaftskörper nicht vollends absterben. Daßdaneben auch andere große und lebenswichtige Betriebe der deutschen Volkswirtschaft, Betriebe der Rohstofferzeugung und Weiterverarbeitung, ferner bedeutende Verkehrsunternehmungen berechtigten Anspruch auf die Deckung eines Teils ihrer schweren Verluste aus den Mitteln der Allgemeinheit erheben konnten, bedarf keiner weiteren Ausführung. „Subventionen" im herkömmlichen und abschätzenden Sinne des Wortes waren es nicht, vielmehr, wie gesagt, Reparationen, Wiedergutmachungen unverschuldet erlittenen Schadens. Die Restitution, die den Banken Anfang 1932 zuteil wurde, soll hier nur kurz behandelt werden. Sie ging nach zwei Richtungen in der Auffüllung der zusammengelegten Kapitalien und in der Bildung zusätzlicher Liquiditätsreserven durch Hingabe von verzinslichen und unverzinslichen Schatzanweisungen sowie in der Übernahme von Bürgschaften. Gleichzeitig erfolgte der Übergang der Danatbank auf die

Die deutschen Banken in der Krise

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Dresdner Bank, des Barmer Bankvereins auf die Commerz- und PrivatBank A.-G. Ziffernmäßige Einzelangaben, aus denen sich die Verteilung auf die einzelnen Kreditinstitute ergibt, finden sich in einer Zahlenübersicht, die dem dem Untersuchungsausschuß für das Bankwesen im Oktober 1933 erstatteten Gutachten von Reichsbankdirektor Hasse beigefügt ist. Diese Übersicht gibt den Stand vom 1. April 1932 wieder, der nachträglich noch in einigen Punkten eine Änderung erfuhr, und läßt erkennen, daß von dem damaligen Gesamtbetrag an zugesagten Schatzanweisungen in Höhe von 856 Mill. R M . ein beträchtlicher Teil, nämlich 362 Mill. R M . , d.h. ü b e r 4 2 % rückzahlungspflichtig ist. Was die Bürgschaften und Garantien für Kreditinstitute betrifft, so entfielen am 3 1 . März 1933 auf das Reich etwa 690 Mill. R M . , während die Verpflichtungen der Länder (einschl. der Hansastädte) mit insgesamt etwa 1064 Mill. R M . über die Reichsgarantien nicht unwesentlich hinausgingen. Den Hauptanlaß bildeten hier die Krisenerscheinungen im kommunalen Bankwesen. Insbesondere haben die Länder der Akzeptbank gegenüber die Sicherheitsleistung für die den kommunalen Sparkassen und Girozentralen gewährten Wechselkredite übernommen. In Preußen spielten ferner die zur Behebung der Illiquidität der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse und der Westfälischen Landesbank eingegangenen Bürgschaften eine größere Rolle, während bei der Landesbank der Rheinprovinz die Sicherheitsleistung durch Hingabe von Schatzanweisungen erfolgte. Zu einer wesentlichen Inanspruchnahme all dieser Bürgschaften dürfte es kaum gekommen sein. Handelt es sich bei der sogenannten „Bankensanierung" um eine Maßnahme, die zwar formell nur die beteiligten Institute berührte, praktisch aber der ganzen deutschen Wirtschaft diente, so waren die beiden Selbsthilfeeinrichtungen, die die Banken dann Ende 1932 noch schufen, unmittelbar auf die Rekonstruktionsbedürfnisse der deutschen Wirtschaft gerichtet. Mit „ F i n a g " und ,,Tilka", deren Gründung Weihnachten 1932 erfolgte, sollte die Krisenabwicklung in ruhige und sichere Bahnen gelenkt werden, nachdem um die Jahreswende der wirtschaftliche Krisentiefpunkt als überwunden gelten konnte. Dieses Ziel verfolgten beide Institute in gleicher Weise und in engster Verbindung, aber in verschiedenen Formen. Während die Finag (Deutsches Finanzierungs-Institut A.-G.) dem Zwecke diente, von Banken Aktien und sonstige Anteile bereits sanierter gewerblicher Unternehmungen zu übernehmen sowie mittel- und langfristige Forderungen, die gegen solche Unternehmungen bei Banken bestanden, erhielt die Tilka (Tilgungskasse für gewerbliche Kredite) in Ergänzung hierzu die 13

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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Funktion, von Banken Forderungen zu übernehmen, die bei der Sanierung von gewerblichen Unternehmungen sich als abschreibungsbedürftig oder zunächst uneinbringlich erwiesen. Während die Finag mit einem zu 25% einzahlbaren Aktienkapital von 30 Mill. R M . ausgestattet wurde, dessen Vorzugsaktien von 10 Mill. R M . die Deutsche Golddiskontbank, die Bank für deutsche Industrie-Obligationen sowie die Akzeptbank und dessen Stammaktien von 20 Mill. R M . ein Konsortium von 60 Banken übernahm, bestand der kapitalmäßige Rückhalt der in der Form eines rechtsfähigen Vereins errichteten Tilka in einem Garantiefonds bis zu 30 Mill. RM., die durch besondere Verordnung des Reichspräsidenten aus der 500 Millionen-Bürgschaft des GarantieSyndikats abgezweigt werden konnten. Der Finag war der Erwerb von Aktien und Forderungsrechten aus dem Besitze der Gründerbanken im wesentlichen mit der Maßgabe möglich, daß a) die Werte den zehnfachen Betrag der dem Veräußerer gehörenden Anteile an der Finag nicht übersteigen, b) die Werte ein und derselben Gesellschaft über einen Betrag von 5 Mill. R M . nicht hinausgehen, c) die Werte einen Zins- bzw. Dividendenertrag von mindestens 4 % bringen, d) nicht mehr als 7 5 % des Kaufpreises der erworbenen Werte in bar oder in der Form von Solawechseln der Finag an die veräußernde Bank zur Auszahlung kommen dürfen, e) die Finag berechtigt ist, spätestens fünf Jahre nach dem Erwerb der Werte den völligen oder teilweisen Rückkauf der noch nicht liquidierten Werte von der Bank zu verlangen. Betrachtet man, dies vorausgeschickt, die bilanzmäßige Entwicklung der Finag, so zeigt sich, daß sie nur in recht beschränktem Umfange wirksam geworden ist. War in der Abschlußbilanz des ersten Geschäftsjahres, in der Bilanz vom 30. 9. 1933, das mit 7 % Mill. R M . eingezahlte Aktienkapital noch voll in Nostroguthaben und Schatzanweisungen angelegt, so wurden im zweiten Geschäftsabschluß übernommene Werte mit 1,95 Mill. R M . ausgewiesen, denen Einbringungsguthaben in gleicher Höhe gegenüberstanden. Die Bevorschussung dieser Guthaben zum Höchstsatz von 75% erforderte einen Betrag von 1,46 Mill. RM., das ist noch nicht ein Fünftel des eingezahlten Aktienkapitals. Im Anschluß vom 30. September 1935 waren die Einbringungsguthaben durch Rückkauf der eingebrachten Werte bereits wieder auf einen Betrag von 700 000 RM., entsprechend die Barbevorschussung auf 525000 R M . gesunken, d . h . auf 7 % des eingezahlten Grundkapitals.

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Nun zur Tilka. Bei ihr unterlag die Übernahme von Forderungsrechten im wesentlichen der Bestimmung, daß a) die Summe der zu übernehmenden Forderungen in einem angemessenen Verhältnis zum verantwortlichen Eigenkapital der einbringenden Bank steht, b) der Gegenwert der übernommenen Forderungen der einbringenden Bank gutgeschrieben und von dieser der Tilka auf unbestimmte Zeit zinslos gestundet wird, c) vom Tage der Übernahme an vier Jahre lang jährlich i %%, vom fünften Jahre ab jährlich % % des Anfangsbetrages der Forderungen von den einbringenden Banken in den bei der Tilka gebildeten Tilgungsfonds bar eingezahlt werden, d) die Einbringungsguthaben der Banken während der ersten drei Jahre jährlich um i % und in der Folge jährlich um Sätze vermindert werden, die in der Regel nicht weniger als 2 % und nicht mehr als 6 % betragen sollen, mit der Maßgabe, daß auf die eingebrachten Forderungen eingehende Zahlungen ohne weiteres von den Einbringungsguthaben abzuschreiben sind. Bei der Tilka, die zur öffentlichen Rechnungslegung nicht verpflichtet ist, dürfte dem Vernehmen nach die Beanspruchung etwa die iooMillionen-Grenze erreicht haben. Man wird annehmen dürfen, daß im Hinblick auf die teilweise überraschend schnelle Erholung, die mit der großzügigen Konjunkturinitiative des nationalsozialistischen Staates bei einer ganzen Reihe notleidend gewesener Debitoren eintreten konnte, auch die Einbringungsguthaben bei der Tilka sich bereits stärker vermindert haben, als den ursprünglichen Erwartungen entsprach, jedenfalls wohl so stark, daß der angesammelte Tilgungsfonds in der Lage sein wird, alle noch bestehenden Verlustrisiken zu decken. Eines Rückgriffs auf die bei der Golddiskontbank bestehende Garantiemasse wird es daher aller Voraussicht nach nicht bedürfen. Damit möchten wir die Betrachtungen schließen. In großen Zügen ist das Bild der Bankenkrise umrissen worden, sind ihre Hintergründe und tieferen Ursachen, ihr Einbruch und Ablauf, ihre Überwindung und Abwicklung deutlich geworden. Manche Einzelzüge wären noch nachzutragen. Auf sie kam es in diesem Zusammenhange nicht an. Was sichtbar gemacht werden sollte, waren die Grundtatsachen und Gesamtvorgänge, in die die Banken hineingestellt waren und die den Geschehnissen ein zwangsläufiges Gepräge gaben. Daß zusätzlich von Einzelpersönlichkeiten des Bankgewerbes schwere Fehler begangen wurden, ist bekannt und gebüßt. Hätte die Darstellung das Schwergewicht hierauf verlagert, so wäre sie an den wesentlichen Grund13»

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erkenntnissen vorbeigegangen. Auf sie kommt es aber allein an. Allem übrigen ist durch die grundlegende Umgestaltung der Beziehungen von Politik und Wirtschaft, von Staat und Banken n u n ein Riegel vorgeschoben, der eisern ist. Was hierzu zu sagen ist, geht über den Rahmen dieser Betrachtung hinaus. In ihrem Keime aus der Julikrise 1931 entstanden, wird die n u n auf breite Grundlage gestellte Bankenaufsicht unter der Ägide des Jubilars dazu beitragen, daß nie wieder im Verhältnis von Staat und Banken jene Spannungen entstehen, die nicht nur die Kreditwirtschaft an den Rand des Abgrundes brachten.

DER DEUTSCHE IMMOBILIARKREDIT SEIT DER INFLATION VON

HERMANN

KISSLER

INHALTSVERZEICHNIS Einleitung

I. Der Immobiliarkredit in der Zeit von 1924—1929

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1. Der Immobiliarkreditbedarf 199 a) Der Immobiliarkreditbedarf der Landwirtschaft 200 b) Der Immobiliarkreditbedarf des städt. Grundbesitzes 203 2. Die Deckung des Immobiliarkreditbedarfes 206 a) Die Deckung des landw. Immobiliarkreditbedarfes 210 b) Die Deckung des Immobiliarkreditbedarfes des städtischen Grundbesitzes 215

II. Der Immobiliarkredit in der Krise

220

1. Die Auswirkungen der Krise auf den landwirtschaftl. Immobiliarkredit 220 2. Die Auswirkungen der Krise auf den städtischen Immobiliarkredit 225 3. Die Auswirkungen der Krise auf die Gläubiger 227

III. Der Immobiliarkredit von 1933 bis zur Gegenwart 1. Gegenwartsprobleme des landw. Immobiliarkredits 2. Gegenwartsprobleme des städt. Immobiliarkredits

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Hermann Kißler

DIE TIEFGREIFENDEN VERÄNDERUNGEN, DIE KRIEG UND Inflation in der deutschen Wirtschaft hervorriefen, haben auch Entwicklung und Aufbau des Immobiliarkredits in starkem Umfange beeinflußt. Die in der Vorkriegszeit vorbildlich arbeitende Immobiliarkreditorganisation war nach der Stabilisierung der Währung nur in ihren Grundlagen erhalten geblieben, das darauf ruhende Kreditsystem versagte jedoch. Der Wiederaufbau, dessen Notwendigkeit infolge des starken Kreditbedarfs sowohl der Landwirtschaft als auch des städtischen Grundbesitzes schon unmittelbar vor der Beendigung der Inflation deutlich zutage getreten war, vollzog sich unter den schwierigsten Verhältnissen. Die Abtrennung fruchtbarer Landstriche und wertvoller Rohstoffquellen durch den Versailler Vertrag, die Erpressung gewaltiger Kapital- und Sachheferungen in Gestalt der Reparationen und die ungeheuren inneren Kriegslasten führten zur Vernichtung des in jahrzehntelanger Arbeit aufgebauten Wohlstandes. Diese mittelbaren und unmittelbaren Auswirkungen des Krieges muß man sich stets vor Augen führen, wenn man zu einer gerechten Würdigung der gewaltigen Schwierigkeiten kommen will, die mit dem Wiederaufbau des deutschen Immobiliarkredits verbunden waren. Überblickt man die Entwicklung des Immobiliarkredits seit der Währungsstabilisierung — auf die kreditzerstörenden Auswirkungen der Inflationszeit ausführlicher einzugehen, soll hier verzichtet werden —, so lassen sich entsprechend der engen Verknüpfung dieses Kreditzweiges mit der gesamten volkswirtschaftlichen Entwicklung deutlich drei Phasen unterscheiden. Die erste Phase beginnt mit der Schaffung der Rentenmark und endet mit dem Jahre 1929. Sie ist gekennzeichnet durch die Versuche, die Trümmer von Krieg und Inflation hinwegzuräumen. Der zweite Zeitabschnitt reicht von 1930 bis 1932 und umfaßt die Zeit der schweren Wirtschaftskrise, die auch auf dem Gebiete des Immobiliarkredits zu ernsten Rückschlägen führte. Die letzte Phase schließlich steht unter dem Zeichen der nationalsozialistischen Aufbaupolitik und erstreckt sich vom Jahre 1933 bis zur Gegenwart. Die folgende Darstellung wird sich darauf beschränken, die beiden wichtigsten Zweige des Immobiliarkredits, den landwirtschaftlichen und den städtischen Immobiliarkredit, zu behandeln. Bei dem daneben noch bestehenden industriellen Immobiliarkredit haben sich seiner Eigenart entsprechend besondere Erscheinungsformen herausgebildet, auf die hier nur kurz verwiesen sei. An erster Stelle stand unter den Methoden der langfristigen Industriekreditgewährung in der Nachkriegszeit — ebenso wie vor dem Kriege — die Industrieobliga-

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tion. Während diese vor dem Kriege nahezu ausschließlich durch Hypotheken oder Grundschulden gesichert war, trat diese Sicherungsform in der Nachkriegszeit zurück zugunsten von Sicherstellungen genereller Art, die zumeist von einer sogenannten negativen Hypothekenklausel begleitet waren, in der die Zusicherung gegeben wurde, daß spätere Anleihen mit keinen besseren Sicherheiten ausgestattet werden sollten als die bereits begebenen. Industrieobligationen dieser Art wird man jedoch nicht mehr zum Immobiliarkredit zählen können. Neben den Industrieobligationen verdienen in diesem Zusammenhang noch die auf ähnlicher Grundlage wie die Stadtschaften aufgebauten Industrieschaften Erwähnung, unter denen in erster Linie die Sächsische Landespfandbriefanstalt zu nennen ist. Diese in der Nachkriegszeit gegründeten Institute pflegen die von ihnen ausgegebenen Kredite durch Industriehypotheken zu decken. Sie verschaffen sich ihre Mittel durch Pfandbriefe, die den Charakter von Sammelindustrieobligationen tragen. I m Rahmen des gesamten Immobiliarkredits haben die Industrieschaften keine größere Bedeutung gewinnen können. Dies dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, daß die Grundsätze des Hypothekarkredits der starken Abhängigkeit der Industrie von den Konjunkturschwankungen nicht genügend Rechnung zu tragen vermögen, und daß der dinglich beleihbare Wert im Verhältnis zum Gesamtwert des industriellen Unternehmens nur sehr gering zu sein pflegt. I. DER IMMOBILIARKREDIT IN DER ZEIT VON 1924—1929 i. D e r I m m o b i l i a r k r e d i t b e d a r f In den letzten Jahrzehnten der Vorkriegszeit spiegelte sich die Aufwärtsbewegung der deutschen Wirtschaft in der Entwicklung des Immobiliarkreditbedarfs deutlich wider. Die steigenden Bedürfnisse einer an Zahl und Wohlstand wachsenden Bevölkerung führten zu einer Zunahme der Nachfrage auch auf dem Gebiete der Ernährungs- und Wohnungswirtschaft, die ihrerseits wieder in einer entsprechenden Erhöhung des Bedarfs an Immobiliarkredit zum Ausdruck kam. Die konjunkturellen Einflüsse, die sich auch damals geltend machten, haben diese Entwicklung nur zeitweilig hemmen, aber nicht aufhalten können. Kennzeichnend blieb vielmehr für die Vorkriegszeit ein kontinuierlicher Verlauf des Immobiliarkreditbedarfs sowohl bei der Landwirtschaft als auch beim städtischen Grundbesitz. Wesentlich anders gestaltete sich demgegenüber die Nachfrage in der Nachinflationszeit. In der Landwirtschaft und auch in der Wohnungswirtschaft hatte sich während der Kriegs- und Inflationszeit ein Nachholungsbedarf großen

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Umfanges herausgebildet, da in dieser Zeit die Konzentration aller Kräfte auf die Kriegswirtschaft alles andere in den Hintergrund treten ließ. Infolgedessen ergab sich ein plötzlich auftretender, außerordentlicher Bedarf, dessen Befriedigung selbst bei einer gesunden Kapitalmarktentwicklung auf größte Schwierigkeiten hätte stoßen müssen. Das vorstehend in groben Umrissen gezeichnete Bild tritt deutlicher in die Erscheinung, wenn man die Lage der beiden Hauptträger des Immobiliarkreditbedarfs, der Landwirtschaft und des städtischen Grundbesitzes, in der hier zu behandelnden Zeitspanne näher betrachtet. Dabei empfiehlt es sich, beide Gruppen nebeneinander zu untersuchen, da zwischen ihnen größere Unterschiede in der Entwicklung festzustellen sind. a) D e r I m m o b i l i a r k r e d i t b e d a r f d e r L a n d w i r t s c h a f t Die wenigen Untersuchungen, die wir über die Vorkriegsverschuldung der Landwirtschaft besitzen, zeigen, daß die Immobiliarkreditverschuldung, die damals den Hauptteil der landwirtschaftlichen Gesamtverschuldung ausmachte, in erster Linie aus der Finanzierung des Besitzwechsels entstanden war. So schätzte man in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Anteil der Restkaufgelder an dem gesamten Immobiliarkredit der Landwirtschaft auf über 40 %. Nahezu ebenso hoch belief sich der Anteil der Erbabfindungen. Gegenüber diesem Besitzkredit trat der zu produktiven Zwecken aufgenommene Kredit stark in den Hintergrund. Wenn man auch annehmen darf, daß sich bis zum Ausbruch des Krieges der Prozentsatz des Produktivkredits an dem gesamten Immobiliarkredit etwas verbessert hat, so bleibt doch die weit überragende Bedeutung des Besitzkredites das wichtigste Kennzeichen der Immobiliarkreditverschuldung der Vorkriegszeit. Die große Rolle, die damals der Besitzkredit spielte, erklärt sich einmal daraus, daß der steigende Reichtum zu einer starken Nachfrage nach Landbesitz führte, die Güterpreise in die Höhe trieb und damit eine Überbewertung zur Folge hatte, die bei Verkäufen und Erbübergängen in hohen Restkaufgeldhypotheken und Altenteilslasten ihren Ausdruck fand. Andererseits ist der geringe Anteil der Bodenverbesserungs- und Investitionskredite am gesamten Immobiliarkredit in erster Linie darauf zurückzuführen, daß die Landwirtschaft in der Vorkriegszeit in der Lage war, große Reinerträge zu erzielen, die ebenso wie die nicht unerheblichen Privatvermögen für produktive Zwecke eingesetzt werden konnten. In der Nachkriegszeit geht der Immobiliarkreditbedarf der Landwirtschaft auf andere Ursachen zurück. Eine große Rolle spielte zu-

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nächst der oben erwähnte Nachholungsbedarf. Dieser entstand aus der starken Devastierung des Bodens, der während des Krieges nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt werden konnte und aus Mangel an Arbeitskräften nur unzulänglich bearbeitet worden war, sowie aus der Notwendigkeit der Erneuerung von totem und lebendem Inventar. In der Inflationszeit konnte der Rückgang der Bodenkultur nur zu einem sehr geringen Teil wieder aufgeholt werden. Erst mit der Beseitigung der Zwangswirtschaft im J a h r e 1921 wurde die Landwirtschaft in die Lage versetzt, ihre Verkaufspreise der Geldentwertung anzupassen und damit die Beseitigung der Kriegsschäden in größerem Umfange in Angriff zu nehmen. Im allgemeinen läßt sich aber feststellen, daß in der Landwirtschaft von den durch die fortschreitende Inflation gebotenen Möglichkeiten, Kredite für produktive Zwecke aufzunehmen und diese nach kurzer Zeit in entwertetem Gelde zurückzuzahlen, wenig Gebrauch gemacht wurde, da sich die Kenntnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge damals nur langsam durchsetzte und dem Landwirt die spekulative Veranlagung fehlt, die eine solche Ausnutzung der Verhältnisse erfordert hätte. Ein Überblick über die Hektarerträge der Nachkriegszeit zeigt, daß der starke Rückgang gegenüber der Vorkriegszeit erst im J a h r e 1928 wieder aufgeholt werden konnte und daß somit erst zu diesem Zeitpunkt der landwirtschaftliche Boden die normale Vorkriegsertragsfähigkeit wiedererlangt hatte. Neben einem erhöhten Aufwand menschlicher und maschineller Arbeit war eine weit über den normalen Bedarf hinausgehende Verwendung von Düngemitteln notwendig, die bei der damaligen Lage der Landwirtschaft zum großen Teil nur auf dem Kreditwege beschafft werden konnten. Auch der Wiederaufbau des Viehbestandes, der während des Krieges erheblich vermindert worden war, konnte nur unter Zuhilfenahme von Krediten vorgenommen werden. Die Aufwendungen für diese Vermehrung und Verbesserung des Viehbestandes waren bedeutend größer als diejenigen für Investitionen an landwirtschaftlichen Gebäuden, für Ankäufe von Maschinen und für Bodenverbesserungen, obwohl auch hier große Versäumnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit aufgeholt werden mußten. Von den Investitionen, die die Landwirtschaft nach den Ermittlungen des Instituts für Konjunkturforschung in der Zeit von 1924 bis 1928 in Höhe von 2,4 Milliarden R M . insgesamt ausgeführt hatte, entfielen allein 1,5 Milliarden, d. h. rund zwei Drittel auf die Vermehrung und Verbesserung des Viehbestandes. A n Meliorationen, Bau von Gebäuden und Inventarbeschaffung einschließlich Siedlungsbedarf wurde in dieser Zeitspanne ein Investitionsbedarf von rund 700 Millionen R M . befriedigt.

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Die wichtigste und für die Landwirtschaft verhängnisvollste Quelle der Immobiliarkreditverschuldung in der Nachinflationszeit bildeten die hohen Betriebsverluste, die viele landwirtschaftliche Betriebe in dieser Zeit aufwiesen. Sie waren in erster Linie bedingt durch die geringen Ernten und durch die unzulänglichen Preise für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die nur ungenügend vor der billigen ausländischen Konkurrenz geschützt wurden. Daneben haben auch die gegenüber der Vorkriegszeit sehr stark gestiegenen Wirtschaftsaufwendungen, unter denen in erster Linie die Steuerleistungen zu nennen sind, ertragsmindernd gewirkt. Nach den Buchführungserhebungen konnten in den Wirtschaftsjahren 1924/25 bis 1927/28 im Durchschnitt nur 50—60 % der erfaßten Betriebe einen Reinertrag erzielen. Auch im Wirtschaftsjahr 1928/29 war der Anteil der Verlustbetriebe mit rund 30 % noch verhältnismäßig hoch. Aber auch bei denjenigen Betrieben, die noch Reinerträge erzielten, reichten diese zumeist nicht aus, um den Zinsverpflichtungen nachkommen zu' können. Wenn die Landwirtschaft in weitem Umfange dazu überging, ihre Betriebsverluste durch Aufnahme neuer Kredite abzudecken, so ist dies nicht zuletzt auf die damals ausgegebene Intensivierungsparole zurückzuführen, die der Landwirtschaft eine möglichst schnelle Beseitigung der Kriegsschäden durch Steigerung der Roherträge zur Pflicht machte. Ohne eine Abtragung der Defizite durch Kredite wäre es nicht möglich gewesen, die Betriebsintensität aufrecht zu erhalten, geschweige denn zu verbessern. So wünschenswert eine solche Ertragssteigerung vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus ohne Zweifel auch sein mochte, so hatte man bei dieser Propaganda übersehen, daß eine Intensivierung auf die Dauer nur dann durchgeführt werden konnte, wenn zugleich auch durch eine entsprechende Agrarpolitik Vorsorge dafür getroffen wurde, daß die Landwirtschaft ihre erhöhte Produktion zu Preisen verwerten konnte, die ihre gestiegenen Aufwendungen zu decken vermochten. Diese Voraussetzung konnte jedoch in jener Zeit, in der die Agrarpolitik von dem Wechsel parteipolitischer Mehrheiten abhängig war, nicht geschaffen werden. Als eine weitere Ursache der landwirtschaftlichen Immobiliarkreditverschuldung ist die Aufwertungsgesetzgebung zu nennen. Es darf nicht übersehen werden, daß die Inflation die landwirtschaftliche Vorkriegsverschuldung, die auf etwa 17 1 / 2 Milliarden Mark geschätzt wird, von der etwa 13 Milliarden Mark auf den Immobiliarkredit entfielen, nicht restlos beseitigt hat. Durch die Aufwertungsgesetzgebung mußten rund 3 Milliarden R M . mit in die Nachinflationszeit hinübergenommen werden. Da das Aufwertungsgesetz bestimmte, daß die

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aufgewerteten Rechte ihren bisherigen Rang behalten, ergab sich vielfach die Notwendigkeit, die Aufwertungshypotheken abzulösen, um die erste Stelle des Grundbuches frei zu bekommen. Dabei wirkte sich der Umstand besonders ungünstig aus, daß der neue Kredit beträchtlich höher verzinslich war als die Aufwertungsschulden. Vielfach waren auch schon vor Erlaß des Aufwertungsgesetzes von der Landwirtschaft zum Zwecke der Grundbuchbereinigung Ablösungen vorgenommen worden, die zum Teil weit über die gesetzlich vorgeschriebene Aufwertungsquote hinausgingen. b) D e r I m m o b i l i a r k r e d i t b e d a r f des s t ä d t i s c h e n G r u n d besitzes Während der Immobiliarkreditbedarf der Landwirtschaft aus verschiedenen Ursachen abzuleiten ist, erwächst der Immobiliarkreditbedarf der Wohnungswirtschaft fast ausschließlich aus der produktiven Bautätigkeit und hängt insoweit mittelbar von der Nachfrage iiach Wohnungen ab. Diese wiederum wird von einer Reihe verschiedener Faktoren bestimmt, unter denen die Zahl der selbständigen Haushaltungen, deren Einkommensgestaltung, die herrschende Wohnkultur und schließlich die Mietpreise als die wichtigsten hervorzuheben sind. Gegenüber der Vorkriegszeit sind auch hier wesentliche Veränderungen eingetreten. In den letzten Jahren vor dem Kriege war der jährliche Zuwachs der selbständigen Haushaltungen von einem steigenden Wohlstand begleitet. Die leichte Aufwärtsbewegung der Mietpreise konnte dadurch kompensiert werden, so daß die jährliche Nachfrage nach Wohnungen etwa diesem Zuwachs an Haushaltungen entsprach. Da der Wohnungsbau während des Krieges fast vollständig still lag und in der Inflationszeit infolge der Finanzierungsschwierigkeiten nur unzulänglich in Gang gesetzt werden konnte, ergab sich nach der Währungsstabilisierung ein beträchtlicher Fehlbedarf an Wohnungen. Nach einer im Jahre 1927 vom Statistischen Reichsamt angestellten Ermittlung betrug der Überschuß der Haushaltungen über die vorhandenen Wohnungen oder mit anderen Worten der objektive Wohnungsfehlbedarf rund 1 Million. Zwar überstieg auch vor dem Kriege die Zahl der Haushaltungen diejenige der Wohnungen, jedoch hielt sich der damalige Fehlbedarf in engeren Grenzen. Man rechnete, daß im Jahre 1913 in den Mittel und Großstädten Deutschlands etwa 2 % von 13 Millionen Haushaltungen auf eine eigene Wohnung verzichten mußten. Die Steigerung des objektiven Fehlbedarfs erklärt sich einmal durch die hohe Zahl der Eheschließungen, die nach Beendigung des Krieges in der Zeit

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von 1919 bis 1923 auf rund 750000 im Jahresdurchschnitt gegenüber rund 500000 in den Jahren vor 1914 anwuchs, und ferner durch die zahlreichen deutschen Flüchtlinge aus den abgetretenen Gebieten und Kolonien. Ende 1920 betrug die Zahl dieser Flüchtlinge rund 8 bis 900000 mit einem Bestand von mehr als 150000 Haushaltungen. Wenn auch die Verschlechterung der Einkommensverhältnisse auf der einen Seite und die steigenden Mietpreise für Neubauwohnungen auf der anderen Seite diesen rein rechnerisch ermittelten Fehlbetrag nicht in voller Höhe als Wohnungsnachfrage in die Erscheinung treten lassen, so schätzt man doch den effektiven Fehlbedarf im Jahre 1927 auf etwa 600000 Wohnungen. Zu berücksichtigen ist dabei weiterhin, daß durch das Reichsmietengesetz die Mieten für Altwohnungen aus sozialen Gründen auf einem verhältnismäßig niedrigen Stand festgehalten wurden. Diese Maßnahme hatte zur Folge, daß Wohnungen vielfach von solchen Mietern beibehalten wurden,' die ihren Wohnbedarf bei einer sich nach den Gesetzen der freien Wirtschaft regelnden Mietpreisbildung eingeschränkt und damit Platz für andere Haushaltungen geschaffen hätten. Berechnungen haben ergeben, daß eine wirtschaftlichere Verteilung des Altwohnungsraumes nach den Wohngewohnheiten der Vorkriegszeit den Fehlbedarf an Wohnungen sehr fühlbar hätte mildern können. Die ernsten sozialen Mißstände, die aus dem großen Wohnungsmangel zu erwachsen drohten, drängten auf beschleunigte Abhilfe. Infolge der herrschenden Kapitalknappheit und der hohen Zinssätze war nicht zu erwarten, daß mit Hilfe der privaten Bautätigkeit eine schnelle Beseitigung der Wohnungsnot herbeigeführt werden konnte. Infolgedessen sah sich der Staat gezwungen, die Finanzierung des Wohnungsbaues zu einem großen Teil selbst in die Hand zu nehmen. Dieser zunehmende öffentliche Einfluß ist aber keine typisch deutsche, sondern eine durchaus internationale Nachkriegserscheinung. So sind in Ländern mit ähnlicher wohnungspolitischer Lage, z. B. in England, Norwegen, in der Tschechoslowakei und in Dänemark weit über 50 % der gebauten Wohnungen mit Hilfe öffentlicher Mittel errichtet worden. In Deutschland erwies sich ein Eingreifen des Staates auch aus dem Grunde als notwendig, weil mit dem während des Krieges eingeführten Mieterschutz, der Kündigung und Mietsteigerung im Interesse der Mieter verhindern sollte, und ferner mit dem Wohnungsmangelgesetz, das die Bewirtschaftung des vorhandenen Wohnraumes durch die Gemeindebehörden mit dem Recht zur Beschlagnahme frei gewordener Wohnungen unter Zuweisung der Wohnungsuchenden an die

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Vermieter vorsah, die Wohnungswirtschaft bereits aus der übrigen freien Verkehrswirtschaft sehr weitgehend herausgelöst worden war und eine Wiedereingliederung sich aus sozialpolitischen Gründen als unmöglich erwies. Diese grundsätzliche Umstellung der deutschen Wohnungswirtschaft nach der Währungsstabilisierung hat den Immobiliarkreditbedarf stark beeinflußt. Eine sehr ungünstige Folge des Eindringens der öffentlichen Hand in den Wohnungsbau bestand vor allem darin, daß die Baukosten eine erhebliche Steigerung erfuhren. Der Baukostenindex stieg von 1 3 8 , 9 % im J a h r e 1924 auf 178,1 % im J a h r e 1929 ( 1 9 1 3 = 100) und ging damit weit über die Erhöhung anderer Preise hinaus. Diese Entwicklung war nur dadurch möglich, daß die durch den Mietertrag zu deckenden Gestehungskosten nicht mehr die Rolle spielten, die sie in der Vorkriegszeit besaßen. Die staatliche Wohnungsbaupolitik bemühte sich vielmehr, die Mietpreise den geringen Einkommen der Wohnungsuchenden dadurch anzupassen, daß sie die aus eigenen Mitteln gewährten Kredite zu Zinssätzen zur Verfügung stellte, die sehr erheblich unter den Marktsätzen lagen. Diese Subventionierung hatte zur Folge, daß Bauherr und Bauunternehmer auf die Niedrighaltung der Baukosten weniger Gewicht legten, weil sie im Gegensatz zur Vorkriegszeit das Risiko weitgehend auf die Träger öffentlicher Kredite abwälzen konnten. Die erhebliche Steigerung des Immobiliarkreditbedarfs, die sich aus der Erhöhung des Baukostenindexes ergab, wurde weiterhin noch dadurch verstärkt, daß mit der Verarmung des Mittelstandes, aus dessen Kreisen früher der größte Teil der Hausbesitzer stammte, und durch den Verlust des Kapitals der privaten und öffentlichen Baugesellschaften auch das Eigenkapital der Bauherren zusammengeschmolzen war. Dieses deckte vor dem Kriege etwa 20 % der Bau- und Bodenkosten, während nach dem Kriege im Durchschnitt nur noch 10 % dieser Kosten durch Eigenkapital aufgebracht werden konnten. Dagegen hat die Gestaltung der Bodenpreise als weiterer bedeutungsvoller Faktor für den Immobiliarkreditbedarf eine günstigere Entwicklung genommen als vor dem Kriege, wo lebhafte Klage darüber geführt wurde, daß durch starke Spekulation die Bodenpreise in die Höhe getrieben wurden. Man antizipierte damit die Gewinne, die später aus der Bebauung des Bodens zu erwarten waren. Infolgedessen mußte für die übersteigerten Ansprüche der Bodenbesitzer ein großer Teil des Immobiliarkredits abgetreten werden. In der Nachkriegszeit gelang es, durch eine Zurückdämmung der Bodenspekulation und durch eine vorsorgliche Bodenpolitik der Gemeinden eine Überbewer-

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tung des Grund und Bodens, die eine weitere Steigerung des Immobiliarkreditbedarfes bedeutet hätte, zu verhindern. Ein in diesem Umfange in der Vorkriegszeit nicht gekannter Immobiliarkreditbedarf ergab sich schließlich noch dadurch, daß der Althausbesitz infolge der weitgehenden Entschuldung durch die Inflation eine größere Kreditnachfrage entfalten konnte. Dieser Bedarf erwuchs vorwiegend aus der Notwendigkeit, die lange Zeit hindurch aufgeschobenen Reparaturen nachzuholen. Daneben erforderten die Umbauten von Großwohnungen in Kleinwohnungen und die Modernisierung der Räume erhebliche Kreditmittel. Der Beleihungsmöglichkeit des Altbesitzes wurden jedoch dadurch Grenzen gesetzt, daß infolge der Zwangswirtschaft und der Hauszinssteuer eine große Ertrags- und Wertminderung gegenüber der Zeit vor 1914 eingetreten war. Besonders schwer wurde der Althausbesitz durch die Hauszinssteuer belastet, deren Einführung damit begründet wurde, daß der Hausbesitzer im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsgruppen sein Vermögen unter gleichzeitiger Beseitigung des größten Teils seiner Vorkriegsschulden während der Inflation hatte erhalten können. Die Erträge aus dieser Steuer dienten teils zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs der Länder und Gemeinden, teils zur Förderung der Neubautätigkeit auf dem Gebiete der Wohnungswirtschaft. 2. D i e D e c k u n g des I m m o b i l i a r k r e d i t b e d a r f e s Die Befriedigung des vorstehend gekennzeichneten Immobiliarkreditbedarfes stieß nach der Währungsstabilisierung auf die größten Schwierigkeiten. Ähnlich wie in der Land- und Wohnungswirtschaft war auch in vielen anderen Wirtschaftszweigen in der Kriegs- und Inflationszeit ein großer Nachholungsbedarf entstanden, der nach Befriedigung drängte und ebenfalls seine Ansprüche auf dem viel zu knappen 'Kapitalmarkt geltend machte. Kredite waren nötig, um der von Vorräten entblößten Wirtschaft wieder den notwendigen Aufbau ihrer Lager zu ermöglichen. Große Kapitalien erforderte weiterhin die Umstellung der Industrie von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft und die Liquidierung der in der Inflation vielfach in falsche Bahnen geleiteten Produktion. Darüber hinaus galt es, in verschiedenen Zweigen der Industrie die Werke entsprechend den Fortschritten der Technik zu erneuern und die Produktionsmethoden zu verbessern, um den in der Zeit von 1914 bis 1924 entstandenen Vorsprung der von dem Krieg und seinen Folgen nicht so stark berührten ausländischen Konkurrenz einzuholen. Auch diese Rationalisierung, bei der oftmals zu schematisch das ausländische Beispiel nachgeahmt wurde, ohne dabei zu be-

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denken, daß die in Deutschland sehr viel höheren Kapitalkosten eine vorsichtigere Investitionspolitik gerechtfertigt hätten, war ohne Aufnahme von Krediten nicht durchführbar. Ferner entwickelten das Reich und die Länder — insonderheit aber die Kommunen — in der Zeit nach 1924 einen gewaltigen Kreditbedarf, der sich teils aus den hohen Kriegs- und Reparationslasten, teils aber auch aus einer die Lage der deutschen Volkswirtschaft völlig verkennenden, übertriebenen Aufwandswirtschaft erklärte. Einer so starken Nachfrage nach langfristigen Krediten stand unmittelbar nach der Währungsstabilisierung ein völlig zerrütteter Kapitalmarkt gegenüber. Zwar gelang es, den Sparwillen des deutschen Volkes, der unter den Nachwirkungen der Inflationserfahrungen weitgehend gelähmt war, nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder zu erwecken. Symptomatisch dafür war das Anwachsen der Sparer bei den Sparkassen und den Genossenschaftsverbänden. Während diese beiden Gruppen von Kreditinstituten Ende 1913 46 Sparer auf je 100 Köpfe der Bevölkerung ausgewiesen hatten, waren es Ende 1924 erst 4, Ende 1926 14, Ende 1928 26 und Mitte 1929 etwa 28. Die gesamte deutsche Kapitalbildung erreichte denn auch trotz der ebenfalls schnell wachsenden Sparquote der einzelnen Sparer im jährlichen Durchschnitt der hier behandelten Zeitspanne nicht die Höhe der Vorkriegszeit. Dieses Zurückbleiben erklärt sich in erster Linie aus der hohen Belastung mit Steuern und öffentlichen Abgaben. Der Finanzbedarf von Reich, Ländern und Gemeinden, der 1913 7,2 Milliarden RM. betrug, war bis zum Jahre 1929 unter Einschluß der Kriegslasten und Reparationen auf 20,9 Milliarden RM. gestiegen. Auch die sozialen Aufwendungen, insbesondere die Beiträge für die Sozialversicherungen, hatten eine gewaltige Steigerung erfahren. Sie wurden für 1913 auf 1,3 Milliarden RM. geschätzt und waren bis zum Jahre 1929 auf rund 5,2 Milliarden RM. angewachsen. Diese hohe Beanspruchung durch öffentliche Abgaben, die mehr als 1/3 des deutschen Volkseinkommens ausmachten, während die gleiche Belastung in der Vorkriegszeit nur 16,9% des Volkseinkommens betrug, mußte naturgemäß die private Kapitalbildung erheblich schwächen. Ein weiterer wesentlicher Faktor, der hemmend auf die Kapitalbildung einwirkte, war die Nivellierung der Einkommenstufen, vor allem die Vernichtung der höheren Einkommen, die als Folgewirkung der Inflation eingetreten war. Der Anteil der größeren Einkommen am Gesamteinkommen betrug im Jahre 1926 nur noch 22% gegen 3 2 % im Jahre 1913. Da die hohen Einkommen in besonderem Maße

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in der Lage sind, kapitalbildend zu wirken, so gewinnt diese Veränderung in der Einkommensschichtung eine große Bedeutung. Es kam hinzu, daß die höheren Einkommen in der Nachkriegszeit mit einer stark progressiven Einkommensteuer belastet wurden, die mit Steuersätzen bis zu 40% nicht nur lähmend auf die Kapitalbildung einwirken mußte, sondern darüber hinaus für gewisse Kreise noch einen Anreiz bildete, sich der Besteuerung durch die Kapitalflucht zu entziehen. Unter diesen Umständen reichte die deutsche Kapitalbildung nicht einmal zur Befriedigung des dringendsten Kreditbedarfes aus. Man sah sich daher trotz der dagegen sprechenden Bedenken veranlaßt, den ausländischen Kapitalmarkt zur Hilfe heranzuziehen. Eine Inanspruchnahme ausländischer Kredite erschien auch aus dem Grunde vorteilhaft, weil sie zumeist unter günstigeren Zinsbedingungen möglich war als eine Kreditaufnahme im Inland. Das Mißverhältnis von Kreditangebot und -nachfrage hatte in Deutschland den Zinsfuß auf eine Höhe hinaufgeschraubt, die bis dahin nur in wirtschaftlich unentwickelten Ländern üblich war. So war die Realverzinsung der deutschen Staatsanleihen, die international eine gute Vergleichsmöglichkeit bieten, von 3,67% im Durchschnitt der Jahre 1909—1913 auf 6,67% im Jahre 1925 gestiegen. In den nächsten Jahren trat zwar eine geringe Ermäßigung ein, jedoch blieb das deutsche Zinsniveau weit über dem des Auslandes, obwohl auch hier als Folge des Krieges ein Ansteigen der Zinsen spürbar war. Im Vergleich zu der Realverzinsung der Staatsanleihen in New York und London ergab sich für die Verzinsung der deutschen Anleihen ein Zinsgefälle, das in den Jahren 1924 bis 1929 zwischen 2,5—4% schwankte, zumeist aber über 3,5% betrug. Dabei ist zu berücksichtigen, daß vor dem Kriege die Realverzinsung der deutschen Staatsanleihen nur etwa um 1 / 2 % über der der ausländischen Anleihen lag. Wenn es auch nicht gelang, diese Zinsdifferenz zwischen In- und Ausland in vollem Umfange dem deutschen Schuldner zugute kommen zu lassen, weil sich das Ausland zu einem Kapitalexport nur unter Bewilligung einer beträchtlichen Risikoprämie einverstanden erklärte, so war doch die Effektiwerzinsung der Auslandskredite in den meisten Fällen erheblich günstiger als die von Inlandskrediten. Es besteht wohl heute kein Zweifel darüber, daß die Beseitigung der schlimmsten Kriegs- und Inflationsschäden ohne eine Inanspruchnahme ausländischer Kreditmärkte nicht möglich gewesen wäre. Die später zutage getretenen verhängnisvollen Auswirkungen der Auslandsverschuldung haben ihre Ursache nicht in der Inanspruchnahme ausländischer Kredite an sich, sondern sind in erster Linie auf die Form der

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Kreditaufnahme und ferner auf das Ausmaß der Kredite sowie auf ihre Verwendung zurückzuführen. Es wurden insgesamt etwa 23 Milliarden R M . Auslandskredite aufgenommen, davon die Hälfte in kurzfristiger Form, obwohl die Mittel überwiegend langfristigen Verwendungszwecken zugeführt wurden. Eine Verzinsung und Rückzahlung derartiger Kreditbeträge mußte auch bei produktiver Verwertung der Mittel auf Schwierigkeiten stoßen. Auch hätte eine auf das notwendige Maß begrenzte Auslandsverschuldung wahrscheinlich die Untragbarkeit der Reparationslasten schon früher offenbar werden lassen, weil sich in diesem Fall ein Transfer nicht so reibungslos hätte bewerkstelligen lassen, wie es infolge so hoher Auslandskredite lange Zeit hindurch möglich war. Mehr als die Hälfte der aus in- und ausländischen Mitteln insgesamt zur Verfügung gestellten langfristigen Kredite wurde in den Jahren von 1924—1929 zur Deckung des Immobiliarkreditbedarfes in Anspruch genommen. Infolge der dringenden Anforderungen, die zugleich auch für andere Zwecke an den Kapitalmarkt gestellt wurden, konnte der Vorkriegsanteil von über 60% nicht in vollem Umfange erreicht werden. Betrachtet man die Entwicklung des Immobiliarkredits in dem hier behandelten Zeitraum näher, so zeigt sich gegenüber der Vorkriegszeit ein auffallender Unterschied in der Bedeutung der beiden großen Kreditquellen des privaten und des organisierten Kredits. Während 1913 die Privathypotheken 40% des gesamten Immobiliarkredits ausmachten, betrug der Anteil im Jahre 1929 nur 20,1 %. Dieses Zurücktreten des unorganisierten gegenüber dem organisierten Kredit beruht einmal auf dem bei der Behandlung des Kreditbedarfs bereits hervorgehobenen Umstand, daß der hauptsächlich durch Privathypotheken gedeckte Besitzwechselkredit infolge der kurzen Zeitspanne seit der Stabilisierung noch nicht die Bedeutung gewinnen konnte wie in der sich über Jahrzehnte erstreckenden Vorkriegsentwicklung. Hinzu kam, daß auch die Bereitwilligkeit, Privathypotheken zu geben, nicht mehr in dem Umfange vorhanden war wie vor dem Kriege. Es fehlte vor allem der als privater Kreditgeber vorwiegend in Betracht kommende vermögende Mittelstand. Dagegen führte der gegenüber der Vorkriegszeit größere Anteil der kleineren Einkommen an der gesamten Kapitalbildung, den Spargewohnheiten dieser Bevölkerungsschichten entsprechend, zu einer stärkeren Zunahme der Spareinlagen. Diese stiegen im Jahresdurchschnitt der Zeit von 1925—1929 über 1,6 Milliarden gegenüber knapp 1 Milliarde im Durchschnitt der Vorkriegsjahre. In der Bedeutung der einzelnen Kreditgeber am organisierten Im14

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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mobiliarkredit sind gegenüber der Vorkriegszeit keine sehr wesentlichen Veränderungen festzustellen. An erster Stelle stehen mit einem ungefähr gleichen Anteil von über 30 % der gesamten Immobiliarkredite die Hypotheken-Aktienbanken und die Sparkassen. Es folgen die öffentlich-rechtlichen Kreditanstalten, die ihren Anteil im Jahre 1929 auf 21,4% gegenüber 15,5% im Jahre 1913 vergrößern konnten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Kreditanstalten in der Nachkriegszeit auch als Kapitalsammelbecken im Rahmen der gesamten Kreditorganisation insofern zugenommen hat, als sich in dieser Zeit die Zahl der öffentlichen Banken durch die Errichtung neuer Institute erhöht hat. Wie sich die Deckung des Immobiliarkreditbedarfes bei der Landwirtschaft und beim städtischen Grundbesitz im einzelnen entwickelt hat, wird im folgenden gesondert betrachtet werden. a) D i e D e c k u n g des l a n d w i r t s c h a f t l i c h e n Immobiliarkreditbedarfes Die Schwierigkeiten der Kreditwirtschaft während der Inflationszeit führten zu einer Reihe von Versuchen, sich von der Markentwertung unabhängig zu machen. Von Bedeutung für den Immobiliarkredit auch noch nach der Währungsstabilisierung ist jedoch nur der Roggenwertkredit geworden. Gepflegt wurde diese Kreditform zunächst von der im Herbst 1922 gegründeten Roggenrentenbank, die auf der Grundlage von auf Roggenwert lautende Reallasten Schuldverschreibungen in Gestalt von Roggenrentenbriefen ausgab. Einige Landschaften und öffentlich-rechtliche Institute und später nach Erlaß des Gesetzes über wertbeständige Hypotheken auch eine Reihe von Hypothekenaktienbanken folgten diesem Beispiel der Roggenrentenbank. Die Gewährung von Roggenwertdarlehen erschien als ein Ausweg in der Zeit, wo andere Kreditquellen nicht zur Verfügung standen. Die Gefahren, die in der Bindung des Kredits an einen Faktor lagen, der selbst erheblichen Wertänderungen unterworfen war, zeigten sich erst später. Die Schwierigkeiten der Roggenschuldner wurden besonders groß, als die Roggenpreise bei geringen Erträgen stark anzogen und gleichzeitig die Preise der anderen landwirtschaftlichen Erzeugnisse absanken. Erst im Jahre 1934 wurden, nachdem schon vorher in größerem Umfange Umwandlungen von Roggen- in Reichsmarkschulden vorgenommen worden waren, schließlich durch ein Gesetz die letzten, noch bestehenden Roggenwertkredite abgewickelt. Der geschilderte langsame Wiederaufbau des Kapitalmarktes hatte zur Folge, daß die Landwirtschaft auch nach der Währungsstabilisie-

Der deutsche Immobiliarkredit

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seit der Inflation

rung ihren Kreditbedarf nicht in dem notwendigen Umfang und vor allem nicht in der den Verwendungszwecken der Kredite entsprechenden langfristigen Form befriedigen konnte. Man beschritt deshalb den Ausweg, die dringendste Nachfrage zunächst mit kurzfristigen Krediten zu befriedigen, in der Erwartung, diese möglichst bald konsolidieren zu können. Die Umwandlung dieser damals besonders hochverzinslichen Personalkredite in Realkredite stieß jedoch in der Folgezeit auf große Schwierigkeiten, die noch dadurch vergrößert wurden, daß in Verfolg der Dawes-Gesetzgebung in einer viel zu kurz bemessenen Frist die Rückzahlung der in die Landwirtschaft geflossenen RentenbankKredite gefordert wurde, die einen Umfang von 870 Millionen erreicht hatten. Eine Konsolidierung dieser Kredite konnte schließlich nur dadurch ermöglicht werden, daß man in der Deutschen RentenbankKreditanstalt eine mit einem großen Eigenkapital ausgestattete Landwirtschaftliche Zentralbank schuf, der es gelang, neue Kreditquellen für die Landwirtschaft zu erschließen. Gleichzeitig wurde damit der landwirtschaftlichen Kreditorganisation ein starker Rückhalt geboten, der den Wiederaufbau des Agrarkredites beschleunigen half. Mit Unterstützung der Golddiskontbank, durch Inanspruchnahme des amerikanischen Kapitalmarktes und schließlich der eigenen Mittel hat die Deutsche Rentenbank-Kreditanstalt bis zum Jahre 1929 der Landwirtschaft vorwiegend zu Konsolidierungszwecken langfristige Kredite in Höhe von 920 Millionen R M . zu erheblich günstigeren Bedingungen zur Verfügung stellen können, als sie zu dieser Zeit sonst üblich waren. Trotz aller Bemühungen, die mit dem Erstarken des Kapitalmarktes auch von den übrigen Realkreditinstituten unterstützt wurden, bleibt aber doch in dieser Zeitspanne, wie die folgende Übersicht zeigt, der hohe Anteil der kurzfristigen Kredite an der gesamten Verschuldung ein wichtiger Unterschied gegenüber der Verschuldungsstruktur der Vorkriegszeit:

1913 I. A l t e n t e i l s l a s t e n II. R e a l k r e d i t b e l a s t u n g (Realkredite + Aufwertgs.-Hyp. + Gutsübertragungshyp.) III. K u r z - u. m i t t e l f r i s t i g e Pers o n a l k r e d i t b e l a s t u n g (Kurzu. mittelfr. Kredite + Schwimmschulden) Kreditbelastung insges.: 14«

I n M i l l i o n e n RM. 1926 1927 1928

1925

1929

1 600 i 700

1800

1900

1950

4011

4949

5764

6673

7217

5000 4012

3779

4 120 4158

4175

12600

17600 9623

10428 11684 12731 13342

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Die Deckung des landwirtschaftlichen Immobiliarkreditbedarfs unterscheidet sich ferner sehr wesentlich von der der Vorkriegszeit dadurch, daß sie zu weitaus ungünstigeren Bedingungen erfolgte. Wenn man den durchschnittlichen Zinssatz für landwirtschaftliche Hypothekar-Kredite im Jahre 1913 gleich 100 setzt, dann ergeben sich für die Wirtschaftsjahre der Nachkriegszeit nach den Buchführungsergebnissen folgende Indizes: !924/25

1925/ 26

1926/27

1927/28

1928/29

325

300

262

233

185

Diese außerordentlich hohe Verzinsung erklärt sich in erster Linie aus der oben dargelegten Entwicklung des Kapitalmarktes. Sie hatte daneben aber auch noch andere Gründe. Die Realkreditinstitute hatten ihr Vermögen und ihren Hypothekenbestand fast vollkommen verloren. Sie mußten daher ihre Unkosten aus dem neuen und sehr verkleinerten Geschäft zu bestreiten versuchen. Gleichzeitig mußten sie bemüht sein, ihre eigenen flüssigen Mittel allmählich wieder zu ergänzen. Die Folge war, daß die Landwirtschaft in Form von Provisionen aller Art zu den hohen Zinssätzen noch erhebliche einmalige Belastungen auf sich nehmen mußte. A m drückendsten gestalteten sich dabei die Bonifikationskosten, die zeitweise zwischen 4 und 6 % schwankten, während vor dem Kriege diese Kosten 1, höchstens i 1 / 2 % betragen haben. Schwierigkeiten, die in der Vorkriegszeit in diesem Umfange nicht aufgetreten waren, zeigten sich ferner bei der Wertermittlung des zur Deckung der Kredite dienenden landwirtschaftlichen Grundbesitzes. Die Grundsteuerreinerträge, der Wehrbeitragswert und später auch der berichtigte Wehrbeitragswert trugen den gegenüber der Vorkriegszeit veränderten Ertragsverhältnissen der Landwirtschaft nicht genügend Rechnung. Güterpreise hatten sich in der kurzen Zeit nach der Stabilisierung noch nicht in solchem Umfange herausgebildet, um als Grundlage für die Beleihungen herangezogen zu werden. Auch die zu steuerlichen Zwecken vorgenommene Einheitsbewertung konnte erst im Laufe der Jahre so zuverlässig ausgebaut werden, daß sie zur Grundlage der Wertfeststellungen für die Kreditgewährung geeignet erschien. Dies lag einmal daran, daß ein so umfangreiches Schätzungsverfahren bei seiner ersten Durchführung nicht ohne Fehler abgeschlossen werden konnte, zum anderen aber daran, daß die der Einheitsbewertung zugrunde liegenden Erträge zu jener Zeit sehr starken Schwankungen ausgesetzt waren. Diese Unsicherheit der Bewertung hatte zur Folge, daß viele Real-

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kreditgläubiger bei der Kreditgewährung große Vorsicht walten ließen und ihre erststelligen Darlehen sehr niedrig hielten. Diejenigen Institute, namentlich im Osten Deutschlands, die ihre Taxen in stärkerem Umfange auf den Vorkriegswerten aufbauten, haben während der später einsetzenden Krise vielfach Verluste auf sich nehmen müssen. Zusammenfassend ist in dieser Zeitspanne hervorzuheben, daß der Gedanke des Ertragswertes in immer stärkerem Maße in den Vordergrund trat. Wertvolle Dienste leistete dabei die Ausbreitung der Buchführung in der Landwirtschaft, die es ermöglichte, in größerem Umfange durch individuelle Prüfung festzustellen, welche Zins- und Tilgungsbeträge der landwirtschaftliche Betrieb aus seinen Reinerträgen zu entrichten vermag. Dieses Verfahren, die Beleihungsgrenze nicht mehr von der Kapitalseite sondern von der Ertragsseite her zu ermitteln, hat sich später auch bei den großen Entschuldungsmaßnahmen der Osthilfe und des Schuldenregelungsgesetzes durchgesetzt. Über die Veränderung, die in der Zusammensetzung der Immobiliarkreditverschuldung der Landwirtschaft in der Zeit von 1924—1929 eingetreten ist, unterrichtet die folgende Übersicht: In Millionen RM. 1913

1924

I. O r g a n i s . K r e d i t 4600 250 öff.-rechtl. Institute Hyp.-Akt. Banken 170 800 Sparkassen 20 4400 Versicherungen: a) öffentl. u. priv. Lebensversicherungen 200 3 b) Sozialversicherungen . . 87 3° II. P r i v a t h y p o t h e k e n . . . . — | 2513 III. A l t e n t e i l e Gesamtsummen

12600

473

'9a5

1926

1927

1928

1929

550 280 770

1070 560 920

1470 710 1120

1950 830 1310

2440 820 1510

7 8 2396 1600

17 100 2282 1700

68 136 2260 1800

85 173 2325 1900

108 203 2136 1950

5611

6649

7564

8573

9^7

Die von verschiedenen Seiten angestellten Schätzungen über die Höhe der Privathypotheken zeigen sowohl in der Vor- als auch in der Nachkriegszeit sehr erhebliche Abweichungen. Es herrschte aber im allgemeinen Übereinstimmung darüber, daß der Anteil der Privatgläubiger am landwirtschaftlichen Immobiliarkredit ebenso wie der Anteil am gesamten Immobiliarkredit nach der Währungsstabilisierung viel geringer war als im Jahre 1913. Die Gründe dafür sind in dem einleitenden Teil dieses Abschnittes bereits dargelegt worden. Auch innerhalb des organisierten landwirtschaftlichen Immobiliarkredits sind erhebliche Veränderungen gegenüber der Vorkriegszeit

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eingetreten. Die öffentlich-rechtlichen Kreditanstalten haben in den Jahren 1924—1929 ihren Vorkriegsanteil von nahezu der Hälfte des gesamten organisierten Realkredits aufrecht erhalten. Eine weitaus größere Bedeutung als vor 1914 haben die Hypothekenaktienbanken erlangt. Sie haben in den Jahren 1927/28 rund 20% des organisierten landwirtschaftlichen Realkredits gedeckt gegenüber nur 8 % im Jahre 1913. Während vor dem Kriege das Aufgabengebiet der Hypothekenbanken sich im wesentlichen auf die Förderung des städtischen Wohnungsbaues beschränkte, hat die Verminderung der Beleihungsmöglichkeiten durch geringe Bautätigkeit unmittelbar nach der Währungsstabilisierung ein stärkeres Eindringen der Hypothekenbanken in das landwirtschaftliche Beleihungsgeschäft gefördert. Die Sparkassen haben mit rund 30% ihren Vorkriegsanteil von 43,5% in den Jahren 1928/29 noch nicht zurückgewinnen können. Dagegen hat sich der Anteil der Sozialversicherungen infolge des Ausbaues dieses Versicherungszweiges in der Nachkriegszeit mit 4 % im Jahre 1929 erheblich verstärkt. Er betrug im Jahre 1913 nur 1%. Der Anteil der Lebensversicherungen am organisierten Realkredit ist mit 2 % im Jahre 1929 ebenso hoch wie im Jahre 1913. Von den rund 7 Milliarden Immobiliarkrediten, die in der Zeit von 1924—1929 in die Landwirtschaft geflossen sind, haben nach den früher bereits erwähnten Ermittlungen des Instituts für Konjunkturforschung nur 2,5 Milliarden Anlage in Investitionen aller Art gefunden. Es scheint jedoch nicht richtig, aus einer Gegenüberstellung dieser beiden Zahlen den Schluß zu ziehen, daß somit 4,5 Milliarden den Charakter reiner Fehlinvestitionen hatten. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß ein sehr wesentlicher Faktor der Kreditverwendung in der Nachkriegszeit, nämlich die Qualitätssteigerung des Grund und Bodens, in einer statistischen Erhebung nicht in die Erscheinung treten kann. Es ist deshalb notwendig, die Feststellung hervorzuheben, die das Institut für Konjunkturforschung in diesem Zusammenhang selbst getroffen hat, wenn es betont, daß es angesichts der hohen landwirtschaftlichen Verschuldung notwendig sei, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß ein Teil dieser Verschuldung, der scheinbar für reine Betriebsausgaben (Düngemittel, Futtermittel, Arbeitsaufwand) verwendet worden ist, in Wirklichkeit doch dem Kapitalbestand der Landwirtschaft auch realiter zugute gekommen sei, nämlich in Gestalt der Qualitätsverbesserung des Bodens.

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b) D i e D e c k u n g des I m m o b i l i a r k r e d i t b e d a r f e s des s t ä d t i s c h e n G r u n d b e s i t z e s Im städtischen Grundbesitz hat die Immobiliarkreditgewährung auf der Grundlage von Sachwerthypotheken in der Inflationszeit nicht die Rolle gespielt wie in der Landwirtschaft. Erst mit der Währungsstabilisierung wurden hier in größerem Umfange die Voraussetzungen für ein Wiederaufleben des Immobiliarkredites geschaffen, wobei gegenüber der Vorkriegszeit Veränderungen grundsätzlicher Art zu verzeichnen sind. Diese erklären sich zu einem großen Teil aus den dargelegten Wandlungen der Nachfragegestaltung, vor allem aber aus dem Hervortreten des öffentlichen Einflusses in der Wohnungswirtschaft. Die Dringlichkeit des Kreditbedarfes hatte zunächst zur Folge, daß der Rhythmus der Wohnungsbaufinanzierung, wie er sich in den Jahrzehnten vor 1914 deutlich herausgebildet hatte, in der Nachkriegszeit keine Rolle mehr spielte. Vor dem Kriege wurde der Kapitalmarkt für die Zwecke der Wohnungsbaufinanzierung in größerem Umfange stets nur zu Zeiten starker Flüssigkeit und niedrigen Zinssatzes in Anspruch genommen. Insbesondere pflegte man die Emission von Pfandbriefen auf die Zeiten zu konzentrieren, in denen sich vor Beginn einer Konjunkturaufschwungsperiode neugebildetes Kapital staute und nach Anlagemöglichkeiten suchte, die in der zu jenem Zeitpunkt weniger ertragreichen gewerblichen Wirtschaft nicht gegeben waren. Dieses System der Wohnungsbaufinanzierung hatte zur Folge, daß nicht nur die Kredite zinsmäßig zu dem günstigsten Zeitpunkt gegeben wurden, sondern daß zugleich auch die Preise für Materialien und die Löhne ihren tiefsten Stand erreicht hatten, so daß die Kosten für den Wohnungsbau außerordentlich billig waren. Auf Grund der Schlüsselstellung der Bauwirtschaft im Rahmen der gesamten Volkswirtschaft konnte zugleich mit dieser Finanzierungsmethode nicht nur eine krisenmildernde Wirkung ausgeübt, sondern zumeist auch eine neue wirtschaftliche Aufschwungsperiode eingeleitet werden. In den Jahren 1924—1929 ist eine solche Anpassung der Wohnungsbaufinanzierung an die Konjunkturentwicklung nicht mehr festzustellen. Es zeigt sich vielmehr, daß im Gegensatz zu dem Vorkriegsfinanzierungsschema gerade während der Vollbeschäftigung der deutschen Wirtschaft, d. h. in den Jahren 1928—1929, die Kreditgewährung für die Wohnungsbautätigkeit einen besonders starken Umfang annimmt. Die Immobiliarkreditgewährung in der Nachinflationszeit unterscheidet sich ferner von derjenigen der Vorkriegszeit dadurch, daß die Bewertung der städtischen Grundstücke, von der die Beleihungshöhe abhängt, auf Grund der veränderten Verhältnisse nicht an Vorkriegs-

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erfahrungen anknüpfen konnte. Die verschiedenartige steuerliche Belastung sowie die unterschiedliche Mietsgestaltung erschwerten eine einheitliche Bewertung, wie sie in der Vorkriegszeit üblich war. Der herrschenden Unsicherheit auf diesem Gebiet versuchte man dadurch Rechnung zu tragen, daß man die Beleihungsgrenze herabsetzte. Während der erststellige Kredit im Durchschnitt der Vorkriegszeit beim städtischen Grundbesitz rund 60% des Beleihungswertes ausfüllte, wurden von dem organisierten Kredit in der Nachinflationszeit Beleihungen nur bis zu einer Grenze von 40%, unmittelbar nach der Währungsstabilisierung sogar nur bis zu 25 % vorgenommen. . Diese vorsichtige Bemessung des erststelligen Kredites erschwerte die Finanzierung des Wohnungsbaues, da nunmehr der mit einem stärkeren Risiko belastete nachstellige Kredit, dessen Deckung schon vor dem Kriege auf Schwierigkeiten gestoßen war, noch mehr an Bedeutung zunahm. Im Vergleich zur Vorkriegszeit umfaßte der nachstellige Kredit neben der 2. Hypothek einen Anteil von etwa 20% des Beleihungswertes, der früher I. stellig gesichert war. Darüber hinaus aber mußte er auch noch die Lücke ausfüllen, die durch die oben erwähnte Zusammenschrumpfung des Eigenkapitals entstanden war. Ein nachstelliger Kredit in dieser Höhe konnte weder von seiten des organisierten Kredits noch von seiten der privaten Gläubiger bereitgestellt werden. Die Lösung dieses Problems gelang nur mit staatlicher Hilfe. Diese bestand in Fällen besonders niedriger erststelliger Beleihung darin, durch Bürgschaftsübernahme weitere Mittel des organisierten Kredits der Neubaufinanzierung in der Weise zuzuführen, daß durch die Einschaltung einer sogenannten 1 b-Hypothek der Beleihungsspielraum des erststelligen Kredits bis zu einer Grenze von 50—60% erhöht wurde. Die Hypothekenaktienbanken beschafften sich die Mittel für diese 1 bHypotheken in der Regel durch Ausgabe von Kommunalobligationen. Eine nach Umfang und Wirkung weit höhere Bedeutung kommt den direkt von Reich, Ländern und Gemeinden in den Jahren 1924 bis 1929 als nachstellige Kredite in Höhe von 7,5 Milliarden zur Verfügung gestellten Beträgen zu, die überwiegend im Wohnungsbau Verwendung fanden und denen an entsprechenden privaten Immobiliarkrediten nur 6,5 Milliarden gegenüberzustellen sind. Damit ist die öffentliche Wirtschaft in dieser Zeit als der wichtigste Träger des Wohnungsbaues anzusehen, auf den 53,5% der gesamten Finanzierung entfallen. Im einzelnen setzen sich die öffentlichen Beträge zusammen aus 4 Milliarden Hauszinssteuermitteln, 1,8 Milliarden Zuschußmitteln der Länder und Gemeinden sowie 1,7 Milliarden Darlehen der öffentlichen Hand und der Arbeitgeber, die überwiegend auf soziale

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Maßnahmen für die in öffentlichen Betrieben tätigen Arbeitnehmer zurückzuführen sind. Die aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung gestellten Kredite wurden zu sehr erheblich unter den Marktsätzen liegenden Zinsen vergeben. Im allgemeinen betrug der Zinssatz der Hauszinssteuerhypothek i %. Der Zeitwert dieser Hypotheken — umgerechnet nach dem Landeszinsfuß — lag demnach beträchtlich unter ihrem Nominalwert. In Höhe dieses Unterschiedsbetrages zwischen Nominalwert und Gegenwartswert kann man die zur Verfügung gestellten öffentlichen Kredite als reine Subventionsausgaben des Staates für den Wohnungsbau betrachten. Durch diese Art der Finanzierung wurde ein Ausgleich geschaffen für die im Vergleich zur Vorkriegszeit außerordentlich hohen Zinsen des erststelligen Kredits, die in dem hier behandelten Zeitraum zwischen 8 und 12,5% lagen gegenüber Zinssätzen von 3 1 / 2 —4% in der Zeit von 1890—1914. Die Zinssätze der zweitstelligen Privathypotheken lagen in der Vorkriegszeit um etwa 1—1^2% über den Sätzen des erststelligen Kredits. Auch diese Spanne hat sich in der Nachkriegszeit erheblich erhöht. Sie betrug zeitweise das Doppelte der genannten Sätze. Von den übrigen Kreditbedingungen ist noch hervorzuheben, daß in den ersten Jahren nach der Stabilisierung die Kreditfristen stark verkürzt wurden. Die Kredite wurden etwa auf eine Dauer von 3—6 Jahren gegeben, wobei der Gedanke eine Rolle spielte, dem Schuldner bei einer Besserung der Kapitalmarktsituation eine Ablösung der Kredite zu billigeren Zinssätzen zu ermöglichen. Mit der allgemeinen Erstarkung des Kapitalmarktes traten die Amortisationsdarlehen, die in der Vorkriegszeit ohne größere Bedeutung waren, stärker in den Vordergrund. Diese Entwicklung ist insofern zu begrüßen, als sie eine allmähliche Entschuldung des städtischen Grundbesitzes fördert und damit zugleich das Risiko des nachstelligen Kredites mildert. Es darf allerdings nicht verkannt werden, daß der Fristhypothek wichtige wirtschaftliche Funktionen beim Grundbesitzwechsel insofern zukommen, als der bar zu zahlende Teil des Kaufpreises sich nach der auf dem Grundstück lastenden Schuld richtet. Bereits stärker getilgte Hypotheken stellen erhöhte Anforderungen an die Eigenmittel des Erwerbers, wodurch es unter Umständen gerade den wertvollen Teilen des Hausbesitzerstandes, dem gewerblichen Mittelstand, erschwert wird, Grundbesitz zu erwerben. Wie sich der städtische Immobiliarkredit — Neubaufinanzierung und Altbesitzbeleihung einschließlich Aufwertungsschulden zusammen betrachtet — in den Jahren 1924—1929 entwickelt hat, zeigt folgende Übersicht:

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1924

In Mi llionen RM. 1925 1926 1927 1928

634

1666 3242 4866 6196

7486

186 880 39 8744 62 4438 51 504 124

455 1384 3110 4374 136 363 588 975 1848 2209 2907 3522 120 248 923 II53 214 284 363 510

4801 1238 4137 1451 664

I9'3 I. Öffentl. Mittel II. Organis. Kredit Hyp.-Akt .-Banken Öff.-rechtl. Kreditanst. . . . Sparkassen Lebensvers.-Anst Sozialversicherg III. Privathypotheken . . . . (einschl. Eigenkap.) Gesamtsumme:

— .

1 0 794

1929

23800

11900

49160

31677

Gegenüber einer Vorkriegsverschuldung von 49,2 Milliarden M. erreichte die Verschuldung bis zum Jahre 1929 trotz der Kürze der Entwicklungszeit den erheblichen Betrag von insgesamt 31,7 Milliarden R M . , von denen 23,5% (7,4 Milliarden) auf öffentliche Mittel und der Rest auf den organisierten Kredit und Privathypotheken entfallen. Die Privathypotheken betragen 1929 11,9 Milliarden gegenüber 23,8 Milliarden in der Vorkriegszeit und haben damit im Rahmen des gesamten städtischen Immobiliarkredits an Bedeutung eingebüßt. Es ist allerdings daraufhinzuweisen, daß es ebenso wie bei der Landwirtschaft genaue statistische Erhebungen über die Privathypotheken weder vor noch nach dem Kriege gibt, und daß die vorhandenen Schätzungen sehr voneinander abweichen. Innerhalb des organisierten Kredits haben die früheren Hauptträger der städtischen Wohnungsbaufinanzierung, die Hypothekenaktienbanken mit 39,1% wie auch die Sparkassen mit 33,7% ihren Vorkriegsanteil (42,54% bzw. 34,50%) nahezu erreicht. Dagegen bleiben die privaten Lebensversicherungen mit 11,8% bedeutend hinter dem Vorkriegsanteil (17,5%) zurück. Eine beträchtliche Stärkung der Gläubigerstellung weisen neben den Sozialversicherungsträgern mit einem Anteil von 6,7% die öffentlichrechtlichen Kreditinstitute mit 10,8% gegenüber 1,97% bzw. 3,5% in der Vorkriegszeit auf. Aufschlußreich ist die Verteilung der von den einzelnen Gläubigergruppen zur Verfügung gestellten Mittel auf die Finanzierung der Neubauten einerseits und auf die Altbesitzbeleihungen und Aufwertungsschulden andererseits. Danach haben die Hypothekenaktienbanken mit 24% den geringsten Anteil an der Neubaufinanzierung, was auf den verhältnismäßig hohen Anteil an Aufwertungshypotheken (über 1/3 des Gesamtdarlehnsstockes) und auf den besonders in den

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ersten Jahren nach der Stabilisierung außerordentlichen Kreditbedarf des Altbesitzes zurückzuführen ist. Aus den gleichen Gründen fanden nur 15 % der Privathypotheken für Neubesitzbeleihungen Verwendung. Von den übrigen Gläubigern stellen die Sparkassen 55 %, die Versicherungsinstitute insgesamt 3 5 % und die öffentlich-rechtlichen Kreditanstalten den bemerkenswerten Satz von 65 % der Neubaufinanzierung zur Verfügung. Die auch hier besonders hervortretende Stärkung der Gläubigerstellung der öffentlich-rechtlichen Kreditanstalten ist nicht allein auf den staatlichen Einfluß, sondern auch auf eine Reihe von Neugründungen von Instituten mit besonderen Aufgabenkreisen zurückzuführen. In erster Linie sind die nach Organisation und Geschäftsführung den Landschaften angeglichenen Stadtschaften zu nennen, deren weitsichtige Emissionspolitik unter der Führung ihres Zentralinstitutes Hervorhebung verdient. An der Deckung des Kreditbedarfes sind die Stadtschaften am Ende des Jahres 1929 mit etwa 208 Millionen R M . beteiligt. Von Bedeutung ist weiter die aus der Deutschen Wohnstättenbank A.-G. hervorgegangene Deutsche Bau- und Bodenbank A.-G., der die Aufgabe der Zwischenfinanzierung zufiel. Diese bestand darin, Kredite in der Zeit zwischen Baubeginn und endgültiger Bewilligung der Hypothekarkredite bereitzustellen. Bis Ende 1929 wurden etwa 163,5 Millionen R M . an Zwischenkrediten ausgegeben. Die allein diesem Institut vorbehaltene Möglichkeit, für die Zwecke des Wohnungsbaues Auslandsanleihen aufzunehmen, erlangte keine größere Bedeutung, weil die Gemeinden selbst in großem Umfange Auslandskredite, die zum Teil der Wohnungsbaufinanzierung zugeführt wurden, aufnahmen. Bereits an dieser Stelle sei hervorgehoben, daß vom Jahre 1932 ab die Durchführung der Reichsbürgschaftsverfahren aus einer Nebentätigkeit zu einer der wichtigsten Aufgaben der Bank wurde. — Unter den übrigen öffentlich-rechtlichen Instituten, die in der Nachkriegszeit gegründet wurden, verdient noch die Preußische Landespfandbriefanstalt hervorgehoben zu werden, die auf dem Gebiete der Beleihung von Klein- und Mittelwohnungen eine große Bedeutung erlangt hat. Eine bemerkenswerte Rolle spielten darüber hinaus die nach dem Kriege zahlenmäßig stark angewachsenen Baugesellschaften, die in vielen Fällen die Nachfrage nach Kredit durch das System der Geschäftsanteile erleichtern konnten, die von den künftigen Neubaumietern in Form von Aktienübernahme oder anderen Beteiligungen einzuzahlen waren. Weiter verdienen die auf dem Gedanken der

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Selbsthilfe beruhenden Bausparkassen Erwähnung, denen es möglich war, einen Kreditbedarf von etwa 350 Millionen R M . bis zum Ende des Jahres 1929 zu decken. Dieses günstige Ergebnis verdankten die Bausparkassen einem sich stets erneuernden und erweiternden Einlagenfonds auf Grund eines konstanten Bausparerzuganges, der die Voraussetzung für ein reibungsloses Funktionieren des Bausparsystems bildet. II. DER IMMOBILIARKREDIT IN DER KRISE Wenn es auch in der kurzen Spanne von 1924—1929 nicht gelungen war, dem Immobiliarkredit seine frühere Funktionsfähigkeit wiederzugeben, so waren doch in diesen Jahren deutliche Anzeichen einer sich anbahnenden normalen Entwicklung sichtbar. Dieser Gesundungsprozeß geriet jedoch bereits im Jahre 1929 ins Stocken und erlitt in den folgenden Jahren 1930—1932 einen gewaltigen Rückschlag. Die Krise, die zu dieser Zeit auf der ganzen Welt und besonders schwer auf Deutschland lastete, nahm einen Umfang an, wie ihn die Wirtschaftsgeschichte zuvor noch nicht gekannt hatte. Es geht über den Rahmen dieser Arbeit hinaus, auf die Ursachen dieser Krise, die wie alle wirtschaftlichen und politischen Wirren der Nachkriegszeit letzten Endes auf den Krieg und seine Folgen zurückzuführen ist, näher einzugehen. Ebenso wenig ist es möglich, die tiefgreifenden Auswirkungen der wirtschaftlichen Depression auf den Immobiliarkredit wie die zahlreichen Maßnahmen, die in dieser Zeit zum Schutze von Gläubiger und Schuldner ergriffen wurden, in allen Einzelheiten zu behandeln. Die Arbeit kann sich lediglich darauf beschränken, die großen Entwicklungslinien hervorzuheben. 1. D i e A u s w i r k u n g e n d e r K r i s e auf den l a n d w i r t s c h a f t l i c h e n I m m o b i l i a r k r e d i t Dauer und Ausmaß der Krise haben die Lage von Schuldner und Gläubiger weitgehend beeinflußt. Große Teile der Landwirtschaft mußten bereits in den Jahren 1924—1929 einen harten Kampf um ihre Existenz führen. Anzeichen einer beginnenden Krise hatten sich schon am Schluß der Wiederaufbauperiode der Jahre 1924—1929 deutlich bemerkbar gemacht. Zwar zeigten, wie die Buchführungsergebnisse ausweisen, die Reinerträge in dieser Epoche eine steigende Tendenz. Sie betrugen im gewogenen Durchschnitt aller Größenklassen und Wirtschaftsgebiete in den Wirtschaftsjahren 1924/25 3

1925/26

1926/27

1927/28

20

13

1928/29 35

R M . je ha.

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Da aber infolge der schnellen Zunahme der Verschuldung die Zinslasten sehr viel stärker stiegen als die Reinerträge, wurde das landwirtschaftliche Einkommen durch den ständig wachsenden Anteil der Gläubiger am Reinertrag in zunehmendem Umfange geschmälert. Diese Entwicklung wurde beschleunigt durch den außerordentlich heftigen Preissturz, der im Verfolg der Krise auf fast allen Gebieten der landwirtschaftlichen Erzeugung eintrat. Während die Verkaufserlöse vom Wirtschaftsjahr 1924/25—1928/29 von 7,3 Milliarden bis auf 10,2 Milliarden R M . angestiegen waren, setzte von diesem Zeitpunkt ein schneller und gewaltiger Rückgang ein. Die Verkaufserlöse fielen bis zum Jahre 1932 auf 6,3 Milliarden, d. h. sie betrugen nur noch rund 62,4% des höchsten Nachkriegsstandes. Da die Bemühungen der Agrarpolitik jener Zeit, diesen Zusammenbruch der landwirtschaftlichen Märkte aufzuhalten, zu keinem durchgreifenden Erfolg führten, nahm die Zahl der landwirtschaftlichen Verlustbetriebe einen ständig wachsenden Umfang an. Die in den Vorjahren vorhandene Möglichkeit, die Betriebsverluste durch Aufnahme neuer Kredite zu decken, war während der Krise nicht mehr gegeben. Einmal kamen, wie noch zu zeigen sein wird, die großen Kreditquellen immer mehr zum Versiegen, wichtiger aber war der Umstand, daß auch die Bereitwilligkeit der Gläubiger, neue Kredite zu geben, wegen der sich zunehmend verschärfenden Lage der Landwirtschaft und der Überschuldung vieler Betriebe stark abgenommen hatte. Infolge dieser Entwicklung sahen sich viele landwirtschaftliche Betriebe gezwungen, die für die Aufrechterhaltung der Betriebsintensität notwendigen Ausgaben einzuschränken, die erforderlichen Betriebserneuerungen zu unterlassen und den Viehbestand zu vermindern. Darüber hinaus gerieten diese Betriebe mit ihren Steuern und ihren Zinsleistungen immer mehr in Rückstand. Wenn auch zunächst und in erster Linie die Personalkreditgläubiger von der Zahlungsunfähigkeit der Landwirtschaft betroffen wurden, so machte sich doch in späterer Zeit auch für die Realkreditgläubiger die Agrarkrise immer fühlbarer bemerkbar. Beschleunigt wurde diese Entwicklung noch dadurch, daß die Gläubiger zur Kündigung ihrer kurzfristigen Kredite übergingen, wodurch die Devastierungen in der Landwirtschaft noch vergrößert und vielfach auch solche Betriebe gefährdet wurden, die an sich wirtschaftlich gesund waren. Seit 1930 wuchs die Zahl der Zwangsversteigerungen landwirtschaftlicher Grundstücke lawinenartig an. Während in den Jahren 1927 und 1928 2500 bzw. 2300 landwirtschaftliche Betriebe mit einer Fläche von 37000 bzw. 48000 Hektar im Reiche zur Zwangsversteigerung

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kamen, stiegen diese Ziffern im Jahre 1930 auf 4350 landwirtschaftliche Betriebe mit einer Fläche von 128000 und im Jahre 1931 auf 5000 Betriebe mit einer Fläche von 153000 ha. Dieses Anwachsen der Zwangsversteigerungen verstärkte den Druck auf die Güterpreise, die infolge der ungünstigen Rentabilitätslage der Landwirtschaft bereits erheblich gesunken waren. Der Hypothekarkredit geriet dadurch immer näher an die Ausfallzone. Die Zwangsversteigerungsergebnisse des Jahres 1931 zeigen, daß der Effektivpreis der Zwangsversteigerungen, d. h. der Zuschlag zuzüglich der nicht gedeckten Forderungen des Erstehers, im Reichsdurchschnitt R M . 861,— je Hektar betrug, wenn man die Betriebe unter 2 ha unberücksichtigt läßt, und damit um 27% unter der ermittelten durchschnittlichen hypothekarischen Belastung der zwangsversteigerten Betriebe lag. Von diesen Verlusten wurde in erster Linie der nachstellige Immobiliarkredit betroffen, während der erststellige Kredit nur in Ausnahmefällen in Mitleidenschaft gezogen wurde. Größere Ausfälle durch Zwangsversteigerungen erlitten von den Gläubigergruppen des organisierten Kredits nur wenige Institute, darunter vor allem solche, deren Tätigkeit sich auf den Osten Deutschlands beschränkte und die bei ihren Beleihungen die Ertragslage der Landwirtschaft überschätzt hatten. Die Zwangsversteigerungsergebnisse zeigen jedoch ebenso wie andere Untersuchungen über die Lage der Landwirtschaft, daß die Auswirkungen der Krise sowohl regional als auch zwischen den einzelnen Betriebsgrößenklassen sich nicht überall in gleicher Schwere fühlbar machten. Es muß vielmehr in diesem Zusammenhang betont werden, daß sowohl die Erträge der Landwirtschaft als auch ihre Verschuldung schon in den Jahren 1924—1929, aber auch noch in der Krise, große Unterschiede aufweisen. So ergab sich z. B. am 1. Juli 1929 nach den Erhebungen der Deutschen Rentenbank-Kreditanstalt, daß von den Betrieben über 5 ha 7 % unverschuldet waren. 69% waren unter 60%, 1 7 % mit 60—100% und 7 % über 100% des Einheitswertes verschuldet. Als die Ausbreitung der Agrarkrise den landwirtschaftlichen Kredit in immer stärkerem Maße in Mitleidenschaft zog und die Kreditkrise ihrerseits wieder verschärfend auf die Agrarkrise einwirkte, versuchte die Regierung helfend einzugreifen. Die Hilfsmaßnahmen beschränkten sich zunächst auf den Osten Deutschlands, wenn man von der sich über das ganze Reich erstreckenden Umschuldungsaktion der Deutschen Landesbankenzentrale vom Jahre 1928 absieht. Durch eine Auslandsanleihe in Höhe von 105 Millionen RM., die durch eigene Mittel der Deutschen Rentenbank-Kreditanstalt und durch Vorschüsse des Reiches noch erhöht wurde, stellten damals die Landesbanken der

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Landwirtschaft nachstellige Umschuldungskredite zur Verfügung, die mit 60% des Schätzungswertes der Grundstücke begrenzt wurden. Das stärkere Risiko wurde durch eine Ausfallgarantie für Kapital und Zinsen von Reich, Ländern und Gemeinden gedeckt. Diese Umschuldungsaktion der Deutschen Landesbankenzentrale bedeutete nicht nur eine praktische Hilfe für die Landwirtschaft, sondern stellt zugleich auch den kreditpolitisch interessanten Versuch dar, einen organisierten nachstelligen Kredit zu schaffen. Eine Fortführung dieser Umschuldung auf größerer Basis erwies sich jedoch als unmöglich, weil weitere ausländische Anleihen nicht zur Verfügung standen und der inländische Kapitalmarkt versagte. Nach langwierigen Erörterungen wurde schließlich die Osthilfeaktion, die sich zunächst auf die besonders gefährdeten Grenzprovinzen des Ostens beschränkte, eingeleitet. Später wurde dann der Geltungsbereich der Maßnahmen über das ganze Gebiet östlich der Elbe sowie auf besondere Notstandsgebiete in den übrigen Teilen des Reiches ausgedehnt. In den ersten Phasen der Osthilfegesetzgebung war man bestrebt, die hohe Zinsbelastung der Landwirtschaft durch Umschuldung herabzumindern, d. h. also hochverzinsliche Personalkredite durch niedriger verzinsliche Realkredite zu ersetzen. Es erwies sich jedoch sehr bald, daß eine solche Umschuldung allein nicht zur Lösung des landwirtschaftlichen Kreditproblems ausreichte, weil infolge der immer weiteren Verschärfung der Agrarkrise jeder Sanierungsversuch scheiterte und die umgeschuldeten Betriebe auch die verminderte Zinslast nicht zu tragen vermochten. Hinzu kam, daß die durch den überstürzten Abzug der Auslandskredite ausgelöste Bankenkrise und die wachsenden Finanzierungsschwierigkeiten des Reiches den ursprünglich vorgesehenen Finanzierungsplän der Osthilfe undurchführbar machten, während gleichzeitig die Lösung des Verschuldungsproblems der Landwirtschaft infolge der staatlichen Deflationspolitik noch dringender wurde als zuvor. Man sah sich nunmehr gezwungen, die Lasten der Umschuldung in stärkerem Umfange vom Reich auf die Gläubiger abzuwälzen und durch gesetzliche Anordnungen auch in die privaten Rechtsverhältnisse einzugreifen. Diese Eingriffe vollzogen sich einmal in der Form von Vollstreckungsschutzmaßnahmen verbunden mit Moratorien, weiterhin durch Herabsetzung der Zinsen und schließlich sogar in Abstrichen an Kapitalforderungen. Nachdem zuvor bereits die umzuschuldenden Osthilfebetriebe einen Sicherungsschutz erhalten hatten, durch den grundsätzlich alle Eingriffe der Gläubiger in die Wirtschaftssubstanz ausgesetzt wurden, bestimmte die Notverordnung vom 8. Dezember 1931 für das gesamte

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Reichsgebiet eine einstweilige Einstellung von Zwangsversteigerungen sowie von Zwangsvollstreckungen in bewegliche Gegenstände bei solchen landwirtschaftlichen Betrieben, bei denen Zwangsmaßnahmen die ordnungsmäßige Fortführung des Betriebes sowie die Einbringung der nächsten Ernte gefährden würden. Für den Immobiliarkredit hatte dieser Vollstreckungsschütz, der in den Jahren 1932 und 1933 noch erheblich weiter ausgedehnt wurde, zur Folge, daß die Zinsrückstände bei den landwirtschaftlichen Realkreditinstituten noch stärker anstiegen als zuvor, weil dieser weitgehende Schuldnerschutz vielfach auch von solchen Betrieben ausgenutzt wurde, deren wirtschaftliche Lage eine Aufrechterhaltung der Zinszahlungen ermöglicht hätte. Einen weiteren Zwangseingriff in die bestehenden Rechtsverhältnisse zwischen Schuldner und Gläubiger stellte die Zinssenkung der 4. Notverordnung vom 8. Dezember 1931 dar. Die Verordnung bestimmte die zwangsweise Zinsherabsetzung aller mit mehr als 6 v. H. verzinslichen Hypotheken inländischen Ursprungs um durchschnittlich rund 2 %, verbunden mit einem Kündigungsschutz. Die sich hierdurch für die Landwirtschaft ergebende Entlastung ist auf rund 100 Millionen jährlich zu schätzen. Eine weitere Erleichterung trat durch die Verordnung vom 27. September 1932 ein, die eine Zinsstundung von 2 v. H. für den größten Teil der Realkredite ab 1. Oktober 1932 für die Dauer von zunächst 2 Jahren vorsah und die später nach einer Verlängerung schließlich in die große Zinskonversion vom Jahre 1935 einmündete. Hierdurch trat eine weitere Entlastung der Landwirtschaft um etwa 75 Millionen jährlich ein. Im Gegensatz zu der erstgenannten Zinssenkung, die sich auf alle langfristigen Kredite erstreckte, wurden bei dieser allein auf den Agrarkredit beschränkten Zinsstundung Rückwirkungen auf den Pfandbriefbesitzer dadurch ausgeschaltet, daß die besonders betroffenen Realkreditinstitute durch Reichszuschüsse in die Lage versetzt wurden, die Pfandbriefzinsen in der bisherigen Höhe weiter zu entrichten. In ähnlicher Form wie für die Inlandskredite wurde später auch eine Zinsermäßigung für die Auslandskredite durchgeführt. Der einschneidendste Eingriff in den Immobiliarkredit bestand in der durch gesetzliche Anordnung gegebenen Möglichkeit, Teile der Kapitalforderungen der Gläubiger zu streichen. Bedeutungsvoll war hier zunächst die im Rahmen der Osthilfe durch die Verordnung vom 17. November 1931 vorgesehene zwangsweise Herabsetzung von Kapitalforderungen bis zur Hälfte. Während von dieser Bestimmung die erststelligen Beleihungen ausdrücklich ausgenommen waren, machte die Verordnung über das landwirtschaftliche Vermittlungsverfahren

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vom 27. September 1932 bei den Kapitalabstrichen einen Unterschied zwischen gesicherten und nichtgesicherten Gläubigern. Dabei konnten auch diejenigen Teile der 1. Hypothek, die über eine bestimmte Grenze des Einheitswertes hinausgingen, als ungesichert angesehen werden, so daß hier auch der erststellige Realkreditgläubiger mit Kapitalverlusten zu rechnen hatte. Eine größere Bedeutung hat jedoch das landwirtschaftliche Vermittlungsverfahren nicht erlangen können, da schon wenige Monate später durch das landwirtschaftliche Schuldenregelungsgesetz eine sehr viel umfassendere Regelung vorgesehen wurde, bei der ebenfalls — ähnlich wie bei dem erwähnten Vermittlungsverfahren — Zwangsakkorde bis zu 5 0 % der Kapitalforderungen möglich waren, soweit die Forderungen über bestimmte Grenzen des über den Einheitswert berechneten Betriebswertes hinausgingen. 2. D i e A u s w i r k u n g e n d e r K r i s e auf den städtischen I m m o b i l i a r k r e d i t Nicht ganz so einschneidend wie in der Landwirtschaft, aber doch ebenfalls sehr fühlbar, machte sich die Krise im städtischen Grundbesitz und damit auch im städtischen Immobiliarkredit bemerkbar. Infolge des starken Rückganges der Einkommen, der durch die Deflationspolitik herbeigeführt wurde, verschlechterte sich das Verhältnis von Mietaufwand zum Volkseinkommen in außerordentlichem Umfange. Während vor dem Kriege der Anteil des gesamten volkswirtschaftlichen Wohnungsmietaufwandes etwa 1 0 % und im J a h r e 1925 sogar nur 7 , 5 % des Volkseinkommens beanspruchte, stieg der Aufwand für die Wohnungsmiete im J a h r e 1931 auf nahezu 1 7 % des Volkseinkommens. Diese Entwicklung wirkte sich auf die einzelnen Teile des Hausbesitzes sehr verschieden aus. Vom Neuhausbesitz wurden besonders diejenigen Häuser stark in Mitleidenschaft gezogen, die in einer Zeit des höchsten Baukostenindexes und mit verhältnismäßig geringen öffentlichen Zuschüssen erbaut worden waren. Hinzu kam, daß dieser Teil des Neuhausbesitzes hauptsächlich größere Wohnungen umfaßte, deren Inhaber infolge der Einkommenskürzungen vielfach ihren bisherigen Wohnungsaufwand nicht aufrecht erhalten konnten. Die hier eintretenden Mietausfälle führten zumeist zu unmittelbaren Rückwirkungen auf die privaten Immobiliarkreditgläubiger, deren Zinseingänge ins Stocken gerieten. Bei den anderen Gruppen des Neuhausbesitzes traten — wenn auch in geringem Umfange — ebenfalls Mietausfälle ein. Diese gingen jedoch vorwiegend auf Kosten der öffentlichen Gläubiger, die während der Krise in vielen Fällen auf eine Verzinsung ihrer Darlehen verzichten mußten. Dagegen erlitt der 15

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private organisierte Immobiliarkredit bei diesem Teil des Neuhausbesitzes keine nennenswerten Ausfälle. Auch die Lage des Althausbesitzes zeigte in der Krise eine sehr unterschiedliche Entwicklung. Schwierigkeiten entstanden hier vor allem in den Großstädten und dort wiederum in erster Linie bei den Großwohnungen. Trotz erheblicher Zugeständnisse bei den Neufestsetzungen der Mieten gelang es weder, den Auszug der Mieter zu verhindern, noch die leer gewordenen Wohnungen wieder zu vermieten. Infolgedessen waren die Zins- und Steuerrückstände bei den Häusern mit Großwohnungen beinahe doppelt so hoch wie bei denjenigen mit Klein- und Mittelwohnungen. Ähnlich konjunkturempfindlich erwiesen sich die Villengrundstücke und vor allem die Geschäftsgrundstücke, wo die schwierige Lage von Industrie, Handel und Gewerbe zu erheblichen Mietrückständen führte. Besonders erschwerend machte sich bei diesen Grundstücken das später noch zu erwähnende außerordentliche Kündigungsrecht bemerkbar, das dazu führte, daß die Mieteinkünfte einiger Grundstücksgesellschaften bis zur Hälfte des Standes vom Jahre 1929 herabsanken. Die Folge war, daß die Zinsrückstände aus Geschäftsgrundstücken bei einzelnen Instituten bis zu 40% des Zinssolls ausmachten. Mit dem Anwachsen der Zinsrückstände aus dem städtischen Grundbesitz ging ein Anwachsen der Zwangsversteigerungen einher. In 13 Großstädten, in denen regelmäßig Erhebungen über den Grundbesitzwechsel stattfinden, stieg die Zahl der Zwangsversteigerungen von bebauten Grundstücken von 757 im Jahre 1929 auf 907 im Jahre 1930 und 1325 im Jahre 1931. Die Folge war — ähnlich wie in der Landwirtschaft — ein wachsender Druck auf den Grundstücksmarkt und eine Entwertung der Kreditunterlagen. Damit griff die Welle der Kreditkrise auch auf die noch gesunden Objekte über und drohte zu einer allgemeinen Krise des städtischen Immobiliarkredits zu führen, wenn nicht dieser Entwicklung durch die Einführung des Vollstrekkungsschutzes in der erwähnten 4. Notverordnung vom 8. Dezember 1931 ein Ende gesetzt worden wäre. Die Versuche, durch weitere außerordentliche Maßnahmen einzugreifen, wirkten sich infolge der großen Verschiedenheiten in der Lage des Hausbesitzes nicht einheitlich aus. Vielfach hatten sie sogar eine krisenverschärfende Wirkung zur Folge. Dies gilt besonders für die in der 4. Notverordnung durchgeführte Mietsenkung, die für den Hausbesitzer dadurch tragbar gemacht werden söllte, daß sie von der bereits erwähnten Zwangszinssenkung um rund 2 % und einer etwas später in Kraft tretenden Hauszinssteuersenkung begleitet war. Eine Berechnung über die Auswir-

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kungen dieser Maßnahmen zeigt, daß die Belastung weiter Kreise des Hausbesitzes durch die Mietsenkung erheblich über die ihnen durch -die Hauszinssteuer- und Zinssenkung zugedachte Entlastung hinausging. Hinzu kam der in derselben Verordnung vorgesehene Eingriff in die bestehenden Mietverhältnisse durch die Einführung des außerordentlichen Kündigungsrechtes, von dem in großem Umfange beim Althausbesitz, aber auch im Neuhausbesitz Gebrauch gemacht wurde. Dieses Kündigungsrecht hatte zur Folge, daß die Hausbesitzer, um ein Leerstehen der Wohnungen zu verhindern, vielfach gezwungen waren, mit ihren Mietpreisen das in der Notverordnung vom 8. Dezember 1931 vorgesehene Maß noch zu unterschreiten. Eine stärkere Erleichterung in der Lage des Hausbesitzes bedeuteten erst die im September 1932 eingeführten Steuergutscheine, durch die eine Senkung der wegen ihres hohen Ertragssteuercharakters besonders drückenden Grund- und Gewerbesteuern herbeigeführt wurde. Die Wohnbautätigkeit schrumpfte während der Krise außerordentlich zusammen. Während in den Jahren 1928—1930 die Bautätigkeit auf eine durchschnittliche Jahresleistung von über 330000 Wohnungen gekommen war, ging die Zahl der in Deutschland im Jahre 1931 errichteten Wohnungen auf 251000 zurück. Im Jahre 1932 wurde sogar nur noch die Hälfte der Jahresleistung von 1931, nämlich rund 120 000 Wohnungen, erreicht. Dieser Rückgang der Bautätigkeit erklärt sich einmal dadurch, daß die öffentlichen Zuwendungen für den Wohnungsbau infolge der Finanzschwierigkeiten von Reich, Ländern und Gemeinden sehr stark eingeschränkt wurden. Bereits durch die Notverordnung vom I.Dezember 1930 war bestimmt worden, daß die Hälfte des zur Förderung des Kleinwohnungsbaues bestimmten Hauszinssteueraufkommens für Zwecke des allgemeinen Finanzbedarfes zu überweisen sei. Später wurden von dem Restbetrag weitere Mittel für bestimmte Sonderzwecke abgezweigt. Eine zweite Ursache für den Rückgang des Wohnungsbaues ist in den Schwierigkeiten des Kapitalmarktes während der Krisenzeit zu suchen. 3. D i e A u s w i r k u n g e n d e r K r i s e a u f d i e G l ä u b i g e r Die schwerwiegendste Folge der Wirtschaftskrise war die Vernichtung der Rentabilität ganzer Wirtschaftszweige, die zur Stillegung vieler großer Werke führte. Die dadurch hervorgerufene Arbeitslosigkeit, die von 1,9 Millionen im Jahre 1929 bis auf 6 Millionen im Jahre 1932 anstieg, beeinträchtigte nicht nur die Sparfähigkeit großer Bevölkerungsschichten, sondern führte sogar darüber hinaus zur Aufzehrung der in den Vorjahren angesammelten Ersparnisse. Diese Ent15*

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wicklung findet in der Einlagenbewegung der Sparkassen ihren deutlichen Ausdruck. Während im Jahre 1928 und 1929 der Einlagenüberschuß über 2 Milliarden betragen hatte, sank er im Jahre 1930 auf 1,4 Milliarden und verwandelte sich im Jahre 1931 sogar in einen Auszahlungsüberschuß von.626 Millionen. Eine nur leichte Besserung trat im Jahre 1932 ein, wo sich ein knapper Einlagenüberschuß von allerdings nur 1 / 2 Million ergab. Günstiger gestaltete sich die Emission von Pfandbriefen. Der Rückschlag setzte hier etwas später ein als bei der Entwicklung der Einlagen der Sparkassen. Es konnten im Jahre 1930 noch 804 Millionen Pfandbriefe abgesetzt werden. Im Jahre 1931 verminderte sich die Emission bereits auf 264 Millionen, und im Jahre 1932 war schließlich — der Spareinlagenentwicklung folgend — ein Rückfluß der Pfandbriefe in Höhe von 190 Millionen zu verzeichnen. Der Zwangseingriff in die Zinsgestaltung durch die 4. Notverordnung hatte zur Folge, daß die Rentenkurse einen vollständigen Zusammenbruch erlitten. Während sich die Kurse der Pfandbriefe in den Jahren 192&—1928 auf einem Niveau von 90% bewegten, erreichten sie im Jahre 1932 ihren tiefsten Stand, der bei den Pfandbriefen der Hypothekenbanken 64 % und bei den Pfandbriefen der Landschaften 60 % betrug. Die zur Entlastung des Pfandbriefmarktes durch die 4. Notverordnung zugelassene „Naturaltilgung" hat zwar eine Erleichterung für den Pfandbriefmarkt gebracht, jedoch einen entscheidenden Einfluß nicht ausüben können. Es war naturgemäß unmöglich, bei einem solchen Kursstand an die Emission neuer Pfandbriefe zu denken. Von den Gruppen des organisierten Realkredits zeigten nur die privaten und öffentlichen Lebensversicherungsanstalten und die staatliche Zwangsversicherung bis zum Jahre 1931 eine wenn auch verlangsamte Fortsetzung der Aufwärtsentwicklung, wie sie sich seit der Währungsstabilisierung angebahnt hatte. Da aber die Versicherungsanstalten im Rahmen des gesamten Immobiliarkredits an Bedeutung zurücktraten, konnte hier ein Ausgleich für den Ausfall der anderen Kreditquellen nicht eintreten. Auch der private Hypothekarkredit stagnierte in der Krisenzeit fast vollständig. So kam es nach der Bankenkrise vom Juli 1931 zu einem nahezu vollständigen Versiegen aller Immobiliarkreditquellen. Die seit 1930 zu verzeichnende Stockung der innerdeutschen Kapitalbildung führte zu verschiedenen Überlegungen, die zum Ziele hatten, durch Vereinfachungen und Reformen im Kreditapparat eine billigere und zweckmäßigere Verteilung der Kredite zu ermöglichen. An erster Stelle ist hier die große Konzentrationsbewegung der Hypothekenaktienbanken zu nennen. Im November 1930 vereinigten sich die da-

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mals in der Gemeinschaftsgruppe zusammengeschlossenen 8 Banken mit der Preußischen Central-Bodenkredit- und Pfandbrief-Bank, der Deutschen Hypothekenbank, der Frankfurter Hypothekenbank und der Sächsischen Bodencreditanstalt zu einer neuen Gemeinschaftsgruppe. Bei gleichzeitiger Verschmelzung einer Reihe von Hypothekenbanken, deren Arbeitsgebiete sich überschnitten, erfuhr damals die Gemeinschaftsgruppe eine Verdoppelung ihres Geschäftsumfanges. Sie hatte nach dem Stand des damaligen Pfandbriefumlaufes damit nicht weniger als 42 % des gesamten Hypothekengeschäftes und 74 % des gesamten Kommunaldarlehnsgeschäftes, soweit es von privaten Hypothekenbanken betrieben wird, in ihren Händen. Die Aktienkapitalien der verbundenen Banken wurden unter Anpassung an die durch die wirtschaftliche Lage bedingte Einschränkung des Neugeschäftes bei Durchführung der Fusionen in erheblichem Umfange zusammengelegt. Gleichzeitig erfuhren die offenen Reserven eine beträchtliche Verstärkung. Mit dem Abschluß dieser Konzentrationsbewegung betrug die Zahl der privaten Hypothekenbanken nur noch 26 gegenüber 39 im Jahre 1914. Auch im landwirtschaftlichen Immobiliarkredit verstärkten sich zu dieser Zeit die Bestrebungen, den Wettbewerb um die zu geringe Kapitaldecke zu mildern und damit gleichzeitig eine Verbilligung des Immobiliarkredits zu ermöglichen. In der Nachkriegszeit hatte sich der Absatz der landschaftlichen Pfandbriefe sehr viel schwieriger gestaltet als der Absatz von Pfandbriefen anderer Institute. Auch die Kurse der landschaftlichen Pfandbriefe hatten sich im Gegensatz zur Vorkriegszeit erheblich ungünstiger entwickelt als die Kurse der Pfandbriefe anderer Bodenkreditinstitute. Diese Mängel waren in erster Linie auf die regionale Emissionspolitik der Landschaften und auf ihre ungenügende Kurspflege zurückzuführen. Hinzu kam, daß die in der Nachkriegszeit sich auf dem Kapitalmarkt immer stärker durchsetzende Zentralisierungstendenz die örtlichen unabhängigen Kapitalmärkte, wie sie in der Vorkriegszeit bestanden hatten, in ihrer Bedeutung immer mehr zurückdrängte. Dieser Entwicklung hatten die anderen im Realkredit tätigen Bankinstitute durch Schaffung starker Zentralinstitute bereits Rechnung getragen. Um auch den Landschaften die Möglichkeit zu geben, diesem Beispiel zu folgen, wurde im Jahre 1931 die Centrai-Landschaft für die Preußischen Staaten ausgebaut mit dem Ziele einer einheitlichen Führung des landschaftlichen Emissionswesens. Zur Durchführung dieser Aufgabe wurde das bis dahin 3 Millionen R M . betragende Kapital der Centrai-Landschaft auf 15 Millionen RM. erhöht, wobei die Kapitalerhöhung von 12 Millionen von der Deutschen

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Rentenbank-Kreditanstalt übernommen wurde. Der Plan, die Emissionspolitik der Landschaften durch die Centrai-Landschaft künftig einheitlich zu führen und — abgesehen von denjenigen Fällen, in denen besondere örtliche Verhältnisse die Ausgabe provinzieller Pfandbriefe rechtfertigen — in Zukunft einen einheitlichen Zentralpfandbrief zu emittieren, der eine besonders sorgfältige Kurspflege genießen sollte, scheiterte an der allgemeinen Entwicklung des Kapitalmarktes und an den Widerständen, die damals gegen diese Pläne von den Befürwortern eines stärkeren Ausbaues des regionalen Bankensystems geltend gemacht wurden. Es sei schon hier in diesem Zusammenhang betont, daß die Bestrebungen nach Verbesserung des landschaftlichen Kreditsystems durch eine spätere gesetzliche Regelung vom 24. Februar 1934 weiterhin gefördert wurden. Diese Reorganisation der preußischen Landschaften brachte zunächst eine Zusammenlegung bzw. Auflösung nebeneinander bestehender Einrichtungen und führte damit zu einer wesentlichen Vereinfachung des organisatorischen Aufbaues. Wichtiger aber war, daß durch dieses Gesetz eine Verbesserung der vielfach den Anforderungen der Gegenwart nicht mehr entsprechenden Satzungen vorgenommen wurde. Besondere Hervorhebung verdient hier die Neuregelung der Generalgarantie, deren rechtliche Ausgestaltung zu mancherlei Zweifeln Anlaß gab und die sich praktisch vor allem deshalb niemals verwirklichen ließ, weil in Krisenzeiten die Inanspruchnahme der Haftung bei ihrer Unbegrenztheit ganze Bezirke in Mitleidenschaft zu ziehen drohte. Durch die neue Satzung wird die früher bestehende Generalgarantie auf ein tragbares und auch in schwierigen Zeiten zu realisierendes Maß begrenzt, indem bestimmt ist, daß die Mitglieder der Landschaft nur bis zu einem festgesetzten Prozentsatz des Einheitswertes (5 % bei den nichtbeleihbaren, 25 % bei den beleihbaren Grundstücken) bzw. bis zu einem Höchstbetrag von 20 % der Hypotheken zusätzlich haften. Die Reform der Emissionspolitik der Landschaften erfährt insofern eine Verbesserung, als der Anspruch auf Beleihung dadurch begrenzt wird, daß einem Beleihungsantrage nur stattgegeben werden soll, wenn die Möglichkeit zum Absatz der Pfandbriefe vorhanden ist. Endlich sei hier aus den zahlreichen anderen Satzungsänderungen noch hervorgehoben, daß auch die Technik der Pfandbriefemissionen dadurch verbessert worden ist, daß den Grundsätzen der übrigen Bodenkreditinstitute entsprechend auch für die Landschaften allgemein die Serienemission vorgeschrieben wird.

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III. DER IMMOBILIARKREDIT VON 1933 BIS ZUR GEGENWART Der politische Umbruch des Jahres 1933 beendete die Epoche des wirtschaftlichen Niederganges. Der nationalsozialistischen Regierung gelang es, in kurzer Zeit durch Einsatz staatlicher Kreditmittel umfangreiche Arbeitsbeschaffungsprogramme durchzuführen, die später nach der Wiedergewinnung der Wehrhoheit in das große Aufrüstungswerk einmündeten. Die sich daraus ergebende Wiederbelebung der Wirtschaft, die am deutlichsten in der Abnahme der Arbeitslosigkeit von 6 Millionen im J a h r e 1932 auf 1,5 Millionen im J u n i 1936 ihren Ausdruck findet, blieb auch für den Immobiliarkredit nicht ohne nachhaltige Rückwirkungen. Mit der Wiederkehr des Vertrauens in eine stetige und zielbewußte. Staatsführung löste sich die Lähmung der Spartätigkeit. Das sich bei den Sparkassen im J a h r e 1931 ergebende Einlagendefizit, das — wenn auch in vermindertem Umfange — noch in der ersten Hälfte des Jahres 1932 festzustellen ist, verwandelte sich im J a h r e 1933 wieder in einen Einlagenüberschuß, der in der folgenden Zeit eine steigende Tendenz zeigt. Auch bei den anderen Kapitalsammelstellen begann die Kapitalbildung sehr bald wieder große Fortschritte zu machen. Diese Gesundungstendenzen auf dem Kapitalmarkt wurden wirksam durch die Politik der Reichsbank unterstützt, der durch die Einführung der „Offenen-Markt-Politik" die Möglichkeit gegeben war, durch Anund Verkäufe von Wertpapieren unmittelbar das Kurs- und Zinsniveau zu beeinflussen. Der Wiederaufbau des Kapitalmarktes konnte weiterhin planmäßig gefördert werden durch die weitgehende staatliche Aufsicht, die über das gesamte Kreditwesen durch das Reichsgesetz vom 5. Dezember 1934 eingeführt worden war. Mit Hilfe dieser Maßnahmen, vor allem aber durch den starken Einsatz des Staatskredites, der über die Verflüssigung des Geldmarktes auch den Kapitalmarkt beeinflußte, gelang es, in verhältnismäßig kurzer Zeit eine fühlbare Senkung des Zinsniveaus durchzuführen. Die zu Beginn des Jahres 1935 vorgenommene Konversion setzte den Zinssatz der mit 6 v. H . und mehr verzinslichen Pfandbriefe, öffentlichen Anleihen und Kommunalobligationen im Gesamtbetrage von über 10 Milliarden auf 4V2 % herab. Da die Sparkassen und Versicherungen bereits zum großen Teil ihre Hypothekenzinssätze auf 4 J / 2 bzw. 5 % ermäßigt hatten, erreichte damit der Zinssatz des organisierten Immobiliarkredits erstmalig in der Nachinflationszeit einen Stand, der etwa den Vorkriegsverhältnissen entsprach. Diese Wiedererstarkung des Kapitalmarktes war jedoch zunächst

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noch nicht von einem entsprechenden Anstieg des Immobiliarkredits begleitet. Die großen Aufwendungen, die das nationalsozialistische Befreiungs- und A u f b a u w e r k erforderten, waren vorerst nur kurzfristig finanziert worden. Deshalb ergab sich die Notwendigkeit einer K o n solidierung dieser Staatskredite, die aus währungspolitischen Gründen allen anderen Kreditbedürfnissen vorauszugehen hatte. Der Staat trug durch eine Emissionssperre dafür Sorge, daß dem Kapitalmarkt nicht durch Ansprüche anderer Art die für die Konsolidierung erforderlichen Mittel entzogen wurden. So gelang es, in der Zeit von 1933 bis zur Gegenwart zu dem genannten Zweck Reichsanleihen von insgesamt 3,4 Milliarden R M . unterzubringen. Demgegenüber trat in dem gleichen Zeitraum der Immobiliarkredit an Bedeutung weit zurück, da Pfandbriefemissionen nur in sehr geringem U m f a n g e freigegeben werden konnten und auch die anderen Gruppen des organisierten Kredits ihre verfügbaren Mittel in erster Linie f ü r Reichsanleihen zur Verfügung stellen mußten. Bei dieser L a g e des Kapitalmarktes war es zu begrüßen, daß der Immobiliarkreditbedarf von seiten der Landwirtschaft eine nicht unwesentliche Entlastung erfuhr. 1. G e g e n w a r t s p r o b l e m e des l a n d w i r t s c h a f t l i c h e n I m m o b i l i a r k r e d i t s Die nationalsozialistische Agrarpolitik verfolgt das Ziel, die Landwirtschaft aus der kapitalistischen Marktordnung zu lösen und damit die Voraussetzungen f ü r eine feste und dauerhafte Verwurzelung des Bauerntums mit der Scholle zu schaffen. Die damit verbundene grundlegende Wandlung der deutschen Agrarpolitik führte zu umwälzenden Maßnahmen auch auf dem Gebiete des landwirtschaftlichen Kredits. Besonders einschneidend f ü r den Immobiliarkredit war das Reichserbhofgesetz. Die für den Immobiliarkredit wichtigsten Bestimmungen dieses Gesetzes besagen, daß eine Verschuldung zu Zwecken der Erbauseinandersetzung und der Gutsübertragung nicht mehr möglich ist. Weiterhin wird bestimmt, daß der Boden des deutschen Erbhof bauern grundsätzlich unbelastbar ist und daß der Erbhof keiner Vollstreckung unterworfen werden kann. Mit dem Verbot der Kreditaufnahme f ü r Zwecke der Erbauseinandersetzung und Gutsübertragung sind, wie besonders deutlich in der Vorkriegsentwicklung zutage tritt, zwei der wichtigsten Verschuldungsquellen der Landwirtschaft beseitigt worden. Damit hat der Immobiliarkreditbedarf der Landwirtschaft von dieser Seite aus einen starken Rückgang erfahren. Weiterhin hat auch die durch die Marktgesetzgebung des Reichsnährstandes hervorgerufene Gesundung der Landwirtschaft, die in einer Zunahme der Verkaufs-

Der deutsche Immobiliarkredit seit der Inflation

233

erlöse um 1,8 Milliarden R M . im Wirtschaftsjahr 1934/35 gegenüber dem Krisentiefstand des Jahres 1932/33 ihren Ausdruck findet, zu einer Minderung des Immobiliarkreditbedarfs geführt. Die wachsenden Reinerträge dürften einem großen Teil der Bauern und Landwirte die Möglichkeit gegeben haben, wieder Rücklagen zu bilden, aus denen sie die notwendigen Investitionen ohne Inanspruchnahme von Krediten ausführen können. Trotzdem macht sich in der Landwirtschaft noch immer ein fühlbarer Investitionskreditbedarf geltend, der aus eigenen Mitteln oder durch Aufnahme kurzfristiger Personalkredite nicht zu befriedigen ist. Es handelt sich hier vor allem um solche landwirtschaftlichen und bäuerlichen Betriebe, die während der Krise nicht in der Lage waren, ihre Betriebe auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit zu halten und die nun unter der vom Reichsbauernführer herausgegebenen Parole der Erzeugungsschlacht für die notwendigen Erneuerungs- und Erweiterungsarbeiten langfristige Kreditmittel beanspruchen. Während sich diese Bedürfnisse bei den Landwirten bei einer späteren Freigabe des Kapitalmarktes ohne Schwierigkeiten wie in der Vergangenheit befriedigen lassen werden, wird man für die Immobiliarkreditversorgung der Bauern neue Wege beschreiten müssen, die den Erfordernissen des Reichserbhofgesetzes Rechnung tragen. Die Deutsche Rentenbank-Kreditanstalt hat der Reichsregierung bereits vor einiger Zeit Vorschläge unterbreitet, mit deren Hilfe die Schwierigkeiten für den langfristigen bäuerlichen Kredit behoben werden könnten. Sie vertrat darin die Auffassung, daß die im Reichserbhofgesetz vorgesehene Möglichkeit, langfristige Kredite an Bauern mit Genehmigung des Anerbengerichtes durch hypothekarische Eintragung zu sichern, nicht ausreichend erscheint, denn der Gläubiger ist infolge der Vorschriften des Erbhofgesetzes nicht in der Lage, sich wegen seiner Forderung aus der Substanz des Grundstücks im Wege •der Zwangsvollstreckung zu befriedigen. Selbst wenn man annehmen würde, daß solche Erbhofhypotheken als Deckungsunterlagen für Pfandbriefe anerkannt würden, so wäre doch zu befürchten, daß die durch Erbhofhypotheken gesicherten Pfandbriefe geringer bewertet würden als andere Pfandbriefe. Bei einer Neugestaltung des langfristigen Erbhofkredits ist davon auszugehen, daß nach dem Sinn des Erbhofgesetzes die Befriedigung aus der Substanz des Erbhofes ebenso vermieden werden muß wie eine sofortige Fälligkeit der Restschuld bei eintretender Unmöglichkeit der Ratenaufbringung. Es wurde deshalb vorgeschlagen, daß die Kreditinstitute den Bauern langfristige Kredite in der Weise zur Verfügung stellen, daß der Darlehnsnehmer zur Verzinsung und Tilgung der Schuldsumme eine jährliche Rente

234

Hermann

Kißler

zahlt. Die Kreditgewährung könnte nur nach Zustimmung des Anerbengerichtes erfolgen und wäre zu begrenzen auf bestimmte Verwendungszwecke. Die Höhe der zu zahlenden Rente und ihre Dauer sowie die jeweilige Ablösungssumme wären durch freie Vereinbarung in einer „Erbhofschuldurkunde" zwischen den Kreditgebern und den Bauern festzusetzen. Dem Rentenschuldner wird das Recht eingeräumt,, die Rente jederzeit nach Ablauf einer bestimmten Kündigungsfrist durch Zahlung des aus einem Tilgungsplan ersichtlichen Restbetrages in bar oder durch Einlieferung von Erbhofrentenbriefen, die zu pari angenommen werden, abzulösen. Dagegen wird ein Anspruch auf Ablösung für den Kreditgeber ausgeschlossen. Die zwischen den Beteiligten vereinbarte jährliche Rente wird als Reallast auf dem Erbhof in Abteilung II des Grundbuches eingetragen. Die Reallast muß erstrangig sein und darf die Mündelsicherheitsgrenze nicht überschreiten. Durch eine solche Bestellung einer Reallast wäre eine dingliche Haftung hinsichtlich der zur Verzinsung und Tilgung des Darlehens dienenden zeitlich begrenzten Geldleistungen begründet. Dabei hätte der Berechtigte grundsätzlich nur in bezug auf diese einzelnen Leistungen einen Anspruch auf Befriedigung aus den Grundstücken, der jedoch nur aus den Erträgnissen des Erbhofs verwirklicht werden könnte. Diese Ausgestaltung der Reallast, die grundsätzlich im Gegensatz zur Hypothek nur den Ertrag des Hofes erfaßt, läßt sie als Kreditunterlage für den langfristigen Erbhofkredit geeignet erscheinen, sofern gewisse Beschränkungen, denen der Kreditgeber bei der Geltendmachung der Einzelleistungen auf Grund der Vorschriften des Erbhofgesetzes unterliegt, vermindert oder aufgehoben werden. Notwendig wäre in dieser Richtung, dem Reallastberechtigten das. Recht zu geben, die Anordnung einer Erbhofverwaltung durch das Anerbengericht zu verlangen, falls der Bauer seinen Rentenverpflichtungen nicht nachkommt. Das Anerbengericht hätte vor der E n t scheidung den Kreisbauernführer zu hören und im Benehmen mit ihm einen Treuhänder für die Erbhofverwaltung zu bestimmen. Der T r e u händer hätte außer den etwaigen Kosten der Erbhofverwaltung in erster Linie die rückständigen und laufenden Erbhofrenten aus den Erträgen des Hofes zu decken. Die Zulässigkeit der Erbhofverwaltung könnte auf die Fälle beschränkt werden, in denen der Bauer mit mindestens zwei aufeinander folgenden oder mit drei Raten im Rückstand ist. Auf Grund der Rentenforderungen könnten die Kreditanstalten nach einer entsprechenden Änderung ihrer Satzungen verzinsliche und seitens des Inhabers unkündbare Erbhofrentenbriefe ausgeben, die im

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Der deutsche Immobiliarkredit seit der Inflation

Wege der Auslosung zum Nennwert zu tilgen wären. Außerdem kann die Tilgung bei Ablösung der Rentenschuld durch Einlieferung von Erbhofrentenbriefen erfolgen. Dabei würde eine Garantie des Reiches oder des Reichsnährstandes für die Erfüllung der aus den Erbhofrentenbriefen entstandenen Verpflichtung der Kreditanstalten die Verkehrsfähigkeit der Erbhofrentenbriefe und damit die Finanzierungsmöglichkeiten erheblich verbessern. Eine Regelung des langfristigen Erbhofkredits in der vorstehend gekennzeichneten Weise würde bei voller Aufrechterhaltung der Grundgedanken des Erbhofgesetzes den berechtigten Anforderungen, welche die Gläubiger als Verwalter fremder Sparguthaben an die Sicherheit der Kredite stellen müssen, in vollem Umfange Rechnung tragen. Eine baldige gesetzliche Lösung des Problems in dieser oder ähnlicher Richtung erscheint deshalb geboten, weil sich die bisher eingeleiteten Sondermaßnahmen, unter denen eine allerdings nur in begrenztem Umfange durchgeführte Kreditaktion der Deutschen RentenbankKreditanstalt und die Gewährung mittelfristiger Erbhofkredite durch die landwirtschaftlichen Genossenschaften zu nennen sind, nicht als ausreichend erwiesen haben. Die Befürchtung, daß die Erschließung langfristiger Kredite für den Bauern zu einer ähnlichen Überschuldung führen könnte wie in der Zeit von 1924—1929, dürfte heute bei den weitgehenden Kontroll- und Einflußmöglichkeiten des Reichsnährstandes keine Berechtigung mehr haben. Über die Entwicklung des langfristigen Immobiliarkredits bis zur Gegenwart unterrichtet die folgende Übersicht: tn M i l l i o n e n

I. O r g a n i s . K r e d i t öff.-rechtl. Institute Hyp.Akt.-Banken Sparkassen Versicherungen a) öffentl. u. priv. Lebensversichg. b) Sozialversicherungen II. P r i v a t h y p o t h e k e n III. A l t e n t e i l s l a s t e n Gesamtsumme

RM.

1932

1933

1934

1935

2380 75° 1330

2420 720 1150

2480 670 1160

2490 660 1160

150 170 2060 1750

160 170 2060 1600

170 170 2060 1350

180 170 2060 1300

8590

8280

8060

8020

Diese Zahlen zeigen, daß seit 1933 keine wesentlichen Veränderungen in der Höhe und Zusammensetzung des Immobiliarkredits stattgefunden haben. Infolge der Zinssenkungsmaßnahmen ist aber

236

Hermann Kißler

die Belastung der Landwirtschaft erheblich geringer als in der Krise. Während die Zinslast für die Gesamtverschuldung einschließlich der Personalkredite im Wirtschaftsjahr 1931/32 auf einen Höchststand von über 1 Milliarde angewachsen war, ist sie bis zum Wirtschaftsjahr 1935/36 auf beinahe die Hälfte herabgesunken. Auffallend in der Entwicklung des Immobiliarkredits seit 1933 ist der starke Rückgang der Altenteile, die während der Jahre 1924—1929 infolge einer Überschätzung der Leistungsfähigkeit der Höfe vielfach eine untragbare Höhe erreicht hatten. Es zeigt sich hier deutlich, daß in den letzten Jahren auch in den Kreisen der Landwirtschaft selbst eine gesündere Wertanschauung Platz gegriffen hat, die bei der Bemessung der Altenteilsforderungen nicht mehr wie früher von dem Kapitalwert des Hofes ausgeht, sondern die durchschnittlichen Erträge zugrunde legt, die bei einer normalen Bewirtschaftung des Hofes zu erzielen sind. Während der Kapitalwert der Renten und Altenteile in den Jahren 1927—1928 bei den bäuerlichen Betrieben bis zu 25 % der Gesamtverschuldung ausmachte, betrug er in denselben Betriebsgrößenklassen am i.Juli 1934 in Ostdeutschland nur noch 9, in Westdeutschland 1 5 % der Gesamtverschuldung. Infolge des Rückganges der Personalkredite seit 1934 hat der Immobiliarkredit in den beiden letzten Jahren im Rahmen der Gesamtverschuldung der Landwirtschaft noch an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklung wird sich wahrscheinlich auch in Zukunft fortsetzen, wenn die Auswirkungen des Schuldenregelungsgesetzes, insbesondere die umfassende Regelung für die Erbhofentschuldung, noch deutlicher in Erscheinung treten werden. Dieses Gesetz erstrebt eine allmähliche Zurückführung der Verschuldung bis zur Mündelsicherheitsgrenze und sieht zu diesem Zweck neben der in anderem Zusammenhang bereits erwähnten Möglichkeit von Kürzungen solcher Forderungen, die über diese Grenze hinausragen, und neben Zinsherabsetzungen eine Festschreibung aller kurzfristigen Kredite unter gleichzeitiger Umwandlung in langfristige Tilgungshypotheken vor. Mit dem großen Entschuldungswerk, das hier in Angriff genommen worden ist, werden die letzten Krisenreste aus der Vergangenheit beseitigt werden. Manche Härten für die Gläubiger sind dabei unvermeidlich, vor allem wird neben den Personalkreditgläubigern auch der nachstellige Immobiliarkredit mit Verlusten rechnen müssen. Dagegen wird nach den bisher vorliegenden Ergebnissen anzunehmen sein, daß sich die Einbußen der erststelligen Hypothekarkreditgläubiger in engen Grenzen halten werden. Zu einem großen Teil werden sie überdies dadurch einen Ausgleich erfahren, daß mit der Bereinigung der landwirtschaftlichen

Der deutsche Immobiliarkredit seit der Inflation

237

Schuldverhältnisse auch die Zinsrückstände, die bereits seit der Krise wieder einen starken Abbau erfahren haben, in Zukunft weiter zurückgehen werden. Damit werden zugleich auch die Voraussetzungen geschaffen sein für eine Wiederbelebung des landwirtschaftlichen Immobiliarkredits in den Grenzen, die nach den bitteren Lehren der Vergangenheit gezogen werden müssen. 2. G e g e n w a r t s p r o b l e m e des s t ä d t i s c h e n

Immobiliarkredits

Die weittragenden bevölkerungspolitischen Ziele der nationalsozialistischen Regierung stellen die Wohnungswirtschaft und ihre Finanzierung vor neue große Aufgaben. Die durch eine Reihe staatlicher Maßnahmen seit 1933 wirksam geförderte Zunahme der Eheschließungen, die weitgehende Beseitigung der Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Erhöhung der Einkommen ließen den Fehlbetrag an Wohnungen, der sich infolge der geringen Bautätigkeit während der Krise noch vergrößert hatte, deutlich in die Erscheinung treten. Darüber hinaus ist künftig noch eine weitere Erhöhung des Wohnungsbedarfes zu erwarten, die aus den Bestrebungen des Nationalsozialismus erwächst, die Großstädte aufzulockern, insbesondere die in hohem Maße unhygienischen Altstädte zu beseitigen, eine Verlagerung der Industrie mit dem Ziele einer stärkeren Dezentralisation vorzunehmen sowie den Arbeiter durch Beschaffung von Kleinsiedlerstellen mit dem Boden zu verwurzeln und damit zugleich unempfindlicher gegen Krisen werden zu lassen. Während die vorstehend genannten Gesichtspunkte auf eine Erhöhung des Immobiliarkredits hinauslaufen, ist eine Reihe anderer Faktoren wirksam, die umgekehrt eine Senkung des Bedarfes gegenüber der Vergangenheit zur Folge haben werden. Hier sind in erster Linie die Baukosten zu nennen, die seit der Krise eine erhebliche Senkung erfahren haben, selbst wenn man die leichte Erhöhung, die seit 1933 eingetreten ist, berücksichtigt. Auch die Verlagerung der Bautätigkeit von den Groß- und Mittelstädten auf die kleinen Städte und die Landgemeinden hat infolge der geringen Baukosten, mit denen hier zu rechnen ist, den Kreditbedarf gemindert. Dabei ist allerdings zu betonen, daß die Wohnungen gegenwärtig im allgemeinen bescheidener ausgestattet werden als in der Nachinflationszeit aus der richtigen Erkenntnis heraus, daß die Erstehungskosten ihren Zusammenhang mit den Mietpreisen nicht verlieren dürfen. Das hier zutage tretende Bestreben, die Subventionspolitik der Nachinflationszeit abzubauen und den Wohnungsbau wieder wie vor dem Kriege in erster

238

Hermann Kißler

Linie der privaten Wirtschaft zu überlassen, ist ein wichtiges Ziel der nationalsozialistischen Wohnungspolitik. Die großen Aufgaben, die auf dem Gebiete der Wohnungswirtschaft zu leisten sind, wurden bereits unmittelbar nach 1933 in Angriff genommen. Gegenüber rund 159000 Wohnungen im Jahre 1932 konnten 1933 rund 202000, 1934 319000 und 1935 264000 Wohnungen erstellt werden. Dabei entfällt jedoch seit 1933 ein erheblich größerer Prozentsatz als früher auf die Umbauten, die im Rahmen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen besonders gefördert wurden. Die Zuschüsse, die das Reich für diese Zwecke bis zu 50 % der Kosten gab, haben eine starke Entlastung des Immobiliarkreditbedarfes zur Folge gehabt. Sie haben gleichzeitig erreicht, daß private Mittel in weitem Umfange dem Wohnungsbau dienstbar gemacht wurden. Da in Zukunft geeignete Umbauprojekte in größerer Zahl nicht mehr vorhanden sein werden, wird die Umbautätigkeit durch eine verstärkte Neubautätigkeit abgelöst werden müssen. Diese Aufgabe wird sich um so schwieriger gestalten, als die Herstellung von Neubauwohnungen sehr viel höhere Mittel erfordert als die Errichtung einer gleichen Zahl von Räumen, die durch den Umbau von Altwohnungen gewonnen werden. Einen Überblick über die Beteiligung der einzelnen Gläubigergruppen am Wohnungsbau seit 1932 gibt die folgende Tabelle: In Millionen RM.

I. ö f f e n t l . M i t t e l II. O r g a n i s . K r e d i t : a) öfF.-rechtl. Kreditinst b) Hyp.-Akt.-Banken c) Sparkassen d) öffentl. u. priv. Vers.-Träger . . e) Bausparkassen III. P r i v a t h y p o t h e k e n . . . . Eigenkap., Kaufgeldstundungen, Zwischenkredite S t ä d t . I m m o b i l i a r k r e d i t insg. . . .

1932

1933

1934

1935

150

185

280

220

20 —

•—







70 150 150

70

50

150

100

50

65

120 150 130

390

580

850

800

830

980

1530

1650

175 85

Nach diesen Zahlen treten die öffentlichen Mittel an Bedeutung gegenüber den Vorjahren erheblich zurück. Während diese im Durchschnitt der Jahre 1924—1929 rund 1,2 Milliarden betrugen, haben sie im Durchschnitt 1933—1935 eine Abnahme auf 230 Millionen erfahren. Diese Entwicklung erklärt sich in erster Linie aus dem weitgehenden Fortfall des Wohnungsbauanteils am Hauszinssteueraufkommen. Wäh-

Der deutsche Immobiliarkredit seit der Inflation

239

rend 1932 noch 7 0 % aller Wohnungsbauten mit öffentlichen Unterstützungen durchgeführt wurden, waren es 1933 nur noch 4 9 % und 1935 nur noch 37 %. Es muß allerdings in diesem Zusammenhang betont werden, daß die staatliche Hilfe für den Wohnungsbau stärker war, als es in den vorstehenden Zahlen zum Ausdruck kommt. Neben der unmittelbaren Kreditgewährung haben in den letzten Jahren die mittelbaren Unterstützungen, unter denen hauptsächlich das System der Reichsbürgschaften Hervorhebung verdient, eine große Bedeutung erlangt. Es sind seit 1933 Reichsbürgschaften in Höhe von rund 250 Millionen für nachstellige Hypothekarkredite im Wohnungsbau und 200 Millionen für Kleinsiedlung bereitgestellt worden. Der organisierte Kredit spielt in der Zeit von 1933 bis 1935 nur eine sehr geringe Rolle. Infolge der Zins- und Kursgestaltung waren die Hypothekenaktienbanken und die öffentlich-rechtlichen Kreditanstalten als Kreditgeber in den Jahren 1933/34 g a n z ausgefallen. Auch die Sparkassen erscheinen nur mit Beträgen, die sehr erheblich unter denen der Zeit von 1924—1929 liegen. Nur die öffentlichen und privaten Versicherungsträger haben den früheren Umfang ihrer Kreditgewährung nahezu aufrechterhalten können. Besonders auffällig gegenüber der bisherigen Entwicklung ist der starke Anteil der privaten Hypotheken an der Wohnungsbaufinanzierung. Ihr Anteil am städtischen Immobiliarkredit stieg von 17 % im Jahre 1929 auf 56 % im Jahre 1935. Eine wesentliche Ursache für diese starke Beteiligung des unorganisierten Kredits wird man darin erblicken müssen, daß die Zinsen für Privathypotheken durchschnittlich weit höher lagen als die Zinssätze für Reichsanleihen, Pfandbriefe und Spareinlagen. Dieser Anreiz wird jedoch in Zukunft in Fortfall kommen, da durch Gesetz vom Juli 1936 eine Einflußnahme auf die Zinsentwicklung der Privathypotheken dadurch vorgesehen ist, daß durch ein gerichtliches Festsetzungsverfahren die Zinsen auf 5 % für erststellige bzw. 5x/2—6 % für nachstellige Hypothekarkredite herabgesetzt werden können. So begrüßenswert an sich unter dem Gesichtspunkt einer Abkehr von der früheren staatlichen Subventionspolitik eine stärkere Beteiligung des Privatkapitals an der Wohnungsbaufinanzierung sein mag, so erscheint doch das beträchtliche Anwachsen der Direkthypotheken nicht ungefährlich. Das Bestreben, eine zentrale und umfassende Steuerung des Geld- und Kapitalmarktes herbeizuführen, um damit jederzeit allen Schwierigkeiten wirkungsvoll zu begegnen, die sich unter Umständen aus der staatlichen Geld- und Kreditausweitung ergeben können, würde empfindlich gestört werden, wenn durch ein weiteres Vordringen des schwer kontrollierbaren privaten Kredites der organisierte Kredit noch stärker

240

Hermann Kißler

verdrängt werden sollte. Unter diesem Gesichtspunkt ist zu erwägen, inwieweit es möglich ist, die Emissionssperre für die Zwecke der Wohnungsbaufinanzierung in bestimmtem Umfange zu lockern. Es dürfte kaum zu befürchten sein, daß mit einer solchen begrenzten Freigabe des Kapitalmarktes die Konsolidierungspolitik der Reichsregierung gestört werden könnte, weil eine Freigabe von Pfandbriefen im wesentlichen nur eine Verlagerung vom unorganisierten zum organisierten Immobiliarkredit bedeuten würde. Die seit 1933 zu verzeichnenden Gesundungstendenzen auf dem Grundstücksmarkt haben die Bewertungsgrundlagen für den Immobiliarkredit erheblich verbessert. Einmal hat sich die Lage der Hausbesitzer durch den Rückgang der Mietausfälle, vor allem aber durch die weitere Zinsentlastung infolge der Pfandbriefkonversion vom J a h r e 1935 günstiger entwickelt. Für den Altbesitz ergab sich darüber hinaus noch eine weitere Erleichterung durch die Hauszinssteuersenkung von 25 %, wobei allerdings die Steuerersparnis nach dem Gesetz zur Förderung des Wohnungsbaues dem Reich als verzinsliche Anleihe, insbesondere für Zwecke der Kleinsiedlung und des Kleinwohnungsbaues zur Verfügung gestellt werden mußte. Diese Entlastungen der Schuldner wirkten sich auch für den Gläubiger insofern günstig aus, als die in der Krise bedrohlich angewachsenen Zinsrückstände seit 1934 in bemerkenswertem Umfange abgebaut werden konnten. Mit der Abkehr von der Deflationspolitik kam zugleich auch der Druck auf die Grundstückspreise und die damit verbundene Entwertung der Beleihungsgrundlagen zum Stillstand. Daraus ergab sich die Möglichkeit, die Beleihungsgrenzen für den erststelligen Kredit, die in der Nachinflationszeit infolge der unübersichtlichen Lage des Grundstückmarktes sehr niedrig bemessen worden waren, wieder heraufzusetzen. Im allgemeinen bleiben jedoch die Gläubigergruppen des organisierten Kredites auch heute noch unter den Beleihungsgrenzen der Vorkriegszeit und auch unter den Höchstgrenzen, die ihnen gesetzlich oder satzungsgemäß vorgeschrieben sind. Immerhin wird es durch die Erweiterung des erststelligen Kredites möglich sein, die Zwischenschaltung der Ib-Hypothek, die der Form nach eine erststellige Beleihung sein sollte, der Deckung und Sicherung nach aber als zweite Hypothek anzusehen war, wieder zu beseitigen. Die Erhöhung der Beleihungsgrenzen für den erststelligen Hypothekarkredit hat das Problem des nachstelligen Kredits erleichtert. Eine Erschwerung ist aber andererseits dadurch eingetreten, daß öffentliche Mittel im wesentlichen nur noch aus Rückflüssen der früher bereitgestellten Hauszinssteuerhypotheken zur Verfügung stehen, während

Der deutsche Immobiliarkredit

seit der Inflation

241

der Wohnungsbauanteil der Hauszinssteuer — wie bereits erwähnt — hauptsächlich zur Deckung des Finanzbedarfs der Länder und Gemeinden bestimmt ist. Die hier entstandene Lücke ohne jede Staatshilfe auszufüllen, erwies sich als unmöglich. Wenn es auch in zunehmendem Umfange gelungen ist, vor allem Eigenheime und Kleinwohnungsbauten durch Stundungen von Restkaufgeldern und Anliegerleistungen ohne öffentliche Hilfe zu finanzieren, so konnten doch bei einem beträchtlichen Rest von Bauten zweitstellige Kredite nur durch Übernahme von Reichsbürgschaften beschafft werden. Dieses Bürgschaftssystem hat sich somit zur Zeit noch als eine unentbehrliche Stütze für die Deckung des zweitstelligen Hypothekarkreditbedarfes erwiesen. Man wird deshalb annehmen dürfen, daß auch nach Erreichung der für diese Bürgschaften vorgesehenen Grenzen eine weitere Ausdehnung des Verfahrens Platz greifen wird. U m dem Reich das damit wachsende Risiko abzunehmen, ist der Gedanke erörtert worden, einen Sicherungsstock zu bilden. Dieser könnte aus den Rückflüssen gespeist werden, die aus den Hauszinssteuerhypotheken und den sonstigen Wohnungsdarlehen des Reiches zu erwarten sind. Es sei dahingestellt, ob es notwendig sein wird, ein besonderes Kreditinstitut für die Gewährung nachstelliger Hypothekarkredite zu gründen, das etwa nach dem Vorbild der Württembergischen Landeskreditanstalt arbeiten, sein Tätigkeitsfeld jedoch über das gesamte Reich erstrecken würde. Unter den übrigen Vorschlägen, die auf eine stärkere Heranziehung des organisierten Kredits zur Deckung des nachstelligen Immobiliarkreditbedarfes abzielen, verdient der Gedanke einer Einschaltung der Bausparkassen hervorgehoben zu werden. Damit könnten zugleich auch die Mängel des Bausparsystems eingeschränkt werden, die während der Krise sehr deutlich in die Erscheinung getreten waren und insbesondere infolge des fehlenden Zuganges neuer Sparer in einer Verlängerung der Wartezeit der alten Sparer zum Ausdruck kamen. Eine Beschränkung des Tätigkeitsgebietes der genannten Institute auf die Gewährung des nachstelligen Realkredits würde bei enger Zusammenarbeit mit den übrigen Trägern des organisierten Kredits, welche die erststellige Beleihung zu übernehmen hätten, die Wartezeiten herabmindern können, wenn zugleich eine stärkere Tilgung dieser nachstelligen Kredite vorgeschrieben wird. Das Versiegen der Hauszinssteuerdarlehen brachte nicht nur Schwierigkeiten für den nachstelligen Kredit, sondern erschwerte auch die sogenannte Spitzenfinanzierung, die den Teil des Bau- und Bodenwertes umfaßt, der nicht durch erststelligen oder nachstelligen Immobiliarkredit gedeckt werden kann. Während vor dem Kriege das Eigen16

P r o b l e m e des D e u t s c h e n W i r t s c h a f t s l e b e n s

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Hermann Kißler,

Der deutsche Immobiliarkredit

seit der Inflation

kapital zumeist ausreichte, um diese Restfinanzierung durchzuführen, wurde in den Jahren 1924—1929, wie bereits erwähnt, die Lücke, die durch die Zusammenschrumpfung des Eigenkapitals entstanden war, vorwiegend durch öffentliche Mittel ausgefüllt. In der Gegenwart sind verschiedene Wege beschritten worden, um das Problem der Spitzenfinanzierung zu lösen. Bei den Kleinwohnungsbauten spielt auch heute noch der Einsatz von Reichsdarlehen eine gewisse Rolle. Daneben war man bemüht, das fehlende Eigenkapital durch Sach- und Arbeitsleistungen vor allem bei den Klein- und Erwerbslosensiedlungen zu ersetzen. Eine größere Bedeutung haben ferner die zur Errichtung von Werkwohnungen gewährten Arbeitgeberdarlehen gewonnen, die als Vorschuß auf spätere Leistungen der Arbeiter und Angestellten anzusehen sind. Vorbildlich hat hier vor allem die von der Industrie des Westens ins Leben gerufene Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des Arbeiterwohnstättenbaues gewirkt. Wenn auch äußerlich diese Spitzenfinanzierung vielfach die Form des Immobiliarkredits angenommen hat, so handelt es sich hier zumeist dem inneren Wesen nach um Personalkredite. Es wäre zu wünschen, daß man unter Rückkehr zu der Vorkriegsmethode auf die Heranziehung von Fremdkapital bei der Spitzenfinanzierung überhaupt verzichten könnte. Einmal würde wirtschaftlich ein höheres Eigenkapital die Krisenempfindlichkeit des Immobiliarkredits erheblich mindern können. Vor allem aber erscheint es auch aus ideellen Gründen erstrebenswert, das Eigenkapital über den heute im allgemeinen üblichen Satz von 10% des Bau- und Bodenwertes zu steigern, um damit das Verantwortungsgefühl des Eigentümers für seinen Besitz zu stärken. Solange jedoch dieses Ziel nicht erreicht werden kann, wird man alle Quellen, die sich für die Spitzenfinanzierung erschließen lassen, ausschöpfen müssen. Im Vergleich zur Nachinflationszeit verlieren die dargelegten Schwierigkeiten, die gegenwärtig noch im Immobiliarkredit zu verzeichnen sind, ihre Bedeutung. Sie werden sich leicht überwinden lassen, wenn der Kapitalmarkt nach Beendigung der vordringlichen nationalpolitischen Aufgaben der Gegenwart dem landwirtschaftlichen und städtischen Realkredit wieder in größerem Umfange dienstbar gemacht werden kann. Gestützt auf ein Immobiliarkreditsystem, das nach Beseitigung der Schäden, die Krieg, Inflation und Krise hervorgerufen haben, heute seine alte Leistungsfähigkeit wiedergewonnen hat, werden sodann auch die großen agrar- und siedhingspolitischen Ziele des Nationalsozialismus ihre Verwirklichung finden können. (Abgeschlossen im August 1936.)

GRUNDFRAGEN DER DEUTSCHEN ABSATZWIRTSCHAFT VON

CARL LÜER

INHALTSÜBERSICHT A. Absatz und I. II. III. IV.

Handel

Die Stellung des Handels in der Absatzwirtschaft Funktionsgliederung des Handels U m f a n g und Organisation des Handels A b g r e n z u n g von Großhandel und Einzelhandel

245 246 248 254

B. A r t e n u n d F o r m e n des H a n d e l s I. D i e

Handelsstufen

II. D e r R o h s t o f f h a n d e l 1. Importhandel und Weltmärkte 2. Die Rohstoffversorgung der Industrie 3. Der Einfluß der Rohstoffbewirtschaftung 4. Die Lebensmitteleinfuhr 5. Die Marktordnung des Reichsnährstandes

257 259 260 264 265 267

III. Der P r o d u k t i o n s V e r b i n d u n g s h a n d e l 1. Die Sonderstellung des Verbindungshandels 2. Direktbeziehungen der Produktionsstufen 3. Handelswerk und Werkshandel 4. Die Belieferung des Handwerks 5. Entwicklungstendenzen im Verbindungshandel

269 270 272 273 273

IV. Der A b s a t z g r o ß h a n d e l 1. Wesensmerkmale 2. Der Exporthandel mit Fertigwaren

276 277

.16*

Carl Liier

244 3. 4. 5. 6.

Industrie- und Handelscxport Absatzformen und Außenhandelspolitik Der binnenländische Absatzgroßhandel Die Ausschaltung von der Erzeugerseite her a) Der Stadtreisende des Herstellers b) Fabrikläger c) Markenartikel 7. Die Ausschaltung von der Abnehmerseite her a) Einkaufsvereinigungen b) Massenfilialen des Einzelhandels

V. Der

278 281 285 290 290 291 291 293 293 294

Einzelhandel

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19.

Begriffliches Historische Absatzformen Übersetzung des Einzelhandels Die Modernisierung des Einzelhandels Die ländliche Gemischtwarenhandlung Die Spezialgeschäfte Die Warenhäuser Die Massenfilialunternehmen Die Konsumvereine Die Fabrikfilialen Die Einkaufsvereinigungen Die Einheitspreisgeschäfte Der Automatenverkauf Der ambulante Handel Der Versandhandel Der kreditgebende Einzelhandel Die Bedeutung der neueren Betriebsformen Die Modernisierung des Fachhandels Die wirtschaftliche Bedeutung der Modernisierung a) Die Personalleistungen b) Die Kosten c) Die Einkaufspreise d) Die Umschlagsgeschwindigkeit e) Die Handelsspanne 20. Die sozialen Auswirkungen der Modernisierung a) Der mittelständische Charakter b) Die Einkommensverhältnisse 21. Die Schutzgesetze des Einzelhandels 22. Die Selbsthilfe des Einzelhandels a) Marktregelung b) Kreditversorgung c) Buchführung und Betriebsvergleich d) Schulung des Nachwuchses e) Berufsförderungsarbeit des Einzelhandels C. S c h l u ß b e t r a c h t u n g

295 296 300 301 302 303 303 304 305 305 306 306 308 308 308 310 312 315 316 316 319 323 324 327 329 329 330 33 r 331 332 334 334 336 338 339

Grundfragen der deutschen

Absatzwirtschaft

245

A. A B S A T Z U N D H A N D E L I. D i e S t e l l u n g des H a n d e l s in d e r A b s a t z w i r t s c h a f t NEBEN DEN GROSSEN, IN DIESEM WERK BEHANDELTEN Wirtschaftszweigen der Industrie, des Bankwesens, des Versicherungsund Verkehrswesens sowie der Energieversorgung bildet der Handel eine besondere Gruppe, die im Wirtschaftskreislauf ihre eigenen Funktionen erfüllt und ihren eigenen „Stand" ausgebildet hat. Das Wesen des Handels liegt in der M a t e r i a l - u n d G ü t e r z u f ü h r u n g von den Stätten ihrer Gewinnung und Verarbeitung zu den Stätten ihres Ge- und Verbrauches. Erst diese Leistung gibt der Produktion für den unbekannten Kunden einen Sinn, weil sie dafür sorgt, daß die Güter, soweit sie noch unbekannt sind, überhaupt bekannt und begehrt werden und als benötigte Güter im Zeitpunkt und am Orte des Bedarfes verfügbar sind. Damit schafft der Handel den Gebrauchswert der Güter, die er — frei von der Beschränkung des einzelnen Erzeugers — zu einem den zeitlich und örtlich verschiedenen Bedürfnissen entsprechenden Sortiment zusammenfaßt, und durch den so bewirkten Ausgleich zwischen Bedarf und Vorrat den Tauschwert der Güter erhöht. Diese in Wechselwirkung mit der fortschreitenden Arbeits- und Betriebsteilung stehende Funktion der Güterzuführung und -Verwertung mußte um so wichtiger werden, je mehr sich die Vorratskammern der Eigenwirtschaft auflösten und die wachsende Markt- und Massenproduktion große Produktionsläger schuf. Für Materialheranschaffung und Warenabsatz reichten die wirtschaftlichen Kräfte der einzelnen Produktionsunternehmung nicht mehr aus, weil die Ökonomie der Roh- und Halbstoffversorgung sowie des Güterabsatzes erweiterter Grundlagen bedurfte und—volkswirtschaftlich betrachtet — der Anteil des Vertriebsaufwandes am Gesamtaufwand sich beträchtlich erhöhte. So mußte der Handelsstand entstehen, d. h. es mußten sich die Träger der Vertriebsfunktionen beruflich verselbständigen und im Wirtschaftsaufbau besondere Stufen bilden. Geschichtlich tritt der Berufshandel zuerst — wie Max Weber sagt 1 ) — interethnisch hervor, weil es zunächst galt, die aus naturgegebenen Bedingungen anfallenden Überschußprodukte der eigenen Heimat gegen die fehlenden, jedoch in anderen Ländern überschüssig vorhandenen Güter auszutauschen. Mit der weiteren Stadt- und Indur)

M a x Weber: Wirtschaftsgeschichte 1924, S. 174fr.

246

Carl Liier

strieentwicklung ist d a n n auch die Zuführung der inländischen Erzeugnisse über den Funktionsbereich der Produktionsbetriebe hinausgewachsen und hat den berufsmäßigen Binnenhandel geschaffen. D a s ist natürlich nicht bei allen Wirtschaftszweigen erfolgt. Zwischen vielen Produktions- u n d Verbrauchsstufen ist eine besondere Handelsstufe entbehrlich geblieben, ebenso wie sich an vielen Stellen die Mitwirkung des Bank-, Verkehrs- oder Versicherungsgewerbes erübrigt hat. Veränderungen in den Produktions- und Verbrauchsverhältnissen halten auch den Funktionsbereich des Handels dauernd in Fluß. Die Wege der Güterzuführung sind keine befestigten Autobahnen und werden im einzelnen oft eher umgeleitet als Erzeugungsgebiete verlagert werden, weil sich die ökonomischen Grundlagen der Handelsfunktionen meist schneller verändern als die der Produktion. Der Handelsstand besitzt somit kein Monopol auf die Vertriebsfunktionen, bleibt aber für die Zuführung der Massenerzeugung an den Verbrauch unentbehrlich. II. F u n k t i o n s g l i e d e r u n g

des

Handels

Welches sind die Grundfunktionen, die sich in der selbständigen Handelsstufe vereinigen? I m Wirtschaftsablauf fügt sich zur Herstellung der Güter eine lange Reihe von Einzelleistungen aneinander, die je nach Ursprung und Verwendungszweck des dabei in Frage kommenden Stoffes unternehmungsmäßig sehr verschieden zusammengefaßt sind. V o n der Auffindung, Zweckbestimmung, dem Erwerb und Transport der Rohstoffe über die Weiterverarbeitung und Weiterleitung bis zum Verbrauch der Erzeugnisse haben inzwischen fast alle Wirtschaftszweige irgendwie mit ihnen zu tun gehabt. Die notwendigen Einzelleistungen sind unternehmungs- und betriebsweise eingefangen. Kaufmännische und technische Leistungen verteilen sich auf Handels- und Produktionsunternehmungen ohne strenge ständische Scheidung. Zu den kaufmännischen Leistungen gehören vor allem die Auffindung von Rohstoffen, ihre Sortierung und Zuführung an die verschiedenen Produktionsbetriebe, die Lagerhaltung, Finanzierung und Weiterleitung an die Verbrauchsstätten. Verkehrs-, Lagerungs- und Finanzierungsfunktionen, in besonderem Maße Aufgaben von Handelsunternehmungen, sind aber vielfach aus dem Bereiche der Handelsunternehmungen ausgegliedert worden: teils sind sie vom Hersteller übernommen worden, teils h a b e n sie selbständige Stufen und Wirtschaftszweige gebildet, besonders wenn das A b s a t z r i s i k o ein außergewöhnlich großes Ausmaß erreichte und den R a h m e n einer Handelsunter-

Grundfragen

der deutschen

Absatzwirtschaft

247

nehmung bereits voll ausfüllte. Im extremsten Fall hat sich dann auch der Händler auf die Spekulation beschränkt, die zwar auch einen weiten R a u m für unlautere Machenschaften ließ, bei mangelnder Marktordnung aber die Marktrisiken und damit die notwendigen Wagnisse übernahm. In anderen Fällen wieder hat der Handel durch Ausbau der Einkaufs-, Lager- und Absatzorganisation sowie durch eine mit der Sortierung von Stoffen naturnotwendig verbundene V e r a r b e i t u n g und durch Übernahme der Kreditfunktionen seine Unternehmungsbasis erweitert. Hierfür wurde dann auch auf der Handelsstufe ein beträchtliches Anlagekapital investiert. Die Übernahme der Risiken, die aus den Schwankungen in Warenangebot und Warennachfrage entstehen, hat dem Handelsstand zu seiner besonderen Bedeutung für Hersteller und Verbraucher verholfen. Es ist freilich immer das Bestreben der Hersteller gewesen, Abhängigkeiten vom Handel zu vermindern oder ganz auszuschalten. So sind industrielle Einkaufs- und Absatzorganisationen zur Erreichung eines geschlossenen Warenweges geschaffen worden, deren Träger hauptsächlich die Syndikate und Großkonzerne sind. Eine Absatzorganisation kann aber auch bei straffer Kartellierung nicht in die Tiefe gehen, d. h. nicht bis zum Verbraucher vorstoßen, wenn ihre Träger in disharmonischer Konkurrenz stehen oder wenn ihre Produkte den Unterschieden und Schwankungen von Mode und Geschmack unterliegen. Deshalb müssen sich Fertigwarenkartelle meist mit einer Regelung der Verkaufsbedingungen begnügen, können nur selten Preisfestsetzungen vornehmen und einen eigenen Absatzapparat kaum aufbauen, weil die Grundlage meist entweder zu breit (konkurrierende Verarbeiter) oder zu schmal (nur wenige Typen von Produkten) ausfällt. Hier behält der Handel eine feste Berufsstellung, die durch weitgehende Ausübung von Lager-, Sortiments-, Transport- und Inkassofunktionen ausgefüllt ist, namentlich wenn die in Frage kommenden Fertigwaren stärkeren modischen Schwankungen und technisch begründeten Wandlungen unterliegen. Bei Konzernbildungen, also auf branchenmäßig schmalerer Basis, pflegt dagegen das Streben zum Direktabsatz tiefer bis zum letzten Verteiler hin vorzudringen. Betriebswirtschaftliche Erfolge werden dabei meist nur Unternehmungen mit monopol artiger Marktstellung zufallen. O b dieser industrielle Direktabsatz sich als Ganzes volkswirtschaftlich vorteilhaft auswirkt oder ob es sich lediglich um eine unternehmungsmäßige Verlagerung der Absatzfunktionen ohne Ersparnis an Verteilungskosten und Kapital handelt, ist noch nicht genügend ergründet. Die vorliegenden Erfahrungen zeigen viel Widersprechendes. Auch die industrielle Absatz-

248

Carl Liier

Organisation macht in Form von Handelskontoren, Auslieferungslägern, Einzelhandelsverkaufsstellen usw. Betriebseinrichtungen erforderlich, die denen des berufsmäßigen Handels weitgehend entsprechen. Aber auch vom Handel gehen verschiedentlich vertikale Konzentrationstendenzen aus, wie berühmte Beispiele aus der Montan- und Eisenindustrie, Eingriffe des Importhandels in überseeische Produktionssphären oder der Aufbau von Fabrikbetrieben durch Konsumvereine und Warenhäuser zeigen. Die Tatsache, daß die privatwirtschaftliche Verselbständigung der Konsumvereinsläden durch die Existenz der Konsumvereinsfabriken erschwert ist, daß ferner die Krisis der Warenhäuser zum großen Teil in der Eigenerzeugung begründet lag, zeigt die Problematik des geschlossenen Warenweges deutlich auf. Die Ausschaltung des selbständigen Handels ebenso wie die industrielle Betätigung von Handelsunternehmen erfordern daher eine sehr sorgfältige volkswirtschaftliche Überprüfung. Beim Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit ist kürzlich ein Reichsausschuß für wirtschaftlichen Vertrieb gegründet worden, der zunächst in wichtigen Gruppen der Verbrauchsgüterindustrie die verschiedenen Absatzwege vom Hersteller zum Verbraucher, sowie die Leistungen der einzelnen Absatzorgane (z. B. Großhandel, Werksvertreter, Einzelhandel) durch die Zusammenarbeit von Forschungsstellen, Handel und Industrie klarlegen und den Kosten gegenüberstellen soll 1 ). Im ganzen hat sich der Anteil des Handels an der gewerblichen Wirtschaft in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ständig vergrößert, wie die Statistik der im Handel bestehenden Betriebe und beschäftigten Personen beweist. III. U m f a n g u n d

Organisation

des

Handels

Der deutsche Handel, der nach den a m t l i c h e n B e r u f s - und B e t r i e b s z ä h l u n g e n im Jahre 1925 1360507 Betriebe mit 3687606 beschäftigten Personen umfaßte, hat bis zum Ende der großen Krise im Gegensatz zur Produktionsseite die bereits in der Vorkriegszeit begonnene Aufwärtsentwicklung fortgesetzt und zählte im Jahre 1933 1430081 Betriebe mit 3791 301 beschäftigten Personen. Während in der genannten Zeitspanne im gesamten deutschen Gewerbe die Zahl der beschäftigten Personen um mehr als ein Fünftel (21,5%) zurückgegangen war, zeigte der Handel eine Beschäftigtenzunahme von nicht weniger als 2,8%. Die Zahl der Betriebe nahm sogar um über 5 % zu. J)

Vgl.

Dr. Tiburtius:

„Gemeinschaftsarbeit

in

der

Erforschung

des

Waren-

vertriebes von Industrie, H a n d e l und H a n d w e r k " (Vortrag auf dem II. Deutschen Betriebswirte-Tag des Verbandes Deutscher

Diplom-Kaufleute, Mai

1936).

Grundfragen

der deutschen

Absatzwirtschaft

249

Der A n t e i l des H a n d e l s an der gesamten gewerblichen Wirtschaft stieg gleichfalls weiter. Von den im Jahre 1925 in der gesamten gewerblichen Wirtschaft beschäftigten 18,6 Millionen waren bereits 19,9% im Handel tätig; 1933 stieg dieser Anteil auf 26%. Der Handel muß somit als wirtschaftliches Zufluchtsgebiet der Arbeitslosen angesehen werden. Dabei ist der Unterschied zu beachten, daß von 1925 bis 1933 der Großhandel 1 ) in seinem Betriebsbestand um 16,-1 %, in seinem Personalbestand um 22% zurückgegangen ist, der Einzelhandel dagegen einen Betriebszuwachs von 7,2 % und Personalzuwachs von fast 11 % aufzuweisen hat. Beim Handelshilfsgewerbe machte in diesen Jahren der Betriebszuwachs 35,4%, der Personalzuwachs 15,4% aus. Wenn also die amtliche Statistik für den Gesamtbereich des volkswirtschaftlichen Verteilungsapparates (Handel und Verkehr zusammen) für die Krisenzeit nur eine Personalverminderung von 1,2% ausweist, so ist diese geringe Veränderung das Ergebnis aus einem starken Personalrückgang bei G r o ß h a n d e l und V e r k e h r und einem außergewöhnlichen Personalzuwachs im Bereich des E i n z e l h a n d e l s . Dabei bleibt die Tendenz des steigenden Anteils des Handels an der gesamten gewerblichen Wirtschaft unverkennbar. Während auf 1000 Einwohner im Jahre 1925 noch 285, 1933 dagegen nur 234 in der gewerblichen Wirtschaft Tätige entfielen, fallen dem Handel von diesen gewerblich tätigen Personen 1925 57, 1933 dagegen 61 zu. Nichts kann die Dringlichkeit der wirtschaftspolitischen Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung, insbesondere den Erlaß des Einzelhandelsschutzgesetzes, der Neuregelung des Wettbewerbsrechtes mit Einschluß der Rabattbeschränkung und des Zugabeverbotes besser beweisen, als diese Vermehrung der Zahl der Handelstätigen und der Rückgang ihrer allgemeinen und beruflichen Bildung. Gerade die unberufen in •den Handel drängenden Personen haben die Not- und Mißstände verschärft, die bereits früher durch die gesteigerte Konkurrenz der Kleinbetriebe untereinander und durch die Kämpfe zwischen den vordringenden Großbetrieben und den abwehrenden Kleinbetrieben im Einzelhandel entstanden waren. Auch die straffe Gliederung der gewerblichen Wirtschaft und die organisatorische Zusammenfassung der Handelsunternehmungen in einer einheitlich geleiteten R e i c h s g r u p p e H a n d e l erhält nicht zum wenigsten aus diesen Verhältnissen heraus ihre praktische Rechtfertigung. Die Gruppengliederung der amtlichen Statistik, die nur die Betriebe als örtliche Niederlassungen und die darin beschäftigten *) Uber die Differenz zwischen den amtlichen Zahlen und denen der Pflichtorganisation vgl. unten S. 2 5 1 .

250

Carl Liier

Personen zählt, ist mit dem Aufbau der Reichsgruppe Handel nicht ohne weiteres vergleichbar, da diese die Unternehmungen als solche und ihre Betriebsführer als Mitglieder erfaßt. Die in der amtlichen Statistik durchgeführte Aufgliederung der Betriebe in nicht weniger als 653 Gewerbearten, die in 162 Gewerbeklassen (weiter aufgeteilt in 10 Betriebsgrößenklassen), in 29 Gewerbegruppen und 3 Gewerbeabteilungen zusammengefaßt sind, deckt sich auch nicht mit der in der Organisation der gewerblichen Wirtschaft durchgeführten Fachgruppengliederung. Der Hausierhandel, der in der amtlichen Statistik von den einzelnen Gewerbearten des Einzelhandels nicht vollständig getrennt werden konnte, war in der Organisation der gewerblichen Wirtschaft in einer besonderen Wirtschaftsgruppe zu erfassen. Die Filialunternehmungen, die in der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel eine besondere Zweckvereinigung bilden, tauchen in der amtlichen Statistik in den Betriebszahlen der verschiedenen Fachzweige des Einzelhandels unter. Die Unternehmungen des kreditgebenden Einzelhandels, deren Organisationsfrage noch nicht völlig geklärt ist, werden von der amtlichen Statistik den einzelnen Fachzweigen des Einzelhandels zugeordnet. Auch die Zuordnung der vielen Einzelhandelsunternehmungen mit starkem großhändlerischen oder handwerklichem Einschlag kann bei der amtlichen Statistik und der Organisation nicht übereinstimmen. Selbst innerhalb der Fachzweige sind Zahlenvergleiche nicht möglich, weil die Fachuntergruppengliederungen in der amtlichen Statistik und in der Organisation voneinander abweichen. Auch die Sortimentsverschiedenheiten innerhalb der einzelnen Betriebe hindern, wie das Hamburger Statistische Landesamt für seinen Bereich festgestellt hat, den Vergleich zwischen den Zahlen der Betriebsstatistik und der Organisationen der gewerblichen Wirtschaft. Der A u f b a u d e r g e w e r b l i c h e n P f l i c h t o r g a n i s a t i o n erfolgte in gewisser Anlehnung an die Branchengliederung, wie sie sich in den freien Berufsverbänden entwickelt hat. Die Zahl dieser Berufs verbände war zwar Legion, aber es ist bei dem Aufbau der Pflichtorganisation doch gelungen, hierin eine Rationalisierung durchzuführen. Wenn auch das Zahlenbild der Reichsgruppe Handel noch nicht ganz vollständig ist, wenn insbesondere in den Gruppen des Einzelhandels und der Handelsvertreter noch Lücken vorhanden sind, so ist doch der Aufbau der Reichsgruppe Handel so weit fortgeschritten, daß sie fast 1,2 Millionen Mitglieder umschließt. Der Anteil der einzelnen Wirtschaftsgruppen ergibt sich aus folgender Tabelle, in der die bei der Volkszählung 1933 ermittelten Zahlen der im Handel Selbständigen (Eigentümer, Miteigentümer und Pächter) beigefügt sind.

Grundfragen

der deutschen

Wirtschaftsgruppen I. Groß-, Ein- u. Ausfuhrhandel Einzelhandel Ambulantes Gewerbe 3Gaststättengewerbe 45- Vermittlergewerbe 6. Selbständige Fachgruppen a) Auskunftsgewerbe b) Bewachungsgewerbe c) Automatenaufstellgewerbe d) Blumenbindereien e) Badebetriebe f ) Außenwerbung 6 a—f zusammen insgesamt 2.

Absatzwirtschaft

Von der Reichsgruppe erfaßte Firmen rd. rd. rd. rd. rd.

251 Von der amtl. Statistik gezählte Selbständige

50 000

145 4 1 6

522 600 200 000

8 1 2 430

250 000

254 839

100 000

121 362 x )

i 000 850 3 000 7 000 900 650

13 400 1 136 000

1 95i

746 3 000 13 201 —

2 409

21 307 !) 1 355 354

Soviel statistische Vorbehalte im einzelnen hier auch gemacht werden müssen, so geben die Zahlen doch ein anschauliches Bild von den Betriebs- und Personenzahlen der einzelnen Handelszweige. Die Differenzen erklären sich übrigens zum Teil aus den nicht gesondert erfaßten Miteigentümern, beim Großhandel und den Blumenbindereien auch noch aus der Erfassung nährstandspflichtiger Handelsfirmen. Die den einzelnen Wirtschaftsgruppen zugeteilten Handelsunternehmungen sind weiterhin in die in der Anlage bezeichneten Fachgruppen gegliedert, und zwar hat der Großhandel 52 2 ), der Einzelhandel 3 1 3 ), das Gaststättengewerbe 2, das ambulante Gewerbe 3 und Zahl der örtlichen Niederlassungen. Die Zahl der Selbständigen kann hier nicht angegeben werden, weil die Statistik keine entsprechende Ausgliederung vorgenommen hat. 2 ) Im November 1936 ist noch eine Fachgruppe Holzhandel gebildet worden. 3 ) Die Wirtschaftsgruppe Einzelhandel steht im Begriff, diese 31 Fachgruppen in folgende 10 Fachgruppen und 5 Zweckgemeinschaften zusammenzufassen: Fachgruppen I. Nahrungs- und Genußmittel, Roheis

Mitglieder 238 398

II. T a b a k w a r e n

III. Bekleidung einschl. Schuh-, Leder- und Sportartikel IV. Raumgestaltung und Musik (Möbel, Tapeten, Linoleum, Teppiche, Musikinstrumente) V. Hausrat (Eisen-, Glas- und Porzellanwaren, Jagdartikel, Beleuchtung, Elektrogerät, Kühlanlagen, Rundfunk) Transport

36588

75 480 12 784 29 246 392 496

Carl Liier

252

das Vermittlergewerbe 6 Fachgruppen gebildet, so daß insgesamt der Handel in der Organisation der gewerblichen Wirtschaft in 106 Fachgruppen zerfällt. Fachgruppengliederung

in der R e i c h s g r u p p e

Handel

i. W i r t s c h a f t s g r u p p e G r o ß - , E i n - u n d A u s f u h r h a n d e l : Fachgruppen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14 . 15. 16. 17. 18.

Kohle Eisen und Stahl Schrott Metalle Metallhalbfabrikate Mineralöl Maschinen Kraftfahrzeugteile und Kraftfahrzeugzubehör Fahrräder und Fahrradteile Elektro Rundfunk Musikwaren Optik und Photo

19. Baustoffe 20. Glas und Keramik 21. Sanitäre Wasserleitungsbranche 22. Holzfabrikate 22a. Holzhandel 23. Korbwaren und Stuhlrohr 24. Technische Chemikalien und Drogen 25. Kunstdünger 26. Pharmazeutika und Krankenpflegebedarf 27. Kosmetika und Seifen 28. Technische Bedarfsartikel 29. Kautschuk 30. Pflanzliche und tierische Öle für technische Zwecke Kork Eisen- und Metallwaren 3 1 . Lacke, Farben und AnstrichEdelmetallwaren, Schmuckbedarf waren, Perlen und Edelsteine 32. Papier und Goldschmiedebedarf 33. Papier-, Schreibwaren- und BüUhren und Uhrenbestandteile robedarf

Übertrag: V I . Gesundheits- und Körperpflege (einschl. chemische, optische und chirurgische Artikel) :.. V I I . Kraftfahrzeuge, Treibstoffe, Garagen V I I I . Maschinenhandel (einschl. Fahrräder, Büromaschinen u. Organisationsmittel) I X . Kohleneinzelhandel X . Bürobedarf, Spielzeug, Kunstgewerbe (einschl. Korbwaren, Kinderwagen, Leder-u. Galanteriewaren, Briefmarken)

392 496

zusammen

5 2 4 158

Zweckgemeinschaft Althandel Fachabteilung Juwelen, Gold- und Silberwaren, Uhren Fachabteilung Zoologische Artikel Bestattungswesen Zweck Vereinigungen: Warenhäuser und Einheitspreisgeschäfte, Filialgeschäfte, Versandgeschäfte

2619 7 180 1 444 802

1. 2. 3. 4. 5.

Summa

24 829 20187 14 776 5 3 685 18185

1 422 5 3 7 625

Grundfragen der deutschen

34. Textilien und Bekleidung 35. Textile Rohstoffe und Halbfabrikate 36. Auslandsteppiche 37. Leder- und Schuhmacherbedarf 38. Häute und Felle 39. Rauchwaren und Pelze 40. Schuhwaren 41. Tabakwaren 42. Rohtabak 43. Polsterer- und Sattlerbedarf 44 .

1. 2. 3456. 78. o.

u

10. 11. 12.

*316. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32.

Absatzwirtschaft

253

45. Kranzblumen, Binderei- und Gärtnereibedarf 45a. Zoologischer und Aquarienbedarf 46. Molkerei- und Käsereieinrichtungen und -bedarf 47. Brauerei- und Kellereibedarf 48. Fleischereibedarf 49. Zahn- und Laboratoriumsbedarf 50. Kurz-, Galanterie-und Spielwaren 50a. Schiffsausrüstungen 51. Rohproduktengewerbe 52. Nahrungs- und Genußmittel

2. W i r t s c h a f t s g r u p p e E i n z e l h a n d e l 1 ) : Fachgruppe: Mitglieder Nahrungs- und Genußmittel 245 045 Tabak 33 241 Textil-Einzelhandel 53 391 Schuh-Einzelhandel 12 883 Leder- und Schuhbedarfsartikel 4 223 Kohlen 53 685 Eisen-, Stahl- und Metallwaren, Hausrat 11 643 4848 Glas- und Porzellanwaren 881 Sport- und Jagdartikel 2 070 Spielzeug, Korbwaren und Kinderwagen . . . 2 514 Leder- und Galanteriewaren, Kunstgewerbe 1 38t Zoolog. Artikel, lebende Tiere u. 14. Gesundheits- und Körperpflege usw 24 288 Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeugbedarf 8972 Garagen- und Tankstellenbetriebe 7819 Landmaschinenhandel 4 168 Nähmaschinenhandel 583 Fahrräder 7 346 Büromaschinen und Organisationsmittel 1 366 Möbel . . . ; 6 564 Tapeten und Linoleum 2 124 Juwelen, Gold- und Silberwaren, Uhren 6515 Musik (Klaviere, Harmoniums, Musikinstrumente usw.) i 653 Briefmarken 637 Altwaren (jetzt in Umbildung) 1 916 Bestattungswesen 687 Rundfunk 4 569 Papier, Schreibwaren und Bürobedarf 11 105 Beleuchtung und Elektrogerät, sanitäre Artikel 4 533 Roheis 529 Zweckvereinigungen (1. Warenhäuser und Einheitspreisgeschäfte, 2. Filialbetriebe, 3. Versandgeschäfte) 1 422

!) V g l . Fußnote

3)

auf S. 251.

Carl Liier

254

3. W i r t s c h a f t s g r u p p e

Gaststätten:

Fachgruppe: 1. Schankgewerbe

2. Beherbergungsgewerbe

4. W i r t s c h a f t s g r u p p e A m b u l a n t e s

Gewerbe:

Fachgruppe: 1. Gewerbe nach Schaustellerart 2. Ambulanter Warenhandel 3. Ambulanter Lebensmittelhandel

(Nährstandshandel)

5. W i r t s c h a f t s g r u p p e

Vermittlergewerbe:

Fachgruppe: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Handelsvertreter und Handelsmakler Grundstücks- und Hypothekenmakler Versicherungsagenten und Versicherungsmakler Agenten und Makler in Bau- und Zwecksparwesen Versteigerer Warenvertreter. 6. S e l b s t ä n d i g e

Fachgruppen:

1. Auskunftsgewerbe 4. Blumenbindereien 2. Bewachungsgewerbe 5. Badebetriebe 3. Automatenaufstellgewerbe 6. A u ß e n w e r b u n g 7. Gemeinschaftseinkauf

IV. A b g r e n z u n g von G r o ß h a n d e l und E i n z e l h a n d e l Auch bei dieser den organisatorischen und praktischen Bedürfnissen angepaßten Gliederung ergaben sich naturgemäß mannigfach B r a n c h e n ü b e r s c h n e i d u n g e n und damit D o p p e l m i t g l i e d s c h a f t e n , die infolge der Betriebskombinationen in der Praxis bei jeder Organisationsgliederung unvermeidlich sein würden. Schon vor dem Erlaß des Reichswirtschaftsministers vom 7. Juli 1936, der zwecks Behebung organisatorischer Schwierigkeiten die Institutionen der Hauptmitgliedschaft, der Fachmitgliedschaft und der Listenmitgliedschaft einführte und eine allgemeine Grenze für gewerbliche Nebentätigkeit aufstellte, haben die Organisationen der gewerblichen Wirtschaft von sich aus A b g r e n z u n g s a b k o m m e n getroffen, so daß zumindest in der Frage der Organisationszugehörigkeit der verschiedenen gemischten Betriebe Zweifel weitgehend ausgeschaltet sind. Besonders gründlich sind die Abgrenzungen zwischen der Reichsgruppe Industrie und der Reichsgruppe Handel sowie zwischen der Wirtschaftsgruppe Groß-, Ein- und Ausfuhrhandel und der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel bearbeitet worden; durch ein Rahmenabkommen vom 12. Februar 1936, das durch

Grundfragen

der deutschen

Absatzwirtschaft

255

17 Branchenabkommen und 5 weitere Vereinbarungen ergänzt worden ist, haben die Wirtschaftsgruppen Großhandel und Einzelhandel die Doppelmitgliedschaft auf diejenigen gemischten Betriebe beschränkt, die im Sinne der A n o r d n u n g e n des R e i c h s w i r t s c h a f t s m i n i s t e r s über die Anerkennung der Wirtschaftsgruppen vom 18. September 1936 sowohl Großhandel wie Einzelhandel in nicht unerheblichem Umfange betreiben. Als G r o ß h a n d e l gilt danach der W e i t e r v e r k a u f von Waren im eigenen Namen für eigene oder fremde Rechnung an Wiederverkäufer, Weiterverarbeiter, gewerbliche Verbraucher und behördliche Großverbraucher, und zwar auch dann, wenn er neben einem anderen Gewerbe (z. B. Industrie, Einzelhandel, Handwerk usw.) getätigt wird. Der Verkauf an Weiterverarbeiter, gewerbliche Verbraucher und behördliche Großverbraucher durch ein Einzelhandelsunternehmen gilt jedoch ausdrücklich nicht als Großhandel, wohl aber der Verkauf an Wiederverkäufer. Als E i n z e l h a n d e l gilt der gewerbliche E i n z e l v e r k a u f von Waren aller Art an Verbraucher oder d a n e b e n an Weiterverarbeiter, gewerbliche Verbraucher oder behördliche Großverbraucher in offenen Verkaufsstellen oder im Wege des Versandes. Die Anordnungen unterscheiden demnach klar: a) den Großhandel als den Weiterverkauf an Wiederverkäufer, b) den Einzelhandel als den Einzelverkauf an Verbraucher. Sie lassen jedoch die Zugehörigkeit des Verkaufs an Weiterverarbeiter, gewerbliche Verbraucher und behördliche Großverbraucher nicht deutlich erkennen. Nach dem U m s a t z s t e u e r g e s e t z vom 16. Oktober 1934, das bekanntlich den Großhandelsumsatz, wenn er mindestens 2 5 % des Gesamtumsatzes ausmacht, nur mit 1 / 2 % besteuert, gilt als Großhandelsumsatz ohne Rücksicht auf den Charakter des Unternehmens jeder Verkauf einer Ware an einen selbständigen Unternehmer, wenn die Ware für dessen Betriebszwecke bestimmt ist. Demnach sind die mit Privaten getätigten Verkäufe eines Großhandelsunternehmens (z. B. Ausführung von Sammelbestellungen) als Einzelhandelsumsätze anzusehen, die mit 2 % zu versteuern sind, während alle Einzelverkäufe eines Einzelhandelsunternehmens an selbständige Unternehmer und freie Berufe (z. B. auch die Verkäufe von Büchern und Gerätschaften an einen Arzt oder Architekten) Großhandelsumsätze darstellen, die nur mit 1 / 2 % von der Umsatzsteuer erfaßt werden. Im Rahmenabkommen der Wirtschaftsgruppen ist der ausschließliche Handel mit in zwei Listen festgelegten Waren je einer der beiden

256

Carl Liier

Gruppen zugeordnet worden, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob Verkauf an Verbraucher, Weiterverarbeiter oder behördliche Großverbraucher erfolgt. So gilt z. B. der ausschließliche Handel mit Kraftfahrzeugen, Klavieren, Nähmaschinen, Büromaschinen, Kinderwagen, Kühlmaschinen, Sport- und Jagdartikeln usw. nur als Einzelhandel, der ausschließliche Handel mit bestimmten Rohstoffen und Halbfabrikaten nur als Großhandel. Ferner regeln die Branchenabkommen besonders für die sog. gemischten Betriebe, die also sowohl Handel mit Verbrauchern wie mit Wiederverkäufern treiben, die Zuordnung des Verkaufs an Weiterverarbeiter, gewerbliche Verbraucher und Großverbraucher zu Großhandel oder Einzelhandel entsprechend den Besonderheiten der hier vorliegenden Absatzverhältnisse. So wird z. B. dieser Verkauf im Lebensmittel-, Tabak- und Uhrenhandel als Großhandel, im Eisenwaren- und Hausrathandel, wenn er aus offener Verkaufsstelle erfolgt, als Einzelhandel gewertet. Bei den übrigen Branchen sind besondere Zuordnungen erfolgt. Beim Fahrradhandel gilt z. B. der Verkauf an behördliche Großverbraucher als Großhandel, beim Schreibwarenhandel als Einzelhandel. In anderen Fällen wird er nach dem wirtschaftlichen Schwerpunkt (Groß- oder Einzelhandel) zugeordnet. Ergänzend ist deshalb auch die Umsatzmenge bestimmend. Schon nach der Anordnung über die Anerkennung der Wirtschaftsgruppe Großhandel kann diese auf die Mitgliedschaft von nebenbetrieblichen Großhändlern bei U n e r h e b l i c h k e i t der Großhandelstätigkeit verzichten. Nach dem Rahmenabkommen ist deshalb als unerheblich bezeichnet worden: 1. für Einzelhandelsbetriebe ein jährlicher Großhandelsumsatz von 40000 R M . , 2. für Großhandelsbetriebe ein jährlicher Einzelhandelsumsatz von 3000 „ Durch die Branchenabkommen sind diese erwähnten Unerheblichkeitsgrenzen erweitert. So wird z. B. ein Lebensmitteleinzelhändler erst dann auch von der Wirtschaftsgruppe Großhandel erfaßt, wenn sein Umsatz an Wiederverkäufer, gewerbliche Verbraucher, Weiterverarbeiter und behördliche Großverbraucher 80000 R M . jährlich erreicht und dabei 60% oder mehr des Gesamtumsatzes ausmacht. Uber die im Rahmenabkommen festgesetzten Unerheblichkeitsgrenzen von 3000 R M . Einzelhandelsumsatz für Großhandelsbetriebe und 40 000 R M . Großhandelsumsatz für Einzelhandelsbetriebe hinaus sind folgende Unerheblichkeitsgrenzen vereinbart worden:

25 7

Grundfragen der deutschen Absatzwirtschaft Unerheblicher Branche

EinzelhandelsumGroßhandelsums. satz d. Großhandels des Einzelhandels

Lebensmittel Textilien Schuhe Eisenwaren, Hausrat Glas, Porzellan Farben und L a c k e O p t i k und Foto Landmaschinen Fahrräder Juwelen, Uhren Papier- und Schreibwaren Beleuchtung usw

5 000 R M . 6 000 5 000 » 6 000 >> 5 000 >> 5 000 >> 5000 >> 1 5 000 >y —

5 000 6 000

>>



80 000 R M . — —

100 000

>J



80 000 50 000 100 000 80 000 50 000 50 000 80 000

5J >i

» 3) i>

>> >i

Für die Handelsbetriebe besteht nunmehr weitgehende Klarheit über die Zuständigkeit der verschiedenen Organisationen. Doppelmitgliedschaften, insbesondere also mehrfache Beitragszahlungen bei verschiedenen Organisationen sind damit vermieden. Nach einem Abgrenzungsabkommen der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel mit der Reichsgruppe Handwerk vom 3. August 1936 werden Handwerksbetriebe von der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel ebenfalls nur dann erfaßt, wenn ihr jährlicher Einzelhandelsumsatz mehr als 3000 RM. oder mehr als 50% des Gesamtumsatzes beträgt. Die Festlegung davon abweichender Unerheblichkeitsgrenzen bleibt besonderen Branchenvereinbarungen vorbehalten.

B. A R T E N U N D F O R M E N DES H A N D E L S I. D i e

Handelsstufen

Die modernen Handelsunternehmungen weichen in ihrer Struktur vom berufsmäßigen Handel früherer Zeit wesentlich ab. Während noch im 19. Jahrhundert die Handelsunternehmung eines T. O. Schröter in Breslau Funktionen des Ein- und Ausfuhrhandels, des Groß- und Einzelhandels sowie Güter der verschiedensten Wirtschaftszweige in sich vereinigte, außerdem Verkehrs-, Lagerungs-, Kreditfunktionen usw. ausübte, zeigt die Handelsunternehmung späterer Zeit eine hiervon grundsätzlich abweichende Funktionsgruppierung. Von der alten Handelsunternehmung haben sich zunächst die Einzelhandelsfunktionen abgetrennt und in den konzentrierten Verbrauchs17

Probleme des Deutschen

Wirtschaftslebens

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gebieten selbständige Betriebe entstehen lassen. Je weiter die Beziehungen einer Handelsunternehmung in Richtung des Einkaufs, insbesondere der Rohstoffbeschaffung, reichten, desto weniger blieb sie in der Lage, in dem erforderlichen Umfange die Verteilung der Waren an den letzten Verbriiucher selbst zu leisten. Mit der Einbeziehung weiterer Rohstoffgebiete und der industriellen Stufenteilung wurde aber auch die betriebliche Verbindung von Einfuhrhandel, Verbindungshandel zwischen den Produktionsstufen und Absatzhandel an das Detailgeschäft erschwert. So teilte sich im Prinzip die alte Handelsunternehmung stufenmäßig in R o h s t o f f h a n d e l , Produktionsverbindungshandel, Absatzgroßhandel und E i n z e l h a n d e l . Außerdem wurden aber auch mit verbesserter Verkehrstechnik, mit dem Ausbau des Versicherungswesens, des Speditionsgewerbes und des Bankwesens (in allerdings unterschiedlichem Ausmaße) die früher wesenhaft mit dem Handel verbundenen Transport-, Versicherungs-, Lagerungs- und Kreditfunktionen aus der alten Handelsunternehmung ausgesondert und meist verselbständigt, soweit sie nicht auf den Hersteller übergingen. U m den Kern der ureigentlichen Handelsfunktion, nämlich der Einkaufs- und Absatzdisposition, haben sich in den verschiedenen zwischen den einzelnen Produktionsstufen stehenden Handelsbetrieben diese Grenzfunktionen sehr unterschiedlich gruppiert. V o m reinen Spekulativhändler, wie er früher bei fehlender Marktordnung und infolge der Entwicklung vom Loko- zum Lieferungsgeschäft — besonders beim Einfuhrhandel — in Erscheinung trat, bis zum Großdetailbetrieb mit eigenen Produktions-, Bank- und Verkehrseinrichtungen hat die selbständige Handelsunternehmung je nach den besonderen Bedingungen unterschiedliche Funktionskombinationen ausgebildet. Der g e s a m t e H a n d e l s u m s a t z ist für 1933 auf 48—51 Milliarden R M . geschätzt worden. Davon entfielen auf: den Ein- u. Ausfuhrhandel etwa 4 Milliarden R M . „ Rohstoff- u. Halbfabrikathandel . . . . , , 6 „ „ „ Nahrungsmittelgroßhandel „ 10 „ „ „ Fertigfabrikatgroßhandel „ 8 „ „ In der folgenden Darstellung ist der Außenhandel nicht gesondert, sondern je nach seiner Zugehörigkeit zum Rohstoff- oder Fertigwarengroßhandel behandelt. Auch der Großhandel, der die Stufen des Rohstoff-, Verbindungs- und Absatzgroßhandels in sich schließt, tritt aus Gründen der Stoffgliederung hier nicht so deutlich wie im organisa1)

Vgl. Dr. Walter Z i p p e l im Wirtschaftspolitischen Dienst Nr. 27, vom 29. Okto-

ber '934-

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torischen Aufbau der gewerblichen Wirtschaft als geschlossenes Ganzes hervor. II. D e r

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i. Als rohstoffarmes Gebiet mit weitverzweigter Halb- und Fertigwarenerzeugung hat sich in Deutschland ein beruflich selbständiger Einfuhrhandel entwickelt, der sich mit Rücksicht auf die verschiedenen Ursprungsgebiete der Rohstoffe und der durch die Bedürfnisse der "verarbeitenden Industrie erforderlichen Warenkenntnis frühzeitig s p e z i a l i s i e r t hat. Die berufsmäßige Verbindung von Ein- und Ausfuhrhandel hat sich zum erheblichen Teil gelöst, weil mit der Kolonisation der primitive Tauschhandel bald in den Hintergrund trat und der Export deutscher Fertigwaren eine eigene Absatzorganisation erheischte. Heute freilich hat die Außenhandelspolitik der „Welt" den Auslandsabsatz auf die betriebswirtschaftlichen Stufen früherer J a h r hunderte zurückgeworfen. Die Besonderheiten der ü b e r s e e i s c h e n R o h s t o f f g e b i e t e haben den stofflich gegliederten Einfuhrhandel bis zur Exklusivität sich ausbilden lassen. Wollhandel, Baumwollhandel, Häute- und Fellhandel, Metallhandel, Lebensmittelhandel usw. gewannen aus diesen Gründen ihre eigene Berufsbasis als Importhandelszweige. Die Überseeländer haben demgegenüber selbst große Exporthandelsunternehmungen aufgebaut, die in vielen Fällen sogar zu Rohstoffmonopolen geführt haben. Ähnlich wie in anderen europäischen Einfuhrländern hat auch der deutsche Kaufmann als Importeur seinen Arm meist nicht über den überseeischen Ausfuhrhafen hinaus ins überseeische Binnenland gestreckt, wohl aber sich finanziell beteiligt. Die Monokultur vieler Überseegebiete hat den staatlichen Eingriff in Krisenzeiten bedingt (Valorisationen) und vielfach dem europäischen Importhandel Lieferungsmonopole gegenübergestellt. Ausnahmen bestehen für deutsche Häuser mit besonderen Beziehungen zu überseeischen Produzenten und ihren Exportvertretern. J e nach der Dringlichkeit des Rohstoffangebotes oder der -nachfrage haben sich die S t a n d o r t e d e r R o h s t o f f w e l t m ä r k t e bestimmt; dadurch sind auch die Dispositionen der beteiligten Übersee-Exporteure und europäischen Importeure teils in den Ausfuhr-, teils in den Einfuhrhafen gedrängt worden. Die deutschen Einfuhrhäfen Hamburg und Bremen haben vor dem Kriege z. B. für Kaffee und Baumwolle eine wichtige Weltmarktstellung eingenommen, obwohl infolge der kapitalund umsatzmäßig stärkeren Stellung Englands die p r e i s b e s t i m m e n d e n Weltmärkte überwiegend im Bereich des englischen Imperiums "17*

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lagen. Nach dem Kriege ging diese Stellung deutscher Häfen verloren. Der deutsche Importhandel hat sich mit Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse der deutschen verarbeitenden Industrie schon vor 1914 stark nach dem V e r b r a u c h h i n o r i e n t i e r t und in großem Umfang für die Industrie die Funktion der Aussortierung der Rohstoffe übernommen. Die starken Ernteschwankungen in Menge und Qualität haben in verschiedenem Maße bei den einzelnen Einfuhrzweigen teils zu Abzweigungen, teils aber auch zu handelsbetrieblichen Vereinigungen der Funktionen geführt. So hat sich in den Einfuhrhäfen einerseits eine sehr spezialisierte Hafenindustrie entwickelt, die die Lagerungsund Konservierungsfunktionen als Hilfsgewerbe spezialisiert hat, andererseits hat aber auch der berufsmäßige Einfuhrhandel Sortierungsund Kreditfunktionen ausgebildet, die der verarbeitenden Industrie eine gleichbleibende Rohstoff lieferung bieten konnten. 2. Die g r o ß b e t r i e b l i c h e Entwicklung vieler rohstoffverarbeitender Industrien Deutschlands hat in wachsendem Maße den Direkteinkauf gefördert und Einkaufsfunktionen des berufsmäßigen Importhandels in die Wirtschaftssphäre der Industrie überführt. Besonders für die Rohstoffe der E i s e n i n d u s t r i e als eine bis ans Bezugsmonopol heranreichende Industriegruppe ist der selbständige Importhändler schon früh ausgeschaltet worden. Die deutsche M o n t a n i n d u s t r i e , die bereits vor dem Kriege nach Abschluß der ersten großen Kartellepoche zum vertikalen Aufbau überging und sich vor allem die Kohlengruben angliederte, hat daneben die inländischen Produktionsstätten des zweiten für die Eisenerzeugung wichtigen Rohstoffes, des E r z e s , sich gesichert. Nach den Darlegungen von Dr. Wendelin Hecht 1 ) konnte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem selbständigen Erzbergbau überhaupt nicht mehr gesprochen werden. Die Einfuhr ausländischer und der Einkauf inländischer Erze schlössen also den berufsmäßigen Handel aus. Die Gründe hierfür lagen auch in der naturgegebenen Tatsache, daß die zur Lieferung der inländischen Erze in Betracht kommenden Gruben den Eisenhütten bekannt, also die typischen Handelsfunktionen der Sortierung und des Saisonausgleichs hier überflüssig waren. Ähnliche Beziehungen entwickelten sich zwischen der Montanindustrie und dem Steinkohlenbergbau des Ruhrgebietes. Der Kohlenhandel behielt aber seine Bedeutung für die E i n f u h r von Industriekohle.. Im oberschlesischen Bergbau ist der Handel im Unterschied von Westfalen als Begründer und Träger der bergbaulichen Gewinnung hervorgetreten. Die Braunkohle, die im Dr. W. Hecht: „Organisationsformen der deutschen Rohstoffindustrie, die Kohle" 1924, S. 14.

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Gegensatz zur Steinkohle zunächst keinem so konzentrierten Bedarfsträger, wie die Eisenindustrie es ist, gegenüberstand, ist dagegen in viel stärkerem Maße Objekt eines berufsmäßigen Handels geblieben. Schon die Kartellbildungen der Braunkohlenproduktion waren viel schwieriger durchführbar und wurden weit mehr von der Handels- als der Produktionsstufe bestimmt. Der Kohlenhandel hat im mitteldeutschen und ostelbischen Braunkohlenbergbau starken Anteil an der Ausbreitung der Produktion gehabt. Auch die Brikettierung der Rohbraunkohle als Zweig der technischen Weiterverarbeitung ist von Unternehmungen des Kohlenhandels vorgenommen worden. Durch diese Verbindung von Produktions- und Handelsfunktion, sowie durch den bis in die einzelnen Haushaltungen hinein verzweigten Absatzmarkt der Braunkohle hat hier der Handel eine wirtschaftliche Machtposition gewonnen, die ihn selbst in starkem Maße zum Träger vertikaler Konzentrationstendenzen gemacht hat. Auf keinem anderen Gebiete industrieller Rohstoffe haben sich ähnliche entgegengesetzte Ausschaltungstendenzen ergeben. Zwar ist auch beim Bezug der unedlen Metalle wie K u p f e r , Z i n n , Z i n k , B l e i , A l u m i n i u m usw. der berufsmäßige Handel infolge Monopolisierung des aus- und inländischen Angebotes sowie einer teilweisen Konzentration auf der Bedarfsseite zurückgedrängt worden, jedoch konnte hier weder von den Lieferanten noch Abnehmern der Handelsweg auf dem „Weltmarkt" in ähnlicher Weise wie bei Kohle und Erz umgangen werden. I m Bezug von ausländischen M i n e r a l ö l e n , die mangels eigener Rohstoffquellen einen hervorragenden Anteil an der deutschen Versorgung ausmachen, ist der berufsmäßige Einfuhrhandel mit dem Ausbau der Absatzorganisation seitens der ausländischen Monopollieferanten ebenfalls weitgehend ausgeschaltet und stark in die Sphäre des binnenländischen Absatzgroßhandels zurückgedrängt worden, wo er durch die Verteilungsstellennetze der Produzenten bis zur letzten Tankstelle hin ebenfalls einer ihm inzwischen über den Kopf gewachsenen Absatzkonkurrenz der Erzeuger gegenübersteht. Auf dem Gebiete der T e x t i l r o h s t o f f e , die in der deutschen Einfuhr wertmäßig den ersten Platz einnehmen, hat dagegen der berufsmäßige Handel eine wesentlich größere Bedeutung gehabt und zum Teil auch behalten. Wenn auch Wolle, Baumwolle, Rohseide usw. durch großbetriebliche Farmen und überseeische Handelsorganisationen im Angebot konzentriert worden sind, so erzwangen doch die Unterschiede der Qualitäten und Erntemengen sowie die Zersplitterung der Nachfrage seitens der Textilfabriken, also eine wechselvolle Vielgestal-

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tigkeit sowohl auf Seiten des Angebots wie der Nachfrage eine berufsmäßige deutsche Handelsorganisation, die in vielen Fällen nicht auf eine einzige Handelsstufe — etwa ein deutsches Importhaus — beschränkt werden konnte. J e nach überwiegender Dringlichkeit von Absatz oder Bedarfsdeckung sowie je nach den Anteilen der einzelnen Rohstoifgebiete an der Welterzeugung oder auch nach der Bedeutung konsumnaher Einfuhrhäfen für die Bedürfnisse der verarbeitenden Industrien bildeten sich die Standorte der Weltmärkte verschieden aus. Der große Anteil Australiens und Südafrikas an der Weltwollerzeugung und -bedarfsdeckung bewirkten ein Vordringen europäischer Importhändler bis an die ersten Sammelplätze der Rohwolle in Sidney, Melbourne und Kapstadt, wo im Wege der Versteigerung die erste Stufe der Wollverteilung entstand. I n ähnlicher Weise bildete z. B. auch Riga einen Weltholzmarkt. J e dringlicher bzw. spezieller die Nachfrage wurde, desto mehr haben sich auch in qualitativ wichtigen Anbaugebieten mit kleinerem Anteil an der Welterzeugung solche Märkte gebildet. Aber auch die k o n s u m n a h e n W e l t m ä r k t e in den europäischen Einfuhrhäfen haben die Dispositionen über die Verteilung der Welterzeugung konzentriert. Die Weiterentwicklung der Handelsformen, namentlich vom Lokohandel zum Lieferungshandel hat die Bedeutung des konsumnahen Weltmarktes wesentlich gefördert. Der überseeische Exporthändler sammelt mit Hilfe von Aufkäufern ganze Schiffsladungen des gleichen Rohstoffes und sendet sie dem Importeur des Einfuhrhafens in Konsignation. Die stoßweisen Anfälle der Rohprodukte mußten mit Rücksicht auf den gleichmäßigen Mengenbedarf der verarbeitenden Industrie in der Spekulation ihren Ausgleich finden, der allerdings in der freien Marktwirtschaft zu zum Teil großen Mißständen geführt hat; denn schon bei unwesentlicher Verringerung des Angebots konnte durch die Haussespekulation der Rohstoffpreis ebenso sinnlos hinaufgetrieben werden, wie er umgekehrt bereits bei geringfügigem Überangebot durch die Baissespekulation unter das Normalniveau heruntergedrückt wurde. Die Qualitätsunterschiede in der Erzeugung und die Bedarfsanforderungen nach gleichbleibenden Qualitäten nötigten die Träger des Handels zu einer sorgfältigen, den Kundenwünschen entsprechenden Materialsortierung, die eine große Warenkenntnis voraussetzte und viele Zweige des Rohstoffhandeis zu sehr exklusiven Berufszweigen gestaltete. Die Trennung zwischen Rohstofferzeugung in Übersee und R o h stoffverarbeitung im Einfuhrlande führte zur Zwischenschaltung einer oder mehrerer Handelsstufen, die sich je nach Art und Herkunft der

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einzelnen Rohstoffe recht unterschiedlich gestaltete. Alle organischen Rohstoffe, deren Anfall ihrer Natur nach sich auf bestimmte Jahreszeiten konzentriert und die in sehr vielen Einzelbetrieben gewonnen werden, setzen naturgemäß eine viel weitverzweigtere Aufkauforganisation und andere Marktdispositionen voraus als anorganische Stoffe, die in großen Erzeugungsstätten das ganze J a h r über gleichmäßig anfallen. Im Fell- und Häutehandel z. B. sind bereits dem überseeischen Exporteur selbständige Aufkäufer vorgeordnet, die allerdings vielfach vom Exporteur finanziert werden und dementsprechend eine angestelltenähnliche Stellung zu ihm einnehmen. Die Finanzierung der weiteren Warenvermittlung zum Verarbeiter hin liegt dann meist beim Importeur des Verarbeitungslandes, der handelsnahe Manipulierungsfunktionen an mehr oder weniger selbständige Hilfsgewerbe des Handels abgegeben hat. Namentlich die L a g e r f u n k t i o n ist meist auf große Speditions- und Lagerhausunternehmen übergegangen, weil sich dabei eine wesentlich wirtschaftlichere Ausnutzung des kapitalintensiven Lagerhauses ergab. Mit dieser Verselbständigung der Lagerhaltung im Bereich des Importhandels war auch eine Verlagerung der K r e d i t f u n k t i o n verbunden; denn der Lagerschein (Warrant) ermöglichte auch kapitalärmeren Händlern mit Hilfe von kurzfristigem Bankkredit das Massengeschäft im Rohstoffhandel. Eine allgemeine Tendenz der stufenmäßigen Aufteilung der unmittelbaren und mittelbaren Handelsfunktionen ist beim Importhandel nicht zu erkennen. Wohl stehen als die selbständigen Träger der Marktdispositionen gerade im Textilrohstoffhandel die Importeure im Vordergrund, aber je nach der finanziellen Stärke von überseeischem Erzeuger und inländischem Verarbeiter ist im Bereich des Importhandels eine Einschränkung selbständiger Marktdispositionen festzustellen. Makler, Cifagenten, angestellte Rohstoffeinkäufer der verarbeitenden Industrie zeigen an, daß die beim selbständigen Importhandel sich vereinigenden Funktionen sich mehr und mehr auf Erzeuger oder Verarbeiter verlagern und der Handel selbst zu einer Art Lohngewerbe wird, dessen Leistung nicht mehr im bisherigen Maße durch die selbständig kalkulierte Preisspanne, sondern durch einen festen Provisionssatz abgegolten wird. Die Konzentration der von allen handelsverwandten Funktionen befreiten Maklervermittlung gibt zwar diesen Maklern eine außerordentlich starke Marktstellung, deutet aber darauf hin, daß die „Kommerzialisierung" von Erzeugern und V e r a r b e i t e r n die Selbständigkeit der Handelsfunktionen eingeschränkt und die vordem deutlichen Grenzen zwischen Erzeugung, Handel und Weiterverarbeitung verwischt hat. Namentlich die großen

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Spinnereien, die bereits durch Betriebsvereinigung mit der folgenden Stufe der Weberei den hier vorhandenen Verbindungshandel für sich ausschalteten, sind teils mit angestellten Kräften auf dem zentralen Rohstoffmarkt aufgetreten oder haben sogar durch den Cifagenten eine unmittelbare Beziehung zum überseeischen Ablader geschaffen. 3. Diese Vorzeichen einer vertikalen Funktionsumschichtung sind durch die zwangsläufige R o h s t o f f b e w i r t s c h a f t u n g seit der p o l i tischen U m w ä l z u n g weiter verstärkt worden. Im Gefolge der Devisenbewirtschaftung, des neuen Planes und der Regelung durch das Spinnstoffgesetz hat der Importhandel seine selbständigen Dispositionsmöglichkeiten auf dem Weltmarkt weitgehend eingebüßt. Die N e b e n e i n a n d e r s c h i c h t u n g der „ W e l t m ä r k t e " hebt die Wirkung der Preisfunktion in hohem Maße auf. Kontingents- und Verrechnungsabkommen legen von vornherein einen bestimmten Rohstofflieferungsbereich fest. Einkaufsgenehmigungen werden durch die zuständigen Stellen nicht nach Maßgabe des billigsten Rohstofflieferanten, sondern des besten Kunden deutscher Fertigware erteilt. Der durch das Clearingverfahren bedingte Veredelungsverkehr leistet dem Direktbezug von ausländischen Rohstofflieferanten durch deutsche Verarbeiter Vorschub, weil sich auch mit Rücksicht auf den Identitätsnachweis bei den Außenhandelsstellen der Umweg über RohstofFEinfuhrhandel und Fertigwaren-Ausfuhrhandel — zum mindesten verwaltungsmäßig — nicht mehr als zweckmäßig erweist. Ausnahmen bestehen natürlich für Handelsfirmen mit besonderer Anpassung an die Bedürfnisse der inländischen Verarbeiter und der Rohstoffländer. Hinzu kommt, daß zum mindesten zeitweise bei der Textilwirtschaft eine Umlagerung von überseeischen Textilrohstoffen zu H a l b f a b r i k a t e n aus benachbarten Industrieländern notwendig wurde, weil diese industriellen Nachbarländer bessere Kunden für Deutschlands Exportware sind als die überseeischen Rohstoffgebiete und der Handelsverkehr mit räumlich näher gelegenen Industrieländern nach seiner Natur und seinen Aufgaben mehr auf direktem Warenverkehr beruht. Einen wesentlichen Einfluß auf den Importhandel hat j a schon der Rückgang des Textilrohstoffimports bewirkt, dessen Wiederanstieg in der letzten Zeit infolge des neuen Planes mehr in der Form des Direktimports erfolgt. Eine Steigerung der Handelsaufgaben ist dagegen durch die V e r b r e i t e r u n g der e i g e n e n T e x t i l r o h s t o f f b a s i s entstanden, die sowohl durch bessere Ausnutzung von Altmaterial (Kunst- und Reiswolle) als auch durch Steigerung inländischer Neuerzeugung (besonders Wolle und Kunstseide) erstrebt wird. Der Sturz der Weltmarktpreise für Textilrohstoffe in der Krise hatte die A l t -

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materialVerwertung fast völlig unrentabel gemacht. Mit der Einschränkung der Einfuhr hat aber der L u m p e n h a n d e l noch weit mehr als der Schrotthandel an Bedeutung wieder zugenommen. Das gesteigerte Maß der Materialvermischung in der Fertigwarenerzeugung hat die Wiedernutzbarmachung von Altmaterial gegenüber früher sehr kompliziert. Die weitgehende Stufenteilung im Lumpenhandel ist in erster Linie das Ergebnis der hierdurch bedingten vielgestaltigen Altmaterialsortierung. Es bestehen je nach dem Grade der qualitativen Vermischung des Altmaterialanfalles einerseits und dem Spezialrohstoffbedarf der verarbeitenden Industrien andererseits vier bis sechs Stufen der Altmaterialzuführung zu den Stätten der Wiederverarbeitung. Die Haushaltungen als Kleinanfallstellen werden von Sammlern bearbeitet, die ihrerseits vom sog. Rohprodukten-Kleinhandel finanziert "werden. Dieser Kleinhandel nimmt bereits eine Vorsortierung vor und verkauft auf eigene Rechnung an den Mittelhandel, der bereits handelsübliche Qualitäten aussortiert und das Altmaterial an den nach Art und Qualität spezialisierten Großhandel weiterleitet. Die weiteren Stufen •des Altmaterialhandels sind dann meist mit besonderen Sortier- und Zerreißanstalten verbunden; in manchen Fällen sind ihnen auch schon Verarbeitungsbetriebe, wie z. B. Papp- und Kartonfabriken, angegliedert. Weniger im Lumpenhandel als in anderen Zweigen der Altmaterialverwertung steht der Altmaterialhandel auch mit dem Neumaterialhandel in enger Verbindung (z. B. Flaschenhandel). In welchem Ausmaße der Altmaterialhandel auf den Rohstoffhandel einwirkt, läßt sich zur Zeit noch nicht angeben, besonders da die Altmaterialbeschaffung erst seit kurzem wieder im Aufbau begriffen ist. 4. Neben der Einfuhr von Rohstoffen, insbesondere Textilrohstoffen, hat im deutschen Außenhandel ständig die N a h r u n g s - und G e n u ß m i t t e l e i n f u h r die wichtigste Rolle gespielt. Hier haben sich je nach Art der Erzeugnisse und ihrer Produktions- und Verbrauchsbedingungen die strukturell wohl verschiedensten Absatzwege entwickelt. Die typischen Kolonialwaren, die schon von jeher Welthandelsartikel darstellten und wegen ihres kleinbetrieblichen Ursprungs sowie ihres weitverzweigten Kleinabsatzes an die Haushaltungen einen vielstufigen Handelsweg durchlaufen müssen, haben in erster Linie zur Ausbildung eines selbständigen Importhandels beigetragen. Nachdem — in den Anbauländern angeregt durch die großen europäischen Handelskompanien — das Handelskapital in starkem Maße zur großbetrieblichen Gestaltung der Erzeugung beigetragen hat, sind die Kolonialwaren wie Kaffee, Reis, Zucker, Tabak, Tee, Kakao usw. dispositiv von den e u r o p ä -

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i s c h e n V e r b r a u c h s g e b i e t e n aus gelenkt worden. Die Einfuhrhändler haben daher auch hier eine besonders starke Berufsstellung eingenommen. Die weitgehende Abhängigkeit der einzelnen überseeischen Erzeugergebiete von wenigen Warengattungen hat die staatlichen Eingriffe in Form der Valorisationen, der Nirapolitik der U S A usw. notwendig gemacht. Bei den außerordentlich großen Ernteschwankungen mußte hier auch der Spekulativhandel ein besonders günstiges Betätigungsfeld finden. Die wachsenden Verbrauchsansprüche der Industriebevölkerung haben den Kolonialwaren einen immer größeren Markt erschlossen, der sich jedoch bei einsetzenden Krisen leicht sehr verengte, besonders da es sich großenteils um nicht unbedingt existenznotwendige Produkte oder um Konkurrenzprodukte für inländische Erzeugnisse (Zucker, Kaifee usw.) handelt. Im allgemeinen ist für die Mehrzahl der Kolonialwaren der europäische Markt mit seinen Nachfragefaktoren maßgebend geblieben. In einigen Fällen allerdings, wie z. B. im Bananenhandel, aber auch im Gefrierfleischhandel haben sich die preis- und marktbestimmenden Faktoren nach der Seite der Erzeugung verlagert. Der Absatz der Banane reicht im geschlossenen Warenweg teilweise über den binnenländischen Absatzgroßhandel hinaus, Die überseeische Produktionssteigerung auch existenznotwendiger Nahrungsmittel wie Fleisch und Brotgetreide, teilweise im Ausmaß wilden Raubbaues, hat im liberalistischen Zeitalter die Agrarbasis der europäischen Industrieländer so ernstlich bedroht, daß die Importländer der nach ökonomischen Gesetzen unvermeidlich wachsenden Abhängigkeit der Nationalwirtschaft vom überseeischen Brotkorb nicht untätig zusehen konnten. Ernteschwankungen und Handelsspekulationen standen meist so stark im Mißverhältnis zu den Produktionskosten selbst der günstigst arbeitenden Betriebe und trugen gerade in die einst am meisten bedarfswirtschaftlich orientierte Agrarwirtschaft die schwersten Auswüchse kapitalistischer Marktwirtschaft hinein. Hier mußte daher die Freiheit des Handels besonders stark „planwirtschaftlich" gezügelt werden. Schon die Bismarcksche Zollpolitik hatte den Einfluß der überseeischen Neuproduktion von Agrarerzeugnissen auf den deutschen Markt eingeschränkt. Die aus Interessen der deutschen Exportindustrie mit Hilfe niedriger Weltagrarpreise erstrebte Verbilligung der Lebensmittelversorgung drohte aber die deutsche Ernährungsbasis wieder zu gefährden. Der bekannte Bülowtarif von 1902 zeitigte dann ein unzulängliches Kompromiß. Auch die Agrarund Außenhandelspolitik der Nachkriegszeit konnte die deutsche Lebensmittelversorgung nicht von den Schwankungen des Weltmarktes.

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befreien. Hier mußte daher der Nationalsozialismus neue Wege gehen und einen tiefreichenden Eingriff in den Marktmechanismus vornehmen. Die Marktregelung des Reichsnährstandes weist zwar noch einige Unebenheiten auf, schützt aber den Handel weit mehr vor Ausschaltungsbestrebungen, als dies im gewerblichen Bereich der Fall ist. 5. Mit dem Aufbau des R e i c h s n ä h r s t a n d e s , der durch Organisation der neuen Hauptvereinigungen für Milch, Getreide, Vieh, Eier, Zucker, Kartoffeln, Obst und Gemüse, Fische und Brauereierzeugnisse den inländischen Nahrungsmittelhandel und durch Schaffung der sog. Reichsstellen für Öle und Fette, Eier, Getreide und Vieh den Einfuhrhandel auf ganz neue Grundlagen stellte, sind dem berufsmäßigen Handel als Zwischenglieder der verschiedenen Erzeugerstufen konkrete Sachfunktionen zugewiesen, die allerdings eine Markt- und Preisdisposition auf dem Nahrungsmittelmarkt im früheren Umfange nicht mehr ermöglichen. Da jede Einfuhr nicht nur Devisenbedarf schafft, sondern auch zur agrar- und volkswirtschaftlichen Existenzsicherung von den Reichsstellen zu kontrollieren und zu überwachen ist, kann eine freie Markt- und Preisgestaltung dem Handel nicht mehr obliegen. Die Eindämmung des Terminhandels wie auch des effektiven Einfuhrhandels überhaupt mußte natürlich den Kreis der Importhändler stark zusammenschrumpfen lassen. Das Genehmigungsrecht der Reichsstellen, die die noch einfuhrnötigen Nahrungsmittelmengen mit Rücksicht auf Kompensations- und Verrechnungsabkommen nicht vom billigsten Lieferanten, sondern aus dem Gebiete deutscher Exportkunden kaufen lassen müssen, schließt auch ein Vorkaufs- und gleichzeitig Rückverkaufsrecht, also ein Einfuhrmonopol, ein, womit die Lücken der Zollvereinbarungen geschlossen werden müssen. Die Verlagerung der Nahrungsmitteleinfuhr von den billigsten Lieferanten zu den besten Kunden im deutschen Außenhandel hat allerdings auch eine wesentliche Einschränkung des früher vom Importhandel gepflegten T r a n s i t g e s c h ä f t s zur Folge gehabt. Der deutsche Transithandel trat vor allem für nord- und südosteuropäische Kleinstaaten als Zwischenhändler auf, weil in bestimmten Überseewaren der Bedarf dieser Länder im Verhältnis zu den auf den Weltmärkten gehandelten Mengen zu klein war und deshalb der Transithändler sich als eine Art Sortimentsgrossist lagerhaltend dazwischenschalten mußte. Mit der Industrialisierungstendenz auch in diesen europäischen Kleinstaaten ist ein Teil dieses Bedarfs weggefallen, zum anderen Teil sind diese Länder zum Direktbezug von Übersee übergegangen, was durch die Absatznot der Überseeländer und durch die bereits erwähnte Dezentra-

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lisierung der Weltmärkte begünstigt worden ist. Teilweise hat sich sogar der Transithandel in andere europäische Länder verlagert, so daß Deutschland infolge des verstärkten Bezuges von Rohstoffen und Nahrungsmitteln aus europäischen Ländern Kunde fremder, z. B. holländischer, Transithändler geworden ist 1 ). Beim Absatz der i n l ä n d i s c h e n A g r a r e r z e u g n i s s e , z. B. des Getreides, ist der Handel nicht ausgeschaltet, im Gegenteil ist der Mühlendirekteinkauf ab Erzeuger nur Kleinmühlen mit einer Gesamtleistung von io t täglich gestattet. Auch zwischen den festgesetzten Erzeugerabgabepreisen und den Mühleneinkaufspreisen ist eine elastische Preisspanne gelassen, weil der Handel den Ausgleich zwischen den inländischen Getreideüberschuß- und Zuschußgebieten bewerkstelligen muß. Bei einer Reihe von anderen Agrarerzeugnissen, insbesondere auch Getreidenebenprodukten, sind dagegen keine Preisbindungen erfolgt, so daß hier der Handel noch weitergehende Bewegungsfreiheit hat. Mit Rücksicht darauf, daß der Brotgetreidebedarf eine gewisse Starrheit besitzt, also keinen großen Schwankungen unterliegt — er beträgt ungefähr 9 Millionen t, wovon etwa 2 Millionen t auf den Eigenverbrauch der Erzeuger entfallen — , konnte für die Mühlenbetriebe eine Kontingentierung der zu verarbeitenden Menge vorgenommen werden. Zwar übersteigt die Kapazität der deutschen Mühlen infolge eines großen Mehlveredelungsveikehrs die Angebote aus binnenländischer Erzeugung; den Mühlen ist jedoch durch die Ablieferungspflicht der Getreideerzeuger eine bestimmte Beschäftigung gesichert. Eine ähnlich weitreichende Absatzregelung ist auch in der Milchwirtschaft getroffen worden, bei der ebenfalls der Handel zwischen Händlereinkaufspreisen und Abgabepreisen fest eingeklemmt, aber durch die Zurückdrängung der sog. Selbstmarkter weitgehend in den Verteilungsapparat eingeschaltet ist. Auch bei Buttererzeugung und -handel ist eine Kontingentierung erfolgt. Die zur Buttererzeugung dienende Werkmilch hat natürlich einen niedrigeren Preis als die Frischmilch. Zur Unterstützung erhalten die Erzeuger Ausgleichsbeträge, die die Molkereien für jeden abgegebenen Liter Werkmilch in Höhe von 2 Pfg. zu zahlen haben. Auch Margarineerzeugung und -absatz sind in ähnlicher Weise geregelt. In der Fleischversorgung sind ebenfalls Kontingentierungen eingeführt, die praktisch in Zusammenarbeit von Fleischergewerbe und der Bauernführung des Reichsnährstandes gehandhabt werden. Fleischereien und Schlachtviehhandels1)

Dr. Werner Danker: Hamburg als Transitplatz.

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betriebe sind genehmigungspflichtig, so daß einer Übersetzung des Verarbeitungs- und Vertriebsapparates vorgebeugt ist. Für die einzelnen Stufen sind Fest- bzw. Höchstpreise vorgesehen, die zusammen mit der Kontingentierung des Fleischanfalles eine übermäßige Marktbeunruhigung ausschließen. Die Gefahr, daß die Marktordnung des Reichsnährstandes zu starr und mechanisch gehandhabt werden könnte, ist zwar des öfteren akut geworden. Eine stärkere Anpassung an das Preisgefälle durch das System der Zu- und Abschläge sowie durch die verschiedenen Ausgleichsabgaben muß den Verschiedenheiten der einzelnen Verbrauchsgebiete in steigendem Maße Rechnung tragen. Die Schwierigkeiten, die sich aus der Uneinheitlichkeit der Verbrauchsgebiete für die Versorgung des Einzelhandels dadurch ergeben, daß bei zentral geleiteter Verteilung in einzelnen Reichsgebieten sog. „tote Winkel" entstehen, weil die vorgeschriebenen Preise die Vertriebskosten nicht decken, werden noch bei Behandlung des Absatzgroßhandels zu erwähnen sein. Der Handel selbst ist im R a h m e n der Nahrungsmittelversorgung zwar grundsätzlich in die Absatzorganisation eingeschaltet, die Beschränkung seiner Marktfunktion auf diejenigen Preisausgleichungen, die sich aus den vom Reichsnährstand zeitlich und bezirklich verschieden festgesetzten Erzeugerpreisen ergeben, ist aber auf die Dauer vielleicht zu weitgehend, weil eine so schematisch vereinfachte Marktfunktion der Mannigfaltigkeit der Verbrauchsgebiete nicht gerecht wird und besonders an den Grenzen der Preisbezirke der Berufshandel einem Direktabsatz der Bauern begegnet. III. D e r P r o d u k t i o n s v e r b i n d u n g s h a n d e l i. Die reichhaltige Stufenteilung in der weiterverarbeitenden Industrie hat an verschiedenen Stellen die Eingliederung von Handelsunternehmungen gefördert, die in sehr verschiedenem Ausmaße Lagerungs-, Sortierungs-, Absatz- und Kreditfunktionen für die beteiligten Industrien übernommen haben. Eine starre Abgrenzung dieses Verbindungshandels vom Rohstoffhandel einerseits und vom Absatzgroßhandel auf der anderen Seite ist natürlich nicht möglich, da die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten der Stoffe und ihre Weiterverarbeitung als Haupt- oder Nebenerzeugnisse auf sehr unterschiedlichen, teils der Rohstoiferzeugung, teils dem Verbrauch nahestehenden Produktionsstufen liegen. Seinem Wesen nach ist der Produktionsverbindungshandel ein Handel zwischen Rohstoff- und Halbfabrikatherstellung einerseits und weiterverarbeitenden Industrien andererseits. Er bezieht also Halb-

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fabrikate oder komplementär bedingte Teilfabrikate, nimmt den Lieferanten zur Herbeiführung gleichmäßiger Produktion die Lagerhaltung ab, hält damit für die Weiterverarbeiter die Materialien auf Abruf bereit, stellt ihnen ein gewisses marktgängiges Sortiment zur Verfügung, das ihnen einen Uberblick über die gleichen Erzeugnisse der verschiedenen Hersteller bietet und überbrückt schließlich mit seinem Kapital die Zeitspanne, die zwischen den Kostenaufwänden der RohstofFerzeugung und dem Inkasso beim Weiterverarbeiter besteht 1 ). 2. Diese Funktionen erweisen sich jedoch in vielen Fällen nicht als ausreichend zur Entstehung eines selbständigen, die Produktionsstufen verbindenden Handelsgliedes. In der Mehrzahl der Fälle stehen vielmehr infolge der Übersichtlichkeit der Absatz- und der Bezugsgebiete die aufeinanderfolgenden Produktionsstufen in unmittelbarer Verbindung. In vielen Zweigen besteht zum mindesten ein System von F a b r i k v e r t r e t u n g e n der Lieferindustrie, die entweder durch ständige Reisende oder sogar über Vertreterläger an den wichtigsten Orten der vielfach lokal stark konzentrierten Fertigwarenindustrie die erforderlichen Materialien bereitstellt. So werden — um nur ein Beispiel zu nennen — die von der Lederwaren- und Portefeuille-Industrie benötigten Ausstattungsmaterialien wie Schildpatt, Perlmutter, Bürsten, Gläser, Spiegel usw. in der Regel durch Vertreter der L i e f e r f i r m e n , die am Sitz der Produktion Läger unterhalten, geliefert. Zum erheblichen Teil gelangen Halbfabrikate auch auf Grund d i r e k t e r A u f t r ä g e d e r v e r a r b e i t e n d e n I n d u s t r i e an ihren Bestimmungsort. Insbesondere da, wo individuelle Anforderungen der Verarbeiter überhaupt nur eine Auftragsproduktion entstehen lassen, erfolgt die Überführung der Erzeugnisse von der einen zur anderen Produktionsstufe im Wege des Direktbezuges. Nur dort, wo die industrielle Vorstufe sog. Handelsfabrikate oder -halbfabrikate erzeugt, die also gleichmäßig in vielen Betrieben der nachfolgenden Stufe verwendet werden können (z. B. in der Schrauben-, Maschinen-, Werkzeugindustrie usw.), kann der Produktionsverbindungshandel einen Platz behaupten, besonders wenn auch der Kreis der Bezieher und Lieferanten räumlich sehr zerstreut liegt, einer besonderen Werbung bedarf und kreditbedürftig ist. Reicht der Halbfabrikatbedarf einer Einzelunternehmung an die P r o d u k t i o n s k a p a z i t ä t einer Erzeugerstätte der Vorstufe heran, so wird ein Verbindungshandel gar nicht erst entstehen. Es ist dann sogar eine Kombination der getrennten Produktionsstufen wahrscheinVgl. auch Anmerkung i auf Seite 273.

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lieh. In fast allen Zweigen der verarbeitenden Industrie stellen daher die größeren Unternehmungen E r z e u g n i s s e d e r V o r s t u f e s e l b e r h e r , die die kleineren Unternehmungen von dieser direkt oder vom Verbindungshandel kaufen müssen. So decken z. B. große Klavierund Uhrenfabriken ihren Holzbedarf aus eigenen Sägewerken, ein Verfahren, das jedoch nach Aussagen vor dem Enqueteausschuß nicht sehr hoch eingeschätzt wird, weil der Bedarf einer Uhrenfabrik nur in Ausnahmefällen dem Sägewerk eine ausreichende Beschäftigung sichert. Uhrfedern und Spezialmaschinen der Uhrenindustrie werden nur von einer einzigen Uhrengroßfabrik in Deutschland selbst hergestellt, im übrigen dagegen von sog. Bestandteilindustrien oder von Spezialmaschinenfabriken bezogen. In der Edelmetall- und Schmuckwarenindustrie haben die größeren Firmen vor dem Kriege Dublee fertig und unmittelbar bezogen, stellen es aber heute nach weiterer Vergrößerung der Betriebe meist selbst her. Die sog. Bestandteilindustrie in der Uhren- und Instrumentenherstellung ist in der Inflationszeit durch Selbsterzeugung der großen Montagefabriken sehr bedroht worden. Sie stellen heute gegenüber früher auch einen wesentlich größeren Teil der Bestandteile selbst her; jedoch hat sich herausgestellt, daß eine Reihe genormter Bestandteile rationeller von spezialisierten Bestandteilfabriken hergestellt werden können. Mit diesen Bestandteilfabriken, die einer Aufsaugung durch die großen Uhrenfabriken gegebenenfalls mittels Schaffung eigener Spezialuhrenfabriken begegnen können, stehen auch die größeren Uhrenfabriken in direkter Lieferbeziehung. Selbst der gleichartige Messingbedarf der Uhrenindustrie wird fast ausschließlich durch Direktbezug gedeckt. Auch sonstige Materialien wie: Bandeisen, Eisenguß, Zinkblech, Edelstahl usw. werden von den Klavierfabriken a b Werk bezogen, wobei wohl auch die straffe Kartellierung der hier in Frage kommenden Halbzeugindustrien entscheidend ist. Die Produktionsstätten für Großmusikinstrumente, die ebenfalls den Charakter von Montageplätzen haben, stehen selbständigen Bestandteilindustrien gegenüber, z. B. der Pianomechanikindustrie, der Klaviaturenindustrie, der Pianoplattengießerei, die einen Verbindungshandel nicht benötigen. I n der Margarineherstellung haben — um ein weiteres Beispiel zu nennen — nur die großen Konzernfabriken eigene Ölmühlen, während die freien Fabriken veredelte Ölerzeugnisse von deutschen oder ausländischen Fabriken direkt beziehen. Der Direktbezug zwischen den verarbeitenden Produktionsstufen ist bei der Spezialfabrikation mit ihren besonderen individuellen Bedarfsanforderungen vielleicht überhaupt vorherrschend. I n gewissen Bereichen, in denen die Großbetriebe nicht zur Selbstherstellung der

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Carl Liier

Vorfabrikate übergehen, wohl aber direkt beziehen, muß für die kleineren Betriebe ein selbständiger Produktionsverbindungshandel vorhanden sein. In der Edelmetall- und Schmuckwarenindustrie z. B. kaufen die größeren Betriebe — wenn nicht auf den großen Edelmetallmärkten von Antwerpen und Amsterdam — von den industriellen Vorstufen, die kleineren Betriebe dagegen von Platzhändlern. Letztere nehmen auch Lohnaufträge vom Einzelhandel, der damit zum Verleger der Kleinbetriebe der Schmuckwarenindustrie wird. Auf die Verlegerstellung des Produktionsverbindungshandels kommen wir noch zurück. 3. In den Wirtschaftsbereichen, in denen die industrielle Vorstufe eine großbetriebliche Struktur aufweist, können oft a u c h G r o ß b e t r i e b e d e r v e r a r b e i t e n d e n I n d u s t r i e n i c h t d i r e k t beziehen. So hat sich z. B. zwischen Roheisenerzeugung und den Stufen der Weiterverarbeitung ein Eisengroßhandel als Verbindungsgroßhandel entwickeln können, der jedoch auch wieder in starkem Maße in Betriebsverbundenheit zur Vorstufe gekommen ist. Zum Teil haben sogar Einzelhandelsfirmen wie Peter Klöckner und Otto Wolf große Konzerne aufgebaut und sind von sich aus in die Produktion der Vorstufe vorgestoßen. Selbst der Stinneskonzern ist vom Handelsbetrieb aus aufgebaut worden und hat als eine Art Handelswerk bestanden. Zum größeren Teil allerdings ist der Eisenhandel von den großen Werken der Lieferindustrie abhängig gemacht oder sogar aufgesaugt worden. Über die Syndikatskontore der Eisenkartelle, die neben der Markt- und Preisregelung doch nur die ganz großen Eisenverarbeiter beliefern können, ist ein W e r k s h a n d e l entstanden, der seinem Wesen nach eigentlich einen in die Absatzsphäre gestreckten Arm der liefernden Industrie darstellt, wenn auch die Werkhandelsgesellschaften als juristisch selbständige Personen aufgezogen sind, ein eigenes Lager halten, eigene Verkaufsdispositionen treffen und nach außen als freie Handelsorgane auftreten. Sie sind indessen als Werkshändler mit Sonderrabatten bevorzugt, aber nicht frei im Einkauf, können auch den Abnehmern Kredite nur auf Grund ihrer unternehmungsmäßigen Verbundenheit mit dem Lieferwerk gewähren und stellen somit nur eine mehr oder weniger selbständige Vertriebsabteilung der Lieferindustrie dar. Der Werkshandel hat auch in anderen Bereichen der rohstoffverarbeitenden Industrie, z. B. in der Baustoffindustrie, der chemischen Industrie, der Maschinen- und Apparateindustrie Eingang gefunden und spiegelt die verschiedenen Variationen wieder, die zwischen dem freien Produktionsverbindungshandel und dem industriellen Direktabsatz in der Praxis vorkommen. So ist freier Verbindungshandel und Werkshandel auch häufig in einem Betrieb miteinander verbunden.

Grundfragen

der deutschen

Absatzwirtschaft

273

4. Im allgemeinen läßt sich vielleicht die Tendenz erkennen, daß der selbständig disponierende Produktionsverbindungshandel aus den unteren Produktionsstufen, also aus dem Bereiche der Schwerindustrie mehr zwischen die nachfolgenden Stufen der weiterverarbeitenden Industrie übergegangen ist. Einzelne Zweige des Großhandels haben sich auf bekannte Bedarfsartikel gewerblicher Verbraucher spezialisiert. Dazu gehören z. B. die Großhandelszweige für Goldschmiedebedarf, Brauereibedarf, Anstrichbedarf, Bürobedarf, Schuhmacherbedarf, Sattler-, Gärtner-, Fleischerbedarf, Molkerei-, Laboratoriumsbedarf usw. Hier grenzt der Verbindungshandel allerdings bereits hart an die Bereiche des Absatzgroßhandels, teilweise sogar des Einzelhandels. A n sich gehört die M a t e r i a l l i e f e r u n g des G r o ß h a n d e l an d a s H a n d w e r k ihrem Wesen nach zum Produktionsverbindungshandel. Betrieblich läßt sich jedoch hier keine scharfe Trennungslinie ziehen. Besonders bezeichnend dafür ist z. B. der Lederhandel, der als Vermittler zwischen der Lederindustrie, der Schuh- und sonstigen lederverarbeitenden Industrie tätig ist. Organisatorisch wird zum Ledergroßhandel nur die Vermittlung zwischen Leder- und Schuhfabriken (sowie sonstigen lederverarbeitenden Unternehmen) gerechnet. Die Belieferung des Schuhmacher- und Sattlerhandwerks dagegen zählt sogar zum Einzelhandel, weil das Handwerk die kleinen von ihm benötigten Mengen in den Ladengeschäften des Lederhandels kauft. Diese Ladengeschäfte decken auch den Bedarf der Selbstbesohler und vertreiben sonstige Schuhbedarfsartikel an Handwerker und Private. Größere Handwerker kaufen wieder beim Großhandel. In der verzweigten Stufenfolge der Lederwirtschaft treten praktisch noch weitere Überschneidungen und Ausschaltungstendenzen hervor. Der an sich stufenreiche Weg des Leders von der Tierhaut zur Damenhandtasche, zum Koffer oder Luxusschuh ist besonders von den großen lederverarbeitenden Werken für S t a p e l w a r e , z. B. Reisekoffer, durch vertikale Betriebskombinationen vereinfacht worden. Bei Verarbeitung von F e i n l e d e r , zumal wenn es starken Modeschwankungen unterworfen ist, hat dagegen der die Produktionsstufen verbindende Handel auch als Lieferant für größere Fabriken seine Stellung behauptet. So sind z. B. Direktbeziehungen der Portefeuilleindustrie zur Lederindustrie mit Rücksicht auf die modisch bedingten Spezialanforderungen an Ledersorten wieder aufgegeben worden . 5. Im Gegensatz zur Montageproduktion, wie sie z. B. in der Instrumenten- und Uhrenindustrie hervortritt, findet sich vielfach auch 1 18

) Enquete-Ausschuß 5, Bd. 4: „Die deutsche Lederwarenindustrie" 1930, S. 2 1 . P r o b l e m e des D e u t s c h e n

Wirtschaftslebens

274

Carl

Liier

im Bereich des Produktionsverbindungshandels ein M o n t a g e h a n d e l , d. h. in einzelnen Zweigen der Weiterverarbeitung sind gewisse Montagearbeiten mit Großhandelsunternehmungen verbunden. So hat z. B. der Fahrradhandel mit der industriellen Spezialisierung der Fahrradteile Montagebetriebe sich angegliedert, die dann fertige Fahrräder weiter vertreiben. Sie handeln natürlich nicht nur mit selbstmontierten, sondern auch mit fabrikmontierten Fahrrädern, außerdem aber auch mit Fahrradteilen, die im Einzelhandelsgeschäft einen wesentlichen Teil des Umsatzes ausmachen und auch vom Mechanikerhandwerk bezogen werden. So wie das Handwerk auch Verkäufer fertiger Industriewaren ist, unterhält der Einzelhandel nebenbetrieblich Produktions- und Reparaturwerkstätten, verkauft ferner auch Materialteile an letzte Verbraucher und tritt somit ebenfalls als Kunde eines vom Absatzgroßhandel nicht zu trennenden Produktionsverbindungshandels auf. Im Bekleidungsgewerbe lassen sich zwischen Produktionsstufen und produktionsverbindenden Handelsstufen schwerlich scharfe Grenzen ziehen, besonders da hier das Lohngewerbe, das teilweise von Produktions-, teilweise von Handelsunternehmungen beschäftigt wird, stark entwickelt ist. Am deutlichsten hebt sich als Produktionsverbindungshandel der Tuch- und Futterstoffhandel heraus, der allerdings mit Ausrüstereien und Großkonfektionsbetrieben in teilweise enger betrieblicher Verbindung steht. Der Textilgroßhandel selbst hat unter bestimmten Voraussetzungen besonders im Fall zentral erfaßbaren Handwerks- und Einzelhandelsbedarfs Betriebsformen entwickelt, in denen Lager- und Reisendeverkauf mit der Fabrikation von Wäsche, Schürzen und Bekleidungsgegenständen verbunden ist 1 ). Lohnindustrien, z. B. die Handelsmüllereien, die Handelskämmereien usw. haben sich •— wie bereits ihr Name sagt — über ihren ursprünglichen Funktionsbereich sowohl nach der Seite des Handels als auch der Produktion hinaus entwickelt und arbeiten zum Teil nach beiden Seiten auf eigene Rechnung, da ihnen ihre ursprünglichen Auftraggeber keine volle Ausnutzung ihrer produktiven Anlagen bieten können. Sie verarbeiten demnach frei zugekaufte Mengen und treiben auch selbständig Handel. Der durch seine Stofflieferung dem Produktionsverbindungshandel nahestehende V e r l e g e r d e r H a u s i n d u s t r i e ist nach Zielsetzung und Funktion ein Industrieunternehmer. Sein wirtschaftlicher Herrschaftsbereich reicht infolge Finanzierung der Heimarbeiter weit in den Produktionsbereich der Vorstufe hinein. Durch den Übergang von Teilen der Heimarbeit zur Fabrikarbeit einerseits und durch die Vgl. Enquete-Ausschuß III. 9, Bd. 13: „Selbständiger Großhandel mit Textilien" 1931, S. 185fr.

Grundfragen

der deutschen

Absatzwirtschaft

275

Direkteinkäufe des konfektionierenden Einzelhandels andererseits ist er zurückgedrängt und ausgeschaltet worden. Der reine Produktionsverbindungshandel hat sich im Vergleich zur Vorkriegszeit sichtlich in der Richtung des Werkhandels oder des verarbeitenden Handels entwickelt. Die Gründe hierfür liegen einerseits in seiner Kapitalschwächung während der Inflationszeit, im dadurch vorbedingten stärkeren Eingreifen der benachbarten Produktionsstufen in die Handelsaufgaben, andererseits in den Bedürfnissen schwächerer Abnehmerkreise. Der Spiegelglashandel z. B. mußte zur Einrichtung von Konsignationslägern übergehen, womit die Finanzierung des Handels in die Hände der Industrie übergegangen ist*). Umgekehrt haben Glasgroßhändler in den Bereich des Glaserhandwerks eingreifen müssen, weil das Glaserhandwerk vielfach nicht in der Lage ist, große Schaufenster- und Glasausstattungsaufträge selbständig auszuführen. Die Schneid- und Einsetzarbeiten werden zwar vom Glaser vorgenommen, bei großen Reparaturarbeiten erhalten diese auch die Aufträge der Glasversicherungsgesellschaften; die Vorrichtungen und die Montage wird aber meist mit Hilfe der Materialien und der Facharbeiter der Glashandlung ausgeführt, da der Glasermeister nicht täglich mit so großen Scheiben umgeht, die erforderlichen Hilfskräfte nicht dauernd beschäftigen kann und die Haftung für Reparaturschäden kaum zu übernehmen vermag. Wie auch sonst im Produktionsverbindungshandel sind hier dem Glashandel in den G e n o s s e n s c h a f t e n des verarbeitenden Handwerks Konkurrenten entstanden, die ihrerseits die notwendigen Transportgeräte angeschafft und die für die Montagearbeit erforderlichen Facharbeiter angestellt haben. Zur Abwehr dieser Ausschaltung, die sich auch auf den Direktbezug von der Glashütte erstreckte, haben die Glasgroßhändler ebenfalls genossenschaftliche Montageeinrichtungen entwickelt, so daß Handels- und Handwerksfunktionen hier sowohl beim Handel wie beim Handwerk betrieblich kombiniert sind. I m allgemeinen halten sich allerdings beim Verbindungshandel die Handelsunternehmungen nach Möglichkeit von solchen Verarbeitungsfunktionen zurück, die einen hohen Kapitalaufwand erfordern und von den verarbeitenden Produzenten im Rahmen ihres Betriebes rentabel selbst ausgeführt werden können. Es sind deshalb mit dem Produktionsverbindungshandel meist solche Verarbeitungsfunktionen verbunden, die sich betrieblich für die Bezieher nicht lohnen und dabei dem Material selbst einen nur geringen Wertzuwachs verleihen. So nimmt z. B. der Futtermittelgroßhandel die verbrauchsgerechte Zerkleinerung, Zer*) Vgl. Enquete-Ausschuß I, 5, Bd. 14: „Die deutsche Glasindustie" 1931, S. 130. IS*

276

Carl Liier

mahlung und Vermischung der Ölkuchen vor, die den Wert der Ware um nur etwa 5 % erhöht 1 ). Ähnliche Verarbeitungsfunktionen finden sich übrigens auch beim Importhandel, der z. B. die Rohseide vom Kokon, die Rohjute, den Kaffee, den Reis von den ihnen noch anhaftenden wertlosen Bestandteilen trennt. Gewerbliche Großverbraucher beziehen viele Waren nicht zur Weiterverarbeitung, sondern zur gewerblichen Nutzung, dahin gehören z. B. Maschinen, Werkzeuge, Hausgerät wie: Porzellan in Gaststätten, Flaschen in Brauereien und Winzerbetrieben, weil es sich hier um eine konsumgemäße Verwendung handelt. Aller dieser gewerbliche Verbindungshandel ist mithin zum Absatzgroßhandel oder zum Einzelhandel zu rechnen. IV. D e r A b s a t z g r o ß h a n d e l 1. In der volkswirtschaftlichen Verteilungsorganisation bildet der Absatzgroßhandel seinem Wesen nach das Absatzorgan zwischen der Fertigwarenproduktion und dem Einzelhandel, bezieht also bereits die Waren v e r b r a u c h s g e r e c h t , nur in größeren Mengen als sie der einzelne Konsument benötigt. Weil in einzelnen Zweigen, wie z. B. bei Großmusikinstrumenten, wohl große Objekte, aber keine größeren Mengen verkauft werden, besteht hier auch kein Großhandel, sondern direkte Beziehung zwischen Industrie und Einzelhandel. Der Verbraucher verwertet die Ware nicht immer zu ausschließlich „privaten", sondern auch zu gewerblichen Zwecken, d. h. eine Reihe von Fertigwaren werden sowohl als Konsumgüter wie als Produktionsmittel verwendet. Da namentlich bei kleinbetrieblicher Fertigwarenproduktion z. B. im Handwerk diese Waren in nicht größeren Mengen als im privaten Verbrauch benötigt werden, liegt vielfach die Belieferung des Handwerks mit Produktionsmitteln sogar in den Händen des Einzelhandels, z. B. die Lieferung von Werkzeug, Büromaterial, Berufskleidung usw. Die Belieferung der gewerblichen (aber auch behördlichen und privaten) Großverbraucher, deren Warenbezug über die üblicherweise vom Einzelhandel verkauften Mengen hinausgeht, ist Sache des Absatzgroßhandels, da der Käufer als solcher nicht selbst der letzte Verbraucher der Ware ist, sondern diese weiter verteilt und verwertet. Für die z. B. vom Hotelbetrieb gekauften Hausgerätschaften und Lebensmittel ist nicht das Hotel, sondern der Hotelgast der letzte Verbraucher. Natürlich gibt es hier Grenzfälle. Der Frack des Kellners, die Schreibmaschine des Schriftstellers werden gewiß auch gewerblich verbraucht, jedoch als Einzelstücke vom Einzelhandel umgesetzt, dem sie gegebenenfalls von der Umsatzsteuer als Großhandelsumsatz an') V g l . Enquete-Ausschuß I, 5 Bd. 7: „ D i e deutsche Ölmühlen-Industrie", S. 315.

Grundfragen der deutschen

277

Absatzwirtschaft

gerechnet werden. Durch die zwischen der Wirtschaftsgruppe Groß-, Ein- und Ausfuhrhandel und der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel getroffenen Abgrenzungsabkommen ist namentlich in der Frage der Belieferung von gewerblichen Verbrauchern und Großverbrauchern in diesem Sinne Klarheit geschaffen worden 1 ). 2. Zum Absatzgroßhandel gehört auch der F e r t i g w a r e n - E x p o r t h a n d e l , obwohl der Exporteur nur selten an Einzelhändler, sondern meist an Importeure, Großhändler und Großverbraucher liefert. Indessen läßt sich bei der hier vorangestellten Funktionsbetrachtung des Handels binnenländischer Absatzgroßhandel und Fertigwarenexporthandel nicht ganz trennen, zumal da die Fertigwarenausfuhr nach europäischen Staaten, die den größten Teil der deutschen Ausfuhr ausmacht, zum Teil von Betrieben des inländischen Absatzgroßhandels getätigt wird. Dieser Zusammenhang macht ein Eingehen auf die Struktur des Außenhandels mit Fertigwaren in Verbindung mit dem inländischen Absatzgroßhandel erforderlich. Es bestehen auch noch vielfach Betriebskombinationen zwischen A u s f u h r - u n d E i n f u h r h a n d e l , nicht nur weil im Außenhandel z. B. mit Afrika der ursprüngliche Tauschhandel zwischen ausländischen Rohstoffen und industrieller Fertigware über die Faktoreien auch heute noch nicht ganz überwunden ist, sondern weil auch beim Handel mit fernen Überseeländern z. B. mit China, die Verbindung von Hin- und Rückgeschäft betriebsnotwendig ist und neuerdings durch den Kompensationsverkehr wieder stärker angeregt wird. Nach der deutschen Außenhandelsstatistik sind an der Ausfuhr die einzelnen Waren sehr unterschiedlich beteiligt. Dem Werte nach betrug im reinen Warenverkehr die Ausfuhr Warenarten insges. (in Mild. RM.) Daran war beteiligt (in %): Eisenwaren Maschinen Textil-, Roh-, Halb- und Fertigwaren Chemische und pharmazeutische Erzeugnisse Metallwaren (außer Eisen) Leder- und Papierwaren Glas- und Porzellanwaren Feinmechanische Erzeugnisse zusammen: % Vgl. oben Abschn. A, S. 11 ff.

1928

1929

1930

1931

1932

1933

12,0

13,5

12,0

9,6

5,7

4,9

I3>5 n,8 16,9

14,4 12,9 16,6

H,4 i4,5 14,5

14,8 15,0 14,5

14,6 16,5 12,7

14,5 r 3,5 13,1

7,5 3,6 6,0

7,1 3,8 6,0

2,9 2,3

2,9 2,2

7,2 3,9 6,2 3,o 2,1

9,9 4,o 6,0 3,2 2,0

64,5

64,9

65,8

7,9 3,7 6,4 3,o i,9 67,2

68,9

4,2 5,8 3,5 2,1 68,2

278

Carl Liier

D e m G e w i c h t nach ist der Rückgang der Ausfuhr natürlich viel geringer und übersteigt im allgemeinen kaum 25%. Der deutsche Fertigwarenexport, der schon immer zu etwa 2/3 nach europäischen Ländern und nur zu 1/3 nach Übersee ging, hat sich in den letzten Jahren noch weiter zuungunsten des Übersee-Exports verlagert. U S A dagegen exportiert z. B. 1929 etwa 72,5%, Großbritannien etwa 8 1 % seiner Gesamtausfuhr nach Übersee. V o n der deutschen Fertigwarenausfuhr gingen nach Europa 1913 für 4,7 Milliarden i 9 2 9 » 6,9

nach

Übersee

für 2,07 Milliarden

»

2>95

Diese Zahlen sind für die Struktur des deutschen Exporthandels deshalb besonders wichtig, weil im europäischen Nahexport die Direktausfuhr eine wesentlich größere Rolle spielt als im Absatz nach Übersee, obwohl andererseits die Direktausfuhr z. B. von Maschinen im Kompensationsgeschäft nach Südamerika sehr wichtig geworden ist. 3. Der Anteil des b e r u f s m ä ß i g e n E x p o r t h a n d e l s an der gesamten Ausfuhr ist bisher nicht genau ermittelt worden, dürfte aber kaum die Hälfte der Gesamtausfuhr erreichen 1 ). Die Tatsache, d a ß strukturell Deutschlands Export sich mehr nach Europa verlagert hat, im Durchschnitt des Welthandels der Anteil des Fertigwarenimports nach den europäischen Industrieländern zurückgegangen ist, verstärkt angesichts des hohen Nahexportes der Industrie die Vermutung über Bei einem gesamten Außenhandelsvolumen

(Ein- und

Ausfuhrhandel)

von

9 Milliarden M a r k im Jahre 1933 entfielen nach Berechnung der Forschungsstelle für den H a n d e l auf den berufsmäßigen Ein- und Ausfuhrhandel etwa 4 Milliarden oder etwa 4 5 % , so daß demnach über die H ä l f t e des Außenhandels im Direktgeschäft getätigt wird. N a c h Berechnungen von Dr. K ö l b l i n

(Hamburg), Wirtschaftsdienst Nr. 35 v.

28. 8. 36, war H a m b u r g am Gesamtexport wie folgt beteiligt:

I n der Zeit

export

von

N o v . 3 5 — F e b r . 36

..

M ä r z 36—Juni 36 . .

Der A n t e i l H a m b u r g s

Millionen

absolut

/o

1 568

416,9

26,5

1487

366,5

24,6

D a v o n entfielen auf H a m b u r g e r

Exporthändler:

N o v . 3 5 — F e b r . 36 . . .

111,0

26,6

M ä r z 36—Juni 36

102,9

28,1

..

Der Direktexport machte also in den gleichen Zeitabschnitten 7 3 , 4 % bzw. 7 1 , 9 % aus.

Grundfragen der deutschen

Absatzwirtschaft

279

einen sinkenden Anteil des berufsmäßigen Exporthandels an der gesamten deutschen Fertigwarenausfuhr. Der stark mittelbetriebliche Charakter der deutschen FertigwarenIndustrie, dazu die Kapitalknappheit, die dem verarbeitenden Produzenten Direktabschlüsse erschweren, sprechen eigentlich mehr zu Gunsten eines selbständigen Exporthandels, der aus langjähriger Erfahrung und Marktkenntnis die ausländischen Absatzverhältnisse besser zu überschauen vermag. Der für Deutschland in erster Linie wichtige e u r o p ä i s c h e A b s a t z m a r k t für Fertigwaren ist indessen auch von der Abnehmerseite her so gut durchorganisiert, daß selbst die mittleren Exportindustrien Direktbeziehungen zu den Abnehmern leichter herstellen können als es größeren Industrien zu den Überseekunden möglich ist. Die Ü b e r s e e k u n d s c h a f t , die dagegen viel schwieriger aufzufinden und zu werben ist, verlangt wegen ihrer vorwiegend agraren Struktur oder ihrer noch jungen Industrien eine viel weitergehende Sortimentsverbindung der einzelnen Fertigwaren und bleibt daher in höherem Maße dem Exportkaufmann überlassen. Im Fertigwarenhandel der e u r o p ä i s c h e n S t a a t e n kommen sich die Import- und Exportorganisationen der beteiligten Länder in viel stärkerem Maße entgegen als dies im Verhältnis zu Übersee der Fall ist und erleichtern den D i r e k t e x p o r t . Einerseits können große deutsche Exportfabrikanten eigene Vertreter in benachbarte Länder schikken, andererseits dringen die Einkaufsorganisationen, z. B. der Warenhäuser, bis an die Produktionsstätten vor, außerdem bieten die Mustermessen sowie die Musterläger der deutschen Exportagenten der europäischen Kundschaft erleichterte Einkaufsmöglichkeiten und lassen das Vordringen des deutschen Verkäufers ins benachbarte Absatzgebiet überflüssig erscheinen. In Zeiten der Absatznot, in der das Angebot hinter der Nachfrage hinterherlaufen und der Export eine Steigerung erfahren muß, reichen natürlich die Musterläger der Exportagenten und die Mustermessen nicht aus. Die Exportpläne, so weit sie eine Ausfuhrsteigerung nach benachbarten europäischen Staaten bezwecken, fassen daher auch in erster Linie die Möglichkeiten gesteigerten Direktexports ins Auge. Der Export nach England z. B. geht überwiegend nicht über den Exporthandel, sondern wird durch die beteiligten Industrien direkt getätigt , obwohl es sich in starkem M a ß e um kleinwertige Spezialerzeugnisse aus mittelgroßen Produktionsstätten handelt, die sogar nur einen Bruchteil ihrer Erzeugung exportieren können. V g l . Dr. K a r l M a r k a u : Gedanken zur praktischen Förderung des deutschen Auslandsabsatzes. Deutsche Wirtschaftszeitung Nr. n , vom 5. März 1936.

280

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Auch der Export bayrischer Fertigwarenfabrikate geht größtenteils nicht über den berufsmäßigen Exporthandel, weil überwiegend nach europäischen oder überseeischen Industrieländern exportiert wird und diese Länder über eine weitreichende Einfuhrorganisation verfügen . Die Absatzformen dieses Direktexportes bestehen in eigenen zentral gelegenen Auslandsvertretungen und Großvertriebsstellen, in mehr oder weniger regelmäßiger Tätigkeit von Fabrikreisenden und schließlich in einer Zusammenarbeit mit ausländischen Einfuhragenten und Großhändlern. Trotzdem diese Absatzformen sich infolge des Exportrückganges in der Krise vielfach nicht als rentabel erweisen, wird die Ausfuhr doch nicht über den berufsmäßigen Exporthandel geleitet, teils weil — wie behauptet —• die spezielle Warenkenntnis beim Exporteur nicht vorhanden ist, vor allem aber deshalb, weil im Sortiment des Exporteurs oder Exportagenten die Ware des einzelnen Fabrikanten zu sehr verschwindet. Der Absatzmarkt gerade des mittleren und kleinen Fabrikanten hochwertiger deutscher Spezialware bleibt aber doch auch im europäischen Bereich zu stark zersplittert, als daß jedem Fabrikanten der A u f b a u einer eigenen auf die Dauer rentablen Absatzorganisation möglich wäre. Hier haben sich bekanntlich zwei über den berufsmäßigen Exporthandel führende Absatzwege ausgebildet: Zum einen Teil gehen Fertigwaren aus mittleren, aber bezirklich stark konzentrierten Produktionsstätten, wie z. B. Kleineisenwaren aus Remscheid und Solingen, Spielwaren aus Nürnberg, Schmuckwaren aus Pforzheim, Webwaren aus Sachsen, über die im Bezirk der F a b r i k e n a n s ä s s i g e n S p e z i a l e x p o r t h ä n d l e r , zum anderen Teil werden sie aber auch namentlich aus Gründen der zu starken Konkurrenz gleichartiger Waren über E x p o r t h ä n d l e r o d e r E x p o r t a g e n t e n weitervertrieben, die entweder in den Ausfuhrhäfen oder in großen inländischen Zentralplätzen ihren Sitz haben und nach geographisch gegliederten Absatzgebieten orientiert, gewissermaßen Sortimentsexportgrossisten darstellen. In nicht wenigen Fällen, besonders dann, wenn der Exporteur mit eigenem Vertreterstab oder eigener Auslandsfiliale weit in den ausländischen Konsumbereich vorgedrungen ist, reicht seine kaufmännische Organisation nach der Angebotsseite nicht bis zu den Fertigfabrikanten hin, so daß hier nochmals ein Vermittler, nämlich der Exportagent eingreifen muß. Die Musterläger der Exportagenten bilden das vorsortierte Angebot sowohl für den deutschen Exporthändler als auch für den ausländischen Einkäufer. *) Vgl. Dr. Fritz Huhle: Die Exportindustrie Bayerns. Wirtschaftsdienst Nr. 18 vom i . M a i 1936.

Grundfragen

der deutschen

Absatzwirtschaft

281

Gegenüber dieser Mehrstufigkeit des Exporthandels macht sich in neuerer Zeit zweifellos eine „Rationalisierungstendenz" geltend, die mit Rücksicht auf die großindustrielle Entwicklung auch in der Fertigwarenerzeugung oder mit dem fachschaftlichen Zusammenschluß gleichartiger Produzenten den Exporthändler zurückdrängt, den Exportagenten stärkt oder gar die mit A u s l a n d s v e r t r e t e r n a r b e i tende Absatzorganisation der einzelnen G r o ß f a b r i k a n t e n bzw. der zusammengeschlossenen Kleinproduzenten weiter hervortreten läßt. Neben dem Rückgang an selbständigen Exporteuren, die auf der Grundlage des Eigenhandels aufbauten, war bereits in der Konjunktur der Nachkriegszeit eine Vermehrung der Exportagenten festzustellen, die in ähnlicher Weise wie die Exporteure Kommissionsgeschäfte aufnahmen, ihrerseits daneben gelegentlich auch Eigenhandel betrieben. Diese im Export auf Kosten des selbständigen Großhandels wachsende Verstärkung des Agenturgeschäfts ist im wesentlichen ein Ergebnis der durch Krieg und Handelspolitik zerstörten Absatzbeziehungen der Exporthändler und ihrer Kapitalverluste während der Inflationszeit, sowie des damit zusammenhängenden Rückganges des Überseegeschäfts und des Fortschritts in der I n d u s t r i a l i s i e r u n g ü b e r s e e i s c h e r A g r a r s t a a t e n . Die hochwertige deutsche Fertigwarenerzeugung stößt in Übersee auf zu starke K o n k u r r e n z der S t a p e l w a r e anderer europäischer Industrieländer und hat. daher überwiegend nur in den Fachgeschäften dieser Industrieländer eine Kundschaft, deren Kaufkraft seit der Weltwirtschaftskrise ebenfalls stark gesunken ist. Währungspolitik und politisch bedingte Außenhandelshemmnisse richten weitere Sperrmauern auf. Auch die J u d e n f r a g e hat zur Einschränkung des berufsmäßigen Exporthandels beigetragen und die Versuche unterstützt, im Wege des Direktexportes neue Außenhandelsbeziehungen anzuknüpfen. Diese Direktbeziehungen sind schon früher namentlich von der Produktionsmittel-Industrie aber auch von der Markenartikel-Industrie geschaffen worden, weil hier teils die Kundenberatung wichtiger als die Kundenwerbung wurde und damit im Auslandsgeschäft der Ingenieur vor den Kaufmann trat, teils aber auch, weil die Kapitalkraft der Markenartikelproduktion den Aufbau einer eigenen ausländischen Absatzorganisation rentabel machte. 4. Diese Absatzformen erfahren durch die s t a a t l i c h e R e g e l u n g und Förderung des Außenhandels einen weitergehenden Antrieb. Die durch den „neuen Plan" sowie durch die Verrechnungs- und Kompensationsabkommen gesteigerte Abhängigkeit von Rohstoffeinfuhr und

282

Carl Liier

Fertigwarenausfuhr läßt im Genehmigungsverfahren der Devisen- und Überwachungsstellen Direktbeziehungen zwischen Rohstofflieferanten und Fertigwarenkunden zu den deutschen Verarbeitern zunächst bequemer erscheinen. Staatliche Eingriffe in den Außenhandel haben auch schon früher den Direktexport begünstigt. Die nationale Exportnotwendigkeit hat eine Hochschätzung der devisenschaffenden Industrien erzeugt, die im Streben nach Exportprämien glauben, unbedingt in direkten Verkehr zum ausländischen Kunden treten zu müssen. Es hat sich teilweise ein Zustand herausgebildet, den man in drastisch ausgedrücktem Doppelsinn einen „direkten Expoitfimmel" nennt. Er findet in einer Überflutung ausländischer Hauptstädte mit deutschen Fabrikreisenden seinen Ausdruck. Trotz dieser vielerorts fühlbaren Übersetzung des Vertreterberufs wird doch über den Mangel an kaufmännisch g u t g e s c h u l t e n Vertretern geklagt. In Überseeplätzen, wo früher nur 3 bis 4 deutsche Vertreter tätig waren, machen sich heute vielfach 15 bis 20 gegenseitig schwere und nicht immer lautere und fruchtbare Konkurrenz. Der Exporthandel klagt darüber, daß deutsche Fabrikanten im Direktgeschäft den Kunden oft höhere Rabatte und Preisnachlässe gewähren, als sie dem Exporthändler zuzugestehen gewillt sind. Es sind Preisunterbietungen bis zur Hälfte des normalen Preises vorgekommen, wodurch natürlich — abgesehen von privaten Schäden — der D e v i s e n a n f a l l sich nicht unwesentlich verringert. Vielfach wird auch die im Binnenhandel nicht absetzbare Produktion ohne hinreichende Vorbereitung und Marktkenntnis an Auslandsplätze verschifft und muß infolge Absatzschwierigkeiten bzw. nicht lohnender Rückfracht zu Schleuderpreisen verkauft werden. Hier zeigt sich die Notwendigkeit der Qualitäts- und Geschmackszensur eines markterfahrenen Kaufmanns, die eine Fehllenkung von Exportwaren zu verhüten vermag 1 ). Es soll vorgekommen sein, daß die Erträge solcher marktzerstörenden Gelegenheitsverkäufe im Ausland nicht einmal die Reisespesen zu decken vermochten. Soweit es sich um den Absatz binnenländischer Zuschußproduktion handelt, werden auch von dem direktexportierenden Fabrikanten in den Exportpreis die Generalunkosten des Betriebes nicht hinreichend einkalkuliert, so daß der Binnenmarkt in nicht deutlich erkennbarer Weise die Exportverluste ähnlich wie zur Zeit der Inflation tragen muß. Die Bemühungen um Steigerung des Exportes sind natürlich je nach der Exportabhängigkeit der einzelnen Industrien verschieden zu beurteilen. Zu den am stärksten exportabhängigen Industrien, die früher *) Vgl. auch Dr. C. L ü e r : Der Lebensraum des Handels 1936, S. 25.

Grundfragen

der deutschen

Absalzwirtschajt

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bei voller Beschäftigung über die Hälfte ihrer Erzeugung im Ausland abgesetzt haben, gehören vor allem die vorwiegend mittel- und kleinbetrieblich organisierten Industrien für Spielwaren, Musikinstrumente, feinmechanische und optische Erzeugnisse, Glas-, Eisen- und Metallwaren, also Industriezweige, die zum großen Teil bezirklich stark konzentriert sind (vor allem in Sachsen, Mittel- und Südwestdeutschland). Während die sächsische Exportindustrie stärkerer Auslandskonkurrenz gegenübersteht, hat die württembergische Exportindustrie mit ihren durch Auslandskonkurrenz weniger bedrohten Spezialerzeugnissen mehr mit den Schwierigkeiten gesunkener Weltkaufkraft zu rechnen. Bei Beurteilung der gegenwärtigen und künftigen Exportchancen beider Industriegruppen scheint die durch währungspolitische Maßnahmen verschärfte internationale Konkurrenz schwerwiegender als die mit der Weltkrise gesunkene Weltkaufkraft zu sein. Die zwar nicht überwiegende, aber doch beträchtliche Exportabhängigkeit vor allem der chemischen Industrie, der elektrotechnischen Industrie und der Maschinenindustrie bedarf im Hinblick auf die Absatzformen einer grundsätzlich anderen Wertung, weil hier die teils großbetriebliche Entwicklung und die Art der Waren die wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen auch volkswirtschaftlich rationelleren Direktabsatz geschaffen haben. Bei der mittel- und kleinbetrieblichen, stark exportabhängigen Fertigwarenindustrie dagegen werden die aus der Not der Zeit heraus geborenen Versuche gesteigerten Direktexportes einer gründlichen betriebs- und volkswirtschaftlichen Kritik unterworfen werden müssen. Neuaufbau von G e m e i n s c h a f t s e x p o r t ist mit den Notwendigkeiten der Bedarfssortimentierung auch für die Exportkunden schwerlich in Einklang zu bringen, besonders weil er einerseits für sortimentsbedingte Artikel auf die Dauer rentabel nicht organisiert werden kann, andererseits die Rentabilität des Sortimentexporteurs untergräbt und den Sortimentsanforderungen gerade der verbrauchsorientierten europäischen Auslandskundschaft nicht zu entsprechen vermag. Der branchenspezialisierte Gemeinschaftsexport kann zwangsläufig nicht soweit in Richtung des ausländischen letzten Verbrauchers vorstoßen wie der berufsmäßige Exporteur und bewirkt daher eine V e r l a g e r u n g d e s k a u f m ä n n i s c h e n L e i s t u n g s l o h n e s a u s d e r i n l ä n d i s c h e n in d i e a u s l ä n d i s c h e A b s a t z o r g a n i s a t i o n . Die als zwangsläufige Folge des Direktexportes aufgetretene Notwendigkeit des Zukaufes hat einzelnen Exportfabrikanten die kaufmännischen Bedingungen des auch im Export erforderlichen Sortiments vor Augen geführt. Die bisher vorliegenden Erfahrungen scheinen den Direktexport der Fertigwarenindustrie mehr

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und mehr als eine vorübergehende Notlösung zu kennzeichnen, die nicht zur Grundlage einer strukturell andersgearteten Exportorganisation gemacht werden kann. Der sich anbahnenden weltwirtschaftlichen Neugliederung zwischen Rohstoff- und Fertigfabrikatländern, wie sie zunächst in den d e u t s c h e n V e r r e c h n u n g s a b k o m m e n , also der Reziprozitätspolitik zum Ausdruck kommt, erscheint absatzwirtschaftlich der Sortimentsexporteur weit mehr angemessen, als die branchenmäßig gegliederten Absatzorganisationen der direktexportierenden Fertigindustrien. Wenn aus der Erkenntnis marktzerstörender Konkurrenz der gleichartigen Fabrikanten auf den Auslandsmarkt bereits die Konsequenz des gemeinschaftlichen Branchenexports gezogen worden ist, so wird sich mit Rücksicht auf den zweckmäßig vielseitigen Absatz der deutschen Fertigware im Auslande auch die Notwendigkeit des berufsmäßigen Sortimentsexports allmählich durchsetzen. Wenn dann jedoch der selbständige Exporteur durch industrielle Absatzorganisation weitgehend ausgeschaltet ist, müssen sich Absatzschwierigkeiten daraus ergeben, daß entweder der Auslandsmarkt nur einseitig von gewissen Exportindustrien ausgenutzt wird oder aber die deutsche Exportorganisation sich gegenüber derjenigen der konkurrierenden Industrieländer als unzulänglich erweist. Wenn auch die Gefahr einer Industrialisierung überseeischer Agrarstaaten mit Hilfe gesteigerten deutschen Maschinenexports nicht überschätzt zu werden braucht, so könnte doch eine einseitige Inanspruchnahme überseeischer Kaufkraft durch intensiven Direktexport bestimmter Industriezweige der Gesamtheit der deutschen Exportindustrie zum Nachteil gereichen. Überseeländer mit großen Ausfuhrinteressen können einen gesteigerten deutschen Export von Fertigwaren nur dann aufnehmen, wenn der Absatz ihres Haupterzeugnisses in anderen Gebieten steigt und gesichert ist. Der Direktexport läßt hier einen R a u b b a u a m A b s a t z m a r k t befürchten, dessen pflegliche Behandlung dringend notwendig und nur dem markterfahrenen Exporteur möglich ist. Die Schwierigkeiten, die sich z. Zt. aus der R e z i p r o z i t ä t s p o l i t i k ergeben, zeigen sich z. B. im deutschen Außenhandel mit dem kaffee-exportierenden Guatemala 1 ). Von den rund 812 000 Quintales (100 Quintales etwa 96 Pfd.) nahm Deutschland 1935 nur noch 18,7% auf, während es 1928 36,5% und noch 1933 34,4% der Gesamterzeugung einführte. In stärkerem Maße als früher ist Holland zum deutschen Transitland geworden, dessen Anteil von 7,6% auf 14% gestiegen ist; andererseits ist das deutsche Kaffeetransitgeschäft von Guatemala nach Skandinavien und TschechoFrank H. Schmolk: „Die Reziprozität und die Kaffeeländer Mittelamerikas", Wirtschaftsdienst Nr. 44, vom 1. November 1935.

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Slowakei sehr zurückgedrängt. Dänemark z . B . führte 1928 2100, 1935 dagegen 18 200 Quintales Guatemala-Kaffee ein. Auch Finnlands Direkteinfuhr ist von 325 Quintales auf 2600 Quintales gestiegen. Trotz sinkenden deutschen Imports von Guatemala-Kaffee konnten die Kaffeeforderungen nicht transferiert werden, obwohl ein gesteigerter Export deutscher Fertigware nach Guatemala zur Liquidierung der entwerteten Aski-Mark einsetzte und deutsche Fertigwaren zu Schleuderpreisen verkauft werden mußten. Dabei haben Erhöhungen der Einfuhrzölle Guatemalas zum Aufbau einer eigenen Leichtindustrie geführt, die die Chancen künftigen Fertigwarenexportes beeinträchtigen können.

Angesichts der Devisenbewirtschaftung und sonstiger zum Teil sehr weitreichender staatlicher Kontrollbefugnisse ist bereits die Befürchtung ausgesprochen worden, daß die Ausübung des berufsmäßigen Handels in der Außenwirtschaft unmöglich gemacht wird 1 ). Die Überwachung und Zentralisierung des Außenhandels bedrohen die Ein- und Ausfuhrhäuser, deren Leistungen in vielen Fällen nicht ersetzt werden können. Die staatlichen Maßnahmen zur Förderung des Außenhandels können natürlich nicht spurlos am Beruf des Exporteurs vorübergehen, weil national-wirtschaftliche Gesichtspunkte das Walten des rein ökonomischen Prinzips eindämmen müssen. Es hieße aber das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn im Schutze der staatlichen Außenhandelspolitik eine neue, vorwiegend industriell bestimmte Absatzorganisation sich aufbauen würde, die nicht dazu dienen könnte, die Austauschbeziehungen im Sinne einer Versorgung der beteiligten Länder mit bestgeeigneten Waren zu gestalten. Der Zusammenhang des Fertigwarenexporthandels mit dem Absatzgroßhandel ist vor allem dadurch gegeben, daß — wie bereits betont — ein Teil des Nahexportes auch vom binnenländischen Absatzgroßhandel besorgt wird. Umgekehrt ist dieser aber auch Importeur ausländischer Fertigwaren und bezieht direkt vom ausländischen Exporteur. Englisches Tuch z. B. bezieht er unmittelbar vom englischen Tuchhandel, Pariser Moden holt er direkt aus Pariser Konfektionshäusern. 5. D e r b i n n e n l ä n d i s c h e G r o ß h a n d e l ist branchenmäßig mannigfach spezialisiert und kombiniert. Als Verteiler von ausländischen, nicht besonders verarbeitungsbedingten N a h r u n g s m i t t e l n steht er zwischen Importhandel und Einzelhandel meist in der Form der sogenannten oberländischen Häuser, die in der volkswirtschaftlichen Absatzorganisation bezirkliche Vertriebsstellen für den Einzelhandel darstellen, weil der Importhandel in der Regel nur große 1 ) Vgl. Dr. John Brech, „Kontrolle und Freiheit im Außenhandel", Wirtschaftsdienst Nr. 44 vom 1. November 1935.

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Mengen anliefern kann, der Lebensmitteleinzelhandel auf Grund seiner außerordentlichen Konsumnähe zu kiembetrieblich gestaltet ist und auf einem zu kurzfristigen Warenumschlag beruht. Soweit das oberländische Haus mit seinen Agenten und Reisenden noch nicht bis an den örtlichen Einzelhandel heranreicht, ordnet sich sogar noch der „Halbgrossist" ein, der vielfach selbst größerer Einzelhändler ist. Diese Absatzkette verkürzt sich wieder in konzentrierten Verbrauchsgebieten, wo die Nährmittelfabriken die für sie bequemer gelegenen Einzelhändler direkt beliefern. Natürlich wird auch durch Direkteinfuhren des Absatzgroßhandels wieder der Importhandel übersprungen, eine Tatsache, die einerseits durch den Direktabsatz der Fertigindustrie, andererseits durch die Einfuhrkontingentierung eine Verstärkung erfahren hat. Nur ganz wenige überseeische Nahrungsmittel sind durch Vertikalkonzentrationen der Übersee-Erzeuger aus dem Sortiment des Lebensmittelgroßhandels herausgerissen und über besondere eigene Absatzwege geleitet worden (Bananen-Trust). Neben einigen Branchenspezialisierungen, z. B. Kartoffel-, Obstund Gemüsegroßhandel, Mehlhandel, Weinhandel und Tabakhandel bildet der Nahrungsmittelgroßhandel ein besonderes universales Sortiment. Die Spezialzweige des Nahrungsmittelgroßhandels finden sich auch vornehmlich nur in stark verbrauchskonzentrierten Gebieten, während in dünnbesiedelten Gegenden der allgemeine Nahrungsmittelgroßhandel auch diese Spezialerzeugnisse mit umfaßt. Die wenigen Verarbeitungsstufen, die die Nahrungsmittel in der Regel zu durchlaufen haben, sind im beträchtlichen Ausmaße mit dem Absatzgroßhandel verbunden, besonders weil die Verarbeitung vielfach hauptsächlich in Sortierung und Verpackung besteht. Die Nahrungsmittelindustrie, von der wichtige Zweige sich erst im Laufe der neueren Entwicklung aus den Bedürfnissen der städtischen Ernährungsweise entwickelt haben, ist zum Teil sogar Anhängsel des Absatzgroßhandels (z. B. Kaffeeröstereien) oder aber hat als Nährmittel- und Konservenindustrie von sich aus die Absatzorganisation zum Verbraucher hin organisiert. Sie kann allerdings nur in wenigen Fällen den Großhandel entbehren und greift auch nur entscheidend in Bezirken des konzentrierten Bedarfs in die Funktionssphäre des Absatzgroßhandels ein. Die stark ausgebildete Sortimentsfunktion im Lebensmittelhandel hat auch die Notwendigkeit der Großhandelsstufe im R a h m e n der Versorgungspolitik des Reichsnährstandes erkennen lassen. Die vom Reichsnährstand in die Wege geleiteten Marktordnungen, die sowohl dem Erzeuger einen durch den Weltmarkt nicht gefährdeten Preis-

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schütz als auch dem Verbraucher niedrige, durch unnötige Handelskosten nicht erhöhte Preise gewährleisten sollen, haben auch eine angemessene Großhandelsspanne berücksichtigen müssen, weil sich die einzelnen Lebensmittel in die dünnbesiedelten Verbrauchsgebiete nicht anders als über die Sortimentsläger des Lebensmittelgroßhandels leiten lassen. Wenn der direkte Weg der unter zentraler Kontrolle zur Verteilung kommenden Lebensmittel sich vielleicht auch in konzentrierten Bedarfsgebieten als möglich erwies und hier die Großhandelsleistung überflüssig erschien, so hat doch die Tatsache der „toten Winkel" die Notwendigkeit der Großhandelseinschaltung dargetan. Weil aber der Großhandel die höheren Verteilungskosten der zerstreuten Verbrauchsgebiete betriebswirtschaftlich nur durch die geringeren Kosten in den konzentrierten Gebieten ausgleichen kann, ist volkswirtschaftlich seine Ausschaltung bei Versorgung dieser konzentrierten Gebiete nicht gerechtfertigt. So wie der einzelne Großhandelsbetrieb dem nah- und bequem gelegenen Einzelhandelsgeschäft den gleichen Lieferantenpreis einräumen muß wie dem entfernter gelegenen und damit für ihn kostspieligeren Einzelhändler, also einen Kostenausgleich schaffen muß, so ist auch bei zentraler Versorgung ein entsprechender Kostenausgleich erforderlich, der mit einer von der Sortimentsstruktur des Nahrungsmittelhandels abweichenden Vertriebsorganisation nicht erzielt werden kann. In den anderen Zweigen, insbesondere also im H a n d e l m i t g e w e r b l i c h e n E r z e u g n i s s e n , zeigt der Absatzgroßhandel eine wesentlich vielseitigere Branchen- und Funktionsgliederung. Dabei paßt er sich stark der Branchengliederung des Facheinzelhandels an. Diese Branchenspezialisierung im Absatzgroßhandel hängt nicht zuletzt von den Unterschieden in Art und Ausmaß der zwischen Industrie und Einzelhandel zu leistenden Funktionen ab. Die h a u p t s ä c h l i c h s t e F u n k t i o n d e s A b s a t z g r o ß h a n d e l s liegt in der Übernahme der Fertigfabrikate vom Erzeuger zwecks Bereitstellung entsprechender Mengen zu gegebener Zeit für den Bedarf des Einzelhandels bzw. der gewerblichen Verbraucher. J e nach Warenart und Bedarfsstruktur erfordert die Erfüllung dieser Funktionen ein unterschiedliches Maß der verschiedenen damit zusammenhängenden Handelsleistungen. Besonders treten beim Absatzgroßhandel dabei Sortimentierung, Kundenwerbung, Lagerhaltung, Kreditgewährung und Inkassofunktion hervor. Wie bereits die Vereinbarung 1 ) von Industrie und Großhandel andeu*) I n dieser Vereinbarung zwischen Industrie und Großhandel sind als Großhändler solche vollkaufmännischen, also im Handelsregister eingetragenen Unter-

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tet, sind diese Leistungen in den verschiedenen Branchen im unterschiedlichen Ausmaße an den einzelnen Großhandelsbetrieb geknüpft. Je nach dem stärkeren Hervortreten einer der genannten Funktionen hat man in der Literatur Idealtypen des Großhandels aufgestellt und z. B. den Verteilungsgrossisten, den Engrossortimenter, den Kreditgrossisten usw. unterschieden; sie haben aber nur theoretische Bedeutung, weil die Funktionen auch ihrem Umfang nach im Einzelfall sehr verschieden sind. Die Funktion der K u n d e n w e r b u n g z. B. ist von sehr verschiedenem Ausmaße, je nachdem es sich um existenznotwendige bzw. alteingeführte Waren oder um Neuheiten handelt. Das kommt auch in den verschiedenen Provisionssätzen der Großhandelsvertreter sehr deutlich zum Ausdruck; denn ob ein Einzelhändler als Kunde neu geworben werden muß oder aber bei der üblichen Anlieferung lediglich der laufende Bedarf notiert zu werden braucht, zeigt den Gradunterschied nehmungen als Großhändler bezeichnet, die nachfolgende Großhandelsfunktionen in vollem Umfange ausüben: 1. Einkauf im großen beim Erzeuger, A b l a d e r oder Importeur und Absatz im freien. Markt an Wiederverkäufer und Weiterverarbeiter. 2. Werbung und Marktsuchen, d. h. Erschließen von neuen Absatzwegen für bereits vorhandene Erzeugnisse und Aufsuchen von Absatzmöglichkeiten für neue Waren. 3. Abnahme und Vertrieb der Waren auf eigenes Risiko. 4. Lagerhaltung des in der Branche üblichen Warensortiments. 5. Vordispositionen, d. h. Warenbestellung auf weite Sicht und somit Förderung einer gleichmäßigen Beschäftigung der Industrie. 6. Einräumen von zusätzlichen Krediten aus eigenen Kapitalien und Verteilung der von den Kreditgebern und Lieferanten in Anspruch genommenen Kredite an die kreditbedürftige Abnehmerschaft in handelsüblicher Dauer. 7. Herstellung des Ausgleichs zwischen Angebot und Nachfrage in örtlicher, zeitlicher, preismäßiger und mengenmäßiger Hinsicht. 8. Auswertung des gesamten Marktwissens zum Nutzen von Abnehmerschaft u n d Erzeugung durch Beratung über Wareneignung, Warengüter, Lagerdispositionen, Absatztechnik, W e r b u n g u. dgl. 9. Erfüllung sozialer Aufgaben durch Erhaltung der selbständigen Existenz zahlreicher selbstwirtschaftender Einzelbetriebe und Heranbildung eines verantwortungsbewußten und unternehmungsfreudigen kaufmännischen Nachwuchses. Es wird jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, d a ß die vom Großhandel z u versehenden Aufgaben auf den verschiedenen Fachgebieten sehr verschieden liegen und die Fachorganisationen zu prüfen haben, inwieweit die aufgezählten Funktionen üblicherweise im R a h m e n der Großhandelsstufe ausgeübt werden und insbesondere auch inwieweit ein Unternehmen den Anforderungen entspricht, die nach Lagerhaltung, Kreditfähigkeit, U m f a n g des Geschäfts u. dgl. an eine Großhandlung gestellt werden müssen, wenn sie die Großhandelsfunktionen in der speziellen Branche versehen will. V g l . Kartellrundschau H. 8 vom August 1934, S. 341.

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der Marktfunktion sehr deutlich auf. Auch das Ausmaß der L a g e r h a l t u n g ist zwischen den einzelnen Branchen sehr verschieden. Vom Streckengeschäft des Eisen- oder Flaschengroßhändlers bis zum reichsortierten Lager des Platzgroßhändlers für Eisen- und Hausratwaren gibt es die stärksten Variationen der Lagerhaltung. In vielen Fällen ist eine kapitalintensive Transporteinrichtung mit großem Wagenpark erforderlich, während in anderen Fällen vom Kontor aus der Warenabsatz gelenkt oder sogar durch eine selbständige Speditionsfirma besorgt wird. Besonders unterschiedlichen Umfang nimmt in den verschiedenen Branchen die K r e d i t f u n k t i o n an. Von der Finanzierung nicht nur des Betriebskapitals (zum Teil sogar des Anlagekapitals) des kleinen Einzelhändlers bis zur Vorschußzahlung des großen Einzelhandelsbetriebes an den im Streckengeschäft liefernden Fertigfabrikanten zeigt die Kreditleistung des Großhandels die größten Gradunterschiede. Der Kapitalverlust des Großhandels in der Inflationszeit hat seine Kreditfähigkeit außerordentlich beeinträchtigt, wodurch z. B. die Entwicklung zum Werkshandel nicht unwesentlich unterstützt worden ist. Die Kapitalschwäche kleinster Einzelhandelsbetriebe dagegen läßt auch heute noch die Kreditfunktion vieler Großhandelszweige und Betriebe als die wichtigste hervortreten. Die Lagerfunktion ist vielfach von der Industrie übernommen worden. Diese Veränderung hat zusammen mit den Wandlungen in der Kreditgewährung dahin gewirkt, daß einzelne Teile des selbständigen Großhandels besonders im Maschinen- und Fahrzeugabsatz zu Generalagenten geworden sind. Durch die Ermäßigung der Umsatzsteuer für den lagerhaltenden Großhandel hat die Lagerfunktion wieder an Bedeutung zugenommen. Bei verstärkter Lagerfunktion können aus Generalagenturen wieder selbständige Großhandlungen entstehen. Dort, wo der Engrossortimenter unentbehrlich geblieben ist, jedoch seine Handelsleistungen kostenmäßig nicht vorwiegend vom Absatzrisiko bestimmt sind, hat sich im Fertigwarenabsatz das System der vom Fertigfabrikanten festgesetzten Bruttopreise weiter durchgesetzt. Namentlich im Bereich der kartellfähigen Fabrikate hat die Großhandelsleistung i h r e A b g e l t u n g i m R a b a t t gefunden, womit der Großhandel sich dem „Lohngewerbe" zu nähern beginnt. Wenn dabei die Kreditfunktion von der Kreditgewährung des Großhandels an den Einzelhandel zur Kreditinanspruchnahme des Großhandels bei der Industrie umgeschlagen ist, so verbleibt zwar dem Großhandel ein gewisses Inkassorisiko, nicht aber die volle Großhandelsleistung. Diese „Aushöhlung" der Großhandelsfunktion hat zwar die Wesensstruktur des Absatzgroßhandels an einzelnen Stellen, jedoch noch 19

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nicht in ihrer Gesamtheit grundlegend geändert. Nach wie vor ist der selbständige Absatzgroßhandel ein notwendiges Glied in der Absatzwirtschaft geblieben, in der sich allerdings F u n k t i o n s t e i l e in R i c h t u n g d e r L i e f e r a n t e n o d e r A b n e h m e r v e r s c h o b e n haben. Eine auch nur annähernd vollständige Übersicht über diese Funktionsverschiebungen zu geben, ist bei der Mannigfaltigkeit des deutschen Fertigwarenabsatzes unmöglich. Die vielen in Fluß befindlichen Bemühungen der M a r k t r e g e l u n g geben hiervon ein anschauliches Bild. Die den Großhandel unmittelbar oder mittelbar betreffenden Absatzregelungen, die teilweise einseitig von der Industrie, teilweise inVereinbarungen der beteiligten Wirtschaftsstufen niedergelegt sind (oder werden sollen), bezwecken vor allem auf Seiten des Einzelhandels die Sicherung und Stärkung des Umsatzes unter Ausschaltung unlauteren Wettbewerbs, auf Seiten des Großhandels und der Industrie die Auswahl sachkundiger und zuverlässiger Einzelhändler zur Sicherung des Absatzes in der den Produktionskapazitäten und der Lagerhaltung entsprechenden Qualität und Menge sowie der Sicherung der Zahlungseingänge 1 ). Neben der Abgrenzung der Bezieherkreise haben diese Marktregelungen auch die Festsetzung der Funktionsentgelte, d. h. also der verschiedenen Handelsrabatte zum Gegenstand, bieten also Beispiele für die mehr oder weniger glücklichen Versuche, die Unzulänglichkeiten einer nivellisierten Kostenabgeltung des Handels zu überwinden. In den Bereichen, in denen der Großteil der Fertigwarenerzeugung den üblichen Absatzweg findet und wo die Bedingungen für andere Absatzwege weniger gegeben sind, haben sich Marktregelungen auch einigermaßen durchführen lassen. In großen Teilen des Fertigwarenabsatzes jedoch ist die Produktions- und Absatzstruktur zu mannigfaltig und wechselvoll, als daß eine auch noch so kasuistische Marktregelung möglich wäre. 6. Allgemein zeigen sich zum mindesten in dreifacher Hinsicht grundsätzliche A b w e i c h u n g e n v o n d e n ü b l i c h e n A b s a t z w e g e n . Die klein- und mittelbetrieblichen Unternehmungen vieler Industriezweige beschränken sich vielfach auf einen l o k a l e n A b s a t z m a r k t ihres eigenen Standorts, selbst wenn ihre Spezialerzeugnisse nur wenige Objekte eines vielseitigen Einzelhandelssortiments sind und die Waren gleicher Gattung aus anderen Fabriken über den Großhandel geleitet werden. Die Nähe des bezirklich begrenzten oder konzentrierten Bedarfs ermöglicht solchen Kleinfabrikanten mit Hilfe angestellter oder 1 ) Vgl. Dr. J. Tiburtius: „Marktordnende Arbeiten im Einzelhandel". Die Betriebswirtschaft, Dezember 1934, S. 288.

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selbständiger Provisionsvertreter einen Direktabsatz, der vom Großhandel nicht in Anspruch genommen werden kann. Aber auch größere Fabriken suchen, selbst wenn ihre Produktionskapazität über den örtlichen Bedarf hinausgeht, die Bereiche des konzentrierten Bedarfs selbst zu versorgen und nur den kostspieligeren Absatz in entlegeneren Gebieten dem Großhandel zu überlassen. Besonders stark ist dabei das Bestreben, Stapelartikel, also Waren in größeren gleichartigen Mengen, die nicht kurzfristigen Modeschwankungen unterworfen sind, direkt abzusetzen oder über F a b r i k l ä g e r z u leiten. Ferner werden auch g r ö ß e r e G e l e g e n h e i t s g e s c h ä f t e von der Industrie unmittelbar abzuschließen versucht, vor allem u m den Handelsrabatt zu sparen und dem gelegentlichen Großkäufer (auch S a m m e l b e s t e l ler) aus dem ersparten Handelsrabatt einen besonderen Preisvorteil gewähren zu können. Namentlich der Maschinen-, Fahrzeug- und Apparategroßhandel sieht in der Ausschaltung von solchen großen Gelegenheitsgeschäften eine Gefährdung seiner Existenz, weil der hierbei leichter verdiente Handelsrabatt einen Ausgleich für die Kleinbeträge bieten kann, deren Kostenanteile den festgesetzten Rabatt überdurchschnittlich in Anspruch nehmen. In dritter Hinsicht sind es vor allem die M a r k e n a r t i k e l , die die Tendenz zum direkten Absatzweg in sich tragen. Bei ihnen haben die Fertigfabrikanten durch Festsetzung der Einzelhandelspreise nicht nur die Groß- und Einzelhandelsspanne gebunden, sondern auch typische Funktionen des Handels, vor allem die Werbung, zum Teil auch die verbrauchsgerechte Abpackung, in ihren Bereich einbezogen. Auch hier sind es in erster Linie die Gebiete konzentrierten Bedarfs, die die Fabriken durch Direktbelieferung des Einzelhandels oder gar durch eigene Fabrikfilialen ausschließlich zu versorgen bestrebt sind. In die verstreutgelegenen Bedarfsgebiete jedoch kann auch der einzelne Markenartikelfabrikant seine Erzeugnisse ohne Mithilfe des Groß- und Einzelhandels in der Regel nicht vertreiben. Mit Ausnahme weniger Spezialfabriken, deren Artikel sogar überhaupt nur ausschließlich oder überwiegend den großstädtischen Kulturbedürfnissen entsprechen, gibt es kaum Markenartikel, die nicht auch irgendwie in den Sortimenten des Groß- und Einzelhandels ihren Platz gefunden haben. Gerade die größten Markenartikelfabriken z. B. der chemischen, der pharmazeutischen und der Genußmittelindustrien haben den Großhandel zum mindesten als Lagerhalter und Kassierer weitgehend wieder eingeschaltet. Infolge der Gebundenheit der Handelsspannen bei den Markenartikeln ist eine aus unterschiedlicher Handelsleistung resultierende Preiskonkurrenz nicht möglich. Soweit der Großhandel beim Absatz der Marken19«

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artikel nicht auf Grund von Mengenrabatten, die beim Großbezug vom Hersteller gewährt werden, mit sonstigen Zahlungs- und Lieferungsbedingungen konkurrieren kann, soweit also der einzelne Großhändler hier mit keiner besonderen Leistungsfähigkeit gegenüber dem Wettbewerber hervorzutreten vermag, hat er das Bestreben, für einen bestimmten Bezirk durch Alleinvertrieb ein Bezirksmonopol der Einzelhandelsbelieferung zu erlangen. So vereinigen viele Großhändler für bestimmte Bezirke den Alleinvertrieb mehrerer Markenartikel auf sich, obwohl die konkurrierenden Fabriken gleichartiger Markenartikel den Alleinvertrieb nur ungern solchen Organen des kollektiven Vertriebs überlassen. Dort wo ein Großhändler lediglich noch Markenartikel seiner Branche vertreibt, ist er selbst bei eigener Lagerhaltung mehr Handelshilfsorgan der Industrie als selbständiger Großhändler. Die übergroße Fülle von Markenartikeln in bestimmten Branchen hat ihrer (viel behaupteten, aber auch viel bestrittenen) Qualitätsgarantie Abbruch getan 1 ). Besonders weil eine große Menge von minderwertigeren Artikeln als Markenartikel auf den Markt gebracht worden sind und auch ursprünglich gute Qualitätsmarken die Warengüte nicht durchgehalten haben, ist das „Meinungsmonopol" vieler Markenartikel bei den Verbrauchern erschüttert worden. Viele Markenartikelfabrikanten suchen daher im Vertrauen auf den Reiz der Kundschaft zur Neuheit einen Wechsel der Marken durchzuführen. Auf diese Weise können sich immer wieder neue Marken vorübergehend auf dem Markte behaupten. Die große Zahl der Artikel und der Markenwechsel wirken zusammen, daß sich das Vertrauen der Verbraucher teilweise wieder von der Marke ab- und dem Verkäufer zugewandt hat, weil man der Sachkunde und Ehrbarkeit des Händlers eine den Kundenwünschen entsprechende Markenauswahl überläßt. Der Händler sucht dieses Vertrauen durch die Schaffung von H a n d e l s m a r k e n zu objektivieren. In der Maschinenbranche z. B. ist es seit langem üblich, daß der Großhändler Maschinen aus verschiedenen Fabriken unter seiner Handelsmarke vertreibt. Die Handelsmarke hat sichtlich gegenüber früher zugenommen. Auch haben Großhandelsverbände verschiedentlich Handelsmarken kreiert (z. B. Zentra-Uhren). Diese Verbandsmarken sind oft nicht auf eine einzelne Ware beschränkt, sondern haften den Artikeln des ganzen Großhandelssortiments an, z. B. im Schreibwaren-Großhandel die Marke „Besthaupt"; im Galanterieund Spielwaren-Großhandel die Marke „Degro". Handelsmarkenartikel werden auch vielfach von den Großhändlern bei der Industrie Vgl. besonders Dr. J. Tiburtius: Gütesicherung im Handel. Deutsche Handelswarte, Aug./Sept. 1936.

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in Auftrag gegeben. Mit Schaffung der Handelsmarke geht auch die Werbefunktion wieder auf den Handel über. Natürlich hat sich die Handelsmarke in engeren Grenzen als die Fabrikmarke gehalten, insbesondere weil die Kosten der Einführungsreklame die finanziellen Kräfte der Großhändler meist übersteigen. Die Handelsmarke, namentlich in ihrer Erweiterung auf viele Artikel des gleichen Sortiments, ist vor allem auch von den Einkaufsvereinigungen des Einzelhandels benutzt worden. 7. Die E i n k a u f s v e r e i n i g u n g e n des E i n z e l h a n d e l s stellen die Ausschaltung des Großhandels von der Abnehmerseite her dar. Sie sind der Versuch des klein- und mittelbetrieblichen Einzelhandels, sich die Kostenvorteile des von den Einzelhandels-Großbetrieben organisierten Großeinkaufs zu verschaffen. Dieser Versuch hat in einzelnen Fällen, z. B. im Nahrungsmittel- und Genußmittelhandel, im Hausrathandel, im Drogenhandel und zum Teil auch im Bekleidungs-, Uhren-, Papier-, Seifen- und sonstigen Fachhandel, beachtliche Erfolge gezeitigt, von einem überragenden Anteil am Großhandelsumsatz kann aber doch nirgends gesprochen werden 1 ). Die Abneigung vieler Einzelhändler gegenüber dem gemeinschaftlichen Einkauf liegt vor allem im eigenen Unvermögen ihrer Kapitalvordisposition sowie in der begrenzten Kreditgewährung der Einkaufsvereinigungen begründet. Die gemeinsame Einkaufsmöglichkeit bezieht sich in der Hauptsache auf Stapelwaren, bei deren Bezug Transportkostenersparnisse nur für räumlich beieinander gelegene Geschäfte gegeben sind, andernfalls die Notwendigkeit einer Zentrallagerung und -Verwaltung die erzielten Kostenersparnisse wieder kompensiert. Die individuelle Freiheit in der Lieferantenauswahl wird vom Einzelhändler häufig doch höher eingeschätzt als der höhere Mengenrabatt. Der Gemeinschaftseinkauf bietet hiernach also Vorteile, die teilweise durch die lokale Konkurrenzstellung der Beteiligten aufgewogen werden. Vielfach müssen sich die Einkaufsvereinigungen auf Mitglieder, die nicht mit1

) N a c h Angaben des deutschen Genossenschaftsverbandes, Jahrbuch für 1933, S- 3 2 /33> Tabelle 4, waren d e m Verbände 630 Einkaufsgenossenschaften mit 65865 Mitgliedern angeschlossen. Hiervon entfielen allein auf d e n Kolonialwarenhandel 454 Genossenschaften mit 25306 Mitgliedern. Bei Ausschaltung nicht hierher gehöriger Genossenschaften, jedoch bei Berücksichtigung anderer nicht in Genossenschaftsform organisierter Einkaufsvereinigungen wird die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte, die 1933 Einkaufsvereinigungen angehörten, mit rund 60000 angenommen. Das wären etwa 12% aller bestehenden Einzelhandelsbetriebe. Der Anteil dieser Einkaufsvereinigungen a m gesamten Großhandelsumsatz kann für 1934 mit etwa 7% angenommen werden. Branchenmäßig bestehen natürlich erhebliche Unterschiede.

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einander in Konkurrenz stehen, beschränken. In vielen Orten konnte früher nur e i n Einzelhändler Mitglied der Einkaufsvereinigung sein. In letzter Zeit konnten diese Mitgliedsbeschränkungen wieder fallen gelassen werden.. Bei bezirklich weiterreichendem Gemeinschaftseinkauf ergibt sich der Zwang zu einer Großeinkaufsorganisation, die das ökonomische Bestreben zur Funktionsausdehnung in sich trägt. Wenn auf der einen Seite den Einkaufsvereinigungen vom Großhandel der Vorwurf gemacht wird, daß sie die erforderlichen Großhandelsfunktionen nur zum Teil erfüllen, insbesondere überwiegend im Streckengeschäft liefern und damit einen Teil der üblichen Großhandelsfunktion der Produktionsstufe überlassen, so zeigen auf der anderen Seite die großen Einkaufsvereinigungen eine Kombination mit großhandelsfremden Betriebsleistungen sowie eine Aufnahme von Zusatzleistungen 1 ), die den Mitgliedsfirmen zugute kommen. Sie füllen daher auch Lücken aus, die der Großhandel aus betriebswirtschaftlichen Gründen bei der Deckung des Einzelhandelsbedarfs offen läßt. Die M a s s e n f i l i a l u n t e r n e h m u n g e n , die sich ursprünglich auf Spezialzweige des großstädtischen Lebensmittelhandels beschränkt haben und erst in der Nachkriegszeit auch in die Spezialzweige anderer Branchen eingedrungen sind, haben den Großhandel planmäßig ausgeschaltet und ihn auf Aushilfsfunktionen zu beschränken versucht. Sie werden noch bei Darstellung des Einzelhandels näher zu betrachten sein. Hier soll nur hervorgehoben werden, daß die Massenfilialbetriebe, besonders des Lebensmittelhandels sich infolge der Stockung in der Kolonialwarenzufuhr während des Krieges von Spezialgeschäften mehr zu gemischten Lebensmittelhandlungen entwickelt haben, woraus sich wieder eine stärkere Inanspruchnahme des Großhandels ergab. Zwischen der Betriebsform der L a d e n g e m e i n s c h a f t von Einkaufsvereinigungen (z. B. Edeka-Ladengemeinschaft) und dem (vorzugsweise) großstädtischen Massenfilialunternehmen, das in der Nachkriegszeit auch in Mittelstädten vorgedrungen ist, haben sich noch die sogenannten freiwilligen Ketten ausgebildet, wie sie z. B. von der Kaffeefirma Thams & Garfs in Kleinstädten des norddeutschen Wirtschaftsgebietes organisiert worden sind. Wenn auch diese „Arbeitsgemeinschaft" in einzelnen Teilen ihrer Organisation sowohl von der Ladengemeinschaft der Einkaufsvereinigungen als auch der Massenfilialunternehmen abweicht und den Übergang der Filiale zum äußerlich selbstän*) Magdalena Triebel: „Die Zusatzleistungen der Einkaufsgenossenschaften des deutschen Einzelhandels gegenüber ihren Mitgliedsgeschäften". Dissertation Berlin

1936.

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digen Geschäft ermöglicht •— der Edeka-Laden entwickelt sich mehr umgekehrt vom selbständigen Geschäft in Richtung einer Filiale —, weil die kleinstädtischen Absatzverhältnisse eine größere Selbständigkeit der Verkaufsstellen erfordern, so liegt doch auch hier eine Veränderung der Großhandelsfunktion vor. Die Kaffeegroßhandlung Heinrich Thams als Mitbegründerin des Filialunternehmens und hauptsächliche Lieferantin für die einzelnen Filialen hat sich einen gesicherten Absatzmarkt geschaffen und kann als eines der wenigen Beispiele dafür angeführt werden, wie der Großhandel von sich aus eine Betriebskombination mit der nachfolgenden Wirtschaftsstufe Einzelhandel geschaffen hat 1 ). Die Ausschaltungstendenzen der Großhandelsfunktionen durch die übrigen Großdetailunternehmungen (Warenhäuser, Einheitspreisgeschäfte, Versandgeschäfte usw.) werden im nächsten Abschnitt zu behandeln sein. Alle die hier erwähnten Ausschaltungstendenzen haben aber an der Existenznotwendigkeit des selbständigen Großhandels nicht zu rütteln vermocht; denn die Mannigfaltigkeit des örtlich und sachlich unterschiedlichen Bedarfs sowie Fortschritte und Wandlungen technischer und modischer Art in der vielgestaltigen deutschen Fertigfabrikation sind zu groß, als daß der Absatzgroßhandel als selbständige Wirtschaftsstufe im ganzen überflüssig erscheinen könnte. Wenn auch den betriebswirtschaftlichen Bemühungen um weitere Rationalisierung in der Absatzorganisation kein allgemeines Hindernis in den Weg gelegt werden darf, so muß doch darauf geachtet werden, daß der vorhandene Großhandelsapparat nicht durch nur vorübergehend rentabel erscheinende Direktbeziehungen sowie die allgemeine volkswirtschaftliche Gesichtspunkte vernachlässigenden Ausschaltungsbestrebungen in seiner Grundstruktur gefährdet wird. V. D e r E i n z e l h a n d e l i. Der Einzelhandel nimmt im Prozeß der Warenzuführung an den Verbraucher im allgemeinen die letzte Stelle ein. Er bezieht deshalb in der Regel vom Großhandel die für sein Absatzgebiet erforderlichen Mengen und setzt sie an den privaten Käufer zwecks Verwendung in dessen Haushalts- und Lebensführung ab. Von diesem allgemeinen Absatzweg gibt es jedoch zwei grundsätzliche A b w e i c h u n g e n : a) Nicht alle für den Privatbedarf bestimmten Waren gehen über den Einzelhandel. Namentlich die handwerksmäßig erzeugten Güter 1

) Vgl. auch Enquete-Ausschuß III. 9. Bd. 2 S. 46fr.

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der verschiedensten Art, gleichgültig ob sie auf Bestellung oder Vorrat hergestellt sind, werden dem letzten Verbraucher vom Hersteller unmittelbar zugeführt 1 ). Auch Fabrikwaren finden häufig einen unmittelbaren Weg vom Erzeuger zum Verbraucher. Der Absatz von Apparaten und Haushaltsmaschinen erfolgt, namentlich in dünn besiedelten Gebieten, durch F a b r i k r e i s e n d e . Hier liegt auch das Hauptabsatzgebiet des Versandhandels, der vielfach mit Verarbeitungsbetrieben der Vorstufen verbunden ist. In konzentrierten Verbrauchsgebieten wiederum hat sich die F a b r i k f i l i a l e aufgetan, und als Repräsentationsgeschäft oder spezialisiertes Fachgeschäft im R a h m e n der selbständigen Spezialgeschäfte behauptet. Die Einzelhandelsfunktionen sind also nicht unbedingt an den Berufsstand des Einzelhandels gebunden, werden allerdings nur von ihm vollständig erfüllt. b) Auch der selbständige Einzelhandel bezieht nicht ausschließlich vom Großhandel, sondern in Anlehnung an die vorhandene klein- und mittelbetriebliche, örtlich begrenzte Fertigwarenproduktion auch unmittelbar vom Erzeuger. E r verkauft auch nicht ausschließlich an den privaten, sondern auch an den gewerblichen Kleinverbraucher und -verarbeiter, wohingegen der private und gewerbliche Großverbraucher unter Ausschaltung des Einzelhandels meist vom Großhandel oder der Industrie bezieht. Diese Abweichungen vom üblichen Handelsweg erklären sich sowohl aus der geschichtlichen Entwicklung des Warenabsatzes, wie aus den veränderten Produktions- und Verbrauchsbedingungen. Schon die sowohl gewerbliche als auch private Verwendung vieler Ge- und Verbrauchsgüter macht diese absatzwirtschaftlichen Besonderheiten erforderlich. Die gewerbliche Verwendung — die sich oft nicht scharf von der privaten Verwendung trennen läßt — begründet vielfach nur Einzelbedarf und nötigt zur Versorgung durch den Einzelhandel. Bei privater Verwendung tritt dagegen nicht selten ein Massenbedarf auf, der den üblichen Lieferungsmengen von Industrie und Großhandel entspricht. Der berufsmäßige Einzelhandel hat daher seine Grundlage nicht so sehr in der Versorgung privater Verbraucher, als vielmehr im Vertrieb von Massenerzeugnissen an den einzelnen Verbraucher, einer Tatsache, der sowohl die eingangs erwähnte Organisationsabgrenzung als auch die Umsatzsteuergesetzgebung Rechnung tragen. 2. Die Notwendigkeit einer besonderen Einzelhandelsstufe hat sich f ü r einzelne Teile des Bedarfs bekanntlich schon in vorkapitalistischer 1 ) Neuerdings sucht das Handwerk namentlich für kunsthandwerkliche und serienmäßig hergestellte Erzeugnisse den Absatz über den Einzelhandel (vgl. Dr. Baumert, Wirtschaftspolitischer Dienst v. 10. Dezember 1936).

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Zeit ergeben. Die verhältnismäßig großen Überschußmengen auch der kleineren Bauernwirtschaft auf der einen Seite sowie die Industrialisierung der städtischen Bevölkerung andererseits haben Lebensmittel zu Handelsobjekten gemacht. Der Bedarf an Kolonialwaren hat diesen Handelsbereich erweitert. Auch der Bekleidungsbedarf und die Tuchproduktion sowie Bedarf und Herstellung sonstiger täglicher, lebensnotwendiger Bedarfsartikel haben selbständige Handelsfunktionen begründet. Es sind aber immer nur kleine Teile des privaten Bedarfs gewesen, die einen berufsmäßigen Händler erforderten. Der größere Teil des lebensnotwendigen Bedarfs wurde bei der agraren und kleinstädtischen Bevölkerungsstruktur noch bis über die Mitte des 19. J a h r hunderts hinaus zu sehr durch die landwirtschaftliche Selbstversorgung und das ortsgebundene Handwerk gedeckt und ließ deshalb einen selbständigen Einzelhandel nicht wesentlich über das Dorfkrämertum hinauswachsen. In größeren Orten blieb der Einzelhandel vielfach in betrieblicher Verbindung mit dem vorhandenen Großhandel. Neben dem Kolonialwaren- und Manufakturwarenhändler setzten die verschiedenen Spezialhandwerker, sei es auf Grund von Kundenaufträgen oder über den Krammarkt, ihre Erzeugnisse ab. Erst ganz allmählich hat sich der Einzelhandel parallel mit der industriellen Entwicklung und dem verhältnismäßigen Rückgang der handwerksmäßigen Erzeugung funktionell aus dieser ursprünglichen Betriebsbindung an Großhandel und Handwerk herausgelöst. Diese Lösung ist räumlich und sachlich von so unterschiedlichem Ausmaße, daß die Funktion der Warenzuführung an den einzelnen Verbraucher, also die Funktion des „Letzthandels" 1 ), auch heute noch — oder wieder — zum Teil von den verschiedensten Stufen ausgeübt wird und in mannigfacher Kombination und Spezialisation auftritt. Trotzdem im Laufe des 19. Jahrhunderts infolge der großstädtischen Entwicklung sowie der Spezialisierung in der technischen Fertigwarenerzeugung der Einzelhandel sich immer mehr verselbständigte und in Spezialbranchen gliederte, hat doch die amtliche Statistik von 1907 noch keine Trennung von Groß- und Einzelhandel vorgenommen; aus der Teilung der Betriebe in Haupt- und Nebenbetriebe war die noch in der Produktionssphäre steckende Handelsfunktion ihrer Art nach nicht deutlich erkennbar. Bei der nächsten Betriebszählung von 1925 ist dagegen erstmalig der Einzelhandel als besonderer Gewerbezweig statistisch erfaßt und dabei auch eine weitgehende Branchenteilung vorgenommen worden. Sie ließ jedoch mit Rücksicht auf die Unterschiedlichkeiten 1

) Adolf Lampe: „Der Einzelhandel in der Volkswirtschaft", 1930, S. 7.

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der Entwicklung die Branchen- und Betriebsschichtung des Einzelhandels nicht scharf genug erkennen, denn sie faßte einerseits eine Reihe von zwar äußerlich ähnlichen, strukturell aber verschiedenen Betriebsformen zusammen (z. B. Warenhäuser und kleinere Gemischtwarengeschäfte in der Gruppe Einzelhandel mit Waren aller Art), andererseits gliederte sie z. B. im Lebensmittel- und Textileinzelhandel Spezialgruppen aus, die bis heute in der Regel nur an größeren Verbrauchsplätzen als Spezialhandelsgeschäfte bestehen, in kleinstädtischen und ländlichen Verhältnissen dagegen noch in engster Betriebsverbundenheit als Gemischtwarengeschäfte vorhanden sind. Da jedes Spezialgeschäft eine bestimmte und stetige örtliche Bedarfskonzentration voraussetzt, deren Ausmaß auf Grund der betriebswirtschaftlichen Kostenverhältnisse für die einzelnen Branchen- und Warengruppen sehr verschieden ist, können bei der M a n n i g f a l t i g k e i t d e r d e u t s c h e n V e r b r a u c h s g e b i e t e die gleichen Waren nicht durchweg in den gleichen Spezialgeschäften abgesetzt werden. So m u ß für fast alle Waren des täglichen Bedarfs (z. B. Süßwaren, Schreibwaren, Reinigungsmittel usw.), f ü r die in Groß- und Mittelstädten Spezialgeschäfte vorhanden sind, in Kleinstädten der Gemischtwarenhändler, auf dem Lande der Dorf krämer einspringen 1 ). Ebenso gibt es in Nebenstraßen und Vororten großer Städte Mischformen von Einzelhandelsgeschäften, insbesondere in der Verbindung von Eisenwaren, Hausrat, Beleuchtungsartikeln, zum Teil auch mit anderen Waren durchsetzt. Neben diesen aus älterer Überlieferung überkommenen Mischungen sind andere Formen entstanden, bei denen neu auf den Markt gekommene Waren von besonderer Anziehungskraft in die Warenkreise älterer Handelszweige zur Vermehrung des Umsatzes aufgenommen wurden, z. B. Radiogeräte von Hausrats-, Beleuchtungs- oder Musikaliengeschäften. Zum Teil dienen diese Warenmischungen auch dem Ausgleich von Saisonschwankungen, wie es z. B. bei der Verknüpfung von Bekleidung und Sportartikeln oder von Hausrat und Baueisenwaren der Fall ist. Neuere Erzeugnisse wie Metall- und Haushaltwaren, Glasund Porzellanwaren, Radioapparate, Beleuchtungsgeräte usw., die in konzentrierten Verbrauchsgebieten meist Spezialgeschäfte haben entstehen lassen, müssen sich also in großem Umfange in die Sortimente verwandter Fachgeschäfte oder in den Gemischtwarenhandel eingliedern. Sie sind hier außerdem vielfach Handelsobjekte einschlägiger Einen guten Einblick in die Mannigfaltigkeit der Einzelhandelsgeschäfte bietet das auf Anregung der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel von Franz Effer verfaßte Buch Kaufmann mitten im Volk, das mit vielen, von Otto Gröndahl ausgewählten Bildern versehen ist.

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Handwerksbetriebe geworden, die sich ihrerseits damit in wachsendem Umfange zu Einzelhandelsgeschäften umgebildet haben. Die Entwicklung des selbständigen E i n z e l h a n d e l s aus d e m H a n d w e r k ist bisher wohl noch nicht hinreichend beachtet worden. Bestimmte Handwerkszweige haben ja von jeher ihre Erzeugnisse in der Form des für den Einzelhandel typischen Ladengeschäfts vertreiben müssen. Die Fleischer- und Bäckerläden z. B. hatten schon immer ein stark einzelhändlerisches Gepräge und sind auch durch Aufnahme von Fabrikwaren (z. B. Dauerwurstwaren, Süßwaren, Nährmittel usw.) zum kleinen Teil zu Einzelhandelsgeschäften geworden. Dieser Handwerkshandel hat in anderen Handwerkszweigen, die in stärkerem Maße durch die Industrie verdrängt worden sind, weit größeren Umfang angenommen. So sind z. B. Optiker und Feinmechaniker zu Juwelen- und Uhrenhändlern, Schlosser, Installateure und Büchsenmacher zu Maschinen-, Beleuchtungs- oder Sportartikelhändlern geworden. Sattler und Polsterer haben den Handel mit Leder- und Galanteriewaren aufgenommen, Buchbinder und kleine Buchdrucker sind zu Papier- und Schreibwarenhändlern, Schneider zu Textilhändlern, Schuhmacher zu Schuhhändlern, Putz- und Hutmacher zu Huthändlern geworden, Tischler haben Möbelhandelsgeschäfte eröffnet. In all diesen Handwerkszweigen, deren Erzeugnisse allmählich durch Industriewaren ersetzt oder ergänzt worden sind, spielt der Einzelhandelsumsatz eine nicht unbeträchtliche Rolle. Teilweise überwiegt er, teilweise tritt er aber auch noch hinter der Handwerksarbeit zurück. Überall ist jedoch die Betriebskombination von Werkstatt und Laden, also von Handwerks- und Einzelhandelsfunktionen infolge der Konsumorientierung notwendig geworden. Bei Industrieerzeugnissen, denen ein handwerklicher Unterbau fehlte, mußten die Einzelhändler R e p a r a t u r w e r k s t ä t t e n als Hilfsbetriebe einrichten. Hieraus ergeben sich die besonderen Schwierigkeiten der organisatorischen Abgrenzung zwischen Handwerk und Einzelhandel 1 ). Eine ähnliche, historisch zu erklärende Betriebsverbundenheit besteht zum Teil auch noch zwischen E i n z e l h a n d e l u n d G r o ß h a n d e l . Zwar hat schon die Warenhandlung, wie sie Gustav Freytag in „Soll und Haben" gezeichnet hat, den Einzelhandel aufgegeben. In vielen Mittelstädten wird aber noch heute von Großhändlern der „zweiten Hand" für den räumlich nahegelegenen Bedarf Einzelhandel betrieben. Umgekehrt haben größere Einzelhandelsgeschäfte des Gemischtwarenhandels in der Provinz — ähnliche wie große Warenhauskonzerne für J ) V g l . G . v. Hake: „Handwerksarbeit im Einzelhandel". Das EinzelhandelsA r c h i v Juni-Heft 1936, A b t . O S. 189fr.

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Anschlußgeschäfte — vielfach Großhandelsfunktionen für die Gemischtwarenhändler und Dorfkrämer benachbarter Orte übernommen. In Grenzgebieten und Einfuhrplätzen pflegen auch größere Einzelhandelsgeschäfte, besonders des Lebensmittelhandels, für einzelne Teile ihres Warenbedarfs den Import selbst zu besorgen. 3. Alle diese Verbindungen des Einzelhandels mit Großhandel oder Handwerk sind historischen Ursprungs. Sie sind nicht mehr so überragend, daß sie die Grenzen der selbständigen Einzelhandelsstufe im allgemeinen verwischen könnten. Die Statistik gibt daher doch wohl einen hinreichenden Überblick über die Ausdehnung des Einzelhandels. Die Zahl der Betriebe ist von 775830 im Jahre 1925 auf 830410 im Jahre 1933, also um 7 % gestiegen. Die Zahl der beschäftigten Personen stieg im gleichen Zeitraum von 1 705 233 auf 1890 650, also um fast 11 %. Der Einzelhandel war somit beteiligt 1925 an der Gesamtzahl der gewerblichen Betriebe mit 22,6% an der Gesamtzahl aller gewerblichen Tätigen mit 9,2 %

J

933 24% 13,3 %.

Dieses statistisch nachweisbare Wachstum des Einzelhandels hat seine Gründe teilweise in der durch weitere Industrialisierung gesteigerten Einzelhandelsfunktion, teilweise aber auch in den Auswirkungen der Krise, die den Einzelhandel zum wirtschaftlichen Zufluchtsgebiet der Arbeitslosen werden ließ. Besonders die überdurchschnittliche Zunahme der Kleinbetriebe (1—3 beschäftigte Personen), die über 90% aller Einzelhandelsbetriebe ausmachen, ist dafür Beweis. Im übrigen darf aber wohl mit Rücksicht auf die Ausbildung neuer Geschäftszweige, die Entstehung verschiedenartiger und gegensätzlicher Bedürfnisse der Verbraucher sowie die verstärkte Erwerbsarbeit der Frau 1 ) nicht unter allen Umständen von einer Übersetzung, sondern im Gegenteil von einem organischen Wachstum 2 ) des Einzelhandels gesprochen werden. Auch der verstärkte Handwerkshandel mit neuartigen Industrieerzeugnissen, der eine statistische Umgruppierung früher bei der Gruppe Industrie und Handwerk gezählter Betriebe in die Gruppe Einzelhandel bewirkt hat, zeigt die Besonderheiten dieses organischen Wachstums. In der die Krisenzeit mitumfassenden Periode von 1925 bis 1933 weisen bei einer Betriebsvermehrung um über 7 % und einer Vermehrung der Beschäftigten um über 11 % im gesamten Einzelhandel einzelne Einzel1

) Denkschrift der Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels (Dipl.-Kaufm. Prieß). 2 ) Dr. Paul Baumert „Organisches Wachstum im Einzelhandel". Pressedienst des Einzelhandels Nr. 63 vom 21. August 1934.

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Handelszweige, z. B. Optik, Photo, Funkgerät, Musikinstrumente, eine 150 bis 200%ige Vermehrung auf, während die handwerklichen Betriebe der entsprechenden Gewerbegruppen einen überdurchschnittlichen Rückgang zeigen. In vielen Handwerksbetrieben ist eben der Einzelhandel mehr und mehr zur Hauptsache geworden, was auch daraus zu ersehen ist, daß die nach der Statistik im Einzelhandel tätigen gewerblichen Facharbeiter so stark zugenommen haben. Schließlich ist bei Beurteilung der Übersetzung im Einzelhandel auch die unzulängliche Ausgliederung des Hausiererhandels zu beachten, dessen Abnahme in der Zeit von 1925 bis 1933 um über 50% der Wirklichkeit nicht entspricht. 4. Zur Beantwortung der Frage, in welchem Umfange die industriellen Spezialerzeugnisse im Einzelvertrieb durch den einschlägigen Fachhandel, durch den Gemischthandel oder durch Handwerkshandel und industriellen Direkthandel dem letzten Verbraucher zugeführt werden; kann demnach auch die weitgehend aufgegliederte Betriebsstatistik nicht ausreichen. Deutlich ist aus ihr jedoch die Zunahme des großstädtischen Spezial- und Gemischtwarenhandels erkennbar. Während der großstädtische Spezialhandel besonders stark auch durch den erwähnten Handwerkshandel und durch A u s b a u d e r M a s s e n - u n d F a b r i k f i l i a l e n ausgeweitet worden ist, ist die Steigerung des Gemischtwarenhandels (um 3 4 % der Betriebe und um fast 60% der Beschäftigten) hauptsächlich auf das W a c h s t u m d e r W a r e n h ä u s e r , E i n h e i t s p r e i s g e s c h ä f t e u n d K o n s u m v e r e i n e zurückzuführen. In die ländlichen Gebiete ist der V e r s a n d h a n d e l eingedrungen und hat ihre Versorgung mit einzelnen, im Sortiment des Dorfkrämers nicht vertretenen Waren bereichert. Es h a t s i c h a l s o e i n e M o d e r n i s i e r u n g des E i n z e l v e r triebes vollzogen. Sie findet ihren sichtbaren Ausdruck vor allem im s t ä r k e r e n H e r v o r t r e t e n neuerer Betriebsf o r m e n u n d in e i n e r w e i t e r e n K o n s u m o r i e n t i e r u n g des E i n z e l h a n d e l s a p p a r a t e s , die das Gegenstück zur fortschreitenden Spezialisierung der Fertigwarenerzeugung bildet. Der Gemischtwarenhandel alten Stiles, der demgegenüber im Rückgang begriffen ist, kann mit diesen modernen Betriebsformen nicht verglichen werden. Während hier das Warensortiment auf lebensnotwendigen Existenzgütern aufgebaut ist, findet das Sortiment der Warenhäuser und Einheitspreisgeschäfte seine Erklärung in der Auswahl gangbarster Sorten und Qualitäten. Dabei haben die Warenhäuser allerdings unterschiedliche Typen entwickelt. Neben Häusern, die gewissermaßen eine Zusammenfassung von Spezialgeschäften nahezu

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aller Warenarten darstellen, stehen Geschäfte, die je nach Standort und Kundenkreis qualitativ höherwertige Warensorten führen oder aber Verkaufsstätten von ausgesprochenem Charakter billiger Massenbedarfsbefriedigung darstellen. Selbst in den Einheitspreis- und Serienpreisgeschäften sind Unterschiede der Qualitätsgrade von Waren und Leistungen erkennbar, im Vordergrund steht aber bei ihnen eine Zusammenstellung von Massenluxusbedarf in niedrigen Preislagen. Der modische und saisonmäßige Wechsel läßt bei ihnen die Leitidee der Gewinnerzielung besonders deutlich hervortreten. Bevor in der Gesamtentwicklung des Einzelhandels die [hier unter dem Begriff der modernen Betriebsformen zusammengefaßten] Geschäftstypen der Warenhäuser, Einheitspreisgeschäfte, Massen- und Fabrikfilialen, Konsumvereine und Versandgeschäfte stärker hervortraten, haben sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts als Folge der Verbesserung und Vergrößerung der Fertigwarenindustrie neben dem überkommenen Gemischtwaren- und Kramhandel Z w i s c h e n f o r m e n entwickelt, die als Vorläufer sowohl des mittelständischen Fachhandels als auch des großbetrieblichen Warenhandels anzusehen sind. Neue, gegenüber der handwerksmäßigen Herstellung vielfach höherwertige Industrieerzeugnisse erforderten auch eine bessere Darbietung. So taten sich in den von kaufkräftiger Bevölkerung bewohnten Großstadtvierteln v o r n e h m e V e r k a u f s m a g a z i n e auf. Soweit die Produktionstechnik auch billigere Ausführungen von bisher nur hochwertigen Waren ermöglichte, also eine Massenerzeugung gewisser Kulturgüter durchführbar wurde, konnten sich auch in Arbeiterwohnvierteln M a s s e n a r t i k e l g e s c h ä f t e niederlassen, die je nach der Kaufkraft der Bevölkerung bis zum Schundartikel herabstiegen 1 ). 5. In kleinstädtischen und ländlichen Gebieten fanden diese Betriebsformen naturgemäß keinen Eingang. Hier blieb die auf lebensnotwendige Bedarfsartikel beschränkte G e m i s c h t w a r e n h a n d l u n g bestehen, die sich vom Kramhandel vorkapitalistischer Zeit auch heute noch nicht wesentlich unterscheidet. Trotz seines vielgestaltigen Sortiments ist sein Umsatz oft so klein, daß es nur neben landwirtschaftlicher oder sonst noch möglicher gewerblicher Tätigkeit wie Gastwirtschaft, Versicherungsgeschäft usw. eine Existenzbasis bietet. In abgelegenen Dörfern kommt es sogar häufig vor, daß ein nebenberuflich als Landwirt tätiger Gastwirt alle nur erdenklichen, regelmäßig oder gelegentlich erforderlichen nichtlandwirtschaftlichen Funktionen, z. B. *) V g l . Werner Sombart: „ D i e deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert",

3. Aufl. 1913, S. 225fr.

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Großhandel, Einzelhandel, Raiffeisenkasse, Versicherungsgeschäft, Schulzenamt usw. in sich vereinigt. Dort, wo noch ein Dorfhandwerk seine Nahrung findet und Gegenstände des langfristigen Existenzbedarfs, z. B. Möbel und Textilien, nicht auswärts eingekauft werden, kommen als Träger von Handelsfunktionen auch noch Dorfschneider und Dorftischler in Frage. Soweit sich dann noch Lücken der Bedarfsversorgung fühlbar machten, wurden sie durch den Versandhandel und durch Aufsuchen städtischer Geschäfte seitens der Dorfbewohner ausgefüllt. Der davon ausgehende Aufschwung des kleinstädtischen Geschäftslebens ist mit der Einschränkung der J a h r - und Wochenmärkte aber wieder abgestoppt worden. Nach dem Kriege hat dann das Automobil teils die Waren des mittelstädtischen Geschäfts auf das Land gebracht, teils der Landbevölkerung den Einkauf in der Stadt erleichtert. 6. Ganz anders haben sich dagegen die einzelnen Handelsbetriebsformen in konzentrierten Verbrauchsgebieten weiterentwickelt. Aus dem besseren Bedarfsmagazin sind die S p e z i a l g e s c h ä f t e erwachsen, die sowohl die Kultur des Stoffes, wie die Kultur der Darbietung höher ausgebildet haben: das Feinkostgeschäft, das Spezialhaus für Damenmoden, das Herrenartikelgeschäft, das Schuhgeschäft, das Schirm- und Stockgeschäft, das Herrenhutgeschäft, das Möbelgeschäft, das Lederwarengeschäft, das Parfümeriegeschäft, das Gold- und Silberwarengeschäft, das Optik-, Photo- und Radiogeschäft, das Papier- und Schreibwarengeschäft. Alle diese Spezialgeschäfte bilden das Fundament des beruflich selbständigen, vorwiegend mittelständischen Einzelhandels, der bis zum Kriege die Struktur des Warenabsatzes an den letzten Verbraucher in erster Linie kennzeichnete. Er konnte mit zunehmendem Wohlstand der großstädtischen Käufermassen und unterstützt durch weitgehende Kreditgewährung der an einem großen Verteilungsnetz interessierten Lieferanten auch in den Arbeiterwohnvierteln Fuß fassen, in denen allerdings neben den Handwerksgeschäften (Bäcker, Schlächter, Schuhmacher, Friseure) die Fachgeschäfte für kurzfristigen Existenzbedarf, z. B. die Kolonialwaren-, Eisenwaren-, Seifengeschäfte usw., dominieren. Sie weisen außerdem stärkere Sortimentsmischungen auf als die Fachgeschäfte in der City. Obwohl sich zunächst auch noch die Schund- und Massenartikelgeschäfte behaupten konnten, zumal „Partiewaren" mit Rücksicht auch auf die industrielle Produktion weiter eine erhebliche Rolle spielten, ließ der Massenbedarf hier doch eine Versorgungslücke erkennen, die mehr und mehr durch die aufstrebenden Warenhäuser ausgefüllt wurde. 7. Die W a r e n h ä u s e r , vorzugsweise aus Manufakturwarengeschäf-

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ten entstanden, haben denn auch eine außergewöhnliche Entwicklung genommen und konnten in sehr kurzer Zeit eine Betriebskombination der Fachgeschäftssortimente vornehmen, allerdings unter dem kapitalistischen Gesichtspunkt der gangbarsten Artikel jeder Branche. Der wachsende Bedarf der Vorkriegszeit ließ diese neue Warenhauskonkurrenz für die mittelständischen Fachgeschäfte zunächst erträglich erscheinen. Die Warenhäuser sind sogar in hohem Maße citybildend gewesen und haben nicht nur sich selbst, sondern auch dem Facheinzelhandel in der Innenstadt einen verkehrsreichen Standort erschlossen. Nach dem Kriege sind die Warenhäuser jedoch auch in die Großstadtvorstädte vorgestoßen, und zwar sowohl in die Arbeiterwohnviertel, als auch in die gehobeneren Wohngebiete. Es handelte sich hierbei allerdings vielfach nicht mehr um Geschäftsneugründungen als vielmehr u m Erwerbungen bestehender Geschäfte, die zu größeren Warenhausfilialen ausgebaut wurden. Die Inflationszeit mit ihren zerstörenden Folgen für Kapital- und Kaufkraft haben dann der Weiterentwicklung der Warenhäuser auf Kosten des mittelständischen Facheinzelhandels Vorschub geleistet. Der Tendenz der Konsumorientierung konnten aber die Warenhäuser doch nicht in dem Maße Rechnung tragen, wie es der Bequemlichkeit der wohngebundenen Käufermassen und ihrer gesunkenen Kaufkraft entsprach. Die Wünsche nach Bedarfsdeckung drängten dahin, die besonderen Vorteile der Großbetriebe in Einkauf und Betriebsorganisation auch für das ortsgebundene Spezialgeschäft nutzbar zu machen. Hinzu kam die Tendenz der Demokratisierung gewisser Luxusbedürfnisse, die bereits in der Vorkriegszeit vorhanden war, durch die Flucht in die Sachwerte während der Inflationszeit wesentlich gesteigert wurde und den Kreis des gebräuchlichen Kulturbedarfes erweitert hat. 8. Mit den Vorteilen der Konsumnähe und der fachlichen Spezialisierung suchten die Vorteile des Großeinkaufs vor allem die M a s s e n f i l i a l u n t e r n e h m u n g e n zu verbinden. Durch Einrichtung konsumnaher Verkaufsstellen nach Art und Umfang selbständiger Einzelhandelsbetriebe führten sie die Waren in die unmittelbare Nähe des Verbrauchers und konnten im Einkauf ebenso wie die Warenhäuser große Mengenrabatte ausnutzen. Die Kosten der zentralen Verwaltung und Zuführung der Waren an die örtlichen Verkaufsstellen wurden durch Einsparung der Großhandelsgewinne und durch die einheitliche Betriebsführung der Verkaufsstellen aufgewogen. Im Durchschnitt kann die Rentabilität eines Filialbetriebes als etwas günstiger als die eines entsprechend großen selbständigen Einzelhandelsbetriebes

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angesehen werden. Die Massenfilialunternehmungen können aber bei ihrer weitgehenden Spezialisierung nur in sehr dichten Verbrauchsgebieten bestehen. Schon in der Vorkriegszeit hat es j a besonders im Lebensmitteleinzelhandel Massenfilialunternehmungen, z. B. Butterund Kaffeegeschäfte gegeben. In der Nachkriegszeit hat das System der Massenfilialen einen außerordentlichen Aufschwung genommen und in fast allen Branchen des Einzelhandels Eingang gefunden 1 ). 9. Daneben sind vor allem die K o n s u m v e r e i n e zu nennen. Sie haben mit den Massenfilialen den Grundsatz der Zentralisierung von Einkauf und Kostenkontrolle gemein; sie unterscheiden sich von ihnen aber durch ihre Rechtsform, durch die Mitgliedsverbundenheit ihrer Kunden und durch die meist gemischten Warenkreise. Die Zahl ihrer Verkaufsstellen hat sich seit 1925 von rund 10000 auf rund 13000 erhöht. Bei Gründung neuer Konsumvereinsläden mußte vor allem die Bevölkerungsdichte beachtet werden 2 ); in kleineren Orten konnten sie nur bei Vorhandensein einer stärkeren Arbeiterbevölkerung eingerichtet werden und haben auch hier vielfach nur vegetiert. In neu entstandenen Siedlungen und Laubengeländen konnten sogar nur Wanderabgabestellen unterhalten werden. Ein Umsatzoptimum war selbst in der Hochkonjunktur bei den meisten Konsumvereinsläden noch nicht erreicht. Es entstanden an vielen Stellen unwirtschaftliche Betriebsaufblähungen, die mit zur Übersetzung des Handels beigetragen haben. Infolge des Gesetzes über die Verbrauchergenossenschaften vom 21. Mai 1935 sind etwa 600 Verkaufsstellen geschlossen und etwa 700 in Privatbesitz überführt worden. Etwa 1800 Verkaufsstellen, die heute noch mit der deutschen Großeinkaufsgesellschaft (Deugro) verbunden sind und deren Privatisierung wegen der Einkaufsbindungen und der Verwertung der zentralen Produktionsanlagen auf Schwierigkeiten stößt, sind vorläufig von sogenannten (durch die Deugro gegründeten) Auffanggesellschaften übernommen worden. Sie unterscheiden sich also kaum noch von privaten Massenfilialen. In genossenschaftsrechtlicher Form sind 1 1 1 3 Konsumvereine mit 9 1 1 0 Verkaufsstellen weiter bestehen geblieben, 10. Auch die F a b r i k f i l i a l e n haben sich außerordentlich vermehrt. Da sie meist ein noch engerbegrenztes — weil auf die eigenen Erzeugnisse beschränktes — Spezialsortiment haben, können sie auch weniger *) „Massenfilialunternehmen im Lebensmitteleinzelhandel",

Enquete-Ausschuß

I I I 9, Bd. I I . 2 3

) „ K o n s u m v e r e i n e " , Enquete-Ausschuß I I I 9; Bd. V I I I 1 9 3 1 , S. ioff.

) V g l . Dr. Walter v. Delius: „ D i e Verselbständigung der Konsumvereinsläden",

in: Das Einzelhandels-Archiv, Oktoberheft 1936, A b t . A , S . 7 9 f r . 20

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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in die Wohngebiete vordringen und müssen sich mehr auf die Hauptverkehrsstraßen beschränken. D a r ü b e r hinaus kann die Fabrikfiliale nur als Agenturgeschäft aufgezogen werden, dessen G r ü n d u n g oft nur unter U m g e h u n g des Einzelhandelsschutzgesetzes möglich ist. V i e l e Fabriken beschränken sich aber auch auf bloße Repräsentationsgeschäfte in der Großstadt, die als solche nur Reklamewert haben. Einschneidender sind dagegen Gemeinschaftsläden mehrerer gleichartiger Fabrikanten — analog dem industriellen Gemeinschaftsexport — , wie sie z. B. in der Metall- und Lederwarenbranche neuerdings eingerichtet worden sind. A u f die Ausschaltung des Großhandels durch die Massenfilialunternehmen ist bereits hingewiesen worden. In den Verkehrsstraßen der Großstädte haben die Filialgeschäfte teilweise bereits das Übergewicht. Ihre R e k l a m e wetteifert hier mit derjenigen der Fabrikfilialen, der Waren- und K a u f h ä u s e r , der Kinos und der Markenartikel. Die Stetigkeit ihrer W e r b u n g , die meist schon in der Firmierung und Ladenausstattung hervortritt, übt auf die K ä u f e r Wirkungen aus, die psychologisch denen einer Handelsmarke gleichkommen. 11. M i t G r ü n d u n g der E i n k a u f s v e r e i n i g u n g e n h a b e n auch einzelne Geschäftszweige des selbständigen Einzelhandels derartige V o r teile zu erreichen versucht. In einzelnen Fällen sind Einkaufsvereinigungen mit S c h a f f u n g von Ladengemeinschaften dicht an das System der Massenfilialunternehmen herangekommen. Indessen liegt es nicht im Z w e c k der Einkaufsvereinigungen, den Bedarf ihrer Mitglieder vollständig zu zentralisieren und das Risiko einheitlicher Betriebsverwaltung der Mitgliedsgeschäfte zu übernehmen. 12. Den Erfordernissen der Konsumnähe, der Einkaufsrationalisierung sowie der Anpassung an die Massenkaufkraft und ihrer K a u f gewohnheiten haben in gewisser Hinsicht weitaus am besten die E i n h e i t s p r e i s g e s c h ä f t e entsprochen. Sie sind nach amerikanischem V o r b i l d e in Deutschland nach der Inflation urplötzlich aufgetaucht und haben in kurzer Zeit die W o h n - und Geschäftsviertel der Großstädte mit einem Filialnetz überzogen. Die G r ü n d u n g e n der größten deutschen Einheitspreisunternehmen gingen v o n großen Warenhauskonzernen und amerikanischen Unternehmen aus. 1928 haben sie bereits einen U m s a t z von etwa 100 Millionen R M . erzielt. Er konnte trotz der Krise bis 1933 a u f das dreifache gesteigert werden. Sie können d a r u m mit R e c h t als „ K r i s e n g e s c h ä f t e " bezeichnet werden. Gemessen a m gesamten Einzelhandelsumsatz ist ihr Umsatzanteil in Höhe von etwa 1 , 5 % zwar nicht bedeutend, bei einem Vergleich mit den Einzelhandelsumsätzen ihrer engeren regionalen Wirtschaftsbereiche wird

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dieser Anteil mit einem mehrfachen dieses Prozentsatzes zu veranschlagen sein. Bestimmte Qualitäten einfacherer Warenarten werden hier sogar überwiegend zum Umsatz der Einheitspreisgeschäfte gehören. Dieser außerordentliche Erfolg des Einheitspreissystems, der übrigens mit aufsteigender Konjunktur bezeichnenderweise nicht ganz durchgehalten werden konnte, hat seine besonderen Gründe. Ein zähes Festhalten des Massenverbrauchs an gewissen Massenkulturgütern und die entsprechende, durch die Großnachfrage der Einheitspreisunternehmen gesteigerte Massenproduktion haben infolge der durch Schrumpfung der Massenkaufkraft geförderten Umstellung vom Bedarfsdenken zum Kaufkraftdenken die besondere Betriebsund Sortimentsgestaltung des Einheitspreissystems so stark beeinflußt. Das Einheitspreisgeschäft stellt ja eigentlich einen modernen Kramladen dar, der nur nicht im Stile dieser Läden auf existenznotwendigen Bedarfsartikeln, sondern auf jeweils besonders gangbaren und verbilligten Massenerzeugnissen aufgebaut ist. Es basiert nicht wie das Fachgeschäft auf dem Prinzip der Bedarfsdeckung, sondern der Kaufkraftausnutzung, d. h. es stellt nicht die Bedarfsgüter nach Maßgabe der tatsächlich vorhandenen Bedürfnisse bereit, sondern gibt dem Verbraucher Gelegenheit festzustellen, was er sich für die ihm verbleibende Kaufkraft noch beschaffen kann. In diesem Güterangebot muß sich das Einheitspreisgeschäft nach den Möglichkeiten der Massenproduktion und des Massenabsatzes richten und kann deshalb auf die Dauer kein gleichbleibendes Warensortiment aufrecht erhalten. Es hat daher einen relativ starken Sortimentswechsel und greift mit Hilfe von Preisunterbietungen abwechselnd in den Sortimentsaufbau der verschiedenen mittelständischen Fachgeschäfte ein, die es jedoch nie voll ersetzen kann. Beliebteste Gegenstände des Einheitspreisgeschäfts sind gewisse Saisonartikel und lukrative Pfennigwaren, die eine besondere Kundenberatung und individuelle Bedienung erübrigen. Als Verkäufer werden daher auch keine besonders geschulten Kräfte benötigt, zumal da der Verkaufsakt weitgehend mechanisiert ist und einem Automatenverkauf nahekommt. Da die von den Einheitspreisgeschäften geführten Warenqualitäten im vollständigen Sortiment der Fachgeschäfte nicht fehlen können und hier sogar vielfach eine kalkulationsausgleichende Bedeutung haben, wirkt sich die Konkurrenz der Einheitspreisgeschäfte für den Fachhandel sehr empfindlich aus. Das Einzelhandelsschutzgesetz, das die Errichtung, Erweiterung und Verlegung von Einheitspreisgeschäften grundsätzlich verboten hat, hat zwar ihrer räumlichen Erweiterung und der Hinzunahme neuer Warengattungen gewisse Grenzen gezogen, sie reichen aber nicht aus, 20*

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um den Sortimentwechsel der Einheitspreisgeschäfte wirksam zu beschränken 1 ). Modische Schwankungen sowie geringere Ansprüche an die Warenqualität vieler Bedarfsartikel haben auch kaufkräftigere Verbraucher zu Kunden der Einheitspreisgeschäfte gemacht, die deshalb nicht nur in den Arbeiterwohnvierteln, sondern auch in besseren Wohngebieten Fuß fassen konnten. 13. Dem Erfordernis der Konsumnähe ist auch durch die Entwicklung anderer Vertriebsformen entsprochen worden. Der A u t o m a t e n v e r k a u f , der für einzelne Gegenstände des täglichen Bedarfs (insbesondere Tabakwaren und Süßwaren) besonders in letzter Zeit eine große Ausdehnung erfahren hat, blieb durch das Automatengesetz vom 6. Juli 1934 dem Facheinzelhandel vorbehalten 2 ). Über die verkehrsreichen Standorte hinaus kann er mit Rücksicht auf die Anlagekosten keine nennenswerte Erweiterung erfahren. Jedenfalls ist der Warenautomat als entscheidender Faktor in der Leistungskonkurrenz der Betriebsformen nicht anzusehen. 14. Der a m b u l a n t e H a n d e l , namentlich soweit er in der Form des großstädtischen Wochenmarktes auftritt, hat an Bedeutung zugenommen und wird heute zum nicht geringen Teil auch nebenher von gewissen Teilen des seßhaften Fachhandels betrieben. Neben den schnell verderblichen Lebensmitteln, die über den Wochenmarkt einen billigen und verbrauchsnahen Absatzweg finden, hat aber auch der einfache Textil- und Hausrathandel auf dem Wochenmarkt seinen ständigen Platz. Der kleinstädtische Jahrmarkt ist weiter im Schwinden begriffen und tritt eigentlich nur noch als Weihnachtsmarkt in Erscheinung. Der gesamte ambulante Handel macht auch heute noch mit Rücksicht besonders auf den Wochenmarkt-, Straßen- und Hausierhandel etwa 1,7 Milliarden RM., d. h. etwa 6,7% des gesamten Einzelhandelsumsatzes von 1935 aus. Er erhält heute teilweise stärkeren Zustrom, da der Zugang zum Ladenhandel durch das Einzelhandelsschutzgesetz erschwert ist. Seitens der Berufsvertretung wird deshalb auch für diesen Handelszweig ein gesetzlicher Schutz angestrebt 3 ). Im übrigen ist der ambulante Handel noch wenig erforscht. 15. Als eine moderne, verfeinerte Form des Hausierhandels ist der V e r s a n d h a n d e l anzusehen, der gewissermaßen die Leistungen der V g l . G. Mensel: „ D a s Einzelhandelsschutzgesetz in geltender Fassung". Das Einzelhandels-Archiv, Oktoberheft 1936, Abt. O, S. 205. 2 ) Vgl. G. v. Hake: „ D e r Warenverkauf aus Automaten". Das EinzelhandelsArchiv, Okt.-Nov. 1936, A b t . O , S. 209ff. 3) Vgl. Geschäftsbericht der Wirtschaftsgruppe Ambulantes Gewerbe 1936.

Grundfragen der deutschen Absatzwirtschaft

309

neueren Betriebsformen auf das Land, d. h. in die dünnbesiedelten Verbrauchsgebiete trägt, wohin die Warenhäuser, Einheitspreisgeschäfte, Massenfilialen usw. nicht vorstoßen können. Er wächst vielfach, z. B. bei Lebensmitteln, aus Herstellerbetrieben heraus oder hat sich, wie bei Textilien, Verarbeitungsbetriebe angeschlossen. Er sucht vor allem die Vorteile zentraler Betriebsführung und konsumnahen Warenangebotes mit Hilfe der Post- und Verkehrseinrichtungen zu vereinigen. Was beim seßhaften Fachhandel die Anlagekosten bedeuten, stellen bei ihm die Katalog- und Portokosten dar. Zwar hat der Versandhandel namentlich in Textilien, Wäsche und einigen Genußmitteln (Kolonialwaren, Wein und Tabakwaren) schon früher eine gewisse Bedeutung gehabt, beschränkte sich aber dabei aufWaren besonderer Qualität, vor allem für die kaufkräftigere Landbevölkerung. Erst in den letzten 10 Jahren hat er seinen Warenkreis nach Art, Qualität und Menge dem Massenbedarf der Landbevölkerung angepaßt. Aus den vielen Kleinbetrieben des Versandhandels wuchsen einzelne Großbetriebe heraus und bedrohten den seßhaften Fachhandel so stark, daß die Forderung nach gesetzlicher Einschränkung immer stärker erhoben wurde. Bisher ist lediglich ein Verbot der Errichtung, Erweiterung und Verlegung von Textilversandgeschäften erlassen worden. Der Umsatzanteil des Versandhandels ließ sich bisher statistisch noch nicht genau ermitteln, wird aber für das J a h r 1932 auf 750 bis 800 Millionen oder 3,3 % des Gesamteinzelhandelsumsatzes geschätzt 1 ). Die Versandgeschäfte sind branchenmäßig meist noch stärker spezialisiert als die Fachgeschäfte und zeigen in neuerer Zeit eine Sortimentserweiterung in verwandte Warengruppen. Der Textilversandhandel, der als Lieferant privater Verbraucher den Großhandel ausschaltet, hat sich in starkem Maße auch Verarbeitungsbetriebe angeschlossen, so daß er eine vertikale Konzentration von der Verarbeitung bis zum Verbrauch durchführt. Die Feststellung Nieschlags, daß die Bedeutung der Versandgeschäfte 1933 bis 1935 wieder zurückgegangen sein soll 2 ), ist angesichts der Kaufkraftsteigerung der Landwirtschaft überraschend, hat aber wohl ihren Grund in der Automobilisierung der Landbevölkerung, die die Kataloge der Versandgeschäfte mehr nur zur Unterrichtung benutzt, um dann in der erreichbaren Stadt die Waren auf Sicht zu kaufen. Auch sind Betriebe des seßhaften Handels mit Hilfe eigener Transportmittel teilweise zur Fernbelieferung übergegangen. Die Ausdehnung der Versandgeschäfte 1

) V g l . Robert Nieschlag: „ D i e Versandgeschäfte in Deutschland".

N r . 3 9 des Instituts f. Konjunkturforschung, Berlin 1936, S . 16. 2

) a. a. O . , S . 16.

Sonderheft

310

Carl Liier

z. B. auf Maschinen und Apparate findet ihre Begrenzung durch den industriellen Direktabsatz mittels Fabrikvertretern. Die scharfe K o n kurrenz zwischen diesen Vertriebsformen einerseits und dem seßhaften Fachhandel andererseits führen zu Wettbewerbsmethoden, die ständig an die Grenze der Zulässigkeit streifen und daher eine besondere Aufmerksamkeit erheischen. Mit der Erweiterung des Warenkreises auf so transportbehinderte Waren wie z. B. Klaviere und andere in räumlicher Nähe der V e r brauchsgebiete produzierte Güter hat der Versandhandel — von besonderen Qualitätserfordernissen abgesehen — seinen wirtschaftlichen Funktionsbereich sichtlich überschritten, denn dieser Funktionsbereich ist beschränkt auf den Absatz standortbestimmter Ge- und Verbrauchsgüter, die durch die Produktion und den Handel des Konsumgebietes nicht in gleicher Art und Preiswürdigkeit geliefert werden können. Als Wettbewerbsmittel der Versandgeschäfte gegenüber dem seßhaften Fachhandel kommt auch die Gewährung von Kundenkrediten in Betracht. Allgemein werden Stammkunden auch vom Lebensmittelversandhandel Zahlungsziele von 2—6 Wochen eingeräumt, ein Brauch, der gewissermaßen dem „Anschreiben" beim Fachhandel entspricht. Beim Textilversand hat die Kundenkreditgewährung eine noch größere Bedeutung, zumal da hier auch Teilzahlungen von 3 — 1 0 Monatsraten gewährt werden. Einzelne Zweige des Versandhandels, z. B. die Baumwollwarenversandgeschäfte, lehnen die Kreditgabe gänzlich ab. Sie spielt dagegen eine besonders große Rolle bei Buchversandgeschäften, die teilweise Raten bis hinunter zu 2 Mk. gewähren. A u c h Haushaltsgeräte wie Staubsauger^ ferner Porzellanwaren und Bestecke, elektromedizinische Apparate, Schmuckwaren, Uhren und photographische Artikel werden gegen Ratenzahlungen bis zu 18 Monatsraten geliefert. M a n versucht indessen, durch Gewährung von Barzahlungsrabatten die zu weitgehende Kundenkreditgewährung einzuschränken. 16. Die K u n d e n k r e d i t g e w ä h r u n g hat auch sonst im Einzelhandel eine zunehmende Bedeutung erlangt. M a n unterscheidet den organisierten und den unorganisierten Kundenkredit. Dem unorganisierten Kundenkredit, der besonders in den Monats- und Wochenkonten des Lebensmitteleinzelhandels, ferner aber auch in der Kreditinanspruchnahme der beim Fachhandel kaufenden Handwerker zum Ausdruck kommt, hat der Einzelhändler meist nur mit Widerstreben und aus Konkurrenzgründen entsprochen. Dieser Unsitte des A n schreibens, namentlich bei Artikeln des täglichen Bedarfes, besonders von Seiten kaufkräftiger und gesicherter Einkommensbezieher aus

Grundfragen

der deutschen

Absatzwirtschaft

311

Gründen unberechtigter Bequemlichkeit, wird dadurch zu begegnen versucht, daß die Hinausschiebung von Zahlungszielen über Wochenund Monatstermine hinaus nicht als Wettbewerbsmittel benutzt wird. Der organisierte Kundenkredit dagegen ist zu einem volkswirtschaftlich wichtigen Hilfsmittel in der Versorgung ärmerer Volksschichten bei größeren und einmaligen Anschaffungen geworden. Von den im J a h r e 1935 seitens der Kundenkreditgesellschaften gewährten Krediten wurden von Arbeitern und Angestellten 64%, von Beamten 1 5 % in Anspruch genommen 1 ). Nach der Inflationszeit griff zwar der Kundenkredit auch auf Waren des täglichen Bedarfes über und wurde zum Teil als volkswirtschaftlich bedenklich abgelehnt, weil er sich vom unorganisierten Kundenkredit kaum noch unterschied. Durch die Neuorganisation des Kundenkredites konnten aber die auftretenden Gefahren beseitigt werden. Im Prinzip hat sich im Einzelhandel auch die Barzahlung behauptet. Bei der Organisation des Kundenkredites sind zwei Typen zu unterscheiden: Zum Teil haben sich e i g e n e B e t r i e b s f o r m e n entwickelt, die im Reichsverband des kreditgebenden Einzelhandels zusammengeschlossen sind; bei ihnen ist Warengeschäft und Kreditgeschäft eng miteinander verbunden, weil das Kreditgeschäft überwiegt. Die Verbindung setzt eine bestimmte Betriebsgestaltung voraus. Einzelhandelsbetriebe, die in der H a u p t s a c h e auf B a r z a h l u n g aufgebaut sind und nur zu einem Teil Kredit gewähren können, haben durch Gründung von besonderen Kreditinstituten Warengeschäft und Kreditgeschäft betrieblich getrennt. Hierbei sind namentlich zwei Systeme entwickelt worden. Bei dem zuerst in Königsberg i. Pr. geschaffenen System liegt die Kreditprüfung und Kreditgewährung an den Kunden beim Kundenkreditinstitut, das dem Kreditkunden einen Scheck ausstellt, den dieser bei einem der beteiligten Einzelhandelsgeschäfte in Zahlung geben kann. Der Kunde tritt also hier wie ein Barkäufer auf. Der Einzelhändler kann alsbald — und das ist entscheidend — den Scheck beim Institut einlösen. Zum mindesten werden ihm sofort 80% der Kaufsumme ausgezahlt, er haftet nur zum Teil für eventuelle Inkassoausfälle und wird auch nur mit einem Bruchteil der Kreditkosten belastet. Man ist bestrebt, den Kostenanteil des Händlers möglichst zu senken und die tatsächlich entstehenden Gesamtkreditkosten dem kreditnehmenden Kunden aufzuerlegen. Etwas abweichend davon ist der Kundenkredit in Berlin aufgebaut worden. Hier wurde durch einige Großx ) Otto Ebersberger in Jubiläumsschrift der Arbeitsgemeinschaft Kundenkredit-Gesellschaften 1936, S. 15.

deutscher

312

Carl Liier

banken die Gesellschaft für Kundenkreditfinanzierung (Gefi) gegründet. Sie hat ein Verpflichtungsscheinformular herausgegeben, das von dem auf Teilzahlung kaufenden Kunden beim Einzelhändler ausgefüllt und unterschrieben wird. Nach Prüfung durch die Gefi zahlt diese dem (ebenfalls als Ausfallbürge haftenden) Einzelhändler 80—90% der Kaufsumme aus, schreibt die Kreditkosten zu Lasten des Kunden und übernimmt auch das Inkasso der Teilzahlungsbeträge. Neben diesen beiden Systemen besteht dann noch eine Reihe von Finanzierungsinstituten für Kraftfahrzeuge, Elektrogeräte, Elektroradioapparate, Staubsauger, Automaten usw. Auch hier wendet sich der Käufer zuerst nicht an das Finanzierungsinstitut, sondern an den Händler. Außer einer Baranzahlung stellt er für die Restsumme zuzüglich der Kreditkosten Wechsel in Höhe der Teilzahlungsbeträge aus. Nach dem früher bei der Verkaufskredit-A.G. (früher Citag) und der Diskont- und Kredit-A.G. Berlin bestehenden System schloß der Einzelhändler den Kreditvertrag direkt mit dem Käufer ab, trat aber seine Ansprüche dann an den Lieferanten der Ware ab. Dem Lieferanten wurden 70—75 % der Forderung von der Citag bevorschußt. Mangelnde Übersicht über die Inkassotätigkeit des Händlers und sonstige Schwierigkeiten nötigten auch hier, den Kreditkunden in eine unmittelbare Beziehung zur Finanzierungsgesellschaft zu bringen und das Inkasso von dieser durchführen zu lassen. Als Träger von Kundenkrediten kommen dann ferner noch die großen Gas- und Stromversorgungsbetriebe in Betracht, für die die Kreditprüfung und das Inkasso der Teilzahlungsbeträge durch Verbindung mit der Erhebung der laufenden Gebühren sehr vereinfacht ist. Das Bestreben bei allen Systemen ist vor allem, die Kreditkosten vom Warenpreis zu trennen, um sie als Wettbewerbsfaktor auszuschalten. Deshalb können auch diejenigen Kundenkreditinstitute, die mit der Konsumfinanzierung noch andere Funktionen verbinden, z. B. die Kundenwerbung, nicht als volkswirtschaftlich gerechtfertigt angesehen werden. Die z. B. von der Angestellten- und BeamtenWarencredit-Gesellschaft m. b. H. und ähnlichen Teilzahlungsvermittlungs-Instituten geübte Kundenwerbung ist geeignet, Abzahlungsgeschäfte über das erforderliche Ausmaß auszudehnen und die Kunden zu leichtfertigen Teilzahlungskäufen zu verleiten. Außerdem erhöhen die Kosten der Kundenwerbung die Kreditkosten nicht unbeträchtlich und werden dem Einzelhändler aufgebürdet. Auf Grund von Einzeluntersuchungen hat sich ergeben, daß die etwa 1 1 % der Kaufsumme betragenden Kreditkosten sich bei der Teilzahlungsvermittlung auf etwa 14—16% erhöhen und den vom Einzelhändler erzielten

Grundfragen der deutschen Absatzwirtschaft

313

Warenpreis entsprechend herabdrücken. Damit wird aber wieder der Kreditkauf bestimmender Faktor der Preiskonkurrenz, der gerade im Kassageschäft durch die Organisation des Kundenkredits auszuschalten versucht wurde. Der Umfang des Kundenkredits hat sich bisher nicht genau feststellen lassen. Man hat für 1935 einen Gesamtbetrag von etwa 2 Milliarden R M . geschätzt 1 ). Für die Vorkriegszeit ist ein Kreditumsatz von 250 Millionen geschätzt worden 2 ). Über den Umfang des unorganisierten Kredites liegen Zahlenangaben nicht vor. Nach den Angaben der am Betriebsvergleich der Forschungsstelle für den Handel beteiligten Teilzahlungsunternehmen sind die Umsätze des kreditgebenden Einzelhandels in der Krise außerordentlich gesunken. Gemessen am Umsatzstand von 1930 betrugen sie 1928 1 3 5 % und 1932 nur 38,3%. Seitdem haben sie sich erholt und haben im Jahre 1935 wieder eine Umsatzhöhe von 68% des Umsatzes von 1930 erreicht. In der Krise sind demnach die Verbraucher mit der Übernahme von AbZahlungsverpflichtungen und die Händler in der Krediteinräumung zurückhaltender geworden. Bei sich bessernder Wirtschaftsentwicklung hat die Bereitschaft zur Verfügung über künftige Einkommen wieder stark zugenommen. Ohne Ratenzahlungen würden mit Rücksicht auf die vorangegangene Arbeitslosigkeit sowie die niedrigen Einkommen größere Anschaffungen über das Maß der Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfen hinaus kaum erfolgen können. Die wachsende Bedeutung des organisierten kreditgebenden Einzelhandels ist daher unvermeidlich, während das Borgunwesen kaufkräftigerer und gesicherter Einkommensbezieher bei Waren des täglichen Bedarfes, das lediglich in unberechtigter Bequemlichkeit seinen Grund hat, volkswirtschaftlich bedenklich bleibt, weil es die Vertriebskosten unnützerweise belastet. 17. Versucht man die B e d e u t u n g der n e u e r e n B e t r i e b s f o r m e n gegenüber dem mittelständischen Fachhandel statistisch zu erfassen, so ergeben sich unter Berücksichtigung der vom Institut für Konjunkturforschung und der Forschungsstelle für den Handel verschiedentlich errechneten und geschätzten Zahlen ungefähr folgende Umsatzwerte: (s. Tabelle S. 314). Der Umsatzanteil der Massenfilialen konnte für 1925 nur geschätzt, für 1935 nur aus den von der Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel ermittelten Beschäftigtenzahlen errechnet werden. Danach waren 1935 in den 341 Filialunternehmen, die mehr als 10 Filialen 2

Jubiläumsschrift a. a. O., S. 24. ) Kennzahlen zur Handelsforschung, S. 82.

314

Carl Lüer 1925

Umsätze der

in Mrd. RM. 1. Waren- und Kaufhäuser 2. Einheitspreisgeschäfte 3. Massenfilialen 4. Versandgeschäfte 5. Konsumvereine 1—5 zusammen 6. Ambulanter Handel 7. Gemischtwarenhandel 8. Fachhandel 1—8 zusammen

1,1

1935

% 3,6

in Mrd. RM.

/o

o,7 °,55

2,3 1,8

1,25 o,3 1,5 o,7

0,8

2,6

o,8

10,3 7,o 4,6 78,1

4,55

17,6

6,7 4,8 70,4

100,0

25,05

100,0



3,15 2,15 i,4 23,8

30,5



i,7 1,2

5,0 1,2 6,0 2,8

3,1 18,1

unterhalten, 67713 Personen beschäftigt. Man rechnet in Massenfilialunternehmen mit einem jährlichen Umsatz pro beschäftigte Person von 21000 RM. Auch die Umsatzanteile der Versandgeschäfte beruhen auf ähnlichen Berechnungen 1 ). Beim Umsatzanteil der Konsumvereine, deren Verkaufsstellen sich infolge des Gesetzes vom 21. Mai 1935 auf 9110 verringert haben, sind die heute noch von der Deugro zwecks Privatisierung in Auffanggesellschaften weiter verwalteten 1800 Verkaufsstellen mitberücksichtigt, so daß der Zahl von 820 Millionen R M . die Umsätze von fast 11000 Verkaufsstellen zugrunde liegen 2 ). Dem Umsatzanteil der Waren- und Kaufhäuser dürfte noch ein Teil der Gemischtwarenumsätze zugeordnet werden, da die klein- und mittelständischen Unternehmen dieser Art z. T. hier erfaßt sind. Der Umsatzanteil des Fachhandels schließt auch noch die Umsätze kleinerer Filialunternehmen, insbesondere der Fabrikfilialen, ein. Unter Berücksichtigung dieser statistischen Besonderheiten kann angenommen werden, daß der Umsatzanteil der neueren Betriebsformen sich noch um 2 — 3 % erhöht. Er ist nach obiger Aufstellung von 3,15 auf 4,55 Milliarden RM., also von 10,3 auf 18, 1 % gestiegen, hat sich also nahezu verdoppelt. In den Großstädten bzw. in bestimmten Fachzweigen, in denen die neueren Betriebsformen sichtlich ein Übergewicht haben, dürfte sich dieser Anteil sogar auf 25—30% steigern. Im Anfang der Krise ist der Anteil der neueren Betriebsformen noch höher gewesen, durch die mittelstandspolitischen Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung jedoch wieder etwas herabgedrückt worden. Das Einzelhandelsschutzgesetz z. B. hat die Gründung für

2

Vgl. Robert Nieschlag a . a . O . , S. 16. ) Vgl. Dr. Walther v. Delius a. a. O. S. 79fr.

Grundfragen der deutschen Absatzwirtschaft

315

Warenhäuser und Einheitspreisgeschäfte verboten. Die Handwerksbetriebe der Großunternehmen mußten geschlossen, die Erfrischungsräume, soweit sie nicht zur Existenzsicherung unbedingt notwendig blieben, mußten ebenfalls aufgegeben werden. Einen wesentlichen Rückgang hat vor allem der Lebensmittelumsatz der Warenhäuser erfahren. Der durch die Konjunktur gesteigerte Textilumsatz ist in der Hauptsache den Textilfachgeschäften zugute gekommen. Trotz alledem bleibt aber doch noch ein im Vergleich zu 1925 wesentlich höherer Umsatzanteil der neueren Betriebsformen übrig. 18. Auch der F a c h h a n d e l hat natürlich in den letzten 12 Jahren eine gewisse Modernisierung erfahren. Bis zur Machtübernahme durch den Nationalsozialismus blieb sie jedoch auf eine gewisse Warenumgruppierung beschränkt, die namentlich von den größeren Spezialgeschäften durchgeführt wurde, neue Warenkombinationen und -Spezialisierungen zeitigte und den Grundsätzen der großbetrieblichen Sortimentsgestaltung entsprach. Wenn das mittelständische Fachgeschäft hierbei zurückblieb, so fehlte eben der Zwang zu einer Ausscheidung typischer Ladenhüter und zur Aufnahme von saisonausgleichenden Warengruppen. Dieser Zwang ist durch die auf betriebsstatistischen Erfahrungen beruhenden Konkurrenzwirkungen der modernen Betriebsformen ausgelöst und verstärkt worden. Mit der Organisation des gemeinsamen Einkaufs konnten für den gesamten Fachhandel keine nennenswerten Vorteile erzielt werden. Die Aufnahme saisonausgleichender Waren brachte natürlich starke Branchenüberschneidungen mit sich, die jedoch bei der allgemeinen Umstellung von der Material- zur Konsumorientierung unvermeidlich sind. Auch die Eingliederung neuartiger Erzeugnisse wie: elektrotechnische Haushaltgeräte, Rundfunkapparate, Sport- und Photoartikel usw., für die nur in größeren Verbrauchsgebieten Spezialgeschäfte entstehen konnten, hatte für den mittelständischen Fachhandel Sortimentsneugestaltungen zur Folge. Ohne die nationalsozialistischen Schutzmaßnahmen fehlten jedoch dem Fachhandel die Voraussetzungen dafür, mit dem Wachstum der neueren Betriebsformen Schritt zu halten. Auch der durch die Gewerbefreiheit begünstigte Zustrom anderweitig freigesetzter Elemente in den Fachhandel hat diese Rationalisierungsbestrebungen parallelisiert. Es drohte sogar im mittelständischen Fachhandel ein Geist einzureißen, der im Zuge der großkapitalistischen Betriebsmethoden die fachkaufmännisch notwendige Betriebsführung außer acht ließ und manche Mißstände aus Großbetrieben auf die Kleinbetriebe übertrug. Auf die Maßnahmen, die zur Leistungs-

316

Carl Lüer

Steigerung des mittelständischen Fachhandels in Anknüpfung an die mittelstandspolitische Gesetzgebung des Nationalsozialismus ergriffen worden sind, wird noch einzugehen sein. 19. Welche w i r t s c h a f t l i c h e u n d s o z i a l e B e d e u t u n g hat nun die im zahlenmäßigen Wachstum der neueren Betriebsformen erkennbare Modernisierung des Einzelhandels? Hat sie die Kosten der letzten Warenverteilung gesenkt oder aber mit gleichbleibendem oder gesteigertem Aufwand die Leistungen für die letzten Verbraucher gesteigert? a) Die falschen Auffassungen über eine im Vergleich zur Verbilligung der Produktion eingetretene Verteuerung der Warenverteilung sind von Forschung und Praxis mit Hinweis auf die G r e n z e n d e r R a t i o n a l i s i e r u n g im Handel — die von der Produktion vielfach überschritten worden sind und zu großen Fehlinvestitionen geführt haben — bereits genügend widerlegt worden 1 ). Man hat die Gefahren nicht verkannt, die in einer Entwicklung zur „Verkaufsfabrik" gelegen sind. Das Ü b e r g e w i c h t d e r m e n s c h l i c h e n A r b e i t s k r a f t , die vor allem auch durch eine lange Betriebsbereitschaft trotz Häufung des größten Teils der Umsätze auf wenige Verkaufsstunden des Tages erzwungen wird, hat durch Anwendung mechanischer Mittel bisher nicht beseitigt werden können. Die Personalleistung, die durch Errechnung des Umsatzes pro beschäftigte Person ermittelt wird, ist erst nach dem Kriege, und zwar in Anknüpfung an die Arbeiten des Enquete-Ausschusses erforscht und laufend verfolgt worden. Sie zeigt im allgemeinen bis 1929 eine leicht ansteigende, dann aber bis 1932 eine teilweise stark abfallende Tendenz. Seit 1933 ist sie wieder im Steigen begriffen, hat aber nur in seltenen Fällen den Stand von 1927 wieder erreicht oder überschritten (z. B. Handel mit Sportartikeln und -geräten). Der Einzelhandel hat demnach in der Krise nicht in gleichem Maße wie in anderen Wirtschaftszweigen Arbeitskräfte entlassen können, demgegenüber aber mit ansteigender Konjunktur neue Kräfte eingestellt, bevor die früheren Personalleistungen wieder erreicht sind. Entscheidend wirkt dabei mit, daß infolge niedrigerer Einkommenssätze gegenüber den früheren Konjunkturverhältnissen kleinere Mengen gekauft und von der Kundschaft die Kaufentschlüsse viel schwerer gefaßt werden. Zeigt doch die ermittelte Kundenzahl j e beschäftigte Person in der Krise eine stark steigende, der Umsatz V g l . Dr. J . Tiburtius: „ D e r deutsche Einzelhandel im Wirtschaftsverlauf und in der Wirtschaftspolitik von 1925/35", Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 142 H. 5, S. 564 fr.

Grundfragen

der deutschen

Absatzwirtschaft

317

je Kunde, also die Höhe des durchschnittlichen Kaufbetrages in allen Branchen eine stark fallende Tendenz 1 ). Sie liefert den Beweis für die volkswirtschaftlich unvermeidlichen und nicht ohne Steigerung der Krisenempfindlichkeit senkbaren Verteilungskosten. Vom Rückgang der Personalleistung in der Krise blieben auch die modernen Betriebsformen des Einzelhandels nicht verschont. Bei einem Vergleich der teils vom Institut für Konjunkturforschung, jetzt überwiegend von der Forschungsstelle für den Handel ermittelten Personalleistungen der verschiedenen Betriebsformen ergibt sich folgendes Bild: Jahresumsatz je beschäftigte Person (in iooo RM.): in f o l g e n d e n H a n d e l s z w e i g e n und Betriebsformen

1927

1929

1931

Kaffee- und Teefilialen1) . . . . L e b e n s m i t t e l f a c h g e s c h ä f t e n 2) . Lebensmittelversandgeschäften (besonders Butter) 3 ) K a f f e e v e r s a n d g e s c h ä f t e n 4) 6 ) Tabakwarenfachgeschäften . . . Zigarrenversandgeschäften . . . .

24,1

24>3 20,7

23,8

Textilfachgeschäften Textilversandgeschäften 3 ) 6 ) W a r e n - u n d K a u f h ä u s e r n 7) . . Einheitspreisgeschäften Sportartikelgeschäften

•9.5

18,2

'5=5

16,6 20—30

17,0

l

9>5

i5>6

'9> 2

30—35 18,8

10,5 rd. 30

18,4 '7,7

Möbelfachgeschäften

25,4

) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) 7 )

1935

40—45

Eisenwarengeschäften Haus- und Küchengerätegeschäften Glas- u n d Porzellangeschäften . Besteck- u n d P o r z e l l a n v e r s a n d .

2

17,4

•933

17.9

14,0 n>5 28,6

.

H,4 17,8 17,0

12,9 15—17 10,2 12,4 17,0

rd. 20

16,5

15=3

17,0

12,2 11,8

10,7

11.8 10.9

25,7

9.4 16,2 3 ) j



14.4 11,0



Umsatz je Filialperson. V o r w i e g e n d o h n e Frischobst u n d G e m ü s e . O h n e d i e in P r o d u k t i o n u n d A u ß e n d i e n s t beschäftigten P e r s o n e n . Einschließlich R ö s t e r e i p e r s o n a l Betriebe mit vorwiegend schriftlichen Angeboten. Betriebe m i t s c h r i f t l i c h e n u n d m ü n d l i c h e n A n g e b o t e n . 1933 u. 1935 n u r W a r e n h ä u s e r .

*) V g l . „ K e n n z a h l e n zur H a n d e l s f o r s c h u n g " , S. 32; f ü r d i e letzten J a h r e vgl. d i e J a h r e s - u n d M o n a t s b e r i c h t e d e r Forschungsstelle f ü r d e n H a n d e l b e i m Reichsk u r a t o r i u m f ü r Wirtschaftlichkeit.

318

Carl Liier Jahresumsatz j e beschäftigte Person (in i ooo R.M.):

in folgenden Handelszweigen und Betriebsformen Seifen- und Wirtschaftsartikelfachgeschäften Seifenfilialen Seifen- und Kosmetikaversand Heilmittelversandgeschäften .. Drogerien Photofachgeschäften Rundfunkgeschäften Papierund Schreibwarengeschäften Büromaschinengeschäften . . . . Buchversandgeschäften 3 ) Juwelengeschäften

1927



19,2

I93 1

1929

9,4 1 ) 18,6

6,8 2 )











14.9

12,8

10,0

10,5

9.2 I3>2

n.3 16,9



10,1 »)

15.2

-

6,2

18,5





1933

16,5 3 ) 10,5 — —

9.2 11,8













7,7 12,1 22,6 9.7

'935

7.2 — — — —

8-9 12,0 8,1 — —

9,5

l)

2 ) 1932. 1930. 3 ) Ohne die in Produktion und Außendienst beschäftigten Personen.

Die Personalleistungen des Fach- und Filialhandels weichen also erheblich im Lebensmittel- und Seifenhandel voneinander ab. Der statistisch ausgewiesene Rückgang der Personalleistung bei den Einheitspreisgeschäften beruht wohl z. T . auf ungenügender statistischer Erfassung, z. T . aber wohl auch auf einem stärkeren Hervortreten der niedrigeren Preisstufen. Der relativ niedrige Stand der Personalleistung in den Warenhäusern wird dagegen mehr durch den großen Da eine Anteil des Büro- und gewerblichen Personals verursacht. Berechnung der Umsätze j e Verkaufskraft mit hinlänglicher Genauigkeit nur in größeren Unternehmungen möglich ist, im kleinbetrieblichen Fachhandel dagegen Büro- und Verkaufspersonal sich nicht trennen läßt, haben die für die Großbetriebe ermittelten Verkaufspersonalleistungen als solche nur beschränkten Vergleichswert. Nach Ermittlung des Instituts für Konjunkturforschung betrug die jährliche Personalleistung in Waren- und Kaufhäusern:

Jahr

Je beschäftigte Person Warenhäuser | Kaufhäuser

1930 1931 1932 1933 J934 1935

10200 11 300 11 000

15700 14400 12000 I 11000 j 12 600 | 12 700

Je Verkaufskraft Warenhäuser

Kaufhäuser

25 100 22700 19900 17500 18800 18350

18300 21 100 20800

Grundfragen der deutschen

319

Absatzwirtschaft

Die Umsatzleistung des reinen Verkaufspersonals zur Umsatzleistung des Gesamtpersonals verhält sich also hier durchweg wie: 6 : 10. Für die einzelnen Warenhausabteilungen sind nur Verkaufspersonalleistungen aus dem Jahre 1932 ermittelt 1 ). Rechnet man diese Werte auf Gesamtpersonalleistungen um und vergleicht sie mit den Personalleistungen des entsprechenden Fachhandels, so ergeben sich folgende Werte: Umsätze pro beschäftigte Person 1932 in Warenhausabteilungen und Fachgeschäften:

Geschäftszweige

Lebensmittel Wäsche Schuhe Haus- und Küchengeräte Glas und Porzellan . . . . Möbel Drogerie Optik und Photo Schreibwaren Uhren

Warenhausabteilungen RM. 19980 16 160 14770 12 360 11310 27800 14020 10390 11 740 10270

Fachgeschäfte RM. 16200 12800 16200 10200 9700 25700 2) 11 300 9200 2) 7900 81 00

% der Warenhausleistung 81,1 79,2 109,7 82,5 85,8 92,4 80,6 88,5 67,3 78,9

Weitere Vergleiche sind leider nicht möglich, da vergleichbare Zahlen von Fachgeschäften und Warenhausabteilungen nicht Vorliegens). Die in der Tabelle aufgeführten Beispiele zeigen aber bereits, daß die Fachgeschäfte mit einer einzigen Ausnahme (Schuhwaren 4)) 1 0 — 3 2 % niedrigere Personalleistungen aufweisen als die entsprechenden Warenhausabteilungen. b) Bei einem Kostenvergleich der verschiedenen Betriebsformen „ K e n n z a h l e n zur Handelsforschung", S. 31. Umsatzleistung 1931. 3 ) Für Möbel- und Photohandel mußte bereits die Personalleistung der Fachgeschäfte von 1931 mit der Personalleistung der gleichartigen Warenhausabteilungen verglichen werden. O b w o h l von 1931 zu 32 die Personalleistungen im allgemeinen 10% und mehr gesunken sind, zeigen dennoch auch hier die Leistungszahlen der Warenhausabteilungen gegenüber denen der Fachgeschäfte einen höheren Stand. 4) Die angegebene Z a h l für die Personalleistung im Schuhwarenfachhandel liegt d a b e i sogar noch etwas über dem Durchschnitt, da im Jahre 1932 die kleineren Schuhwarengeschäfte bei der Errechnung noch nicht ausreichend berücksichtigt werden konnten. Es ist auch zu beachten, d a ß die Warenhäuser für die Deckung des Lederschuhbedarfs eine geringere Rolle spielen als die Schuhwarenfach- und -filialgeschäfte. Schuhwarenabteilungen bilden seit jeher die Schmerzenskinder der Warenhäuser. 2)

Carl Lüer

320

zeigen sich dagegen weit geringere A b w e i c h u n g e n . liegenden Forschungsergebnissen betrugen die G e s a m t k o s t e n 1 )

in Prozent des Umsatzes: 1933 /o

bei

Lebensmittelfachgeschäften . . . Butterfilialen Warenhäusern Teilzahlungsgeschäften 2 ) Textilwarenfachgeschäften . . . . D a m e n - u n d Mädchenkleidung 3 ) Wäschespezialgeschäften 3 ) . . . . Schuhwarenfachgeschäften 3 ) . . Porzellanfachgeschäften 3 ) Hausratfachgeschäften 3 ) Seifen- u n d Wirtschaftsartikeln 3 ) Möbelfachgeschäften4) Eisenwarenfachgeschäften 3 ) . . . Sportartikelfachgeschäften 3 ) . . . Papier- u n d S c h r e i b w a r e n . . . .

N a c h den vor-

17,7 I7>3—2I,3 32,8 —

29,4 35,0 33,4

1934 /o 16,5 —

1935 0/ /O

15,8 —

32,4 3 6 ,4 25,8

3i,3 27,3

32,27 31,5 25,4

3',5

28,2

24,1

24,1

23,6

38,4 33,6

33,2

3i,9 29,3

29,8 28,2

27,4 25,4

29,0

23,9

20,5

28,7

21,2 26,5

38,1

34,8

32,9

3o,5

27,3 25,2

1)

Einschließlich U n t e r n e h m e r l o h n , ohne Zinsen für Eigenkapital. K o s t e n in % v o m K a s s e n e i n g a n g . 3) O h n e A b s c h r e i b u n g e n . 4 ) T e i l w e i s e ohne U n t e r n e h m e r l o h n . 2)

Für Einheitspreisgeschäfte und Versandgeschäfte liegen hiermit allgemein vergleichbare Kostenzahlen nicht vor. I m Versandhandel, der nicht mit so kostspieliger Betriebsbereitschaft zu rechnen braucht, mit billigeren R ä u m e n und niedrigeren Lagerbeständen als der Fachhandel auskommt und auch einen höheren Lagerumschlag aufweist, liegen die Kosten nach Geschäftszweigen und -formen sehr verschieden, bewegen sich aber wohl n u r z u m T e i l unter, z u m Teil auch über denen des Fach- und Filialhandels 1 ). N a c h Nieschlag a. a. O . , S. 43, betrugen in den V e r s a n d g e s c h ä f t e n die Gesamtkosten in % des U m s a t z e s i m J a h r e 1934 f ü r : Butter Butter u n d sonstige N a h r u n g s m i t t e l Honig Kaffee K a f f e e u n d sonstige N a h r u n g s m i t t e l Zigarren W e i n u n d Z i g a r r e n (1933)

11,4 10,0 28,6 24—24,5 23,3 22,2 24,4

Grundfragen der deutschen Absatzwirtschaft

321

Die Einheitspreisgeschäfte weisen durchweg einen erheblichen kostenmäßigen Vorsprung nicht nur gegenüber dem Fachhandel, sondern auch gegenüber den Warenhäusern aus r ). Die Gesamtkosten bewegten sich zwischen 18 und 2 4 % des Umsatzes und zeigten in der Krise eine nur leicht steigende Tendenz. D a die Einheitspreisgeschäfte Waren fast aller Fachzweige führen, wobei Lebensmittel etwa 2 0 — 2 5 % , Textilien etwa 3 5 — 4 0 % ausmachen, stehen sie kostenmäßig wesentlich günstiger als die entsprechenden Fachgeschäfte des Einzelhandels da. I m übrigen aber bleibt doch festzustellen, daß durch die neueren Betriebsformen die Einzelhandelskosten nicht wesentlich gesenkt worden sind, im Gegenteil gutgeleitete Fachgeschäfte teilweise sogar kostenmäßig günstiger dastehen. Eine Aufgliederung der Gesamtkosten kann dieses Ergebnis kaum beeinflussen, insbesondere auch deshalb nicht, weil in den wichtigsten Kostengruppen sich zu große Berechnungsunterschiede ergeben 2 ). D i e U r s a c h e n f ü r d i e h o h e K o s t e n l a g e der neueren Betriebsformen (mit Ausnahme der Einheitspreisgeschäfte) liegen demBaumwollwaren, Wäsche usw 37,3 desgl. mit ausschl. Prospekt weibung 17,1 Tuche 37,4 Damenwäsche usw 59>8 Bücher 43,0 Musikinstrumente (1933) 28,2 1 ) Vgl. Horst Rieh. Mutz: „ D a s Einheitspreisgeschäft" 1932, S. 153ff. (ist aber in seinen Zahlenangaben nicht immer genau). 2 ) Bei den kleineren Fachgeschäften erscheinen die Personalkosten (die im allgemeinen fast die Hälfte der Gesamtkosten ausmachen) wesentlich niedriger, weil der Lohn für leitende Tätigkeit hier nicht immer im vollen Umfange wie bei den Großbetrieben berücksichtigt wird. Auch der Umsatzanteil der Raumkosten — der zweitgrößte Kostenfaktor ( 3 — 1 2 % des Umsatzes) — ist im Fachhandel oft niedriger als im Warenhaus- und Filialhandel, weil zum Teil der Mietwert des eigenen Hauses nicht gebührend berücksichtigt wird oder aber der Großbetrieb auf besonders teurem Grund und Boden der verkehrsreichen Innenstadt steht. Bei den übrigen Kostenfaktoren sind Kostenvergleiche noch schwieriger, weil teils für die gleichen Betriebszwecke verschiedenartige Kostenarten in Frage kommen. Höhere Belastungen der Großbetriebe, z. B. durch Warenhaussteuern, stehen höheren Belastungen der Kleinbetriebe durch Begünstigung der juristischen Personen bei der Gewerbesteuer gegenüber. Reklamekosten z. B. sind im Kleinbetrieb teilweise anderer Art als im Großbetrieb und können aus der Gruppe der sonstigen Kosten nicht ausgegliedert werden. Transportkosten, die einem Großbetrieb durch Unterhaltung eigener Transportmittel zum Heranholen der Ware entstehen, fallen beim Kleinbetrieb fort, weil sie vom Lieferanten getragen und im Lieferantenpreis mit abgegolten werden. In die Gesamtkosten der Warenhäuser sind vielfach auch Beträge für Großhandelsleistungen eingeschlossen. 21

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

322

Carl Liier

nach in besonderen Aufwendungen, die vom kleinen Fachhandel aus strukturellen Gründen nicht gemacht werden können. Unverkennbar ist, daß die Kostenarten der neueren Betriebsformen, insbesondere der Warenhäuser und Filialbetriebe, in bestimmten Teilen ein überdurchschnittliches Ausmaß erreichen. Vor allem liegen bei den Großunternehmungen die Raum- und Reklamekosten wesentlich höher als im kleinen und mittleren Fachhandel. Kostspielige Bauten, umfangreiche Außenwerbung, weitreichender Kundendienst erfordern Aufwendungen, die die aus besserer Einkaufs- und Betriebsorganisation erzielten Kostenersparungen z. T. wieder ausgleichen. In der A u s s t a t t u n g d e r V e r k a u f s r ä u m e sind Warenhäuser und Filialgeschäfte führend gewesen und haben bequemere, teilweise luxuriöse Verkaufsräume geschaffen. Auch für die Schaufensterdekoration haben sie durchweg höhere Kosten als der Fachhandel aufgewandt. Die Z e i t u n g s a n z e i g e ist namentlich von den Warenhäusern in so großem Umfange benutzt worden, daß diese Anzeigen teilweise die Bedeutung lokaler Warenkurszettel besaßen. Der K u n d e n d i e n s t zeitigte besondere Aufwendungen, z. B. den Wagenpark für die Lieferungen ins Haus. Auch die Einrichtungen für Gepäckaufbewahrung, Unterhaltung von Kindergärten sowie die Erfrischungsräume, die sich bald als lukrative Abteilungen erwiesen, wären hier zu nennen. Für die Kulanz des Warenumtausches sind keine Kosten gescheut worden. Auch die besonderen Reklameaufwendungen für A u s u n d S o n d e r v e r k ä u f e , die eine teilweise katastrophale Verschiebung vom regulären Geschäft zum Gelegenheitsgeschäft bewirkt haben, und die durch die Umgestaltung des Wcttbewerbsrechts auf ihr zulässiges Ausmaß zurückgeführt worden sind, haben den absoluten Kostensatz der Warenhäuser erhöht. Hinzu kommt schließlich, daß die neueren Betriebsformen Arbeitsleistungen einbezogen haben, die der klein- und mittelbetriebliche Fachhandel teils in Form höherer Einkaufspreise, teils in Form von Baraufwendungen für Fremdleistungen abgelten muß. Der Einzelhandels-Großbetrieb hat vielfach nicht nur eigene h a n d w e r k l i c h e u n d g r o ß h ä n d l e r i s c h e H i l f s b e t r i e b e , sondern sogar einen eigenen Wagenpark zur Heranschaffung der Ware, eigene Licht- und Kraftversorgung und stellt somit in gewissem Umfange eine Eigenwirtschaft dar. Soweit sich diese Hilfsbetriebswirtschaft der Großunternehmen nicht aus der Ökonomie der Hilfsbetriebe selbst ergibt, findet die durch sie bewirkte Erhöhung der absoluten Kosten ihren Ausgleich außer in der höheren Personalleistung, vor allem in den niedrigeren Einkaufspreisen sowie schließlich in der Umschlagsbeschleunigung.

Grundfragen

der deutschen

Absatzwirtschaft

323

c) Die n i e d r i g e r e n E i n k a u f s p r e i s e der modernen Betriebsformen sind ein Ergebnis der weitgehenden Ausschaltung des Großhandels, der vom mittelständischen Fachhandel in der Regel nicht entbehrt werden kann, von den Großunternehmungen des Einzelhandels dagegen nur noch aushilfsweise in Anspruch genommen wird. Da mit dieser Ausschaltung ein Teil der Großhandelsfunktionen an sich nicht überflüssig wird, sondern von den Großunternehmungen ausgeübt werden muß, ist die Steigerung der Gesamtkosten natürlich unvermeidlich. O b diese Steigerung im Einzelfall immer hinter der Großhandelsspanne zurückbleibt, läßt sich natürlich nicht feststellen. Der Massenbedarf der modernen Betriebsformen ermöglicht aber in der Mehrzahl der Fälle eine Beschaffung zu den Einkaufspreisen des Großhandels, obwohl die ausgeschaltete Großhandelsleistung (z. B. die Lagerhaltung und in einigen Fällen auch die Finanzierung) zum Teil auf die Hersteller übergeht. Selbst beim Einkauf durch eine Warenhauszentrale für mehrere Warenhausfilialen oder sogar für sogenannte Anschlußgeschäfte gehen meist nicht alle Großhandelsfunktionen auf das Warenhaus über, da nicht alle zentral eingekauften Waren über das Zentrallager gehen. Die Kapitalkraft der Großunternehmen des Einzelhandels ermöglicht ihnen zwar teilweise die Übernahme der Finanzierungsfunktionen bis hin zur Bar- oder Vorschußzahlung auf die bestellten Waren, gibt ihnen damit aber auch die Machtstellung zur Inanspruchnahme verschiedenartiger Sonderrabatte und Preisnachlässe. In der Praxis kommt indessen die Vorschußzahlung seltener vor als die Massenbestellung mit Abruf kleinerer Mengen, wobei für Barzahlung oder kurze Zahlungsziele sowie für Übernahme der Transportfunktion usw. Sonderrabatte gefordert und vom Lieferanten im Interesse des Absatzes auch gewährt werden. Vielfach kann der Fabrikant einem derartigen übermäßigen Preisdruck nur durch Qualitätsverschlechterung ausweichen. Trotz prozentual gleicher oder z. T. sogar höherer Handelsaufschläge gelangen die Großunternehmen des Einzelhandels zu zum Teil wesentlich niedrigeren Verkaufspreisen als der Fachhandel, der manchmal sogar teurer einkauft, als der Großbetrieb zu verkaufen in der Lage ist. Diese Einkaufspolitik der modernen Betriebsformen bleibt natürlich weitgehend auf Stapelartikel und modischen Wandlungen weniger unterworfene Waren beschränkt. Bei Modewaren sind auch die Großunternehmungen in größeren und frühzeitigeren Bestellungen, die eine Senkung der Erzeugungskosten und Einkaufspreisvorteile rechtfertigen, insoweit beschränkt, als ihre an sich schon höhere Werbekraft eine außergewöhnliche Umsatzforcierung nicht ermöglicht. Abgesehen 21»

324

Carl Lüer

davon, daß damit teilweise eine Vorwegnahme zeitlich gebundener Bedarfsversorgung verbunden ist, die infolge der niedrigeren Warenpreise zu Lasten des regulären Absatzes im Fachgeschäft geht, ist es noch nicht sicher, ob der Absatz im Ausmaß der Preissenkung steigt, die geringeren Erzeugerpreise also durchgehalten werden können und die Mehrproduktion hinterher nicht durch einen Schleuderverkauf wieder korrigiert werden muß. Die steigende Anzahl von Sonderveranstaltungen, die dieser Korrektur dienten und teilweise über die Hälfte aller Verkaufstage eines Jahres beanspruchten, sowie die Mißstände im Saison-, Inventur- und Räumungsausverkauf gaben Beweise für die Fragwürdigkeit vieler Einkaufsdispositionen der Einzelhandelsgroßunternehmen . Die gesetzliche Beschränkung der Sonderveranstaltungen im Einzelhandel hat die vorhandenen Mißstände bereits weitgehend beseitigt. Die Bestrebungen gehen aber noch weiter in der Richtung, für solche Betriebe, die immer wieder zu Verstößen gegen das Ausverkaufsrecht neigen, jegliche Sonderveranstaltungen einschließlich der Sommerund Winterschlußverkäufe überhaupt zu verbieten. d) Durch die Neuregelung des Ausverkaufsrechts wird die Einkaufs* und Lagerpolitik und damit die U m s c h l a g s g e s c h w i n d i g k e i t der modernen Betriebsformen nicht unwesentlich beeinflußt. Die im Interesse einer Umschlagsbeschleunigung geübte Praxis, Waren nicht über eine bestimmte Zeit hinaus am Lager zu halten, sondern gegebenenfalls zu stark herabgesetzten Preisen im Resteverkauf abzugeben, ist heute im früheren Ausmaße nicht mehr möglich. U m Ladenhüter zu vermeiden und die Umschlagsgeschwindigkeit nicht zu beeinträchtigen, müssen die Einkaufsdispositionen vorsichtiger als früher getroffen werden. Das zwingt natürlich die neueren Betriebsformen, das Sortiment noch stärker als bisher auf dauernd gangbare Artikel einzustellen, soll die erreichte Umschlagsgeschwindigkeit aufrecht erhalten bleiben. Da ein auf ein vollständiges Sortiment bedachtes Fachgeschäft mit einer längeren Lagerung der weniger gangbaren, aber im Sortiment nicht zu entbehrenden Artikel rechnen muß, kann es auch die Umschlagsgeschwindigkeit der neueren Betriebsformen nicht erreichen. Bei diesen hat sich die Auswahlbeschränkung jedoch nicht als nachteilig ausgewirkt, obwohl natürlich damit auf die Kundschaft für seltener gefragte Warensorten verzichtet werden mußte. So ist z. B. im Warenhaussortiment die Oberkleidung für ältere Personen viel schwächer vertreten als die Ware für die von der Stange kaufende x ) V g l . Dr. Hans Lange: „Sonderveranstaltungen im Einzelhandel", Das Einzelhandels-Archiv, Augustheft 1935, A b t . C , S. 17fr.

Grundfragen der deutschen Absatzwirtschaft

325

jüngere Kundschaft. Es haben deshalb j a auch teilweise bestimmte Bekleidungsspezialgeschäfte für große Weiten entstehen können. Die neueren Betriebsformen haben überhaupt auf die „unrentable Kundschaft" weitgehend verzichtet und sie dem Fachhandel überlassen. Nach Ermittlung der Forschungsstelle für den Handel betrug der mengenmäßige L a g e r u m s c h l a g : in

1932

Lebensmittelfachgeschäften . . . Textilwarenfachgeschäften . . . Porzellanwarenfachgeschäften . Haus- u. Küchengeräten . . . . Eisenwaren Drogerien Uhrenfachgeschäften Warenhäusern Kaufhäusern

5)9 2,2 i>5 1,6 2,0 2,6 0,6 4,4 3,7

r

933

1934

6,5 2,1 i,7 1,8

7,4 rd. 2,0 2,1 2,3 3,0—3,5 2,8 0,9 3,9 3,7

2,4 2,6 0,6 4,0 3,7

1935 7,6 rd. 1,8 2,0 2,3 2,8 2,9 0,8 3,7 3,6

Für die einzelnen Fachabteilungen der Waren- und Kaufhäuser wird der Lagerumschlag leider nicht ermittelt. Da jedoch in den Warenhäusern der Textilumsatz im Durchschnitt fast 2/3 des Gesamtumsatzes ausmacht, Lebensmittel etwa mit 10%, Schuhwaren mit 5%, Möbel mit 2—3 % beteiligt sind und alle übrigen Waren wie Porzellan-, Glas-, Eisenwaren, Haus- und Küchengeräte, Luxus-, Leder-, Galanterie-, Spielwaren, Drogen und Kosmetika die restlichen 20—25% in Anspruch nehmen, ist ein ungefährer U m s c h l a g s v e r g l e i c h z w i s c h e n W a r e n h ä u s e r n und F a c h g e s c h ä f t e n trotzdem möglich. Der Lebensmittelumschlag der Warenhäuser dürfte den durchschnittlichen Lagerumschlag der Fachgeschäfte infolge Auswahl gangbarster Sorten und besonderer Forcierung weit übersteigen. Der Textilumschlag, der bei den Fachgeschäften infolge zeitweise überhöhter Lagerhaltung auf 1,8 gefallen ist, wird nicht unter dem Durchschnittsumschlag von 3,6 liegen. Auch in Glas- und Porzellanwaren und in kosmetischen Artikeln werden die Warenhäuser einen höheren Umschlag als die Fachgeschäfte erreichen. Die Vergleichsmöglichkeit der Umschlagsziffern wird indessen stark durch die besonderen Einkaufsdispositionen beschränkt, die im Gefolge der Ausschaltung des Großhandels und des Teilabrufes großer Bestellungen die Lagerhaltung zum Teil auf die Hersteller abwälzt und damit die der Umschlagsberechnung zugrunde liegenden Lagerwerte der Einzelhandelsgroßbetriebe verkleinert. Das gleiche gilt auch für den V e r s a n d h a n d e l ,

326

Carl Liier

für dessen Umschlagsgeschwindigkeiten noch keine Durchschnittswerte ermittelt sind. G u t organisierte Betriebe haben es aber — wie Nieschlag schreibt 1 ) — verstanden, ihre A u f t r ä g e an die Lieferanten zeitlich und mengenmäßig so auszurichten, d a ß die Dispositionen gewissermaßen zu einem „verlängerten A r m " der eigenen L a g e r werden: Das eigene Lager kann relativ klein und trotzdem allen praktischen A n f o r d e r u n g e n gewachsen sein, w e n n der laufende Nachschub gesichert ist. Vergleichszahlen f ü r die M a s s e n f i l i a l e n sind lediglich aus den Erhebungen des Enquête-Ausschusses für die J a h r e 1925 bis 1927 zu entnehmen. D a n a c h wurde das Lager bei Massenfilialen des allgemeinen Kolonialwarenhandels 17 bis 24mal, bei Kaifeefilialen 4 bis 10mal umgesetzt; Hauptartikel wurden sogar 4 bis 5 mal monatlich umgeschlagen. In Milchfilialunternehmen wurde in Kondensmilch ein 25 bis i n maliger U m s c h l a g erzielt. A u c h in den Butterfilialunternehmen fand ein 16 bis 35maliger Lagerumschlag statt 2 ). Natürlich erreichen a u c h d i e E i n h e i t s p r e i s g e s c h ä f t e weit größere Umschlagsgeschwindigkeiten als die Fachgeschäfte. So betrug z. B. das Soll der jährlichen Umschlagsgeschwindigkeit in einzelnen A b teilungen der E p a bei ,, „ „ ,, „ „ ,, „

Lebensmitteln 20,0 Konfitüren 14,5 K u r z w a r e n ( K r a g e n und K r a w a t t e n ) 10,0 Herrenartikeln 8,0 Hosenträgern 15,0 Badewäsche 10,0 Bürstenwaren und Putzmitteln 10,0 Glas- und Porzellan 6,5 Haushaltswaren, Wäsche, Gardinen, Spitzen, Schürzen, Lederwaren, Bijouterie-, Papier-, Schreib-, Spielund Schuhwaren 8,0

Diese Umschlagsgeschwindigkeiten, die teilweise ganz aus dem R a h m e n des normalen Warenumschlages herausfallen, lassen sich nur aus der wirtschaftlichen A u s n u t z u n g besonders günstig gelagerter Einzelbedarfe und der entsprechenden Sortimentsgestaltung erklären. Deshalb bleiben die modernen Betriebsformen infolge ihrer Beschränkung auf W a r e n mit hoher Umschlagsgeschwindigkeit auf konzentrierte Verbrauchsgebiete beschränkt und können in zerstreuten VerbrauchsRobert Nieschlag a. a. O . , S. 40. V g l . Enquete-Ausschuß I I I 9, Bd. I I : „Massenfilialunternehmen im Einzelhandel mit Lebensmitteln und Kolonialwaren" 1929. 2)

Grundfragen der deutschen

Absatzwirtschaft

327

gebieten gar nicht oder nur mittels des Versandhandels F u ß fassen. In den von den neueren Betriebsformen vorzugsweise geführten Warenarten und -Sorten kommt übrigens der Fachhandel an die höheren Umschlagsziffern heran. Nur infolge der Mitführung seltener gefragter Waren, die schließlich auch irgendwie vom Handel dem Verbrauch bereitgestellt werden müssen, erreicht das Fachgeschäft einen durchschnittlich langsameren Lagerumschlag. Wenn z. B. nach neueren Feststellungen der Forschungsstelle für den Handel 1 ) in einem Berliner Lebensmittelfachgeschäft 1933 ein 5,2 maliger Lagerumschlag im Durchschnitt erzielt wurde — nach Aussagen vor dem Enquete-Ausschuß wurde von Lebensmittelabteilungen größerer Warenhäuser ein 13 bis 18 maliger Durchschnittsumschlag erzielt — , so ergab sich bei den einzelnen Warengruppen und Warenarten ein unterschiedlicher Warenumschlag, der zwischen 1,1 und 113,9 schwankte. Besonders hoch ist dabei natürlich der Umschlag leichtverderblicher Waren des täglichen Bedarfes wie Brot, Butter, Eier, während er bei Dauerwaren größtenteils unter dem Durchschnitt liegt. e) Der mit Rücksicht auf sein vollständigeres Sortiment durchschnittlich langsamere Lagerumschlag des Fachhandels rechtfertigt eine h ö h e r e H a n d e l s s p a n n e , da deren Höhe von der Umschlagsgeschwindigkeit entscheidend bestimmt wird. Aus den erwähnten Untersuchungen der Forschungsstelle für den Handel geht hervor, daß „sämtliche wichtigen Warengruppen mit schnellem Umschlag . . . unterdurchschnittliche Handelsspannen aufweisen und daß bei sinkendem Lagerumschlag die Handelsspannen steigen". So ergab z. B. eine Betriebsuntersuchung der Forschungsstelle für den Handel in einem Berliner Lebensmittelfachgeschäft folgende Zahlen: Warengruppe Fettwaren und Eier Salz, Essig, Mostrich Schokoladen und Süßwaren Malzkaffee und T e e Mehl, Teigwaren und Hülsenfrüchte . . . Getränke Gewürze, Mandeln usw Konserven, Marmelade

Lagerumschlag 36,4 X 10,5 X

6,9 5,7 3,9 2,6

Handelsspanne

15,9 27,5

X

28,7

X

30,2 27,6

X X

2,5 X i,3 X

30,3 27,4 27,4

Das gleiche Verhältnis von Lagerumschlag und Handelsspanne ist r

) FfH-Mitteilungen 5. Jahrg., Nr. 7/8, „ D i e Handelsspanne der Lebensmittelfachgeschäfte".

328

Carl Lüer

auch in anderen Geschäftszweigen festzustellen. Genauere Untersuchungen über die Handelsspannen liegen allerdings aus neuerer Zeit nicht ausreichend vor. Es ist deshalb auch kaum möglich, Kosten und Handelsspannen zwecks Ertragsermittlung der verschiedenen Betriebsformen des Einzelhandels in Beziehung zu setzen. Zudem würden solche Vergleiche auch verhältnismäßig wenig besagen, da die Unterschiede in der Warensortimentierung innerhalb des Einzelhandels kaum vergleichbare Durchschnittsziffern des Lagerumschlages ergeben und auf die Handelsspannen noch andere Faktoren entscheidend einwirken. Zunächst ist die Handelsspanne auch vom Wert der üblichen Verkaufsmenge der einzelnen Warenart abhängig. J e kleiner dieser Wert ist, um so größer muß mit Rücksicht auf die Pfennigeinheit die Handelsspanne gegebenenfalls ausfallen. Daher werden denn auch bei Abgabe größerer Mengen von Pfennigwaren relativ hohe Preisnachlässe gewährt (z.B. Stück i o P f g . , 3 Stück 25 Pfg.), die die Handelsspanne an sich stark verändern. Der Umfang der Verkaufsleistung — und das ist ein weiterer bestimmender Faktor — ist bei Pfennigwaren vielfach höher als bei wertvolleren Gütern. Beim Verkauf von Markenartikeln, soweit keine weitere Kundenberatung erforderlich ist, ist die Verkaufsleistung oft geringer als bei losen Waren; deshalb liegen auch die Handelsspannen für Markenartikel vielfach etwas niedriger als für entsprechend lose Waren. Der Sortenreichtum sowie die schwankenden Qualitäten vieler Markenwaren hat jedoch die Beratung des Kunden durch den Einzelhändler wieder verstärkt, außerdem die Lagerhaltung stark belastet, so daß auch viele Markenartikel nur bei höheren Spannen abgesetzt werden können. Besonders im Bereiche von Waren, die modischen Schwankungen oder technischen Neuerungen unterworfen sind, hat sich der Markenartikelverkauf als unwirtschaftlich herausgestellt. Schließlich ist die vom Erzeuger festgesetzte Handelsspanne namentlich bei neueingeführten Marken meist ein wichtiges Wettbewerbsmittel, so daß die Handelsspanne hier starken Schwankungen unterliegt und vom Fabrikanten anfangs höher, nach genügender Einführung aber niedriger als die für entsprechende markenfreie Waren kalkulierte Handelsspanne festgesetzt wird. Wie bei verderblichen Waren die Gefahr von Schwund und Verlust, so wirkt bei technischen Artikeln, z. B. Rundfunkapparaten usw., die Möglichkeit schneller technischer Überalterung auf die Höhe der Handelsspanne ein. Es bedarf noch sehr eingehender betriebswirtschaftlicher Untersuchungen, um volkswirtschaftlich verwertbare Ergebnisse der Handelsspannen zu erzielen. Die in den verschiedenen Betriebsformen des

Grundfragen der deutschen Absatzwirtschaft

329

Einzelhandels erkennbare B u n t s c h e c k i g k e i t der W a r e n s o r t i m e n t i e r u n g , die ein getreues S p i e g e l b i l d der u n t e r s c h i e d l i c h e n V e r b r a u c h s d i c h t e darstellt und in ihrer Dynamik die Anpassungsversuche aufzeigt, die im Einzelhandel zur bestmöglichen Versorgung mit allen produzierten Gütern angewandt werden, läßt die verschiedensten Handelsspannen für die gleichen Gebrauchsgüter gerechtfertigt erscheinen. Mengenrabattierungen, mit deren Hilfe durch marktordnende Bestimmungen oder Vereinbarungen eine schematische Festsetzung der Handelsspannen erfolgt, können nicht als ausreichend erachtet werden. Sie begünstigen in den größeren Verbrauchsgebieten eine Verlagerung des Umsatzes vom Fachhandel zu den Großunternehmungen und machen in kleineren Verbrauchsgebieten eine Bereitstellung der betreffenden Warengruppen durch den kleinbetrieblichen Einzelhandel nahezu unmöglich. Die Mengenrabattierung muß deshalb durch Funktionsrabatte ersetzt und ergänzt werden, da anders den betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten der Absatzwirtschaft nicht hinreichend entsprochen werden kann und der volkswirtschaftlich zu 80% notwendige mittelständische Fachhandel die Fülle der Waren dem Verbrauch nicht zuzuführen vermag. 20. Das leitet über zu den s o z i a l e n A u s w i r k u n g e n der großb e t r i e b l i c h e n E n t w i c k l u n g in der Absatzwirtschaft. a) Gegenüber einer Zunahme der im Einzelhandel Beschäftigten von 1925 bis 1933 um 10,9% auf 1,9 Millionen, zeigt die Zahl der in Warenund Kaufhäusern, Konsumvereinen, Einheitspreisgeschäften und Gemischtwarengeschäften von der Statistik zusammengefaßten Beschäftigten eine Zunahme von rund 60 % auf fast 250 000 1 ). Darin sind die im Versand- und Filialhandel beschäftigten Personen nicht enthalten. Die Z a h l d e r s e l b s t ä n d i g e n E x i s t e n z e n hat sich damit zugunsten der im Einzelhandel als Angestellte Tätigen weiter erheblich vermindert. Diese Verminderung kommt in der Gesamtstatistik nicht deutlich zum Ausdruck, einmal weil nur die örtlichen Betriebseinheiten gezählt werden, ferner weil die Zahl der nur von einer Person betriebenen Geschäfte in der Krise stark zugenommen hat und auch die Betriebsgrößenklassen 2—3 beschäftigte Personen durch Verkleinerung der Mittelbetriebe angewachsen ist. Immerhin ist bezeichnend, daß von allen im Einzelhandel beschäftigten Personen noch über 40% (einschließlich der mithelfenden Familienmitglieder sogar über 60%) zur Gruppe der Selbständigen gehören. Im Großhandel ist der Anteil der Selbständigen kaum halb so hoch. Nur reichlich 30% aller im Einzel*•) Statistik des Deutschen Reiches Bd. 462, 2 S. 38.

330

Carl Lüer

handel Beschäftigten sind kaufmännische Angestellte, wovon noch etwa 6 , 7 % auf die kaufmännischen Lehrlinge entfallen, bei denen wiederum der weibliche Anteil stark überwiegt. b) Bisher haben viele Kleinbetriebe des Fachhandels die Überlegenheit der Großbetriebe durch u n e n t g e l t l i c h e M i t a r b e i t der F a m i l i e n a n g e h ö r i g e n und durch unbegrenzte Überstund e n a r b e i t ausgeglichen. Die Lebensinteressen vieler Kleineinzelhändler reichen kaum noch wesentlich über ihr eigenes Geschäft hinaus und erübrigen weder Zeit noch Geld für andere Dinge, die im Lebensbereich z. B. kaufmännischer Angestellter eine Rolle spielen. Die meisten Einzelhändler können sich kaum einen Urlaub, geschweige denn darüber hinaus besondere Kulturbedürfnisse leisten. Sie beziehen z. T . ein weit g e r i n g e r e s E i n k o m m e n a l s d i e k a u f m ä n n i s c h e n A n g e s t e l l t e n der Großbetriebe. Nach der Statistik wurden im J a h r e 1929 rund 530000 Einzelhändler mit mehr als 5000 R M . Umsatz zur Umsatzsteuer herangezogen. Obwohl die Einzelhandelsbetriebe seitdem noch zugenommen haben, wurden im J a h r e 1933 nur 350000, also 66%, zur Einkommensteuer veranschlagt; dabei ergab sich ein Durchschnittseinkommen dieser Veranlagten von 2720 R M . Bei Berücksichtigung der etwa 200000 nicht veranlagten Einzelhändler würde sich ein wesentlich niedrigerer Durchschnittssatz ergeben. In den einzelnen Branchen lagen die Durchschnittseinkommen der veranlagten Einzelhändler verschieden hoch. Unter dem Durchschnittsbetrag von 2720 R M . bewegten sich die Durchschnittseinkommen im Lebensmittelund Maschineneinzelhandel. A m höchsten lag das Durchschnittseinkommen im Bekleidungseinzelhandel mit 3627 R M . , welcher Satz jedoch durch die Großbetriebe dieser Branche erhöht sein dürfte, während die vielen Kleinbetriebe beträchtlich unter dem Durchschnitt liegen. Diese Unterschiedlichkeit kommt noch darin zum Ausdruck, daß von den 350000 veranlagten Einzelhändlern 134000 oder 3 8 % unter 1500 R M . Jahreseinkommen versteuerten und am gesamten steuerpflichtigen Einzelhandelseinkommen mit 128 Millionen oder 1 3 , 4 % beteiligt waren. Die in die Einkommensgruppe 1500 bis 3000 R M . fallenden Einzelhändler machten weitere 3 8 % der Steuerpflichtigen aus, waren aber am gesamtversteuerten Einkommen mit fast 3 0 % beteiligt. Über Dreiviertel aller steuerpflichtigen Einzelhändler erzielten also nur 4 2 % des gesamten Einzelhandelseinkommens. Die kleinen Einkommen unter 3000 R M . waren im Lebensmitteleinzelhandel sogar mit 8 3 % , im Hausrathandel mit 6 2 , 7 % aller steuerpflichtigen Einzelhändler beteiligt. Die Einkommenslage des Facheinzelhandels kann demnach nicht

Grundfragen der deutschen Absatzwirtschaft

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als besonders günstig angesehen werden. Das ist volkswirtschaftlich vor allem deshalb beachtlich, weil der Einzelhandel infolge seines hohen Personalanteils an der Gesamtzahl der in der gewerblichen Wirtschaft beschäftigten Personen die weitaus größte Gruppe der gewerblichen Steuerpflichtigen bildet. Er hat 1933 an Einkommenund Körperschaftsteuer fast 100 Millionen R M . aufgebracht und steht damit an der Spitze aller Wirtschaftsgruppen 1 ). 21. Dem weiteren Einbruch in die Selbständigkeit des Einzelhandels hat die n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e G e s e t z g e b u n g Einhalt geboten. Das Einzelhandelsschutzgesetz hat sowohl den Zugang ungeeigneter Personen als auch die Neugründung politisch unerwünschter Betriebsformen beschränkt und damit Auswüchsen und Mißständen vorgebeugt, die sich aus der schrankenlosen Gewerbefreiheit zwangsläufig ergeben. Ferner sind durch weitere Maßnahmen die in der großbetrieblichen Entwicklung liegenden Gefahrenquellen beseitigt worden. Hier sind vor allem zu nennen: Die Sondersteuer für Einzelhandelsgroßbetriebe, die Schließung von Handwerksbetrieben und Erfrischungsräumen in Warenhäusern, die teilweise Auflösung der Konsumvereine, die Neuregelung des Wettbewerbs durch Rabattbeschränkung, Zugabeverbot, Einschränkung der Sonderveranstaltungen und Ausverkäufe 2), die Regelung des Automatenverkaufs, die Nichtzulassung der Warenhäuser, Einheitspreisgeschäfte und Konsumvereine zur Entgegennahme von Bedarfsdeckungsscheinen der Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfen, die Möglichkeit nebenbetrieblicher Handwerksarbeit im Facheinzelhandel usw. 22. Alle diese dem Schutz der mittclständischen Selbständigkeit dienenden gesetzlichen Maßnahmen reichen natürlich nicht aus, die im volkswirtschaftlichen Interesse notwendige Leistungssteigerung des Facheinzelhandels zu gewährleisten. Dazu sind S e l b s t h i l f e m a ß n a h m e n erforderlich, zu denen der Fachhandel vielfach noch erst durch die Organe der wirtschaftlichen Selbstverwaltung erzogen werden muß. Für die Leistungssteigerung des Facheinzelhandels sind in neuerer Zeit umfangreiche Vorarbeiten geleistet worden. Den Bemühungen freiwilliger Verbände um bessere Bezugsbedingungen, sei es im Wege des gemeinsamen Einkaufs oder durch marktordnende Vereinbarungen, Vgl. Dr. Heinz George: Wieviel Steuern zahlt der Einzelhändler?, Deutsche Handelswarte Sept. 1936 S. 509; ferner Dr. Paul Quirin „Der Handel als Aufgabe" im Jahrbuch der Deutschen Wirtschaft 1937 S. 72—77. 2 ) Vgl. Dr. H e l m u t K ö s t e r in Das Einzelhandels-Archiv „Neues Ausverkaufsrecht" (April 35), Das Rabattgesetz (Okt.-Dez. 35), Das Zugabeverbot (Nov.Dez. 36).

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sind bisher erst Anfangserfolge beschieden gewesen. Von den Grenzen des gemeinsamen Einkaufs ist bereits gesprochen worden. a) In den F r a g e n d e r M a r k t r e g e l u n g steht der Einzelhandel großenteils mächtigen Kartellorganisationen der Lieferanten gegenüber, die früher Preise, Rabatte sowie Lieferungs- und Zahlungsbedingungen unter Ausschluß des Einzelhandels einseitig festsetzten und damit den Sortimentsnotwendigkeiten des Facheinzelhandels Gewalt antaten. Da den Pflichtorganisationen der gewerblichen Wirtschaft marktregelnde Maßnahmen — aus Gründen der Vermeidung von Zwangskartellierungen — untersagt sind, mußte der Einzelhandel erst auf der Grundlage freiwilliger Mitgliedschaft Kartellverbände gründen, die in der Regel aus den früheren Fachverbänden entstanden sind. Seit im Jahre 1933 in der Industrie eine neue „Kartellwelle" einsetzte, haben sich die Marktverbände des Einzelhandels in die Marktregelung verstärkt einzuschalten versucht. Sie konnten dabei seit der Ermächtigung der Pflichtorganisationen — zur Beobachtung und Beratung in marktregelnden Fragen — durch die Wirtschaftsgruppe Einzelhandel unterstützt werden. Diese Unterstützung hat deshalb besondere Bedeutung, weil einzelne Fachverbände des Einzelhandels nicht die erforderliche Stärke eines Vertragspartners besaßen, und ferner, weil einer Industrieorganisation infolge der Sortimentsgliederung oft mehrere Einzelhandelsverbände gegenüberstehen. Der Einzelhandel hat zunächst verschiedentlich marktregelnde Maßnahmen der Industrie als Notlösungen anerkannt, obwohl damit teilweise erhebliche Beschränkungen seiner Handelsspannen verbunden waren. Das weitere Bestreben geht aber dahin, in gleichberechtigter Zusammenarbeit mit den Industrieorganisationen eine planvolle und umfassende Marktregelung zu schaffen. Zunächst sind unter Führung der Reichsgruppe Handel M a r k t o r d n u n g s g r u n d s ä t z e aufgestellt worden, die eine Auflockerung von zu starren Bindungen, ferner eine Ersetzung der Mengenrabatte durch Leistungsrabatte und eine stärkere Berücksichtigung der volkswirtschaftlich wertvollen Leistungen kleinerer Wirtschaftsbetriebe bezwecken 1 ). Diese Grundsätze sind bisher nur vereinzelt und auch dann Die Marktordnungsgrundsätze haben folgenden Wortlaut: 1. Die Marktordnung muß allmählich zu einer A u f l o c k e r u n g d e r B i n d u n g e n und E r s t a r r u n g e n führen, die auf vielen Gebieten zum Schaden des Handels und auch der Gesamtwirtschaft noch zu verzeichnen sind. 2. Dadurch, daß der Preis von allen Bestandteilen wettbewerbsähnlichen Charakters bereinigt wird, ist dem Grundsatz der Preiswahrheit und Preisklarheit Geltung zu verschaffen. Rabatte sollen also nicht aus Wettbewerbsgründen gegeben wer-

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nur ansatzweise verwirklicht worden. Zum Teil sind die Arbeiten der Marktregelung durch gesetzliche Vorschriften eingeschränkt, z. B. durch das Kohlenwirtschaftsgesetz, das Spinnstoffgesetz sowie neuerdings durch die Verordnung über die Regelung der Handelsspannen für Rundfunkgerät vom 17. Oktober 1936. Besondere Schwierigkeiten stellten sich bei denjenigen Waren heraus, die nicht ausschließlich von einer Branche hergestellt oder gehandelt werden und wo die Betriebsstruktur der Wirtschaftszweige die Kartellorganisation erschwert. Maßgebenden Einfluß auf die Marktregelung haben bisher vor allem die Verbände des Kohlenhandels und des Chirurgie-Instrumentenhandels gewonnen. Nach dem vom Zentralverband der Kohlenhändler mit den Kohlensyndikaten geschlossenen Generalabkommen sowie nach dem zwischen dem Reichsfachverband der Chirurgieinstrumenten- und Sanitätsgeschäfte mit der Fachindustrie geschlossenen Gegenseitigkeitsabkommen bestehen Anerkennungskommissionen, die über die Zulassung zum Handel entscheiden. Dieses Anerkennungsrecht ist natürlich durch Kartellgesetz und Einzelhandelsschutzgesetz beschränkt; denn da nach dem Erlaß des Reichswirtschaftsministers zum Einzelhandelsschutzgesetz vom 10. Januar 1936 die Aufnahme neuer Waren und der allmähliche Branchenwechsel im Einzelhandel weitgehend zulässig bleiben 1 ), stellt die Nichtbelieferung eines Händlers eine vom Kartellgericht zu genehmigende Sperre dar. Diese Sperre wird aber nicht nach Maßgabe der Branchenzugehörigkeit, sondern ordnungsgemäßer Bedarfsversorgung verhängt. Immerhin beugen die Arbeiten der erwähnten Anerkennungskommissionen einer dem Interesse der Gesamtwirtschaft zuwiderlaufenden Branchenverwirrung vor. Auch die von den Parteien der Marktordnung sonst getroffenen Vereinbarungen über Rabatte, Lieferungs- und Zahlungsbedingungen sind geeignet, sowohl der Preisschleuderei, als auch der Überhöhung des Preisniveaus entgegenzuwirken und einer Marktberuhigung zu dienen. Aber auch in diesen Vereinbarungen ist dem erstrebten Ziel der Leistungsrabattierung noch nicht entsprochen. Es finden sich hier wie auch in anderen Marktregelungen lediglich Mengenrabattstaffeln, den, sondern der w i r t s c h a f t l i c h e n

Leistung

desjenigen entsprechen,

der

Sonderrabatte beansprucht. 3. Die Leistung darf nicht ausschließlich an kapitalmäßig sichtbaren Wirtschaftsvorgängen gemessen werden; daher sind in das Marktordnungsgebäude auch die in diesem Sinne unsichtbaren, aber doch volkswirtschaftlich wertvollen Leistungen kleinerer

W i r t s c h a f t s b e t r i e b e einzufügen.

V g l . Dr. P. Baumert: „ N e u e r Erlaß zum Einzelhandelsschutzgesetz", in: Das Einzelhandels-Archiv, Märzheft 1936, A b t . O , S. 188.

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die den Absatznotwendigkeiten der Klein- und Mittelbetriebe des Facheinzelhandels nicht genügend Rechnung tragen. Hinzu kommt, daß Großabnehmern gegenüber die festgesetzten Grundpreise im Einzelfall ermäßigt und ihnen Sonderrabatte gewährt werden. So klagt z. B. der Seifenfachhandel über Preisstaffelungen, die den Kleinabnehmern nicht einmal ermöglichen, zu Preisen einzukaufen, zu denen die Großabnehmer verkaufen. Der aus dem Jahre 1933 stammende Vertrag über den Kinderwagenabsatz ermöglicht Großabnehmern die Bestellung niedriger kalkulierter Sonderanfertigungen, die der Fachhandel nicht erteilen kann. In der Marktordnung des vom Reichswirtschaftsministerium als Zwangskartell anerkannten Hohlglaskartells wurden dagegen die Grundpreise ausdrücklich als Mindestpreise und die Rabatte als Höchstrabatte bezeichnet, so daß Großabnehmern keine ermäßigten Grundpreise und Sonderrabatte eingeräumt werden können. Im übrigen befinden sich auf fast allen Gebieten die Verhandlungen über die Marktregelung noch im Fluß und werden noch viel Zeit und Mühe erfordern. Es ist aber schon als großer Fortschritt anzusehen, daß der Einzelhandel als verantwortlicher Faktor der Bedarfsversorgung in die Markt- und Preisregelung eingeschaltet ist. Bei dem weitverzweigten und vielgestaltigen Verteilungsnetz, das er bildet, ist die Mitwirkung ausgleichender Zentralinstanzen, wie sie die Wirtschaftsgruppen des Handels darstellen, sehr wertvoll. b) Im engen Zusammenhang mit den Fragen der Marktregelung steht die Frage der K r e d i t v e r s o r g u n g . Für das Kreditbedürfnis des Facheinzelhandels kommt meist nur der Lieferantenkredit in Frage 1 ), der teilweise eine zu weitgehende Abhängigkeit des Einzelhändlers vom Lieferanten begründet. Die Bereitstellung von Bankkredit über den Rahmen des Diskontkredits hinaus ist mangels der geforderten Sicherheiten in der Regel nicht möglich, könnte aber durch eine Verbesserung der Buchführung dem Einzelhandel erschlossen werden. c) Mangelnde Buchführung und Betriebsstatistik haben auch in hohem Maße die betriebswirtschaftlichen Fehlerquellen der Kleinbetriebe verschleiert. Die Einführung des Wareneingangsbuches hat bei einem großen Teil des Kleineinzelhandels vielfach zum ersten Mal eine Buchführung geschaffen. Darüber hinaus ist mit Aufstellung eines 1)

V g l . FfH-Mitteilungen, 4. Jahrg., November 1933, Nr. 7/8: Die langfristigen Schulden des Einzelhandels beruhen bei Kleinbetrieben stärker auf Verwandtenkredit, bei größeren Betrieben auf Bank-, z. T . auch Sparkassenkredit. Sie belasten die Kleinbetriebe im Verhältnis zum Umsatz etwas stärker, als die mittleren und größeren Betriebe, weil sie Beträge von 4000—10000 R M . ausmachen. Nur bei den Großbetrieben wiegen die langfristigen Schulden wieder schwerer.

Grundfragen der deutschen

Absatzwirtschaft

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Kontenplanes J) ein weiterer Schritt zur Verbesserung der Buchführung im Einzelhandel getan worden, insbesondere weil auch die Banken, die bisher nur den Einzelhandels-Großbetrieben Kredite gewährten, diesen Plan als geeignete Vertrauensgrundlage für eine weiterreichende Gewährung von Bankkrediten an den Einzelhandel anerkannt haben. Über die Buchführung hinaus wird durch Erfassung der Kleinbetriebe für den B e t r i e b s v e r g l e i c h d e r F o r s c h u n g s s t e l l e f ü r d e n H a n d e l beim R K W die Betriebsrationalisierung im Facheinzelhandel zu fördern versucht. Was die Großunternehmungen des Einzelhandels schon seit Jahren durch eine gut ausgebaute Betriebsstatistik erreicht haben, wird jetzt auch f ü r die Klein- und Mittelbetriebe des Einzelhandels angestrebt. Zahlenmäßige Aufzeichnungen über Wareneingänge, Lagerbestände, Umsätze, Kosten, Außenstände, Lieferantenschulden, Eigenkapital usw. bieten die Grundlage für die Ermittlung betriebswirtschaftlicher Kennzahlen und branchentypischer Richtzahlen, z. B. für die Umsätze pro beschäftigte Person, Umschlagsgeschwindigkeiten, Kostenanteile usw., ohne deren Kenntnis weder betriebswirtschaftliche Fehldispositionen, noch volkswirtschaftliche Entwicklungstendenzen erfaßt werden können. Die Forschung, der leider bisher nicht ausreichende Mittel zur umfassenden Durchführung und Auswertung laufender Erhebungen zur Verfügung stehen, ist dabei bemüht, die einzelnen Betriebsergebnisse so zu gruppieren, daß bei aller Verschiedenheit der Betriebsstruktur allgemeine Kenn- und Richtzahlen nur aus wirklich vergleichbaren Betrieben ermittelt werden. Erst aus diesen Richtzahlen kann der einzelne Betriebsinhaber erkennen, wo er von den Branchenverhältnissen abweicht und betriebsorganisatorische Verbesserungen durchführen muß. Nur so können auch genauere Erkenntnisse über die Kosten und Leistungen des Einzelhandels gewonnen und einer allgemeinen Beurteilung zugänglich gemacht werden. V o r allem aber bildet diese Forschungsarbeit eine der wichtigsten Voraussetzungen zur Leistungssteigerung des mittelständischen Facheinzelhandels. Uber die Erforschung der Absatzverhältnisse des Einzelhandels hinaus muß auch Klarheit darüber gewonnen werden, welche wirtschaftlichen Ursachen zur Umgestaltung der Absatzwege führen und welche Wirkungen damit verbunden sind. In dem beim Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit kürzlich gegründeten R e i c h s a u s s c h u ß f ü r w i r t s c h a f t l i c h e n V e r t r i e b sind weitreichende U n t e r s u 1)

V g l . Friedrich Prieß: „ D e r Kontenplan, Buchführungsgrundsätze für den Einzelhandel", Berlin 1935.

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c h u n g e n ü b e r d i e V e r t r i e b s k o s t e n eingeleitet; sie sollen K l a r heit darüber bringen, inwieweit die Verschiedenheit von Absatzwegen in der Natur der Waren oder in den Bedürfnissen der Verbraucher begründet ist und inwieweit die Wahl des einen oder anderen Weges volkswirtschaftlich gerechtfertigt ist oder nicht. Heute wird ohne hinreichende Kenntnis der betriebswirtschaftlich erforderlichen Absatzkosten und der volkswirtschaftlichen Wirkungen auf dem Gebiete der Absatzorganisation noch viel zu sehr experimentiert. Nur die Erforschung der tatsächlichen Verhältnisse kann hier ein volkswirtschaftlich schädliches Gegen- und Nebeneinanderarbeiten unmöglich machen. Mit den Bestrebungen zur Verbesserung der Buchführung und Betriebsstatistik sind die Maßnahmen zur Leistungssteigerung des Facheinzelhandels nicht erschöpft. Das Einzelhandelsschutzgesetz, das j a nicht nur in negativer Richtung die Beseitigung von Mißständen bezweckt, sondern auch die gesetzliche Grundlage für eine höhere Leistungsfähigkeit des Facheinzelhandels geschaffen hat, fordert von jedem im Einzelhandel selbständig Tätigen Sachkunde und persönliche Zuverlässigkeit. Diese Sachkunde konnte von einem jedermann ohne weiteres zugänglichen Berufsstande nicht überall erwartet werden. Es ist daher eine der wichtigsten Aufgaben der wirtschaftlichen Selbstverwaltung, durch geeignete, organisatorische Maßnahmen den im Einzelhandel Tätigen den Weg zu den erforderlichen Fachkenntnissen zu erschließen. Dabei handelt es sich naturgemäß um zwei verschiedene Schulungsaufgaben: einmal um die Schulung des Nachwuchses, zum zweiten um die nachträgliche Förderung der Sachkunde bei den schon vor Erlaß des Einzelhandelsschutzgesetzes im Einzelhandel selbständig tätigen Kaufleuten. d) S c h u l u n g u n d B e t r e u u n g des N a c h w u c h s e s , insbesondere der im Handel tätigen Kaufmannsgehilfen und Lehrlinge, ist durch den bekannten Erlaß des Führers der Deutschen Arbeitsfront als Aufgabe gestellt worden. Da indessen gerade im Einzelhandel ähnlich wie im Handwerk der praktische Betrieb die wichtigste Lehrstätte bildet und besondere Lehrbetriebe — wie sie in großbetrieblichen Wirtschaftszweigen möglich sind — hier nicht aufgebaut werden können, ist die Frage der Nachwuchsschulung im Einzelhandel organisatorisch nicht von der Arbeit der Wirtschaftsgruppe zu trennen, insbesondere auch weil die Lehrmeister der Einzelhandelslehrlinge die Einzelhandelskaufleute selber sein müssen. Die Beratung und Betreuung des selbständigen Einzelhandelskaufmanns ist aber nach der ersten Durchführungsverordnung des Gesetzes zur Vorbereitung des organisatorischen Aufbaues der deutschen Wirtschaft vom 27. April

Grundfragen

der deutschen

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1934 Aufgabe der Wirtschaftsgruppe. I n einer Vereinbarung vom 12. Oktober 1935 ist von der Deutschen Arbeitsfront noch besonders bestätigt worden, d a ß die Berufsförderung der selbständigen Einzelhändler der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel obliegt. Die Nachwuchsfrage des Einzelhandels beginnt bereits bei der B e r u f s w a h l der schulentlassenen J u g e n d . Bei durchschnittlich 3-jähriger Lehrzeit und einem Lehrlingsbestand von fast 130 000 im Einzelhandel stellt der Einzelhandel jährlich rund 40000 Lehrlinge neu ein. Nach einem Bericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenfürsorge h a b e n sich im J a h r e 1934/35 bei den Berufsberatungsstellen der Arbeitsämter f ü r den Einzelhandel 78 248 J u g e n d liche gemeldet. Davon waren n u r 7 119 männliche Anwärter. Mit Rücksicht darauf, d a ß 65,5%, also fast 2 / 3 aller im Einzelhandel beschäftigten Lehrlinge weiblich sind, sind also n u r etwa halb so viel männliche Lehrlingsanwärter vorhanden wie benötigt werden. Das weibliche Lehrlingsangebot dagegen übersteigt bei weitem die Zahl der verfügbaren Lehrstellen. Den Berufsberatungsämtern ist deshalb von der Reichsanstalt die Vermittlung von männlichen Jugendlichen für den Einzelhandel nahegelegt worden. Eine Stärkung des mittelständischen Fachhandels gegenüber den großbetrieblichen Unternehmen m u ß von einer Vermehrung der männlichen gegenüber den weiblichen Berufsanwärtern begleitet sein. Nach der Volkszählung von 1933 beschäftigten im Einzelhandel: die die die die

Kleinbetriebe (2—5 Beschäftigte) kleineren Mittelbetriebe . . . . (6—10 ,, ) größeren Mittelbetriebe . . . . (11—50 „ ) Großbetriebe (über 50 Beschäftigte)

43,5 1 7>3 18,5 20,7

% % % %

aller Einzelhandelslehrlinge. Der Anteil der weiblichen Lehrlinge liegt jedoch bei den kleineren Betrieben unter, bei den größeren Betrieben über dem Durchschnitt u n d erreicht sogar bei den Großbetrieben 77,6%, so d a ß also hier erst auf 4—5 Lehrlinge ein männlicher entfällt. I n den Großbetrieben des Gemischtwarenhandels erreichte der Anteil der weiblichen Lehrlinge an der gesamten Lehrlingszahl sogar fast 81 %. J e d e r vierte weibliche Lehrling ist in einem Großbetrieb des Einzelhandels beschäftigt. Daher kommt es denn auch, d a ß die Großbetriebe etwa doppelt so viel Lehrlinge beschäftigen, wie ihrem Anteil an der Gesamtzahl der im Einzelhandel beschäftigten Personen (10,3%) entspricht. Die Berufserziehungsarbeit m u ß aber trotz des Übergewichts weiblicher Lehrlinge in erster Linie auf die männlichen Lehrlinge abgestellt 22

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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Carl Liier

sein; denn wenn auch im Einzelhandel von 812 430 Selbständigen 262 140 oder 32% weiblich sind, so wird dieser hohe Frauenanteil doch vor allem durch das Übergewicht der Frau in den „Einmann-Betrieben" bestimmt. (Vielfach sind die Frauen aber nur Firmenträger). Diese „Einmann-Betriebe", die fast die Hälfte aller Einzelhandelsbetriebe ausmachen, kommen für die Lehrlingsausbildung größtenteils auch in Zukunft nicht in Betracht. Auch die Einheitspreisgeschäfte scheiden als Stätten der Lehrlingsausbildung aus. Der Präsident der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung hat sie als ungeeignet erklärt. Die Arbeitsämter vermitteln deshalb Lehrlinge aus Einheitspreisgeschäften nur als angelernte Kräfte. Überhaupt sind die Großbetriebe auch sonst nicht die geeignetsten Lehrstätten, weil der Lehrling hier nicht den Überblick über alle Betriebsaufgaben gewinnt und oft nur als Spezialverkäufer oder Buchhalter ausgebildet wird. Im Interesse steigender Leistungsfähigkeit darf aber die Ausbildung nicht auf die Z ü c h t u n g e i n e s S p e z i a l i s t e n t u m s abgestellt sein. Besonders weibliche Lehrlinge werden vorzugsweise nur zu Verkäuferinnen oder Kontoristinnen ausgebildet. Der mit dem Ziel späterer Selbständigkeit auszubildende Lehrling muß dagegen eine allumfassende Kaufmannsausbildung erfahren, wie er sie zur selbständigen Führung eines Fachgeschäfts benötigt. In Zusammenarbeit mit den Handelskammern, den zuständigen Stellen der Deutschen Arbeitsfront und der Jugendführung hat die Wirtschaflsgruppe Einzelhandel R i c h t l i n i e n für die Lehrlingsausbildung im deutschen Einzelhandel herausgegeben, die zwar ihre gesetzliche Grundlage erst in dem noch bevorstehenden allgemeinen Berufserziehungsgesetz erhalten müssen, die jedoch schon heute richtunggebend für Art und Inhalt der Lehrlingsausbildung sind. Die Richtlinien sehen auch die Ausstellung und Führung eines L e h r h e f t e s vor, das als Unterlage für die z. Zt. noch freiwillige Kaufmannsgehilfenprüfung zu dienen geeignet ist. Die Richtlinien machen ferner den Besuch der Berufs- oder Fortbildungsschule sowie die Teilnahme des Lehrlings an der besonderen Berufsschulungsarbeit der Deutschen Arbeitsfront zur Pflicht. e) Das Schwergewicht der Lehrlingsausbildung liegt also im praktischen Betriebe selbst. Nicht nur aus diesem Grunde, sondern auch aus dem berufspolitischen Ziel, den b e r e i t s s e l b s t ä n d i g e n E i n z e l h ä n d l e r b e r u f l i c h f o r t z u b i l d e n , sind von der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel umfangreiche Schulungseinrichtungen getroffen oder im Aufbau begriffen. Diese Arbeiten, die auch im Erlaß des Reichswirtschaftsministers zur Reform der Organisation der gewerb-

Grundfragen der deutschen Absatzwirtschaft

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liehen Wirtschaft vom 7. Juli 1936 ihre Begründung gefunden haben, sind in einzelnen Fach- und Bezirksgruppen des Einzelhandels schon sehr weit fortgeschritten 1 ). Sie erstrecken sich insbesondere auf Material-, Betriebs- und Rechtskunde. Der Fachhandel muß mehr denn je und jetzt besonders unter dem Gesichtspunkt der Rohstoffrage über Material- und Herstellungsverfahren der von ihm behandelten Erzeugnisse unterrichtet sein. Außer den bereits erwähnten Gebieten der Buchführung und Betriebsstatistik sind es vor allem Fragen der Betriebsorganisation, des Einkaufs, des Verkaufs und der Werbung, die den Inhalt der Berufsförderung ausmachen. Daneben kommt auch die Vermittlung der erforderlichen Rechtskenntnisse, insbesondere auf dem Gebiete des Wettbewerbsrechtes, in Betracht. Die Notwendigkeit dieser Schulung ergibt sich vor allem aber auch noch daraus, daß z. Zt. der Zustrom zum selbständigen Einzelhandel zu etwa 80% aus Personen besteht, die weder im Einzelhandel noch sonst wo eine kaufmännische Ausbildung erfahren haben. Es ist eine überraschende Tatsache, daß die im Einzelhandel Gelernten in andere Berufe hinüberwechseln, während Berufsfremde die Genehmigung zur Eröffnung eines Einzelhandelsgeschäftes nachsuchen und sich der Prüfung unterziehen — in der Mehrzahl der Fälle allerdings mit negativem Erfolg —. Die Leistungssteigerung des Facheinzelhandels kann aber nur mit Sicherheit erwartet werden, wenn genügend ausgebildete Kaufleute im Bereich des Einzelhandels zur Selbständigkeit drängen. Die Zurückhaltung der Kaufmannsgehilfen hat zum wesentlichen Teil auch seinen Grund im Kapitalmangel, der durch Erschließung neuer Kapital- und Kreditquellen im Einzelhandel überwunden werden muß. C. S C H L U S S B E T R A C H T U N G Aus dem buntscheckigen Bilde der Absatzwirtschaft, wie es hier an Hand praktischer Gestaltungen und wissenschaftlicher Forschungsergebnisse zu entwerfen versucht wurde, ist es schwer, allgemeine Strukturwandlungen und Gestaltungsprinzipien herauszuheben. Mit der Herausbildung selbständiger, zwischen den Produktionsstufen stehender Handelsstufen hat die geschichtliche Entwicklung die Frage nach der Selbständigkeit der Absatzwirtschaft grundsätzlich bejaht. Die Aufgaben, die in einer arbeitsteilig organisierten Marktwirtschaft 1

) Vgl. Tagungsbericht über die Berufsförderungsarbeit der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel in Müggendorf i. Bayern vom 20. April 1936, insbesondere Vorträge von Erich Brinkmann, Leipzig, und Hermann Bonte über die Ergebnisse der Berufsförderungsarbeit. 22»

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zwischen Produktion und Verbrauch zu erfüllen sind, sind daher im wesentlichen S a c h e d e s b e r u f s m ä ß i g e n H a n d e l s . M a n darf indessen nicht verkennen, daß die Entwicklung nicht in allen Stufen, Gebieten und Branchen gleichmäßig verlaufen ist u n d d a ß deshalb die Absatzfunktionen in Ausmaß und Intensität sehr verschieden sind. Neben großbetrieblicher Massenproduktion steht kleinbetriebliche Handwerksarbeit, neben Standardbedürfnissen treten neue Bedürfnisse in unterschiedlicher H ä u f u n g und Regelmäßigkeit auf. Produktion und Bedarf sind vielgestaltig und wechselvoll. Mithin sind auch die A b s a t z f u n k t i o n e n V e r ä n d e r u n g e n u n t e r w o r f e n . Teils sind sie klein geblieben u n d haben die Ausbildung selbständiger Handelsstufen nicht ermöglicht, teils sind sie derartig angewachsen, daß sie berufliche Funktionsspezialisierungen in der Absatzsphäre bedingt haben. Wenn z. B. beim Absatz des Möbeltischlers kein H ä n d ler notwendig ist oder wenn umgekehrt für die Zuführung von Kolonialwaren neben Groß- u n d Einzelhandelsunternehmen auch Bank-, Versicherungs-, Lagerhausunternehmen tätig sein müssen, so hat das eben seinen Grund in dem unterschiedlichen Ausmaß der Absatzfunktionen. Die wichtigsten Absatzfunktionen bestehen in der Lagerhaltung und ihrer Finanzierung, der Kundensuche, der Güterzuführung, der Kreditgewährung u n d dem Zahlungseinzug. J e nach den Produktionsund Bedarfsverhältnissen sind sie unterschiedlich groß. I n einem Falle reichen sie für eine Handelsstufe nicht aus, werden d a n n also entweder von den Betrieben der benachbarten Verarbeitungsstufen mitgetätigt (z. B. vom selbstverkaufenden Handwerker) oder mit benachbarten Verarbeitungsfunktionen, die ihrerseits keine besondere Verarbeitungsstufe ausfüllen, zur Bildung einer existenzfähigen H a n delsstufe verbunden (z. B. Fahrradhandlung mit Schlosserei in einer Kleinstadt). I m anderen Falle übersteigt die Gesamtheit dieser H a n delsfunktionen den R a h m e n eines Handelsbetriebes, so daß eine Beschränkung auf einzelne Funktionen oder Teile von diesen erfolgt: (z. B. die Abgabe der Lagerhaltung an ein Lagerhaus, der Finanzierung an eine Bank, der Güterzuführung an die Spedition usw.). Die Spezialisierung auf einzelne Handelsfunktionen ist ebenso häufig, wie die Kombination eines Handelsbetriebes mit. benachbarten Verarbeitungsfunktionen. Der alle Handelsfunktionen umfassende Handelsbetrieb ist daher n u r e i n T y p der verschiedenen Handelsbetriebsformen, die sich wandeln, j e nachdem sich die ökonomischen Grundlagen der gesamten Absatzwirtschaft verändern. Schon die — vielfach erst vom Handel durch Beschaffung der Roh-

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Stoffe und Erschließung der Absatzmärkte ermöglichte — M a s s e n p r o d u k t i o n hat mit erweiterten, aber übersichtlicher gewordenen Märkten die Handelsfunktionen grundlegend umgestaltet. Im Außenhandel wie im Binnenhandel förderte sie eine teils regionale, teils fachliche Spezialisierung der Handelsunternehmungen und war im Fall einer gewissen Häufung und Stetigkeit der Absatzverhältnisse, besonders bei Standardwaren mit Monopolcharakter sogar in der Lage, sowohl den Großhandel als auch den Einzelhandel zum Teil auszuschalten. Teils besucht dann ein Heer von Fabrikvertretern die Geschäfte des Facheinzelhandels, teils können die Waren sogar in eigenen großstädtischen Fabrikfilialen vertrieben werden. Die Fabrikfilialen finden auch darin eine Stütze, daß sie nicht als Großbetriebe aufgezogen werden müssen, sondern sich im Ausmaß kleiner Fachgeschäfte halten können. I n weniger konzentrierten Verbrauchsgebieten, die auch der Spezialisierung des berufsmäßigen Fachhandels Grenzen ziehen, bleibt dagegen auch die Standardproduktion auf das Verteilungsnetz des Einzelhandels, meist sogar des Großhandels, angewiesen. Besonders in bisher wenig erschlossenen Absatzgebieten ist die Produktion vom Berufshandel abhängig. Eine notwendig fachlich spezialisierte Absatzorganisation der Produktion würde sich hier als viel zu kostspielig erweisen. Das Erzeugnis der einzelnen Fabrik kann daher nur im Sortiment des Gemischt- oder des noch nicht weitgehend spezialisierten Fachhandels abgesetzt werden. Daraus ergibt sich aber, daß d i e C h a n c e n d e s i n d u s t r i e l l e n D i r e k t a b s a t z e s b e i wachsender Verbrauchsdichte und fortschreitender fachlicher S p e z i a l i s i e r u n g der A b s a t z w i r t s c h a f t steigen, bei g e r i n g e r V e r b r a u c h s d i c h t e und d e s h a l b s t ä r k e r e m Gem i s c h t h a n d e l d a g e g e n g e r i n g e r w e r d e n . Diese Erkenntnis ist für die Frage der Branchenbereinigung von großer Wichtigkeit. Das gilt — von einzelnen Besonderheiten abgesehen — sowohl im Außenwie im Binnenhandel, im Großhandel wie im Einzelhandel. Natürlich kann der s p e z i a l i s i e r t e F a c h h a n d e l deshalb keineswegs etwa als ausschaltungsreif angesehen werden, denn in konzentrierten Bedarfsgebieten erfordert die Zuführung der Güter an die Verbraucher ein weitverzweigtes Verteilungsnetz, das weit über das Optimum eines industriellen Absatzapparates hinausreicht. Die notwendige Konsumnähe des letzten Verteilungsbetriebes zwingt zu stark zum Branchensortiment, als daß auch nur die größten Unternehmungen der Fertigwarenproduktion den binnenländischen Absatzgroßhandel und Facheinzelhandel wirklich entbehrlich machen könnten. Nur in beschränktem R a h m e n ist hier die Ausschaltung des selbständigen

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Fachhandels möglich und selbst die Vertriebsgemeinschaft gleichartiger Produktionsunternehmungen, z. B. „ W M F " in Metallwaren, „Goldpfeil" in Lederwaren, kann bestenfalls nur einen beschränkten Cityhandel betreiben, der zudem hier der Konkurrenz des großbetrieblichen Gemischthandels (Warenhäuser) begegnet. Beim Fertigwarenexport nach benachbarten Industrieländern gehen dagegen die Aussichten eines fachlich gegliederten Absatzsystems weiter bis zur Ausschaltung des Fachhandels durch den Direktabsatz der Herstellerbetriebe, weil hier die Bedarfskonzentration die Wirtschaftlichkeit eines fachlich stark spezialisierten Absatzbetriebes begründet und der gut ausgebaute Verteilungsapparat industrieller Importländer der eigenen Absatzorganisation entgegenkommt. Bis zu den überseeischen Absatzmärkten kann dagegen der industrielle Direktabsatz nur in ähnlicher Weise vordringen, wie auf dem Binnenmarkt die Versandgeschäfte, die immer nur bestimmte Versorgungsinseln im Bereiche der z. T. noch unerschlossenen Märkte darstellen können. Die Funktion der Markterschließung, die im überseeischen Absatzgebiet noch mit zu viel Risiken belastet ist, macht den G e m i s c h t h a n d e l und damit den beruflich selbständigen Exporteur unvermeidlich, der aus genauer Kenntnis einzelner Absatzgebiete die verschiedensten Fertigwaren abzusetzen versuchen muß. Hierbei erfordert die Ökonomie des Absatzbetriebes vielfach sogar noch eine Verbindung von Absatz- und Aufkaufhandel, d. h. eine Betriebskombination von Hin- und Rückgeschäft, die einem nur mit e i n e m Spezialerzeugnis handelnden Industrievertreter in der Regel nicht möglich ist. Nur ganz große Industriebetriebe können diese Hin- und Rückgeschäfte für sich organisieren, z. B. Siemens als Ankäufer von Baumwolle. Die F u n k t i o n d e r M a r k t e r s c h l i e ß u n g ist bei der Fülle der miteinander in Konkurrenz stehenden Fertigerzeugnisse auch im Bereich konzentrierten Bedarfes noch nicht bedeutungslos geworden; trotzdem hat die größere Bedarfsstabilität des Binnenmarktes im allgemeinen hier einen feststehenden Handelsapparat wachsen lassen, dessen fixe Kosten dem Absatzproblem ein ganz anderes Gesicht geben als im Außenhandel. Die Möglichkeit, Handelskosten zu ermitteln, ist daher in Binnenhandelsbetrieben schon wesentlich leichter als in denen des Außenhandels. Berücksichtigt man ferner, daß sich in der Binnenwirtschaft die Preisverhältnisse viel stärker nach den tatsächlichen Kostenwerten einer Ware richten, während sich auf neuerschlossenen Märkten die Preise meist hart an den Gebrauchswertvorstellungen ohne Rücksicht auf die Kostenwerte bilden, so wird ersichtlich, daß die mit der Spanne zwischen Erzeuger- und Verbraucherpreis entlohnte

Grundfragen

der deutschen

Absatzwirtschaft

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Handelsleistung je nach der Bedarfsstruktur ganz verschieden sein muß. Bei steigender Absatzunsicherheit muß der Kaufmann mit einem höheren Risiko rechnen, d. h. er muß auf den Absatz solange verzichten, bis die Produktionskosten sinken oder sich Marktgebiete mit höheren Gebrauchswertvorstellungen erschließen. Solange die Spanne zwischen Kosten und Preis, noch ausreicht, wird er S u c h k o s t e n aufwenden und gegebenenfalls mit niedrigen Gewinnspannen zufrieden sein, wenn Umsatzsteigerungen in Aussicht stehen. Mit erfolgreicher Markterschließung können diese Gewinnchancen nach Maßgabe der Reichhaltigkeit und Absatzfähigkeit des Sortiments steigen, sie können aber auch durch wachsende Lagerkosten wieder ausgeglichen werden. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten muß der Handel den wirtschaftlichsten Weg suchen. Er kann es in der eigenen Volkswirtschaft nicht mehr unter Ausnutzung wirtschaftlicher Notstände, wie sie durch zeitweise Knappheit gewisser Güter geschaffen werden. Ein R i s i k o l o h n d e r M a r k t e r s c h l i e ß u n g darf aber dem Handel nie versagt werden.

DIE DEUTSCHEN VERSICHERUNGEN VON

EDUARD HILGARD

I. B E G R I F F U N D WESEN D E R

VERSICHERUNG

DAS VERSICHERUNGSWESEN IST IN DER NEUZEITLICHEN Wirtschaft so fest verankert und mit ihren einzelnen Teilen so eng verbunden, daß es müßig erscheinen mag, sich noch mit dem Begriff und der Aufgabe dieses weit verzweigten „Hilfsgewerbes" zu befassen. Indessen, so unbestritten und anerkannt der wirtschaftliche Nutzen der Versicherung als „schlechthin notwendig für ein reibungsloses Arbeiten" (Sombart) in der Praxis ist, so wenig vermag ihre wissenschaftliche Durchforschung und Darstellung zu befriedigen. Wenn noch im Jahre 1868 Emanuel Herrmann das Versicherungswesen als „das Stiefkind der Volkswirtschaftslehre" bezeichnen zu müssen glaubte, so hat sich bis heute wohl nur der Umfang der versicherungswissenschaftlichen Literatur erweitert. Einer erschöpfenden und all seine Wesensmerkmale in einwandfreier Weise erfassenden Begriffsbestimmung hat sich das Versicherungswesen aber bislang entzogen, wie es auch nicht gelungen ist, diesen Wirtschaftszweig in eine alle seine Funktionen erfassende Systematik einzugliedern. Die Gründe für diese theoretische Lücke zu erörtern, ist hier nicht der Ort. Wohl aber erscheint es angebracht, in aller gebotenen Kürze auf die mannigfachen Definitionen hinzuweisen, die sich unter den verschiedensten Gesichtspunkten im

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deutschen Schrifttum vorfinden. Es geschieht dies nicht in der Absicht, den vorhandenen mehr oder minder geglückten Formulierungen etwa eine neue hinzuzufügen, sondern in dem Bestreben, durch eine solche historisch-kritische Rückschau einen verläßlichen Eindruck zu vermitteln von der w a c h s e n d e n E r k e n n t n i s d e s w i r k l i c h e n W e s e n s d e r V e r s i c h e r u n g und ihrer Entwicklung von einer einseitigen Wohltätigkeitseinrichtung (z. B. „Brandbettel") zu einem auf gegenseitigem Rechtsanspruch begründeten Vertragswerk. Daneben wäre es reizvoll, die langsame, aber folgerichtige Loslösung des modernen Versicherungsvertrages von allem ihm ursprünglich anhaftenden „versicherungsfremden" Beiwerk durch die jahrhundertelange Geschichte der Versicherungseinrichtungen einmal zu verfolgen. Die Versuche, einen brauchbaren B e g r i f f d e r V e r s i c h e r u n g aufzustellen, gehen methodisch und inhaltlich sehr weit auseinander, nicht zuletzt weil sie „ungestraft privatwirtschaftliche, volkswirtschaftliche und technische Begriffe durcheinander würfeln" (Schaefer). Das läßt es erklärlich erscheinen, daß bei weitem der größte Teil der Vielzahl von Begriffsbestimmungen dem wahren Wesen der Versicherung nicht gerecht wird. Es gilt dies vor allem für die sog. Spieltheorie, als deren Hauptvertreter der Wiener Professor Herrmann angeführt sei, der das Versicherungsgeschäft „einer Lotterie mit dem Zeitpunkte und den Gewinnsten nach unbestimmten Ziehungen" gleichsetzt. Diese Auffassung wird einmütig von der deutschen Versicherungswelt abgelehnt, denn sie empfindet es „als ethisch anstößig, die Versicherung in reines Spiel ausarten zu lassen" (Kisch). Nicht so in England, dem „klassischen L a n d " der Assekuranz, wo Lloyds schon stets die eigenartigsten Spekulationen unter dem Deckmantel von Versicherungen betrieben haben'; einem englischen Nationalökonomen, Hubert D. Henderson, ist es auch vorbehalten, einen Abschnitt seiner Abhandlung über „Angebot und Nachfrage" mit der Überschrift „Monte Carlo und Versicherung" zu versehen. Als zu eng muß sodann die Spartheorie angesehen werden, wie sie u. a. von Friedrich Hülsse vertreten wird. Er versteht unter „Versicherung im wirtschaftlichen Sinn . . . die Einrichtung, welche die auf der Ungewißheit der Wirtschaft beruhende Unwirtschaftlichkeit der Ersparung dadurch beseitigt, daß sie die Last der Ersparung unter Ausnutzung der Ungewißheit auf viele der gleichartigen Ungewißheit ausgesetzte Wirtschaften verteilt". Auch die folgende Leistungstheorie von Karl Brämer ist zu einseitig. Danach ist Versicherung „die Übernahme einer Pflicht des Versicherers (Versicherungsgebers) zur Zahlung von Geld (im Höchstbetrage des Risikos) beim Eintreffen gewisser, vom Willen des Beteiligten unabhängiger Ereignisse an den

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Versicherungsnehmer oder dessen Schützling (Versicherten, Begünstigten) gegen Entgelt, das in einmaliger oder (als Beitrag, Prämie) wiederholter Geldzahlung des Versicherungsnehmers besteht". Eine rein betriebswirtschaftliche Begriffsbestimmung hat Neriich versucht. Er bezeichnet die Versicherung als die „Umwandlung von Teilen des Unternehmungsrisikos in regelmäßig wiederkehrende Betriebsausgaben, Umwandlung ganz oder teilweise unmeßbarer Lasten in feststehende Kalkulationsfaktoren mit Hilfe entgeltlicher Abwälzung der Risikotragung auf Wirtschaften, die den Zusammenschluß zahlreicher Wirtschaftseinheiten zwecks Übernahme oder Tragung der dieselben ähnlich oder gleichartig bedrohenden Gefahren in einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Organisation zum Betriebsziel haben". Juristisch definiert Martin Wolff die Versicherung als „ein Rechtsverhältnis des Individualrechts oder des Sozialrechts, des Privatrechts oder des öffentlichen Rechts. Sie mag auf einem Rechtsgeschäft beruhen . . . oder ohne Rechtsgeschäft kraft Gesetzes eintreten . . . Die Versicherung ist ein selbständiges Rechtsverhältnis. . . Die Versicherung begründet eine Schadenersatzpflicht des Versicherers . . . Der Schaden muß aus einem ungewissen Ereignis drohen . . . Der Versicherer bezieht für die Gefahrenübernahme ein Entgelt. . . Das Entgelt muß nach allgemeinen Lebenserfahrungen bemessen sein." Der „objektiven" Gefahrentheorie von Benno Krosta, wonach Versicherung „die Vereinigung von Risiken zwecks Ausgleichs gegen Entgelt" ist, steht die „subjektivistische" Definition von Gerhard Jessen gegenüber: „Versicherung im volkswirtschaftlichen Sinne ist demnach dasjenige Tauschgeschäft, bei dem die permanente Sicherstellung eines Eventualersatznutzens im Hinblick auf die Konsolidierung von Vermögen nachgefragt und gegen effektiven Preis dadurch geboten werden kann, daß der Anbieter durch Akkumulierung großer Geldeinkünfte von zahlreichen Versicherten und durch die Wahrscheinlichkeitskalkulation einen genügend großen Fonds für die Eventualfälle zu bilden imstande ist." Den Anspruch auf ernste Beachtung können aber aus der Fülle der nach der Person ihrer Vertreter subjektiv gefärbten Lehrmeinungen, die leicht zu einer Begriffsverwirrung statt zu einer Klärung führen, nur zwei, die Schaden- und die Bedarfstheorie, erheben. Die erstgenannte geht auf Adolf Wagner zurück, dessen Einstellung zum Versicherungswesen freilich allzu stark durch den „Kathedersozialismus" beeinflußt war. Für ihn ist Versicherung „diejenige wirtschaftliche Einrichtung, welche die nachteiligen Folgen (zukünftiger) einzelner, für den Betroffenen zufälliger, daher auch im einzelnen Falle ihres Eintretens unvorhergesehener Ereignisse für das Vermögen einer Person dadurch

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beseitigt oder wenigstens vermindert, daß sie dieselben auf eine Reihe von Fällen verteilt, in denen die gleiche Gefahr droht, aber nicht (oder wenigstens jetzt nicht oder noch nicht) wirklich eintritt". Auch diese Definition teilt indessen mit vielen anderen den Mangel, daß sie „von vornherein dem Versicherungsbegriff zuviel Inhalt und einen zu engen U m f a n g " (Dorn) gibt. Demgegenüber bedeutet die inzwischen verfeinerte „Bedürfnistheorie", die ihren Ausgang von dem Italiener Gobbi genommen hat, einen wesentlichen Fortschritt; sie ist denn auch von den meisten deutschen Gelehrten der Gegenwart übernommen worden. Woerner z. B. bezeichnet als Zweck der Versicherung: „die gewährleistete Befriedigung des durch Eintritt einer Vermögens- oder Einkommenseinbuße einem Wirtschaftssubjekt verursachten Güterbedarfs zu Lasten anderer Wirtschaftssubjekte". In bewußter Abweichung von den bisher, insbesondere auch der zuletzt erwähnten Erklärung des Versicherungsbegriffs haben in jüngster Zeit zwei Mitglieder des Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherung, Dr. Karl Wirth und G. E. Fromm, den verdienstvollen Versuch unternommen, unter Anlehnung an die Weltanschauung des Nationalsozialismus einen neuen Begriffsinhalt der Versicherung herauszuarbeiten, und gewissermaßen eine „Gemeinschaftstheorie" geschaffen. Hiernach ist Versicherung „eine Gemeinschaft, welche die schätzbaren, nachteiligen oder vereinbarten Folgen von Gefahren, die alle Gemeinschaftsglieder bedrohen, auf alle verteilt und dadurch die Ungewißheit über die Auswirkung der Gefahren beseitigt". Damit ist der sittliche Gedanke der Gefahrengemeinschaft, wie er bereits im germanischen Sippenrecht anzutreffen ist, aufs neue verlebendigt und zur theoretischen Grundlage für die Betrachtung des Versicherungswesens gemacht worden. Wird man es auch als zu weitgehend empfinden müssen, wenn die Verfasser in allen übrigen Merkmalen der Versicherung „ n u r noch Erläuterungen und Ergänzungen" erblicken, so hat ihre Begriffsbestimmung doch auch erhebliche systematische Vorteile: Sie schließt die „Selbstversicherung" (die sich noch unter die Definition von Wagner bringen läßt) aus, betont, d a ß ' d e r Geldbedarf „nicht die allein entscheidende Zweckbestimmung" und der „Ausgleich in Geld nicht begriffsnotwendig" (Sachleistungen!) ist, und weist schließlich d a r a u f h i n , daß die Gefahrenfolgen „nicht immer nachteiliger A r t " (Erlebensfall in der Lebensversicherung!) sein müssen und überhaupt nicht wirksam zu werden brauchen. Gerade die letzte Feststellung ist von besonderer Bedeutung, denn sie entkräftet den häufigen Einwand der „Zwecklosigkeit" der Versicherung für den Fall, daß das Versicherungsereignis nicht eintritt. Überblickt man die lange Reihe der vom Spiel des Zufalls bis zur

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ethisch begründeten Gemeinschaft vordringenden Begriffserläuterungen der Versicherung, so bietet sie eine eindeutige Bestätigung der grundsätzlichen Erkenntnis des Soziologen Max Weber: „Man hat eben methodisch sehr oft nur die Wahl zwischen unklaren oder klaren, aber dann irrealen und 'idealtypischen' Termini. In diesem Fall aber sind die letzteren wissenschaftlich vorzuziehen." Man kann nun gewiß die Auffassung vertreten, daß es der Wirtschaftspraxis weniger auf eine eindeutige terminologische Festlegung des Versicherungsbegriffs ankommt, als in erster Linie auf ein einwandfreies Funktionieren der Versicherungseinrichtungen. Diese Ansicht soll auf ihre Stichhaltigkeit hier nicht näher untersucht werden; mancherlei ließe sich gegen sie geltend machen. Praktische Bedeutung gewinnt aber fraglos die s y s t e m a t i s c h e A b g r e n z u n g der e i n z e l n e n V e r s i c h e r u n g s z w e i g e , - a r t e n und - f o r m e n , da sich hieraus nicht unerhebliche verwaltungsmäßige und rechtspolitische Folgerungen ergeben. Es sei aus diesem Anlaß nur an den jahrzehntelangen Streit über die Aufsichtspflichtigkeit der Kraftfahrzeugversicherung erinnert, der erst durch die Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz von 1931 beendet worden ist. Desgleichen wird einer klaren Unterscheidung zwischen Individual- und Sozialversicherung und innerhalb der erstgenannten zwischen „privater" und „öffentlich-rechtlicher" Versicherung weit über das Interesse wissenschaftlicher Terminologie hinaus erhöhte Beachtung zu schenken sein. Es ist das bleibende Verdienst des verstorbenen Vorsitzenden des Deutschen Vereins für Versicherungs-Wissenschaft, Prof. Dr. Hanns Dorn, in einer umfassenden Untersuchung die Ansätze aufgezeigt zu haben, die für eine systematische Gliederung des gesamten Stoffgebietes der Versicherung vorhanden sind. Dabei mußte er zunächst als störend für eine logische Einteilung feststellen, „daß die geschichtlich gewordene, heute sprachgebräuchliche Einteilung der Versicherung nach Versicherungszweigen nicht nach einem konsequent beibehaltenen Einteilungsgrunde durchgeführt ist" und „viele von den heute im Schrifttum der Versicherungswissenschaft vertretenen Einteilungen grobe Verstöße gegen solche elementaren Grundsätze wissenschaftlicher Einteilung" bedeuten. So bezeichnet es Dorn mit Recht als „logisch unannehmbar", daß bei der Unterscheidung zwischen Schadenversicherung und Personenversicherung das eine Mal von den Leistungen des Versicherers, das andere Mal vom versicherten Gegenstand ausgegangen wird, und er folgert daraus, daß man eigentlich immer „von der Versicherung gegen die Gefahr einer Sache" sprechen müßte. Auch Fromm wendet sich dagegen, daß teils auf das „Ereignis", also auf die Gefahr (Feuer-, Einbruch-, Diebstahlversicherung), teils auf Vorgänge (Transport-

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Versicherung) oder Personen (Kinderversicherung) abgestellt wird, und empfiehlt die Trennung in Sach- und Personenversicherung, die auch seiner Begriffsbestimmung entspricht, „wonach die Gefahren nachteilige (Schadenversicherung) oder vereinbarte (Summenversicherung) Folgen haben" können. Dieser dem Versicherungsvertragsgesetz entlehnten Einteilung in Schaden- und Summenversicherung, der Moldenhauer eine „mehr juristische als eine wirtschaftliche Bedeutung" beimißt, geht Woerner „mit erfrischender Deutlichkeit zu Leibe" (Dorn), u m selbst eine Viergliederung vorzunehmen, und zwar in Sach-, Forderungs-, Vermögens- und Personenversicherung, also nach der Art des Versicherungsobjekts. Von den mannigfachen Einteilungsversuchen ist endlich das vom Versicherungsinteresse, „dem Zentralbegriff der Schadenversicherung", ausgehende „künstliche" System von Prof. Dr. Kisch hervorzuheben, das, „weil eben rein deduktiv gewonnen, den entscheidenden Vorzug" hat, daß es „seinen Sinn behält, auch wenn über J a h r und Tag noch hundert neue Versicherungszweige erfunden werden" (Dorn). Kisch läßt sich von dem Grundsatz leiten, daß jede Schadenversicherung „Vermögensversicherung im engeren Sinne" ist, und gelangt so zu der folgenden Dreiteilung: Versicherung gegenwärtig vorhandener Vermögenswerte („Aktiva"), Versicherung künftig zu erwartender Vermögenswerte („Gewinn", „Nutzen") und Versicherung künftig notwendiger Aufwendungen („Passiva"). Gegenüber diesen selbständigen Systemen offenbart das geltende Recht, soweit es" sich auf die Versicherung erstreckt, „daß der Gesetzgeber bei Abfassung dieser Bestimmungen von keiner klaren Vorstellung über Wesen und Einteilung der Versicherung ausgegangen ist". Als Beweis für diese seine Kritik hat Dorn eine Anzahl unklarer und widersprechender Begriffsverwendungen in der Verfassung, der Reichsversicherungsordnung, dem BGB. und dem Strafgesetzbuch herangezogen. Auch das Versicherungsvertragsgesetz regelt von annähernd hundert Versicherungszweigen und -arten im „besonderen Teil seines zweiten Abschnittes (Titel 2—6) nur fünf große Versicherungszweige" (Hagen), und im Gegensatz zum Versicherungsaufsichtsgesetz findet sich dort bei Behandlung der Personenversicherung die Krankenversicherung nicht aufgeführt. Die Nachteile dieser begrifflichen Unklarheit in den Reichsgesetzen machen sich aber besonders bemerkbar, wenn man versucht, die Sozial- und Individualversicherung untereinander abzugrenzen. Der Abgrenzung steht allerdings eine Reihe von Hemmnissen entgegen, denn die Reichsversicherungsordnung kennt nur den Begriff „Reichsversicherung" und nicht den damit gemeinten der Sozialversicherung; sie erweckt so die irrige Vorstellung, „als ob es

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sich hier nicht nur um eine reichsgesetzlich geregelte, sondern auch um eine vom Reich selbst getragene Versicherung handele" (Dorn). Andererseits vermißt man in der gesamten Gesetzgebung die Bezeichnung „Individualversicherung". Der Geltungsbereich des Versicherungsaufsichtsgesetzes deckt sich zwar „ziemlich genau" (Dorn) mit dem der Privatversicherung, aber schon das Versicherungsvertragsgesetz umfaßt einerseits nicht das ganze Gebiet der Privatversicherung — Ausschaltung der See- und Rückversicherung (§ 186) —, erstreckt sich andererseits aber auch auf die bei öffentlichen Anstalten genommenen freiwilligen Versicherungen (§ 192). Hierzu wird bei Erörterung der einzelnen Unternehmungsformen noch Stellung zu nehmen sein. Doch muß schon an dieser Stelle einer früher vielfach vertretenen Auffassung widersprochen werden, als würde die Individualversicherung im Gegensatz zur Sozialversicherung ausschließlich von individualistischen Gesichtspunkten beherrscht. Mit Recht lehnt Wirth auch die Ansicht ab, wonach die Individualversicherung nur der Einzelwirtschaft des Versicherten zu dienen habe, und stellt demgegenüber fest: „ J e d e Versicherung fördert mit der Einzelwirtschaft zugleich die gesamte Volkswirtschaft; jede Versicherung ist, so verstanden, sozial." Der Unterschied zwischen diesen beiden großen deutschen Versicherungsgebieten, von denen im folgenden nur die Individualversicherung behandelt wird, liegt denn auch lediglich in der Verschiedenartigkeit der Rechtsgrundlagen und in der abweichenden Gestaltung von Anspruch und Leistung. Daß sich dabei die Grenzen verschieben können und „Zwischenstufen" möglich sind, ist zuzugeben. Gleichwohl wird man unter Beachtung der gemachten grundsätzlichen Einschränkung in dieser Hinsicht sagen können, daß weder die Einführung eines Zwanges einen Zweig der Individualversicherung zu einem sozialen macht, noch die Freiwilligkeit einen Zweig der Sozialversicherung ohne weiteres zur Individualversicherung verwandeln kann. Damit ist der bei aller „Wesensverwandtschaft" (Wirth) bestehende Unterschied zwischen Sozial- und Individualversicherung, wenn auch unter Verzicht auf eine eindeutige begriffliche Fassung, hinreichend klargestellt. Ist der Begriff der Versicherung im Schrifttum somit ausgiebig, obwohl nicht restlos befriedigend, zur Darstellung gebracht worden und die Abgrenzung ihrer einzelnen Erscheinungsformen mehr oder minder geglückt, so bleibt noch die Bestimmung ihres S t a n d o r t e s i n n e r h a l b d e r G e s a m t w i r t s c h a f t vorzunehmen. Auch hierüber gehen die Meinungen weit auseinander. Man findet das Versicherungswesen — oft in ebenso geistreich begründeter wie praktisch unzulänglicher

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Weise — sowohl der Produktion als auch der Konsumtion und der Verteilung zugeordnet. „Einzelne Schriftsteller erkennen ihm eine so selbständige Bedeutung zu, daß sie es mit keinem anderen Gliede der Volkswirtschaft und keiner anderen Funktion der Wirtschaft einem gemeinsamen Oberbegriff unterordnen mögen" (v. Waldheim). Schmoller spricht mit Bezug auf die Versicherung von einer „sozialen Einrichtung", v. Boenigk von „latenter Produktion", Schäffle von einer „Kulturveranstaltung". Jessen erblickt in der Versicherung eine „Erscheinung des Tauschverkehrs", zugleich aber auch eine „Einrichtung sui generis", und Wirth gleichzeitig eine „Maßnahme zur Bekämpfung zerstörender Unfälle" wie ein „Mittel zur Sicherstellung einer wirtschaftlichen Betriebsführung". Für Rohrbeck ist die Versicherung „weder Produktion, noch Fabrikation, sondern Verteilung", wobei er ausdrücklich auf die grundlegende Unterscheidung vom Warengeschäft hinweist. Philippovich ordnet die Versicherung in dem Abschnitt über „Güterverbrauch und Versicherung" unter die „Schutzorganisationen für wirtschaftliche Verluste" ein und bezeichnet als ihren Zweck „eine Sicherung von Vermögenswerten". In besonders gelungener Weise äußert sich aber hierzu Kisch: „Wohl spricht man vielfach von ihr als einem bloßen Austausch wirtschaftlicher Güter, einerseits Risikoübernahme, andererseits Prämie, und wohl definiert man die letztere als den Preis für die Ware Versicherungsschutz. Bei rein ökonomischer Betrachtungsweise mag dies hingehen, wenn es auch vielleicht — selbst unter dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt — zutreffender wäre, nicht so sehr von einem Austausch zu sprechen, der allzu stark an Interessengegensätze mahnt, als vielmehr von einer Verbindung wirtschaftlicher Leistungen zwecks Erfüllung bestimmter Gemeinschaftszwecke." Und er kommt zu dem Ergebnis, „ d a ß die Versicherung mehr ist als Handel, daß sie vielmehr im eigentlichen Sinne Dienst an der Gemeinschaft ist". Mit dieser Erkenntnis ist bereits auf den sozial-ethischen Inhalt der Versicherung verwiesen. Im Gegensatz zu der Klarstellung der drei Bestandteile wissenschaftlicher Erfassung der Versicherung — der theoretischen Begriffsbestimmung, der systematischen Einteilung und der volkswirtschaftlichen Gebietsabgrenzung — stößt die Aufzeigung ihrer s i t t l i c h e n W e s e n s m e r k m a l e auf keine Hemmnisse. Denn sowohl die geistigen als auch die materiellen Grundlagen, auf denen das Versicherungswesen beruht, liegen klar vor Augen. Von seinem Ursprung auf dem genossenschaftlichen Grundsatz „Alle für einen, einer für alle" aufgebaut, hat der in der Versicherung verwirklichte Gedanke der Gefahrengemeinschaft im nationalsozialistischen Deutsch-

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land seine Wiedererweckung erfahren. Es war unstreitig ein Fehler vergangener Wirtschaftssysteme, über diese ethischen Grundgesetze wirtschaftlichen Handelns achtlos hinwegzusehen. „Versicherung selbst ist kein Geschäft, sondern systematisch betriebene, gruppenmäßig aufgebaute Gemeinschaftshilfe für alle die Fälle, wo Selbsthilfe versagt oder nicht ausreicht." Dr. Rohrbeck, von dem diese Kennzeichnung stammt, zieht aus ihr die richtige Folgerung, wenn er weiter ausführt: „Versicherung ist heutzutage nicht mehr Privatsache, sondern Ausdruck des Pflichtbewußtseins und der Verantwortung innerhalb der Gesamtheit und für die Gesamtheit." Eine meisterhafte Schilderung dieser Vorherrschaft des Sittlichen hat schließlich Prof. Dr. Kisch in seiner Schrift „Die Ethik im Versicherungswesen" geboten, auf die hier nur verwiesen werden kann; in ihr sind die drei tragenden Pfeiler der Versicherung herausgestellt: Opfer, Treue und Gemeinschaft. II. V E R S I C H E R U N G U N D S T A A T Die Erkenntnis von der wachsenden Bedeutung der Versicherung für das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben eines Volkes rechtfertigt die Einflußnahme des Staates auf sie, wenn auch nicht zugegeben werden kann, daß eine Staatsaufsicht, wie es Philippovich annimmt, „durch die Natur der Versicherung notwendig ist". Ein solches Zugeständnis würde der Erklärung eines Mißtrauensvotums gegenüber dem Versicherungsbetrieb schlechthin gleichkommen, wie es im Mittelalter noch gerechtfertigt gewesen sein mag. So findet sich denn auch z. B. in holländischen Assekuranzordonnanzen der Jahre 1598, 1604 und 1635 ein ausdrückliches Verbot für den Abschluß von Lebensversicherungen, desgleichen in der Versicherungsordonnanz von Middelborg (1600) und in der französischen Marineordonnanz von 1684. Etwas entgegenkommender lauten schon die Bestimmungen des preußischen Seegesetzes (Königsberger Ordonnanz) von 1730. „Alle Versicherungen auf menschliche Leben sind im allgemeinen verboten und für ungültig erklärt, nur insofern sind sie erlaubt, als die Leute, welche eine gefährliche Reise unternehmen, eine gewisse Geldsumme als ihre Ranzion versichern können." Mit der fortschreitenden Entwicklung des Versicherungswesens zu einer unentbehrlichen Stütze der gesamten Wirtschaft hat sich die ablehnende Einstellung des Staates grundsätzlich gewandelt, und in der Gegenwart erfährt der Versicherungsgedanke in den meisten Ländern der Welt eine tatkräftige behördliche Förderung. Daß dabei die Handhabung der allerdings verhältnismäßig spät eingeführten Reglementierung des Versicherungsgewerbes in den ein23

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zelnen Staaten und hinsichtlich der verschiedenen Versicherungszweige keine einheitliche ist, kann als ein weiterer Beweis für die Unhaltbarkeit der Behauptung einer „Naturnotwendigkeit" der staatlichen Kontrolle über das Versicherungswesen angesehen werden. In der Praxis unterscheidet man gemeinhin d r e i S y s t e m e der S t a a t s a u f s i c h t : das Publizitätssystem, die gesetzlichen Normativbestimmungen und die materielle Staatsaufsicht, wobei den beiden letztgenannten das Konzessionsprinzip, wenn auch in abgestufter Anwendungsform, eigen ist. Das Publizitätssystem, wie es z. B. noch in Großbritannien vornehmlich für die Lebensversicherung in Geltung ist, beschränkt die Tätigkeit des Staates im wesentlichen darauf, daß er den Unternehmungen auferlegt, ihre Geschäftsergebnisse in bestimmten Zeiträumen zu veröffentlichen und den Interessenten zugänglich zu machen. Es ist einleuchtend, daß der Erfolg dieses Systems, in dem gewissermaßen als Kontrollinstanz die Versicherten selbst eingesetzt werden, entscheidend von deren Sachkunde abhängig ist. „Daß die Publizität... in der Tat ein wichtiger Faktor ist, um das Versicherungswesen auf gesunden Bahnen zu erhalten, und daß sie . . . in hohem Grade segensreich wirken kann", hat auch der deutsche Gesetzgeber anerkannt, jedoch dieser Feststellung den Nachsatz hinzugefügt, „daß sie für sich allein zur Sicherung jenes Zweckes ausreicht, muß füglich bezweifelt werden". Aus ähnlichen Erwägungen ist aber auch in Deutschland und in der überwiegenden Mehrzahl aller anderen Staaten von der Anwendung des Normativsystems, das lediglich die Zulassung zum Versicherungsbetrieb an gewisse Voraussetzungen knüpft, nach Erfüllung dieser Erfordernisse durch die Unternehmungen diesen aber freie Hand läßt, abgesehen worden. Das R e i c h s g e s e t z ü b e r die p r i v a t e n V e r s i c h e r u n g s u n t e r n e h m u n g e n vom 12. Mai 1901, heute in der Fassung des Gesetzes über die privaten Versicherungsunternehmungen und Bausparkassen vom 6. Juni 1931 in Geltung, ist demgegenüber „auf dem Prinzip der Staatsaufsicht über die Versicherungsunternehmungen und in Konsequenz hiervon auf dem Prinzip des Konzessionssystems aufgebaut". Ihm liegt, wie es in den umfangreichen Gesetzesmotiven heißt, die Auffassung zugrunde, „daß das öffentliche Interesse an einer gedeihlichen und soliden Entwicklung des Versicherungswesens in besonders hohem Maße beteiligt ist und dem Staate die Pflicht besonderer Fürsorge auf diesem Gebiete auferlegt. Maßgebend hierfür ist insbesondere einerseits die Rücksicht auf die große volkswirtschaftliche, soziale und ethische Bedeutung des Versicherungswesens, andererseits auf die Gefahr schwerster Schädigung des Volkswohls, die von einem Mißbrauch

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des Versicherungswesens droht und umso näher liegt, als auf diesem Gebiete des Wirtschafts- und Verkehrslebens selbst der sorgsame und verständige Bürger ohne Hilfe von anderer Seite zu eigener zuverlässiger Beurteilung der Anstalten, denen er sich anvertrauen muß, regelmäßig nicht imstande ist." Mit der entgegengesetzten Begründung ist aber, wie hier eingeschaltet sei, die Transportversicherung grundsätzlich aus der Aufsicht herausgelassen worden, da in diesem Versicherungszweige in der Regel geschäftskundige Personen dem Versicherer gegenüberständen, die ihre Interessen selbst wahrnehmen könnten. O b diese Unterstellung heute noch zutreffend ist, und ob tatsächlich die Geschäftserfahrung des Kaufmanns an sich ausreicht, um ihn vor Versicherungsverlusten zu bewahren, wird vielfach bezweifelt. Die umstrittene Frage der Zweckmäßigkeit einer generellen Unterstellung der Transportversicherung unter die Aufsicht wird deshalb auch gegenwärtig von der Akademie für Deutsches Recht geprüft. Maßgebend f ü r den ursprünglichen Entschluß mag aber auch die Erwägung gewesen sein, die junge Aufsichtsbehörde nicht mit Aufgaben zu belasten, denen sie nicht gewachsen sein würde. Denn schon beim Erlaß des VAG. war man sich, wie ebenfalls aus den Gesetzesmotiven hervorgeht, ganz allgemein darüber klar, „daß damit der Staatsaufsicht ungemein schwierige und verantwortungsvolle Aufgaben gestellt sind, und daß deren Erfüllung nicht in allen Fällen mit unbedingter Sicherheit erwartet werden darf. Daraus indessen, daß man sich zuweilen vielleicht mit nur annähernden Erfolgen wird begnügen müssen, ist nicht der Schluß gerechtfertigt, daß hier die öffentlichen Gewalten überhaupt zur Untätigkeit verurteilt und staatliche Behörden nicht imstande seien, ohne Benachteiligung des Vertrauens in die staatlichen Einrichtungen überhaupt die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmungen zu führen. Staatsbehörden werden jedenfalls, darüber kann ein Zweifel nicht bestehen, weit besser imstande sein, Übelstände aufzudecken und abzuwehren als die auf die Selbsthilfe angewiesenen Versicherungsbedürftigen und die auf sich allein gestellte private Kritik. Letztere wird erst dann recht fruchtbar werden können, wenn sie neben der Staatsaufsicht und mit dieser in gegenseitiger Unterstützung der Aufgabe waltet, das Versicherungswesen auf vertrauenswürdiger Bahn zu erhalten." Diese Darlegungen offenbaren die Stärke und Schwäche des Aufsichtssystems zugleich und lassen es erklärlich erscheinen, daß auf die Mithilfe der öffentlichen Kritik schlechterdings nicht verzichtet werden kann. „Denn die Versicherung wird hochwertiger und kann sich ständig neu verjüngen, wo Kritik und Mitarbeit der Versicherungsnehmer zur Veredelung 23»

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der Gefahrengemeinschaft sich ihr bieten" (Rohrbeck). Die Aufsichtspraxis hat sich deshalb auch weitgehend zusätzlich auf das Publizitätssystem eingestellt und durch den Erlaß eingehender, freilich in der gültigen Form teilweise nicht mehr zeitgemäßer Rechnungslegungsvorschriften der Öffentlichkeit, vor allem der sachkundigen Presse, die Möglichkeiten zur Kontrolle eröffnet und sich ihre wertvolle Mitarbeit gesichert. Das Vertrauen der Bevölkerung, auf das der Versicherungsbetrieb mehr als irgendein anderer Wirtschaftszweig angewiesen ist, kann aber, worauf Reichswirtschaftsminister a. D. Dr. Kurt Schmitt bereits 1929 hingewiesen hat, „nicht durch ein noch so ausgeklügeltes Kontrollsystem geschaffen werden; es muß sich gründen auf einem moralisch und technisch hochstehenden und von starkem Pflichtgefühl durchdrungenen Direktions- und Beamtenkörper". Diese berechtigte Forderung nach Festigung des persönlichen Verantwortungsgefühls, wie sie gleichermaßen für das Gewerbe und die Aufsichtsbehörde gilt, läßt aber einen weiteren, in der Gesetzesbegründung zwar nicht enthaltenen, aber nationalsozialistischem Gedankengut entsprechenden Grund für die Beaufsichtigung des Versicherungswesens hervortreten. Die Wirtschaft wurde nämlich durch den Nationalsozialismus „aus dem Zustande privatrechtlicher Interessenbetätigung herausgehoben und stärkerem staatlichen Einfluß in Form der Aufsicht dort unterstellt, wo eine staatliche Notwendigkeit vorliegt" (G. E. Fromm). Der Erlaß des Reichsgesetzes über das Kreditwesen hat gezeigt, daß dieser Grundsatz nicht nur oder gar ausschließlich auf die Versicherung Anwendung zu finden hat. Träger der behördlichen Kontrolle des deutschen privaten Versicherungsgewerbes ist das R e i c h s a u f s i c h t s a m t f ü r P r i v a t v e r s i c h e r u n g , eine mittelbare Reichsbehörde, die zum Reichswirtschaftsministerium ressortiert, in ihrer Verwaltungsgerichtsbarkeit aber unabhängig ist, und deren Geschäftsordnung durch die auf Grund von §100 V A G . erlassene Verordnung des Reichspräsidenten über das Reichsaufsichtsamt für Privatversicherung vom 27. September 1931 geregelt ist. Demgegenüber unterliegen die öffentlich-rechtlichen Anstalten der landesgesetzlichen Aufsicht, die ein erschreckendes Bild der Zersplitterung bietet. Im Gegensatz zu der Versicherungsaufsichtsgesetzgebung ist das Versicherungsvertragsrecht in Deutschland überwiegend reichgesetzlich geregelt. Für dieses ist das erst sieben Jahre nach Einführung der Reichsaufsicht erlassene R e i c h s g e s e t z ü b e r den V e r s i c h e r u n g s v e r t r a g vom 30. Mai 1908 nebst dem dazu gehörenden Einführungsgesetz von grundlegender Bedeutung. Seine Vorschriften haben durch

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die ständige Rechtsprechung des V I I . Senats des Reichsgerichts, dem mit alleiniger Ausnahme der die Wassertransportversicherung betreffenden alle Rechtsstreitigkeiten über Versicherungsverhältnisse zugewiesen sind, eine Auslegung erfahren, die als „einheitlich und folgerichtig" angesprochen werden kann und somit „ein abgeschlossenes Ganzes" (Warneyer) darstellt. Die Vorzüge dieses Gesetzgebungswerkes sind denn auch international anerkannt worden. Es sind aber nicht nur diese beiden Spezialgesetze, durch die das Versicherungswesen in Deutschland an staatliche Normen gebunden ist. Auch das B G B . und das H G B . enthalten Vorschriften, die für den Versicherungsbetrieb von maßgebender Bedeutung sind. Hier sei nur an die Ausnahmestellung erinnert, die dem Kapital der in der Aktienform betriebenen Versicherungsunternehmungen durch § 278 H G B . eingeräumt ist, wonach eine Neuausgabe von Aktien auch „vor der vollen Einzahlung des bisherigen Kapitals erfolgen" kann. Dieses Reservat der teilgezahlten Aktien wird der wesentlich anderen Zweckbestimmung des Kapitals in der Versicherung als in der übrigen Erwerbswirtschaft durchaus gerecht, denn „es dient nicht zu Betriebszwecken, sondern zur Sicherung der übernommenen Verpflichtungen" (Lengyel), erfüllt also lediglich Garantiefunktionen. Gleichwohl hat das P r o b l e m d e r t e i l g e z a h l t e n A k t i e n mit Bezug auf die Beitreibbarkeit der Nachzahlungsforderungen durch die Gesellschaften mehrfach das Reichsaufsichtsamt und dessen Beirat beschäftigt, wobei nach dem Jahresbericht des Reichsaufsichtsamts die „überwiegende" Meinung dahin lautet, „daß es nicht angehe, bei bestehenden Gesellschaften die Volleinzahlung allgemein zu fordern". Die meisten Versicherungsunternehmungen haben indessen selbst aus ihren Erträgnissen eine Auffüllung der Kapitalien in Angriff genommen, und dieser Vorgang ist mittelbar durch das sog. Anleihestockgesetz von 1934 gefördert worden, können doch die Versicherungsaktiengesellschaften den über 6 % bzw. 8 % hinausgehenden Dividendenbetrag, statt ihn an die Deutsche Golddiskontbank abzuführen, zur Herabminderung der Nachzahlungsverpflichtungen benutzen. Eine Grenze findet dieser Vollzahlungsprozeß naturgemäß an der Ertragskraft der Unternehmungen, weshalb auch der von wissenschaftlicher Seite vorgetragenen Auffassung beizupflichten ist, „daß die Aufgabe des nicht voll eingezahlten Aktienkapitals für die Versicherungsgesellschaften eine ungewöhnliche Beschränkung ihres Aktienkapitals bedeutet, die schon von dem Gesichtspunkte des internationalen Wettbewerbs der Versicherungsgesellschaften aus betrachtet untragbar" (Lengyel) wäre. Im Sinne dieser Abhandlung bleibt festzustellen, daß der Staat somit

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auch die Finanzpolitik der Versicherungsunternehmungen nachhaltig beeinflußt. In weit erheblicherem Maße geschieht dies allerdings durch die S t e u e r g e s e t z g e b u n g , wobei zu unterscheiden ist zwischen allgemeinen Steuern, zu denen sämtliche Erwerbsgesellschaften herangezogen werden, und speziellen Abgaben, denen nur die Versicherungsunternehmungen unterworfen sind. Die gesamte deutsche Versicherung unterliegt einer besonderen Steuerart, der V e r s i c h e r u n g s s t e u e r , die als eine Unterart der Vermögensverkehrssteuer anzusprechen ist. Grundlage für die Steuerbemessung ist in der Hauslebens- und Hagelversicherung die Versicherungssumme, wobei der Steuersatz 20 Pf. für je 1000 R M . oder bei kürzerer als einjähriger Dauer für jeden Monat ein Zehntel des Jahressatzes beträgt. In den übrigen Versicherungszweigen ist die Steuer nach Prozentsätzen der Entgelte (Prämien, Vor- und Nachschüsse, Umlagen usw.) gestaffelt. Hiernach stellen sich die Steuersätze auf 10% in der Einbruch/Diebstahl- und Glasversicherung, 5 % in der Unfall- und Haftpflichtversicherung, 4 % in der Feuerversicherung, 3 % in der Transport- und Baurisikenversicherung und 2 % in der Lebens-, Vieh-, Schiffskasko-, Schiffsbaurisikenund Luftfahrzeugversicherung. Bei allen anderen als den genannten Versicherungszweigen bemißt sich die Steuer auf 5 %, und bei einheitlicher Versicherung beweglicher Sachen gegen eine Vielheit von Gefahren erhöht sich der Satz auf 10% des Versicherungsentgelts. Steuerschuldnerist der Versicherungsnehmer, zu dessen Lasten der Versicherer die Steuer abzuführen hat, wobei die Steuerschuld mit der Entrichtung des Versicherungsentgelts entsteht. In den letzten sechs Haushaltsjahren betrug das Aufkommen aus dieser Spezialsteuer (in Mill. RM.): 1930/31 64,9

1931/32 62,7

1932/33 57>6

1933/34 53>5

1934/35 6 5>!

1935/36 60,2

Von der Entrichtung der Versicherungssteuer sind u. a. befreit Lebensversicherungen über geringfügige Summen (bis 5000 RM. Kapital oder 60 R M . Rente), Rückversicherungen, Versicherungen auf Grund öffentlich-rechtlicher Verpflichtungen oder eines Arbeitsvertrages. Auch das Einkommensteuergesetz (§ 10, Abs. 1, Nr. 4) stellt gewisse Beiträge, insbesondere zu Witwen- und Waisenversicherungen sowie Sterbekassen frei. Gleichwohl vermögen diese bescheidenen Ausnahmen nicht die grundsätzlichen Bedenken gegen die Besteuerung der Versicherung „als einer Maßnahme der wirtschaftlichen Vorsorge" völlig zu zerstreuen. Es ist deshalb als ein Verdienst anzusehen, wenn G. E. Fromm für eine größere staatliche Förderung des Versicherungsgedankens eintritt und namentlich, soweit die Versicherung dem Schutze

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der Familie dient, die völlige Steuerbefreiung als eine „dankenswerte Aufgabe des Dritten Reichs" bezeichnet. Durch die Bestimmungen der Devisengesetzgebung ist der Neuabschluß von Fremdwährungsversicherungen in Deutschland grundsätzlich unterbunden worden, während die bestehenden Valutapolicen, soweit sie nicht auf Reichsmark umgestellt wurden, in sog. Devisen,,kern"-Versicherungen umgewandelt worden sind. Wegen Einzelheiten der im Rahmen des Neuen Plans notwendig gewordenen Maßnahmen muß auf die einschlägigen Erlasse und das zu ihnen erschienene Schrifttum, namentlich das Werk von Lippert-Rentrop-Gambke, verwiesen werden. Nur kann in Übereinstimmung mit den Ausführungen im Jahresbericht 1933/34 des Reichsverbandes der Privatversicherung festgestellt werden, daß die Wünsche der Versicherung bei den amtlichen Stellen die Berücksichtigung gefunden haben, „die der Eigenart des Versicherungsgewerbes, seinem internationalen Charakter sowie den versicherungsrechtlichen Vorschriften und den versicherungstechnischen Notwendigkeiten" entspricht. Das gilt vornehmlich auch für die Rückversicherung, deren Bewegungsfreiheit, wie es in ähnlicher Weise im Geschäftsbericht der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft für 1934/35 dargelegt wird, hierdurch nicht berührt wurde, „nachdem die Reichsregierung die Versicherung mit Rücksicht auf ihren internationalen Charakter in der Verfügung über ihre Devisenbestände für Zwecke der Erfüllung ihrer Verpflichtungen von Anfang an von allen Beschränkungen befreit und auch späterhin ausdrücklich erklärt hat, daß eine Änderung dieser grundsätzlichen Stellungnahme nicht beabsichtigt sei". Diese Auffassung ist auch verbindlich durch eine amtliche Verlautbarung vom 16. Februar 1935 bestätigt worden, wonach „die deutschen Versicherungsgesellschaften auf Grund der ihnen eigens zu diesem Zwecke freigegebenen Devisenwerte berechtigt und in der Lage sind, ihre Fremdwährungsverpflichtungen aus Versicherungsverträgen mit ausländischen Versicherungsnehmern jederzeit zu erfüllen. In gleicher Weise können sie ihren Verpflichtungen in Reichsmark gegenüber Ausländern jederzeit nachkommen." Für die heutige volkswirtschaftliche Stellung des deutschen Versicherungswesens ist aber von gleich grundsätzlicher wie praktischer Bedeutung die vom nationalsozialistischen Staat veranlaßte W i r t s c h a f t s o r g a n i s a t i o n . Durch das Gesetz zur Vorbereitung des organischen Aufbaues der deutschen Wirtschaft vom 27. Februar 1934 und die zu ihm ergangene Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes vom 27. November 1934 sind sämtliche Versicherungsunternehmungen zu einer Reichsgruppe Versicherungen zusammengefaßt

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worden. Damit hat das Versicherungswesen seine autoritäre Anerkennung als „selbständiger Wirtschaftszweig" gefunden, wie die von mir vorgenommene und durch Erlaß des Reichs- und Preußischen Wirtschaftsministers vom 27. November 1934 bestätigte Unterteilung in zwei Wirtschaftsgruppen „Privatversicherung" und „Öffentlich-rechtliche Versicherung" dem Gesichtspunkt Rechnung trägt, daß die historische Entwicklung keiner der beiden Gruppen Anspruch verleiht, den Vorrang vor der anderen zu fordern. Im einzelnen stellt sich die organisatorische Gliederung, die durch die Bildung von Fachgruppen, Fachuntergruppen und Arbeitsgemeinschaften zwischen ihnen gekennzeichnet ist, wie folgt dar: Wirtschaftsgruppe Privatversicherung Fachgruppe 1: Feuer-, Einbruch/Diebstahl-, Wasser-, Sturm-, Aufruhr-, Regen- und Glasversicherung. Fachuntergruppe 1: Feuer-, Einbruch/Diebstahl-, Wasser-, Sturm-, Aufruhr- und Regenversicherung. Fachuntergruppe 2: Glasversicherung unter Einschluß der diesen Zweig betreibenden öffentlich-rechtlichen Anstalten. Fachgruppe 2: Transport-, Luftfahrt-, Maschinen- und Einheitsversicherung. Fachgruppe 3: Unfall-, Haftpflicht- und Kraftfahrzeugversicherung. Fachuntergruppe 1: Kraftfahrzeugversicherung. Fachgruppe 4: Hagel- und Vieh Versicherung. Fachgruppe 5: Lebensversicherung, Sterbekassen. Fachgruppe 6: Krankenversicherung. Fachgruppe 7: Rückversicherung, Garantie- und Kreditversicherung. Fachgruppe 8: Versicherungs-Generalagenten. Wirtschaftsgruppe öffentlich-rechtliche Versicherung Fachgruppe 1 : Feuerversicherung einschl. Einbruch/Diebstahl-, Wasser-, Sturm-, Aufruhr- und Regenversicherung. Fachgruppe 2: Unfall- und Haftpflicht- und Kraftfahrzeugversicherung. Fachgruppe 3: Hagel- und Viehversicherung. Fachgruppe 4: Lebensversicherung und Sterbekassen. Fachgruppe 5: Krankenversicherung. Fachgruppe 6: Rückversicherung.

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Durch Anordnung des Reichswirtschaftsministers vom 14. Mai 1936 sind die Fachgruppen 4 der Wirtschaftsgruppe Privatversicherung und 3 der Wirtschaftsgruppe öffentlich-rechtliche Versicherung jeweils in Fachuntergruppen 4 a bzw. 3 a Hagelversicherung und 4 b bzw. 3 b Tier- und Schlachttierversicherung aufgeteilt worden, die gemeinsam die „Arbeitsgemeinschaft der landwirtschaftlichen Versicherungszweige" bilden. Wird man als Sinn und Zweck dieser organisatorischen Maßnahmen die bewußte Lenkung der wirtschaftlichen Initiative auf das Gemeinwohl zu erblicken haben, so kommt doch zugleich darin deutlich zum Ausdruck, daß die Reichsregierung auch hier dem Grundsatz gefolgt ist, nicht selbst Wirtschaft zu treiben, sofern man nicht bei den öffentlich-rechtlichen Betrieben eine mittelbare Anteilnahme des Staates unterstellen will. Alle die angeführten staatlichen Eingriffe auf rechtlichem und steuerlichem, devisenpolitischem und organisatorischem Gebiet sind ausschließlich als Ausfluß von Hoheitsrechten, freilich mit dem Anspruch auf uneingeschränkte Führung, vorgenommen worden unter grundsätzlicher Ablehnung aller in Vergangenheit und Gegenwart mit den verschiedensten Begründungen vorgebrachten Anregungen für eine V e r s t a a t l i c h u n g des Versicherungswesens, die angesichts seiner eingangs betonten ethischen Zielsetzung „nichts Durchschlagendes mehr für sich anzuführen vermag" (Bäsch). Dieser geltenden Staatsauffassung widerspricht es aber keineswegs, vielmehr steht es mit ihr in voller Übereinstimmung, wenn sich das Reich dort einschaltet, wo das Versicherungsgewerbe nicht ohne weiteres allein in der Lage ist, Aufgaben zu lösen, die zudem abseits seines eigenen natürlichen Wirkungskreises liegen. So findet sich an einer Stelle des weiten Tätigkeitsbereiches der Versicherung auch eine engere kaufmännische Zusammenarbeit zwischen ihr und dem Staat — in der Kreditversicherung. Indessen, auch hier bleibt der Einfluß des Staates auf die Rolle des Rückversicherers beschränkt, und dazu erstreckt er sich fast ausschließlich auf die Versicherung solcher Ausfuhrgeschäfte, „die voraussichtlich ohne die Versicherung der deutschen Volkswirtschaft verloren gehen würden". Hier handelt es sich also, wie das auch von der Hermes Kreditversicherungsbank A.-G., dem alleinigen Versicherer dieser Geschäfte, stets klar zum Ausdruck gebracht worden ist, um ein „wirksames Mittel der Ausfuhrförderung", also um ein Instrument der H a n d e l s p o l i t i k , von dem im Interesse des heimischen Arbeitsmarktes und zur Überwindung der aus eigener Kapitalarmut und sonstigen Hemmnissen erwachsenden Exportschwierigkeiten Gebrauch gemacht wird. An der grundsätzlichen versicherungswirtschaftlichen Zurück-

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haltung des Staates vermag jedoch dieser Ausnahmezustand ebenso wenig zu ändern, wie die am Beginn des Weltkrieges 1914 aus nationalpolitischen Gründen in der Form eines gemeinwirtschaftlichen Unternehmens erfolgte Errichtung der Deutschen Seeversicherungs-A.-G., deren Aktienmehrheit das Reich übernahm, nicht den Auftakt zu einer Verstaatlichung oder auch nur eines Transportversicherungsmonopols gebildet hat. III. DIE DEUTSCHE

VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT 1924—1934

Über die Tatsache der hohen Bedeutung der Versicherung für Privat-, Volks- und Weltwirtschaft, worauf im nächsten Abschnitt noch näher eingegangen werden soll, herrscht nach dem bisher Gesagten keinerlei Streit, so sehr auch die Meinungen darüber auseinandergehen, ob diese oder jene Betriebsform nützlicher, diese oder jene Versicherungsgestaltung im Einzelfall geeigneter ist. Eine einheitliche Stellungnahme zur Zweckmäßigkeit der verschiedenen Betriebsformen ist schlechterdings unmöglich. Es genügt deshalb, grundsätzlich festzustellen, daß „das Merkmal der Gefahrengemeinschaft. . . unabhängig davon" ist, „in welcher Rechtsform die Versicherten zusammengeschlossen sind" (G. E. Fromm), und daß „nicht die äußere Rechtsform der Versicherungseinrichtung für die Tragung der Gefahr entscheidend ist" (Rohrbeck). Das gilt sowohl mit Bezug auf die A k t i e n g e s e l l s c h a f t e n u n d G e g e n s e i t i g k e i t s v e r e i n e , die beiden Hauptbetriebsformen innerhalb der Privatversicherung, als auch hinsichtlich der öffentlich-rechtlichen Anstalten. Was zunächst die privaten Versicherungsunternehmungen anlangt, so ist darauf hinzuweisen, daß die Unterschiede zwischen den beiden genannten Betriebsarten nicht mehr so scharf wie früher hervortreten, daß vielmehr „bei großen Vereinen die Versicherten dem Vereinsleben heute ebenso fern stehen wie die Versicherten einer Aktiengesellschaft dem Leben dieser" (G. E. Fromm). Deshalb wird man auch der Auffassung, dem Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit fehle gegenüber der Versicherungsaktiengesellschaft „jeder kaufmännische Einschlag" (Rohrbeck), nicht ohne weiteres beipflichten können. Denn auf beide trifft die richtige Erkenntnis von Kisch zu, wenn er es als Aufgabe einer jeden Versicherungsunternehmung bezeichnet: „Sie soll nicht sein und sie ist auch nicht der kapitalistische Wirtschaftsträger, der durch möglichst vorteilhaften Güteraustausch Gewinn aus jedem Einzelgeschäft zu ziehen trachtet. Sie ist es natürlich nicht bei der Unternehmungsform des

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Gegenseitigkeitsvereins. Sie ist es aber auch nicht bei der Aktiengesellschaft. Denn auch diese verwirklicht letztlich nur den Gegenseitigkeitsgedanken. Hier wie dort ist die Versicherungsunternehmung nichts anderes als der Repräsentant der Versicherungsgemeinschaft." Im übrigen besteht um so weniger Anlaß, die in der Verschiedenheit der Betriebsform liegenden Gegensätze zu vertiefen, als die Versicherungsdichte, d. h. die Verbreitung des Versicherungsgedankens, den zu fördern sämtliche Arten von Versicherungsbetrieben berufen sind, in Deutschland noch erheblich hinter derjenigen anderer Länder zurücksteht. Hier eröffnen sich große und dankbare Aufgaben für die gesamten Versicherungsunternehmungen, deren Lösung unter Betonung des Gemeinsamen volkswirtschaftlich weit wichtiger ist als die Unterstreichung des Trennenden. Zumal im nationalsozialistischen Staat ist kein R a u m für innere Zwistigkeiten, und alle Gegensätze haben zu verstummen vor dem höheren Ziel, daß jeder Wirtschaftszweig und jede Organisationsform sich dem Gesamtwohl unterzuordnen haben, dem allein zu dienen sie verpflichtet sind. Diese Forderung hat naturgemäß nichts mit einer den Fortschritt hemmenden Unterbindung jeglichen Wettbewerbs zu tun. „Ohne ehrlichen Konkurrenzkampf geht es nicht", erklärte Reichswirtschaftsminister Dr. Schmitt anläßlich der Bekanntgabe des Gesetzes über den organischen A u f b a u der Wirtschaft, aber er fügte auch hinzu, daß im Sinne des nationalsozialistischen Leistungsprinzips „dieses freie Spiel der Kräfte ein gesundes und geordnetes sein muß". Hierfür zu sorgen ist in erster Linie Aufgabe der Leiter der Wirtschaftsgruppen und ihrer Untergliederungen, deren gesetzliche Pflicht es ist, die Angelegenheiten des ihnen unterstellten Wirtschaftszweiges „unter Rücksichtnahme auf die Gesamtinteressen der gewerblichen Wirtschaft und unter Wahrung des Staatsinteresses zu fördern", und die deshalb aufmerksam darüber zu wachen haben, daß bestehende Auswüchse baldmöglichst verschwinden und das Aufkommen neuer verhindert wird. Daß im übrigen die scharfe Luft des Wettbewerbs dem deutschen Versicherungswesen, von gewissen ungesunden Erscheinungen abgesehen, in seiner Gesamtheit nicht geschadet hat, das zeigt der Geschäftsanstieg, den es namentlich seit der nationalsozialistischen Machtergreifung aufzuweisen hat. Diese G e s c h ä f t s e n t w i c k l u n g in den zehn J a h r e n seit der Währungsstabilisierung soll nunmehr für beide Gruppen der Individualversicherung kurz dargestellt werden. (Die inzwischen für 1935 veröffentlichten amtlichen Zahlen bestätigen, daß sich der Anstieg bis in das laufende J a h r hinein unvermindert fortgesetzt hat.) Dabei muß zunächst einschränkend festgestellt werden, daß das statistische Mate-

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rial über das Versicherungswesen nach wissenschaftlichem Urteil einstweilen noch vielfach sehr lückenhaft und ungleichmäßig ist, so daß auch hier den beiden Wirtschaftsgruppen im Zusammenwirken mit dem Statistischen Reichsamt ein weites Feld der Betätigung noch offen steht. Ein zahlenmäßiger Überblick über das letzte Dezennium versicherungswirtschaftlicher Betätigung muß sich deshalb zwangsläufig hinsichtlich der Privatversicherung mit den beschränkten Angaben des Reichsaufsichtsamtes, hinsichtlich der öffentlich-rechtlichen Versicherung mit den verstreuten Angaben in den einzelnen Verbandsberichten begnügen. Die rechtliche Struktur der Privatversicherung, die zunächst behandelt sei, ist gekennzeichnet durch das Überwiegen zweier Rechtsformen, der Aktiengesellschaften und Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, wobei die Zahl der letzteren mehr als zehnmal so groß ist wie die der Aktienbetriebe. Das Übergewicht dieser beiden Gesellschaftsformen, hinter die alle sonstigen (Einzelunternehmer, G. m. b.H. usw.) völlig zurücktreten, hat seinen erklärlichen Grund. Denn das V A G . (§7 Abs. 2) schreibt für die wichtigsten Versicherungszweige, die Lebens-, Unfall-, Haftpflicht-, Feuer- und Hagelversicherung, zwingend vor, daß ihr Betrieb nur Unternehmungen, die eine dieser Rechtsformen besitzen, erlaubt werden darf. Der Sinn dieser Bestimmung ist einleuchtend, wollte der Gesetzgeber doch den Betrieb dieser Versicherungszweige, denen erhebliche Versicherungssummen zugrunde liegen, und deren Vertragsdauer sich meist auf Jahre hinaus erstreckt, nur Versicherungsträgern anvertrauen, deren Bestand und deren Leistungsfähigkeit dauernd gewährleistet sind. Für die wirtschaftlich nicht minder bedeutsame Transportversicherung besteht angesichts ihrer Aufsichtsfreiheit eine solche Vorschrift allerdings nicht, ebensowenig für die nur teilweise aufsichtspflichtige Rückversicherung. Die Gesamtzahl der privaten Versicherungsunternehmungen hat, wie die Zahlentafel 1 erkennen läßt, gegenüber dem letzten Vorkriegsjahr zugenommen, wenn auch in sehr bescheidenem Umfang. Gleichwohl ist von der Akademie für Deutsches Recht die Verhängung einer dreijährigen G r ü n d u n g s s p e r r e angeregt worden. Der Bestand an Aktiengesellschaften ist hingegen seit 1924 im Gegensatz zu den Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit auf annähernd die Hälfte zurückgegangen. Hier handelt es sich offensichtlich um Nachwirkungen der Inflationszeit, indem unzureichend fundierte Unternehmungen nach Einführung der Reichsmark zum Ausscheiden aus der Wirtschaft genötigt waren. Das Reichsaufsichtsamt hat denn auch seither, um künftig der Errichtung solcher kapitalschwacher Gesellschaften vorzubeugen, bestimmte geldliche Anforderungen an die Versicherungs-

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beziehungen" vermieden werden, um nicht eine einwandfreie Beurteilung der Verhältnisse zu verhindern, wie das in der Vergangenheit leider vielfach der Fall war und stellenweise noch heute anzutreffen ist. Die Beweggründe, die auch im deutschen Versicherungsgewerbe zur Bildung von Gruppen geführt haben, sind teils örtlicher, teils finanzieller Natur, um die Schlagkraft der einzelnen Unternehmen nicht zuletzt im Auslandsgeschäft zu stärken. Hinzu treten aber speziell versicherungswirtschaftliche und -technische Motive, die vornehmlich für die engere Gestaltung der Beziehungen zwischen Erst- oder Direktversicherern und Rückversicherern maßgebend sind. Das Interesse der Rückversicherer an der Konzernschaffung besteht darin, sich einen festen und zuverlässigen Abnehmerkreis zu bilden und eine Risikenauswahl treffen zu können, wohingegen die Erstversicherer daran interessiert sind, von der Sorge der Unterbringung ihrer Wagnisrückdeckung befreit zu werden und auch den Preis für die Rückversicherung zu beeinflussen. Dazu kommt ferner der Umstand, daß das Reichsaufsichtsamt aus berechtigten grundsätzlichen Erwägungen heraus eine getrennte Betriebsführung der Lebens- von der Sachversicherung verlangt. Für den Versicherer ist es nun aber nicht unerheblich, seinem Kunden beide Arten von Versicherungsschutz gleichzeitig zu bieten, wozu er aber nur in der Lage ist, wenn zwei rechtlich getrennte Unternehmungen eine wirtschaftliche Verbindung eingehen. Eine solche „Verschwisterung" ist denn auch in der deutschen Versicherungswirtschaft häufig anzutreffen, so z. B. bei den Iduna-Germania-Gesellschaften, der Nord-Deutschen Gruppe, dem Mannheimer und dem Deutschen Versicherungskonzern; hinzu tritt vielfach ein Rückversicherungsunternehmen, wie das bei der Nordstern- und der Gladbacher Gruppe der Fall ist. Daneben finden sich aber Konzerne, die ihren Interessenkreis bedeutend weiter gezogen und ihren Einfluß auf eine stattliche Reihe von Unternehmen erstreckt haben, die teils zum Betrieb von Spezialbranchen, teils zur Förderung des Auslandsgeschäfts bestimmt sind. Hier sind u. a. nach den Angaben von Neumanns J a h r buch zu erwähnen der Gerling-Konzern mit 30 Tochterbetrieben, der 9 Gesellschaften umfassende Allianz-Konzern, die Agrippina-Gruppe mit 7 Unternehmungen, die 5 Victoria-Gesellschaften sowie die j e 4 Gesellschaften vereinigenden Gruppen National, Deutscher Ring und Leipziger Arbeitsgemeinschaft. Die Aachener und Münchener Gruppe mit 13 Konzerngliedern steht zugleich in Interessengemeinschaft mit der Colonia Kölnische Feuer- und Kölnische Unfall-VersicherungsA.-G. und unterhält eine Arbeitsgemeinschaft mit der Norddeutschen Hagelversicherungs-Gesellschaft a. G. 24

Probleme des Deutsehen Wirtschaftslebens

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Neben den privaten Versicherungsunternehmungen sind in Deutschland etwa 60 ö f f e n t l i c h - r e c h t l i c h e A n s t a l t e n tätig. Die A b grenzung dieser beiden Gruppen von Versicherern untereinander wird man aber zweckmäßigerweise nicht auf die Rechtsform abstellen, da hierbei einmal die Gefahr einer nicht genügenden Trennung des öffentlich-rechtlichen Versicherungssektors von der Sozialversicherung besteht, zum anderen aber z. B. die Rückversicherung der öffentlichrechtlichen Anstalten von einem Aktienunternehmen, dem Deutschen Gemeinnützigen Rückversicherungs-Verband A.-G., betrieben wird. Als Kriterium wird man somit die Rechtspersönlichkeit zu wählen haben. Entscheidend ist demnach, ob der Versicherungsträger sein Geschäft kraft privaten oder öffentlichen Rechtes ausübt, d. h. „ o b öffentliche oder private Elemente überwiegen" (G. E . Fromm). Diese Unterscheidung nimmt auch Philippovich vor, indem er, „jenachdem die Versicherung ihre Entstehung privater Initiative verdankt oder von öffentlichen Körperschaften irgendwelcher Art organisiert ist", von Privatversicherung oder öffentlich-rechtlicher Versicherung spricht; er betont aber zugleich mit Recht, daß sich dieser Unterschied nicht vollkommen mit den trennenden Begriffen Versicherungsfreiheit und Versicherungszwang deckt. Prof. Dr. Riebesell, der Leiter der Wirtschaftsgruppe öffentlich-rechtliche Versicherung, hat gelegentlich die Organisationsform der von ihm geleiteten Anstalten wie folgt umrissen: „ D i e öffentlichen Versicherungsanstalten sind öffentlich-rechtliche Körperschaften, die ihre Entstehung einem Landesgesetz oder einer Verordnung der obersten Landesbehörde verdanken. Alle öffentlichen Versicherungsanstalten betreiben satzungsgemäß die Versicherung nur im Interesse des gemeinen Nutzens und nicht zu Erwerbszwecken. Sie dürfen nicht als finanzpolitische Einnahmequelle für den Staat dienen, sie beschränken aber ihre Fürsorge — so namentlich die Feuerversicherungsanstalten hinsichtlich ihrer vorbeugenden Tätigkeit — nicht auf den Kreis ihrer Versicherungsnehmer, sondern sie verwenden ihre Überschüsse im Interesse der Gesamtbevölkerung. Sie-sind reine Gegenseitigkeitsanstalten. Die Anstalten unterstehen der unmittelbaren Landesaufsicht. Die Verwaltung erfolgt j e nach der Natur der betreffenden Anstalt durch Staats-, Provinzial-, ständische, landschaftliche, städtische oder eigene Beamte." Wenn im Sinne dieser Ausführungen immer wieder Bestrebungen hervortreten, den Begriff der Gemeinnützigkeit zum Wesensmerkmal der öffentlichen Versicherung im Gegensatz zur Privatversicherung zu stempeln, so muß erneut darauf hingewiesen werden, was ich bereits an anderer Stelle deutlich ausgesprochen habe: „ D i e Versicherung dient auf allen Gebieten dem

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allgemeinen Nutzen; jede Versicherung ist damit gemeinnützig, in welcher Rechtsform sie auch betrieben werden möge." Dem U n t e r s c h i e d d e r R e c h t s g r u n d l a g e n der privaten und öffentlichen Versicherung hat aber auch der Gesetzgeber Rechnung getragen, sowohl im V A G . als auch im V V G . Der § 151 des V A G . schreibt ausdrücklich vor, „öffentliche Versicherungsanstalten, die auf Grund landesgesetzlicher Vorschriften errichtet sind, unterliegen . . . nicht diesem Gesetze". In ähnlicherWeise ist im § 192 V V G . die Ausnahmestellung der öffentlichen Versicherung wie folgt präzisiert: „Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über Versicherungsverhältnisse, die bei einer nach Landesrecht errichteten Anstalt unmittelbar kraft Gesetzes entstehen, sowie über Versicherungen, die bei einer solchen Anstalt infolge eines gesetzlichen Zwanges genommen werden. Auf sonstige Versicherungen, die bei einer nach Landesrecht errichteten öffentlichen Anstalt vorgenommen werden, finden die in diesem Gesetz vorgesehenen Beschränkungen der Vertragsfreiheit sowie die Vorschriften über die Versicherungsagenten keine Anwendung. Wird eine Versicherungsunternehmung von dem Aufsichtsamt für Privatversicherung oder von der . . . zuständigen Landesbehörde als öffentliche Anstalt im Sinne des § 1 1 9 (jetzt § 1 5 1 ) des genannten Gesetzes anerkannt, so gilt sie auch im Sinne dieses Gesetzes als öffentliche Anstalt." Dazu tritt ferner § 193 V V G . , der besagt, daß die landesgesetzlichen Vorschriften unberührt bleiben, „nach welchen der Versicherer verpflichtet ist, die Entschädigungssumme nur zur Wiederherstellung des versicherten Gegenstandes zu zahlen". Auf die weittragenden rechtlichen Folgerungen hieraus kann hier nicht näher eingegangen werden. Indessen verdient aus der Begründung hervorgehoben zu werden, daß vermöge des Vorbehaltes in dem letztgenannten Paragraphen des V V G . die Landesgesetzgebung bestimmen kann, daß bei der Gebäudeversicherung die Zahlung nur erfolgen darf, wenn das zerstörte Gebäude in derselben Art und an derselben Stelle wiederhergestellt wird. Eine Zahlung zu anderen Zwecken kann, falls es aus baupolizeilichen Rücksichten oder im Interesse der Erhaltung betriebsfähiger Wirtschaften angezeigt erscheint, durch Landesgesetz selbst dann für unzulässig erklärt werden, wenn der Versicherungsnehmer und die „Realberechtigten" zustimmen. Selbstverständlich bleibt aber der Landesgesetzgebung auch eine Regelung unbenommen, wonach der Anspruch gegen den Versicherer nicht von der Verwendung des Geldes zum Wiederaufbau abhängig gemacht wird. Im Rahmen dieser Rechtsstellung sind die B e t r i e b s f o r m e n der öffentlich-rechtlichen Versicherung aber keineswegs gleichartig. In der 24«

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Feuerversicherung, dem ältesten Versicherungszweig, der auch heute noch der Lebensversicherung im öffentlich-rechtlichen Bereich weit überlegen ist, lassen sich vier Gruppen von Anstalten unterscheiden. A n erster Stelle sind hier die Zwangsanstalten zu nennen, bei denen das Versicherungsverhältnis entweder unmittelbar kraft Gesetzes entsteht oder durch gesetzlichen Zwang angeordnet ist; doch kann dieser Zwangsbeitritt örtlich begrenzt oder auf bestimmte Versicherungsobjekte beschränkt werden. Das gilt z. B. hinsichtlich der Städtischen Feuersozietät Berlin, wo sich der Versicherungszwang nur auf AltBerlin, nicht aber auch auf das heutige Groß-Berlin erstreckt. Die zweite Gruppe der öffentlichen Versicherungsbetriebe bilden die sog. Monopolanstalten, bei denen die Versicherungsnahme zwar freigestellt ist; erfolgt sie jedoch, so darf sie nur bei der zuständigen Anstalt vorgenommen werden. Hierzu rechnet vor allem die Bayerische GebäudeBrandversicherungsanstalt. Z u r dritten Kategorie zählen die Wettbewerbsanstalten, also Unternehmungen, die mit den privaten Gesellschaften in freiem Wettbewerb stehen, was übrigens f ü r den größten Teil der bestehenden Anstalten zutrifft, wobei nicht ausgeschlossen ist, daß sie gleichzeitig und daneben für bestimmte Zweige oder einzelne Objekte oder örtliche Gebiete auch noch Monopolrechte besitzen. Endlich wären noch die gemischt-wirtschaftlichen oder halbstaatlichen Betriebe zu nennen, bei denen der Staat Hauptaktionär ist, wie das f ü r die bereits erwähnte Deutsche Seekriegsversicherung zutraf. Hier handelt es sich jedoch nicht mehr um öffentlich-rechtliche Anstalten im engeren Sinne der eingangs gegebenen Begriffsbestimmung. Nach einer offiziösen Statistik des Reichsverbandes der öffentlich-rechtlichen Versicherung entfallen von den dort aufgeführten 41 Feuerversicherungsanstalten 30 auf Wettbewerbsunternehmungen, von denen 1 1 gleichzeitig Zwangscharakter besitzen. V o n insgesamt 21 Zwangsgesellschaften stehen 1 1 zugleich in freiem Wettbewerb. Als Monopolgesellschaft wird lediglich die Bayerische Gebäude-Brandversicherungsanstalt bezeichnet. Sämtliche Anstalten betrieben das Feuergeschäft; rund die Hälfte (20) nur dieses, während bei den anderen auch noch sonstige Zweige wie Einbruch/Diebstahl-, Glas-, Wasserleitungs-, H a gel-, Sturm-, Haftpflicht-, Autokasko-, Aufruhr-, Unfall-, Miet- und Betriebsverlustversicherung u. a. m. betrieben werden. Hinsichtlich der Verwaltung dieser Anstalten ist hervorzuheben, daß es sich um 14 selbständige Körperschaften handelt, während 12 Anstalten von einem Land, 10 von einem Provinzialverband und 5 von einer Gemeinde verwaltet werden. U m f a n g und Bedeutung der öffentlichen Anstalten in der Feuerversicherung lassen die folgenden Zahlen erkennen:

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Zu jeder Wohnung gehören außerdem das erforderliche Nebengelaß, Stallungen für Kleinviehhaltung, Gärten usw. Die Mieten reichen nicht zur Verzinsung und Tilgung des Anlagekapitals für die Wohnungen aus. Infolge der verhältnismäßig günstigen Mietssätze sind die Arbeiter, die in Privatwohnungen untergebracht sind, dauernd bemüht, eine Werkswohnung zu erhalten. Sämtliche Werks- und Siedlungswohnungen sind mit Gartenland ausgestattet. Die Gesamtgröße des zu den Arbeiterwohnungen gehörenden Gartenlandes beträgt etwa 25 ha, so daß auf eine Arbeiterwohnung eine Gartenfläche von durchschnittlich 230 qm entfällt. Darüber hinaus wurden zu ganz billigen Sätzen oder kostenlos 90 ha Land an die Belegschaften verpachtet. Dies entspricht durchschnittlich je Arbeiterfamilie einer Fläche von 800 qm. Der Gedanke, für Arbeiter planmäßig E i g e n h e i m e zu schaffen, hatte in den Jahren von der Gründerzeit bis zur nationalsozialistischen Revolution die Industrie nur in verhältnismäßig kleinem Umfange erfaßt. Alfred K r u p p widmete dem Gedanken des Arbeitereigenheims frühzeitig seine Aufmerksamkeit. Er schrieb schon im J a h r e 1872: „ D i e Fabrik wird vor und nach eine Menge von Wohnungen mit Gärten in dem Maße der Nachfrage errichten, daß jedermann, der seine Lebenskraft in Treue der Fabrik widmet, während seiner Arbeitskraft sich einen solchen Besitz durch Abtragung erwerben und seine Pension nachher in Frieden dort verzehren kann". Zu einer Auswirkung dieser Gedanken ist es jedoch nicht gekommen. Dagegen wurde von der Gesamtindustrie in allen deutschen Landesteilen frühzeitig die Streusiedlung einzelner Belegschaftsmitglieder gefördert. Arbeiter und Angestellte, die sich um die Werke verdient gemacht hatten und die für die Werke wertvoll waren, erhielten Darlehen oder Beihilfen von den Werken, mit denen es ihnen möglich war, sich ein Eigenheim nach eigenen Wünschen zu errichten. Bereits um 1850 gab der Hörder Verein Baudarlehen von 300 Talern. Wieviel solcher Streusiedlungsstellen von der Industrie im Laufe der Entwicklung gefördert worden sind, läßt sich nicht feststellen. Man kann aber wohl annehmen, daß ihre Zahl weit in die Hunderttausende geht. Wie stark die Darlehnshingabe gewesen ist, zeigen u. a. die Zahlen der preußischen Bergbauverwaltung im Saargebiet. Vom J a h r e 1842 an hat sie das später nach den Vorschlägen des Geheimen Bergrat S e r l o aufgebaute sog. Prämienverfahren in den Mittelpunkt ihrer gesamten Wohnungsfürsorge gestellt. Bis zum J a h r e 1918 sind auf diesem Wege rund 8000 Bergmannshäuser erbaut worden. Die höchsten Sätze für das Darlehen betrugen 2100 R M . , zu denen noch 900 R M . Prämie hinzukommen konnten.

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Weitere 600 Eigenheime wurden auf Grund der Kleinwohnungsgesetze bis zum Jahre 1910 finanziert. Die Darlehen betrugen in der Spitze 6000 R M . An Werkswohnungen verfügen die staatlichen Gruben nur über rund 3000, von denen aber über 2000 von der französischen Bergverwaltung während der Besetzungszeit errichtet wurden. Wie vorstehend dargestellt, ist die Beteiligung der Industrie am Wohnstättenbau in erster Linie aus den Bedürfnissen der Betriebe entstanden, in der Nähe der Werke einen Stamm von Werksangehörigen anzusetzen, der für Zwecke des Betriebes jederzeit vorbehaltlos zur Verfügung stand. Darüber hinaus ist erkenntlich, daß im großen Umfange auch soziale und karitative Beweggründe bei der Errichtung von Wohnbauten ursächlich beteiligt waren. Daß auch nationalpolitische Erwägungen durchaus bei den Vorhaben mitbestimmend waren, zeigen die klaren Ausführungen Alfred Krupps. D a s S i e d l u n g s w e r k d e r I n d u s t r i e , das n a c h d e r n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n R e v o l u t i o n einsetzte, unterscheidet sich von den früheren Siedlungsbestrebungen grundsätzlich. Das Siedlungswerk ist eine Gemeinschaftsaufgabe der ganzen Industrie geworden, die planmäßig von der Reichsgruppe Industrie gefördert wird. Es ist hineingestellt in das Siedlungsprogramm des ganzen deutschen Volkes, das der Führer und Reichskanzler in seinem Erlaß vom 29. März 1934 angekündigt und dem er so oft beredten Ausdruck verliehen hat. Entsprechend dieser Zielsetzung tritt die Mitwirkung an der Überwindung der herrschenden Wohnungsnot und das Bestreben, Arbeitskräfte an bestimmten Stellen zusammenzuziehen, weit zurück hinter dem Zweck, dem Arbeiter und Angestellten ein Heim zu schaffen, das seinen Wohnbedaif voll befriedigt, das ihm gestattet, wieder eine größere Familie in gesunden Verhältnissen aufwachsen zu lassen, und das ein Heimatgefühl entstehen läßt, das der Mietskasernenbau der Großstädte nicht erzielen konnte und nie erzielen wird. Dieses Ziel der Heimatverbundenheit kann nur erreicht werden, wenn die Wohnung mit einem Stück deutschen Bodens verbunden wird, das die Kraft der Heimat in sich trägt, das der Erwerber für die Gemeinschaft pflegen muß und das ihm in allen Notzeiten eine Zuflucht und eine Unterstützung in der NahrungsbeschafFung gewährt. Mittel zu diesem Ziel ist in erster Linie eine Erstellung von Wohnstätten, die in das Eigentum der Bewerber übergehen und mit denen ein kleineres oder größeres Stück Land verbunden ist. In den Bezirken, in denen die Wohnungsnot sich in besonders starkem Maße geltend macht, insbesondere in den Gegenden, in denen neue Betriebe in kurzer Zeit in großen Ausmaßen entstanden sind, kommt daneben eine Unter-

Das Siedlungswerk der deutschen Industrie

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Stützung der Industrie für Stockwerksmietbauten in aufgelockerter Bauweise in Frage, um überhaupt erst einmal für einen Teil der neuen Belegschaften Unterkunftsmöglichkeiten bieten zu können. Die Schaffung der neuen Wohnbauten unterscheidet sich grundsätzlich von dem Werkswohnungsbau der früheren Zeit dadurch, daß die enge Verbindung zwischen Arbeitsvertrag und Mietsvertrag fortgefallen ist. In solchen Siedlungen, die an ganz bestimmte Zwecke gebunden sind, wird sich eine gewisse Einflußnahme des Werkes nicht vermeiden lassen. In der Regel soll jedoch dieser Einfluß auf das geringstmögliche Maß eingeschränkt werden. Der Erwerber des Grundstücks muß das Gefühl des Bodeneigentümers haben, daß er Herr auf eigener Scholle ist, soweit dies mit den Belangen des gesamten Volkes nur irgendwie vereinbart werden kann. Die Aufgabe der Industrie kann es nie sein, dem Gesamtwohnungsbau die Richtlinie zu geben. Das ist eine Aufgabe, die außerhalb des Kreises ihrer Tätigkeit liegt. Sie kann nur eine Hilfe in dem Rahmen leisten, der ihr durch ihre Aufgabe in der Volkswirtschaft vorgeschrieben wird. Diese Aufgaben will und muß sie aber erfüllen. Wie sehr die Industrie sich ihrer Aufgabe bewußt ist, geht schon daraus hervor, daß namhafte Werke sich in den Zeiten der Kurzarbeit sofort bereiterklärten, Kurzarbeitersiedlungen durchzuführen. Die Siedlungen sollten den Zweck haben, die durch die Beschäftigungslage erhöhte Freizeit der Gefolgschaftsmitglieder auszunutzen und ihnen eine zusätzliche Einnahme zu dem gekürzten Lohn aus der Bewirtschaftung des Gartenlandes zu geben. Die Werke waren sich von vornherein darüber im Klaren, daß die Ansicdlung von Kurzarbeitern kein Ideal bedeutete und daß sie nur einen Übergang zur Stammarbeitersiedlung der im Betriebe Vollbeschäftigten bilden konnte. Sie mußten die Form der Kurzarbeitersiedlung zunächst übernehmen, da nur sie nach den reichsrechtlichen Vorschriften durch Reichsdarlehen und andeie Erleichterungen gefördert wurde. So entstanden in den Jahren 1932 bis 1934, um nur einige Beispiele herauszugreifen, in Beilin die Kuizarbeitersiedlungen der Elektro-Firmen Siemens und A E G mit etwa 800 Stellen für Kurzarbeiter und in Nürnberg die Siemenssiedlung mit 100 Wohnstätten. Im westdeutschen Gebiet gehörten Krupps Essener Kurzaibeitersiedlungen, denen sich solche im Krupp-Grusonwerk in Magdeburg anschlössen, zu den ersten Versuchen mit dieser neuen Form des Siedlungswerkes. In Süddeutschland schaffte die I. G. Farbenindustrie seit dem Frühjahr 1933 für ihre kurzarbeitenden Stammarbeiter Siedlungen, deren Zahl bis zum Herbst 1936 auf über 1000 gestiegen ist. Zu einer Gemeinschaftsaufgabe wurde die Eigentumssiedlung jedoch 28

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erst mit der Sitzung der Reichsgruppe Industrie am 13. März 1935 in Essen, die nachstehende Entschließung faßte: „ D i e an der heutigen Sitzung beteiligten Industriekreise sind bereit, die Bestrebungen der Reichsregierung auf Förderung des Arbeiterwohnungsbaues nach Möglichkeit zu unterstützen. Sie erklären sich daher bereit, an der Aufbringung der nach den bisherigen Erfahrungen meist fehlenden Mittel für die Spitzenfinanzierung im R a h m e n ihrer Leistungsfähigkeit mitzuwirken. Zur Verwirklichung des erstrebten Zieles bittet die Industrie die Reichsregierung, dafür Sorge zu tragen, daß ausreichende Mittel für die Gewährung der ersten und zweiten Hypothek auf d e m K a p i t a l m a r k t zur V e r f ü g u n g gestellt werden. Es muß ferner sichergestellt werden, daß der i m Besitz der öffentlichen Körperschaften, insbesondere der Gemeindeverwaltungen, befindliche G r u n d und Boden zu angemessenen Preisen bereitgestellt wird. Es ist d a r a n gedacht, daß alle an der Seßhaftmachung der Gefolgschaftsmitglieder interessierten Kreise und öffentlichen Stellen sich zur gemeinsamen Unterstützung des Kleinwohnungsbaues bei einer der bereits bestehenden Stellen des Bezirks zusammenfinden."

Ebenfalls im Frühjahr 1935 wurde die „ A r b e i t s g e m e i n s c h a f t z u r F ö r d e r u n g des A r b e i t e r w o h n s t ä t t e n b a u s " gegründet, die alle am Arbeiterwohnstättenbau beteiligten Ämter, Gruppen und Verbände zusammenfaßt. Ihr gehören u. a. die Reichsgruppe Industrie, die Reichsgruppe Handwerk, das Reichsheimstättenamt der NSDAP, und der DAF., der Deutsche Gemeindetag, die gemeinnützigen Heimstätten und Wohnungsunternehmen und die Reichskammer der bildenden Künste, Fachgruppe Architekten, an. Hierdurch ist die Gewähr geboten, daß sich die praktische Arbeit nach einheitlichen Gesichtspunkten und in enger Zusammenarbeit aller beteiligten Stellen vollzieht. Zugleich ist durch eine ständige enge Fühlungnahme mit dem Reichsarbeitsministerium als der für das Wohnungs- und Siedlungswesen in Deutschland verantwortlichen Reichsbehörde gewährleistet, daß die Wünsche und Richtlinien der amtlichen Stellen beachtet werden. Die Reichsarbeitsgemeinschaft ist eine lose Zusammenfassung aller beteiligten Stellen ohne einen besonderen Apparat. Das gleiche gilt für die in den einzelnen Wirtschaftsbezirken gebildeten Bezirksarbeitsgemeinschaften, bei denen die praktische Förderung des Arbeiterwohnstättenbaues im einzelnen liegt. Im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft hat die Reichsgruppe Industrie insbesondere die Werbung unter den Industriefirmen übernommen. Sie hat die Notwendigkeit der Beteiligung der Industriewerke bis in die entferntest gelegenen Gegenden Deutschlands getragen und die Bereitwilligkeit auch bei den Werken hervorgerufen, bei denen bisher ein besonderes Bedürfnis für die Errichtung von Wohnstätten für Gefolgschaftsmitglieder nicht bestanden hatte. Die Arbeit im einzelnen liegt bei den Bezirksgruppen der Reichsgruppe Industrie, den jetzigen Industrieabteilungen der

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Bezirkswirtschaftskammern. Die Aufgabe der Industrieabteilungen besteht außer in der allgemeinen Werbung in erster Linie darin, die Firmen zu veranlassen, im Rahmen des ihnen wirtschaftlich Möglichen die Spitzenfinanzierung der Bauvorhaben zu erleichtern, d. h. die Finanzierung desjenigen Teils der Bau- und Bodenkosten, der nicht in Form von erster und zweiter Hypothek aufzubringen ist. Den Zielen der Reichsgruppe Industrie und der Arbeitsgemeinschaft entsprechend, wurde der Hauptwert darauf gelegt, Kleinsiedlungen zu schaffen, d. h. Wohnstätten, die mit einer Gartenfläche von etwa iooo qm verbunden sind und für die vom Reich Reichsdarlehen gewährt werden. In Gegenden, in denen Landknappheit herrscht oder in denen die Art der Beschäftigung die Bewirtschaftung einer größeren Landfläche nicht zuläßt, sollten daneben Eigenheime in Frage kommen, d. h. Wohnstätten mit einer Landzulage von etwa 500 qm. Daneben mußte aber auch für den Stockwerksmietwohnungsbau dort eingetreten werden, wo eine plötzliche Zusammendrängung von Menschen besonders schnelle Unterbringung der Belegschaften verlangte oder wo aus anderen Gründen eine ganz besonders starke Wohnungsnot bestand. Für alle drei Wohnstättenarten wurde die Übernahme der Reichsbürgschaften für die zweiten Hypotheken von besonderer Bedeutung. Eine besondere Aufgabe der Werbung lag darin, die Zusagen der kleineren und mittleren Industriewerke zu Gemeinschaftssiedlungen zusammenzufassen. Um einen Überblick zu gewinnen, in welchem Umfange tatsächlich die Industrie diesem Ruf ihrer Organisation nachgekommen ist, hat die Reichsgruppe Industrie eine U m f r a g e ü b e r die F ö r d e r u n g des A r b e i t e r w o h n s t ä t t e n b a u s im J a h r e 1935 durch ihre Bezirksgruppen veranstaltet. Diese Umfrage umfaßte nicht nur die kapitalsmäßigen Leistungen und den Umfang der geschaffenen Wohnstätten, sondern darüber hinaus auch die Art der Finanzierung, die Belastungshöhe, die Träger der Bauvorhaben und die allgemeinen Erfahrungen, die im Wohnstättenbau des Jahres 1935 gemacht worden sind. Das Gesamtergebnis der Umfrage ist in den wichtigsten Punkten nachstehend zusammengefaßt. Das tatsächliche Bauergebnis wird nicht unerheblich höher sein. Einmal konnten bei einer ersten Umfrage nicht alle Firmen restlos erfaßt werden, die Bauvorhaben unterstützt oder gefördert haben, zum anderen waren nicht mit einbegriffen die Darlehen, die die Werke einzelnen ihrer Gefolgschaftsmitglieder für Streusiedlungen, d. h. für Errichtung von Wohnstätten auf ihnen bereits gehörenden oder von ihnen gekauften Grundstücken gewährt haben. Tatsächlich dürfte die Zahl der mit Mitteln der Industrie geförderten 28*

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Bauvorhaben um etwa 20 v. H. über dem Ergebnis der Umfrage liegen. Die Meldungen über den Einsatz industrieller Mittel im Interesse der Förderung des Arbeiterwohnstättenbaues bestätigen die in der Öffentlichkeit schon wiederholt mitgeteilten Schätzungen, denen zufolge im Jahre 1935 insgesamt etwa 40 Millionen R M . von der Industrie in Form von Werkdarlehen, verlorenen Zuschüssen, kostenloser Baustoff- und Geländebeschaffung, Beteiligung an gemeinnützigen Wohnungsunternehmen und in anderer Form aufgebracht bzw. fest zugesagt worden sind. Der Bau- und Bodenwert der im Jahre 1935 mit industrieller Hilfe geförderten Arbeiterwohnstätten wird danach auf insgesamt etwa 200 Millionen R M . zu veranschlagen sein, wenn man davon ausgeht, daß die industriellen Mittel durchschnittlich 20 v.H. des Bau- und Bodenwertes der geförderten Einheiten ausmachen. Allein die Leistungen, die in Form von Werkdarlehen und verlorenen Zuschüssen aufgebracht worden sind, belaufen sich bei den von der Erhebung der Reichsgruppe Industrie erfaßten Betrieben aufinsgesamt etwa 30 Millionen R M . Mit rund 5 Millionen R M . können die Leistungen veranschlagt werden, die in Form von Beteiligungen an Wohnungsunternehmen, Übernahme zweiter Hypotheken, Sachleistungen usw. aufgebracht worden sind. Darüber hinaus sind zur Erleichterung der Fremdfinanzierung auch Bürgschaftsverpflichtungen von Seiten der Werke eingegangen worden. Die Leistungen der durch die Umfrage nicht erfaßten Firmen müssen mit mindestens 5 Millionen R M . eingesetzt werden. Mit Hilfe der von den erfaßten Industriefirmen im Jahre 1935 aufgebrachten bzw. fest zugesagten Leistungen sind rund 17250 Arbeiterwohnstätten erstellt oder mit sicherer Aussicht auf Vollendung geplant worden. Unter Berücksichtigung der von der Umfrage nicht erfaßten Wohnungseinheiten kann die Anzahl der von der Industrie insgesamt geförderten Arbeiterwohnstätten für das Jahr 1935 auf rund 20000 geschätzt werden. Das bedeutet, daß bei einem Einsatz von insgesamt etwa 40 Millionen R M . im Durchschnitt 2000 R M . je geförderte Wohnungseinheit aufgewendet worden sind. Dieser verhältnismäßig hohe Durchschnittsbetrag ergibt sich daraus, daß die Mittel und Bauergebnisse, die auf die von der Industrie geförderten aufwendigeren Mietwohnungsbauten für Angestellte entfallen, in den Zahlen mitenthalten sind. Von den ausgewiesenen rund 17250 Arbeiterwohnstätten entfallen 7700 auf Kleinsiedlungen, 2630 auf Eigenheime und 6920 auf Mietwohnungen. Diese Zahlen zeigen, daß die Industrie das Hauptgewicht auf die national- und sozialpolitisch vordringliche Förderung des Heimstättenbaues, insbesondere der Kleinsiedlung gelegt hat.

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Als Träger sind beim industriell geförderten Arbeiterwohnstättenbau überwiegend die bezirklichen Heimstättengesellschaften und die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen eingeschaltet worden, die von den Werken finanziell und rechtlich unabhängig sind. I n den industriell dicht besiedelten Landesteilen, die auf dem Gebiete des Arbeiterwohnstättenbaues bereits über eine altbewährte Tradition verfügen, sind in großem Umfang werksnahe Wohnungsgesellschaften mit Gemeinnützigkeitscharakter und von der Industrie finanzierte Treuhandstellen als Träger aufgetreten. In zahlreichen Fällen haben auch die Werke und namentlich bei kleinen Vorhaben die betreffenden Gefolgschaftsmitglieder selbst die Trägerschaft übernommen. Die Inanspruchnahme von Reichsdarlehen und Reichsbürgschaften bei den von der Industrie geförderten Arbeiterwohnstätten ist wenig einheitlich gewesen. Bei der Kleinsiedlung mußte auf Reichsdarlehen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle verzichtet werden, da die Kostengrenzen unter der Geltung der alten Bestimmungen über die Gewährung von Reichsdarlehen zu eng gezogen waren. Nach dem Inkrafttreten der neuen Bestimmungen über die Förderung der Kleinsiedlung kann jedoch damit gerechnet werden, daß auch in denjenigen Bezirken, in denen die Bau- und Bodenkosten besonders hoch liegen, in Zukunft in größerem Umfange Reichsdarlehen in Anspruch genommen werden. Das Bürgschaftsverfahren hat sich gut eingespielt. Über die Höhe der Zins- und Tilgungszahlungen können einheitliche Feststellungen nicht getroffen werden. Die vereinbarten Zinssätze sind überwiegend als außerordentlich niedrig zu bezeichnen. In vielen Fällen ist auf eine Verzinsung überhaupt verzichtet worden. Bei den Werken herrscht im allgemeinen der Wunsch, eine möglichst schnelle Tilgung der Werkdarlehen sicherzustellen. Die schnelle Tilgung hat den Vorteil einer raschen Entschuldung der Gefolgschaftsmitglieder und einer entsprechend schnellen Entlastung der Werke von dem Risiko, das sie bei der Hingabe von Darlehen an ihre Gefolgschaftsmitglieder eingehen. Sie hat weiterhin den Vorteil, daß die Werke dadurch in die Lage versetzt werden, die Rückflüsse zur Förderung weiterer Bauvoi haben beschleunigt wieder zur Verfügung zu stellen, soweit sie nicht für andere Zwecke des Betriebes dringend benötigt werden. Da die Werkdarlehen, auch wenn sie an rangletztei Stelle dinglich gesichert werden, doch mehr oder weniger immer den Charakter von Personalkrediten haben, ist in zahli eichen Fällen auf die dingliche Sicherung der Werkdarlehen verzichtet worden, wenn eine schnelle Tilgung durch entsprechende Vereinbarungen mit den Gefolgschaftsmitgliedern sichergestellt werden konnte.

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Die Angaben über die laufende monatliche Belastung der Gefolgschaftsmitglieder bei der Kleinsiedlung, bei den Eigenheimen und bei den Mietwohnungen sind ebenfalls sehr unterschiedlich. Da die Leistungen der Industrie naturgemäß in erster Linie der Stammarbeiterschaft zugutegekommen sind, konnte in der Mehrzahl der Fälle eine monatliche Belastung in Kauf genommen werden, die über die in den amtlichen Bestimmungen für die mit Reichsdarlehen unterstützten Kleinsiedlungen vorgesehene Belastungsgrenze hinausgeht. So wurden in vielen Bezirken bei der Eigentumssiedlung Sätze von 35—45 RM, festgestellt. Auf der anderen Seite sind in den Bezirken mit besonders niedrigem Lohnniveau auch Gefolgschaftsmitglieder zur Ansiedlung gekommen, für die eine höhere Belastung als 20—25 R M . monatlich nicht tragbar gewesen wäre. In keinem Falle hat die monatliche Belastung mehr als 2 5 % des Einkommens betragen. Bei der Auswahl der Gefolgschaftsmitglieder wurde neben der allgemeinen Eignung besonderer Wert darauf gelegt, daß echtes Eigenkapital vorhanden war. Soweit das Vorhandensein von echtem Eigenkapital nicht erwartet werden konnte, wurde den Gefolgschaftsmitgliedern nach Möglichkeit Gelegenheit gegeben, ihre Leistungsfähigkeil durch tätige Selbsthilfe bei der Erstellung der Kleinsiedlungen und Eigenheime zu erweisen. Auf die Beibringung von Eigenleistungen wurde im allgemeinen nur verzichtet, wenn es sich um kinderreiche oder unverschuldet in Not geratene Familien handelte, bei denen die Ansammlung von Sparkapital nicht erwartet werden konnte. Die Erfahrungen, die mit den siedlerischen Leistungen der Gefolgschaftsmitglieder gemacht worden sind, können im allgemeinen als durchaus gut bezeichnet werden. Besonders große Erfolge wurden da erzielt, wo es gelang, Kleinsiedlern einen tüchtigen Obmann zur Seite zu stellen. Für die Werkdarlehensverträge wurden vielfach die Musterwerkdarlehensverträge der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des Arbeiterwohnstättenbaues verwendet. Zu diesem Mustervertrage hat die Reichsgruppe Industrie eine ausführliche Erläuterung herausgegeben, die unter dem Titel: „Erläuterungen zu dem Muster von Werkdarlehensverträgen zur Spitzenfinanzierung von Kleinsiedlungsstellen, Eigenheimen und Arbeitermietwohnungen" im Verlag von R. Müller, Eberswalde, erschienen ist. Für den Erwerb von Kleinsiedlungen fanden die amtlichen Träger-Siedlerverträge Anwendung. Für Eigenheime wurden in der Regel die Kaufvertragsmuster des Hauptverbandes deutscher Wohnungsunternehmen zur Grundlage gemacht.

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Über die Größe der geschaffenen Wohnstätten, die Gesamtbau- und Bodenkosten, die Finanzierung und die Belastung der Gefolgschaftsmitglieder geben nachstehende Aufstellungen für zwei Typen von Heimstätten, nämlich für eine Kleinsiedlung im allerbescheidensten Rahmen nach den reichsgesetzlichen Vorschriften und für ein Eigenheim unter großstädtischen Verhältnissen, Aufschluß:

A. S i e d l u n g I. G r u n d s t ü c k und Haus Größe des Grundstücks: iooo qm, Bebaute Fläche: 46 qm, Umbauter Raum: 236,31 cbm, Wohnfläche: Wohnküche 14 qm, Schlafräume 12 und 8 qm, ausbaufähiger Dachgeschoßraum 16,7 qm, Keller: 6 qm, Stall: 7 qm, Straße: Schlackenstraße ohne Bürgersteig, Versorgungsleitungen: Elektrizität, Abort im Stall, Schwengelpumpe am Hause.

II. G e s a m t b a u - und Bodenkosten. Grundstück Gebäude Nebenkosten Einrichtung

500.— R M . 3500.— ,, 500.— „ 250.— „ 4750.— R M .

III. F i n a n z i e r u n g . Gestundeter Bodenkaufpreis I. Hypothek Reichsdarlehen Werksdarlehen Wert der Selbsthilfe Eigenkapital

500.— R M . 2000.— „ 1000.— „ 700.— „ 400.— „ 150.— ,, 4750.— R M .

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IV. B e l a s t u n g Verzinsung und Tilgung des Bodenkaufpreises (4 + 1 % Tilgung etwa 45 Jahre) Verzinsung und Tilgung der I. Hypothek

25.— RM.

(5 + 1 % Tagung etwa 35Jahre) . . . 120.— „ Verzinsung und Tilgung des Reichsdarlehens (4 + 1 % Tilgung etwa 45 Jahre) 50.— „ Tilgung des Werkdarlehens (5%) 35.— „ Bewirtschaftungskosten 30.— „ jährlich 260 — R M . monatlich 21 65 „ B. E i g e n h e i m I. G r u n d s t ü c k u n d H a u s Größe des Grundstücks: 450 qm, Bebaute Fläche: 56 qm, Umbauter Raum: 285 cbm, Wohnfläche: Küche 9,5 qm, Zimmer 17,2 qm, Zimmer I3,7qm, ausbaufähiges Dachgeschoß mit zwei Zimmern von je 13 qm und Bad von 2,6 qm. Keller: 45,4 qm, Straße: Schüttung mit Decke, Bordsteine, befestigter Bürgersteig, Versorgungsleitungen: Elektrizität, Gas, Wasser, Kanalisation. Waschküche und Bad im Keller, Doppelfenster, WC. II. G e s a m t b a u - und B o d e n k o s t e n Grundstück Gebäude Nebenkosten

1575.— R M . 6370.— ,, 955.— ,, 8900.— R M .

III. F i n a n z i e r u n g Ia- und I b-Hypotheken Hauszinssteuerhypothek Werksdarlehen Eigenkapital

5900.— R M . 1500.— „ 1000.— „ 500.— „ 8900.— R M .

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IV. Belastung Verzinsung und Tilgung der Ia- und IbHypotheken (5 + 1 %) 354.— R M . Verzinsung und Tilgung der Hauszinssteuerhypothek (4 + 1 %) 75.— „ Tilgung des Werkdarlehens (3%) 30.— „ Bewirtschaftungskosten 91.— „ jährlich 550.— RM. monatlich 45.85 „ Das Ergebnis des ersten Werbejahres für den Arbeiterwohnstättenbau ist außerordentlich erfreulich gewesen und eröffnet einen guten Ausblick in die Z u k u n f t . Sicher wäre das Ergebnis noch größer gewesen, wenn sich die Werbearbeit bereits voll hätte auswirken können. Die Schwierigkeiten für die einzelnen Werke, sich mit •Geldmitteln an der Spitzenfinanzierung zu beteiligen, dürfen ebenfalls nicht verkannt werden. Zahlreiche Werke leiden noch immer unter dem Kapitalschwund in den Jahren des Wirtschaftsniederbruchs. Nur allmählich können oft die Verluste der früheren Jahre durch die Wirtschaftsbelebung im nationalsozialistischen Deutschland wieder aufgeholt werden. Ebenso wie bei den Unternehmern sind bei den Gefolgschaftsmitgliedern durch oft jahrelange Arbeitslosigkeit die eigenen Mittel so beschränkt, daß eine Beteiligung selbst mit einem Eigenkapital von nur 3—500 R M . ihnen nicht möglich ist. Dazu kommt die verhältnismäßig geringe Lohnhöhe in einer Reihe von Bezirken, denen gestiegene Baukosten und verhältnismäßig hohe Zinssätze gegenüberstehen. In manchen Bezirken ist der Wille der Gefolgschaftsmitglieder, die Verantwortung für ein Eigenheim oder eine Kleinsiedlung zu übernehmen, nicht übermäßig groß. Er bedarf in vielen Fällen noch der Weckung. Hier können Betriebsführer und DAF gemeinsam eine dankenswerte Aufgabe lösen. Nach den Nachrichten, die aus allen Landesteilen vorliegen, ist anzunehmen, daß im J a h r 1936 die Beteiligung der Unternehmungen an der Förderung des Arbeiterwohnstättenbaues einen ähnlichen Umfang angenommen hat wie im Jahr 1935. Die Werbearbeit der Reichsgruppe Industrie und der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des Arbeiterwohnstättenbaues hat nicht nachgelassen und wird auch im J a h r e 1937 und in den folgenden Jahren unverändert andauern. Die Förderung des Arbeiterwohnstättenbaues durch die Unternehmer muß eine dauernde Aufgabe bleiben, ihr Ziel muß sein, einem erheblichen Teil der Gefolgschaftsmitglieder das Wohnen in eigener Wohnstätte zu

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ermöglichen. Die Unternehmer wissen, daß sie damit eine Aufgabe erfüllen, die den Fürsorge- und Treupflichten entspricht, die ihnen das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vorschreibt. Die gesamte Industrie ist sich bewußt, daß sie in Erfüllung ihrer Pflichten gegen Gefolgschaft, Volk und Staat Opfer bringen muß, wenn sie das Ziel der Seßhaftmachung von Gefolgschaftsmitgliedern erreichen will. Sie bringt das Opfer gern, denn es dient einem der schönsten Ziele in der Aufbauarbeit unseres Führers.

II. STAAT UND VOLKSWIRTSCHAFT

REICHSHAUSHALT UND REICHSFINANZEN VON

L U T Z G R A F S C H W E R I N VON K R O S I G K

I. A L L G E M E I N E S DIE GESCHICHTE DER DEUTSCHEN FINANZEN LÄSST SICH nicht allein an der Hand des Reichshaushalts darstellen. Denn ganze Gruppen der öffentlichen Ausgabewirtschaft erscheinen nicht im Haushalt des Reichs, sondern in dem der Länder, wie z. Z. die Kosten der Allgemeinen Verwaltung, des Schulwesens, der Polizei u. a. So ergeben erst die Finanzen des Reichs und der Länder zusammen ein vollständiges Bild. Dazu kommt, daß bis zur Machtergreifung durch den Nationalsozialismus die Kommunalangelegenheiten und damit auch die Gemeindefinanzen Sache der Länder waren. Die Verschiedenartigkeit des staatsrechtlichen Aufbaus und der geschichtlichen Entwicklung hat nun dazu geführt, daß das Verhältnis zu den Gemeinden in den einzelnen Ländern ganz verschieden geregelt worden ist. Es lassen sich daher die deutschen Finanzen in ihrer Gesamtheit nicht ohne das — in Deutschland besonders komplizierte und gerade in der Nachkriegszeit einem dauernden Wechsel unterworfene — Problem des Finanzausgleichs darstellen. Die Darstellung an der Hand des Reichshaushalts versagt auch für die Jahre, in denen infolge der Währungsentwicklung die Zahlen nicht vergleichbar sind. Auch der Versuch, einen Vergleichsmaßstab durch

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Lutz Graf Schwerin von Krosigk

Umrechnung der inflationistisch aufgeschwollenen Papiergeldzahlen in eine feste Währung zu gewinnen, muß, abgesehen von den Schwierigkeiten solcher Umrechnungsmethoden, schon daran scheitern, daß weder der Etatsentwurf zur Grundlage für eine solche Umrechnung genommen werden kann, da er durch die im Laufe des Rechnungsjahres fortschreitende Inflation überholt ist, noch aber auch die Rechnung, da ihre Schlußzahlen die Beträge zusammenfassen, die zu den verschiedenen Zeiten ihrer Verausgabung einen völlig verschiedenen Wert dargestellt haben. Die Tatsache endlich, daß infolge der gegenüber der Vorkriegszeit auf ein Mehrfaches angewachsenen Steuerbelastung die öffentlichen Finanzen und die Wirtschaft in ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis getreten sind, dessen Stärke uns erst in den krisenhaften Perioden der Nachkriegsentwicklung zum Bewußtsein gekommen ist, und daß der Reichshaushalt ein Spiegelbild des gesamten politischen Lebens der Nation darstellt, führt dazu, daß die Finanzgeschichte in immer stärkerem Maße gleichzeitig Wirtschafts- und allgemeine Staatsgeschichte werden muß. Diese Umstände erhellen die Schwierigkeit oder sogar die Unmöglichkeit, eine isolierte Darstellung über den Reichshaushalt und die deutschen Finanzen zu geben. Es kann sich nur darum handeln, Zusammenhänge und Entwicklungstendenzen aufzuzeigen. II. V O R K R I E G S - UND

KRIEGSZEIT

Man erhält einen Eindruck von der grundlegenden Änderung der Struktur und von dem wachsenden Schwergewicht der öffentlichen Finanzen in Deutschland erst durch einen kurzen Vergleich mit der Vorkriegszeit. Im letzten Friedensjahr, im Jahre 1913, betrugen die Nettoausgaben in Deutschland — Reich, Länder und Gemeinden zusammengerechnet — 5,8 Milliarden M. Davon entfielen 2,8 Milliarden, also 47%, auf das Reich, 3 Milliarden, also 53%, auf Länder und Gemeinden. Von den 5,8 Milliarden M. wurden 4,06 durch Steuern, der Rest durch Betriebsüberschüsse (Post, Eisenbahn, Gemeindebetriebe) und Anleiheeinnahmen gedeckt. Die Steuern flössen in Höhe von 1,63, also zu 40%, dem Reiche, in Höhe von 2,43 den Ländern und Gemeinden zu. Von den 2,8 MilliardenRM. Nettoausgaben des Reichs entfiel der weitaus größte Teil, nämlich 2,16 Milliarden auf die Landesverteidigung. Von dem Rest entfielen 240 Millionen auf die Verzinsung und Tilgung der Reichsschuld, 235 Millionen auf Verwaltungsausgaben und Fonds und 192 Millionen auf die Ver-

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sorgung der Kriegsteilnehmer und die Pensionen und Renten der Heeresangehörigen. Man ersieht daraus, wie klein, abgesehen von den Ausgaben für die Landesverteidigung, der in Ausgaben sich ausdrückende Aufgabenbereich des Reiches war und daß das Schwergewicht der gesamten Verwaltungs- und sonstigen Ausgaben bei den Ländern und Gemeinden lag. Das kommt auch in der Verteilung der öffentlichen Schulden zum Ausdruck, von denen 5 Milliarden M. auf das Reich, 16 Milliarden auf die Länder, 7,5 Milliarden auf die Gemeinden entfielen. Während der Krieg zu keiner allzu wesentlichen Änderung der Finanzwirtschaft bei den Ländern und Gemeinden führte, lag die Last der gewaltigen Ausgabensteigerung beim Reich, das die mit dem Krieg im Zusammenhang stehenden Ausgaben zu leisten hatte und sich, ohne ausreichende finanzielle Rüstung, vor das gewaltige Problem der Finanzierung eines modernen Krieges von vierjähriger Dauer gestellt sah. Das bisherige System der Steuerverteilung hatte die großen direkten Steuern, die Einkommen-, die Vermögensteuer und die Realsteuern den Ländern und Gemeinden, dem Reich die Zölle, die Verbrauchsabgaben und die meisten Verkehrssteuern überwiesen. Erst in den letzten Jahren vor dem Kriege war durch die mit schweren politischen Kämpfen verbundene, im Jahre 1906 eingeführte Reichserbschaftsteuer und im Jahre 1913 durch die Einführung des Wehrbeitrages und eine Besteuerung des Vermögenszuwachses in Form der sog. Besitzsteuer eine gewisse Einschränkung des Grundsatzes eingetreten, daß dem Reich eine Besteuerung des Einkommens und des Besitzes verwehrt sei. Dieses System gab dem Reich nicht die Möglichkeit, durch einen Zugriff auf diese Steuerquellen, die allein ein für die Kriegsfinanzierung in Betracht kommendes Mehraufkommen erbracht hätten, mindestens einen Teil der Kriegsausgaben durch Anspannung von Steuern zu decken. Die in den Jahren 1916—1918 erfolgten neuen Steuereinnahmen, die teils in der Erhöhung bestehender Steuern, teils in der Einführung neuer Steuern (Warenumsatzstempel, Beförderungsteuer, Kriegsgewinnsteuer) bestanden, waren nur ein kümmerlicher und völlig unzureichender Ersatz für den allein erfolgverheißenden Zugriff auf Besitz und Einkommen, den ein Steuersystem nicht gestattete, zu dessen Änderung man sich nicht rechtzeitig entschließen konnte. So blieb nur der Weg übrig, den Krieg auf dem Wege des Kredits zu finanzieren. Der entscheidende Schritt hierfür war das Gesetz vom 4. August 1914, das für die Notendeckung den Warenwechseln unverzinsliche Reichsschatzwechsel ohne Begrenzung gleichstellte und

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dadurch die Möglichkeit schuf, staatliche Ausgaben in beliebiger Höhe durch Notendruck zu befriedigen. Es wäre aber falsch oder doch nur begrenzt richtig, in diesem Gesetz den ersten Schritt zu der Geldentwertung zu sehen, die tatsächlich während des Krieges eingetreten ist. Denn wenn auch das Gesetz vom 4. August 1914 die Bahn für eine Inflation freigab, so hing es doch von der praktischen Handhabung der Kriegsfinanzierung ab, ob und in welchem Umfang tatsächlich eine Inflation Platz griff. Dieser Gefahr konnte begegnet werden, solange es gelang, die Schatzwechselemissionen immer wieder durch Begebung langfristiger Inlandsanleihen zu konsolidieren. Erst als vom dritten Kriegsjahr ab die Zeichnung von Kriegsanleihen, selbst wenn sie absolut gesehen noch immer einen beachtlichen Erfolg darstellte, immer stärker hinter dem zur Konsolidierung erforderlichen Betrag zurückblieb und infolge der unzulänglichen Deckungsmaßnahmen der Schuldendienst der Kriegsanleihen in zunehmendem Maße nicht aus laufenden Steuereinnahmen, sondern wieder auf dem Kreditwege gedeckt wurde und infolgedessen der Schatzwechselbedarf lawinenmäßig anschwoll, konnten inflationistische Wirkungen um so weniger ausbleiben, als der vermehrten Geldmenge kein entsprechend erhöhter Warenumsatz gegenüberstand; einer verstärkten Erzeugung waren vielmehr durch das Fehlen einer Arbeitsreserve — ein ausgesprochener Mangel an Arbeitskräften machte sich sehr bald in Landwirtschaft wie Industrie fühlbar — und durch den Mangel an Rohstoffen, der infolge des Abschnürens der Auslandseinfuhr rasch drückend bemerkbar wurde und den die im einzelnen geniale, im ganzen doch nur behelfsmäßige und lückenhafte Eigenerzeugung nicht voll beheben konnte, frühzeitig Grenzen gezogen. Diese inflationistischen Wirkungen konnten ebenso an dem Absinken der internationalen Kaufkraft der Mark wie an dem dauernden Steigen der Inlandspreise abgelesen werden. Da der Krieg mit einer Erhöhung der Schuldenlast des Reiches um 148 Milliarden M. abschloß, von denen 51 Milliarden nicht mehr hatten konsolidiert werden können, vielmehr in Schatzanweisungen bestanden, hätte es einer straffen Zentralgewalt, einer Zusammenfassung aller politischen und finanziellen Kräfte der Nation und eines ruhigen und geordneten Wirtschaftsaufbaus bedurft, um in den folgenden Jahren einer lawinenmäßig fortschreitenden Zunahme der Inflation vorzubeugen. Aber diese Voraussetzungen fehlten. Die zerrüttete Lage der Reichsfinanzen wurde durch die außenpolitische Erschütterung, die die Waffenstillstandsbedingungen und das Versailler Diktat herbeiführten, und durch den innenpolitischen Zusammenbruch als Folge der marxistischen Revolte hoffnungslos erschwert.

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III. DIE I N F L A T I O N Es war selbstverständlich, daß die Ausgaben des Reichs nach dem Kriege erheblich größer sein mußten, als sie in Friedenszeiten gewesen waren. Die Versorgung der Kriegsopfer und ihrer Hinterbliebenen, die Verzinsung und Tilgung der Kriegsschulden, die Versorgung der im Heere nicht mehr verwendbaren Menschenmassen, die Steigerung der sozialen Ausgaben, die Fürsorge für den Wohnungsbedarf usw. erforderten allein Beträge, die den Friedensetat des Reiches um ein Mehrfaches überstiegen. Dazu kamen die einmaligen Ausgaben für die Demobilmachung des Heeres, die Umstellung der Wirtschaft auf friedensmäßige Erzeugung, die Fürsorge für die vertriebenen Deutschen, die Entschädigung der durch den Krieg um ihr Hab und Gut gebrachten Volksgenossen u. a. m. So ist es kein Wunder, daß die Schatzwechselausgabe zunächst in starkem Tempo weiter anstieg. Wenn aber allein bis März 1919 die unfundierten Schulden des Reiches um 13 Milliarden M . stiegen, also annähernd im gleichen Umfang wie in den letzten Kriegsjahren, so lag der Grund hierfür doch wesentlich darin, daß die gewaltige Aufgabe des Übergangs vom Krieg zu einer geordneten Friedenswirtschaft durch das Fehlen einer starken Staatsgewalt, durch innere Kämpfe, durch die Übergriffe revolutionierender Organe, durch die Verschleuderung ungeheurer Werte an Vorräten und Kriegsmaterial, kurzum durch die Folgen des Zusammenbruchs unendlich erschwert wurde. Die Lösung dieser Aufgabe wurde vollends dadurch unmöglich gemacht, daß unsere bisherigen Gegner auch nach Schluß des Krieges den Friedenszustand nicht eintreten ließen, sondern durch Absperrung des Landes von der Zufuhr an Lebensmitteln und Rohstoffen den Hunger- und Wirtschaftskrieg lange Zeit weiterführten und schließlich im Versailler Diktat Deutschland ein Gebiet von 70000 qkm nahmen, das einen wichtigen Teil seiner Ernährungsbasis und unersetzliche Rohstoffquellen enthielt, ihm Kolonien und Auslandsguthaben raubten, seine Schiffahrt vernichteten und diesem zerstückelten und ausgesogenen Volkskörper eine schon damals von einsichtigen Wirtschaftssachverständigen, auch des Auslandes, als völlig unmöglich bezeichnete Reparationslast auferlegten. Es konnte nicht ausbleiben, daß in dieser Lage die Wirtschaftskraft des deutschen Volkes nicht ausreichte, die gestiegenen Staatsausgaben zu tragen, und daß daher die fortdauernde Inanspruchnahme der Notenpresse nötig war, um Staatsleben und Wirtschaft überhaupt in Gang zu halten. Wenn es in den J a h r e n bis 1923 auch vorübergehend gelungen ist, 29

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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zu einer gewissen Stabilität zu kommen und auch formell einen Etat aufzustellen, der wieder diese Bezeichnung überhaupt verdiente, so blieben doch die Gründe für die Tendenz einer weiteren Markverschlechterung bestehen, bis vom Juli 1922 ab die Inflation in immer stärkerem Tempo zunahm, um schließlich im Herbst 1923 mit der völligen Vernichtung der Kaufkraft der Mark ihr Ende zu finden. Man kann sich diese Entwicklung am besten klar machen, wenn man das J a h r 1921 herausgreift, das von den Inflationsjahren noch die verhältnismäßig stabilsten Verhältnisse aufweist. Im Entwurf des Haushalts waren die Einnahmen auf 69 Milliarden, die ordentlichen Ausgaben auf 88 Milliarden geschätzt. Im Istergebnis betrugen die Einnahmen 90, die Ausgaben 83 Milliarden. Bei den Einnahmen entfielen die größten Posten auf die Einkommensteuer mit 30, die Umsatzsteuer mit 1 1 1 / 2 , die Kohlensteuer mit 7, die Kriegsabgabe vom Vermögenszuwachs mit 6 1 / 2 , die Zölle mit 6, die Tabaksteuer mit 4 Milliarden M. Bei den Ausgaben machten die größten Beträge aus: die Überweisungen an die Länder mit über 20, die Ausgaben für das Ernährungsministerium (im wesentlichen Zuschüsse für die Verbilligung von Lebensmitteln) 20, für die Reichsschuld 15, für Pensionen und Versorgung 7,5, für das Reichsarbeitsministerium 3,7, für die Reichswehr 3,8 Milliarden M. Betrugen die Ausgaben für die Landesverteidigung vor dem Kriege rund % des Reichsetats, machten sie jetzt nur noch etwa 4% aus. Neben dem ordentlichen Haushalt war ein außerordentlicher Haushalt vorhanden, dessen Ausgaben in Höhe von 37 Milliarden durch 12 Milliarden außerordentliche Einnahmen, im übrigen durch Anleihen gedeckt wurden, und der Haushalt zur Ausführung des Friedensvertrages, dessen Ausgaben im ordentlichen 67, im außerordentlichen Haushalt 36 Milliarden betrugen und denen als Deckung nur der Überschuß des ordentlichen Haushalts in Höhe von 7 Milliarden gegenüberstand. Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß es die Ausgabeposten des letztgenannten Haushalts waren, die immer wieder alle Versuche, die Reichsfinanzen in Ordnung zu bringen, zum Scheitern bringen mußten. Die Erhöhung der schwebenden Schuld betrug in diesem Jahre im Monatsdurchschnitt 8,5 Milliarden M. Die Mark bewegte sich zwischen dem 1 . 4 . 21 und dem 1 . 4 . 2 2 , am Dollar gemessen, zwischen 63 und 298 PM. Sie blieb dann in den drei ersten Monaten des Jahres 1922 herum einigermaßen stabil, um vom Juli ab, infolge verschärfter Forderungen der Gläubigermächte, im sprunghaften Tempo sich zu entwerten. Sie sank von 317 PM. im Juni auf 7589 im Dezember. Der Geldentwertung entsprechend gingen die Ausgaben sprunghaft in die Höhe, während

Reichshaushalt

und

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die Einnahmen in erheblich langsamerem Tempo anstiegen. Es ist daher kein Wunder, daß die ungedeckten Ausgaben im Rechnungsjahre 1922 bereits auf über 5 Billionen M. stiegen. Der unaufhaltsame Zusammenbruch der Währung vollzog sich im Jahre 1923, veranlaßt durch die Besetzung des Ruhrgebietes. Es ist ein warnendes Zeichen für die damalige politische Lage und Einstellung, daß Minderlieferungen von Holz und Kohle im Gesamtwert von 24 Millionen GM. ausländischen Mächten den Anlaß bieten konnten, eine absichtliche Nichterfüllung des Friedensvertrages durch Deutschland festzustellen und aus diesem Grunde das Ruhrgebiet zu besetzen, ein Gewaltakt, auf den Deutschland damals nur mit passivem Widerstand antworten konnte. Die ansteigende Not, insbesondere die Arbeitslosigkeit im Westen stellte immer stärkere Ansprüche an die Kasse des Reiches, die diesen Ansprüchen nur noch durch Notendruck gerecht werden konnte. Der steigende Geldumlauf, dem eine immer weiter abnehmende Erzeugung gegenüberstand, brachte ein stets schneller werdendes Tempo in die Entwertung des Geldes. Bewegte sich die Mark in den Monaten Januar bis April 1923 noch zwischen 20000 und 50000 PM., sank sie im Juli bereits auf 1 Million, um im Oktober die Milliarden-, im November die Billionengrenze zu erreichen. Das Ende war da. Ist die Finanzgeschichte der Jahre 1919—1923 für alle Zeiten am stärksten durch die Inflation gekennzeichnet, so hat sich doch daneben in diesen Jahren eine die künftige Entwicklung der deutschen Finanzen tief beeinflussende Wandlung der Grundlagen vollzogen, auf denen unser Finanzwesen fußt. Die Grundsätze beruhen in der Hauptsache auf folgendem: 1. Die Finanz- und Steuerhoheit geht in vollem Umfang auf das Reich über. Das Reich hat grundsätzlich den Zugriff auf alle Steuern; den Ländern und Gemeinden ist die Erhebung von Steuern verboten, die den Reichssteuern gleichwertig sind; das Reich kann auch gegen Landes- und Gemeindesteuern Einspruch erheben, die geeignet sind, die Reichseinnahmen zu schädigen. Hierdurch ist die gesamte Steuerpolitik in die Hand des Reichs gelegt und die Grundlage für ein einheitliches Steuersystem aller in Deutschland erhobenen Steuern geschaffen. 2. Die Reichssteuern werden durch Reichsbehörden verwaltet. Der im Kriege im Jahre 1918 mit der Einrichtung des Reichsfinanzhofs in München gemachte Ansatz wurde zur Schaffung der einheitlichen Reichsfinanzverwaltung ausgebaut, die nicht nur die Zölle und Verbrauchsabgaben, sondern auch die Besitz- und Verkehrsteuern zu 29*

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verwalten hat und die Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung gewährleistet. 3. Die Matrikularbeiträge verschwinden; die Länder und Gemeinden werden durch Überweisungen an den Reichssteuern beteiligt. Damit ist die große Wandlung vollzogen, die das Reich aus der Lage des Kostgängers der Länder befreit, eine Wandlung, die schon Bismarck vor allem mit seinem Plan des Tabakmonopols angestrebt, aber gegenüber dem die Stärkung der Exekutive und damit des gewaltigen Reichskanzlers fürchtenden Reichstag nicht hatte durchsetzen können. Der Übergang der Steuerhoheit auf das Reich nötigte zu einer völligen Neuregelung des Finanzausgleichs. Hatte das Reich den Ländern und Gemeinden im wesentlichen nur die Realsteuern zur selbständigen Regelung als Steuerquelle belassen, mußte es ihnen die Erfüllung ihrer Aufgaben durch Beteiligung an Reichssteuern ermöglichen. So überließ das Reich den Ländern und Gemeinden als Ersatz für den Verlust des bisherigen Rechts auf die Besteuerung des Einkommens den Hauptteil der Einkommen- und Körperschaftsteuer (seit 1925 75%) und außerdem 30% von der Umsatzsteuer. Hat dieser Teil der Finanzreform der ersten Nachkriegsjahre eine richtunggebende und bleibende Bedeutung erlangt, so kann das Gleiche von den materiellen Steuergesetzen dieser Jahre nicht gesagt werden. Die Versuche, durch einmalige Steuern die schwebende Schuld des Reichs zu vermindern und gleichzeitig durch eine starke Heranziehung des Besitzes das in der Kriegszeit auf steuerlichem Gebiete Versäumte nachzuholen, konkretisierten sich in den Gesetzen über die außerordentliche Kriegsabgabe für 1919 und die Kriegsabgabe vom Vermögenszuwachs und über das Reichsnotopfer. Diese Versuche mußten an zweierlei scheitern, einmal an der aus der marxistischen Tendenz einer Vermögensnivellierung hervorgegangenen Überspannung der Sätze und der sich hieraus — noch dazu angesichts einer schwachen Staatsgewalt und einer zerrütteten Steuermoral — ergebenden Unmöglichkeit, diese Sätze praktisch hereinzuholen, und zweitens an der durch die Inflation ständig fortschreitenden Entwertung der von den größeren Vermögensbesitzern zu zahlenden Raten. So mußten diese Gesetze, deren praktisches Ergebnis gerade das Gegenteil ihrer Tendenz gewesen war, nämlich das, den kleinen Vermögensbesitzer zu benachteiligen, schon 1922 suspendiert werden. Auch die laufenden Steuern wurden weitgehend geändert und auf neue Grundlagen gestellt, die zu einem Teil bleibender Bestandteil unseres Steuerrechts geworden sind, so z. B. in weitem Umfang bei der Umsatzsteuer. Das Versagen dieser auf Mark gestellten Steuern beruhte dar-

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auf, daß sie auf den Währungsverfall nicht eingestellt waren und daher absurde Ergebnisse zeitigen mußten. Führte die an der Mark festhaltende Einkommensbesteuerung zu einer die solide Wirtschaft schließlich zur Strecke bringenden Besteuerung von „Scheingewinnen", so führte auf der anderen Seite der Unterschied des Wertes der Steuern zur Zeit der Veranlagung und der Zahlung dazu, daß zum Schaden des Fiskus ein mit dem Fortschreiten der Inflation immer kleiner werdender Bruchteil der beabsichtigten Steuer einging. Das Versiegen der Steuern läßt sich ablesen, wenn man die Steuereinnahmen der einzelnen Monate auf Grund des Lebenshaltungsindex in Gold umrechnet. Dann ergibt sich, daß 1921 die Steuereinnahmen noch 5,2 Milliarden GM. betrugen, 1922 noch 3,5, 1923 in den Monaten April bis Oktober nur noch 1,2 mit einem von Monat zu Monat sinkenden Betrag, der im Oktober sich nur noch auf 24 Millionen belief. Auch von hier aus gesehen war das Ende da. IV. KNAPPE UND REICHE

ETATS

Aus der völligen Finanzkatastrophe, die im Herbst 1923 über das deutsche Volk hereingebrochen war, brachte die Rentenmark die Rettung. An dieser Rettung, die wegen der Schnelligkeit und Vollständigkeit des Erfolges mit Recht als eines der „Wunder" in der Finanzgeschichte bezeichnet zu werden verdient, sind vor allem zwei Dinge bemerkenswert und ausschlaggebend gewesen. Das eine war die psychologische Wirkung der neuen wertbeständigen Währung. Es läßt sich durchaus darüber streiten, ob von den damals viel erörterten Möglichkeiten einer neuen Währung die Rentenmark die technisch beste Lösung darstellte, und es ist durchaus denkbar, daß andere Lösungen ebenso gut oder besser gewesen wären. Aber die Untermauerung der Wertbeständigkeit der neuen Währung durch die nach Vernichtung des mobilen Kapitals allein noch vorhandenen Werte, die Substanz des Grund und Bodens und des Gewerbes, schuf die Vertrauensgrundlage, auf der sich die Stabilität der Rentenmark erhalten ließ. Es ist schließlich der Glaube des deutschen Volkes an die Wertbeständigkeit gewesen, der die neue Währung wertbeständig gemacht und erhalten hat. Und so ist das Wunder der Rentenmark einer der interessantesten Beweise für die Bedeutung psychologischer Wirkungen und Vorgänge auf dem Gebiet der Währung. Das zweite Moment ist die Verbindung von Währungs- und Etatspolitik gewesen, wie sie damals durch die Zusammenarbeit von Luther und Schacht in die Wege geleitet und durchgeführt worden ist. Der

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Erfolg der Währungsstabilisierung hing davon ab, ob es gelang, alsbald in der öffentlichen Wirtschaft zu geordneten Verhältnissen zu kommen. Da die Befriedigung der Ansprüche der öffentlichen Finanzen im Wege des Notendrucks nicht mehr erfolgte, war bis zum Eingang der neuen, auf Goldmark eingestellten Steuern die öffentliche Wirtschaft allein auf die 900 Millionen Rentenmark angewiesen, die die Rentenbank zur Bestreitung der öffentlichen Ausgaben ausgeworfen hatte und deren oft erbetene Erhöhung sie stets mit ebenso unbequemer wie dankenswerter Energie ablehnte. Um im Rahmen des ausgeworfenen Kontingents zu bleiben, war eine rücksichtslose Drosselung der Ausgaben erforderlich, wie sie — um aus der Fülle der damals ergriffenen, zum Teil drakonischen Maßnahmen nur zwei als Beispiele herauszugreifen — durch den Personalabbau und die „Abgeltung" der mit dem Kriege zusammenhängenden Ausgaben gekennzeichnet wird. Es kommt hier nicht darauf an, diese Maßnahmen im einzelnen darzustellen, sondern nur die Tatsache hervorzuheben, daß Währungsund Etatspolitik zwei nicht voneinander zu trennende Faktoren sind. Diese Tatsache trat 1923 sinn- und augenfällig in Erscheinung. Daß es um die Wende des Jahres 1923/24 gelang, die Deckung des öffentlichen Bedarfs von der Papiergeldwirtschaft der vergangenen Jahre zu lösen und im Rahmen zunächst des Rentenbankkredits, dann des laufenden Steueraufkommens zu halten, war für den Erfolg der Währung entscheidend. Von allgemeiner geschichtlicher Bedeutung ist schließlich noch ein drittes Moment, daß nämlich die notwendigen, rettungbringenden Verordnungen nicht auf parlamentarischem Wege verabschiedet wurden und werden konnten. Es zeigte sich zum ersten Male mit blitzartiger Deutlichkeit, daß das parlamentarische System der Überwindung von Katastrophen nicht gewachsen war und daß daher damals der berühmte Art. 48 der R V . die Notbrücke bilden mußte, auf der allein die erforderlichen Maßnahmen auf der Einnahme- wie der Ausgabeseite der öffentlichen Wirtschaft ergriffen werden konnten. War die Umstellung der Zölle und Verbrauchsabgaben ebenso wie der Verkehrssteuern auf Goldmark ohne besondere Schwierigkeiten und mit alsbaldigem Erfolge möglich, so war die Wiederingangsetzung der Besitzsteuern mit erheblich größeren Schwierigkeiten verknüpft. Die Ermittlung eines Einkommens für das J a h r 1923, das mit einem Dollarkurs von rund 7000 M. begonnen und im November mit 4,2 Billionen M. geendet hatte, war unmöglich. Es konnte daher für eine Übergangszeit die Erhebung von Einkommensteuern nicht auf das Einkommen, sondern nur auf gewisse Hilfstatbestände ab-

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gestellt werden. Auf solcher Notgrundlage sind dann bis zum Sommer 1925 mit einer Reihe von Änderungen und Milderungen Besitzsteuern erhoben worden, die es ermöglichten, auch den Ländern und Gemeinden die zur Erfüllung ihrer notwendigsten Aufgaben erforderlichen Mittel zukommen zu lassen. Es ist klar, daß es noch lange dauerte, bis formell wieder eine geordnete Finanzwirtschaft bestand. So kam der Etat für 1924 erst durch Gesetz vom 28. J u l i 1925, also erst mehrere Monate n a c h Abschluß des Rechnungsjahrs zustande. Und es dauerte auch bis zum Sommer 1925, ehe die übrigen zur endgültigen Ordnung der Finanzwirtschaft erforderlichen Gesetze über die Aufwertung, den Neuaufbau des Steuersystems, insbesondere die Überleitung der Einkommen und Körperschaftsteuer in ein geordnetes Veranlagungsverfahren, und über den Finanzausgleich erlassen werden konnten. Bereits im J a h r e 1924 ergab sich eine starke Wiederauffüllung der öffentlichen Kassen und eine erhebliche Mehreinnahme von Steuern gegenüber dem Voranschlag. Hatte man mit einem Aufkommen von 5.2 Milliarden R M . gerechnet, so betrug das tatsächliche Aufkommen 7.3 Milliarden, also über 2 Milliarden mehr. Diese verblieben allerdings dem Reiche nur in Höhe von 1,2, während 0,9 Milliarden den Ländern und Gemeinden zuflössen. Dieser unerwartete Segen führte zu erheblichen Überschüssen, sowohl im Etat des Reiches wie in dem der Länder und Gemeinden. Ein kurzer Überblick über das Ergebnis des Jahres 1924 im Reich mag das verdeutlichen. Im ordentlichen Haushalt betrugen die Gesamteinnahmen 7,6, die Ausgaben 7,1 Milliarden R M . Von den 7,3 Milliarden R M . Steuereinnahmen entfielen 2,2 auf die Einkommen-, 1,9 auf die Umsatz-, 0,51 auf die Tabak-, 0,5 auf die Vermögensteuer, 0,36 auf die Zölle und 0,31 auf die Körperschaftsteuer. Von den Ausgaben von 7,1 Milliarden entfielen 2,77 Milliarden R M . auf die Überweisungen an die Länder, 1,07 auf Versorgung und Ruhegehälter, 1 Milliarde aufKriegslasten, auf den Wehrhaushalt 460 Millionen. Obwohl zur Deckung von Ausgaben des außerordentlichen Etats 209 Millionen im ordentlichen Etat zur Verfügung gestellt und 100 Millionen zur außerordentlichen Schuldentilgung verwendet wurden, blieb noch ein Überschuß von 496 Millionen übrig. Von diesem wurden 276 Millionen in den Etat 1925 als Einnahmen eingestellt, der Rest von 220 Millionen, zuzüglich des im J a h r e 1925 erzielten Überschusses von 180 Millionen, zusammen also 400 Millionen in den Etat 1926, und da dieser wiederum einen Überschuß von 200 Millionen erbrachte, dieser Betrag in den Etat von 1927. Auch 1927 schloß noch einmal mit einem Überschuß von 162 Millionen

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ab, der endgültig 1928 verbraucht wurde. Es haben also die J a h r e 1925—1928 vom Überschuß des Jahres 1924 gezehrt, und zwar 1925 in Höhe von 96, 1926 von 200, 1927 von 38, 1928 von 162 Millionen. Im J a h r e 1924 hat man ferner aus dem Münzgewinn einen Betriebsmittelfonds von 252 Millionen errichtet, der in den späteren Jahren durch Einstellung als Etatseinnahme aufgelöst worden ist. Infolgedessen ergab sich Ende des Jahres 1924 eine starke Kassenfülle; der Bestand der Reichskasse betrug rund 1 Milliarde und setzte sich aus dem Überschuß von 496 Millionen, dem Betriebsmittelfonds von 252 Millionen und der Rücklage für Deckung von Ausgaberesten zusammen, die sich am Schluß des Jahres 1924 auf 262 Millionen R M . beliefen. Hatte somit das J a h r 1924 nicht nur mit der Fehlbetragswirtschaft der Vergangenheit vollständig gebrochen, sondern sogar durch Betriebsmittelfonds und Überschuß für die Zukunft Vorsorge getroffen, so hat gerade diese Überschußwirtschaft als „Thesaurierungspolitik" starke Kritik gefunden; der Reichsfinanzminister von Schlieben, der im Herbst 1924 Dr. Luthers Nachfolger geworden war und mit dessen Namen diese Politik besonders verknüpft ist, hat sich immer wieder mit der an ihr geübten Kritik auseinandersetzen müssen. Konnte er vom Standpunkt der damaligen Lage aus diese Politik mit vollem Recht damit verteidigen, daß die Unsicherheit der Finanzentwicklung nach Abschluß der Inflation eine übergroße Vorsicht eher rechtfertigte als eine unzureichende Untermauerung des Stabilisierungswerks, und daß auch die Vorsorge für die Zukunft durchaus den Grundsätzen einer gesunden Finanzpolitik entsprach, so läßt sich auch rückschauend feststellen, daß die Politik der J a h r e 1924 und 1 9 2 5 an sich richtig war und daß gewisse verhängnisvolle Folgen dieser Politik, nämlich die aus der Kassenfülle alsbald einsetzende Neigung zur Verschwendung und die Gewöhnung, laufende Ausgaben auf einmalige Einnahmen, nämlich die Reserven des Jahres 1924, zu basieren, ihren Grund weniger in dieser Politik selbst als in dem parlamentarischen System hatten, für dessen kurzsichtige Finanzpolitik Reserven und Kassenbestände stets den Anlaß zu erhöhter Ausgabewirtschaft boten. Das J a h r 1926 brachte eine grundsätzliche Abkehr von der bisherigen vorsichtigen, vielleicht übervorsichtigen Politik, und zwar in doppelter Richtung. Einmal erfolgte eine weitgehende Milderung des Steuerdrucks durch verschiedene Maßnahmen, von denen die Senkung der Umsatzsteuer auf 0,75% die finanzpolitisch fragwürdigste Maßnahme war, zumal die davon erhoffte Senkung der Preise nicht in dem erwarteten Umfang eintrat. Es machte sich die alte Erfahrung geltend,

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daß der Preiserhöhung, die der Heraufsetzung einer Steuer, meist mit einem das erhöhte Steueraufkommen übersteigenden Zuschlag, folgt, eine Preissenkung bei Herabsetzung der gleichen Steuer in der Regel nicht zu entsprechen pflegt. War diese Steuersenkung — grundsätzlich richtig — von dem Ziele einer Belebung der Wirtschaft und von dem unter dem parlamentarischen System ebenfalls zutreffenden Gedanken diktiert, daß es zur Verhinderung übergroßer Ausgabefreudigkeit zweckmäßiger sei, „ a m Rande des Defizits" als unter dem Schutz von Reserven zu wandeln, so war für die Zukunft bedeutungsvoller und auch gefährlicher die zweite Maßnahme, nämlich die Verweisung der Ausgaben des außerordentlichen Etats auf Anleihen. Während man in den Jahren 1924 und 1925 den außerordentlichen Haushalt im Reich durch Zuschüsse aus dem Ordinarium und durch Münzgewinne finanziert hatte, ging man jetzt dazu über, den Münzgewinn dem ordentlichen Haushalt als Einnahme vorzubehalten und das Extraordinarium durch Anleihen zu finanzieren. Ist es an sich grundsätzlich berechtigt, Anlagen, mit deren Abtragung nicht die lebende Generation allein, sondern auch die kommenden Generationen zu belasten sind, nicht aus laufenden Steuern, sondern aus Anleihen zu decken, so setzt die Durchführung dieses Grundsatzes voraus, daß die finanziellen Verhältnisse, Lage der Wirtschaft und Stand des Kapitalmarkts die Unterbringung von Anleihen ermöglichen. Das war aber damals nur in ganz beschränktem Umfang möglich. Nur einmal, im Frühjahr 1927, ist die Aufnahme einer Reichsanleihe in Höhe von 500 Millionen R M . versucht worden, und der Versuch war weder ein großer Erfolg noch der Entwicklung des Kapitalmarkts günstig. Man beschränkte sich infolgedessen darauf, Anleiheermächtigungen auszusprechen. Die Ausgaben wurden, ohne entsprechende Aufnahme von Anleihen, geleistet. Die Mittel hierzu wurden den — aus dem Betriebsmittelfonds, den noch verbleibenden Überschüssen des Jahres 1924 und den Beständen zur Deckung von Ausgaberesten sich zusammensetzenden — Kassenmitteln des Reiches entnommen. J e mehr nun in der Folge diese Mittel durch Einstellung der Reserven als Einnahmen in den laufenden Etat sich verminderten, um so mehr wuchs sich das effektive Defizit des Extraordinariums zu einer schweren Gefährdung der Kassenlage des Reichs aus. Es ist kennzeichnend f ü r die Kurzsichtigkeit der Finanzpolitik der damaligen Jahre, daß im Laufe von knapp 5 Jahren das „Problem der Kassenfülle" durch das nun jahrelang die deutsche Finanzwirtschaft beherrschende „Problem der Kassennot" abgelöst wurde. Vergleicht man den Etat 1926 mit dem des Jahres 1924, so fällt

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auf der Einnahmeseite auf, daß die Steuereinnahmen von 7,2 Milliarden R M . sich in ihrer Gesamthöhe kaum geändert haben, daß aber infolge der Einstellung des ganzen Münzgewinns von 400 Mill. Vorjahrsüberschüssen und anderen Mehreinnahmen die Summe der Gesamteinnahmen um rund 1 Milliarde, die Gesamtausgaben dagegen von 7,1 auf 8,3 Milliarden R M . angestiegen waren. Wesentlich geändert hatte sich aber auch die Zusammensetzung des Steueraufkommens; von den 7,2 Milliarden R M . entfielen 2,25 auf die Einkommensteuer, nur noch 0,87 auf die Umsatzsteuer, dagegen 0,94 auf die Zölle, 0,7 auf die Tabaksteuer, 0,38 auf die Körperschaft- und 0,36 auf die Vermögensteuer. Von den Ausgaben entfielen 2,6 Milliarden auf die Überweisungen an die Länder, 1,46 auf Versorgung und Ruhegehälter, 305 Millionen auf die Deckung von ordentlichen Ausgaben für die Kriegslasten, 433 Millionen aufdie Erfüllung des DawesAbkommens, 615 Millionen auf die Landesverteidigung, 705 Millionen auf Sozialversicherung und Erwerbslosenfürsorge. Wenn auch der Etat 1924 als ein ausgesprochener Notetat in seiner Knappheit nicht auf die Dauer aufrechterhalten werden konnte, treffen wir doch bereits 1926 auf eine allgemeine Ausgabenerhöhung, die nicht unbedenklich war, wir finden aber vor allem zwei Posten, die in der Folge sich verhängnisvoll für den Reichsetat auswirken sollten; der eine neu auftretend: die Erfüllung des Dawes-Abkommens, die Tributlast, der andere mit ansteigender Tendenz: die Ausgaben für Sozialversicherung und Erwerbslosenfürsorge. Das J a h r 1927 steigerte diese Tendenz. Die Einnahmen stiegen auf 9,8, die Ausgaben auf 9,5 Milliarden R M . Bei den Einnahmen stiegen die Steuern auf 8,5 Milliarden; sämtliche Steuern wiesen ein erhöhtes Aufkommen auf, am stärksten fällt das erhöhte Aufkommen der Einkommensteuer (2,8) und der Zölle (1,25) ins Gewicht. Bei den sonstigen Einnahmen fällt auf, daß neben Münzgewinnen und Überschüssen der Vorjahre zum ersten Male ein Einnahmeposten von 190 Millionen aus dem Betriebsmittelfonds erscheint. Die allmähliche Aufzehrung der Reserven aus 1924 schreitet mithin fort und damit das verhängnisvolle Beginnen, dauernd steigende Ausgaben zu einem großen Teil auf einmalige Einnahmen zu basieren. Bei den Ausgaben entfallen 3 Milliarden R M . auf die Überweisungen, 1,63 auf Versorgung und Ruhegehälter, 190 Millionen auf innere, 832 auf äußere Kriegslasten, 645 Millionen auf die Landesverteidigung, 5 1 1 Millionen auf Sozialversicherung und Erwerbslosenfürsorge. Die steigende Ausgabenentwicklung erhielt in diesem Jahre einen erneuten starken Auftrieb durch zwei Maßnahmen, die Einführung

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der Arbeitslosenversicherung und die Neuregelung der Beamtengehälter, beides Maßnahmen, die sich in voller Schwere erst in den kommenden Rechnungsjahren auswirken sollten. Es ist daher kein Wunder, daß in den Jahren 1928 und 1929 die Ausgaben des ordentlichen Haushalts auf rund 10,6 Milliarden R M . stiegen. Die Tributlasten waren auf fast i ! / 2 Milliarden R M . gestiegen und erklären zu einem erheblichen Teil die Erhöhung der Ausgaben, die im übrigen ihren Grund in den mehrfach genannten Entwicklungstendenzen hat. Da im Jahre 1928 die Reserven des Jahres 1924 endgültig verbraucht waren, ist es auch kein Wunder, daß, obwohl die Steuereinnahmen eine weitere Steigerung auf etwas über 9 Milliarden R M . brachten, die Rechnungsergebnisse zum ersten Male seit der Währungsstabilisierung wieder mit Fehlbeträgen abschlössen, und zwar das J a h r 1928 mit 154, das J a h r 1929 mit 465 Millionen. Imjahre 1929 trat daher, da dem Fehlbetrag des Extraordinariums keine Deckung in Kassenbeständen mehr gegenüberstand und außerdem das steigende Defizit des Ordinariums ebenfalls die Reichskasse belastete, die Kassennot des Reichs sichtbar in Erscheinung und führte zu einer von Monat zu Monat sich steigernden, immer wieder nur behelfsmäßig überbrückten, dem Ansehen und Kredit des Reichs abträglichen Dauerkalamität. Dazu kam, daß die Konjunktur, die nach dem vorübergehenden Wellental des Jahres 1926 ihren Höhepunkt in den Jahren 1927 und 1928 erreicht hatte, abwärts zu gehen begann und daß daher die Steuereinnahmen eine sinkende, die Ausgaben für Arbeitslosenfürsorge eine steigende Tendenz aufzuweisen anfingen. Die Hoffnung, daß die ziffernmäßige Entlastung, die der „Neue Plan", der 1929 an die Stelle des Dawes-Planes trat, zunächst für die Etatslage brachte, in eine Verminderung der Schuldenlast und eine Senkung der Steuern umgemünzt werden könnte, ließ sich nicht erfüllen. Vielmehr forderte die Kassennot alsbaldige Maßnahmen, die tatsächlich das Gegenteil des erhofften Steuersenkungsprogramms darstellten. Der erste Versuch, die Begebung einer neuen Reichsanleihe, der im Sommer 1929 unternommen wurde, führte, da sie nominal nur 179 Millionen, in Wirklichkeit noch weniger erbrachte, zu einem die Finanznot des Reichs nur noch stärker unterstreichenden Mißerfolg. Der zweite Schritt war die Einführung des Zündwarenmonopols, durch das die Kreuger-Anleihe in Höhe von 500 Millionen R M . gesichert wurde. Aber selbst diese Maßnahme, die schon bedenklich an Verzweiflungsbewegungen eines bankrotten Staates erinnerte, konnte die Not nicht bannen. So erging auf Grund eines Eingreifens des Reichsbankpräsidenten Schacht das Gesetz zur außerordentlichen Tilgung

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der schwebenden Reichsschuld vom Weihnachtsabend 1929, nach dem 450 Millionen R M . für diesen Zweck in den Haushalt eingestellt werden mußten. Die Deckung dieses Betrages wurde in einer alsbaldigen Erhöhung der Tabaksteuer und in einem Steuerbukett gefunden, dessen Hauptbestandteile nach langen parlamentarischen Kämpfen neben einer Reihe kleinerer Steuermaßnahmen (Mineralwassersteuer, Mineralölzoll und -Steuer u. a.) vor allem die Erhöhung der Biersteuer um 50 v. H. und der Umsatzsteuer von 0,75 auf 0,85 v. H. bildeten. Überblickt man den ganzen Zeitabschnitt von 1924—1929, so ist kennzeichnend, daß die knappen Etatsjahre 1924/25 eine vorsichtige und vorausschauende Finanzpolitik aufweisen, während in den folgenden reichen Jahren Einheitlichkeit der Linie, Festigkeit und Sorge für die Zukunft zu vermissen sind. Der Fehler lag nicht auf der Seite der Einnahmepolitik. Denn wenn auch einzelne Maßnahmen wie die im J a h r e 1926 erfolgte Senkung der Umsatzsteuer, die gerade in Zeiten aufsteigender Konjunktur das sicherste Rückgrat der Staatseinnahmen bildet, fragwürdig sind, so ist doch in diesen Jahren nach dem Zusammenbruch des Jahres 1923 ein Steuersystem aufgerichtet und ein Steuerrecht geschaffen worden, das zusammen mit der immer fester und einheitlicher werdenden Finanzverwaltung ein geeignetes Werkzeug für eine weitsichtige Finanzpolitik hätte abgeben können. Der Fehler lag vielmehr in der Ausgabepolitik und im Zusammenhang damit in der Behandlung des Kredit- und Kassenproblems. Nun läßt sich der Einwand erheben, daß, solange die Reparationsfrage nicht gelöst war und über Deutschland dauernd das Damoklesschwert der Tribute hing, notwendigerweise fortgewurstelt wurde und daß jede die Ausgabenwirtschaft der öffentlichen Hand zügelnde und auf Vorsorge für die Zukunft bedachte Finanzpolitik nur die Möglichkeit der Erfüllung der Tribute geschaffen hätte. Dieser Einwand bleibt aber an der Oberfläche. Wenn der Dawes-Plan in einem Punkte recht hatte, dann war es darin, daß der Schwerpunkt des Reparationsproblems nicht auf der Aufbringungsseite, die natürlich auch einen — durchaus nicht leichten — Teil des Problems bildete, sondern auf der Transferierungsseite lag. Die Möglichkeit von Reparationsleistungen hing also davon ab, in welchem Umfang Devisen für diese Leistungen zur Verfügung gestellt werden konnten. Es gab nun zwei Wege für die damalige Finanz- und Reparationspolitik. Der eine war der dornenreiche und heroische Weg: Vermeidung einer durch Auslandskredite geschaffenen, künstlichen Reparationsfähigkeit, Ersatz des durch die Inflation vernichteten, zum A u f b a u der Wirtschaft benötigten Kapitals durch eigene Kraft, durch Arbeit und

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Sparen, durch eine entsprechende Geld- und Kreditpolitik, es war der Weg des Sichhochhungerns, den Preußen schon so manches Mal in seiner Geschichte hat gehen müssen und mit Erfolg gegangen ist. Der andere Weg war der bequemere: Hereinnahme von Auslandskrediten, Reparationsmöglichkeit, weitgehende Befriedigung des Investitionsbedarfs der Wirtschaft und der Anleihewünsche der öffentlichen Hand, rascher Übergang zu einer Vollkonjunktur, die durch hohe Steuereinnahmen eine weitherzige und populäre Ausgabenpolitik ermöglichte. Die Schnelligkeit, mit der Deutschland finanziell und wirtschaftlich den Zusammenbruch der ersten Nachkriegsjahre überwand, der starke Kapitalbedarf des durch Krieg und Inflation kapitalarm gewordenen Landes und die daraus folgende Bereitwilligkeit, Zinssätze zu zahlen, die ein Kreditgeber in kapitalreicheren Ländern nicht erhielt, die durch die Reparationsgläubiger geförderte Tendenz, Transfermöglichkeiten durch Auslandskredite zu schaffen, alles dies führte zu einer in ihrer fast unbegrenzten Fülle erstaunlichen Bereitwilligkeit des Auslandes, Deutschland mit Krediten zu versorgen. Und dem Angebot entsprach eine ebenso große Bereitwilligkeit auf Seiten der Nachfrage, wo sich Wirtschaft und öffentliche Hand gleichmäßig an dem Wettlauf um die Auslandskredite beteiligten. Es hätte einer starken Hand und eines starken Willens bedurft, diesen Wettlauf zu zügeln. Die Anleiheberatungsstelle konnte, so gute und nützliche Arbeit sie im einzelnen auch verrichtet hat, keinen vollen Erfolg haben, da ihre Tätigkeit auf die Begutachtung langfristiger Anleihen der öffentlichen Hand beschränkt blieb. Die Gefahr lag aber in dem System der wachsenden Auslandsverschuldung überhaupt und in dem Schwergewicht, das hierbei den kurzfristigen Krediten zufiel. Soweit es sich hierbei um reine Warenkredite handelte, war ein Bedenken nicht zu erheben, das aber um so stärker einsetzte, wenn tatsächlich langfristige Anlagen mit solchen kurzfristigen Krediten in der vagen Hoffnung auf spätere Konsolidierung errichtet wurden. Man kann vielleicht dem einzelnen Unternehmer wie der einzelnen Gemeinde keinen allzu schweren Vorwurf daraus machen, daß sie nicht gegen den Strom schwammen, sondern sich wacker an dem allgemeinen Wettpumpen beteiligten. Die Entscheidung lag bei einer vom Reiche zu führenden straffen Anleihepolitik. Diese Führung setzte nicht ein und konnte unter einem parlamentarischen Regime auch gar nicht einsetzen, da eine solche Politik auf Popularität unter schweren Opfern verzichtet hätte. So mußten warnende Stimmen, wie des Reichsbankpräsidenten Schacht, Stimmen des Predigers in der Wüste bleiben. Das Ergebnis dieser ganzen Zeit war, d a ß

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durch den Devisenzufluß der Auslandskredite erhebliche Tributzahlungen ermöglicht und durch die Verwendung der Markbeträge der Auslandskredite im Innern große, zum Teil über das Notwendige hinausgehende Investionen geschaffen wurden; der Wirtschaftskonjunktur entsprach die Fülle der staatlichen Einnahmen; die laufenden Ausgaben wurden auf diese Konjunktureinnahmen eingestellt, zum Teil, wie wir es beim Reiche gesehen haben, sogar darüber hinaus auf die einmaligen Einnahmen der Reserven der „knappen" Jahre basiert. An dem blauen Himmel dieser Konjunktur stand nur die eine Gewitterwolke, daß ihr Ursprung wie ihr Fortbestand allein an den Auslandskrediten hing; und nur wenige Menschen in Deutschland zerbrachen sich den Kopf über die Fragen, was einmal werden sollte, wenn dieser Konjunktur die Stütze fortgezogen würde, und wie der durch den Schuldendienst für die Auslandskredite lawinenartig ansteigende Devisenbedarf später dauernd gedeckt werden könnte. V. D I E

DEFLATION

Das Knistern im Gebälk, das schon 1929 eingesetzt hatte, setzte sich 1930 in verstärktem Maße fort. Während die Einkommensteuer sich noch verhältnismäßig widerstandsfähig erwies, erlitten die konjunkturempfindlichen Steuern im Vergleich zum Vorjahr bereits einen sehr starken Ausfall. Man wurde zum ersten Male auf die Schwere des Problems der Konjunkturabhängigkeit der öffentlichen Finanzen aufmerksam. Diese Abhängigkeit hat stets bestanden, aber sie hat sich noch nie zuvor in solcher Stärke — und Gefährlichkeit — gezeigt wie in den Nachkriegsjahren. Der Grund hierfür liegt darin, daß in der Vorkriegszeit der größte Teil der Staatsausgaben von den Wirtschaftsschwankungen unberührt blieb und daß erst das Anwachsen des Sozialetats mit seiner Unberechenbarkeit und — vor allem seit Einführung der Arbeitslosenversicherung — seinem, den Rahmen geordneter Etatsführung durch Tempo und Ausmaß der Krisenausgaben sprengenden Schwergewicht die Staatsausgaben insgesamt der Konjunkturabhängigkeit unterwarf. Der zweite wichtige Grund ist der, daß infolge der Kriegs- und Nachkriegsentwicklung der staatliche und kommunale Finanzbedarf einen wesentlich höheren Prozentsatz des Volkseinkommens überhaupt beansprucht und daß daher der Staat gezwungen ist, sich im Wege der Besteuerung viel stärker als früher an alle Vorgänge des wirtschaftlichen Lebens anzuhängen. Flossen in der Vorkriegszeit 1 0 — 1 5 % des Volkseinkommens in die Staatskassen, so müssen in einer Zeit, wo der staatliche und kommunale

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Finanzbedarf 20—30% des Volkseinkommens beanspruchen, Konjunktur wie Krise und das damit verbundene Schwanken des Volkseinkommens den Staatshaushalt von der Einnahmeseite her Schwankungen aussetzen, wie man sie in der Vorkriegszeit nicht kannte. Diesen Schwankungen läßt sich nur durch eine Staatskonjunkturpolitik vorbeugen, deren Maßnahmen, um hier nur kurz die Möglichkeiten und Tendenzen aufzuzeigen, vor allem in einer Reservenpolitik in Zeiten des Aufschwungs bestehen müssen; diese Reservenpolitik muß sich auf der Ausgabenseite dahin auswirken, daß die Ausgaben nicht den Einnahmesteigerungen des Aufschwungs entsprechend ausgedehnt, sondern daß staatliche Aufträge für Zeiten des Rückschlags aufgespeichert werden, auf der Einnahmeseite dadurch, daß durch eine entsprechende Steuerpolitik die Gefahr des Konjunkturumschlags gemildert und für Krisenzeiten die Möglichkeit einer Erhöhung der konjunkturunempfindlichen Steuern vorgesehen wird; eine solche Ausgabe- und Einnahmepolitik, die mit einer gleichen Reservenpolitik auf dem Gebiet des Kreditwesens Hand in Hand gehen muß, ist vielleicht noch wichtiger als die oft empfohlene und grundsätzlich durchaus richtige Ansammlung von Reserve- oder Ausgleichfonds in Zeiten der Konjunktur für Zeiten der Krise. Es ist einer der Gründe für das starke Ausschlagen des Pendels in den Krisenjahren, daß in der Finanzwirtschaft der vorhergehenden Jahre kaum ein Ansatz für eine solche Konjunkturpolitik zu finden ist. Für die Ausgabe- und Einnahmeseite ist das bereits geschildert worden. Wenn man dazu noch berücksichtigt, daß auch auf dem Kreditgebiet keine Reservenpolitik getrieben worden war, daß vielmehr in den reichen Jahren von 1926—1930 die Schulden in Reich, Ländern und Gemeinden von rund 11 auf 21,3 Milliarden R M . angestiegen sind, dann ist die Feststellung berechtigt, daß die Krise auf öffentliche Finanzen traf, die für ihre Milderung oder gar Überwindung in keiner Weise gerüstet und völlig reservenlos waren. Da sich kein Puffer zur Milderung des Stoßes fand, mußte sich der Rückschlag, den die Wirtschaft durch die Entziehung der künstlichen Stützen, der kurzfristigen Kredite des Auslandes, erlitt, in voller Schwere auf die öffentlichen Finanzen auswirken. Hatte in den vorhergehenden Jahren die Konjunktur ihren Einfluß auf die öffentliche Finanzwirtschaft in einem starken Ansteigen der Steuereinnahmen bewiesen, so vollzog sich nun die Wirkung der Krise mit gleicher unerbittlicher Gewalt. Wie die steuerlichen Einnahmen einen — j e nach dem Grade ihrer Konjunkturempfindlichkeit in Tempo und Ausmaß verschiedenen — Rückgang aufwiesen, so erhöhten sich auf der Aus-

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gabenseite die Ausgaben für Soziallasten und nahmen dadurch den öffentlichen Haushalt in die „doppelte Schere". Hatte der Finanzbedarf von Reich, Ländern und Gemeinden zusammen 1925: 14,5, 1926: 17,2, 1927: 18,8, 1928: 20,8, 1929: 20,9 betragen, so ging er 1930 auf 20,4, 1931 auf 17, 1932 auf 14,5 Milliarden R M . zurück, er sank also wieder auf die Höhe des Jahres 1925. Der gewaltige Rückgang der Ausgaben um über 6 Milliarden R M . war die Zwangsfolge des in der Krisenzeit eintretenden Einnahmeausfalls. Obwohl seit 1929 Steuererhöhungen in großem Umfang vorgenommen wurden — Erhöhung der Tabak-, Bier-, Umsatz-, Zuckersteuer, Einführung der Mineralöl- und Salzsteuer, der Ledigensteuer, des Zuschlags auf alle Einkommen über 8000 RM., der Krisensteuer, der Schlachtsteuer, der Bürgersteuer, der Gemeindegetränkesteuer —, die insgesamt Mehreinnahmen von 2,5 Milliarden erbrachten, konnten diese Erhöhungen den Ausfall, der bei Steuern und Zöllen insgesamt 5,9 Milliarden R M . ausmachte, nur zu einem Teil wieder ausgleichen; 3,4 Milliarden blieben als Verlust übrig. Dazu kam der Rückgang der Anleiheeinnahmen mit 1,5 und der sonstigen Einnahmen mit 0,5 Milliarden, so daß sich, auch wenn man den Ausfall an Reparationssteuern (Dienst der Deutschen Reichsbahn und der Industrieobligationen) unberücksichtigt läßt, ein Gesamtrückgang der Einnahmen um 5,4 Milliarden R M . ergibt. Auf der Ausgabeseite verschlechterte sich die Lage durch die Erhöhung der Soziallasten, die weit über 1 Milliarde hinausging. Die Einsparungen beliefen sich auf der Ausgabenseite — abgesehen von dem Fortfall der bereits 1931 völlig unmöglich gewordenen Kriegstributzahlungen — auf rund 1,2 Milliarden bei den persönlichen Ausgaben (mehrfache Gehaltskürzungen), 2,5 Milliarden bei Neubauten, Darlehensgewährung, Fondsbildung, 1,9 Milliarden bei sonstigen Ausgaben. Man bekommt einen Begriff von der Schwere dieser tief in das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der Nation einschneidenden Kürzungen, wenn man hört, daß bei den Ländern und Gemeinden der Ausgabenrückgang bei den einzelnen Ausgabengebieten zwischen 25 und 40 v. H. schwankte, beim Wohnungswesen infolge der zwangsläufig eingetretenen Aufhebung der Verwendung der Hauszinssteuer für Bauzwecke sogar 90 v. H. ausmachte. Trotz aller Steuererhöhungen und Sparmaßnahmen wurde der Etatsausgleich nicht erreicht. Der Gesamtfehlbetrag bei Reich, Ländern und Gemeinden (einschl. der Fehlbeträge aus Vorjahren) stieg von 1,4 Milliarden RM. 1929 auf mehr als 3 Milliarden am Schluß des Rechnungsjahres 1932. Die Kassennöte wurden zum Dauerzustand. Sie führten dazu, daß die

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Termine der Gehalts- und anderer Zahlungen hinausgeschoben wurden, daß die Gehälter vielfach nicht einmal mehr in Halbmonatsraten, sondern für noch kürzere Zeiträume gezahlt, daß Steuereinnahmen für das Land von den Gemeinden nicht abgeführt, umgekehrt den Gemeinden gebührende Steuerüberweisungen von den Ländern einbehalten wurden. So hatten die Gemeinden am 31. März 1933 über 500 Millionen R M . Zahlungsrückstände. Es war der kaum noch verschleierte Bankerott. U n d die gleichen Fehlbeträge, wie sie der Haushalt des Reichs, der Länder und der Gemeinden aufwies, zeigten sich im Etat der Arbeitslosenversicherung und der übrigen Sozialversicherungen; das Ende der Sozialversicherung in Deutschland schien gekommen zu sein. Wenn die Frage gestellt wird, ob diese Deflationsperiode mit ihren das deutsche Volk zum zweiten Male in kurzer Zeit an den Rand des Hungers und der Verzweiflung treibenden Methoden und Wirkungen vermeidbar gewesen wäre, so läßt sich diese Frage durchaus nicht etwa ohne weiteres bejahen. Der Ausgabenstandard der öffentlichen Hand war zweifellos über die Grenze hinausgewachsen, die durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands gezogen war, und mußte daher dieser Leistungsfähigkeit angepaßt werden. D a ß aber diese notwendige Anpassung keine Gesundung brachte, sondern den kranken Körper immer weiter schwächte bis zur völligen Erschöpfung, das lag einmal daran, daß der in Krisenzeiten durchaus berechtigte Ausweg, neben Erhöhungen der in der Konjunkturzeit nicht ausgeschöpften Steuern und neben den Kürzungen der tatsächlich über das wirtschaftlich zulässige M a ß hinaus erhöhten Ausgaben den Kassenbedarf und die Erteilung von Krisenaufträgen durch Aufnahme von Krediten zu decken, infolge der Lage des Kreditmarkts verschlossen war. U n d der zweite damit im Zusammenhang stehende Grund war, daß trotz des Stillhalteabkommens dfer Kapitalabfluß aus Deutschland sich weiter fortsetzte, bis auch die letzte Reserve, der Gold- und Devisenbestand der Reichsbank, völlig erschöpft war. Es lief so das kostbare Blut des hungernden und ausgezehrten Volkskörpers aus einer Wunde, die zu schließen kein Amfortasspeer sich fand. Die Folge war, daß die Deflation nicht an einer Grenze Halt machen konnte, sondern ständig weitergetrieben werden mußte und, da sie nun überall in Fleisch und Leben schnitt, ihrerseits zu einer Verschlimmerung der Wirtschaftslage beitrug. Die Schrumpfungsmaßnahmen, die das Ziel des Etatsausgleichs erreichen sollten, führten in stets zunehmendem Maße zu einem weiteren Verfall des Wirtschaftslebens mit der Folge erneuter Steuerausfälle und vermehrter 30

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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Arbeitslosigkeit und damit vermehrter sozialer Ausgaben. Der durch jede neue Notverordnung — wie im J a h r e 1923 versagte in Krisenzeiten das parlamentarische System und wurde durch das zu einer traurigen Berühmtheit gelangte System des Art. 48 der R V . abgelöst — erlangte kurze Zeitaufschub, den die Kassennot erheischte, sollte nicht eine der beiden gleicherweise unmöglichen Alternativen, der völlige Staatsbankerott oder eine zweite Inflation, eintreten, wurde durch einen erneuten Fehlbetrag wettgemacht, der gerade durch die Notverordnung mitverursacht war. So wuchs sich die Deflation zu der verhängnisvollen Schraube aus, deren Wirkungen ein ganzes Volk schaudernd spüren mußte. Wie 1923 war das Ende da und eine Wendung mußte folgen. Bevor auf diese Wendung eingegangen wird, verdient eine Entwicklung Erwähnung, die ebenso kennzeichnend für die Krise wie für die Finanzpolitik der damaligen Zeit war. Der Wirtschaftszusammenbruch, der in Mitteleuropa zuerst in dem Schlage, den die Österreichische Kreditanstalt in Wien erhielt, weithin erkennbar wurde und dann in dem deutschen Bankenkrach seine Fortsetzung nahm, veranlaßte den Staat zu einer großen Reihe von Stützungsmaßnahmen, die ihren Ausdruck in Krediten, Zuschüssen, Beteiligungen, Garantien fanden. Wenn sich diese Sanierungsbestrebungen in erster Linie den Kreditinstituten zuwandten, so war hierfür die Sorge maßgebend, daß der Zusammenbruch eines Kreditinstituts zu Angstabhebungen auf der ganzen Linie und dadurch zu Zusammenbrüchen nicht absehbaren Umfangs führen könnte. Man sagte sich, daß eine das Loch stopfende Ausgabe den Reichshaushalt schließlich weniger belasten würde, als wenn 'man sich das Loch zu einem Abgrund erweitern ließ. Es ist damals auch immer wieder die Anschauung vertreten worden, daß es nicht nur unter sozialen Gesichtspunkten, sondern auch flnanz- und wirtschaftspolitisch gesehen, richtiger sei, ein vor dem Bankerott stehendes Unternehmen mit öffentlichen Mitteln zu stützen, als die infolge des Zusammenbruchs arbeitslos werdenden Arbeiter der Arbeitslosenunterstützung zu überantworten. Wenn auch in solchen Überlegungen manches Richtige stecken mag, so hat man doch zweifellos in den Krisenjahren den Stützungsgedanken überspannt und hat den Staat auch in solchen Fällen sanieren lassen, wo eine wirkliche staatspolitische Notwendigkeit nicht bestand. Die Folge solcher Überspannung ist einmal die, daß der Haushalt der öffentlichen Hand, d. h. die Gesamtheit der Steuerzahler, in Anspruch genommen wird zur Rettung eines Einzelnen, was sich eben nur beim Vorliegen eines durchschlagenden staatspolitischen Interesses recht-

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und

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fertigen läßt. Zum andern wird der Tatsache, daß jede Krise zwar ein Unwetter, aber auch ein reinigendes Unwetter ist, das Krankes und Morsches ausmerzt, nicht Rechnung getragen; das Gewitter reinigt nicht, es bleibt vielmehr ein meist nur vorübergehend und künstlich aufgehaltener Krankheitsherd, der später die Überwindung der Krise nur erschwert. Endlich ist es eine der schlimmsten Verletzungen der Grundsätze eines auf Selbstverantwortung und Privatinitiative des Unternehmers aufgebauten Wirtschaftssystems, wenn der Staat dem Einzelunternehmer die Gefahr des Zusammenbruchs — mag dieser Folge eines Fehlers des Unternehmers oder lediglich krisenbedingt sein — abnimmt. Man kann sogar weitergehend sagen, daß die „Sozialisierung der Verluste", die vor allem das J a h r 1931 teils unter dem Druck parlamentarischer Wünsche, die jeden — vielleicht notwendigen — Einzelfall zu verallgemeinern und auszudehnen geneigt waren, teils als Folge einer immerhin begreiflichen Krisennervosität mit sich brachte, j e d e s wirtschaftliche System notwendig zugrunde richtet und — hier liegt eine der schlimmsten Gefahren dieser Methode — korrumpiert. Der Subventionismus der Krisenjahre war in Wirklichkeit auch nur eine der Ausdrucksformen der politischen und weltanschaulichen Grundauffassung eines Systems, das nicht den Mut fand, der harten Wirklichkeit ins Auge zu sehen, sondern in der weichen Luft des Wohlfahrtsideals an Stelle gestaltender Kraft und aktiven Handelns den passiven Ausweg des Unterstützens geradezu zur Maxime der Staatsführung werden ließ. Das seit Kriegsende eintretende Anschwellen der sozialen Unterstützungen ist ebenso kennzeichnend hierfür, wie die Erfüllungspolitik oder die Aufwendungen für Erbkranke, kennzeichnend deshalb, weil diesen Staatsausgaben die Note der Passivität, des Treibenlassens, gegenüber den Nöten und Gefahren für Staat und Volk anhaftet, ohne daß ein auf positive, in die Ferne weisende Ziele gerichteter Staatswille erkennbar wird. Das Ausweichen vor heroischen Entschlüssen in die bequemere Sphäre der Aushilfsmittel ist im tiefsten Grunde die Ursache für die Erfüllungspolitik wie für die Inflation, für die Gewährung von Unterstützung statt von Arbeit wie für die übermäßige Aufnahme ausländischer Kredite — um nur die kennzeichnendsten Beispiele zu nennen — gewesen. Und selbst in der scheinbaren Energie der Deflationspolitik ist diese Note der Passivität nicht zu verkennen; denn sie bestimmte nicht das Gesetz des Handelns, sondern es wurde ihr durch die wirtschaftliche Lage, durch die Verhältnisse aufgezwungen, die sie zu meistern nicht in der Lage war. 30«

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V I . D I E WENDUNG Die Erkenntnis, daß mit den Mitteln der Deflation eine Überwindung der Krise nicht mehr möglich sei, daß vielmehr durch eine Fortsetzung der Deflation nur die verhängnisvolle Schraube, von der bereits gesprochen ist, erneut in Drehung gesetzt werde, griff bereits 1932 Platz und führte im Herbst 1932 zu dem auf Lösung der wirtschaftlichen Erstarrung durch Weckung der privaten Initiative abgestellten System der Steuergutscheine, das mit einem ersten Arbeitsbeschaifungsprogramm in Verbindung gebracht wurde. Der Gedanke, durch Abbau steuerlicher Lasten eine Wirtschaftsbelebung eintreten zu lassen, ist nicht neu; das Neue war, daß man diesen Gedanken zu verwirklichen suchte, ohne im laufenden Rechnungsjahr einen steuerlichen Ausfall eintreten zu lassen, den die damalige Etats- und Kassenlage nicht übernehmen konnte; so ließ man mit den Steuergutscheinen dem Steuerzahler die Entlastung alsbald zugute kommen, verteilte aber den zu Lasten des Reichshaushalts gehenden Ausfall auf eine Reihe künftiger Jahre. War damit auch der böse Kreislauf der Deflation in sinnvoller Weise durchbrochen, so konnte doch diese Lösung nicht die endgültige und befreiende Wendung sein. Daß sie diese Wendung nicht sein konnte, liegt an dem gerade hier besonders deutlich werdenden Zusammenhang der Finanzwirtschaft mit der allgemeinen Staatspolitik. Erst eine völlige Um- und Neugestaltung unseres politischen Lebens konnte die notwendige Wendung in der Finanzwirtschaft und Finanzpolitik bringen. Erst die Machtübernahme durch Adolf Hitler schuf politisch und psychologisch die Grundlagen, auf denen eine neue Konjunkturpolitik aufgebaut werden konnte. Sonach ist die Frage, ob überhaupt vor der Machtübernahme durch Adolf Hitler eine andere Finanzpolitik als die in den Krisenjahren tatsächlich befolgte mit Aussicht auf Erfolg hätte betrieben werden können, — ganz unabhängig von der Frage, ob und welche Fehler im einzelnen in diesen Jahren gemacht sein mögen — allein aus dem allgemeinen Grunde der bis dahin fehlenden politischen Untermauerung zu verneinen. War aber im Frühjahr 1933 politisch diese Grundlage geschaffen, so waren damals auch wirtschaftlich die Voraussetzungen für eine völlige Wendung der Finanzpolitik gegeben. Denn einmal hatte die Krise in Deutschland ihren tiefsten Punkt erreicht, das Abwärtsgleiten hatte aufgehört und war in den Zustand der Erstarrung übergegangen. Der Eiter der verschiedenen Krisenherde war aus dem Körper des Patienten ausgeströmt, der zwar noch völlig blutleer und geschwächt, aber doch wieder gesundungs-

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und

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fähig war. U n d zum andern war eines der größten Hindernisse jeder allgemeinen Wirtschaftsbelebung, die Reparationen, praktisch und endgültig beseitigt, wenn auch der in die privatwirtschaftliche Anleiheform der Dawes- und Young-Anleihe übergeführte Teil der Tributlast weiter eine schwere Belastung des deutschen Volkes bildete. So lagen politisch wie wirtschaftlich die Voraussetzungen vor, um durch einen radikalen Wechsel in den Grundsätzen und Methoden der Finanz- und Wirtschaftspolitik aus der hoffnungslos verfahrenen Lage zur Rettung und Gesundung zu kommen. Es handelte sich nicht darum, ein theoretisch nach allen Seiten durchdachtes und ausgefeiltes Wunderrezept zur Anwendung zu bringen, sondern die aktuellen Probleme mit Tatkraft anzupacken. Das nächstliegende war das seit vier Jahren unaufhaltsame Anwachsen der Arbeitslosigkeit. Im Winter 1932/33 war mit 6,1 Millionen der Höchststand erreicht; und dabei war dies nur die Zahl der bei den Arbeitsämtern registrierten Arbeitslosen, die Zahl der tatsächlich Erwerbslosen war viel höher, so daß über ein Drittel der Bevölkerung Deutschlands unter dieser furchtbaren Geißel seufzte. Es galt daher zunächst einmal die gesamte Finanzpolitik, die Steuer-, Etats- und Kreditpolitik in den Dienst der Arbeitsschlacht und damit der Konjunkturpolitik überhaupt zu stellen. So bilden die verschiedenen Maßnahmen aus dem Bereich des öffentlichen Haushalts, auf steuerpolitischem Gebiet, auf dem Gebiet der Kapitalmarkt- und Zinspolitik einen nach einem großen Ziele ausgerichteten einheitlichen Plan, dessen einzelne Teile und Phasen nicht isoliert, sondern nur im großen Zusammenhang betrachtet werden können. Charakteristisch ist zweierlei, einmal die Stärke, mit der sich an Stelle der bisherigen Passivität der aktivistische Gedanke durchsetzte, der ebenso steuerpolitische Maßnahmen auch für außerfiskalische Zwecke aktivierte, wie die Ausgabeseite einer aktiven Konjunkturpolitik dienstbar machte, zum andern die Entschlossenheit, mit der angesichts der Fehlbeträge in den öffentlichen Haushalten, der auf einen kaum glaublichen Tiefstand abgesunkenen öffentlichen Einnahmen, der gerade in den Krisenjahren in gefährlicher Weise gewachsenen kurzfristigen Verschuldung zu schwersten Bedingungen, des völligen Mangels an allen Reserven, das einzige Aktivum, über das der Staat noch verfügte, der Staatskredit in die Bresche geworfen wurde. Eine unmittelbare und schleunige Rückführung großer Massen von Erwerbslosen in Arbeit und Brot war nur dem als Arbeitgeber auftretenden Staat, also durch Bereitstellung öffentlicher Mittel in ausreichendem U m f a n g möglich. D a hier ordentliche Deckungsmittel nicht zur Verfügung standen und Mittel des freien Kapitalmarkts ebenfalls nicht

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greifbar waren, blieb nur der Weg der vorübergehenden, kreditweisen Inanspruchnahme in der Zukunft liegender Reserven übrig. Er war nicht eine von verschiedenen Möglichkeiten, sondern die einzige Möglichkeit, von der aber nur eine starke, von dem Vertrauen des ganzen Volkes getragene und mit der Kraft und Fähigkeit, auf lange Sicht zu disponieren, ausgestattete Staatsgewalt Gebrauch machen konnte; den voraufgegangenen Regierungssystemen wäre diese Möglichkeit verschlossen gewesen. Inflatorische Maßnahmen wurden abgelehnt; es wurden vielmehr die Zukunftsreserven in den Dienst der Gegenwartsaufgaben gestellt, und zwar die Zukunftsreserven, die durch die neue aktive Kreditpolitik geschaffen werden sollten. Diesen von einem starken Optimismus getragenen Weg des Vorgriffs auf künftige Einnahmen der öffentlichen Hand konnte nur eine Regierung beschreiten, die nach der Beseitigung des Parteienstaates von parlamentarischen Interesseneinflüssen frei und ihrer eigenen Stärke und Dauerhaftigkeit bewußt war. Diese neue Konjunkturpolitik fand ihren ersten und kennzeichnendsten Ausdruck in einem großangelegten System von Maßnahmen zur unmittelbaren Arbeitsbeschaffung durch Inangriffnahme öffentlicher Arbeiten, in den sog. A r b e i t s b e s c h a f f u n g s p r o g r a m m e n . Standen zur Führung des Kampfes um die Verminderung der Arbeitslosigkeit in gewissem Umfang noch Mittel des Papen-Programms, das insgesamt rund 300 Millionen RM., und des sog. Sofortprogramms, das 500 Millionen RM. vorgesehen hatte, zur Verfügung, so hat sich die Regierung Adolf Hitlers in einem Gesetzgebungswerk, das sich über das ganze Rechnungsjahr 1933 hin erstreckte, ein weiteres Rüstzeug für die Arbeitsschlacht geschaffen, das sie immer verstärkte und der jeweiligen Kampflage anpaßte. Es wurde zunächst das Sofortprogramm um 100 Millionen erhöht und sodann mit dem sog. Reinhardt-Programm der Entscheidungskampf gegen die Arbeitslosigkeit eingeleitet. Schon der geldliche Umfang dieses Programms von 1 Milliarde R M . ließ den unbeugsamen Willen der Reichsregierung erkennen, durch Erteilung öffentlicher Aufträge größten Stils Massen von Arbeitslosen den Wiedereintritt in das Erwerbsleben zu ermöglichen und zugleich durch Steigerung ihrer Kaufkraft der Wiederbelebung der darniederliegenden Privatwirtschaft den Weg zu bereiten. Der äußere Rahmen der Arbeitsbeschaffung erfuhr durch das Reinhardt-Programm insofern eine bedeutsame Lockerung, als es die Beschränkung der bisherigen Programme auf eine begrenzte Auswahl genau umschriebener Arbeitsgebiete fallen ließ und die Förderung sonstiger, auch mit größerem Materialaufwand verbundener, volkswirtschaftlich wertvoller

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Arbeiten, insbesondere auch auf dem Gebiete des Hochbaus, gestattete. Die Erkenntnis, daß die erstrebte Entlastung des Arbeitsmarkts erst nach einer gewissen Anlaufzeit eintreten konnte und daß auf zahlreichen Gebieten mit einer umfassenden Wirkung des Programms vor dem Frühjahr 1934 nicht zu rechnen war, bestimmte die Reichsregierung, noch im Herbst 1933 eine zweite, anders geartete Maßnahme einzuleiten, deren schlagartiger Einsatz in wirksamer Weise eine alsbaldige Entlastung des Arbeitsmarktes herbeiführen sollte. Für Instandsetzungs- und Umbauarbeiten an Gebäuden, für Teilung von Wohnungen usw. stellte das Reich 20- bis ¿oproz. Zuschüsse in Höhe von 500 Millionen R M . zur Verfügung und gewährte auf den von dem Träger der Arbeit selbst aufzubringenden Kostenanteil auf 4 v. H. lautende Zinsvergütungsscheine für 6 J a h r e in Höhe von rund 350 Millionen R M . Insgesamt hat das Reich an Mitteln zur Förderung der unmittelbaren Arbeitsbeschaffung bis 1934 zur Verfügung gestellt: Papen-Programm Sofortprogramm Reinhardt-Programm Bedarfsdeckungsscheine Gebäudeinstandsetzung Spende zur Förderung der nationalen Arbeit

300 Mill. R M . 600 ,, „ 1000 „ „ 70 ,, ,, 500 „ „ 140 „ ,, 2610



Dazu treten die Aufwendungen des Reichs für die Nebenkosten der Programme in Höhe von rund 200 Millionen und für die Zinsvergütungsscheine in Höhe von 350 Millionen R M . Rechnet man hierzu, was aus dem Etat fürWohnungsbau, insbesondere die vorstädtische Kleinsiedlung, ferner durch die Arbeitsbeschaffungsprogramme der Reichsbahn und Reichspost, durch den Reichsautobahnbau und die Grundförderungsbeträge der Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung bereitgestellt wurde, so kommt man zu einem Gesamteinsatz von über 5 Milliarden R M . bis Ende 1934. Ein großer Teil dieser Mittel ist auf dem Kreditweg unter Zwischenschaltung selbständiger Institute finanziert worden; die Belastung des öffentlichen Haushalts tritt erst ein, wenn die Vorfinanzierungskredite getilgt oder konsolidiert werden. Da in Aussicht genommen war, die Kredite in 5 Jahren, nämlich von 1934 bis 1938, abzudecken, gestaltet sich die Belastung des Reichsetats durch diese Abdeckung wie folgt:

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Lutz

Graf Schwerin von Krosigk (in Millionen R M . )

Papen-Programm Steuergutscheine . Sofortprogramm . Reinhardt-Programm . Zinsvergütungsscheine

'934 '935 1936 1937 1938 190 55 — — — 352 81 63 58

460 162 283 58

468 154 268 58

480 145 258 58

492 138 248 58

744

1018

948

941

936

Es ist das beste Zeichen für die Berechtigung des der aktiven Kreditpolitik zugrunde liegenden Optimismus, daß diese Summen bisher regelmäßig in den Etat eingestellt und abgedeckt werden konnten. Es gehörte zu dem Gesamtplan der Regierung, daß sie in der S t e u e r p o l i t i k ebenfalls die bisherige, rein fiskalisch ausgerichtete Linie verließ und den Weg einer aktiven Politik einschlug. Sie wagte es daher, Steuererleichterungen anstatt in dem die Wirkung verzögernden und den Ausfall auf mehrere Jahre verteilenden System der Steuergutscheine sofort und unter unmittelbarer Belastung des Etats eintreten zu lassen. Dabei half ihr neben der Erkenntnis, daß ein Einnahmeausfall in besonders produktionshemmenden Steuern infolge Mehreinstellung von Arbeitskräften zu Einnahmeerhöhungen in anderen Steuerarten und zu Ausgabeersparnissen besonders bei der Arbeitslosenfürsorge führen werde, vor allem die auf der Wiederkehr des Vertrauens zur Regierung beruhende und in ständiger Zunahme begriffene Besserung der Steuermoral. Das Ziel dieser Steuerpolitik war, der arbeitschaffenden Betätigung der öffentlichen Hand eine gesunde und natürliche Ergänzung durch eine vermehrte private Auftragserteilung in der Wirtschaft zu geben und diese Auftragserteilung teils durch unmittelbare Beseitigung Verbrauchs- und erzeugungshemmender Steuern, teils durch den Anreiz zu fördern, den bestimmte Steuererleichterungen dem Pflichtigen in Richtung auf ein positives Handeln boten. Man ging also nicht auf eine allgemeine Senkung der Steuerlast aus, sondern auf ganz bestimmte, in ihrer Zielsetzung verschieden geartete, in ihrer Auswirkung übersehbare Erleichterungen. Den Gedanken, die stärkere Beschäftigung von Arbeitnehmern unmittelbar zu begünstigen, findet man z. B. in den Maßnahmen zur Überführung weiblicher Hilfskräfte in die Hauswirtschaft verwirklicht; dem Arbeitgeber wurde für bis zu drei in seinem Haushalt beschäftigte Hausgehilfinnen die bei der Einkommensteuer vorgesehene Kinderermäßigung gewährt. Ein ähnlicher Gedanke kommt in dem Gesetz über die Förderung der Eheschließungen dadurch zum Ausdruck, daß die Gewährung von Ehestandsdarlehen das Freimachen von

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und

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Arbeitsplätzen durch die mit ihrer Verheiratung aus dem Arbeitnehmerstande ausscheidenden Frauen fördern soll. Die Vorschrift des gleichen Gesetzes, daß die Ehestandsdarlehen nicht in bar, sondern in Bedarfsdeckungsscheinen gegeben werden, die den Empfänger zum Bezug von Hausrat und Möbeln berechtigen, leitet zu einer anderen Gruppe von Maßnahmen über, die das Ziel einer Erhöhung des Beschäftigungsgrades durch Steigerung der privaten Auftragserteilung zum Ziele haben. Diesem Ziele diente, vor allem auf dem Gebiet der Maschinenindustrie, die Möglichkeit, Aufwendungen für Maschinen und ähnliche Gegenstände bei der Ermittlung des Gewinns abzusetzen, auf dem Gebiete der Bauwirtschaft die Möglichkeit, die Einkommen- und Körperschaftsteuer um 10 v. H. der Aufwendungen für Arbeiten an Betriebsgebäuden zu ermäßigen u. ä. Eine über die Grenzen eines einzelnen Wirtschaftszweiges hinaus sich erstreckende Wirkung hatte die Bestimmung, die Unternehmungen zur Entwicklung neuer Herstellungsverfahren oder zur Herstellung neuartiger Erzeugnisse von überragender Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft von laufenden Steuern für eine bestimmte Zeit ganz oder teilweise befreit. Schließlich sind in einer Reihe von Gesetzen verschiedene Erzeugung und Absatz hemmende Steuern beseitigt oder ermäßigt. Hierher gehört vor allem die Befreiung neuer Personenkraftwagen von der Kraftwagensteuer und die Aufhebung der Schaumwein- und Mineralwassersteuer. Hierher gehört auch die Senkung der Abgabe zur Arbeitslosenhilfe durch das Gesetz vom 24. 3. 1934, die das Abgabenaufkommen aus dem betroffenen Personenkreise, das bisher rund 525 Millionen betragen hatte, auf jährlich 230 Millionen R M . festsetzte, und die Erhöhung der Freigrenze bei der Bürgersteuer. Die gleichzeitig durchgeführte, stärkere Berücksichtigung des Familienstandes bei der Bürgersteuer führt zu der Gruppe bevölkerungspolitischer Maßnahmen, die neben der Einführung der Ehestands- und Kinderbeihilfen ihren Ausdruck in der erhöhten Berücksichtigung des Familienstandes bei der Einkommen-, der Erbschaft- und Vermögensteuer finden. Im wesentlichen konjunkturpolitisch bedingt war auch die Senkung der Umsatzsteuer für den Binnengroßhandel auf 1/2 v. H., während die Senkung der landwirtschaftlichen Grundsteuer um einen Jahresbetrag von 100 Millionen R M . und der landwirtschaftlichen Umsatzsteuer von 2 auf 1 v. H. mehr ernährungspolitische Ziele verfolgte. So findet auch die Senkung der Grundsteuer für den älteren Neuhausbesitz und die Senkung der Hauszinssteuer in der durch das Gesetz zur Förderung

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des Wohnungsbaues vom 30. März 1935 vorgesehenen Form ihre Begründung weniger in konjunkturpolitischen Zielen als in den besonderen Verhältnissen und der steuerlichen Behandlung des Hausbesitzes; allerdings ermöglichte die besondere Form der Senkung der Hauszinssteuer, die dem Hausbesitzer an Stelle einer unmittelbaren Senkung Anleihestücke in Höhe des zu senkenden Betrages gewährt, die Verwendung dieses Betrages für Wohnungsbauzwecke und damit für eine weitere Förderung der Arbeitsbeschaffung. Man kann insgesamt die in den Jahren 1933—1935 gewährten unmittelbaren Steuersenkungen auf 1 — i 1 ^ Milliarden R M . beziffern. Keine Steuersenkung brachte der Umbau der Einkommensteuer im Jahre 1935. In der neuen Einkommensteuer sind die Einkommensteuer, der Zuschlag für die Einkommen von mehr als 8000 RM., die Krisensteuer der Veranlagten, die Abgabe zur Arbeitslosenhilfe und die Ehestandshilfe zusammengefaßt. Ein Vergleich der Sätze der neuen mit denen der bisherigen Einkommensteuertabelle ist daher nicht möglich; materiell hat sich, da das Steueraufkommen unter dem neuen Tarif nicht geringer sein sollte als der Betrag, der sich ohne Neugestaltung ergeben hätte, eine Belastungsverschiebung in doppelter Richtung ergeben. Durch die Einbeziehung der bisher allein auf den Lohnund Gehaltsempfängern ruhenden Abgabe zur Arbeitslosenhilfe wurde die bisherige Verschiedenheit der Belastung der Veranlagten und der Lohnsteuerpflichtigen beseitigt; dadurch hat sich im allgemeinen die Belastung etwas zuungunsten der Veranlagten verschoben. Ferner ist der durch die wesentliche Erhöhung der Kinderermäßigung eintretende Ausfall durch eine entsprechende Mehrbelastung der Ledigen und der kinderlos Verheirateten ausgeglichen. Konjunkturpolitisch ist von besonderer Bedeutung, daß für kurzlebige Wirtschaftsgüter, d. h. solche, deren Nutzungsdauer erfahrungsgemäß 5 Jahre nicht übersteigt, Abschreibungsfreiheit gewährt ist, daß also die Abschreibung nicht auf die Gesamtnutzungsdauer verteilt zu werden braucht, sondern bereits im J a h r der Anschaffung oder Herstellung voll vorgenommen werden darf. Die völlig veränderte wirtschaftliche und etatpolitische Lage, auf die noch näher einzugehen sein wird, nötigte schließlich im Herbst 1936 an einer Stelle wieder eine Steuererhöhung vorzunehmen. Die Körperschaftsteuer wurde von 20 v. H. auf 30 v. H. heraufgesetzt. Diese Erhöhung ist der beste Beweis für den Willen der Reichsregierung, sich, ohne Festlegung auf ein für alle Zeiten und alle Verhältnisse gültiges Wunderrezept, den veränderten Verhältnissen jeweils anzupassen und alsbald danach zu handeln.

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Zu dem einheitlichen großen Plan der neuen Konjunkturpolitik gehörte auch eine K a p i t a l m a r k t - u n d Z i n s p o l i t i k , die sich die Belebung der Wirtschaft durch eine Senkung des allgemein überhöhten Zinssatzes in Deutschland und die Möglichkeit der Konsolidierung kurzfristiger Schulden auf dem Kapitalmarkt zum Ziele setzte. Dieses Problem wurde durch eine große Reihe ineinandergreifender Einzelmaßnahmen gelöst. Dem Ziele dienten zunächst die beiden Schuldenregelungsgesetze, das Gesetz zur Regelung der landwirtschaftlichen Schuldverhältnisse vom i . J u n i 1933 und das Gemeindeumschuldungsgesetz vom 21. September 1933. Diese Gesetze führten für die durch die Um- und Entschuldung geänderten Schuldverhältnisse im allgemeinen einen Zinssatz von 4 v. H. ein. Dem Gemeindeumschuldungsgesetz kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil es die Gemeindefinanzen wie den Kapital- und Geldmarkt von dem ständigen Druck der kurzfristigen Gemeindeschulden befreite — der Anteil der kurzfristigen Schulden an der Gesamtverschuldung der Gemeinden sank von 22,2 v. H. am 3 1 . März 1933 auf 6,6 v. H. am 3 1 . März 1934 — und durch die Verminderung des jährlichen Zinsaufwandes für die Gemeindeschulden um rund 1 / i Milliarde R M . in Verbindung mit der Entlastung der Gemeinden von ihren in der Krisenzeit verhängnisvoll angewachsenen Wohlfahrtslasten die Gemeindeetats wieder auf eine gesunde Grundlage stellte. Als besonders wichtig erwies sich auch die Bestimmung des Gemeindeumschuldungsgesetzes, daß die Aufnahme neuer Darlehen durch die Gemeinden nur dann genehmigt werden sollte, wenn die Verzinsung im wirtschaftlichen Gesamtergebnis nicht mehr als 4 v. H . betrug. Bei der Durchführung dieses Grundsatzes gelang es, im Gesamtdurchschnitt zu einem effektiven Zinssatz von etwas unter 5 v. H. zu kommen und die Kreditinstitute an niedrigere Zinssätze zu gewöhnen. So hatte sich im Zeitpunkt der großen Konversionen Anfang 1935 im Bereich des öffentlichen Kredits der neue Sonderzinsfuß bereits weitgehend durchgesetzt. Vor allem hatten aber die Umschuldungsmaßnahmen das Vertrauen in den öffentlichen Kredit wiederhergestellt. Hierdurch und durch eine Reihe anderer kapitalmarktpolitischer Maßnahmen, wie die Einführung der offenen Marktpolitik, die es der Reichsbank ermöglichte, jederzeit auf dem Rentenmarkt regulierend einzugreifen, und durch das Anleihestockgesetz, das wirtschaftlichen Unternehmungen die Anlage der über eine bestimmte Grenze hinausgehenden Gewinne in Rentenpapieren zur Pflicht machte, vor allem aber auch durch die seit 1933 eingetretene politische und wirtschaftliche Konsolidierung entstand eine günstige Kursentwicklung am

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Rentenmarkt, welche zu Beginn des Jahres 1935 die Rentenpapiere an die Parigrenze und damit zur natürlichen Konversionsreife brachte. So gelang überraschend günstig die große Konversion aller Pfandbriefe und öffentlichen Schuldverschreibungen — insgesamt etwa 10 Milliarden R M . — auf 4 1 / 2 v. H. Der ungeregelt gebliebene Fragenkreis der Zinssätze für die sog. freien Hypotheken privater Geldgeber hat seine Regelung in dem Gesetz über Hypothekenzinsen vom 2. Juli 1936 gefunden, das im Wege freier Vereinbarungen eine allgemeine Zinssenkung für erste Hypotheken auf 5, für zweite auf tfUS v - H. bezweckt. VII. ERFOLG UND

SICHERUNG

Das Ergebnis der neuen Konjunkturpolitik soll hier nur an den für den öffentlichen Haushalt wichtigen Zahlen aufgezeigt werden. Hier richtet sich naturgemäß der Blick zuerst auf die seit Anfang 1933 von Monat zu Monat anhaltende Verbesserung des Steueraufkommens. Das Aufkommen aus Reichssteuern, das 1929 mit 9,2 Milliarden R M . den Höchststand erreicht hatte und im Jahre 1932 mit 6,6 Milliarden auf den Tiefstand gesunken war, stieg 1934 auf 8,2 und 1935 auf 9,6 Milliarden und übertraf damit den bisherigen Tiefstand um 3, den bisherigen Höchststand um x/2 Milliarde. Da in den ersten 4 Monaten des laufenden Rechnungsjahres 1936, also von April bis Juli, das Aufkommen aus Reichssteuern 3527 Mill. RM., und damit rund 20 v. H. mehr als im gleichen Zeitraum des Jahres 1935 erbracht hat, ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß das Jahresaufkommen 1936 rund 2 Milliarden mehr betragen wird als 1935. Nun lassen sich die Ergebnisse der Jahre 1935 und 1936 weder ganz mit denen des Jahres 1929 vergleichen, weil in der Krisenzeit erhebliche, großenteils noch nicht abgebaute Erhöhungen der Sätze vorgenommen sind, noch mit denen des Jahres 1932, weil auf der einen Seite die vorhin genannten Ermäßigungen vorgenommen, auf der anderen Seite neue Steuern hinzugekommen sind, wie die seit 1933 erhobene Fettsteuer und die früher von den Ländern, seit 1934 vom Reich erhobene Schlachtsteuer. Aber allgemein bietet doch dieses Anwachsen der Steuereinnahmen ein sehr schlüssiges Bild der seit 1932 eingetretenen Wirtschaftsbelebung. Dabei haben sich die einzelnen Steuern verschieden schnell und stark erholt; am weitaus stärksten ist die Körperschaftsteuer gewachsen, auf ungefähr das Fünffache, am meisten zurückgeblieben sind die großen Verbrauchsteuern, die nur um 12—20 v. H., und die Vermögensteuer, die nur um 5 v. H. gestiegen ist. Zum Teil wegen der Ver-

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Reichshaushalt und Reichsfinanzen

schiedenheit dieser Entwicklung, zum Teil infolge steuertechnischer Änderungen haben sich auch die Anteile der wichtigsten Reichssteuern am Gesamtaufkommen stark verschoben. So betrugen (in v. H. der Gesamteinnahmen) die Umsatz-

Lohn-

Einkommen-

Zölle

Tabak-

Körpersch.-

Steuer

Verm.-

Zucker-

Biei-

Steuer

1929

n , o

15.2

15,7

n , 9

10,0

6,1

5,9

1,7

4,5

1932

20,4

3

8,2

16,6

n , 5

1,6

5,0

4,3

3,9

1935

20,9

I 1,1

12,9

8,4

6,1

3,1

3,3

2,9

14,1

In den ersten vier Monaten des Jahres 1936 ist der Anteil am Gesamtaufkommen bei der veranlagten Einkommensteuer auf 12,6, und bei der Körperschaftsteuer auf 6,5 v. H. gestiegen. Der Erhöhung des Steueraufkommens entspricht auf der Ausgabenseite eine Verringerung des Aufwandes für die Arbeitslosenhilfe. Bezieht man die Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung in eine Betrachtung der Reichsfinanzen mit ein, so ergibt sich, da die Ausgaben für Arbeitslosenhilfe im weitesten Sinne 1932 2,8 Milliarden RM., 1935 1,1 Milliarden R M . betrugen, eine Verbesserung auf der Ausgabenseite um 1,7 Milliarden R M . Diese doppelte Verbesserung der öffentlichen Finanzen in Höhe mehrerer Milliarden hat nun folgendes ermöglicht: Die öffentlichen Etats, die in der Krisenzeit mit dauernd steigenden Fehlbeträgen abschlössen, können in ebenso steigendem Umfang ausgeglichen werden. In die Etats können die normalen Ausgaben für Hoch- und Tiefbauten und sonstige öffentliche Aufgaben, die während der Krisenzeit gedrosselt, 1933 auf Kredit genommen werden mußten, wieder eingesetzt und aus laufenden Einnahmen gedeckt werden. Die Vorbelastungen durch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen können abgetragen werden. Der Reichsetat wird von J a h r zu J a h r stärker in den Stand gesetzt, den A u f b a u der deutschen Wehrmacht finanziell sicherzustellen. Die Wirtschaftsbelebung hat aber nicht nur diese Besserung der Lage der öffentlichen Finanzen herbeigeführt, sondern auch die Verluste in der Privatwirtschaft weitgehend beseitigt. Hieraus hat sich die Möglichkeit ergeben, einen erheblichen Teil der Schulden der Krisenzeit abzudecken. Die Höhe der liquiden Mittel gestattet eine ausgedehnte Selbstfinanzierung und infolgedessen trotz der Wirtschaftsbelebung eine verhältnismäßig geringe Inanspruchnahme der Reichsbank durch die Privatwirtschaft. Die Flüssigkeit des Geldmarkts

478

Lutz Graf Schwerin von Krosigk

macht es dem Reich möglich, in beträchtlichem Umfang Schatzanweisungen auszugeben und so das durch die öffentlichen Aufträge in den Wirtschaftsprozeß hineingegebene Geld wieder dem Kapitalbedarf der öffentlichen Hand dienstbar zu machen. Endlich ermöglicht die vermehrte Sparbildung die Fundierung kurzfristiger Kredite in langfristige Anleihen, wie es die verschiedenen Anleihebegebungen der letzten Jahre zeigen. Dieses Ineinandergreifen der verschiedenen wirtschaftlichen Vorgänge und die straffe Zusammenfassung der Finanz- und Wirtschaftspolitik erklärt das neue „Wunder", das man in Deutschland auf finanzpolitischem Gebiet erlebt. Und wenn die Neuartigkeit der Finanzpolitik seit 1933 vielfach zu kritischen Betrachtungen Anlaß gegeben hat, wenn insbesondere die hiermit notwendig verbundene Steigerung der öffentlichen Schulden manchen Betrachter bedenklich gestimmt hat, so sei auf zwei wichtige Tatsachen hingewiesen. Die Schuldenzunahme ist zu einem großen Teil das Korrelat zu einer entsprechenden Schuldenabnahme der privaten Wirtschaft, deren hierdurch gesteigerte Leistungsfähigkeit den Schuldendienst der öffentlichen Schulden sicherstellt. Zweitens sind auch in den Krisenjahren 3,7 Milliarden R M . neue Schulden entstanden, die aber reine Fehlbetragsschulden waren und denen deshalb eine Möglichkeit der Rückzahlung nicht gegenüberstand. Dagegen steht dem Schuldenzuwachs in den letzten drei Jahren eine Haushaltbesserung in Höhe von mehreren Milliarden, damit die Grundlage zur Abdeckung der Schulden und außerdem ein Vermögenszuwachs an Werten der verschiedensten Art gegenüber. Es ist also nicht die Höhe der Schuld schlechthin entscheidend, sondern die Frage, ob ihre Verwendung die endgültige Deckung sicherstellt. Denn da ein echter Haushaltausgleich das auf die Dauer nicht zu umgehende Ziel einer geordneten Finanzpolitik ist und sein muß, ist die Grenze für jede aktive Konjunkturpolitik in der Belastungs- und Leistungsfähigkeit des öffentlichen Haushalts gegeben. Im Hinblick auf die beiden Seiten des Haushalts findet man diese Grenze indem man das Problem löst, wie weit sich durch eine unter Umständen für die Nation mit großen Härten verbundene Sparpolitik die Ausgaben mindern lassen und wie weit die steuerliche Leistungsfähigkeit der Nation sich ohne Lähmung der Gesamtwirtschaft steigern läßt. Die andere, vor allem für das Tempo der Verschuldung maßgebende Grenze liegt in der Aufnahmefähigkeit des Kapitalmarkts für Fundierungsanleihen. Diese Überlegungen haben dazu führen müssen, daß mit dem Abschluß der eigentlichen Arbeitsbeschaffungspolitik das Ziel des Etats-

Reichshaushalt und Reichsfinanzen

479

ausgleichs wieder stärker in den Vordergrund trat. Die Arbeitsbeschaffung konnte beendigt werden, da sie durch andere staatspolitische Aufgaben, deren Zwecksetzung nicht arbeitsmarkt- oder konjunkturpolitischer Art, deren Wirkung aber die gleiche war, abgelöst wurde. Unter diesen Aufgaben spielte neben der Fortsetzung des Ausbaus der Reichsautobahnen die Wehrhaftmachung des deutschen Volkes die entscheidende Rolle. Diese neuen gewaltigen Aufgaben stellten die deutsche Finanzpolitik vor neue Probleme. Es galt, die gesamten finanziellen Kräfte auf ein Ziel zu konzentrieren. Das mußte sich nach drei Richtungen hin ausdrücken, einmal in einer Etatspolitik, die eine Rangordnung in der Wichtigkeit der Aufgaben und Ausgaben aufstellt und unter Zurückstellung alles minder Wichtigen die Deckung der notwendigen Ausgaben durch laufende Einnahmen sicherstellt (Erhöhung der Körperschaftsteuer), in einer Kapitalmarktpolitik, die in der gleichen Weise auch für die Aufnahme von Anleihen das Dringlichkeitsprinzip maßgebend sein läßt (zentrale Kreditkontrolle), und in einer Finanzausgleichspolitik, die zu einer Begrenzung der Länderund Gemeindeanteile an den großen Überweisungssteuern führen mußte. Die Tatsache, daß die Erhöhung des Steueraufkommens im wesentlichen dem Arbeitsbeschaffungsprogramm zu verdanken war und daß der Reichsetat die Hauptlast dieses Programms und der neuen großen nationalpolitischen Aufgaben zu tragen hatte, führte naturnotwendig zu der Forderung, das Mehraufkommen an Steuern diesen Zwecken dienstbar zu machen, mithin dem Reich zu belassen. Infolgedessen wurde durch ein erstes Gesetz zur Änderung des Finanzausgleichs vom Februar 1935 bestimmt, daß die Länderteile an den großen Überweisungssteuern, soweit sie bei der Einkommensteuer 1100, bei der Körperschaftsteuer 240, bei der Umsatzsteuer 573 Millionen übersteigen — diese Beträge waren den Landesregierungen als ihre voraussichtlichen Anteile im Jahre 1935 mitgeteilt worden —, um zwei Drittel gekürzt werden sollten. Was also über diese Zahlen hinausging, sollten Länder und Gemeinden nur zu einem Drittel erhalten, ein weiteres Drittel sollte einem Ausgleichsstock zugeführt werden, das letzte Drittel sollte dem Reich verbleiben. Nachdem das Steueraufkommen auch die diesem Gesetz zugrunde liegenden Schätzungen weit überholt hatte, wurde durch ein zweites Gesetz vom März 1936 die Beteiligung der Länder und Gemeinden für 1935 auf das Maß begrenzt, das sich aus den Absichten beim Erlaß des Gesetzes vom Februar 1935 ergab, d. h. bei der Einkommensteuer auf 1140, bei der Körperschaftsteuer auf 247,5, bei der Umsatzsteuer auf 592 Millionen RM.; für die künftigen Jahre werden unter Fortfall der absoluten

480

Lutz Graf Schwerin von Krosigk, Reichshaushalt und Reichsfinanzen

Höchstgrenze die Länderanteile nach Erreichung der Grundbeträge von I I O O , 240 und 573 Mill. nach einem Verfahren berechnet, bei dem die Länder zwar auch an dem steigenden Aufkommen beteiligt sind, aber ihre Beteiligungsquote absteigend verläuft. Die gegenüber 1933 eingetretene Wandlung der Aufgaben und damit auch der Methoden der Finanzpolitik und die in den Vordergrund getretene Betonung der Notwendigkeit, den Ausgleich der öffentlichen Etats und die Konsolidierung der kurzfristigen Kredite durch eine Politik der Konzentrierung sicherzustellen, führt notwendigerweise zu Härten. Sie hat aber auch zur Folge, daß z. B. auf dem Gebiet des Wohnungsbaus ein Aufgabenbedarf sich aufstaut, der zur Zeit nicht befriedigt werden kann, der aber einmal, wenn die großen nationalpolitischen Aufgaben zu einem gewissen Abschluß gelangt sind, an ihre Stelle treten kann. Zu dieser Politik der Sicherung und des Ausbaus des bisher Erreichten gehört auch, daß eine planmäßige Reservenpolitik in die Wege geleitet wird, wie sie beispielsweise in den Bestimmungen der Gemeindeordnung über die Bildung von Rücklagen und in den hierzu erlassenen Ausführungsverordnungen zum Ausdruck kommt. Eine aktive Finanzpolitik, die nicht wie in der Vergangenheit auf die bequemen und gerade darum so verhängnisvollen Auswege der Inflation oder der kurzfristigen Auslandsverschuldung oder einer uferlosen Ausgabenwirtschaft verfällt, sondern in zielbewußter, sich jederzeit den Notwendigkeiten der Lage anpassender Tatkraft und in straffer einheitlicher Zügelführung, ohne Rücksicht auf Einzel- oder Gruppeninteressen, nur das Wohl der Gesamtheit des deutschen Volkes im Auge hat, ist die stärkste Garantie für die Durchführung der Deutschland vom Führer gestellten großen Aufgaben der Gegenwart und Zukunft.

DIE HAUPTLINIEN DER DEUTSCHEN HANDELSPOLITIK VON'

HANS E R N S T POSSE

I. Geschichtlicher R ü c k b l i c k

481—487

II. Deutsche Handelspolitik im ersten Nachkriegs-Jahrzehnt

487—496

I I I . Europäische Handelspolitik unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise 496—502 I V . Neugestaltung der deutschen Handelspolitik unter nationalsozialistischer Führung

502—512

V . Abschluß und Ausblick

512—513

I.

HANDELSPOLITIK IST DER INBEGRIFF STAATLICHER BETÄTIgung zur Regelung der wirtschaftlichen Beziehungen eines Landes mit dem Ausland. Maßnahmen der Handelspolitik können sowohl a u t o n o m e sein — die von einem bestimmten Lande einseitig getroffen werden — , als auch solche, die auf V e r e i n b a r u n g mit anderen Ländern beruhen. Es finden sich zwar in Verträgen aller Zeiten, vor allem in Friedensschlüssen, neben vielen anderen Bestimmungen auch solche handelspolitischer Art; der T y p des selbständigen handelspolitischen Vertrages ist jedoch im wesentlichen erst im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet worden. Im 17. und 18. Jahrhundert waren noch autonome Maßnahmen das wichtigste Mittel der Handelspolitik. Ihre Blütezeit lag vor allem im 31

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

482

Hans Ernst Posse

18. Jahrhundert, als die m e r k a n t i l i s t i s c h e Schule in den Kanzleien der großen europäischen Regierungen vorherrschte. Sie ging davon aus, daß der Wohlstand eines Landes umso größer sei, je mehr Geld in seine Volkswirtschaft hineinfließe; als Geld erschien damals ausschließlich das Edelmetall. Es bestand also das Bestreben, möglichst viel Geld im Lande zu halten und möglichst viel Geld in das Land zu ziehen. Deshalb wurden Ausfuhrverbote für Gold und Silber erlassen, und anderseits wurde die Ausfuhr von Fertigwaren gefördert. Man wünschte, möglichst viel Rohstoffe im eigenen Lande zu verarbeiten, um den Arbeitslohn der Volkswirtschaft zu erhalten. Auch finden sich damals neben Verboten der Edelmetallausfuhr auch solche für die bestimmter Rohstoffe. Die merkantilistische Handelspolitik neigte zu einer weitgehenden Einmischung der Staatsgewalt in das Getriebe des Handels, freilich noch ausschließlich mit Hilfe autonomer Maßnahmen. Durch Verbote und Verkehrsbeschränkungen versuchte man, die ausländische Konkurrenz vom inländischen Markte möglichst fernzuhalten, den eigenen Absatz im Auslande dagegen zu stärken. Auf den Besitz von Rohstoffländern, also im wesentlichen von Kolonien, wurde größter Wert gelegt. Es ist die Zeit des Ausbaues der ersten großen Kolonialreiche. Sie waren nicht nur Produktionsstätten für Edelmetall, sondern auch Bezugsquellen für Rohstoffe, Nahrungsmittel und Kolonialwaren, für den eigenen Bedarf sowohl, als auch für den Vertrieb ins Ausland, den man in den Händen des Mutterlandes monopolisierte. Nicht weniger begann man, die Kolonien auch als Absatzgebiete für die heimischen Fabrikate zu schätzen. Der Abschluß der ersten g r o ß e n H a n d e l s v e r t r ä g e fällt in die Jahre nach dem Wiener Kongreß. Hier sind vor allem die Verträge zu nennen, die Preußen mit den S k a n d i n a v i s c h e n K ö n i g r e i c h e n (am 17. 6. 1818 mit Dänemark, am 14.3.1827 mit Schweden-Norwegen) geschlossen hat und die zum Teil noch heute gelten. Im Jahre 1841 kamen ähnliche Verträge zwischen den deutschen Hansestädten Hamburg und Bremen und den damals noch vereinigten Königreichen Schweden und Norwegen zustande. Alle diese Verträge beruhen im wesentlichen auf dem Grundsatz der I n l ä n d e r - G l e i c h s t e l l u n g . Es ist begreiflich, daß die Handelsverträge jener Zeit gerade auf diesen Grundsatz entscheidenden Wert legen mußten, wenn man sich die mannigfachen Handelshemmnisse vor Augen führte, die unter dem Einfluß der merkantilistischen Schule den ausländischen Konkurrenten in den meisten Ländern bereitet wurden. Das 19. Jahrhundert brachte allmählich eine Abkehr von der merkantilistischen Lehre. Sie wurde in Theorie und Praxis mehr und mehr

Die Hauptlinien der deutschen Handelspolitik

483

durch die der sog. k l a s s i s c h e n S c h u l e abgelöst, die durch Namen wie Smith und Ricardo gekennzeichnet wird. Der Reichtum eines Landes sei demnach nicht im Besitz von Edelmetallen, auch nicht im Grund und Boden und den damit gegebenen Produktionsmöglichkeiten zu finden; er liege vielmehr allein in der menschlichen Arbeit. Nur sie schaffe Werte; nur sie vermehre den Wohlstand der Völker. Boden und Kapital dienten der Arbeit lediglich als Hilfsmittel und Werkzeug. Um den Wohlstand der Welt zu heben, müsse man daher die Freizügigkeit der menschlichen Arbeit und ihrer Erzeugnisse anstreben, d. h. also einen von Hemmnissen aller Art befreiten Handelsverkehr. Es dauerte allerdings noch geraume Zeit, bis sich diese Gedankengänge in der praktischen Handelspolitik der europäischen Mächte durchsetzten. Großbritannien war der erste große europäische Staat, der von hohen Schutzzöllen zum Freihandel überging; diese Umstellung wurde in den 40er Jahren eingeleitet. In Verfolg des im J a h r e 1860 zwischen Großbritannien und Frankreich abgeschlossenen bedeutsamen Handelsvertrages gelangten diese neuen Grundsätze mehr und mehr zu europäischer Anerkennung. Deutsche Handelspolitik in größerem Rahmen ermöglichte erst die Gründung des d e u t s c h e n Z o l l v e r e i n s im J a h r e 1834. Aus dieser Zeit verdient vor allem der am 3 1 . 12. 1851 mit den N i e d e r l a n d e n abgeschlossene Handelsvertrag hervorgehoben zu werden, der noch heute die Rechtsgrundlage der deutsch-niederländischen Handelsbeziehungen ist. E r beruhte, wie die früheren preußischen und hansischen Verträge mit den nordischen Staaten, auf dem Grundsatz der Inländer-Gleichstellung. Nur für Erträgnisse der Fischerei war gegenseitige Meistbegünstigung vereinbart-worden. — Die erste Zeit des deutschen Zollvereins wird stark erfüllt von den Auseinandersetzungen über die Einbeziehung der D o n a u - M o n a r c h i e . Gegen eine solche Einbeziehung des damals größten deutschen Staates waren die Preußische Regierung und mit ihr zahlreiche kleinere deutsche Staaten. Ein Zusammenschluß mit dem mächtigen südosteuropäischen Reich, das zum großen Teil außerhalb des deutschen Siedlungsgebietes lag, erschien ihnen gefährlich. Erst im J a h r e 1865 kam es zu einer endgültigen handelspolitischen Regelung zwischen dem Zollverein und der Habsburgischen Monarchie; dieser Handelsvertrag enthielt insbesondere die völlige Beseitigung der Getreidezölle. — Am 29. 3. 1862 kam ein Handelsvertrag zwischen Preußen und F r a n k r e i c h zustande, der die gegenseitige Meistbegünstigung enthielt und zahlreiche Zollermäßigungen brachte. Erst nach mancherlei Schwierigkeiten, in deren Verlauf sich Bismarck im J a h r e 1863 zur Kündigung der Zollvereinsver31*

484

Hans Ernst Posse

träge entschließen mußte, gelang es, auch die übrigen Staaten des deutschen Zollvereins zum Beitritt zu dem preußisch-französischen Vertrag zu veranlassen. Es folgten dann noch eine Reihe wichtiger Vertragsschlüsse, so mit G r o ß b r i t a n n i e n , B e l g i e n , I t a l i e n , der T ü r k e i und einigen außereuropäischen Staaten. Es handelt sich dabei in der Hauptsache um bloße Meistbegünstigungsverträge; soweit Tarifsätze gebunden waren, geschah es in Anlehnung an den französischen Handelsvertrag. Die durchgreifenden Umgestaltungen, welche die staatsrechtliche Form der deutschen Zollgemeinschaft durch die Gründung des N o r d d e u t s c h e n B u n d e s und des D e u t s c h e n R e i c h e s erfuhr, änderten zunächst nichts an dem Kurse der deutschen Handelspolitik, die als eine solche g e m ä ß i g t e r S c h u t z z ö l l e angesprochen werden darf. Im allgemeinen verfolgte man auch bei den deutschen Regierungen den Gedanken der H a n d e l s f r e i h e i t . Es waren damals gerade auch landwirtschaftliche Kreise, welche die Staatsführungen auf der Bahn des Freihandels immer weiter vorwärts drängten. Eine ihrer Hauptforderungen war die Beseitigung der Eisenzölle, von der sie sich eine erhebliche Verbilligung der landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen versprach. Die deutsche Landwirtschaft war damals noch eine Ausfuhrwirtschaft; es war die Zeit, in der die städtische Bevölkerung des heutigen Deutschen Reichsgebietes wenig mehr als ein Viertel der gesamten Bevölkerung ausmachte. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre bahnten sich g e w i c h t i g e U m s t e l l u n g e n in der d e u t s c h e n V o l k s w i r t s c h a f t an. Einem sehr starken und plötzlichen Aufschwung der Industrie in den Jahren nach dem Frankfurter Frieden - folgte eine schwere Krise. Die bedrängten Industriellen suchten unter dem Druck der Absatzschwierigkeiten Schutz gegen den ausländischen Wettbewerb. Im Jahre 1876 kam es zur Gründung eines Zentralverbandes deutscher Industrieller mit dem Ziel schutzzöllnerischer Propaganda. Hatte Bismarck noch im Jahre 1875 die Aufhebung aller Zölle als ein erstrebenswertes Ziel bezeichnet, so setzte er sich seit dem Frühjahr 1876 entschieden für die Aufrechterhaltung von Zöllen ein. Um diese Zeit vollzog sich auch die entscheidende Wendung in der handelspolitischen Lage der deutschen Landwirtschaft. Noch bis weit in die siebziger Jahre hinein hatte sie erhebliche Mengen von Getreide ausgeführt; nunmehr machte die schnell anwachsende industrielle Bevölkerung des Reiches eine zusätzliche Getreideeinfuhr aus dem Auslande notwendig. Dieser Einfuhr gegenüber bemühte sich die deutsche Landwirtschaft mehr und mehr, die eigene Preishöhe durch eine möglichst weitgehende Schutzzoll-

Die Hauptlinien der deutschen Handelspolitik

485

politik zu halten. Hinzu kam, daß die Führung des jungen Reiches an einer Vermehrung der Reichseinnahmen und damit an einer Erhöhung der Zölle ein starkes fiskalisches Interesse besaß. Unter dem Einfluß dieser Entwicklung kam das neue umfassende Z o l l t a r i f g e s e t z v o n 1879 zustande. Es brachte Getreidezölle, Zölle auf Bau- und Nutzholz, auf Vieh, Fleisch und tierische Erzeugnisse. Unter den industriellen Zöllen standen solche auf Eisen und Eisenwaren im Vordergrunde; aber auch die Textil-, Papier-, Glas-, Lederund keramische Industrie erhielten einen Zollschutz. Die folgenden J a h r e brachten weitere Zollerhöhungen. Ablaufende Tarifverträge, wie die mit Belgien und der Schweiz, wurden durch bloße Meistbegünstigungsverträge ersetzt. — Das Bestreben zur Erhöhung der Zölle blieb nicht nur auf das Reich beschränkt. Auch eine Reihe anderer europäischer Staaten, so insbesondere Rußland, die ÖsterreichUngarische Monarchie und Frankreich, gingen zu einer verschärften Schutzzollpolitik über. Die Wirkungen einer solchen Entwicklung waren alles andere als günstig. Anfang der Neunziger J a h r e hatten Industrie und Landwirtschaft im Deutschen Reiche schlechte Zeiten durchzumachen. Daher versuchte das Reich, durch eine Reihe neuer Handelsverträge dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Ausgangspunkt hierzu war das handelspolitische Verhältnis zu Frankreich. Die — neben der im Frankfurter Frieden vereinbarten gegenseitigen Meistbegünstigung — zwischen den beiden Ländern bestehenden Tarifabkommen, aus denen die deutsche Wirtschaft großen Nutzen gezogen hatte, liefen im J a h r e 1892 ab, und Frankreich zeigte an ihrer Erneuerung kein starkes Interesse. Es bestand vielmehr die Gefahr einer handelspolitischen Neugruppierung der westeuropäischen Großstaaten, der Vereinigten Staaten und Rußlands einerseits, der das Deutsche Reich, ÖsterreichUngarn, Italien, Belgien und die Schweiz auf der anderen Seite in einer mehr oder weniger isolierten Lage gegenübergestanden hätten. Unter dieser gemeinsamen Bedrohung kam es zu umfassenden Handelsverträgen des Reiches mit Ö s t e r r e i c h , I t a l i e n , B e l g i e n und der S c h w e i z , mit denen auf deutscher Seite eine nicht unerhebliche Herabsetzung der Getreidezölle eingegangen werden mußte. Diese Maßnahme stieß bei der deutschen Landwirtschaft allerdings auf erbitterten Widerstand. Sie mußte aber auch bei dem nächsten wichtigen Abkommen erhebliche Opfer bringen: der im J a h r e 1894 mit R u ß l a n d abgeschlossene Handelsvertrag, der für den deutschen industriellen Export große Vorteile brachte, konnte nur auf Grund von Zugeständnissen auf landwirtschaftlichem Gebiete zustande gebracht werden. Es

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Hans Ernst Posse

ist indessen nicht zu leugnen, daß die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft gerade auf Grund dieser, meist auf 10 Jahre abgeschlossenen großen Verträge aus dem Anfang der Neunziger J a h r e eine außerordentlich günstige gewesen ist. U m die Jahrhundertwende war bei dem zu erwartenden Ablauf der eben kurz gestreiften Abkommen wieder mit Neuregelungen zu rechnen. U m eine möglichst günstige Ausgangsstellung für die Handelspolitik des Reiches zu schaffen, hatte Reichskanzler Fürst Bülow die folgenden Forderungen aufgestellt, die in dem neuen deutschen Z o l l t a r i f v o n 1902 ihren Niederschlag gefunden haben: 1. Der Zolltarif müsse eine Gestaltung bekommen, die für das Zustandekommen von Handelsverträgen einen erheblichen Spielraum übrig lasse. 2. Die Zollsätze für Brotgetreide könnten eine mäßige Heraufsetzung erfahren, ohne daß die Volksernährung dadurch gefährdet werde. 3. Eine Differenzierung des Weizen- und Roggenzolls sei — vor allem im Hinblick auf ein neues Abkommen mit Rußland — sehr wünschenswert. 4. Bei der Festsetzung der Zölle für Vieh und Fleisch dürfe im Interesse der Ernährung der großstädtischen Bevölkerung keinesfalls zu hoch gegriffen werden. Der Zolltarif von 1902 erwies sich in der Tat als eine außerordentlich zweckmäßige Ausgangsstellung für die Handelspolitik des Reiches in den alsbald darauf folgenden wichtigen handelspolitischen Verhandlungen, die das Vorkriegssystem der deutschen Handelsverträge abschließen sollten. Unter diesen Handelsverträgen muß vor allem das zwischen dem Fürsten Bülow und dem russischen Ministerpräsidenten Witte selbst im J a h r e 1904 vereinbarte Abkommen hervorgehoben werden.

Die großen Handelsverträge der Caprivischen und Bülowschen Zeit, die der Handelspolitik in der Vorkriegszeit das Gepräge gegeben hatten, fanden mit dem Ausbruch des W e l t k r i e g e s zum größten Teil ihr Ende. Der Krieg zerriß die Verträge, die uns mit unseren Gegnern verbanden, und nur mit wenigen Staaten blieben die alten vertraglichen Beziehungen aufrecht erhalten. Das Deutsche Reich glich in jener Zeit einer belagerten Festung, die nahezu aller Verbindungen mit der Außenwelt — von der Beziehung mit unseren schwer ringenden Verbündeten abgesehen — beraubt war.

Die Hauptlinien der deutschen Handelspolitik

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Zur Aufrechterhaltung der Volksernährung und zur Sicherstellung des Kriegsbedarfs ergingen die bekannten Ermächtigungen zum Erlaß von Aus-, Ein- und Durchfuhrverboten, die in den Verordnungen vom 3 1 . 7. 1 9 1 4 niedergelegt waren. II. Der erste Abschnitt der deutschen Nachkriegshandelspolitik, der bis zum J a h r e 1925 gerechnet werden kann, wird durch die Fesseln bestimmt, welche der V e r s a i l l e r V e r t r a g dem Reiche angelegt hatte. Im einzelnen kamen hier folgende Bestimmungen des Diktates in Betracht: 1. Artikel 269 band den gesamten deutschen Zolltarif bis zum 10. 7. 1920 auf die am 30. 7. 1 9 1 4 geltenden Zollsätze des vertraglichen und autonomen Tarifs. Gleichzeitig bestimmte er eine ebensolche Bindung für weitere 30 Monate, also bis zum 10. 1. 1923 für den 1. Abschnitt, Unterabschnitt A (Erzeugnisse des Acker-, Garten- und Wiesenbaues) des deutschen Zolltarifs und für die Zölle auf Weine, Öle, Kunstseide und gewaschene oder entfettete Wolle. — Wenn auch diese Bestimmungen nicht zu der von den Urhebern des Diktats zweifellos beabsichtigten Schädigung der deutschen Volkswirtschaft geführt haben, so bedeuteten sie doch eine außerordentlich weitgehende Beschränkung der handelspolitischen Bewegungsfreiheit des Reiches. 2. Durch die Artikel 264 bis 267 wurde Deutschland e i n s e i t i g die Gewährung der Meistbegünstigung — uneingeschränkt, unkündbar und ohne Gegenleistung! — a u f s Jahre, also bis z u m 10.1.1925, auferlegt. Man kann auch heute noch nicht nachdrücklich genug auf diese Bestimmung hinweisen, die vielleicht deutlicher als alles andere das Ziel des Versailler Diktatfriedens, den Versuch einer Kolonisierung Deutschlands, enthüllt. Wie verständnisvoll für die Lage des besiegten Gegners ist demgegenüber die Bestimmung des Frankfurter Friedens vom 10. 5. 1871, die in diesem Zusammenhang genannt werden muß: es handelt sich um den Artikel 1 1 dieses Friedensschlusses, in dem das Deutsche Reich mit Frankreich die g e g e n s e i t i g e Meistbegünstigung vereinbarte. 3. Von dieser moralisch und psychologisch unerträglichen Fessel der Artikel 264 bis 267 zu unterscheiden ist die weitere Beschränkung, die Artikel 268 brachte. Er setzte gewisse Kontingente fest, durch welche die früher zum Reiche gehörigen oder mit ihm zollgeeinten Gebiete trotz ihrer Losreißung infolge des Friedensdiktats wirt-

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schaftlich so gestellt werden sollten, als ob sie weiter zum Reich gehörten, d. h. also, daß sie ihren Absatzmarkt im Reiche behalten sollten. Dieser einseitigen Festlegung stand eine entsprechende Regelung zu Gunsten des Restreiches nicht gegenüber. Im einzelnen waren 3 Gruppen solcher Kontingente zu unterscheiden: a) Die aus Elsaß-Lothringen und Luxemburg herstammenden und von dort eingeführten Rohprodukte und Fabrikate werden (aus Luxemburg „können nach Befinden der alliierten Regierungen") während einer Dauer von 5 Jahren, die Erzeugnisse aus den in Zukunft polnischen, bisher deutschen Gebieten gleichermaßen für 3 Jahre vom Inkrafttreten des Friedensvertrages ab bei ihrer Einfuhr in deutsches Zollgebiet Z o l l f r e i h e i t genießen. b) Garne, Gewebe und andere Rohstoffe oder Textilerzeugnisse aller Art und jeder Beschaffenheit, die von Deutschland zur Verfeinerung (Bleichen, Färben, Drucken, Merzerisieren, Gazieren, Zwirnen, Appretieren) nach Elsaß-Lothringen gesandt werden, müssen zollfrei aus- und wieder eingeführt werden können. c) Eine dritte Gruppe von Bestimmungen betraf den Handelsverkehr mit dem Saargebiet. Ferner sind in diesem Zusammenhang die Artikel 2 i 6 f f . des deutschpolnischen Abkommens über Oberschlesien vom 15. 5. 1922 zu erwähnen, in denen ebenfalls zollfreie Kontingente verschiedener Art auf bestimmte Fristen vereinbart wurden, welche die „Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens in Oberschlesien" zu erleichtern geeignet waren und deshalb einen mehr oder weniger örtlichen Charakter trugen. Unter solchen Beschränkungen und Fesseln, die das Friedensdiktat und seine Folgen dem Reiche auferlegt hatten, war es in den kommenden Jahren nur möglich, in einfachster Form mehr oder weniger provisorische Abmachungen zu treffen. Die e r s t e P e r i o d e deutscher Handelspolitik in der Nachkriegszeit kann bis zum 10. 1. 1925 gerechnet werden, dem Zeitpunkt nämlich, in dem nach den Bestimmungen des Diktats die erzwungene einseitige Meistbegünstigung außer Kraft treten sollte. Unter den ersten Handelsverträgen dieses Zeitabschnittes sind — neben den noch unvollständigeren Abmachungen mit Ungarn und Lettland vom 1. und 15. 6. 1920 — vor allem die Verträge mit der T s c h e c h o s l o w a k e i (29. 6. 1920) und dem Königreich J u g o s l a w i e n (4. 2. und 5. 12. 1921) hervorzuheben. Ihnen kam schon deshalb besondere Bedeutung zu, da sie einen ersten wichtigen Durchbruch durch

Die Hauptlinien der deutschen Handelspolitik

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die Front der Kriegsgegner darstellten: beide Abkommen gründeten sich auf die gegenseitige Meistbegünstigung. Ferner ist hier das Wirtschaftsabkommen mit Ö s t e r r e i c h vom i. 9. 1920 zu erwähnen, das — ebenfalls auf der gegenseitigen Meistbegünstigung beruhend — ein Jahrzehnt hindurch die Grundlage der Handelsbeziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten gebildet hat. Aus jenem ersten Abschnitt der handelspolitischen Nachkriegsgeschichte seien dann noch einige weitere größere Vereinbarungen hervorgehoben, in denen das Ende der einseitigen Meistbegünstigung seine Schatten vorauswarf. Hierhin gehören als wichtigste die Handelsund Schiffahrtsverträge mit den V e r e i n i g t e n S t a a t e n (8. 12. 1923) und mit G r o ß b r i t a n n i e n (2. 12. 1924), die allerdings beide erst im September und Oktober 1925 in Kraft traten. Diese Abkommen stellten reine Meistbegünstigungsverträge ohne Zolltarifabreden dar. Der Handels- und Schiifahrtsvertrag mit Großbritannien ist noch heute in Kraft, der mit den Vereinigten Staaten gilt nach der Kündigung der Meistbegünstigung im Warenverkehr durch das Deutsche Reich heute nurmehr in beschränktem Umfang (Abkommen vom 14. 10. 1935). Das J a h r 1924 brachte die Wiederinkraftsetzung der Handelsverträge zwischen dem Reich und den südamerikanischen Republiken Bolivien und Nicaragua. Von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der deutschen Handelspolitik ist auch das am 25. 7. 1924 mit S p a n i e n geschlossene Abkommen gewesen, das auf dem Grundsatz der allgemeinen gegenseitigen Meistbegünstigung aufgebaut war; ferner der Zusatzvertrag vom 12. 7. 1934 zu dem bereits erwähnten Wirtschaftsabkommen mit Österreich vom 1 . 9 . 1 9 2 0 . Dieser Zusatzvertrag ergänzte das bisher bestehende Meistbegünstigungsabkommen durch eine Reihe von Tarifabreden. Die beiden Verträge mit Spanien und Österreich können als Marksteine auf dem Wege zu umfassenderen Handelsverträgen angesehen werden, wie sie für die Vorkriegszeit kennzeichnend gewesen sind.

Alle diese mehr oder weniger provisorischen Abkommen standen noch unter den Wirkungen der Versailler Diktatbestimmungen. Sie lassen aber auch bereits die von Grund a u f v e r ä n d e r t e S t r u k t u r d e s W e l t h a n d e l s erkennen, die ganz Europa vor völlig neue Tatsachen stellte. Eine beispiellose geschichtliche Entwicklung hatte in dem halben Jahrhundert vor dem Weltkriege zu einem ungeahnten Aufblühen der west- und mitteleuropäischen Länder geführt und den europäischen Staaten einen unerreichbaren Vorrang an Technik und

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Hans Ernst Posse

Arbeitsleistung gebracht. So entstanden auf ihrem Boden die großen Fertigwarenindustrien für die ganze Welt. Diese Rangstellung einer hohen Arbeitskultur wurde durch die groß angelegte Erschließung natürlicher Rohstoffschätze ergänzt, von denen unser Erdteil vor dem Weltkriege über die Hälfte der Gesamtproduktion an Kohle, Eisen, Zink und Aluminium gewann. Von den Textilrohstoffen abgesehen, war Europa in allen Betriebszweigen, insbesondere auch in der Metallwirtschaft, von den Rohstoffen bis zu den Fertigwaren führend. Dieser einzigartigen Stellung Europas in den Produktionsverhältnissen der Wirtschaft traten ergänzend die internationalen Schuldverpflichtungen zur Seite. Mit den Überschüssen der europäischen Produktion wurde die übrige Welt erst wirtschaftlich erschlossen, wodurch die überseeischen Volkswirtschaften, voran diejenige der Vereinigten Staaten, in Kapitalabhängigkeit von Europa gebracht wurden. Wenn die europäische Handelsbilanz in den letzten Jahren der Vorkriegszeit im Jahre durchschnittlich mit einer Passivität von 10 v. H. was zuletzt einer Größenordnung von 10 Milliarden Mark entsprach — abschloß, so stellten diese Mehreinfuhren nach Europa nichts anderes als die Abtragung der jährlichen Zinsenlast durch die außereuropäischen Länder dar. Bei alledem darf aber nicht übersehen werden, daß die Grundlage für diese Weltstellung unseres Erdteils in der innereuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der engen Verflechtung seiner Volkswirtschaften und deren planmäßiger Zusammenarbeit bestand. — Auch nicht ein einziger dieser, den Vorkriegswelthandel bestimmenden Faktoren ist durch den Weltkrieg und dessen Folgen unverändert geblieben. Zunächst und am fühlbarsten für Europa verwandelte der ungeahnte Aufschwung der seit dem Kriege mit einem Schlage zur Gläubigermacht gewordenen Vereinigten Staaten die Struktur der Weltwirtschaft. Ihr Anteil an der Weltrohstoffproduktion steigerte sich bis zum Jahre 1928 auf 40 v. H., darunter über vier Fünftel der Betriebsstoffe, nahezu die Hälfte der Weltproduktion an Baumwolle, Blei und Aluminium. Die amerikanische Schwerindustrie gewann mehr und mehr das Übergewicht über die gesamte europäische. Wurden 1913 noch 42 v. H. der Weltstahlproduktion durch die Vereinigten Staaten geliefert, so wuchs deren Anteil bis zum Jahre 1926 auf 53 v. H. an. Der Gesamtwert der amerikanischen Ausfuhr steigerte sich bis zum Jahre 1928 auf über 5 Milliarden Dollar, das ist mehr als das Doppelte der Ausfuhr des Fiskaljahres 1912/13. In weitem Abstand, aber doch immer noch fühlbar genug, traten in jenem ersten Abschnitt der Nachkriegswirtschaftsgeschichte auch andere außereuropäische Staaten hervor, um sich in die Industrieländer im Kampf um den Weltmarkt einzureihen.

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Neben dem erstaunlichen Aufschwung Japans sind hier Britisch-Indien und Kanada zu erwähnen, die bis zum Jahre 1925 unter Überholung der Niederlande und Belgiens die fünfte und sechste Stelle in der Rangordnung des Welthandels einnehmen konnten. Die rasch ansteigenden Exportziffern Japans und seine wachsende Wirtschaftskraft vermochte auch der schwere Rückschlag auf die Dauer nicht hintanzuhalten, der das Land durch das große Erdbeben von 1923 traf. — Kennzeichnend für diese bedeutsamen Strukturwandlungen der Weltwirtschaft ist ein Bericht, den der Völkerbund im Jahre 1926 über die Handels- und Zahlungsbilanzen der Jahre 1911 bis 1925 herausgab. Es heißt in dieser Schrift u. a.: „Die Vereinigten Staaten und Indien kaufen jetzt weniger in Europa und mehr in Asien. China und Japan kaufen weniger in Europa und mehr in Nordamerika. Australien kauft weniger in Europa und mehr in Nordamerika und Japan. Anderseits exportiert Indien einen größeren Teil seiner Waren nach Nordamerika und Asien, und der Prozentsatz der Ausfuhr Chinas nach Nordamerika hat sich gleichfalls gehoben. Die Ausfuhr Japans nach Europa ist von 23,3 v. H. auf nur 6,6 v. H. seiner Gesamtausfuhr gefallen, während diejenige nach Nordamerika von 30 auf 44,5 v. H. gestiegen ist. Die Einfuhr Australiens aus Europa ist gefallen von 70 auf 54 v. H. seiner Gesamteinfuhr, jene Argentiniens von 80 auf 64 v. H. Der Handel verschiebt sich vom Atlantischen nach dem Stillen Ozean." Diese Wirkungen der Marktveränderung für Europa wurden noch beträchtlich verstärkt durch die Neugestaltung der Weltschuldverhältnisse.

War so durch den Weltkrieg und die ihm folgenden Diktatfrieden die gesamteuropäische Lage entscheidend verschlechtert, j a von Grund auf verändert worden, so t r a f e n die E r e i g n i s s e D e u t s c h l a n d besonders schwer. Von den Fesseln, die ihm das Friedensdiktat auch in wirtschaftlicher Hinsicht auferlegt hatte, ist schon die Rede gewesen. Hier sei noch einmal daran erinnert, welch ungeheure Verluste das Diktat dem Reich durch die staatsrechtlichen Bestimmungen zufügte: sie brachten eine Verminderung des deutschen Gebietes um nahezu 15 v. H. der vorkriegsmäßigen Gesamtfläche und wohlgemerkt den Verlust hervorragender landwirtschaftlicher Überschußgebiete. Diesem Ausfall stand ein Bevölkerungsrückgang durch Gebietsverlust von nur 5 v. H. der früheren Gesamtbevölkerung gegenüber. Die Ab-

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tretung der landwirtschaftlichen Überschußgebiete bedeutete aber einen Rückgang der durchschnittlichen Anbaufläche für Brotgetreide um über 30 v. H. Zu dem Zwang einer hierdurch gebotenen Mehreinfuhr ausländischen Brotgetreides trat anderseits die Verschiebung der gewerblichen Rohstoffversorgung. Durch die Abtretung von Elsaß-Lothringen und Ostoberschlesien, durch das Ausscheiden des Großherzogtums Luxemburg aus der Zollunion büßte das Reich in jener Zeit 43,8 v. H. seiner Roheisenerzeugung, 32,5 v. H. der Flußstahl-, 33,8 v. H. der Walzwerksproduktion, 79,5 v. H. des Erzvorkommens und 24,4 v. H. der Kohlenlager ein. Die für die chemische und metallverarbeitende Industrie wichtigen Zinkerzlager in Ostoberschlesien sind restlos an Polen gefallen. Die Verringerung des Kohlenbedarfs infolge des Ausscheidens der Industrien Elsaß-Lothringens, des Saargebiets und Luxemburgs ist demgegenüber nur auf 15 v. H. zu veranschlagen. Die Gesamtleistung auf dem Gebiete der Maschinenherstellung und anderer verarbeitender Industriegruppen verminderte sich sogar nur um etwa 5 v. H. Diese Tatsachen auf dem Gebiet der gewerblichen Wirtschaft und der Verlust von nahezu einem Drittel der Anbauflächen für Brotgetreide wirkten zusammen in der Richtung auf einen verstärkten Zwang zur Rohstoffeinfuhr, einen Zwang, dem auf die Dauer nur durch eine Steigerung der Überschüsse unserer Volkswirtschaft durch vermehrte Ausfuhr entsprochen werden konnte. Wenn man sich die wirtschaftliche Lage des Reiches unter der Wirkung dieser knappen Feststellungen vor Augen führt, — die im übrigen noch durch die Reparationspolitik weiterhin verschlimmert wurde —, so vermag man in etwa die Schwierigkeiten zu ermessen, denen sich die deutsche Volkswirtschaft im ersten Zeitabschnitt ihrer Nachkriegsentwicklung gegenüber sah.

Mit dem 10. Januar 1925 begann für das Reich gewissermaßen die z w e i t e E t a p p e der deutschen Nachkriegshandelspolitik. Auf die Zeit der Provisorien, die sich wegen der Unsicherheit der wirtschaftlichen Entwicklung und der materiellen und zeitlichen Unmöglichkeiten einer grundlegenden Neuordnung in kurzfristigeren Vereinbarungen erschöpfen mußte, folgte eine Entwicklungsstufe, die man als die Wiedereinschaltung der deutschen Wirtschaft in Welthandel und Weltverkehr bezeichnen kann. Ging der Kampf im ersten Zeitabschnitt nach dem Kriege um die Durchbrechung der einseitig auferlegten Meistbegünstigung, so handelte es sich jetzt um die Ausbreitung der g e g e n s e i t i g e n M e i s t b e g ü n s t i g u n g und um die

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E r m ä ß i g u n g des a l l g e m e i n e n Z o l l n i v e a u s . Die deutsche Handelspolitik der Nachkriegszeit hat den Kampf um die gegenseitige Meistbegünstigung ganz wesentlich gefördert; in der Richtung auf ihr zweites Ziel, die Herabsetzung der Zollsätze, ist sie freilich nur schrittweise weitergekommen. Die Wiedereinschaltung des Reichs in die Handelspolitik der Welt ist durch den Abschluß einer ganzen Reihe mehr oder weniger bedeutsamer Abkommen gekennzeichnet, wie überhaupt die folgenden J a h r e als ein H ö h e p u n k t d e r h a n d e l s p o l i t i s c h e n A k t i v i t ä t Deutschlands angesprochen werden können. Von den damals abgeschlossenen Verträgen seien hier nur einige hervorgehoben : Der Handelsvertrag mit B e l g i e n , der auf dem Grundsatz der Meistbegünstigung beruhte und Tarifabreden enthielt, vom 4. April 1925 (er gilt noch heute); der Handelsvertrag mit I t a l i e n vom 3 1 . Oktober 1925, der ebenfalls auf der Grundlage der gegenseitigen Meistbegünstigung mit Tarifabreden abgeschlossen war und heute noch in Kraft steht; der Handelsvertrag mit der S o w j e t u n i o n vom 12. Oktober 1925, der in weiterer Auswirkung des RapalloVertrages vom 16. April 1922 zustande kam und auf dem Grundsatz der gegenseitigen Meistbegünstigung beruhte. Freilich litt diese Meistbegünstigung in der Folgezeit zum Nachteile des deutschen Vertragspartners daran, daß der Betätigung der deutschen Wirtschaft im Gebiete der U d S S R , im Rahmen der dortigen Gesetzgebung und Verwaltung nur ein außerordentlich geringer Spielraum gelassen wurde, während das Sowjetreich in Deutschland alle Rechte und Freiheiten in Anspruch nehmen konnte, die Deutschland irgend einem dritten Lande eingeräumt hatte. Das Abkommen vom J a h r e 1925 ist in der Folgezeit durch verschiedene Zusatzvereinbarungen ergänzt worden, unter denen das Protokoll vom 28. Mai 1932 besonders hervorgehoben werden muß, da es das ursprüngliche Meistbegünstigungsabkommen durch eine Reihe von Tarifabreden ergänzte. Von diesen besonders hervorgehobenen Vereinbarungen abgesehen, sei noch zusammenfassend festgestellt, daß am Ende des Jahres 1925 bereits wichtigere handelsvertragliche Regelungen mit folgenden Ländern in K r a f t waren: Bulgarien, Estland, Finnland, Griechenland, Großbritannien, Jugoslawien, Lettland, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Portugal, der Schweiz, der Tschechoslowakei, Ungarn und den Vereinigten Staaten von Amerika. Im Laufe des Jahres 1926 kam es zu Ergänzungen der Handelsverträge mit Lettland, den Niederlanden und Österreich; die unzu-

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reichenden Abkommen mit F i n n l a n d , P o r t u g a l und der S c h w e i z wurden durch umfangreichere Vertragswerke ersetzt. In dasselbe Jahr fällt auch die Neuregelung unserer handelspolitischen Beziehungen zu S p a n i e n . Das bereits erwähnte Meistbegünstigungsabkommen vom 25. Juli 1924 wurde durch einen noch heute in Kraft befindlichen Vertrag vom 7. Mai 1926 abgelöst, der auf dem System einer listenmäßigen Meistbegünstigung beruht. — Im Jahre 1927 wurde der bisherige Ausbau des neuen Handelsvertragssystems durch vier weitere Verträge ergänzt: am 12. Januar 1927 konnten der Handelsvertrag mit der T ü r k e i , am 20. Juli 1927 ein Meistbegünstigungsvertrag mit J a p a n (mit einer Tarifabrede für Sojabohnenöl) und am 6. Oktober 1927 ein Handelsvertrag mit J u g o s l a w i e n gezeichnet werden. Das bei weitem wichtigste handelspolitische Ereignis jenes Zeitabschnittes, das weit über die Grenzen der Vertragspartner hinaus Aufmerksamkeit gefunden hat und als symptomatisch für die europäische Handels- und Zollpolitik im zweiten Jahrfünft der Nachkriegsentwicklung bezeichnet werden kann, ist jedoch der seit dem Jahre 1925 vorbereitete und am 17. August 1927 gelungene Abschluß des — heute nicht mehr in Kraft befindlichen — umfassenden Handelsabkommens zwischen dem Reiche und F r a n k r e i c h . Es baute sich auf dem Grundsatz der uneingeschränkten beiderseitigen Meistbegünstigung auf, die auch auf die französischen Besitzungen erstreckt wurde und von umfangreichen Zolltarifabreden begleitet war. Hinsichtlich Marokkos blieben gewisse Sonderbestimmungen aufrechterhalten. Ferner enthielt das Abkommen Bestimmungen über die Zulässigkeit von Ein- und Ausfuhrverboten und deren Handhabung; beide Staaten sicherten sich die grundsätzliche Freiheit von solchen Verboten zu. Dieses Vertragswerk bildete die Grundlage für die deutsch-französischen Handelsbeziehungen bis um die Mitte des Jahres 1934. Mit dem Jahre 1927 war das handelspolitische System des Deutschen Reichs in seinen Grundzügen bereits vorgezeichnet. Die kommenden Jahre brachten — bis zum Hereinbrechen der Weltwirtschaftskrise — lediglich einen w e i t e r e n A u s b a u . So sind aus dem Jahre 1928 folgende wichtigere Abschlüsse hervorzuheben: Der Handels- und Schiffahrtsvertrag mit der S ü d a f r i k a n i s c h e n U n i o n vom 1. September 1928 (in Kraft seit dem 1 1 . Juni 1929), der noch heute gilt; es war der erste Handelsvertrag, den das Reich bisher mit einem englischen Dominion geschlossen hat. Er regelte die Handelsbeziehungen auf breitester Grundlage nach den Grundsätzen der Inländerparität und der allgemeinen, uneingeschränkten Meistbegünstigung. Die Handels- und Schiffahrtsverträge mit E s t -

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l a n d (vom 7. Dezember 1928, in Kraft seit dem 29. J u l i 1929 und noch heute gültig) und mit L i t a u e n (vom 30. Oktober 1928, in K r a f t seit dem 22. September 1929 und alleinige Grundlage unserer Handelsbeziehungen zu diesem Lande bis zum Abschluß des Abkommens über den gegenseitigen Warenverkehr vom 5. August 1936) sind ebenfalls auf der Grundlage der allgemeinen Meistbegünstigung zustande gekommen. Mit G r i e c h e n l a n d wurde am 24. März 1928 ein neuer Handels- und Schiffahrtsvertrag unterzeichnet, durch den die bereits seit dem Frühjahr 1926 schwebenden Handelsvertragsverhandlungen mit diesem Lande abgeschlossen werden konnten. Im Fernen Osten stellte das Reich seine Handelsbeziehungen durch die Verträge mit S i a m vom 7. April 1928 und mit C h i n a vom 27. August 1928 auf neue Rechtsgrundlagen; beide Verträge haben sich bis in die Gegenwart hinein bewährt. In Ergänzung des umfassenden deutsch-französischen Handelsvertragswerks vom 17. August 1927 wurden im J a h r e 1928 noch das S a a r Zollabkommen vom 23. Februar 1928 und das sog. Bereinigungsabkommen vom J u n i 1928 abgeschlossen. Das letztere Abkommen klärte gewisse Schwierigkeiten, die sich teils aus der Auslegung des Handelsvertrags von 1927, teils bei der Verzollung im beiderseitigen Warenverkehr ergeben hatten. Von handelspolitischer Tragweite war auch das am 10. November 1928 mit R u m ä n i e n abgeschlossene Abkommen zur Liquidation aus dem Kriege herrührender Streitfragen (insbesondere Vorkriegsanleihen und Beschlagnahme des deutschen Eigentums), wodurch der Weg zu handelsvertraglichen Vereinbarungen freigemacht wurde. Aus dem J a h r e 1929 sind zwei Handelsverträge zu erwähnen, die für die deutschen wirtschaftlichen Beziehungen im Orient auch heute noch von Bedeutung sind; nämlich der mit S a u d i s c h - A r a b i e n am 26. April 1929 abgeschlossene Freundschaftsvertrag (in Kraft seit dem 6. November 1930) und der Handels-, Zoll- und Schiffahrtsvertrag vom 17. Februar 1929 mit dem I r a n i s c h e n Kaiserreich (in Kraft seit dem 1 1 . J a n u a r 1 9 3 1 ) . Diese letztere Neuregelung war durch die im J a h r e 1927 erfolgte Kündigung sämtlicher Verträge notwendig geworden, welche die neue Iranische Regierung zur Beseitigung der Bestimmungen über Fremdenvorrechte ausgesprochen hatte (darunter auch des deutsch-persischen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages aus dem J a h r e 1873). Das J a h r 1930 brachte die Abschlüsse der auch heute noch gültigen Verträge mit dem I r i s c h e n F r e i s t a a t (vom 12. Mai 1930), dem K ö n i g r e i c h Ä g y p t e n (vom 25. März 1930) und mit der T ü r k i s c h e n R e p u b l i k (vom 27. Mai 1930).

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Alle diese Verträge sind auch heute noch in Kraft. Besondere Erwähnung verdient der am 12. April 1930 abgeschlossene neue Handelsvertrag mit Ö s t e r r e i c h , der an die Stelle der bereits erwähnten Abkommen aus den Jahren 1920 und 1924 trat. Er beruht auf dem Grundsatz der Meistbegünstigung und enthält eine Reihe von Tarifabreden. A m 15. J u l i 1930 konnte mit R u m ä n i e n ein vorläufiges Handelsabkommen geschlossen werden, das bis zum Abschluß des neuen Handelsvertrages vom 23. März 1935 die Rechtsgrundlage für die deutsch-rumänischen Handelsbeziehungen bildete. Das am 17. März 1930 abgeschlossene Wirtschaftsabkommen mit P o l e n ist nicht in K r a f t getreten. Damit war ein wichtiger Versuch fehlgeschlagen, den bereits seit 1925 tobenden Zollkrieg mit unserem östlichen Nachbarlande zu beenden. Mit dem 3 1 . Dezember 1930 lief auch das am 19. J a n u a r 1929 mit Polen geschlossene Holzabkommen ab, das eine gewisse Teilbefriedung herbeiführen sollte. Von dieser wichtigen Ausnahme an unserer Ostgrenze abgesehen, war am Ende des Jahres 1930 das vom Reiche aufgebaute System handelspolitischer Verbindungen w e i t g e h e n d v e r v o l l k o m m n e t . Nachzutragen bleiben noch die erfolgreichen Verhandlungen, die im Oktober des Jahres 1931 zu Neuregelungen unseres Verhältnisses zu C h i l e und B r a s i l i e n führten (Notenwechsel vom 27. Oktober 1931 mit Chile; Meistbegünstigungsabkommen mit Brasilien vom 22. Oktober 1931). Von den konstruktiven Versuchen einer regionalen Zusammenarbeit mit unseren Nachbarländern in Mittel- und Südosteuropa wird noch in anderem Zusammenhang die Rede sein. III. Das J a h r 1931 bildet für die Weltwirtschaft der Nachkriegszeit einen bedeutungsvollen Wendepunkt. Die wirtschaftliche Scheinblüte, welche die zweite Hälfte der zwanziger J a h r e kennzeichnete, schlug in eine tiefgehende K r i s e um, die innerhalb von ein bis zwei Jahren die gesamte Weltwirtschaft erfassen sollte. Erst jetzt machten sich die Folgen der unsinnigen Friedensverträge in ihrem vollen Umfang bemerkbar. Das auf ungesunden Grundlagen künstlich aufgebaute K r e d i t s y s t e m der Nachkriegsjahre, in dem politische Schuldverpflichtungen und Rüstungskredite zu Wucherzinsen eine so entscheidende Rolle spielten, b r a c h z u s a m m e n . Unter dem Druck der internationalen Schuldverpflichtungen und der durch sie bedingten Kapitalzahlungen einerseits und durch das rapide Absinken des Außenhandels anderseits schwanden die Devisenund Goldbestände einer großen Anzahl europäischer und außer-

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europäischer Länder in einem solchen Ausmaß dahin, daß sie sich gezwungen sahen, eine D e v i s e n z w a n g s b e w i r t s c h a f t u n g einzuführen. Bis zum Ende des Jahres 1931 waren bereits nicht weniger als 17 europäische und 9 überseeische Länder dazu übergegangen; unter diesen das Deutsche Reich (Devisenverordnung vom 1. August 1931), Finnland, Estland und Lettland, Österreich, die Tschechoslowakei, Ungarn, Südslavien, Bulgarien, Griechenland und die Türkei, Italien, Spanien, Portugal und die ABC-Staaten. Heute bildet die — zunächst nur als vorübergehende Notmaßnahme eingeführte — Devisenbewirtschaftung einen besonderen Zweig der Gesetzgebung und Verwaltung in vielen Staaten der Welt. Vielleicht noch einschneidender für den gesamten Außenhandel und verderblicher jedenfalls für Deutschland wirkte die in Großbritannien und bald darauf auch in den Vereinigten Staaten vorgenommene A b w e r t u n g der Währung. Durch sie sind auf Seiten der damals bei der Goldparität verbliebenen Länder Milliardenwerte verloren gegangen. Die Wettbewerbsverhältnisse auf dem Weltmarkt wurden völlig — und zwar im wesentlichen zum Nachteil dieser anderen Länder — verschoben. Die verschiedenen, zum Teil schon lange vor dem Ausbruch der Krise unternommenen V e r s u c h e , auf i n t e r n a t i o n a l e r Grundlage die Beseitigung der Handelshemmnisse und eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit zu erreichen, waren restlos f e h l g e s c h l a g e n . Die in dieser Richtung liegenden Arbeiten der Weltwirtschaftskonferenz des Jahres 1927 vermochten auf die Praxis der Handelspolitik ebenso wenig einen entscheidenden Einfluß auszuüben, wie z. B. später die Genfer Bemühungen, durch ein internationales Handelsabkommen (Vorentwurf vom September 1929, Entwurf vom 24. März 1930, letzter Versuch im März 1 9 3 1 ) zu einem „internationalen Zollfrieden" zu gelangen oder durch die Empfehlung zweiseitiger Vereinbarungen über einen umfassenden Zollabbau (zweite Internationale Konferenz für wirtschaftliche Zusammenarbeit, November 1930) der hereinbrechenden Krise entgegenzuwirken. Als Folge dieser Fehlschläge aller internationalen Lösungsversuche ging seit der Mitte des Jahres 1931 eine neue Welle protektionistischer Maßnahmen und g e g e n s e i t i g e r A b s c h l i e ß u n g über alle Staaten hinweg. Die weitere Verschärfung der Weltwirtschaftskrise und die dadurch herbeigeführten gewaltigen Devisen- und Goldverluste der großen Notenbanken zwangen viele Staaten zu einschneidenden Vorkehrungen zum Schutz der eigenen Wirtschaft, zur Verringerung der ausländischen Einfuhr und zur Erhaltung ihres Devisenbestandes. 32

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Gleichzeitig trat in fast allen diesen Ländern eine starke Propaganda für die Bevorzugung inländischer Erzeugnisse und zur Abwehr ausländischer Waren hervor. Die von den Regierungen zur Erreichung dieser Ziele angewandten Maßnahmen sind außerordentlich mannigfaltiger Art gewesen: Erhöhung oder Einführung von Zöllen, Einfuhrkontingentierungen, Einfuhrverbote, Einfuhrmonopole, Maßregeln der Devisenzwangsbewirtschaftung, — um nur die wichtigsten Kampfmittel zu nennen. Großbritannien, das — trotz eines nach dem Kriege eingeführten mäßigen Schutzzollsystems für seine lebenswichtigen Industrien — noch immer als klassisches Land des Freihandels gelten konnte, ging im Jahre 1931 dazu über, sich mit hohen S c h u t z z o l l m a u e r n zu umgeben. Die Niederlande — bisher ebenfalls ein Staat mit ausgesprochen freihändlerischer Tendenz — setzte ihren allgemeinen Finanzzoll um durchschnittlich 25 % herauf und legte besondere Zölle auf die Einfuhr von Fleisch. Belgien erhöhte die Zölle auf Butter und Fleisch, Dänemark die auf Luxuswaren. Frankreich schritt zu weitgehenden Zollerhöhungen und Italien zur Einführung eines allgemeinen Zuschlagszolles in Höhe von 1 5 % des Wertes der Einfuhrwaren. Finnland, Estland, Litauen und Polen, Österreich und Bulgarien traten mit wichtigen Zollerhöhungen hervor. Die Dominien von Südafrika, Kanada und eine Reihe südamerikanischer Republiken, darunter vor allem Argentinien, erhöhten ihre Zollmauern. Von besonders einschneidender Bedeutung für die handelspolitische Praxis der kommenden Zeit sollte die im Jahre 1931 zum ersten Male in großem Umfang angewandte E i n f u h r k o n t i n g e n t i e r u n g werden. Solche Einfuhrkontingente wurden im Jahre 1931 insbesondere von Frankreich für zahlreiche landwirtschaftliche Erzeugnisse eingeführt; desselben Mittels bedienten sich in mehr oder weniger großem Maße die Schweiz, Österreich und die Tschechoslowakei, Estland und Lettland, die Türkei und Persien. Spanien schritt zur allgemeinen Registrierung der gesamten Einfuhr, Jugoslawien zur Schaffung eines Außenhandelsmonopols für Mehl und Getreide. Polen und Dänemark erließen zahlreiche Einfuhrverbote.

Dieser Tendenz zu gegenseitiger Abschließung der Volkswirtschaften voneinander wirkten andererseits Bemühungen entgegen, die auf großräumige Z u s a m m e n f a s s u n g b e s t i m m t e r L ä n d e r g r u p p e n und Wirtschaftsgebiete abzielten. Der bisher praktisch bedeutsamste Versuch dieser Art ist von den Ländern des britischen Weltreichs auf der Konferenz von O t t a w a

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unternommen und in dem Vertragswerk vom 20. August 1932 niedergelegt worden. In der Vereinbarung von Ottawa kommt das Bestreben der zur britischen Comonwealth gehörenden Länder zum Ausdruck, sich zu einem wirtschaftlich sich selbst ergänzenden Gebilde zusammenzuschließen und damit die Möglichkeit einer von der übrigen Weltwirtschaft unabhängigen, stetigen Eigenentwicklung dieser Gebiete zu schaffen. Die damit gegebene enge, allen übrigen handelspolitischen Bindungen vorgehende wirtschaftliche Zusammenarbeit der Glieder des britischen Imperiums hat zu wichtigen praktischen Wirkungen geführt, die zum Teil für dritte Staaten recht nachteilige Folgen zeitigten. Nicht zuletzt mußte auch Deutschland, das mit den meisten Gliedern des britischen Comonwealth in regem Handelsverkehr steht, von den Auswirkungen der Konvention von Ottawa betroffen werden. Die Versuche, große, sich selbst genügende Wirtschaftsgebiete zu schaffen, blieben aber nicht auf das britische Weltreich beschränkt. Auch auf dem europäischen Kontinent ist — bisher freilich mit geringem praktischen Erfolg — häufig der Versuch unternommen worden, zu großräumiger wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu gelangen. Solche Bestrebungen haben sich in Nordwest- und Nordeuropa, vor allem aber im Donauraum immer wieder gezeigt. Der vom Deutschen Reiche im März des Jahres 1931 unternommene großzügige Versuch, durch die Schaffung einer, zugleich den Interessen der Anrainer Rechnung tragenden Z o l l u n i o n m i t Ö s t e r r e i c h das Problem einer mitteleuropäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Lösung näherzubringen, scheiterte bekanntlich an rein politischen Widerständen, die außerhalb Mitteleuropas gegen diesen wahrhaft konstruktiven Plan mobil gemacht wurden. Ein ähnliches Schicksal hatten die beiden anderen großen Versuche Deutschlands im J a h r e 1 9 3 1 , der Weltwirtschaftskrise durch die Ermöglichung einer engeren regionalen Zusammenarbeit zu begegnen. Im Anschluß an die auf der Genfer Konferenz vom November 1930 erörterte Gewährung von V o r z u g s z ö l l e n für die Getreideeinfuhr der südosteuropäischen Agrarstaaten trat das Reich in Handelsvertragsverhandlungen mit R u m ä n i e n und U n g a r n ein, die am 27. J u n i und 18. J u l i 1931 zum Abschluß entsprechender Verträge mit diesen beiden Ländern führten. Es ergab sich aber, daß verschiedene Regierungen unter Berufung auf die mit ihnen in früheren Verträgen vereinbarte Meistbegünstigung dem Abkommen vom J u n i und J u l i 1931 ihre Zustimmung versagten, so daß sie nicht in K r a f t gesetzt werden konnten. Nur der Vertrag mit Ungarn gilt für seine die Meistbegünstigung nicht beeinträchtigenden Teile seit dem 28. Dezember 1 9 3 1 . 32*

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Unter dem Eindruck der zunehmenden wirtschaftlichen Verfallserscheinungen hatten sich Ende des Jahres 1930 die Niederlande und Belgien-Luxemburg mit den drei skandinavischen Königreichen in der Konferenz von Oslo zusammengefunden. Es kam dort am 22. Dezember 1930 zum Abschluß eines Vertrages, der in gewissem Umfange eine Zusammenarbeit dieser Länder auf wirtschaftlichem Gebiet vorsieht und seit dem 7. Februar 1932 (seit dem 13. November 1933 auch für Finnland) in Kraft ist. Besondere praktische Bedeutung hat diese Konvention bis jetzt allerdings nicht erlangt. Auf der Konferenz von O u c h y versuchten zwei der Vertragspartner von Oslo, nämlich die belgisch-luxemburgische Wirtschaftsunion und das Königreich der Niederlande, im Juli 1932 durch ein Sonderabkommen zu einem Zusammenschluß zu gelangen, der es ihnen ermöglichen sollte, der wachsenden Schwierigkeiten mit vereinten Kräften Herr zu werden. Sie verpflichteten sich gegenseitig, ihre Zölle in einem bestimmten Verhältnis herabzusetzen, um sie allmählich auf die Hälfte der damals bestehenden Sätze zu bringen. Der Beitritt zu diesem Abkommen wurde dritten Staaten ausdrücklich freigestellt. Leider haben sich die Hoffnungen nicht erfüllt, die damals von vielen Seiten an diesen Versuch geknüpft wurden, den man nicht nur als den einer regionalen Zusammenarbeit, sondern vielfach als den Ansatzpunkt zu einer internationalen Zollabbaubewegung betrachtete. Das Abkommen ist — zum Unterschied zu der Konvention von Oslo — überhaupt nicht ratifiziert worden. Der ihm zugrundeliegende Plan wurde freilich auch in neuerer Zeit von privater Seite verschiedentlich wieder aufgegriffen und zur Erörterung gestellt. Am meisten hatten durch die Grenzziehung der Friedensdiktate und die nicht zuletzt auf diese zurückzuführende allgemeine Wirtschaftskrise diejenigen Volkswirtschaften zu leiden, die früher schon größere Einheiten in dem angedeuteten Sinne gebildet hatten; so vor allem die Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie. Es ist daher nur allzu begreiflich, daß gerade im D o n a u r a u m die Bestrebungen zu einer großräumigen Zusammenarbeit einer Lebensnotwendigkeit dieser Länder entsprechen. Die Konferenzen in London vom April 1932 und in Stresa vom September 1932 waren dem Versuch gewidmet, einen stärkeren volkswirtschaftlichen Zusammenschluß der fünf Donauländer herbeizuführen. Es zeigte sich aber, daß dieses Unterfangen deshalb ein Fehlschlag bleiben mußte, weil die Länder an der mittleren und unteren Donau wirtschaftlich keineswegs aufeinander abgestimmt sind. Die notwendige Ergänzung konnten und können diese überwiegend auf die Ausfuhr ihrer landwirtschaftlichen Überschüsse an-

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gewiesenen Gebiete auch heute noch nur in Ländern der Großverbraucher ihrer Erzeugnisse finden. Alle Konferenzen und Untersuchungen, die an dieser Grundtatsache vorbeigehen möchten, sind daher stets und von vornherein zum Scheitern verurteilt. Deutschland war bereit, das in seiner Macht Stehende zu tun, um eine fruchtbare wirtschaftliche Zusammenarbeit der mittel- und südosteuropäischen Länder zu ermöglichen. Von dem Fehlschlagen der Versuche, die 1931 vom Reiche aus in dieser Richtung unternommen wurden, ist schon die Rede gewesen. Die verschiedenen Bestrebungen, die Weltwirtschaft durch Schaffung lebensfähiger großräumiger Zusammenschlüsse neu zu ordnen, haben sich, verglichen mit den bisher vorliegenden verunglückten Versuchen allgemeiner internationaler Vereinbarungen, zweifellos als aussichtsvoller erwiesen. Es ist aber auch auf diesem Wege nicht gelungen, der Krise rechtzeitig vorzubeugen oder ihr wirksam Einhalt zu gebieten. Der W i r t s c h a f t s v e r f a l l ging vom J a h r e 1931 an mit Riesenschritten weiter. Naturgemäß vollzog er sich besonders rasch und verheerend in den von derVersailler Mißordnung am meisten betroffenen Gebieten Ost-, Mittel- und Südosteuropas, in erster Linie aber in Deutschland.

Die deutsche Handelspolitik ist in dieser Notzeit durch den Abschluß der ersten V e r r e c h n u n g s - und Z a h l u n g s a b k o m m e n gekennzeichnet, die durch den Übergang wichtiger Handelspartner des Reichs zur Devisenzwangsbewirtschaftung notwendig geworden war. Die Verrechnungsabkommen, die im Laufe des Jahres 1932 in erster Linie mit den südosteuropäischen Staaten, später auch mit der Tschechoslowakei, Estland und Lettland abgeschlossen wurden, stellten die Zahlungsweise im gegenseitigen Handelsverkehr auf neue Grundlagen. Hierbei ging es zugleich darum, die in diesen Ländern festliegenden deutschen Exportforderungen durch eine zwischen den Notenbanken durchgeführte Verrechnung mit Einfuhrzahlungen aus Deutschland aufzutauen. Eine andere Gruppe solcher Abkommen stellen demgegenüber die mit Ländern ohne Devisenbewirtschaftung abgeschlossenen Vereinbarungen dar. Hierhin gehören die west- und nordeuropäischen Länder, im Verhältnis zu denen das Reich zwar eine aktive Handelsbilanz, aber erhebliche Kapitalverpflichtungen hatte. Da die Abdeckung dieser Verpflichtungen durch Gold- oder Devisenzahlungen nunmehr unmöglich geworden war, bestand die Gefahr, daß die Gläubigerstaaten von sich aus zur Einrichtung eines Clearings schritten, unter das sämtliche deutschen Exportforderungen in diesen Ländern gefallen wären. Die mit ihnen gezeichneten Zahlungsabkommen stell-

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ten — vom Reiche aus gesehen — das einzig mögliche Mittel dar, Gegenmaßnahmen vorzubeugen. I m innerstaatlichen deutschen Recht haben die wirtschaftlichen Notwendigkeiten und die neuen handelsvertraglichen Regelungen auf dem Gebiete der Devisenbewirtschaftung ihren Niederschlag in einer Reihe von Bestimmungen gefunden, deren wichtigste vorläufige Z u sammenfassung die Devisenverordnung vom 23. Mai 1932 darstellte. Es kam so zu einem systematischen A u f b a u einer devisenrechtlichen Regelung des Warenverkehrs, die auf allgemeinen und Einzelgenehmigungen beruhte, die den deutschen Importeuren auf Grund der in bestimmten Vergleichsjahren getätigten Einfuhrgeschäfte erteilt wurden. IV. Als die n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e R e g i e r u n g zu Beginn des J a h r e s 1933 im Reiche die Macht übernahm, war die innere und äußere Wirtschaftslage Deutschlands geradezu trostlos geworden. Der Außenhandel unseres von der Weltwirtschaftskrise besonders schwer heimgesuchten Landes war innerhalb von drei J a h r e n auf weniger als 40 v. H. seines Gesamtumfangs zusammengeschrumpft. Einfuhr 1929: 13446,8 Millionen 1932: 4666 Ausfuhr 1929: i 3 4 8 2 , 7 J 9 3 2 : 5739

RM.,

Die deutsche Landwirtschaft ging dem endgültigen R u i n entgegen. Die Arbeitslosigkeit in den Industriegebieten nahm von T a g zu T a g zu; die Zahl der Arbeitslosen im Deutschen Reiche überschritt um die Wende des Jahres 1932 die 6-Millionen-Grenze (günstigster Stand 1927: 0,8 Millionen). Der Produktionsindex fiel Mitte 1932 auf 6 0 % des Standes von 1928. Die Regierung wußte, daß, wenn nicht schnell und entschlossen gehandelt wurde, ein Chaos unabwendbar war. Sie erkannte, daß es vor allem darauf ankam, der heimischen Landwirtschaft ihre Lebensmöglichkeit zurückzugeben und die Millionen arbeitsloser Volksgenossen so schnell als möglich wieder einer geregelten Tätigkeit zuzuführen. Dies war nur möglich durch eine großzügige Belebung der inneren Wirtschaft unter starkem Einsatz öffentlicher Mittel, durch Erzeugung einer I n l a n d s k o n j u n k t u r unter Heranziehung und Auswertung aller Hilfsquellen des Landes. Darin lag die einzige Möglichkeit, das deutsche Volk der lähmenden Auswirkung der allgemeinen Krise wieder zu entziehen, deren wirksame Bekämpfung sich auf dem

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Wege internationaler Zusammenarbeit vorerst als unmöglich erwiesen hatte. Die nationalsozialistische Regierung stellte mit dieser entschlossenen Umstellung der inneren Wirtschaftsführung auch die deutsche H a n d e l s p o l i t i k vor n e u e A u f g a b e n . Ihr wichtigstes Ziel mußte es sein, die Wiederbelebung der Binnenwirtschaft unter allen Umständen zu fördern und die volle Ausnutzung ihrer Arbeitsfähigkeit zu gewährleisten. Es galt mithin in erster Linie der deutschen Volkswirtschaft diejenigen Rohstoffe aus dem Auslande zuzuführen, über die sie nicht verfügte. Es galt ferner, die zusätzlichen Lebensmittel für unser Volk zu beschaffen, die innerhalb seines beengten Nahrungsspielraiyns nicht erzeugt werden können. Es galt aber auch, die Ausfuhr vor allem deutscher Fertigware zu fördern, weil nur dadurch die zum Erwerb ausländischer Rohstoffe und Agrarprodukte erforderlichen Mittel beschafft und die auf Export eingestellten Teile der deutschen Volkswirtschaft in Arbeit gesetzt und gehalten werden konnten. War in der Vergangenheit Außenhandelspolitik schlechthin getrieben worden, stand also die Ausfuhr als solche im Vordergrund der handelspolitischen Bemühungen, so galt von jetzt an gewissermaßen das P r i m a t der E i n f u h r . Wichtigstes Ziel nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik war die Ingangsetzung der Binnenwirtschaft, die möglichst volle Ausnutzung ihrer Leistungsfähigkeit im Interesse der Arbeitsbeschaffung, der Hebung des in erschreckendem Maße gesunkenen Lebensstandards und der Wiederherstellung der Wehrkraft des Reiches. Die Handelspolitik sollte nicht mehr — wie in früheren Zeiten — in erster Linie für einen möglichst gewinnbringenden Auslandsabsatz inländischer Erzeugnisse, sondern vor allem für die Sicherstellung der für uns lebensnotwendigen Einfuhren Sorge tragen. Der allerdings nach Kräften zu fördernde Außenhandel erschien damit eindeutig als Mittel zum Zweck. Freilich begegnete die deutsche Handelspolitik bei Erfüllung dieser Aufgabe in den folgenden Jahren a u ß e r g e w ö h n l i c h e n S c h w i e r i g k e i t e n . Während einerseits die deutsche Ausfuhr auf den ausländischen Märkten wachsende Hindernisse antraf, die teils aus der zunehmenden Abschließung der einzelnen Wirtschaftsgebiete, teils aus dem gerade im J a h r e 1933 stark aufkommenden Boykott jüdischer und linksradikaler Kreise erwuchsen, nahm der Einfuhrbedarf der deutschen Volkswirtschaft ständig zu. Die Belebung des Binnenmarktes infolge der Maßnahmen der nationalsozialistischen Regierung erhöhte naturgemäß die Nachfrage nach ausländischen Rohstoffen, und der langsam wieder ansteigende Lebensstandard der breiten Massen unseres Volkes machte sich durch eine gesteigerte Einfuhr fremder Lebensmittel be-

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merkbar. Nach dem damaligen Stande der Zahlungsabkommen war es den deutschen Importeuren auch in großem Umfange möglich, trotz sinkender Ausfuhr erhöhte Einfuhren vorzunehmen, indem der Gegenwert in Form von Reichsmarkzahlungen in unbeschränkter Höhe auf die bei der Reichsbank geführten Sonderkonten der ausländischen Zentralinstitute entrichtet werden konnte. Die Folge war eine Passivierung unserer Handelsbilanz und damit eine ständige Abnahme der Devisenbestände der Reichsbank und der Privatnotenbanken. So stieg die deutsche Einfuhr von 4,2 Milliarden R M . im Jahre 1933 auf 4,45 Milliarden R M . im Jahre 1934, während die Ausfuhr von 4,87 Milliarden R M . (1932 noch 5,74 Milliarden RM.) auf 4,16 Milliarden R M . sank. Der Saldo der Handelsbilanz verwandelte sich damit von einem Plus in Höhe von 667,8 Millionen R M . im Jahre 1933 in ein Minus von 284,1 Millionen R M . im Jahre 1934, während die Devisenbestände der Reichsbank und der vier Privatnotenbanken von 473 Millionen RM. Anfang Januar 1934 auf 285 Millionen R M . am 30. April 1934 und auf 150 Millionen R M . Ende Juni 1934 zusammenschrumpften. Diese Zahlen sprechen deutlich genug. Die Entwicklung drängte zu schnellen Entschlüssen. Wirksame Abhilfe konnte aber nur durch eine Regelung geschaffen werden, welche die Wareneinfuhr in Übereinstimmung mit der Warenausfuhr und dem Devisenaufkommen der deutschen Wirtschaft brachte.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1934 setzte die Annahme des „ N e u e n P l a n e s " der angedeuteten bedrohlichen Entwicklung ein Ende. Er geht von der These aus, daß „Deutschland nur d a n n Waren e i n f ü h r e n kann, wenn ihm deren B e z a h l u n g d u r c h seine A u s f u h r e r m ö g l i c h t wird"; oder anders ausgedrückt: „Deutschland kann Waren nur einführen, wenn ihm auch seine Waren abgenommen werden". Über die Zielsetzung und die nächsten Folgen des „Neuen Planes" wird in der vom Reichswirtschaftsministerium herausgegebenen „Übersicht über den Stand der wirtschaftspolitischen Beziehungen Deutschlands im Jahre 1935" folgendes ausgeführt: „Dieser klaren und loyalen Linie, die durch den Neuen Plan für die Gestaltung der wirtschaftspolitischen Beziehungen Deutschlands zu seinen ausländischen Lieferanten und Kunden gezogen war, hat sich das A u s l a n d nur in wenigen Ausnahmefällen widersetzt. Im allgemeinen sind die aus dem Neuen Plan notwendig gewordenen Verhandlungen mit auswärtigen Staaten zufriedenstellend verlaufen. Deutschland ist dabei von dem Grundsatz ausgegangen, daß der Neue

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Plan für seine Handelspolitik k e i n e A n g r i f f s w a f f e ist, wie es die Zölle, die Ein- und Ausfuhrverbote, die Währungsentwertung, der Boykott und manche anderen Werkzeuge der modernen Handelspolitik sind. Der Neue Plan ist eine uns d u r c h d i e D e v i s e n n o t l a g e a u f g e z w u n g e n e V e r t e i d i g u n g s w a f f e , die in erster Linie dazu eingesetzt wurde, um die Einfuhr in der Richtung zu steuern, daß den durch die innere Wirtschaftsbelebung in Arbeit und Brot gebrachten Volksgenossen ihre Arbeitsplätze erhalten wurden. Der notwendigen Steuerung der Einfuhr mußte das Z i e l vor Augen schweben, nur l e b e n s n o t w e n d i g e W a r e n aus dem Ausland zu beziehen. Die Erreichung dieses Zieles mußte auf Schwierigkeiten stoßen, weil viele Staaten, die für uns als Lieferanten lebenswichtiger Güter in Frage kommen, ein aus ihrer Wirtschaftsstruktur gegebenes Interesse daran haben, uns auch solche Waren zu verkaufen, auf deren Einfuhr wir bei der nun einmal gegebenen Notlage mehr oder weniger gern verzichten würden. Die A u f g a b e d e r d e u t s c h e n H a n d e l s p o l i t i k war es, bei diesem Widerstreit der deutschen mit den ausländischen Interessen einen billigen A u s g l e i c h zu finden. In dem Worte „Ausgleich" liegt bereits die Feststellung der Tatsache, daß die Abdrosselung jeder nicht lebensnotwendigen Einfuhr undurchführbar war. Die deutsche Handelspolitik kann aber, wenn sie das Ergebnis ihrer Bemühungen im J a h r e 1935 betrachtet, feststellen, daß es ihr in weitgehendem Umfange gelungen ist, den Erfordernissen der Volkswirtschaft Rechnung zu tragen. An der im J a h r e 1935 durchgeführten allgemeinen Einschränkung der Einfuhr nach den Grundsätzen des Neuen Planes nehmen im Vergleich zur Einfuhr des Vorjahres die Fertigwaren mit 22,4 %, die Rohstoffe und Halbwaren nur mit 4,6 % (Novemberzahlen) teil." Tatsächlich ist in Verfolg des „Neuen Planes" die Einfuhr in der im Zitat angedeuteten Richtung von 4,45 Milliarden R M . (1934) im Jahre 1935 auf 4,16 Milliarden R M . zurückgegangen, während die Ausfuhr von 4,16 Milliarden R M . (1934) auf 4,27 Milliarden R M . (1935) erhöht werden konnte; sie entwickelte sich auch im Laufe des Jahres 1936 in steigender Richtung weiter. Der Saldo unserer Handelsbilanz verwandelte sich damit wieder aus einem Minus von annähernd 300 Millionen R M . (1934) in einen Ausfuhrüberschuß von mehr als 1 1 0 Millionen R M . im J a h r e 1935. Allein die ersten 9 Monate 1936 haben uns sogar einen Ausfuhrüberschuß von mehr als 3 1 9 Millionen R M . gebracht, eine Zahl, die eindeutiger als alles andere den durchschlagenden Erfolg des Neuen Planes beleuchtet. Die Annahme des „Neuen Planes" hat auch einen tiefgreifenden Um-

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bau der deutschen Devisenbewirtschaftung erforderlich gemacht, der seinen rechtlichen Ausdruck in der V e r o r d n u n g ü b e r d e n W a r e n v e r k e h r v o m 4. S e p t e m b e r 1934 fand. Als wichtigste organisatorische Änderung ist aus dieser Neuregelung hervorzuheben, daß für die Aufgaben des Warenverkehrs der nach regionalen Gesichtspunkten gegliederte Behördenaufbau der Devisenstellen durch ein System von 25 für das ganze Reichsgebiet eingerichteten Ü b e r w a c h u n g s s t e l l e n abgelöst wurde. Der deutsche Außenhandel wird seitdem durch diese Überwachungsstellen hindurchgeschleust; für die Devisenzuteilung gilt nunmehr grundsätzlich das Prinzip der Vorrepartierung, d. h. es werden Genehmigungen nur in dem Umfange erteilt, als Devisen oder Gutschriften aus dem Export tatsächlich zur Verfügung stehen. In den handelspolitischen Beziehungen des Reiches zum Auslande haben die neuen Notwendigkeiten in einer langen Reihe von Zahlungsund Verrechnungsabkommen ihren Niederschlag gefunden. Die Vorläufer der neueren Verträge dieser Art sind im Zusammenhang mit der handelspolitischen Umstellung bereits erwähnt worden, die etwa mit dem J a h r e 1931 einsetzte. In demselben Zusammenhang ist auch von Devisenbewirtschaftung und Einfuhrkontingentierung und deren Bedeutung als Waffe der modernen Handelspolitik die Rede gewesen. Devisenbewirtschaftung und Einfuhrkontingentierung haben ganz wesentlich dazu beigetragen, daß sich im Laufe des letzten Jahrfünfts n e u e F o r m e n i m h a n d e l s p o l i t i s c h e n V e r t r a g s w e s e n herausgebildet haben. Die meisten Handelsverträge Deutschlands aus dem ersten Nachkriegsjahrzehnt und zum Teil auch noch die aus älterer Zeit laufen zwar heute noch. Für die Gestaltung unseres Außenhandels sind sie aber in ihrer ursprünglichen Form nur noch in sehr beschränktem Maße von praktischer Bedeutung. Die meisten dieser älteren Verträge sind durch zahlreiche Zusatzvereinbarungen oder Neuregelungen ergänzt worden, soweit nicht überhaupt neue Abkommen an ihre Stelle traten. Der Schwerpunkt aller dieser neuen Verträge liegt in den Bestimmungen über die Zahlungs- und Verrechnungsweise, über Einund Ausfuhrkontingente. Die M e i s t b e g ü n s t i g u n g s k l a u s e l , die fast alle diese älteren Verträge — teils mit, teils ohne Ergänzung durch Tarifabreden — enthalten, hat sich unter den heutigen Verhältnissen vielfach als unzureichend erwiesen. Einerseits bot sie keine wirksame Sicherheit mehr gegen Diskriminierungen und Handelshemmnisse aller Art; anderseits hat gerade die Verpflichtung, im Wege der unbedingten Meistbegün-

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stigung jeden Vorteil, der einem Staat eingeräumt worden ist, auch allen anderen meistbegünstigten Staaten zubilligen zu müssen, sich im Gegenteil als ein Hindernis für wirtschaftlich vernünftige Maßnahmen gezeigt. Das bereits erwähnte Beispiel der Südost-Präferenzen erläutert diese Feststellung zur Genüge. Eine weitere wichtige Einschränkung hat die Meistbegünstigung ferner dadurch erfahren, daß in Auswirkung der Beschlüsse von Ottawa alle Länder des Britischen Weltreichs hinsichtlich des zwischen ihnen stattfindenden Handelsverkehrs aus der Meistbegünstigung herausgenommen wurden. Die neuen Gegebenheiten führten so über die hergebrachten Formen des handelspolitischen Vertragswesens hinaus und forderten neue Vorkehrungen. Beschränkten sich frühere Handelsverträge darauf, gewissermaßen einen Rahmen für die Betätigung des privaten Geschäftswillens zu schaffen, so muß die heutige handelspolitische Vereinbarung viel weiter gehen: sie bestimmt in gewisser Beziehung den Inhalt der abzuschließenden Geschäfte selbst und setzt vielfach auch den Umfang fest, innerhalb dessen Geschäfte einer bestimmten Art jeweils stattfinden können. Der Kaufmann wird auf diese Weise mehr oder weniger zum Organ der vertragschließenden Regierungen. Ob diese Drosselung der kaufmännischen Betätigung im Außenhandel für das Gedeihen und die Zusammenarbeit der Volkswirtschaften von Vorteil ist oder nicht, soll hier nicht untersucht werden. Jedenfalls ist der seit dem J a h r e 1932/33 herausgebildete Typ der modernen handelspolitischen Vereinbarung, die besonders über das Z a h l u n g s - u n d V e r r e c h n u n g s wesen, über Einfuhr- und A u s f u h r k o n t i n g e n t i e r u n g Bestimmung trifft, notwendig das herkömmliche Mittel für den Umbau und die Anpassung der handelspolitischen Verbindungen des Reichs geworden. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dasjenige Z a h l u n g s a b k o m m e n zuerst zu betrachten, von dem man wohl behaupten darf, daß es beiden Teilen noch die größtmögliche Bewegungsfreiheit läßt: das ist das d e u t s c h - e n g l i s c h e Zahlungsabkommen vom November 1934. Die Englische Regierung hat darin der Tatsache Rechnung getragen, daß ein Schuldnerstaat nur in die Lage kommt, seine Schulden zu bezahlen, wenn man es ihm ermöglicht, in seinem Außenhandel entsprechende Überschüsse zu erzielen. Deshalb wurde das Verhältnis der deutschen Warenausfuhr nach England zu der Einfuhr englischer Waren nach Deutschland wie 100 zu 55 festgesetzt. Im übrigen wurde dem Außenhandel beider Länder freier Spielraum gelassen. Lediglich ist auf der deutschen Einfuhrseite die bevorzugte Behand-

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lung gewisser britischer Exporte (Kohle, Heringe, Textilwaren) vor anderen Einfuhren britischer Herkunft zugesichert worden. Bei den übrigen Verrechnungs- und Zahlungsabkommen ist die Festlegung meist eine noch viel weitergehende, und der hauptsächlichste Inhalt dieser Verträge besteht in der Aufstellung von Listen der Waren, die man gegenseitig einander abnehmen oder verkaufen will. Dabei zeigt sich das immer stärker werdende Bestreben der Rohstoffländer, auch ihren neugegründeten Industrien Absatzmöglichkeiten zu verschaffen. Wenn z. B. früher die nordischen Länder in der Hauptsache Rund- und Schnittholz verschifften, so verlangen sie heute, daß die Ausfuhr von Rundholz, Schnittholz und Holz-Fertigfabrikaten in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gebracht wird. Derartige Abmachungen sind häufig für die Vertragspartner Deutschlands vorteilhafter als für uns, weil infolge der starken inneren Wirtschaftsbelebung auf deutscher Seite ein Bedarf für fast alle Waren vorhanden ist. Es kommt deshalb selten vor, daß derartig ausgehandelte Kontingente vom ausländischen Verkäufer nicht ausgenutzt werden. Im Ausland liegen die Verhältnisse jedoch anders, und die der deutschen Industrie zugestandenen Kontingente können leider sehr oft nicht erschöpft werden, weil die Kaufkraft des Partners zu wünschen übrig läßt. Vorher ist das deutsch-englische Zahlungsabkommen kurz gestreift worden. Leider ist es nicht gelungen, mit einer größeren Anzahl von Staaten derartige Abkommen abzuschließen; auf ähnlicher Grundlage sind nur Verständigungen mit I r l a n d , B e l g i e n und J a p a n erzielt worden. Der sonstige zwischenstaatliche Zahlungsverkehr bewegt sich heute auf der Grundlage von V e r r e c h n u n g s a b k o m m e n , die zwar im Laufe der J a h r e immer mehr verfeinert und ausgebaut wurden, die aber alle zu einer Umlagerung in den Außenhandelsbeziehungen führen mußten. Denn jedes Verrechnungsabkommen hat die Neigung, die Handelsbilanz auszugleichen, und eine Rücksichtnahme auf die Zahlungsbilanz oder gar auf einen über mehrere Staaten geleiteten Warenverkehr ist nur schwer möglich. Deshalb führen diese Verrechnungsabkommen auch sehr leicht zu einer Erstarrung und Schrumpfung des Außenhandels, und es bedarf immer wieder des Eingreifens von Regierungsseite, um das Handelsvolumen einigermaßen den Bedürfnissen der beteiligten Volkswirtschaften anzupassen. Ein praktisch außerordentlich wichtiges Organ zur Wahrnehmung dieser Aufgaben stellen die in den meisten einschlägigen Abkommen eingesetzten R e g i e r u n g s a u s s c h ü s s e dar, die auch bei einigen der reinen Zahlungsabkommen vorgesehen sind. Sie treten in mehr oder weniger regel-

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mäßigen Abständen zu Beratungen zusammen, um die im Rahmen der bestehenden Verträge jeweils neu auftauchenden Fragen zu regeln. Man vermeidet durch diese sehr „bewegliche" Form zwischenstaatlicher Erörterungen den weit schwerfälligeren Apparat förmlicher Vertragsverhandlungen. Inwieweit die zuweilen beobachtete Erstarrung oder sogar Schrumpfung des Außenhandels eine unmittelbare Folge der Technik der Verrechnungsabkommen ist, steht noch dahin. Denn es gibt eine Menge von Beispielen dafür, daß gerade der Abschluß solcher Verrechnungsabkommen zu einer Ausweitung des Handelsverkehrs geführt hat. Insbesondere gilt dies für unseren Außenhandel zu den s ü d a m e r i k a n i s c h e n Staaten, bei denen sich z. B. im J a h r e 1935 im Vergleich zu den Vorjahren die deutsche Ausfuhr um mehr als 46% und die deutsche Einfuhr um mehr als 3 2 % gehoben hat. Fragt man nach den Erfolgen der deutschen Handelspolitik in den letzten Jahren, so kann man feststellen, daß der „Neue Plan" sich in der Praxis bewährt hat und daß es gelungen ist, die deutsche Handelsbilanz — wie schon gezeigt wurde — wieder aktiv zu gestalten. Wenn diese Aktivspitze nicht sehr erheblich ist und keine weiterreichende Erleichterung für die Sorgen um die Beschaffung von Rohstoffen und zusätzlichen Nahrungsmitteln bringt, so liegt das u. a. auch daran, daß die in der Statistik ausgewiesene Spitze der Reichsbank keineswegs in fremden Devisen zugeflossen ist. Denn zum Teil mußten die alten, insbesondere aus dem J a h r e 1934 stammenden Warenschulden zurückgezahlt werden, und daneben waren noch die Kapitalverpflichtungen gegenüber dem Auslande zu erfüllen. Vielfach ist aber auch bei den Verrechnungsabkommen eine Spitze entstanden, die einfach solange festgehalten wird, bis es uns gelingt, sie durch den Bezug lebensnotwendiger Waren aufzubrauchen. Auf dem Gebiete der w i r t s c h a f t l i c h e n Z u s a m m e n a r b e i t mit den uns durch besonders enge wirtschaftliche Beziehungen verbundenen Ländern stand die deutsche Handelspolitik in den letzten Jahren vor schweren Problemen, die konstruktive Lösungen verlangten. Es ist bereits auf eine wichtige Frage hingewiesen worden, die — trotz vielfacher Anstrengungen schon z. Zt. der „Konjunktur" — fast 10 J a h r e hindurch ungeregelt blieb: die Ordnung der wirtschaftlichen Beziehungen zu unserem wichtigsten östlichen Nachbar: P o l e n . Seitdem die Regierung der Polnischen Republik alsbald nach Ablauf der dem Deutschen Reiche im Versailler Vertrag auferlegten einseitigen Meistbegünstigung (10. J a n u a r 1925) Ausnahmemaßnahmen gegen die Einfuhr deutscher Waren ergriffen hatte, die von der Reichsregierung

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mit der Einführung von Sonderzöllen beantwortet wurden (Verordnung vom 2. J u l i 1925, in Kraft bis zum 1. April 1932: Einführung des Obertarifs), herrschte zwischen beiden Ländern ein wirtschaftlicher Kampfzustand. Das Holzabkommen vom 19. J a n u a r 1929, das aber nur bis zum Ende des Jahres 1930 galt, und das nie in Kraft getretene Wirtschaftsabkommen vom 17. März 1930 vermochten dem „ZollK r i e g " keinen Einhalt zu bieten. Erst im Zuge der unter der nationalsozialistischer? »Regierung zustande gekommenen politischen Verständigung konnte am 1 1 . Oktober 1934 eine „Vereinbarung über den gegenseitigen Warenaustausch" geschlossen werden, die auf der Grundlage einer listenmäßigen Meistbegünstigung beruhte. Sie wurde am 4. November 1935 durch einen Handelsvertrag abgelöst (in K r a f t seit dem 20. November 1935), der gegenseitige Meistbegünstigung und Tarifabreden vorsieht. Wenn der Außenhandel beider Länder heute auch noch nicht den wünschenswerten Umfang angenommen hat, so ist doch seit dem Inkrafttreten dieser vertraglichen Regelung eine sichere Grundlage für die weitere Entwicklung geschaffen worden. Trotz Bestehens handelsvertraglicher Beziehungen kam infolge bekannter politischer Spannungen der Handelsverkehr mit einem anderen unserer östlichen Nachbarn fast zum Erliegen. Auch die Außenhandelsumsätze zwischen Deutschland und L i t a u e n , die im Jahre 1930 etwa 100 Mill. R M . betragen haben, gingen im vorigen J a h r e auf etwa 9,2 Mill. R M . zurück. Zur Normalisierung der deutsch-litauischen Handelsbeziehungen wurden — auch dies war ein Ausfluß der politischen Beruhigung, die auf deutsche Initiative zurückging — im März 1936 Verhandlungen aufgenommen. Nach mehrwöchentlicher Unterbrechung sind diese Verhandlungen durch die Unterzeichnung eines umfassenden V e r t r a g e s vom 5. August 1936 beendigt worden, der eine wesentliche Steigerung der Handelsumsätze beider Beteiligten (nämlich zunächst um mehr als 150%) vorsieht. Von großer Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Handelspolitik in den letzten Jahren sind vor allem die Verträge mit einer Reihe s ü d o s t e u r o p ä i s c h e r Staaten gewesen, unter denen hier nur der neue Handelsvertrag mit dem Königreich Südslavien vom 1. Mai 1934 genannt sei. Der deutsche Handelsverkehr mit diesen Ländern konnte sich in den letzten Jahren in einem so erfreulichen Maße entwickeln, daß heute das Reich für die Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn, Südslavien, Rumänien, Bulgarien und Griechenland sowohl unter den Abnehmern als auch unter den Lieferanten an 1. Stelle steht. Im Falle Südslaviens beträgt z. B. der deutsche Anteil an der Einfuhr 16,2 v. H., an der Ausfuhr des Landes 18,7 v. H.; es folgen Italien mit

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10 v. H. bzw. 16,7 v. H., Österreich 11,9 bzw. 14,3 v. H. und die Tschechoslowakei mit 14 bzw. 13,5 v. H. Ein weiteres Beispiel: 18,7 v. H. der griech. Einfuhr kommt aus Deutschland und fast 30 v. H. seiner Ausfuhr geht nach dem Reiche. An nächster Stelle steht unter den Handelspartnern des Landes Großbritannien, das 15,5 v. H. der Einfuhr liefert und dafür 12,7 v. H. der griechischen Ausfuhr aufnimmt. Die vorstehenden Zahlen sind der jeweiligen ausländischen Statistik entnommen. In diesem Zusammenhang muß weiterhin als bedeutsamer Fortschritt im Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen des Reichs zu seinen Nachbarländern die neue Regelung mit Ö s t e r r e i c h hervorgehoben werden. Österreich als Waffenbruder des großen Krieges ist eines der ersten Länder gewesen, mit denen das Reich nach dem Weltkrieg wieder in engere wirtschaftliche Beziehungen getreten ist. Von den ersten Verträgen aus den Jahren 1920 und 1924 ist schon gesprochen worden, ebenso von dem Handelsvertrage vom 12. April 1930. Politische Spannungen führten im Verhältnis zu Österreich zeitweise zu einer gewissen Beeinträchtigung des beiderseitigen Handelsverkehrs. In Verfolg der bekannten Abrede vom 1 1 . J u l i 1936 kam es am 12. August 1936 zum Abschluß einer vorläufigen wirtschaftlichen Vereinbarung, die einer Wiederbelebung und Steigerung des Warenaustausches zwischen den beiden deutschen Staaten den Weg bereiten soll. Es ist beabsichtigt, diese Vereinbarung demnächst durch eine umfassende Regelung zu ersetzen. Wenn wir somit an unserer Ost- und Südgrenze nunmehr den Ring unserer handelspolitischen Vereinbarungen mit den europäischen Staaten weiter geschlossen haben, so klafft im Westen eine große Lücke. Seit länger als einem J a h r e ist das Waren- und Verrechnungsabkommen mit F r a n k r e i c h außer K r a f t getreten, das am 28. J u l i 1934 an die Stelle des von unseren Partnern am 19. J a n u a r 1934 gekündigten Handelsvertrags aus dem J a h r e 1927 getreten war. Wenn der vertraglose Zustand mit Frankreich bisher für die deutsche Ausfuhr noch keine allzu einschneidenden Wirkungen gehabt hat, so nur deshalb, weil sich an das Außerkrafttreten des Verrechnungsabkommens eine bereits in diesem Abkommen vorgesehene und vorerst anhaltende Abwicklungsperiode anschloß. Es ist zu hoffen, daß es noch vor dem Ablauf dieser Periode zu einer Neuregelung kommt, an der beide Beteiligten ein zweifellos starkes Interesse haben sollten. Außer Frankreich bereitet noch ein weiteres großes Land der deutschen Handelspolitik erhebliche Sorgen, nämlich die V e r e i n i g t e n S t a a t e n v o n A m e r i k a . Die im Handelsvertrag vom 8. Dezember 1923 vereinbarte Meistbegünstigung, aus der wir 10 J a h r e lang keine

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zollpolitischen Vorteile gezogen hatten, ist bekanntlich im vorigen J a h r e für den Warenverkehr in Wegfall gekommen. Zur Zeit ist die deutsche Ware auf dem amerikanischen Markt in mehrfacher Hinsicht diskriminiert, insbesondere durch die Art der Berechnung der amerikanischen Wertzölle, welche die Länder mit nicht abgewerteten Währungen einer besonderen Belastung aussetzt. Die Hoffnung auf eine neue Verständigung zwischen dem Reich und den Staaten ist in jüngster Zeit dadurch schwer beeinträchtigt worden, daß die Bundesregierung mit Wirkung vom 1 3 . J u l i 1936 die Erhebung von Zuschlagszöllen auf gewisse deutsche Fertigwaren angeordnet hat. Trotzdem soll nichts unversucht bleiben, die deutsch-amerikanischen Handelsbeziehungen (die auf unserer Ausfuhrseite auf fast ein Sechstel, auf unserer Einfuhrseite auf ein Siebentel des Umfanges von 1929 zusammengeschrumpft sind) einer tragbaren Neuregelung zuzuführen. Wir glauben bestimmt, daß eine solche Neuregelung im Interesse der beiden Länder liegt. V. Dem Verfasser war die Aufgabe gestellt, in der vorliegenden Ausarbeitung die Hauptlinien der deutschen Handelspolitik zu zeichnen. Er hat sich dabei bemüht, den Schwerpunkt seiner Ausführungen auf die Veränderungen zu legen, die sich in diesem wichtigen Teil staatlicher Politik seit dem Kriege vollzogen haben. Die zunehmenden Schwierigkeiten, die aus der Weltwirtschaftskrise für die internationale und mit ihr für die deutsche Handelspolitik erwuchsen, sollen — so ist es der Wunsch des Verfassers — dem Leser plastisch vor Augen treten. Mit der dem Nationalsozialismus eigenen Tatkraft ist es der Deutschen Regierung bislang gelungen, diese Schwierigkeiten zu meistern. Nie hat es eine Zeit gegeben, in welcher der Weg des Warenaustausches über die Grenzen so mit Steinen belegt war wie heute. Kaum vermag das prüfende Auge einen Lichtpunkt in der Entwicklung zu erblicken. Wie es Adolf Hitler am 4. Oktober 1936 auf dem Bückeberg ausgeführt hat: „Wir alle sehen um uns in eine dräuende und drohende Welt, sehen dort Unruhe und Unsicherheit." Die letzten Tage mit den Abwertungen der Währungen in einer Reihe von L ä n dern, die auch für uns wichtige Lieferanten und Abnehmer sind, bieten ein hinreichendes Beispiel für die Vermehrung der Unruhe draußen, und, um wieder mit Adolf Hitler zu sprechen, inmitten dieser Welt der Unruhe und der Unrast liegt unser Deutschland eingebettet, das Deutschland, in dem Ordnung und Frieden waltet, und in dem das Gemeinschaftsempfinden die Abwicklung aller Dinge bestimmt. —

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Die Erklärung der Regierungen von Paris, London und Washington über die Abwertung des französischen Franken bekundet die Absicht, „den Frieden zu wahren, die Schaffung von Bedingungen zu begünstigen, die am besten zur Wiederherstellung der Ordnung in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen beitragen können, und eine Politik zu betreiben, die auf die Entwicklung des Wohlstandes in der Welt und auf die Besserung des Lebensstandards der Völker abzielt". Wie der Reichswirtschaftsminister am 30. September 1936 namens der Reichsregierung zum Ausdruck gebracht hat, entspricht diese Absicht vollinhaltlich dem Wunsche und Willen, den der Führer und Reichskanzler in seinen wiederholten feierlichen Erklärungen vor der Weltöffentlichkeit zum Ausdruck gebracht hat. Damit steht es auch durchaus im Einklang, wenn Deutschland sich nach dem bekannten Vierjahresplan jetzt rüstet, sich im Bezüge der Rohstoffe unabhängiger zu machen als bisher. Es ist auch kein Zweifel möglich, daß ein solches Programm, wie es die Sicherheit der Erhaltung unseres Volkes verstärkt, nur durchführbar ist, m i t einem Volk und in einem Volk, das heute, wie das deutsche, geschlossen auf ein Ziel hingelenkt werden kann und das seinen gesamten Arbeitseinsatz nach einer Richtung vornimmt. Die schwere, aus dem Versailler Unrecht entstandene Schuldenlast und die Schwierigkeiten unserer Rohstoffbeschaffungen zwingen zu ihm, ebenso dazu, daß das Devisenwirtschaftssystem, dessen Unbequemlichkeiten und Mängel wir jederzeit anerkannt haben, durch keine bloße Abwertung überflüssig gemacht werden könnte. Das Deutsche Reich wünscht einen möglichst lebhaften Warenaustausch mit dem Ausland, auch aus wohlverstandenen eigenen Interessen. Es hat um die Sprengung des um seine Grenzen schärfer und schärfer gelegten handelspolitischen Ringes besorgt zu sein; es kann ihm nicht verübelt werden, wenn es die Lücken in dieser Einkreisung dort sucht und zu erweitern trachtet, wo seine politischen, geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen es geboten erscheinen lassen. Hier hat, wie oben dargestellt, der Neue Plan angesetzt. Daß er in der Praxis mit revolutionierenden Wirkungen auf bisher eingefahrene Wege im internationalen Warenaustausch verbunden war, hat die Entwicklung deutlich gelehrt. Das Deutsche Reich ist zu einer solchen Revolution nicht aus der Freude an umstürzenden Bewegungen, sondern aus dem bitteren Zwange der Selbsterhaltung getrieben, und es wird auf diesem Wege der Unabhängigmachung vom Ausland fortfahren müssen, wenn die ausländischen Staaten in der Handelspolitik nicht gewillt sind, die für sie mit Nachteilen verbundenen Wirkungen des deutschen Vorgehens durch eine vernünftige Haltung in wirtschaftlicher Beziehung abzufangen. 33

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

DIE ETAPPEN DER REPARATIONSPOLITIK vox HUGO FRITZ B E R G E R

I. DIE GESCHICHTE DER REPARATIONSZAHLUNGEN LÄSST SICH in zwei Etappen gliedern: die erste, von Versailles bis zum Zusammenbruch der deutschen Währung, stellt die Fortsetzung des Krieges mit wirtschaftlichen Mitteln, den sinnlosen Substanzentzug aus der deutschen Wirtschaft dar; die zweite, vom Dawesplan über den Youngplan und das Lausanner Abkommen bis zum endgültigen Zusammenbruch des internationalen Kreditgebäudes, steht im Zeichen des Versuchs, die Reparationsfrage zu entpolitisieren und das Reparationsproblem mit wirtschaftlichen Mitteln zu.lösen. Während in dem ersten Zeitabschnitt die wirtschaftliche Vernunft überhaupt nicht zur Geltung kam, wurde sie in dem zweiten zum öffentlichen Panier erhoben. Aber auch dieser wirtschaftliche Lösungsversuch wurde von der Politik beherrscht und endete mit einer Katastrophe, in deren Strudel die gesamte Weltwirtschaft gerissen wurde. Die Erfahrungen, die die Welt mit der Eintreibung politischer Forderungen gemacht hat, haben alle Völker der Welt an ihrem eigenen Wirtschaftskörper verspürt. Die Weltwirtschaft wird nicht eher in Gang kommen, als bis die Lehren dieser Nachkriegsepoche beherzigt werden. 33»

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Hugo Fritz

Berger

Das Reparationsproblem war das größte finanzielle und wirtschaftliche Problem aller Zeiten. Es ist heute politisch tot. Seine finanziellen und wirtschaftlichen Auswirkungen aber sind und bleiben noch lebendig. V o n einer sehr bedingten Bereicherung der Siegermächte abgesehen, ist eine hiermit kaum vergleichbare V e r a r m u n g der unterlegenen Mächte eingetreten. Unmittelbare und mittelbare Strukturwandlungen der Weltwirtschaft als Folgeerscheinungen der Reparationsleistungen geben den Nöten der Gegenwart ihr besonderes Gepräge. Man muß immer wieder den K o p f schütteln über den Wahnsinn und die ausgeklügelten Methoden, mit denen die Siegermächte bei der Ausplünderung Deutschlands ans Werk gingen. Die Reparationsverpflichtungen im eigentlichen Sinn stellten nur einen Teil dieses Ausplünderungssystems dar. Deutschland hatte bereits mit Kriegsschluß praktisch sämtliche ausländischen Rohstoffgebiete und Werte, sowie bedeutende landwirtschaftliche Überschußgebiete verloren. Es hatte sein liquidierbares Auslandsvermögen fast völlig eingebüßt. Die Wirtschaft der eng verflochtenen Grenzgebiete war gewaltsam zerschnitten. Hunderttausende wurzellos gewordener Deutscher, die Millionen des aufgelösten Heeres und der zur Untätigkeit verurteilten Kriegsindustrie suchten Beschäftigung, während die Hungerblockade und der Feind im Lande die Existenzgrundlagen der deutschen Arbeit überhaupt bedrohten. Erstaunlicher als die Forderungen der Politiker erscheinen uns aber die Vorschläge, die die Sachverständigen unter diesen Verhältnissen für die Festsetzung der R e parationsverpflichtungen Deutschlands machten. So z. B., wenn Lord Cunliffe (Gouverneur der Bank von England und Vorsitzender der zweiten Unterkommission in Versailles) 24 Milliarden £ — Wahlparole Lloyd Georges — , später 47V2 Milliarden $ forderte und wenn einer der gemäßigten amerikanischen Sachverständigen, Thomas L a m o n t , 30 Milliarden $ vorschlug, wovon die Hälfte, also 15 Milliarden $, in deutscher Währung oder deutschen Werten an britische und französische Empfänger ausgeliefert werden sollte 1 ). Das Transferproblem wurde ignoriert. Ratschläge der Vernunft wie die K e y nesschen verhallten wie die Stimme des Predigers in der Wüste. Es konnte daher niemand wundernehmen, d a ß die politische K o l l e k tivinstanz der Siegermächte, die Reparationskommission, 2 1 / 2 J a h r e nach Kriegsende einem Industrievolk ohne R a u m , Rohstoffe und B e triebskapital die Zahlung von 132 Milliarden G M . auferlegte. A n diese What really happened in Paris, London, Hodder and Stoughton 1921, S. 276.

Die

Etappen

der

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Festsetzung schlössen sich internationale Kollektivaktionen zu gewaltsamer Eintreibung in ununterbrochener Folge an. V o m Londoner Ultimatum bis zum Ruhreinbruch unddenMicum-Erpressungenwarnur ein einziger, konsequenter Weg. Frankreich benutzte die Eintreibung der Reparationszahlungen als Mittel für machtpolitische Hegemonieerweiterung, England, um den Handelskonkurrenten niederzuhalten. Mit dem Gutachten der Kronjuristen, das den Ruhreinbruch als ungesetzlich verurteilte, in der Tasche stellte Bonar L a w in Paris noch Anfang Januar 1923 die These auf, daß ein Erdbeben, welches Deutschland verschluckte, England zum Gewinner machen w ü r d e 1 ) , und wünschte beim Abschied von Paris Poincaré viel Glück auf den Weg. D e m R a u b des deutschen Privateigentums, der Wegnahme der Kolonien und der deutschen Handelsflotte folgten nunmehr das A u f k n a c k e n von Geldschränken in den Reichsbankanstalten 2 ), die Kahlschläge deutscher Forsten und die Erpressung aller denkbaren Geld- und Sachleistungen aus der Zivilbevölkerung. Die Ruhraktion beschleunigte den unvermeidlichen Zusammenbruch. Waren schon vorher alle Aktiva, die Deutschland zu den Reparationsleistungen überhaupt hätten instand setzen können, genommen und Deutschland obendrein noch handelspolitisch durch Versagung der Meistbegünstigung auf Jahre hinaus geknebelt, so vernichtete die gewaltsame Substanzfortnahme die letzten Reste deutscher Leistungsfähigkeit. Deutschland wurde in Ermangelung politisch organisierter Abwehr auf den Weg der Inflation getrieben, die schließlich zur radikalsten Inflation aller Zeiten wurde. Diese Inflation war weder ein Ergebnis schwacher Finanz- und Wirtschaftspolitik oder gar bewußter Bankerotteurpolitik, sondern eine direkte Folge der sinnlosen Reparationseintreibung 3 ). Das deutsche Volk verlor jedes Vertrauen zu seiner Währung. Die Inangriffnahme eines Deflationsprogramms oder gar einer Markstabilisierungspolitik war zwecklos und konnte nicht glücken, solange hinter den uferlosen Forderungen des Versailler Diktats weitere Besetzung deutschen Gebietes und Gewalttaten drohten. Auslandskredite zur Milderung der Spannung kamen schon aus diesem Grunde nicht in Frage. Der Entschluß der deutschen Regierung, die Sachleistungen am 11. August 1923 einseitig einzustellen, und die Rentenmark einzuführen, hatte nur deshalb dauerhaften Erfolg, weil die Welt inzwischen x)

Englisches B l a u b u c h N r . 3, 1923, S. 77/78. Schacht, Stabilisierung der M a r k , S. 42. 3 ) Bern.: Dies w u r d e allmählich auch von ausländischen Sachkennern zugegeben. Siehe z. B.: M c F a d y e a n , Reparation reviewed, L o n d o n 1930, S. 60; Stamp, Financial aftermath of W a r , London 1932, S. 64. 2)

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angefangen hatte, die Pulsschläge des halb totgeschlagenen Patienten zu zählen, und nun seinen schwachen Lebensregungen mit Aufmerksamkeit und beginnender Sympathie folgte. Lediglich den Ruhreinbruchmächten blieb es vorbehalten, im deutschen Lande weiter drauflos zu wüten. Wenn das Vertrauen in die neue deutsche Währung trotz der noch bis zum Herbst 1924 fortgesetzten Erpressungen der „Interalliierten Kontrollkommission für Industrie und Bergwerke" (Micum) anhielt, so war dafür — abgesehen von den drakonischen deutschen Deflationsmaßnahmen — der Umstand maßgebend, daß sich auch im Ausland schließlich Einflüsse geltend machten, um den blindwütigen Politikern ihr Handwerk zu legen. Was Deutschland in dieser ersten Etappe an Werten alles geleistet und verloren hat, läßt sich schwerlich in vorstellbaren Ziffern abschätzen. Denn es handelt sich dabei nicht nur um die materiellen, unmittelbaren und mittelbaren Einbußen ] ) der Gegenwart und Zukunft mit Zinsen und Zinseszinsen, sondern auch um den Verlust der Summe der geistigen Arbeit und des goodwill, die Deutschland in den langen Vorkriegsjahren zur Mehrung seines Wohlstandes und des Welthandels geschaffen hatte. Milliardenberechnungen von solchen Ausmaßen haben auch keinen festen Bestand. Preise, selbst für Gold, und Kaufkraft unterlagen im Kriege und seither ständigen Schwankungen. Bald nach dem Kriege traten in allen Ländern Inflationserscheinungen zutage. Auf den Nachkriegsboom folgte im Zuge der Katastrophenpolitik die Preisbaisse. Dabei hat die Diskrepanz zwischen dem Wert der deutschen Leistungen als Verlust für Deutschland und ihrem Wert als Gewinn für die Empfängermächte stets eine bedeutende Rolle gespielt. Einer zahlenmäßigen Gegenüberstellung des Verlust- und Gewinnwerts der deutschen Leistungen nach international anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen, unter selbstverständlicher Ausschaltung der einseitigen und lückenhaften Berechnungsmethoden des Versailler Vertrags, käme immerhin geschichtliche Bedeutung zu. Ohne Mitwirkung der politischen Instanzen wäre ein solches Unternehmen indessen nicht möglich und im Hinblick auf das Fehlen der allgemeinen politischen Voraussetzungen auf absehbare Zeit auch kaum diskutabel. Wie bei 1)

Seringsche Schätzung (inkl. Kolonien): 200 Milliarden G M . (Sering: Deutsch-

land unter d e m Dawesplan, Berlin 1928, S. 31). H a l b a m t l i c h e Aufstellung ( W T B . v o m 29. Januar 1932): Leistungen (ohne K o lonien) bis 31. August

1924: 42 Milliarden G M .

Hierunter 1,37 Milliarden G M .

während der Ruhrbesetzung erzwungene Leistungen. Bewertung der deutschen Leistungen bis zum gleichen Zeitpunkt durch die R e parationskommission:

10,4 Milliarden G M .

(Nach L ' I n f o i m a t i o n v. 9. 7. 1931).

Die

Etappen

der

Reparationspolitik

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allen Bewertungen würde die Haupt-Schwierigkeit zunächst darin liegen, den Zweck der Untersuchung zu umreißen. Für die Verständigung hierüber wäre die Zeit aber immer noch nicht reif. Eine neue unparteiische oder völlig unpolitische Feststellung des Wertes der deutschen Leistungen würde daher einstweilen wieder eine halbe Sache bleiben. Ungleich wichtiger als der Streit über die Größenordnungen sind für alle Beteiligten die Lehren, die die Zerstörungspolitik hinterlassen hat. Die Völker haben einsehen gelernt, daß der Ruin des einen Landes keinen Gewinn für das andere darstellt. Sie beginnen schon zu begreifen, daß selbst der von einer Übertragung von M i l l i o n e n w e r t e n ausgehende Druck, wenn ihnen keine wirtschaftlichen Gegenleistungen gegenüberstehen, die vernunftgemäße Wiederbelebung der zwischenstaatlichen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen in Frage stellt. II. Die zweite Reparationsetappe beginnt mit dem D a w e s p l a n und steht im Zeichen des Kampfes der wirtschaftlichen Vernunft mit der Politik. Der Namensträger des Plans leitete diesen Kampf mit großen Worten gegen die Politiker ein; aber schon die Grundlagen des Dawesplanes standen unter schwerster politischer Belastung. Das Rheinland wurde weiterhin als Pfand für die Reparationszahlungen festgehalten. Die Reparationsverpflichtungen wurden weder nach der Höhe noch nach der Zeit endgültig bestimmt; und selbst für die sog. Normaljahre setzte man wiederum astronomisch anmutende Größenordnungen fest und pfropfte, falls Deutschlands Anstrengungen wider Erwarten Gewinn abwerfen sollten, noch einen sog. Wohlstandsindex auf. Frankreich bestand auf dem Ersatz seiner Wiederaufbaukosten, die Vereinigten Staaten auf der Bezahlung der den Alliierten gewährten Kriegsanleihen. Obwohl jeder von den Alliierten vorgab, zur Zahlung der eigenen Schulden selbst nicht imstande zu sein, verurteilte man Deutschland ohne Skrupel zur Zahlung einer Annuitätenreihe, die über die gesamten Schuldverpflichtungen der Alliierten gegenüber den Vereinigten Staaten noch um mehr als die Hälfte hinausging. Die Fundierungsabkommen zwischen den Alliierten und den Vereinigten Staaten enthalten übereinstimmend eine Klausel, die es der amerikanischen Regierung gestattet, die Bonds zu jeder Zeit auf dem Markte unterzubringen. Die alliierten Verpflichtungen sollten also kommerzialisiert sein und jederzeit mobilisiert werden können. Die ganze Konstruktion des Dawesplans (Schaffung von 11 Milliarden

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Reichsbahnobligationen, 5 Milliarden Industrieobligationen, Sicherung des Obligationendienstes durch Pfänder im Werte von mehreren Milliarden) und die Handhabung des Planes durch den amerikanischen Reparationsagenten liefen auf das eindeutige Ziel hinaus, auch durch Kommerzialisierung und Mobilisierung der Reparationsverpflichtungen die praktischen Unterlagen für die Mobilisierung der gesamten internationalen politischen Verschuldung zu schaffen. Der Idee der Kommerzialisierung politischer Regierungsschulden liegt der Wunsch zugrunde, die größtmögliche Sicherheit der Beitreibung herbeizuführen. Durch Verquickung des politischen mit dem privaten Kredit eines Landes soll die Möglichkeit der Repudiation der politischen Schuld ein für allemal verbaut werden. Die Urheber der Idee nahmen an, daß die auf die Weltwirtschaft angewiesenen Länder stets auch auf internationale Kreditbeziehungen angewiesen sein und nicht wagen würden, ihren Kredit durch einseitige Weigerung aufs Spiel zu setzen. I m übrigen sollte dem politischen Gläubiger das Odium des direkt beitreibenden Gerichtsvollziehers genommen werden und der politische Hintergrund der Verpflichtung nach Möglichkeit in Vergessenheit geraten. Diese Idee hatte, wenn man die Zeit im Auge hat, in der die politischen Leidenschaften drohten, die Welt fortgesetzt erneut in Brand zu setzen, etwas Bestechendes. Sie hätte vielleicht glücken können, wenn man von Anfang an den Entschluß gefaßt hätte, die politischen Schulden auf ein M a ß herabzusetzen, das die Möglichkeit weltwirtschaftlicher Störungen auf ein Minimum zurückführte. Z u solchen Entschlüssen war aber keine Regierung bereit. Auch die Dawessachverständigen machten im Gegensatz zu ihren außerordentlich vernünftig erscheinenden Wirtschaftsgrundsätzen eine Verbeugung vor den Politikern, indem sie Größenordnungen für die Annuitäten des Dawesplans vorschlugen, die alle Welt für überholt wähnte. Trotzdem England bereits vor Jahresfrist, am Vorabend des Ruhreinbruchs, für ein vierjähriges Reparationsmoratorium eingetreten war, verweigerte der Plan außer einer fühlbaren Entlastung auch noch die für Deutschland so notwendige Schonfrist. Dem inneren Widerspruch zwischen wirtschaftlicher Vernunft und politischem Kompromiß begegnen wir in dem Dawesplan wiederholt. Während die Sachverständigen z. B. erklärten, Deutschland könne nur aus wirtschaftlichen Überschüssen seiner Arbeitsleistung zahlen, stellten sie gewissermaßen als Leitmotiv die Forderung in den Vordergrund, ein Maximum von Leistungen aus Deutschland herauszuholen, wobei sie trotz der Lehren der voraufgegangenen Reparationsetappe und des offensichtlichen Schonungsbedürfnisses der deutschen Wirtschaft betont die These ab-

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der

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lehnten, daß Deutschlands eigene Bedürfnisse in erster Linie zu berücksichtigen seien. Wie das unter den gegebenen Umständen miteinander in Einklang gebracht werden sollte, überließen sie der Phantasie. Wenn man auch Keynes darin nicht zu folgen braucht, d a ß die Sachverständigen ihren eigenen Plan nicht recht ernst genommen und seinen planmäßigen Zusammenbruch erwartet hätten, so bleibt doch zum mindesten auffallend, daß sie ihre hervorragende wirtschaftliche Einsicht ohne sichtbare Bedenken den vermeintlichen politischen Erfordernissen der Gläubigerländer unterordneten und auf jede praktische Vorkehrung für einen den Grundsätzen ihres Planes entsprechenden Transfer der deutschen Leistungen verzichteten. Der Dawesplan beschränkte sich darauf, zur Handhabung des Transfers eine Maschinerie, das Transferkomitee, zu errichten und alles übrige der praktischen Erprobung zu überlassen. Wie der Transfer von diesem Komitee im einzelnen gehandhabt werden sollte, bestimmten die Sachverständigen nicht. Sie gaben nicht an, was darunter zu verstehen sei, daß „Deutschlands Einkünfte aus dem Ausland ebenso groß wie seine Auslandszahlungen — Reparationen eingeschlossen — sein müßten" oder wie praktisch verhindert werden sollte, daß „Anleihen die Sachlage verschleierten''. Da Deutschland nicht nur fast seine gesamten ausländischen Kapitalien, sondern auch sein inneres Betriebskapital eingebüßt hatte, hätte die eigentliche Lösung des Reparationsproblems sowohl in der Schonung der deutschen Kapitalbasis wie in der Schaffung von Absatzmärkten bestehen müssen. In diesem entscheidenden Punkt war der Dawesplan gänzlich unzureichend. Der Bankier hat mit der Handelspolitik nichts zu tun. An diesem Dilemma sind das internationale Schuldenproblem und der Welthandel gescheitert. Angesichts des Fehlens jeder praktischen Richtschnur für das Handeln des Transferkomitees war von den von Gläubigermächten — direkt oder indirekt — bestellten Kontrollinstanzen auch nicht zu erwarten, daß sie ihre Aufgabe, ein Transfermaximum herauszuholen, nun gerade darin sehen würden, den Absatz deutscher Waren oder die Einschränkung der deutschen Einfuhr aus ihren eigenen Ländern im Kampfe gegen ihre eigenen Regierungen zu forcieren. Das Ergebnis, das der mustergültig koordinierte Apparat der Kontrollinstanzen des Dawesplans nach Beendigung seiner Aufgabe hinterließ, war, wie der Layton-Bericht feststellte, die Zahlung der Reparationen aus geborgtem Auslandskapital. In Wahrheit hat sich das Transferkomitee auf die Verteilung der verfügbaren Reparationszahlungsmittel auf Devisen- und Sachleistungen beschränkt, ohne die Grundfragen,

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die das Transferproblem aufwarf, anzupacken, während sich der Reparationsagent in zunehmendem Maße einem seiner Zuständigkeit ferner liegenden Gebiet, der Ordnung der innerdeutschen Finanzen, zuwandte. Die außerordentliche Schwierigkeit der Aufgabe, nur solche Übertragungen vorzunehmen, die echten Arbeitsüberschüssen der deutschen Wirtschaft entsprachen, lag allerdings auf der Hand. Einer bei der Reichsbank aufkommenden Devise sieht man nicht ohne weiteres an, welchem Geschäft sie ihr Aufkommen verdankt. Nachforschungen im einzelnen wären nicht nur technisch sehr mühsam gewesen, sondern hätten voraussichtlich auch zu fortgesetzten Reibungen der beteiligten Stellen über die Zuverlässigkeit der Unterlagen geführt. Die deutsche Zahlungsbilanz gab infolge der Erschütterungen aller wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen in der Kriegs- und Inflationszeit keine brauchbare Grundlage für eine zuverlässige Beurteilung der jeweiligen Waren- und Kapitalbewegungen ab. Die Schätzungen des McKenna-Komitees, dem neben dem Dawes-Komitee eine eigene Aufgabe, den Betrag des deutschen Fluchtkapitals und die Mittel zu seiner Rückführung anzugeben, gestellt war, beruhten auf reichlich vagen Angaben; auch die deutschen Stellen, die dem Komitee das Material zur Verfügung stellten, waren auf Mutmaßungen angewiesen. Eine Kontrolle über neu hereinfließende Auslandskredite existierte nicht, obwohl sie das notwendige Korrelat für die Durchführung der Grundsätze des Dawesplans oder eine zielbewußte Reparationspolitik überhaupt dargestellt hätte. Wie die Dinge einmal lagen, reichte das bei Beginn des Dawesplans zur Verfügung stehende Betriebskapital inund ausländischer Herkunft in keiner Weise aus, um den deutschen Produktionsapparat nutzbringend zu beschäftigen und auszubauen und darüber hinaus noch Arbeitsüberschüsse für Reparationszwecke zu liefern. Wie hoch aber auch immer der Nutzeffekt der neu aufgenommenen Auslandskredite für die einzelnen deutschen Wirtschaftszweige gewesen sein mag, großenteils wurde er durch den gleichzeitigen Abzug der Reparationsleistungen wieder wettgemacht. Wenn schon die Dawesanleihe der deutschen Wirtschaft nicht in vollem Umfange belassen wurde, so hätten bei der Durchführung des Transfers wenigstens alle Devisen geschont werden müssen, die unter der Herrschaft des Dawesplans aus irgendeinem Grunde nach Deutschland hereinkamen, ohne den Gegenwert neuer Arbeitsüberschüsse der deutschen Wirtschaft zu bilden. Hierzu gehörten das rückströmende Fluchtkapital und das für Inlandsanlagen wieder verwendbare deutsche Auslandskapital, die neu hereinfließenden kurzfristigen Auslandskredite, der Erlös der darauffolgen-

Die Etappen der Reparationspolitik

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den Auslandsanleihen, sowie der Erlös der Freigabe des deutschen Eigentums in den Vereinigten Staaten. Es ist klar, daß das aus diesen Quellen stammende Auslandskapital einen beträchtlichen E i n f l u ß auf die Höhe des deutschen Einfuhrvolumens üben und daß j e nach dem U m f a n g der Kredite auch eine mehr oder weniger große Passivität der deutschen Handelsbilanz in K a u f genommen werden mußte, ohne daß deshalb der Reparationstransfer überhaupt behindert zu werden brauchte. Aber das eigentliche Transferproblem blieb die Frage: K a n n Deutschland — und gegebenenfalls wieviel — zusätzliche Waren in der normalen Handelsausfuhr und in der Reparationssachleistungsausfuhr für Reparationszwecke zur Verfügung stellen? Den Erfordernissen dieses Problems wurde in keiner Weise Genüge geleistet. Die praktische Handhabung des Dawesplans gestaltete sich zu einer mehr oder weniger einseitigen Angelegenheit der ausländischen Organe. Während das Transferkomitee von Anfang bis zu Ende bestrebt war, aus Deutschland ein Transfermaximum herauszuholen, und die Transfermöglichkeiten — wenn überhaupt — an den Devisenkursen maß, trat in Deutschland selbst das eigentliche Transferproblem in dem Drang, die Schäden der Kriegs- und Inflationszeit so schnell wie möglich auszumerzen, die Wirtschaft aufzubauen und zu verdienen, die sozialen Einrichtungen zu verbessern und zu diesem Zweck Geld, wo es auch immer möglich war, einzunehmen und auszugeben, so gut wie völlig in den Hintergrund. Unter dem Schleier, den die ausländische Kapitalzufuhr über die tatsächliche Verfassung der Arbeits- und Absatzbedingungen der Schuldnerländer breitete, begannen die Gläubigerländer ihren widersinnigen Protektionismus gegen die Warenzufuhr aus den Schuldnerländern zu errichten. Diese Maßnahmen erfolgten unter Verkündung allgemeiner Formeln, richteten sich aber praktisch in der Hauptsache gegen Deutschland, dem die größte Schuldenlast aufgebürdet worden war. Der Wiederaufbau der deutschen Handelsbeziehungen wurde auf diese Weise den unsinnigsten Hemmungen un-' terworfen; von einer Rücksicht auf den Ausfuhrdruck, der von den R e parationsleistungen ausgehen mußte, war keine Rede. U m sich möglichst erfolgreich gegen den Ausfuhrdruck der Schuldnerländer zu wehren, berief man sich u. a. auf die Theorie des dreieckigen Handels, die schließlich auf der Weltwirtschaftskonferenz von 1927 auf amerikanische Anregung hin international bestätigt wurde. Obwohl der Protektionismus Amerikas kaum mehr überboten werden konnte und eine Möglichkeit, politische Milliardenleistungen durch zusätzliche Warenmengen auf dem Weltmarkte unterzubringen, überhaupt nicht zu sehen war, sprach man den Satz aus, daß die Zahlungen der Schuld-

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nerländer vermittels Warenlieferungen und Dienstleistungen an die Gläubigerländer nicht auf direktem Wege zu erfolgen brauchten. Diese Feststellung ermöglichte den Ländern, denen die politischen Zahlungen zugute kamen, aufs neue allen konkreten Bindungen im Interesse zusätzlicher Warenausfuhr der Schuldnerländer auszuweichen. Es ist vielleicht nicht übertrieben, zu sagen, daß die Theorie des dreieckigen Handels, die für normale Zeiten unanfechtbar ist, nach dem Kriege wenn überhaupt so nur in dem Sinne gespielt hat, d a ß sie die Herstellung normaler Handelsbeziehungen der Schuldnerländer durch Einschaltung dritter Partner, die sich von den unter Druck stehenden Schuldnerländern höchstens durch immer erneute Preiszugeständnisse beeinflussen ließen, verhinderte. Der „ N e u e P l a n " Dr. Schachts von 1934 bekämpft in seiner letzten Konsequenz auch die Anwendung dieser Theorie; Deutschland kann nur soviel und auch nur dorthin zahlen, wie und wo man ihm gestattet, seine Waren abzusetzen. Nach dem System des Dawesplans sollten die ersten Jahre sog. Schonjahre sein. Erst vom dritten Jahre ab sollten sich A u f b r i n g u n g und Transfer auf allen Gebieten auswirken. Der Transfer sollte zunächst durch Sachleistungen erfolgen. Für die A u f b r i n g u n g der inneren Barmittel waren Haushaltsmittel zunächst nicht vorgesehen. Gesamtwirtschaftlich betrachtet, trat eine Schonung Deutschlands tatsächlich nicht ein. Für den praktischen Erfolg der Übertragung ins Ausland wie für ihre Gesamtwirkung auf das Inland ist es letzten Endes gleichgültig, woher die transferierten Mittel stammen. Die Schonung einzelner Aufbringungsquellen hat lediglich für den inneren Ausgleich und die innere Ordnung Bedeutung. Für den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft und ihre Stellung zu den Wirtschaften des Auslands sowie für die Frage der deutschen Leistungsfähigkeit kam es aber in entscheidendem Maße darauf an, d a ß die zur Herstellung dieser Leistungsfähigkeit notwendige Anreicherung von Betriebskapital nicht durch die sofort wiedereinsetzenden Reparationsleistungen erneut unterbunden wurde. Dies galt ebenso für die Aufbringung wie für den Transfer der Reparationsleistungen. Die Zwitterstellung, die der Dawesplan der Dawesanleihe einräumte, enthüllte gleich bei der Ausführung des Plans die Problematik des neuen Experiments. Der Reinerlös dieser Anleihe — 809 Millionen bei einem Nennbetrag von 967 Millionen R M . und 8 , 3 % Effektivverzinsung — sollte in dem ersten Schonjahr im Interesse der Währungsstabilität ausschließlich zur Finanzierung „innerer" Zahlungen verwandt werden. Z u solchen inneren Zahlungen rechnete der Dawesplan auch die Sachleistungen, gleichgültig ob Sachleistungen im eigent-

Die

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liehen Sinne oder als Recovery Act Zahlungen, und die inneren Besatzungsausgaben. Die Anleihe wurde also planmäßig für Reparationszwecke verwendet, und eine der ersten Handlungen des Reparationsagenten war es, sich die alleinige Verfügung über den Anleiheerlös zu sichern. Im ersten Dawesjahr wurden in Bardevisen transferiert der Anleihedienst des Jahres die Recovery-Act A b g a b e

77,5 Millionen G M . 180,— ,, „ 257,5 Millionen G M .

sowie ein Teil der Kosten der Besatzung und der ausländischen K o m missionen, soweit er im Inland nicht verbraucht, sondern z. B. als Ersparnis ins Ausland gezahlt wurde. Die Sachverständigen hatten die von früher her bestehende Gleichstellung der Sachleistungen mit der Recovery-Act-Abgabe übernommen, obwohl der Recovery Act nur eine Umschreibung eines Bartransfers darstellte und sich praktisch durch nichts vom reinen Devisentransfer unterschied. Schon auf diese Weise wurde die auf dem Gedanken der Schonung des Schuldners beruhende Teilung des Transfers in Sachleistungen und Bartransfer von vornherein ad absurdum geführt, indem ein beträchtlicher Teil der ersten Dawesannuität in Bardevisen transferiert und der Sinn der Dawesanleihe insoweit verfälscht wurde. Hierzu kommt aber, daß auch der Sachleistungstransfer zu dem gleichen Ergebnis beitrug. Die Bedeutung der Sachleistungen im Rahmen des Transfers ist von Anfang an nicht gebührend eingeschätzt worden. Sachleistungen, die keine Ergänzung der normalen deutschen Handelsausfuhr mit sich brachten, also nicht z u s ä t z l i c h e r Natur waren, bedeuteten, soweit die in ihnen enthaltenen Rohstoffe nicht geradezu die Beschaffung von Devisen erforderten, den Verzicht auf Devisen, die die normale Ausfuhr sonst bringen mußte. Der Dawesplan stellte die Sachleistungen zwar grundsätzlich den Barzahlungen gleich. J a er forderte sogar, daß sie auf die Dauer nicht den echten ausführbaren Arbeitsüberschuß der deutschen Wirtschaft übersteigen dürften, wenn nicht die Währung in Gefahr gebracht oder auswärtige Anleihen nötig werden sollten. A u f der anderen Seite stellte er die Sachleistungen aber bei der Erörterung über die Dawesanleihe den „inneren" Zahlungen gleich und gab für das eigentliche Problem, wie ein zusätzlicher Sachleistungstransfer durchgeführt werden sollte, überhaupt keine Richtlinien. Dabei war der Sachleistungstransfer der eigentliche Prüfstein des Reparationstransfers. Kein Grundsatz hat in der Reparationspraxis, obwohl theoretisch anerkannt, größere Schwierigkeiten gemacht, als der, daß die Sachlei-

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stungen zusätzlicher Art sein müßten. Die Sachleistungen sollten ursprünglich die im Kriege zerstörten Gebiete wieder aufbauen helfen. Mit der Durchführung dieses Wiederaufbaues, der zu Beginn des Dawesplans praktisch abgeschlossen war, verloren sie ihren ursprünglichen Zweck. Der Dawesplan behielt sie trotzdem bei, vor allem mit der Begründung, daß sich die Empfangsländer an die Sachleistungen gewöhnt hätten und daß die Sachleistungen dazu beitrügen, etwaigen eigenen Auslandsinvestitionen Deutschlands zuvorzukommen. Während die erste Begründung einer bequemeren Durchführung des Transfers den Weg ebnete, brachte die zweite das sattsam bekannte Ziel, Deutschlands Wirtschaft nach Möglichkeit niederzuhalten, wieder einmal zum Ausdruck. Bei den Sachleistungen der ersten Dawesjahre handelte es sich überwiegend um solche Warengattungen, die schon während der ersten Reparationsetappe, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Zusätzlichkeit oder, was dasselbe ist, ohne Rücksicht auf die deutsche Währung geliefert worden waren, also vor allem Kohle, Koks und Nebenprodukte und chemische Erzeugnisse. Von einem „Ansporn für die deutsche Wirtschaft", den die Sachleistungen bedeuten sollten, konnte schon aus diesem Grunde nicht die Rede sein. Die Sachleistungen des ersten Dawesjahres hatten einen Wert von insgesamt 421 Millionen R M . Nach den seinerzeit von deutschen Sachverständigen vorgenommenen Schätzungen entfiel davon auf nichtzusätzliche Sachleistungen erheblich mehr als die Hälfte. Rechnet man hierzu die vorerwähnten Devisen- und devisengleichen Zahlungen, so ergibt sich, daß die deutsche Devisenbilanz des ersten Dawesjahres durch den Reparationstransfer insgesamt um mehr als die Hälfte des Wertes der ersten Dawesannuität geschwächt wurde. Die Dawesanleihe hat deshalb nur in bescheidenem Umfang zur Schaffung größerer Widerstandskraft der deutschen Wirtschaft und Währung beitragen können. Ihr Hauptverdienst war die Schaffung von Vertrauen. Dieses Vertrauen beruhte aber wegen der Unzulänglichkeiten des Plans und seiner Ausführung auf schwankender Grundlage und hielt nicht lange an. Vertrauen auf längere Sicht hätte in jedem Falle erheblich größere Schonung und wirksamere Unterstützung der deutschen Wirtschaft bei einer zahlenmäßig begrenzten Aufgabe erfordert. Während die Dawesanleihe überwiegend zur Finanzierung der Reparationszahlungen und -transfers benutzt wurde, blieb ihre hohe, durch Konversion nicht herabsetzbare Verzinsung, berechnet auf den ursprünglichen Nominalbetrag, unverändert weiter auf der deutschen Wirtschaft lasten. Die Dawesanleihe hatte also nur zu einem kleinen Teile die Funktion zusätzlicher Kapitalzufuhr. In keinem Falle half sie —

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ebensowenig wie die nachfolgenden Anleihen — das Schuldnerland gleich dem „Nilschlamm" zu befruchten, sondern wirkte tatsächlich auf die Verschleierung des eigentlichen Transferproblems hin. Im Zuge der Dawesanleihe, deren hoher Zinssatz repräsentativ für die ganze folgende deutsche Zinsgestaltung wirkte, strömte ausländisches Fremdkapital und rückkehrendes Fluchtkapital aller Art nach Deutschland. Seine Höhe läßt sich nur sehr vage aus der deutschen Zahlungsbilanz schätzen. Eine Kreditstatistik existierte nicht. Die deutsche Zahlungsbilanz selbst war noch sehr unvollkommen. Das Statistische R e i c h s a m t n i m m t den Betrag des Auslandsgeldes, das in den Kalenderjahren 1924 und 1925 in allen möglichen Formen nach Deutschland floß, mit rund 6 Milliarden R M . an. An langfristigem Fremdkapital kamen etwa 2,1 Milliarden R M . herein, alles übrige hatte kurzfristigen oder mehr oder weniger unsicheren Charakter. Die Passivität der Handelsbilanz betrug demgegenüber rund 4 1 5 , der Nettozugang an Gold und Devisen 1350 Millionen, während der Nettoertrag der Zins- und Dienstleistung rund 900 und die Reparationsleistungen 1340 Millionen R M . ausmachten. Das Auslandskapital wurde neben der Finanzierung des aufgestauten Einfuhrbedarfs vor allem benutzt, um den Gold- und Devisenbestand Deutschlands anzureichern und die Reparationsleistungen zu bezahlen. Die Ausführung des Dawesplans entfernte sich also bereits im Anfangsstadium erheblich von dem Leitgedanken des Plans, daß die Reparationsleistungen aus den Arbeitsüberschüssen des Landes zu bestreiten seien. Von einer Tendenz oder gar einer konstruktiven Politik, die deutsche Zahlungsbilanz zu aktivieren, war nichts zu spüren. Die deutsche Zinsbilanz, 1924 noch mit etwa 160 Millionen R M . aktiv, beginnt 1925 mit einem Minuszeichen, um dann unaufhaltsam, gleichsam automatisch auf einen Passivbetrag von 1500 Millionen R M . in 1931 in die Höhe zu steigen. Solange immer neues Kapital hereinfloß und die Zinsen aus dem Kapital gezahlt werden konnten, verursachte die ansteigende Zinslast keine Störungen. Beunruhigend mußte aber der hohe Zinsfuß, der in den ersten Jahren durchschnittlich etwa 9 % betrug und später nur sehr zögernd herunterging, wirken. Dieser Zinsfuß war der Beweis dafür, daß der scheinbare Gesundungsprozeß der Wirtschaft, welche neben den abnorm anschwellenden sozialen Abgaben durch unverminderte, geradezu drakonische, zur Aufrechterhaltung der Währungsstabilität erhobene Steuern belastet war, innerlich fragwürdig blieb. Stat. Jahrbuch 1931, S. 534/35.

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Das Jahr 1926 stellte einen Wendepunkt in der Geschichte des Dawesplans dar. War bisher nichts von einer Zahlungsfähigkeit Deutschlands aus eigenen Kräften zu spüren, so schienen sich jetzt höchst ermutigende Zeichen einzustellen. Der Außenhandel nahm beträchtlich zu und schloß mit einem Plussaldo von rund 800 Millionen R M . ab; die Dienstleistungsbilanz gestaltete sich günstiger und die Kapitalbilanz wies, allerdings hauptsächlich infolge beträchtlicher Kapitalausfuhr, nur eine Zunahme von 650 Millionen R M . Auslandskapital auf. Das Wunder — wenn auch keinesfalls ein Geschenk des Himmels — , das diesen Wandel namentlich herbeiführte, war der englische Kohlenstreik. Die Besserung des Kohlenabsatzes um rd. 25 Millionen t — bei gleichbleibender Reparationskohlenausfuhr — brachte Deutschland zum erstenmal einen Zuwachs von Eigenkapital. Der Druck auf den Zins ließ nach, der Geldmarkt wurde flüssiger, und die deutsche R e gierung bremste erstmalig gegen die hereinfließenden Auslandsanleihen durch Erhebung der Kapitalertragsteuer. Die im Anschluß hieran aufgelegte niedrig verzinsliche Reinholdanleihe entsprach mit ihrem Mißerfolg dem Trugschluß, der aus der Sonderkonjunktur des Jahres 1926 hergeleitet wurde. Die Psychose einer Verdienstkonjunktur hatte Wirtschaft und Parteien ergriffen; die Auslandskredite wurden wieder von der Kapitalertragsteuer befreit und die auf Borg von Auslandskapital gegründete Scheinkonjunktur mit ihren Folgen großzügiger Ausgabewirtschaft und unausgeglichener Haushalte, die bei der A u f b l ä h u n g aller Umsätze die Reparationsleistungen fast verschwinden ließen, setzte ohne Hemmungen ein. Im Herbst 1926, d. h. gegen Ende des zweiten Dawesjahres, ging die deutsche Regierung darauf ein, eine Vorauszahlung von 300 Millionen G M . auf die erst im vierten und fünften Dawesjahr fällig werdenden Reparationsverpflichtungen aus dem sogenannten kleinen Besserungsschein zu leisten. Der Dawesplan hatte für diese Jahre zusätzliche Zahlungen von maximal j e 250 Millionen G M . vorgesehen für den Fall, daß die verpfändeten Einnahmen, d. h. die hauptsächlichsten Verbrauchsabgaben, in dem jeweiligen V o r j a h r einen entsprechenden Mehrbetrag gegenüber einem angenommenen Ausgangspunkt von 1 Milliarde G M . , erbringen würden. Dieser Ausgangspunkt war so niedrig, daß der Besserungsschein sich unter allen Umständen zu Lasten Deutschlands auswirken mußte. Bereits in den ersten beiden Annuitätsjahren brachten die verpfändeten Einnahmen 1,7 bzw. 1,9 Milliarden R M . Es war klar, daß der Ertrag dieser Einnahmen angesichts des ungehemmten Anwachsens der Anleihe- und Ausgabewirtschaft noch weitersteigen würde. Die Bedeutung der Vereinba-

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rung lag vor allem in einer außerordentlichen Vereinfachung der Handhabung des Dawesplans durch die Reparationsinstanzen. Während die Annuitätenskala nach dem Dawesplan gemäß der Reihe A verlaufen mußte, erhielt sie nunmehr das Bild der Reihe B: A I Jahr . . 2 >> 3 4 )> 5 35

1000 Mill. GM. 1220 55 >> 1200 33 55 2000 33 55 55 33 •• 2750 .. .. .. ..

B I Jahr . . . .. 2 33 ' ' . . 3 33 ' * '. . 4 33 • • •. . .. 5

IOOO Mill. G M I220 55 55 1500 55 55 1750 5 5 55 2500 55 55

,, . . .

M. a. W., die Belastung von Haushalt und Wirtschaft vermied den gewaltigen Ruck nach oben, den die vielleichtfehlerhafte Konstruktion des Dawesplans im vierten und fünften Dawesjahr mit sich bringen mußte; die Reparationszahlungen wurden statt dessen dem vom Reparationsagenten zähe verfolgten Gedanken des „ebenmäßigen Flusses" angepaßt. Bei einer strikten Haushalts- und Anleihepolitik hätte die ursprüngliche Regelung die Chance gegeben, den Dawesplan auch vom Standpunkt der inneren Aufbringung der Reparationsleistungen bereits in verhältnismäßig kurzer Zeit auf die Probe zu stellen. Diese Seite des Reparationsproblems bildete indessen überhaupt nicht den Gegenstand ernsthafter Diskussion. Die ursprünglich im Interesse der Währungsstabilität notwendigerweise rigorose Steuereintreibung wurde in den ersten Dawesjahren unverändert fortgesetzt und damit der psychologische Zeitpunkt verpaßt, die kapitalarme und mit exorbitanten Kosten und Zinsen belastete Wirtschaft wieder zu entlasten. Infolgedessen hatte sich der Zustand herausgebildet, daß die öffentlichen Kassen im Gelde schwammen, das sie der kapitalbedürftigen Wirtschaft zu hohen Zinssätzen liehen. Diesen Zustand machte sich der Reparationsagent zunutze, indem er die Reichskasse zur Ader ließ, den zusätzlichen Betrag von 300 Millionen R M . vereinnahmte und — zu Lasten künftiger Arbeitserträge der deutschen Wirtschaft — bereits im dritten Dawesjahr transferierte. Der Dawesplan führte zwar eine bis ins einzelne gehende Kontrolle der Aufbringungsquellen ein, die sich im Fall des Versagens automatisch auswirken sollte, überließ aber grundsätzlich die Verantwortung für die Aufbringung selbst den deutschen Stellen, während er dem Transferkomitee die ausschließliche Verantwortung für den Transfer der einmal aufgebrachten Summen übertrug. Die Sachverständigen hatten den Versuchen des Versailler Diktats und der folgenden Auf34

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lagen, die vielfältigen inneren Beziehungen und finanziellen Bedürfnisse eines intelligenten, fleißigen und selbstbewußten Volkes wie des deutschen von außen zu reglementieren, Widerstand entgegengesetzt. Der Reparationsagent ließ sich indessen nicht abhalten, sich immer mehr mit der öffentlichen Finanzgebarung zu beschäftigen. Während er keine Hemmungen zeigte, den Reparationstransfer aus geborgten Devisen zu bewerkstelligen, ging er der Aufbringung der Reparationszahlungen in allen Einzelheiten nach und befaßte sich schließlich mit der gesamten deutschen inneren Finanz- und Wirtschaftspolitik. In dem Memorandum vom 20. Oktober 1927 verlangte der Reparationsagent die Unterlassung neuer Ausgaben, die das Haushaltsgleichgewicht gefährden könnten, eine anderweitige Regelung des Finanzausgleichs, wirksamere Ausgabe- und Anleihekontrolle der öffentlichen Stellen und im allgemeinen eine Politik, die Produktionskosten, Preise und den Lebensstandard niedrigzuhalten. M. a. W., er drang in einer Zeit der Kreditausweitung, deren Nutznießer die Reparationsgläubiger selbst waren, auf Deflationspolitik im Interesse künftiger Reparationszahlungen. An dem inneren Widerspruch dieser Politik, aber auch an der offenbaren Unmöglichkeit, die reformbedürftige öffentliche Finanzgebarung von außen her zu ordnen, scheiterte dieser Einmischungsversuch. Der Reparationsagent gab auch bald darauf in einem Bericht an die Reparationskommission die Schwächen des Kontrollsystems zu und gestand, daß das Verlangen nach Ordnung der finanziellen Verhältnisse in Deutschland keinen rechten Zweck hätte, solange nicht die Reparationsverpflichtungen ihrer Höhe nach feststünden. Er schlug deshalb, ebenso wie in seinen Schlußberichten, die Wiederherstellung der Selbstverantwortung Deutschlands und die Abschaffung des Transferschutzes vor, allerdings nicht ohne die freimütig zugestandene Absicht, den deutschen Kredit durch Unterbringung der Reichsbahn- und Industrieobligationen auf dem internationalen Kapitalmarkt für Reparationszwecke in Anspruch zu nehmen und Deutschland die Hauptverantwortung für die weitere Entwicklung des Reparationsexperiments zuzuschieben. Inzwischen stiegen, ebenso wie die Auslandsverschuldung der deutschen Wirtschaft, der öffentliche Finanzbedarf, die Fehlbeträge der öffentlichen Haushalte und die öffentliche Schuld ohne Plan und Ziel. Der Erlös der ausländischen Kapitaleinfuhr floß, soweit er nicht von dem Reparationsagenten gleich an der Quelle erfaßt und für den Reparationstransfer benutzt wurde, der Wirtschaft wie den öffentlichen Stellen durch die Kanäle der Kreditinstitute und eines unzureichenden Kapitalmarkts zu. Gemäß der deutschen Gold-Devisenwährung wur-

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den die aus ausländischem Leihkapital stammenden Gold- und Devisenbestände zur Grundlage von Notenausgaben gemacht; sie bildeten das schwierige Problem einer planmäßigen Verteilung der so geschaffenen Zahlungsmittel und gefährdeten die gesamte Geld- und Währungspolitik der Reichsbank Die Kontrolle der auf Veranlassung der Reichsbank eingeführten Anleiheberatungsstelle hatte nur bescheidene Erfolge. Sie beschränkte sich praktisch auf die Genehmigung von A u s l a n d s krediten an öffentliche Stellen und machte vor der Hauptaufgabe, der Kontrolle der Ausgabenwirtschaft, halt. Auch das Aufwerfen der Prioritätsdebatte durch den Reparationsagenten blieb ohne entscheidenden Erfolg. Der Agent drohte, daß im Ernstfalle der Reparationstransfer vor dem Transfer privatwirtschaftlich aufgenommener Auslandsanleihen rangiere. Er bezweckte damit vor allem die bevorzugte Behandlung der künftig zu begebenden Reparationsanleihen. Dieser Prioritätsanspruch erschien zu absurd, als daß er überall für bare Münze genommen wurde. Wurden doch durch die privaten Auslandskredite nicht nur die laufenden Reparationszahlungen sondern auch die künftigen Transferierungen erst ermöglicht. Immerhin erhöhte diese Drohung aber die bezüglich der deutschen Kreditfähigkeit bereits bestehende Unsicherheit. Vor allem wurde das Anleihegeschäft immer kurzfristiger. Die Gefahr, daß die geringste Erschütterung des Vertrauens das ganze Kredit- und Wirtschaftsgebäude Deutschlands ins Wanken bringen würde, wuchs. Angesichts der Tatsache, daß das ausländische Kapital Anlage um jeden Preis suchte und sich in Deutschland, dessen kapitalentblößte, investitionshungrige Wirtschaft unermeßliche Anlagemöglichkeiten bot, förmlich aufdrängte, war es klar, daß die erforderliche Selbstbeschränkung in der Aufnahme ausländischer Kredite nicht von den einzelnen Unternehmern oder Körperschaften aufgebracht werden würde und daß die Stellen, die für die ordnungsmäßige Abwicklung die gesamtwirtschaftliche Verantwortung trugen, energisch eingreifen mußten. Dazu gehörten alle in- und ausländischen Stellen, die innerhalb ihrer Zuständigkeit eine über das individuelle Interesse des Kreditaufnehmers hinausgehende Verantwortung trugen. Zum Nachdenken gaben, abgesehen von den vereinzelten Vorstößen des Reparationsagenten gegen übermäßiges Borgen, vor allem die konsequenten Warnungen der Reichsbank, insbesondere ihres Leiters, genug Veranlassung. Dr. Schacht versuchte seit Beginn des Dawesplans, oft in unpopulär erscheinender Weise, unermüdlich in Wort und Schrift, auf die deutschen Kreditnehmer einzuwirken, und wies dabei frühzeitig V g l . Schacht, Bochumer Rede „Eigene oder geborgte Währung" vom 18. November 1927, S. 14 und 27. 34*

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und eindringlich auf die besondere Gefahr hin 1 ), die die kurzfristigen Auslandskredite für Deutschland darstellten. Diese Warnungen blieben erfolglos. In Deutschland fand sich niemand, der sich der fragwürdigen Finanzierung des unbestreitbar vorhandenen Wachstumsbedarfs der deutschen Wirtschaft mittels ausländischer Kredite ernsthaft widersetzte, während die dem ewigen Prosperitätsgedanken verschriebenen Amerikaner die Massierung ausländischer Verpflichtungen in Deutschland als ein Beispiel dafür betrachteten, wie ein „natürliches" Gläubigerland einem „natürlichen" Schuldnerland Mittel zum Ausgleich der Zahlungsbilanz zur Verfügung stellte 2 ). Unter diesen Umständen konnte das Transferkomitee ganze Arbeit leisten. Bis auf einen verhältnismäßig geringfügigen Rest ist der gesamte, während des Dawesplans aufgebrachte Betrag von rund 8 Milliarden R M . auf das Ausland übertragen worden. Der weitaus größte Teil dieser Summe stammte nicht nur nicht aus Überschüssen der deutschen Volkswirtschaft, sondern stellte, was in der damaligen Zeit nicht klar in Erscheinung trat, auch eine unmittelbare Einbuße der jeweiligen deutschen Devisenbilanzen dar. Wenn nach den Berichten des Reparationsagenten als Übertragungen nach dem Dawesplan in ausländischen Währungen rund 3,8 Milliarden R M . = etwa 48 %, in Reichsmarkzahlungen rund 4,2 Milliarden R M . = etwa 52 % ausgewiesen wurden, so führte diese Gegenüberstellung zu Fehlschlüssen, weil sie den Eindruck hervorrief, als ob der größte Teil des Transfers auf Leistungen entfallen wäre, die für die deutsche Devisenbilanz keine Beeinträchtigung darstellten. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall, da der größte Teil der Sachleistungen solche Lieferungen enthielt, die in die normale deutsche Handelsausfuhr gehörten. Der Devisenanfall der normalen Handelsausfuhr wurde auf diese Weise teils durch Schmälerung dieser Ausfuhr, teils durch ihre Uberleitung in den Reparationssachleistungsverkehr unterbunden. Das Ergebnis der Sachleistungspolitik unter dem Dawesplan veranschaulicht am besten die Fragwürdigkeit eines gegenwertlosen Transfers, und zwar nicht nur hinsichtlich der Problemstellung, sondern auch der Durchführung. Da die Dawessachverständigen selbst zu1)

So z. B. vor d e m Centraiverband des deutschen Bank- und Bankiergewerbes

am 15. Dezember

1924, d e m Generalrat der Reichsbank am 23. Dezember

1924,

d e m Industrie-Club in Düsseldorf a m 8. Januar 1925, d e m Ü b e r s e e - C l u b in H a m burg a m 27. Februar

1925, d e m V e r e i n deutscher Maschinenbauanstalten

am 19. M ä r z 1925, dem Enquète-AusschuB a m 21. O k t o b e r 1926. view i m Berliner Lokal-Anzeiger v o m 13. M a i 2)

Berlin

V g l . auch Inter-

1927.

G . P. A u l d : T h e Dawes-Plan and the N e w Economics, N e w York

1927.

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gegeben hatten, daß die Sachleistungen sich im praktischen Ergebnis nicht von Devisenleistungen unterschieden, hätten, wenn überhaupt eine Unterscheidung zwischen Bar- und Sachleistungstransfer vorgenommen und die deutsche Wirtschaft geschont werden sollte, sich die vereinten Bemühungen auf die Förderung zusätzlicher Sachleistungen konzentrieren müssen. Statt dessen widersetzte man sich diesem Postulat aber mit der größten Hartnäckigkeit. Dieser Widerstand erklärt sich allerdings nicht nur aus dem Mangel politischen Entgegenkommens, sondern auch aus der außerordentlichen Schwierigkeit der Materie. Es ist klar, daß ein Schuldnerland, welches keine eigenen Devisen zur Verfügung hat, nicht zu Leistungen herangezogen werden darf, die ihm Devisen fortnehmen oder vorenthalten. Die Schwierigkeit beginnt aber sofort, wenn es erforderlich ist, sich mit dem Gläubigerland darüber zu einigen, welche Lieferung als normale Handelsausfuhr und welche als zusätzliche Ausfuhr anzusprechen ist. Selbst in einer Zeit, in der sämtliche Gläubigerländer Nutznießer der deutschen Reparationsleistungen waren, war es nicht möglich, eine auch nur halbwegs verständnisvolle Einstellung der Gläubigerländer zu diesem Kardinalproblem internationaler Schuldenabtragung herbeizuführen. Die Sachleistungsverträge der ersten vier Dawesjahre, die in einem Ausmaß von annähernd 3 Milliarden R M . genehmigt wurden, bezogen sich überwiegend auf solche Lieferungen, die in die normale deutsche Handelsausfuhr gehört hätten. Erst im letzten Dawesjahr verschob sich das Verhältnis mehr zugunsten zusätzlicher Sachleistungsgeschäfte. Nichtzusätzlicher Art, also den Devisenleistungen gleichzustellen, waren hauptsächlich die Massenlieferungen, die einem regelmäßigen Bedarf der Empfangsländer entsprachen, d. h. vor allem Kohle, Koks, Farben, Chemikalien, pharmazeutische Produkte; sie machten allein fast die Hälfte der Sachleistungen aus. Ein Teil dieser Massenlieferungen stellte allerdings auch zusätzliche Reparationsausfuhr dar; im übrigen waren zusätzlicher Natur Stickstoff-, Maschinen- und Fahrzeuglieferungen und schließlich die Lieferungen für öffentliche Arbeiten in Frankreich. Zu Beginn der Verhandlungen über den Youngplan wurde der Anteil der nicht zusätzlichen Lieferungen von sachverständiger Seite auf 56 % geschätzt. Hierzu müssen noch der in der zusätzlichen Ausfuhr befindliche Anteil der ausländischen Rohstoffe, soweit sie nicht vom Besteller in Devisen erstattet wurden, sowie die Nebenkosten gerechnet werden, die der deutsche Lieferant für Provisionen, Montage, Transport usw. aufzuwenden hatte. Sodann sind als nicht-zusätzlicher Natur alle Sachleistungen anzusehen, die aus dem Saarland nach Frankreich gingen, da das Saarland zum französischen Währungsgebiet

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gehörte. Schließlich sind die Fälle zu erwähnen, in denen sich eine deutsche Lieferfirma im Besitz ausländischer Kapitalisten befand, die Sachleistungsgewinne also an das Ausland abgeführt wurden. Alles in allem ergab sich aus nicht-zusätzlichen Sachleistungen im weiteren Sinne zu Beginn der Youngverhandlungen eine Belastung der deutschen Devisenbilanz in Höhe von fast drei Viertel des Wertes der gesamten Reparationssachleistungen, ein Ergebnis, das nicht außer Betracht gelassen werden darf, wenn man das prozentuale Verhältnis zwischen Bar- und Reichsmarktransfer feststellen will. An diesem Ergebnis haben auch die umfangreichen zusätzlichen Bestellungen des fünften Dawesjahres nicht viel geändert. Insgesamt kann man sagen, daß nicht 48 %, sondern etwa 70 % des gesamten Transfers auf den Bartransfer entfielen, oder, m. a. W., der größte Teil des Auslandskapitals, das netto in privatwirtschaftlicher oder sonstiger Form nach Deutschland hereinströmte, wurde in Höhe von 70 % des gesamten Reparationstransfers alsbald wieder abgezogen. Auf diese Weise diente das Auslandskapital in der Tat unmittelbar den Reparationszahlungen und übte nur in einem verhältnismäßig geringen Maße eine volkswirtschaftliche Funktion in der deutschen Gesamtwirtschaft aus. Zu der Verschleierung des Transferproblems trugen also sowohl die ausländische Kapitalzufuhr wie die Handhabung des Sachleistungstransfers bei. In Ermangelung konkreter Vorschläge des Dawesplans mußten die Versuche, den Gedanken zusätzlicher Sachleistungen praktisch zu verwirklichen, zu endlosen Streitigkeiten führen. England durchlöcherte diesen Gedanken von vornherein durch Erhebung der Recovery-ActAbgabe und setzte sich hiermit auch gegenüber dem Transferkomitee ohne weiteres durch. Obwohl die Sachleistungen nach dem Dawesplan nur einen vorübergehenden Notbehelf darstellen sollten, steigerte das Transferkomitee im Lauf der Jahre den Anteil der genehmigten und überwiegend nicht-zusätzlichen Sachleistungen von ursprünglich rund 420 Millionen im ersten bis auf rund i*/4 Milliarde R M . im fünften Dawesjahr. Es hielt sich also weit mehr an die Aufgabe, ein Transfermaximum aus Deutschland herauszuholen, als an den Grundsatz des Dawesplans, daß der Transfer aus echten Arbeitsüberschüssen der deutschen Volkswirtschaft stammen müßte. Auf diese Weise begegnete es den Zielen Poincarés, dem es darauf ankam, den Nachweis zu führen, daß die Ausschöpfung selbst der Standardannuität des Dawesplans keine technischen Schwierigkeiten machte. Poincaré ließ aus diesem Grunde, namentlich vor den Youngverhandlungen, Sachleistungen großzügigsten Ausmaßes und unter Bedingungen, die von normalen Handelsgeschäften weiter entfernt waren als je, bestellen.

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Z. B. wurde öffentlichen französischen Bestellern ohne Rücksicht auf ihre eigene Leistungsfähigkeit die Vergebung großer Aufträge nahegelegt, wobei ihnen teilweise die Erstattung des Gegenwertes gänzlich erlassen wurde. Alle möglichen Arten der Einfuhrerleichterung und von Rabatten wurden gewährt; es wurden mit geschäftlichen Gepflogenheiten unvereinbar hohe Anzahlungen geleistet; schließlich wurden die größten Sachleistungsverträge mit Strohmännern abgeschlossen, hinter denen französische Gesellschaften standen. Die Hoffnung gewisser Kreise der deutschen Industrie, sich mittels der Sachleistungen im Auslandsgeschäft festzusetzen und einen normalen oder gar höheren Auslandsabsatz zu sichern, schlug fehl. In Frankreich sorgte eine von der Regierung und der Konkurrenzindustrie aufgezogene Gegenorganisation dafür, daß die heimische Industrie nicht aus dem Geschäft verdrängt wurde und die Bestellungen mit dem Abstoppen der Reparationszahlungen ohne empfindlichen Nachteil für die französische Wirtschaft unterblieben. Tatsächlich war die Sachleistungskonjunktur eine absolut künstliche. Sie verdankte ihr Dasein lediglich dem Umstände, daß die Reparationsannuitäten außergewöhnlich hohe zusätzliche Mittel freisetzten, die nach dem ehrgeizigen Ziel einzelner Gläubigermächte und ihrer Helfer um jeden Preis ausgeschöpft werden sollten. Die deutsche Industrie ging bereitwilligst auf die Bestellungen in der Annahme ein, daß die Sachleistungen einen Ansporn für die Beschäftigung und ein Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit darstellten, während gleichzeitig wichtige Arbeiten in Deutschland selbst brach liegen blieben; j a sie scheute sich nicht, Sachleistungsvorhaben vorweg zu finanzieren, wenn die Mittel der hohen Reparationsannuitäten für die Programme nicht ausreichten, und lieferte sogar im voraus auf mehrere Annuitäten und auf das ganze Sachleistungskontingent einiger Südoststaaten. Die Sachleistungen hätten in vernünftigen Grenzen und bei folgerichtiger Beschränkung auf zusätzliche Lieferungen das Transferproblem erleichtern und so eine Probe für das größere und langwierigere Problem der Durchführung des Transfers internationaler Schulden überhaupt abgeben können. In Wahrheit haben sie bei dieser Aufgabe versagt und der deutschen Gesamtwirtschaft Schaden zugefügt. Nicht nur wurde die deutsche Ausfuhrindustrie in erheblichem Umfange von dem härteren, aber durchaus notwendigen freien Wettbewerb im Kampf um die Behauptung eines dauernden und angemessenen Anteils Deutschlands am Welthandel abgedrängt, sondern es bürgerten sich auch Geschäftssitten ein, die mit den überlieferten An-

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schauungen des ordentlichen Kaufmanns nicht im Einklang standen. A m Schluß des Dawesplans entfiel, wie zu erwarten war, die bequeme Möglichkeit des Auslandsabsatzes auf Kosten anderer, indem die Sachleistungsannuitäten stark gedrosselt wurden; außerdem wurden bereits abgeschlossene Sachleistungsverträge im Werte von rund 400 Millionen R M . notleidend, bei denen sich die deutschen Lieferanten über die Warnungen der zuständigen deutschen Stellen hinweggesetzt und von einer Vereinbarung abgesehen hatten, die dem Besteller für den Fall des Ausbleibens der Reparationszahlungsmittel die Pflicht zur Zahlung aus eigenen Mitteln auferlegte. Deutschland befand sich am Ende des Dawesplans in prekärer Lage. Die Binnenkonjunktur war mit Hilfe ausländischen Leihkapitals angekurbelt worden, dessen Anlage in keiner Weise den Rentabilitätsgrundsätzen entsprach, die sonst für ausländische Kredite privatwirtschaftlicher Art beachtet wurden. Schon der abnorm hohe Zinsfuß überstieg die Rentabilitätsquote des einzelnen deutschen Industrieunternehmens erheblich. Vor allem konnte aber, gesamtwirtschaftlich gesehen, von einer Rentabilität der Auslandskredite überhaupt nicht die Rede sein, weil der Abzug der Reparationstransfers eine etwa yoprozentige Erlösminderung eines großen Teils der Kredite für die deutsche Wirtschaft mit sich brachte, während die hohe Verzinsung weiter auf den ursprünglichen Nominalbetrag der Kredite entrichtet werden mußte. Die Stimulierung der Inlandskonjunktur durch Auslandskapital konnte daher weder echt noch nachhaltig sein; in Wirklichkeit erfolgte sie durch innere Kreditausweitung. Dazu kam, daß die Auslandskredite infolge ihrer immer mehr überwiegenden kurzfristige n Natur zu einer Quelle ständiger Unsicherheit geworden waren. Auch innerhalb des Reparationstransfers fehlte es an Vorkehrungen gegen plötzliche Rückfälle, da der Sachleistungsboom die für das normale Auslandsgeschäft verfügbaren Kräfte und Reserven in starkem Maße absorbierte und Umstellungen erschwerte. Die deutsche Handelsausfuhr selbst, die nicht nur Devisen für Deutschlands eigenen Lebensbedarf, sondern auch für den Reparationstransfer und die wachsende Zinslast der Auslandskredite erbringen sollte, wurde durch eine Politik des Unverstandes ohnegleichen erschwert. Mit der größten Selbstverständlichkeit mißachteten die Gläubigerländer den Grundsatz, daß man von einem Schuldnerland nur Zahlungen erwarten kann, wenn man ihm gestattet, seine Schulden in Waren abzutragen, indem sie fortgesetzt neue Hemmnisse gegen die deutsche Handelsausfuhr einführten, abgesehen von gewissen Erleichterungen, die der Reparationssachleistungsausfuhr eingeräumt wurden. Da Deutschland die Schulden aller

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bezahlen sollte, Amerika die Zahlung von allen verlangte, handelte es sich hierbei nicht zuletzt um das Problem des deutsch-amerikanischen Warenaustausches, dessen Konsequenz sich die Amerikaner, gestützt auf die von den Schuldnerländern anerkannte Theorie des dreieckigen Handels, mit allen Mitteln zu entziehen versuchten. Sie verwiesen gegenüber dem Verlangen nach Abbau ihres Hochschutzzolltarifs auf den Ausgleich ihrer Zahlungsbilanz durch amerikanische Touristenausgaben und Kapitalbewegungen. Den politischen Schuldzahlungen war also gewissermaßen die Funktion zugedacht, die schwere Arbeit der Schuldnerländer den amerikanischen Touristen anschaulich zu machen und die Zinsansprüche der amerikanischen Kapitalisten zu vermehren. Deutschland war durch das Verhalten der Gläubigerländer jede Möglichkeit genommen, den Reparationsdruck auf dem gegebenen Wege, nämlich durch forcierten Warenabsatz nach den Gläubigerländern, auszugleichen. Die experimentelle Lösung der internationalen Schuldenfrage wurde weiter vertagt. Die Kosten dieser Politik mußten außer Deutschland die neutralen Länder tragen, welche mit dem Kriege und den Friedensdiktaten nichts zu tun hatten, aber infolge der Politik der Siegermächte nunmehr in stärkerem Maße dem auf den Reparationsverpflichtungen beruhenden Druck der deutschen Ausfuhr ausgesetzt wurden. Unter diesen Umständen stand Deutschland gegen Ausgang des Dawesplans bewußt oder unbewußt vor der Alternative, den völligen Zusammenbruch des Reparationsexperiments abzuwarten oder den Aufforderungen des Reparationsagenten, der auf Endregelung der Reparationsfrage drängte, zu folgen. Deutschland wählte die zweite Alternative. Der Zusammenbruch des Reparationsexperiments hätte die deutsche Wirtschaft mit in den Strudel gerissen, und zwar zu einer Zeit, wo die ausländischen Kontrollinstanzen in Deutschland herrschten und das Rheinland besetzt war. Für die Vereinbarung einer erträglichen Endregelung bestanden nach der Verfälschung des Reparationstransfers und bei der Einstellung der Reparationsinstanzen und der Gläubigerländer kaum irgendwelche Hoffnungen. Unter diesen Verhältnissen gehörte ein außerordentliches Selbstvertrauen dazu, über die Reparationsfestsetzung zu verhandeln. Deutschland hatte nichts zu bieten, sondern nur zu fordern. Seine einzige Waffe waren wirtschaftlich gesunde Grundsätze, seine einzige Hoffnung die gemeinsame Anerkennung dieser Grundsätze durch Wirtschaftssachverständige von internationalem Rang. Bevor es jedoch zu diesem Gedankenaustausch kam, hatten die politischen Kräfte, die die „endgültige" Lösung des Reparationsproblems betrieben, bereits beschlossen, sie zum Gegen-

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stand eines politischen Geschäfts zu m a c h e n 1 ) . D a die interalliierte Schuldenfrage ungelöst war und die Vereinigten Staaten a u f ihrem Schein bestanden, Frankreich aber nach wie vor eine Sonderzahlung für den Ersatz der Wiederaufbaukosten verlangte, hatte m a n sich darauf geeinigt, diese Forderungen zu addieren und in j e d e m Falle, welches Urteil auch immer die Sachverständigen äußern möchten, eine Durchschnittsannuität von mindestens 2 Milliarden R M . zu verlangen, gegen deren Anerkennung und teilweise Mobilisierung das R h e i n l a n d — nicht das Saarland — geräumt werden sollte 2 ). III. Ungeachtet aller Enttäuschungen und Mängel, die dem Y o u n g p l a n anhafteten, hat er, geschichtlich gesehen, die Lösung des Reparationsproblems und der damit zusammenhängenden Fragen einen Schritt weitergebracht. Er beseitigte die fremden Kontrollorgane und die unerträglichen direkten Einmischungsversuche des Auslands in die inneren Angelegenheiten Deutschlands. Er räumte mit dem verfälschten Schutzsystem des Dawesplans auf und trieb die Entwickelung d a d u r c h weiter, d a ß die tatsächlichen Wirkungen der Reparationszahlungen durch Gegenüberstellung von Schuldner und Gläubiger unter Ausschaltung der Kontrollorgane in grelleres Licht gerückt wurden. E r machte den W e g für die R ä u m u n g des Rheinlandes frei und schuf durch die Einsetzung eines besonderen Organs zur Prüfung der allgemeinen L a g e bei auftretenden Schwierigkeiten einen Mechanismus, der den widerstrebenden politischen Instanzen die nötigen Eröffnungen über die zu berücksichtigenden Tatsachen machen konnte. In der materiellen Frage der Reparationsverpflichtungen und des Transferproblems schuf dieser sog. „ N e u e P l a n " keine Verbesserungen, sondern eher Verschlechterungen. Angesichts der enorm gestiegenen Zinslasten der zu Reparationszahlungen verwandten Auslandskredite bedeutete die ziffernmäßige Verringerung der Anfangsannuitäten praktisch keine Schonung für die in V e r f o l g des Versailler Diktats völlig ausgesaugte deutsche Wirtschaft. A u c h wurden — ebenso wie im Dawesplan — keine konkreten Wege für den zur Durchführung der deutschen Verpflichtungen notwendigen A b s a t z deutscher W a r e n aufgezeigt. D i e der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ.) zugewiesene A u f g a b e , zur Ausdehnung des Welthandels beizutragen, ist — vielleicht mit R e c h t — nicht ernst genommen worden; denn im ') Schacht, Das Ende der Reparationen, Oldenburg 1931, S. 58fr. 2) V g l . auch McFadyean S. 200ff.

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Rahmen einer „vollständigen und endgültigen Regelung des Reparationsproblems" konnte dies nur bedeuten, daß die Bank den politischen Instanzen die Aufgabe abnehmen sollte, die Voraussetzungen für die Aufnahme des zusätzlichen, durch den Reparationsdruck veranlaßten Warenstroms zu schaffen, eine Aufgabe, die unter den gegebenen Verhältnissen sowohl an einer falschen Prämisse krankte, wie praktisch undurchführbar war. Der Gedanke, den Sir Josiah Stamp auf der Konferenz der Internationalen Handelskammer in Brüssel 1925 so beredtsam verteidigt hatte 1 ) und der bei der Fixierung dieser Aufgabe wieder eine Rolle spielte, nämlich durch „assisted schemes" in unentwickelten Ländern Voraussetzungen für zusätzliche Warenmärkte zu schaffen, bei denen Deutschland die Arbeit leisten, die Reparationsgläubiger den Gewinn einstreichen sollten, war zwar theoretisch nicht zu beanstanden, führte aber praktisch — abgesehen von der Fragwürdigkeit einer Verständigung politischer Kollektivinstanzen über kaufmännische Individualgeschäfte — auf ein Nebengleis, weil er, wie die Dinge lagen, höchstens bescheidene Ergebnisse zeitigen konnte und von dem eigentlichen Problem der Schaffung zusätzlicher Absatzmärkte für die große Masse der Reparationszahlungen ablenkte. Auch die Idee des Youngplans, durch Gewährung von Kredit bei der Durchführung der Reparationsleistungen helfend einzugreifen, war schon angesichts der unvernünftigen Höhe der Verpflichtungen Deutschlands von vornherein abwegig und hätte die B I Z . vor eine höchst mißliche Verantwortung gestellt. Die Abschaffung der Goldklausel des Dawesplans, die zumindest eine automatische Erleichterung für Deutschland im Falle drückenderer Verpflichtungen durch zu weitgehendes Sinken der Preise enthielt, stellte, wie die Ereignisse bald zeigen sollten, einen Rückschritt dar, der lediglich auf den Wunsch der Gläubigersachverständigen, gleiche Verhältnisse für die Reparationsverpflichtungen wie für die interalliierten Schuldenvereinbarungen zu schaffen, in denen eine entsprechende Bestimmung fehlte, zurückzuführen war 2 ). Diese Regelung ist ebenso wie die Ausdehnung der im Versailler Diktat vorgesehenen Frist zur Abtragung der Reparationslast von einem auf zwei Menschenalter hier lediglich deshalb von Interesse, weil sie beweist, wie die alliierten Gläubigermächte jedes Mittel benutzten, um Deutschland als Schuldner ihrer Verpflichtungen gegenüber ihren eigenen Gläubigern zu substituieren. Die Belastungen Deutschlands durch den Youngplan sind durch die Haager Abmachungen noch mit ausdrücklichen Verzichten auf eine ') Stamp S. 110. ) Stamp S. 112.

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Reihe deutscher Gegenforderungen und einer Sanktionsklausel beschwert worden, die den Fall betraf, daß eine deutsche Regierung Handlungen beginge, die auf ein Zerreißen des Planes hinausliefen. Die Reichsbank weigerte sich, unter solchen Umständen die ihr im Youngplan vorgesehene Mitarbeit in der BIZ., die die Reparationsmittel zu verwalten und zu verteilen hatte, zu leisten, und erklärte sich erst hierzu bereit, als ihr von der Reichsregierung eröffnet wurde, daß ein deutsches Gesetz ihr diese Aufgaben auferlegen würde 1 ). Reichsbankpräsident Dr. Schacht, der nach der Unterzeichnung des Youngplans bereits einen ergebnislosen Kampf gegen die schwächliche Finanzpolitik der Reichsregierung geführt hatte, legte hieraufhin sein Amt nieder. Anstatt daß die Reichsregierung sich im Haag seinem Vorgehen gegen die Reparationsgläubigerstaaten anschloß, wandte sie sich gegen den Hauptkämpfer in der Reparationsfrage gerade in einem Zeitpunkt, wo der eigentliche Kampf um die Erhaltung der deutschen Lebensrechte und die Befreiung Deutschlands von seinen politischen Lasten erst einsetzte. Den schwerwiegendsten Fehler im Hinblick auf die Erfahrungen mit dem Dawesplan stellt die unter Berufung auf den Youngplan im Haager Abkommen vereinbarte, durch die BIZ. technisch vorbereitete und von den Emissionsbanken trotz ungünstiger Marktbedingungen alsbald plazierte Younganleihe dar. Diese Anleihe ist der Preis gewesen, den Deutschland der französischen Regierung für die Beseitigung des Dawesplans und die Räumung des Rheinlandes zahlen sollte. Die letzten Berichte des Reparationsagenten hatten trotz der Schwierigkeiten, die die deutsche Lage tatsächlich bot, und trotz der Verfälschung des Transfers unter der Herrschaft des Dawesplans den Weg für die Unterbringung dieser Anleihe freigemacht. Die Younganleihe erhöhte mit einem Gesamtnennbetrag von etwa 350 Millionen $ und einem Reinerlös von nur etwa 300 Millionen $ nicht nur den Minusposten der deutschen Zinsbilanz ganz außerordentlich, sondern trug auch durch eine vollkommen widersinnige Verteilung internationaler Gold- und Devisenbestände zur Akzentuierung der Schwierigkeiten der internationalen Wirtschaftsprobleme in entscheidendem Maße bei. Die Younganleihe hat, soweit es sich um den Anteil ihres Erlöses (zwei Drittel) handelt, der den Reparationsgläubigern sofort ausgezahlt wurde, im Gegensatz zur Dawesanleihe ausschließlich politischen Charakter. Für den übrigen Teil der Anleihe (ein Drittel oder rund 400 Millionen RM.) mußten auf der Haager Konferenz Reichsbahn x)

V g l . Schacht, Ende der Reparationen S. 97 ff.

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und Reichspost ihren Kredit belasten, obwohl weder ein unmittelbares Anleihebedürfnis bestand, noch die Aufnahme zusätzlicher Auslandsanleihen überhaupt im Interesse der deutschen Wirtschaft lag. Dieser Kredit half im übrigen ebenso wie die sonstigen Auslandskredite, die Deutschland in der Folgezeit aufnahm — Kreugeranleihe (487 Millionen R M . ) ; Lee-Higginson-Kredit 525 Millionen R M . ) —, sowie die Freigaben auf das deutsche Eigentum in den Vereinigten Staaten (1930 = 370 Millionen R M . ) wesentlich, die Zahlungen des Youngplans und die im J a h r e 1930 bereits auf 1,4 Milliarden R M . gestiegenen Zinsen für die Auslandskredite zu transferieren, mit deren Hilfe Deutschland die Reparationsleistungen bezahlt hatte. Auf diese Weise wurde auch der Transfer der Youngzahlungen ähnlich wie derjenige der Daweszahlungen durch Auslandskapital verfälscht. Die deutsche Zahlungsbilanz blieb 1930, obwohl die Reparationsleistungen gegenüber dem Vorjahr um 1 / 2 Milliarde R M . niedriger waren und die deutsche Handels- und Dienstbilanz einen Aktivsaldo von etwa 2,1 Milliarden R M . erbrachte, noch mit rund 600 Millionen R M . passiv 1 ). Bei der Beurteilung dieser Zahlen darf nicht übersehen werden, daß der Abzug der kurzfristigen Kredite, der aus den Vereinigten Staaten schon 1929 im Zuge der rückläufigen Konjunktur und der Abnahme des Vertrauens zu den Schuldnerländern einsetzte, sich immer stärker geltend zu machen begonnen hatte. Deutschland machte diese Abzüge zum Teil durch die vorerwähnte langfristige Kapitalzufuhr wett. Zu berücksichtigen ist ferner, daß der Aktivsaldo der Handelsbilanz erheblich weniger als den ausgewiesenen Devisenertrag von rund 1,6 Milliarden R M . ergab, weil er etwa 700 Millionen R M . Sachleistungen enthielt, die, wie die Sachleistungen früherer Jahre, zum großen Teil nicht-zusätzlicher Art waren. Das Reparationsexperiment trieb von Beginn des Youngplans an unaufhaltsam seinem gewaltsamen Ende entgegen. Zwar halfen zunächst die entgegen allen Lehren der Vergangenheit erneut aufgenommenen Auslandskredite nebst den Sachleistungen das Transferproblem weiter zu verschleiern und den Ausbruch der Krisis um einige Zeit zu verzögern. Die ausländischen Kreditgeber waren jedoch mißtrauischer geworden, langfristiges Kapital zur Unterstützung der Privatwirtschaft blieb vollständig aus, und der Mißerfolg der Younganleihe, die im Publikum schwer unterzubringen war, beleuchtete schlagartig die Zweideutigkeit einer Politik, die dem privaten Gläubiger an Stelle des politischen Gläubigers das Risiko eines ver!) Stat. Jahrbuch 1935 S. 488.

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fehlten Experiments aufhalsen wollte. In Deutschland führte der Abzug ausländischen Kapitals im Verein mit den Milliardenzahlungen für Reparations- und Zinsleistungen zu einer stark zunehmenden Schrumpfung der Geschäftstätigkeit. Der Versuch Brünings, das Gleichgewicht durch Ermäßigung von Kosten und Löhnen wiederherzustellen, setzte die Deflationsschraube in Bewegung, die bald überdreht wurde und zu einer immer weiteren Erschwerung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands, verbunden mit einer katastrophalen Arbeitslosigkeit, führte. Deutschland begann jetzt zum erstenmal, praktisch vor Augen zu führen, was die zwangsweise Durchführung gegenwertloser Schuldzahlungen in einer für die Aufnahme des hierfür erforderlichen Warenabsatzes nicht bereiten Welt bedeutete. In erster Linie verschlechterte sich, was namentlich englische Sachverständige von jeher prophezeit hatten, der Lebensstandard des deutschen Arbeiters. Gegen den durch Lohndruck ausgelösten Preisdruck der deutschen Ausfuhr setzten sich aber vor allem die mit Deutschland in Wettbewerb stehenden Länder automatisch zur Wehr. Natürlich wollten auch die Nutznießer der deutschen Zahlungen die Rückwirkungen der neuen Reparationspolitik auf den eigenen Lebensstandard und Außenhandel ausschalten 1 ). Für die einzig übrig bleibende Alternative, den Verzicht auf Reparationszahlungen, war es aber noch zu früh. Die Deflationspolitik Brünings, deren Ziel die Demonstrierung eines verfehlten Tributsystems war, konnte, als der früher ausgleichende Faktor der Auslandskredite ausblieb, auch innenpolitisch nicht ohne schwerwiegende Folgen bleiben. Das deutsche Volk lehnte sich, wie die Septemberwahlen des Jahres zeigten, mit unmißverständlicher Deutlichkeit dagegen auf, als Experiment für dieses System verwandt zu werden. Schon 1931 brach, also knapp nach Jahresfrist, der Youngplan zusammen. Der Krach der Österreichischen Kreditanstalt gab den äußeren Auftakt zu den weiteren Ereignissen dieses schicksalhaften Jahres. Es folgte der Erdrutsch des Abzugs kurzfristigen Auslandskapitals durch die kopflos gewordenen Kreditgeber. Nach den Jahresberichten der BIZ. verringerte sich das internationale kurzfristige Kapital in diesem Jahr allein von 70 auf 45 Milliarden Sfrs. (unter Berücksichtigung der Pfundentwertung). Im Zusammenhang mit den Kreditabzügen schmolz der Gold- und Devisenbestand der auf Borg begründeten deutschen Währung mit solcher Schnelligkeit dahin, daß Rede Sir Arthur Balfour's am 14. Januar 1931 in London (WTB. vom 15. Januar 1931).

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man fast den Tag berechnen konnte, an dem die Reichsmark ihre Funktion gegenüber dem Ausland einbüßen und das deutsche Wirtschaftsleben selbst wieder zum Stocken kommen würde. Deutschland hätte von sich aus die Reparationsleistungen einstellen oder die Goldeinlösung der Reichsbanknoten aufheben können. Es beschritt keinen der beiden Wege, sondern überließ, um nicht den Vorwand zu liefern, durch einseitige deutsche Maßnahmen den Zusammenbruch des gesamten internationalen Schuldengebäudes verursacht zu haben, dem Präsidenten Hoover als dem Vertreter der Hauptgläubigermacht die Rolle, den gordischen Knoten durchzuhauen. Die Reparationsleistungen wären auch ohne das Hoover-Moratorium zum Stillstand gekommen. Auslandskredite zu ihrer Wiederbelebung kamen nach den katastrophalen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit auf absehbare Zeit nicht mehr in Frage. Die aus der Realisierung von Vermögenswerten und der Handelsausfuhr stammenden Goldund Devisenbeträge reichten bei weitem nicht mehr zur Verzinsung und Tilgung der privaten Auslandsverschuldung. Trotz alledem war die Welt für eine Streichung der Reparationen noch immer nicht reif. Der Hooversche Entschluß entsprang nicht zuletzt dem Wunsche, durch Einbau einer Schonfrist von den politischen Forderungen zu retten, was zu retten war. I m übrigen veranschaulichte der zähe Kampf, den die französische Regierung unter Flandin und Laval gegen die Durchführung des Hoover-Moratoriums führte, auf welche Widerstände erst eine einseitige deutsche Maßnahme wie etwa die Einstellung der Goldeinlösung der Reichsbanknoten gestoßen wäre. Die unmittelbare Erleichterung, die der Schritt vom 2 1 . J u n i 1931 für alle Märkte der Welt brachte, kam infolge dieser Kämpfe unwiederbringlich zuschanden. Auf diese Weise wurde ganze Sache gemacht. Denn es wurde nunmehr unbestreitbare Klarheit über die Tatsache geschaffen, daß an die Wiederaufnahme von Reparationszahlungen überhaupt nicht mehr zu denken war. Der Tenor des Beschlusses der Londoner Konferenz (20. bis 23. J u l i 1931), die dem Hooverschritt folgte, trug dieser Erkenntnis endlich Rechnung; zum erstenmal in der Reparationsgeschichte wurde hier eine völlig unpolitische und rein wirtschaftliche Aufgabe gestellt, die der von der Konferenz bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich eingesetzte Ausschuß (sog. Layton-Ausschuß) in mustergültiger Weise gelöst hat. Dieser Ausschuß nannte die Dinge beim rechten Namen. Er sprach unumwunden aus, daß Deutschland die Reparationsleistungen aus geborgtem Auslandskapital gezahlt hätte, und schlug die einzige unter den gegebenen Umständen wirksame Maßnahme, die Stillhaltung der Gläubiger kurz-

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fristiger Auslandskredite, vor. Für die weiterhin von dem Ausschuß empfohlenen langfristigen Konsolidierungskredite waren die politischen Voraussetzungen, die zunächst in der Streichung der Reparationsforderungen bestanden, nicht gegeben. Doch wurde der Weg für einschneidende Regierungsmaßnahmen freigelegt. Es dauerte immerhin bis zum Dezember des Jahres, bis der internationale Mechanismus des Youngplans zur Vorbereitung dieser Maßnahmen in Gestalt des „Beratenden Sonderausschusses" in Basel zusammentrat. Der Ausschuß baute auf den Feststellungen des LaytonAusschusses auf. Er zog wie jener das Fazit aus der tatsächlichen Lage und wies mit eindeutigen Worten darauf hin, daß die politischen Schulden und vor allem das deutsche Reparationsproblem für die finanzielle Lähmung der Welt verantwortlich seien. Diese von der „zuständigen" Instanz getroffene Feststellung gab erst den Gläubigerregierungen die erforderliche Rückenstärkung gegenüber ihren Parlamenten. Mit Ablauf des Hoover-Jahres trat die Lausanner Konferenz zusammen und einigte sich im Juli 1932 auf „völlige Beseitigung" der Reparationszahlungen. Mit dieser Vereinbarung hörten die eigentlichen Reparationszahlungen auf, materiell zu existieren; dagegen gelang es, abgesehen von der Nichtratifizierung des Vertragswerks, nicht, den gesamten damit verbundenen Fragenkomplex auch sonst in allen Einzelheiten zu töten. Lausanne ließ folgende Fragen auf dem Papier ungelöst: 1. Die Begebung weiterer Zwangsanleihen auf den internationalen Kapitalmärkten in Höhe von maximal 3 Milliarden R M . Kein Kapitalist der Welt würde, schon nach den praktischen Erfahrungen mit den letzten Anleihen dieser Art, je ein einziges Anleihestück erwerben. 2. Die amerikanischen Forderungen aus Mixed Claims und Besatzungskosten. Diese Forderungen unterscheiden sich im Grunde nicht von den übrigen Reparationsforderungen. Für ihre Behandlung war die Lausanner Konferenz nicht zuständig. Infolge der tatsächlichen Entwicklung hat sie das gleiche Schicksal wie die eigentlichen Reparationsforderungen ereilt. 3. Die belgische Markforderung. Auch hier handelt es sich um eine reparationsähnliche Forderung, deren Anerkennung als Reparationsforderung durch seine Mitverbündeten Belgien nicht gelungen war J). Dieser Forderung ist infolge der tatsächlichen Entwicklung ein ungefähr ähnliches Schicksal beschieden worden. l)

McFadyean, S. 180.

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4. Die Dawes- und Younganleihen. Die Rechte der Besitzer dieser Wertpapiere sollten durch das Lausanner Abkommen nicht beschränkt werden. Die Macht der Tatsachen hat aber auch in diesem Falle bei den formalen Rechten nicht haltgemacht. Die Wertpapierbesitzer mußten sich teilweise recht erhebliche Abstriche bei der Realisierung ihrer Forderungen gefallen lassen. Auch wurde der gesamte Mechanismus für die Durchführung des Dienstes der Anleihen auf Grund der allgemeinen Schuldverschreibungen, der nach dem Lausanner Abkommen der veränderten Lage angepaßt werden sollte, durch bilaterale Sonderabkommen zwischen den einzelnen Gläubigerregierungen und Deutschland über die Verwendung der aus dem beiderseitigen Außenhandel aufkommenden Devisen praktisch außer Kraft gesetzt. 5. Die Saarfrage. Als letztes Reparationsunterpfand behielt Frankreich die Saargruben und das Saarland in der Hand. Der ganze Komplex der Saarfragen wurde kurz vor dem Ablauf der im Versailler Vertrag vorgesehenen Frist dadurch bereinigt, daß Deutschland gegen Aushändigung der Saargruben die Verpflichtung zur Zahlung eines Betrages von 900 Millionen Ffrs. einging, für dessen Transferierung die Ablieferung der im Saarland umlaufenden Franken sowie Saarkohlenleistungen neben der Verpachtung der Warndtgruben für fünfJahre zugestanden wurden. Diese Abmachung ebnete den Weg für die Rückgabe des Saarlandes und brachte, wenn auch keine alsbaldige Verbesserung, so doch auch keine zusätzliche Beanspruchung der deutschen Devisenlage mit sich. Das Neapeler Abkommen vom 18. Februar 1935 stellt einen im Interesse größerer Ziele im beiderseitigen Einvernehmen eingegangenen Kompromiß zwischen zwei Standpunkten dar, die bislang unüberbrückbar schienen. Mit Lausanne hörten die effektiven Reparationszahlungen Deutschlands bis auf die belgischen Markzahlungen endgültig auf. Der Youngplan hatte den früher alliierten Mächten bis zum 30. Juni 1932 immerhin noch — zum Teil auf Kosten Dritter — den stattlichen Ertrag von 3,1 Milliarden R M . erbracht. Weiterhin ungelöst blieb das interalliierte Schuldenproblem. Auf der Lausanner Konferenz versuchten die Vertreter der früher alliierten Regierungen, was ihnen bisher nicht gelungen war, endgültig durchzusetzen, nämlich die Verbindung der interalliierten Schulden mit den Reparationsverpflichtungen, d. h. die Möglichkeit, die Reparationsfrage wie35

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der aufzurollen, wenn es ihnen nicht gelänge, die Vereinigten Staaten zu einer entsprechenden Behandlung der interalliierten Schulden zu veranlassen. Deutschland lehnte dieses Ansinnen wie in den vergangenen Jahren kategorisch ab. Ganz abgesehen davon, daß Deutschland mit Entstehung, Zusammensetzung und Art der interalliierten Schulden nichts gemein hatte, konnte es sich von dem Einschwenken in die Front Europa-Amerika nach den bisherigen Erfahrungen mit den Friedensdiktaten keinerlei Vorteil versprechen. Dieser Standpunkt hat jedoch Deutschlands Vertreter, z. B. auf der Weltwirtschaftskonferenz von 1933, nicht gehindert, die Auffassung zu vertreten, daß diese Schulden, die zum großen Teil rein politischer Natur sind, ein ähnliches Störungselement für die Weltwirtschaft darstellten wie die Reparationszahlungen. IV. Das Begräbnis des letzten Reparationsschemas ist weit mehr der Macht der Tatsachen als sachkundiger Planung zu verdanken, obwohl vielleicht kein Problem innerhalb verhältnismäßig so kurzer Zeit soviel Sachverständige auf den Plan gerufen hat wie die Reparationsfrage und die politische Nachkriegsverschuldung. Allerdings sind die unbeeinflußten Sachverständigen, die mit ihrem Rate der Welt einen wirklichen Dienst erweisen wollten, an den Fingern zu zählen. Das Reparationsproblem ist von Anfang bis zu Ende als politisches Problem behandelt worden, ausgehend von der These der Alleinverantwortlichkeit Deutschlands für den Weltkrieg und fußend auf politischen Mindestforderungen der Siegermächte. Die Masse der ausländischen Sachkenner hat sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit über alle Zweifel an der Berechtigung dieser Annahmen hinweggesetzt und dem wirtschaftlichen Problem, das die Reparationszahlungen aufwarfen, nur insoweit genaht, als es der Auffassung, daß Deutschland zahlen müsse oder daß es wenigstens soviel zahlen müsse, wie die Reparationsgläubiger untereinander und ihrem Gläubiger, den Vereinigten Staaten, schuldeten, Raum ließ. Auf den Gedanken, vermittels ihrer Sachkunde offen darzulegen, daß die politischen Zahlungen innerhalb eines Weltwirtschaftsmechanismus, der die verheerenden Zerstörungen des Weltkrieges und seiner unmittelbaren Folgen durchgemacht hatte und nur bei sorgsamster Schonung wiederhergestellt werden konnte, ausschließlich zur weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Beziehungen führen müßten, sind die meisten erst verfallen, als die katastrophalen Folgen der unzähligen Pläne und Abmachungen über die Reparationszahlungen nicht mehr wegzuleugnen waren. Alle ernst-

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haften Sachkenner waren sich darüber einig, daß der Druck, der von den gegenwertlosen politischen Milliardenleistungen ausging, nach innen die Herabdrückung des Lebensstandards des deutschen Arbeiters und Volkes und nach außen die Desorganisation aller Märkte der Welt zur Folge haben müsse. Die Verfälschung des Transferproblems durch den ausländischen Kapitalstrom gab den Zweiflern und Gegnern dieser Auffassung einen ungeahnten Auftrieb, der seinen Höhepunkt in der Verneinung des Transferproblems selber erreichte. Infolgedessen machte man sich über den Einfluß einer später einmal eintretenden Herabsetzung des deutschen Lebensstandards und der zu erwartenden deutschen Ausfuhroffensive auf die geistige und wirtschaftliche Verfassung Deutschlands und der übrigen zivilisierten Länder noch weniger Skrupel. Wenn Keynes den vielbelästerten Ausspruch tat, daß das Dawessystem weder mit der Zivilisation noch mit der menschlichen Natur vereinbar sei, so hat er — wenn auch die Dinge zunächst einen anderen Verlauf zu nehmen schienen — damit gezeigt, daß er die Frage klarer als alle seine Kritiker erkannt hat. Angesichts dieser geistigen und politischen Einstellung des Auslandes war Deutschland in dem Kampf gegen das Tributsystem ganz auf sich selbst angewiesen. Sein Weg war in Anbetracht der politischen Ohnmacht, in der es sich befand, klar vorgezeichnet. Es mußte Selbstdisziplin üben, der Welt den Widersinn der Reparationszahlungen klar machen und zeigen, wo die Grenzen waren, die ihm die weitere Ausführung nicht mehr zumuten ließen. Hierzu gehörte in erster Linie die innere Ordnung. Es war Dr. Schacht vorbehalten, Rufer in diesem Streit zu sein. Er drang unablässig auf ausgeglichene öffentliche Haushalte und auf Zurückhaltung im Schuldenmachen. Seine Warnungen fielen auf unfruchtbaren Boden. Zu einer Politik der Selbstbeschränkung in der Ausgabewirtschaft und in der öffentlichen Auslandsverschuldung im Interesse der Unabhängigmachung vom Ausland, wie sie z. B. Italien eingeschlagen hatte, waren die politischen Instanzen weder willens noch imstande. Sie glaubten, den Wachstumsbedarf der deutschen Wirtschaft durch großzügige Ausgaben- und Anleihewirtschaft unterstützen und den Lebensstandard des Arbeiters durch weitgehenden Ausbau der sozialen Fürsorge eher erhöhen als zunächst auf einem der derzeitigen Lage Deutschlands angemessenen Niveau halten zu sollen. Wer die Kosten einmal bezahlen sollte, interessierte sie nicht so sehr. Auf diese Weise entwickelte sich das beschämende Schauspiel, daß die deutsche Finanzgebarung der Kritik des Reparationsagenten, McFadyean, S. 77. 35*

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der ein dem deutschen Interesse diametral entgegengesetztes Ziel verfolgte, passende Angriffsflächen bot. Die Bemühungen, Deutschlands Wirtschaftsbeziehungen zum Ausland in Einklang zu bringen mit den Erfordernissen, die sich aus dem Reparationsproblem ergaben, und zur Lösung des Transferproblems beizutragen, waren nicht viel glücklicher. Die deutschen Anstrengungen, der normalen Handelsausfuhr einen dauerhaften Anteil an der Weltausfuhr zu sichern und darüber hinaus eine zusätzliche Ausfuhr zu ermöglichen, die zur Finanzierung der Reparationszahlungen und des Dienstes der für sie verwandten Auslandskredite gereicht hätte, hatten keinen Erfolg. Auf allen Gebieten der deutschen Außenhandelsbetätigung wurden Schranken über Schranken errichtet und selbst den Reparationssachleistungen der zusätzliche Absatz verwehrt. Deutsche Vorschläge, den Welthandel durch planmäßige Bemühung zu heben, um auf diese Weise die Spannung für Deutschland zu mildern, wurden nicht beachtet, obwohl die Gläubigermächte eigentlich alle Veranlassung gehabt hätten, jeden Weg zu benutzen, um Deutschland zahlungsfähig zu machen. Von den Ländern, die nicht zu den Nutznießern der Reparationszahlungen gehörten, zu erwarten, daß sie dem Druck der Reparationsausfuhr nachgeben sollten, war politisch verwerflich, weil sie für die Ursachen nicht verantwortlich waren, und sachlich verfehlt, weil ihre Aufnahmefähigkeit gering war. Die Theorie der Gläubigermächte vom Dreieckshandel war deshalb zur Lösung des Problems der politischen Verschuldung denkbar ungeeignet. Auch die Erschließung unentwickelter Länder mittels deutscher Reparationszahlungen, die gegebenenfalls durch Kredite aus den Gläubigerländern vorfinanziert werden sollten, wurde gar nicht erst versucht. Angesichts ihrer Zweckbestimmung ließen solche Geschäfte nur verhältnismäßig magere Ergebnisse erhoffen, ganz abgesehen davon, daß die Rentabilitätsquote bei Unternehmungen dieser Art erfahrungsgemäß zu Anfang sehr bescheiden zu sein pflegt. Außerdem wäre es überhaupt sehr schwierig gewesen, rentable „assisted schemes" für Zwecke der Reparationsgläubiger zu verwirklichen, da für gute Geschäfte anlagesuchendes Privatkapital und gewinnsuchende Unternehmer im Ausland mehr als genug zur Verfügung standen. Versuche, den Welthandel mit vereinten Kräften zu heben, könnten Erfolg haben, wenn es gelänge, alle aktiven Partner angemessen an dem Nutzen zu beteiligen. Wie überall im Leben der Völker ist aber auch hier ein dauerhafter Erfolg unwahrscheinlich, solange die ethischen Grundlagen für eine internationale Vereinbarung noch nicht gegeben sind, sondern ihr Zweck darin besteht, den einen auf Kosten des andern zu bereichern. Ebenso fraglich erscheint es, daß die Spc-

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kulation derer in Erfüllung geht, die darauf warten, daß die selbsttätige Belebung des Welthandels es den politischen Schuldnern ermöglicht, in ihre Verpflichtungen wiederhineinzuwachsen. Solange ein gegenwertloser Schuldentransfer durch sich selbst fortgesetzte Beunruhigung in der Weltwirtschaft verursacht, wie die Erfahrungen eben gezeigt haben, muß er der Gesundung des Welthandels entgegenwirken. Quod ab initio vitiosum, tractu temporis convalescere non potest. Die Ausfuhr eines Landes ist nicht Selbstzweck, sondern das Mittel, überschüssige Warenmengen an Länder, die einen entsprechenden Bedarf haben, abzusetzen oder Zahlungsmittel für die Einfuhr lebensnotwendiger Waren zu beschaffen. Schuldenzahlungen setzen, wenn sie nicht zur Verkümmerung des Außenhandels beitragen sollen, zusätzliche Ausfuhrmöglichkeiten voraus. Im übrigen müssen sie nicht nur mit der finanziellen Struktur des Schuldnerlandes vereinbar sein, sondern auch auf geschäftlich moralischen Grundlagen beruhen. Es ist noch offen, inwieweit die Erbschaft, die Deutschland aus der Reparationszeit übernommen hat, hiermit in Einklang gebracht werden kann. V. Nachdem der Layton-Ausschuß die Dinge beim rechten Namen genannt hatte, gehörte mit einem Male die Erkenntnis, daß die Reparationsleistungen durch ausländisches Kapital finanziert worden sind, zum Allgemeingut. I n ihrer weiteren Konsequenz bedeutete diese Feststellung, daß mit den in der Reparationszeit auf privatem Wege aufgenommenen Auslandskrediten weder eigene Einfuhrbedürfnisse befriedigt noch gar irgendwelche bleibenden Gegenwerte geschaffen wurden, soweit ihre Größenordnungen mit denen der Reparationsleistungen — in bar oder natura — übereinstimmten. Die Reparationszahlungen erfolgten auf Borg oder, wie Keynes sagt, „in Papier". Der eigentliche Prozeß der Reparationszahlungen setzte erst kurz vor dem Zusammenbruch des äußeren Mechanismus ein; wir befinden uns noch mitten in dieser letzten Etappe. Die Auslandskredite sind nominell unangetastet und stellen an die Schuldnernation Ansprüche, die sich die Darlehnsnehmer nicht haben träumen lassen. Dieses Ergebnis ist es gerade, was den Verfechtern einer Politik der Kommerzialisierung und Mobilisierung der Reparationsverpflichtungen vorschwebte. Der deutsche Kredit erforderte die Honorierung privater Auslandsdarlehen, auch wenn ihr Erlös anderen Ländern zugeflossen war. Andernfalls hätten die Kredite nicht aufgenommen werden dürfen. Durch die Verfilzung mit dem deutschen Allgemeinkredit ist auch den Reparationsanleihen eine Sicherheit gegenüber dem

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Schuldner verschafft worden, wie sie kein Schuldsystem verbessern und kein noch so fragwürdiger Schuldgrund verkleinern kann. Die amtlichen Erklärungen, mit denen der Gedanke einer Repudiation auf privatwirtschaftlichem Wege aufgenommener Auslandskredite immer wieder strikt abgelehnt worden ist, galten deshalb auch stets für die eigentlichen Reparationsanleihen. Diese Haltung entspricht weniger der Rücksicht auf die Gläubigermächte oder die Kreditgeber, die mit der Propagierung der Anleihen oder der Kredithergabe eine eigene Verantwortung übernommen haben, als dem eigenen Interesse. Deutschland ist und bleibt an der Aufrechterhaltung seines Auslandskredits interessiert. Die Erfahrungen der letzten Jahre beweisen, daß es diese Aufgabe nicht leicht nimmt. Die Verantwortung für die deutschen Auslandskredite ist nicht nur hinsichtlich der Kreditgeschäfte selbst, sondern auch in bezug auf ihre Durchführung eine geteilte. Die Überstürzung, mit welcher die kurzfristigen Kredite aus Deutschland abgezogen wurden, verschob das Gleichgewicht zwischen Aktiven und Passiven zu Lasten beider Parteien. Während bisher die Auslandsforderungen der Banken, die liquidierbaren Warenlager und der Gold- und Devisenbestand der Reichsbank eine kommensurable Größe darstellten, die bei ruhiger Abwickelung eine leidliche Deckung ermöglichten, wurde durch die planlosen Kreditabzüge die Decke mit einem Male viel zu kurz, und die Kredite froren fast vollständig ein. Die Stillhalteabkommen tragen dem Gedanken der geteilten Verantwortung weitgehend Rechnung. Die Vorzugsstellung, die den kurzfristigen Krediten eingeräumt worden ist, ist auch hier aus dem besonderen Interesse zu erklären, das Deutschland wie alle sonstigen handeltreibenden, kapitalarmen Länder an Kreditmöglichkeiten für seinen Außenhandel hat. Eine ähnliche Verständigung mit den Gläubigern langfristiger Kredite war nicht möglich. Der Erlös der Auslandsanleihen war zum überwiegenden Teil für Reparationszahlungen verwandt worden. Die Verwendung hierfür war namentlich im weiteren Verlauf des Dawesplans für jeden Sachkenner so offensichtlich, daß die Kreditgeber, ihre Berater und Regierungen, die Nutznießer dieser Kreditgeschäfte, ihr eigenes Risiko bei Kreditstockungen liefen, das schon in der Prämie seinen Ausdruck fand, den der hohe Zinsfuß darstellte. Durch den Preissturz, der bei Eintritt der Weltkrise fast 50% ausmachte und eine entsprechende Steigerung des Geldwertes herbeiführte, war die Last der Verschuldung außerordentlich gewachsen. Daß Deutschland, das diese Kredite schon einmal bezahlt hatte, bei der nochmaligen Abzahlung seine eigenen Lebensinteressen in den Vordergrund stellte und die verfügbaren Devisen in erster Linie für den Warenverkehr nutzte, war daher eine

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Selbstverständlichkeit. Die Anpassung der Kredite und ihres Dienstes an die von den ausländischen Stellen selbst herbeigeführte Lage Deutschlands blieb dafür um so schwieriger. Der Kapitalist scheint in der Furcht zu leben, alles zu verlieren, wenn er Opfer bringen soll, selbst wenn es sich um nicht mehr zu ändernde Tatsachen handelt. Er verkriecht sich darum bei eintretenden Zahlungsschwierigkeiten des Schuldnerstaats zunächst hinter den Grundsatz, daß Verträge zu respektieren sind, und überläßt im übrigen die Wahrnehmung seiner Interessen seiner Regierung. Diese Regierung, welche vielfach für das einzelne Kreditgeschäft keine irgendwie geartete Verantwortung übernommen hat, aber durch eine entsprechende Handelspolitik allein imstande wäre, die Zahlungsschwierigkeiten des Schuldners zu beseitigen, verweist demgegenüber auf die althergebrachte Übung, daß der Schuldner — gleichgültig ob Staat, öffentliche Körperschaft oder Privatperson — sich mit dem Kreditgeber unmittelbar über etwaige Anpassungsnotwendigkeiten auseinanderzusetzen habe, in der Regel nicht ohne hinzuzufügen, daß solche Anpassungsmaßnahmen im Hinblick auf die derzeitige Krise nur vorübergehender Art zu sein brauchten. Hier und da macht der eine oder der andere Gläubigerstaat auch Anstrengungen, einem Schuldnerland gewisse handelspolitische Konzessionen zu machen. Diese Konzessionen bleiben dann meist schon wegen der Furcht vor Berufungen dritter Länder hinter den Erwartungen zurück. So weicht man positiven Schritten aus, während die Lage der Schuldnerländer, aber auch der Gläubigerländer zusehends schlechter wird. Auf der Konferenz von Stresa für die wirtschaftliche Wiederherstellung Zentral- und Osteuropas (von 1932) wurde außerordentlich aufschlußreiches Material über die Rolle der Auslandsschulden der Ostund Südostländer Europas, die ähnliche Krisenerscheinungen wie die deutsche Auslandsverschuldung gezeitigt hatten, vorgelegt. Es stellte sich heraus, daß die Auslandsverschuldung auf den Kopf der Bevölkerung in den meisten Fällen an sich viel zu hoch war, vor allem aber daß der Schuldendienst in Prozentsätzen von der Ausfuhr (1931) infolge des Preissturzes oder der Handelsschrumpfung eine Schwere angenommen hatte, die bei unverminderter Fortleistung zu einer Katastrophe führen mußte. Auf dieser Konferenz waren die Privatkreditgeber nicht vertreten. Die Gläubigerländer beschränkten sich darauf, eine strikte Deflationspolitik auf dem Gebiete des öffentlichen Haushalts und Kredits zu fordern, und wichen einer Empfehlung, die Lage des Schuldners durch tatkräftigen Schuldennachlaß zu verbessern, aus; dagegen stellten sie die Forderung auf, daß die Schuldverpflichtungen in keinem Fall einseitig abgeändert werden dürften. Auf diese Weise wurden die Gläubiger in ihrem Widerstand gegen die der Lage ent-

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sprechenden Konzessionen bestärkt. Das Ergebnis war, da auch die handelspolitischen Konzessionen der Gläubigerländer unzureichend waren, die weitere Verschlechterung des wirtschaftlichen Status der betreffenden Schuldnerländer und der ganzen europäischen Wirtschaft. Es ist zwar richtig, wie auf dieser Konferenz hervorgehoben wurde, daß die Schuldnerländer nicht in gleichartige Gruppen eingeteilt werden können und daß sich ein einheitliches Programm für die Abhilfe der bei ihnen entstandenen Notlage verbietet. Die Ursachen, auf denen die Verschuldung beruht, der Zweck, der mit der Kreditgewährung verfolgt wurde, die wirtschaftlichen Grundlagen für die Möglichkeiten der Schuldenzahlungen, sowie überhaupt die Gesamtheit der Beziehungen zwischen dem einzelnen Schuldner- und Gläubigerland sind hierzu zu verschieden. Aber dadurch, daß man nur auf die Schwierigkeiten hinweist oder den Verantwortungen aus dem Weg geht, kommt man der Lösung des für die Herstellung geordneter weltwirtschaftlicher Beziehungen so bedeutsamen Schuldenproblems nicht näher. Die schwierige Lage der Schuldnerländer nach dem Krieg führte zu Kreditbedingungen, die sich als unwirtschaftlich auswirken mußten. Die jahrelange Vereinnahmung überhöhter Zinsen enthielt bereits die Entschädigung für das Risiko des Kreditgebers und bedürfte daher ebensowie die Tatsache der Steigerung der Schuldenlast durch die durch den Preisverfall bedingte Erhöhung des Geldwertes der Hervorhebung, um die Kreditgeber zur wirksamen Konzessionen zu veranlassen. Wenn es schon mit außerordentlichen Schwierigkeiten verknüpft ist, Empfehlungen solcher Art auch nur in vager Form zu vereinbaren, so ist es noch viel schwieriger, Konzessionen zu empfehlen bei Krediten, mit denen politische Absichten oder Nebenabsichten verfolgt wurden und bei denen der private Kreditgeber durch den politischen Nutznießer zur Hergabe des Kredits bewegt worden ist. Denn die verantwortlichen politischen Instanzen wünschen das Zugeständnis ihrer Mitverantwortung und der entstandenen Schwierigkeiten zu vermeiden, um Reigreßansprüchen ihrer Staatsangehörigen aus dem Wege zu gehen. So erklärt es sich auch, daß einer offenen Erörterung des Problems der deutschen privaten Auslandsverschuldung, die das Erbe einer verfehlten Reparationspolitik der Gläubigermächte ist, ständig ausgewichen wurde. Deutschland blieb daher nichts weiter übrig, als selbständig zu handeln und im Juni 1933 das Transfermoratorium für die deutschen privaten Schulden zu erklären. Diese Erklärung griff im Grunde genommen in die tatsächliche Lage des Kreditverhältnisses nicht ein, sondern stellte ähnlich wie das Hoover-Moratorium für die zwischenstaatlichen Schulden lediglich eine deklaratorische Feststellung

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von nicht zu leugnenden wirtschaftlichen Tatsachen dar, die für die weitere Bedienung der deutschen Auslandsverschuldung ausschlaggebend sein mußten, ohne d a ß zu den Ursachen und der Verantwortung hierfür Stellung genommen werden sollte. Die Erklärung enthielt daher auch nicht 1 ) den Tatbestand des „fait du prince", wonach der obrigkeitliche A k t die Haftung des Staates für den einzelnen von diesem A k t betroffenen Kredit auslöst und der Staat nicht nur für den Transfer, sondern womöglich auch für die Bonität des Kredits für verantwortlich gehalten wird. Das Problem der privatwirtschaftlichen Auslandsverschuldung Deutschlands hebt sich infolge seiner Entstehungsursachen von dem der übrigen Schuldnerländer weit ab und eignet sich, wenn auch seine Ursachen und Wirkungen infolge der Größe des Problems die gesamte Weltwirtschaft beeinflussen, nicht übermäßig für eine allgemeine internationale Aussprache. Aus diesem Grund wurde es auch auf der Weltwirtschaftskonferenz in London von 1933 nicht zur Erörterung gestellt, die bezeichnenderweise unter dem offiziellen Verbot zusammentrat, die obsolete, aber immer noch als Beunruhigungsfaktor für die Weltwirtschaft empfundene Frage der politischen Verschuldung selbst zur Erörterung zu stellen. Die Konferenz erging sich in ähnlichen vagen Redensarten über die Behandlung der privaten Auslandsverschuldung wie die vorhergegangene Konferenz. Das Dilemma, Schulden abzutragen, um den eigenen Kredit aufrechtzuerhalten und den hierzu erforderlichen Warenabsatz zu erkämpfen, während die Gläubigerländer zwar Zahlung aber keine Waren zu erhalten wünschen, blieb jedenfalls für Deutschland unverändert das gleiche. Seit dem Fiasko der Weltwirtschaftskonferenz hat sich die Entwicklung, wie zu erwarten war, noch verschlechtert. Der K a m p f um die Sicherung des Warenabsatzes unter Schuldner- und Gläubigernationen hat verschärfte Ausmaße angenommen; er wird nicht nur unter Gesichtspunkten der Handels- und Gläubigerpolitik geführt, sondern auch in denDienst der Währungs- oder Devisenpolitik gestellt. Die Gläubigerländer haben sich durch Schaffung ungeheurer Währungsausgleichsfonds unkontrollierbare Machtpositionen geschaffen, die allen möglichen wirtschaftlichen und politischen Zielen und nicht nur dem defensiven Ausgleich wirtschaftlich bedingter Schwankungen der Devisenkurse dienen können und gegenüber den Schuldnerländern, auf deren Kosten diese Fonds zum Teil entstanden sind, einen nicht einzuholenden V o r sprung darstellen. Vermittels der Clearing-Abkommen haben sich ferner diejenigen Gläubigerländer, deren Handelsverkehr im Verhältnis 1)

A . M . anscheinend P. van Zeeland, A V i e w of Europe, 1932. Baltimore, T h e

J o h n Hopkins Press 1933, S. 31/32.

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zu den Schuldnerländern passiv war, durch Ausnutzung ihrer Machtstellung die einseitige Befriedigung ihrer Forderungen zum Nachteil des Schuldnerlandes, aber auch dritter Länder, denen das Schuldnerland Zahlung zu leisten hat, gesichert. Die Bilanzsalden der Schuldnerländer, welche früher weltwirtschaftliche Ausgleichsfunktionen besaßen, sind verschwunden, der Warenaustausch der Schuldnerländer mit dritten Ländern ist zusammengeschrumpft. Durch Druck und Drohung, Not und Selbsthilfe sind auf handels-, währungs- und schuldenpolitischem Gebiet so starke Verschiebungen eingetreten, daß ihre Wiedereinrenkung in den Mechanismus einer weltwirtschaftlichen Ordnung Entschlüsse erfordert, die für viele der beteiligten Länder von weitreichendsten innerwirtschaftlichen Folgen sein müssen und zu deren Verwirklichung sie sich nur entschließen können, wenn die entsprechenden Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Diese Voraussetzungen bestehen namentlich in der Herstellung einer Atmosphäre des Vertrauens der großen Völker zueinander, sie erfordern aber auch eine grundsätzliche Bereinigung der Frage der politischen und privatwirtschaftlichen Auslandsverschuldung. Ob es möglich ist, die politische Verschuldung auf dem Weg internationaler Vereinbarung zu lösen, oder ob sie nicht vielmehr, wie im Falle der Reparationszahlungen, durch die Macht der Tatsachen oder den „Schuldner" gelöst werden muß 1 ), mag nach den bisherigen Erfahrungen zweifelhaft bleiben. Zu einer Abfindung „sesterzio nummo uno" mit einem ,,token payment" sind die Gläubiger jenseits des Ozeans immer noch nicht bereit. Neuerliche Versuche von Schuldnerseite, eine positive Regelung der politischen Schulden in Gang zu bringen, flößen den durch die Erfahrung gewitzigten Amerikanern vorerst das größte Mißtrauen 2 ) ein. Auch die notwendige Anpassung der privatwirtschaftlichen Verschuldung an die tatsächliche Lage ist angesichts der Vielheit der in Betracht kommenden Faktoren ein äußerst schwieriges Unternehmen. Unter diesen Umständen wird bis zu einer wirksamen allgemeinen Wirtschaftsverständigung noch ein mühsamer und langwieriger Weg zurückzulegen sein. Das sollte Deutschland nicht hindern, jede Möglichkeit, die weltwirtschaftlichen Beziehungen zu bessern, mit Sympathie und Nachdruck zu ergreifen, sofern dabei den deutschen Lebensrechten eine gerechtere Würdigung als bisher zuteil werden kann. Andernfalls wird es nach dem Spruch „Hilf Dir selbst, so hilft Dir Gott" seinen Weg auch allein bahnen können. 1 ) So L . Fraser (früher Präsident der B I Z . ) in seinem Vortrag über „Wirtschaftlichen Wiederaufbau und Währungsstabilisierung", Proceedings of the Academy of Political Science, M a y 1936, vol. X V I I , Nr. 1, S. 110. 2 ) R . de Roussy de Sales, de problème des dettes franco-americaines, in L'Europe Nouvelle v. 19. 12. 3 5 S. 1260.

REICHSBANK UND WÄHRUNG VON"

F R I E D R I C H W. DREYSE

DIE BÜCHEREI DER REICHSBANK ENTHÄLT HEUTE UNGEfähr dreimal soviel Werke über Währung und Geldwesen wie vor dem Krieg. Haben sich — die Frage liegt nahe — die Erkenntnisse auf diesem Gebiete so außerordentlich erweitert? Ich fürchte, eher das Gegenteil ist der Fall. Vor dem Krieg betrachtete man die Währung nicht viel anders wie etwa das Manometer an einem Dampfkessel. War die Wirtschaft gesund — und sie war es im großen und ganzen meist—, so erschien es fast selbstverständlich, daß dies in einem gut funktionierenden Geldwesen zum Ausdruck kam. Der Weltkrieg hat dann die Wirtschaft zerrüttet, und noch heute ist sie in keinem Lande völlig gesund. Man empfindet es aber nicht mehr allgemein als selbstverständlich, wenn unter diesen Umständen auch die Währungen nicht mehr befriedigend funktionieren, oder man stellt zum mindesten die These auf, daß zunächst die Währungen, und erst auf dem Wege über sie die Wirtschaften zu sanieren seien. Es mag vorerst noch dahingestellt bleiben, welche dieser Auffassungen richtig ist. Auf alle Fälle ist. es unumgänglich, das vorliegende Thema allgemeinwirtschaftlich zu behandeln; denn soviel steht fest, daß die Währung aufs engste zur Wirtschaft gehört und unmöglich isoliert betrachtet werden kann.

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Friedrich W. Dreyse

I. D I E W Ä H R U N G IN D E R

NACHKRIEGSWIRTSCHAFT

Vom Ende der napoleonischen Kriege bis zum Beginn des Weltkrieges hatte sich die Wirtschaft aller Kulturstaaten ziemlich ungestört entwickelt. Gegen Ende dieser Periode, namentlich während des fast stürmischen Aufschwungs seit 1900, haben sich freilich national wie international bereits einige bedenkliche Spannungen gebildet. Mit dem W e l t k r i e g brach die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung jäh ab. Vier Jahre lang arbeitete die Wirtschaft der halben Welt bis zur äußersten Grenze des Möglichen für den Krieg, d. h. sie stellte Güter her, die weder zum normalen Konsum noch zur weiteren Produktion, sondern lediglich zur Zerstörung bestimmt waren. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß in einer Zeit, die annähernd 10 Millionen Menschenopfer erfordert hat, auch die materiellen Güter rücksichtslos zum Einsatz kamen. Man kann aber nicht erwarten, daß nach dem Abschluß eines so ungeheuren Zerstörungsprozesses das Wirtschaftsleben seinen alten Gang hätte gehen können, als wenn so gut wie nichts geschehen wäre. Was in Wirklichkeit wirtschaftlich geschehen war, mag man aus den Kriegskosten ersehen, die für Deutschland, England und Frankreich insgesamt auf rd. 380 Milliarden Goldmark geschätzt werden; das entspricht etwa der Hälfte des damaligen Volksvermögens dieser Staaten zusammen. Die Lagervorräte im weitesten Sinne wurden verbraucht, die maschinellen Produktionsmittel wurden abgenutzt, ohne erneuert zu werden, mit dem Boden und den Bodenschätzen wurde Raubbau getrieben, Daueranlagen wie Wohnhäuser oder Fabrikgebäude gerieten mangels Reparaturen in Verfall. Trotz dieser gigantischen Kapitalvernichtung hätte die Leistungsfähigkeit moderner Wirtschaften in wenigstens nicht allzu langer Zeit einen Wiederaufbau gestattet. Dazu waren allerdings zwei Voraussetzungen zu schaffen, ein ehrlicher Friede und eine ehrliche internationale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet. Die Sieger des Weltkrieges haben das Gegenteil davon getan, sie haben den Krieg auch nach seiner formellen Beendigung mit wirtschaftlichen Mitteln weitergeführt. Die Wirtschaft unseres Landes hat unter dem V e r s a i l l e r „ F r i e d e n " fast noch mehr gelitten als unter dem Krieg. Nur um Beispiele zu geben, nenne ich die Abtretung von 130/0 des Reichsgebietes, die Wegnahme der Kolonien, die Auslieferung oder Vernichtung wertvoller Friedensgüter, wie etwa der Handelsflotte, die Konfiskation deutschen Privateigentums im Ausland usw. Aber das alles tritt zurück hinter dem berüchtigten Kapitel der „ R e -

Reichsbank

und

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p a r a t i o n e n " , dessen Wahnsinn einzig in der Weltgeschichte dasteht. Oder ist es etwas anderes als Wahnsinn, wenn 2V2 Jahre nach Beendigung der militärischen Operationen eine ultimative Reparationsforderung im Annuitätenwert von 287 Milliarden Goldmark an Deutschland gestellt wurde? Braucht man angesichts dieser astronomischen Ziffer noch darauf hinzuweisen, daß das deutsche Volksvermögen damals nicht annähernd so hoch war und daß transferierbare Vermögensteile oder Erträge überhaupt fehlten? Schon der Krieg hatte den Gleichgewifchtszustand im internationalen Wirtschaftsverkehr stark beeinträchtigt; denn während der eine Teil der Welt seine Wirtschaft zerstörte, konnte der andere sie weiter ausbauen; während der eine Teil seine Ausfuhr einschränken mußte, konnte der andere sie erweitern. Ihren gefährlichsten Niederschlag hat diese Gleichgewichtsverschiebung in der Umkehrung der internationalen V e r s c h u l d u n g s s t r u k t u r gefunden; die großen Gläubigerstaaten Europas büßten ihre Auslandsanlagen ganz (Deutschland) oder teilweise (Frankreich, England) ein, umgekehrt entwickelte sich das Schuldnerland U S A zum Weltgläubiger. Das Gefährliche in dieser Umschichtung liegt einmal darin, daß sich nur die Schulden-, nicht aber die Wirtschafts-Strukturen veränderten, Zahlungsbilanzstörungen also unausbleiblich wurden, zum anderen darin, daß sich die Wirkungen von Schulden, die Zins- und Amortisationsverpflichtungen, auf Jahrzehnte erstrecken, daß also das finanzielle „Kriegsende" weit in die Zukunft hinausgeschoben wird. Konzentriert finden wir diese Gefahrenmomente bei den Reparationen. Was dieser Versuch, die finanziellen Kriegsfolgen in der Hauptsache einem einzigen Staat, und zwar dem am meisten geschwächten, aufzuerlegen, volkswirtschaftlich bedeutet, zeigt eine einfache Überlegung. V o r dem Krieg erzielte D e u t s c h l a n d aus seinen Auslandsanlagen eine jährliche Einnahme von 3/ 4 —1 Milliarde M . ; dieser Aktivposten kam in Wegfall; hinzu kamen als Passivposten 2—2 1 / 2 Milliarden durchschnittliche Reparationsannuität sowie 1 1 / 2 Milliarden Zinsen für Kredite privater Gläubiger, aus denen die Reparationen eine Zeitlang gezahlt wurden. Der jährliche Saldo von 4 — 5 Milliarden war aus Ausfuhrüberschüssen zu erwirtschaften; die deutsche Ausfuhr betrug jedoch im Jahre 1913 nur rund 10 Milliarden und ist bis heute, statt zu steigen, auf 4J/2 Milliarden abgesunken. So ziemlich das entgegengesetzte Bild zeigt sich bei dem Hauptgläubigerland der Welt, den V e r e i n i g t e n S t a a t e n v o n A m e r i k a . Die Amerikaner deckten ihre Vorkriegsverschuldung ab, gaben ihrerseits ungeheure Kriegskredite an die Alliierten und investierten in der Zeit zwischen Kriegsende und Beginn der Kreditkrise

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noch höhere Milliardenbeträge in der ganzen Welt x ). Ihr Außenhandel dagegen blieb hochaktiv; der jährliche Ausfuhrüberschuß stellte sich zwischen 1924 und 1935 auf durchschnittlich 2,3 Milliarden RM., nachdem er sich in der ersten Hälfte dieses Zeitraumes mit 3,2 Milliarden noch über dem Stand der Vorkriegszeit gehalten hatte. Dem entspricht es, daß Deutschland heute erheblich weniger als 1 % , U S A dagegen fast 5 0 % des monetären Weltgoldbestandes in Händen haben. Unter dem Druck dieser u n l ö s b a r e n S p a n n u n g e n mußte die Weltwirtschaft zwangsläufig zusammenbrechen. Auf die übrigen — keineswegs unbedeutenden — Strukturveränderungen in der Weltwirtschaft einzugehen, wird sich im Rahmen des gestellten Themas erübrigen. Wohl aber ist es nötig, noch einen Blick auf die i n n e r d e u t s c h e W i r t s c h a f t s g e s t a l t u n g zu werfen. Daß der Neuaufbau der durch Krieg und Inflation ausgehöhlten Wirtschaftssubstanz ungeheuer schwer war, steht ganz außer Frage. Aber leider war auch der Weg falsch, der zum Wiederaufbau eingeschlagen wurde. Ein Land wie das deutsche kann sich grundsätzlich nur aus eigener Kraft hocharbeiten. Das haben wir länger als ein Jahrzehnt versäumt. Wir besaßen nicht den Willen zur Kraft, wir befehdeten uns selbst auf geistigem und materiellem Gebiet, wir litten unter einem brüchigen Regierungssystem und — gerade auch auf wirtschaftlichem Gebiet — unter einer ebenso brüchigen Moral. Unfähig, dem politischen Druck unserer Gegner standzuhalten, haben wir uns sogar mehr oder minder freiwillig in eine ausländische Schuldknechtschaft begeben. Die wechselnden Regierungskreise der Vor-Krisenzeit waren sich, wie in vielem anderen Negativen, auch darin einig, daß unser Wirtschaftsaufbau nur mit ausländischer Finanzhilfe möglich sei. So türmte sich jene gewaltige Auslandsschuldenlast auf. die nach ein paar Jahren wirtschaftlicher Scheinblüte zu einem neuen Ruin führte. Das Jahr 1931 zog die Bilanz. In der Industrie und im Handwerk häuften sich die Zusammenbrüche, die Landwirtschaft lag hoffnungslos am Boden, das Bankwesen war völlig funktionsunfähig, eine Reihe von Skandalen enthüllte einen erschreckenden Tiefstand der Wirtschaftsmoral, und als Folge von dem allen verloren 7 Millionen Arbeiter — ein Drittel der gesamten Erwerbsfähigen — ihr Brot und darüber hinaus allmählich sogar die Hoffnung, sich jemals wieder durch ihrer Hände Arbeit ernähren zu können. Aus dieser Hoffnungslosigkeit erhob sich immer drohender das Gespenst des Bolschewismus, und das war es, was die *) Für 1930 wurden die gesamten Auslandswerte der USA auf über 100 Milliarden R M geschätzt (darunter 24 Milliarden Kriegsforderungen der Regierung).

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deutsche Krise aus der Weltkrise heraushob, sie bedrohte den B e s t a n d unseres Volkes und die K u l t u r E u r o p a s . Nach diesem Überblick über die Wirtschaftsgestaltung der Nachkriegszeit darf hier noch einmal die Frage aufgeworfen werden, ob die Währungen von diesem weltweiten Zerfallsprozeß unberührt bleiben konnten. Sie kann gar nicht anders als negativ beantwortet werden. Wenn eine ganze Wirtschaftsepoche jäh zusammenstürzt, was berechtigt da zu der Annahme, daß gerade die Währung in der Lage sei, den Bergrutsch zu dämmen oder sich wenigstens aus den Folgen herauszuhalten? K a n n man d u r c h M a n i p u l i e r u n g des G e l d w e r tes eines L a n d e s das R a d des W e l t g e s c h e h e n s r ü c k w ä r t s d r e h e n ? Man kann nur eines, man kann die Währungsapparatur so weit in Ordnung halten, daß sie, wenn einmal die neue Zeit siegreich über den Trümmern der Vergangenheit aufsteigt, als geeignetes Werkzeug zum Wiederaufbau zur Verfügung steht. II. DIE R E I C H S B A N K I M Z W I S C H E N R E I C H Die d e u t s c h e I n f l a t i o n begann, wie die Inflation aller kriegführenden Staaten, mit dem ersten Mobilmachungstag. Die ungeheuren Kriegskosten — gleichbedeutend mit Verlusten am Volksvermögen — mußten notwendig zu einer steigenden Geldentwertung führen. Bei Kriegsende hatte sich eine schwebende Schuld von über 50 Milliarden M angesammelt, und der Zahlungsmittelumlauf war auf 29 Milliarden M (gleich fast dem fünffachen des Betrages von 1913) gestiegen. Trotzdem war die Währungslage keineswegs hoffnungslos, eine Stabilisierung auf einem maßvoll erniedrigten Niveau wäre währungspolitisch durchaus möglich gewesen. Dieser Ansicht war offenbar auch das Ausland; der Kurs der Mark stellte sich in Zürich noch im Oktober 1918 auf etwa 60%. Unhaltbar wurde die Währungslage erst, als sich der Vernichtungswille der Alliierten in den Waffenstillstandsbedingungen brutal demaskierte. Den Weg zum Abgrund im einzelnen zu schildern, darf ich mir ersparen. Er war zwangsläufig bedingt durch die einzelnen Etappen der Erpressungspolitik unserer Gegner. Das Diktat von Versailles, die Fortführung der Hungerblockade, die „Volksabstimmungen" unter dem Druck französischer Bajonette, das Londoner Ultimatum, der völkerrechtswidrige Einbruch in das Ruhrgebiet, jede dieser Gewaltmaßnahmen hat die Mark ein Stück weiter in den Abgrund getrieben. Die Reichsbank stand dieser Entwicklung mit gebundenen Händen gegenüber. Das wenige, was sie mit den technischen Mitteln der Notenbankpolitik unternehmen konnte, war völlig wirkungslos, so-

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lange das D e f i z i t i m R e i c h s h a u s h a l t mit erschreckender Schnelligkeit anstieg. Dieses Defizit aber rührte in der Hauptsache her aus dem „ H a u s h a l t z u r A u s f ü h r u n g des F r i e d e n s v e r t r a g e s " und später, im Ruhrkampf, aus der Finanzierung des passiven Widerstandes. Zu der seinerzeit oft gestellten Frage, ob die Reichsbank nicht dem Reich den Kredit hätte sperren müssen, haben die seitdem in den verschiedensten Ländern eingetretenen Ereignisse vielleicht einiges neue Anschauungsmaterial geliefert. Es dürfte nie eine Notenbank gegeben haben, die ihren Staat in einem ihm von außen aufgedrängten Daseinskampf im Stich gelassen hätte. Nie aber auch hat ein Staat ohne schwerste Nachteile, wenn nicht heftigste innere Erschütterungen, leichtfertig die Stützen untergraben, die eine verantwortungsbewußte Währungspolitik der Staatsführung zu verschaffen vermag. Was 1923 auf dem Spiel stand, war nicht weniger als der Zusammenhalt des Reiches überhaupt. Den völligen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft und die Auflösung des Staates zu verhüten, galt der damaligen Leitung der Reichsbank als oberste Aufgabe; dabei sah sie es ebenso sehr als ihre zwingende Pflicht an, die Reichsregierung auf die verzweifelte Währungslage hinzuweisen und Abhilfemaßnahmen vorzuschlagen. Immer und immer wieder hat sie dies getan. Der damalige Präsident des Reichsbankdirektoriums, Rudolf Havenstein, hat aus der Erkenntnis der Untragbarkeit der Reparationen heraus die Erfüllungspolitik der Reichsregierung scharf bekämpft. Er hat vor allem energisch dagegen Front gemacht, daß Reparationszusagen gegeben wurden, die niemals eingehalten werden konnten. Ebenso kehrt die Forderung nach „Beseitigung der Schuldenwirtschaft" und „Stillegung der Notenpresse" in den Akten der Reichsbank über ihren Verkehr mit der Reichsregierung in immer schärferer Form wieder. All diese Proteste scheiterten an der Kraftlosigkeit von Regierung und Regierungssystem. Die Reichsbank stand in den Inflationsjahren auf einem verlorenen Posten. A m Schicksal der Währung konnten alle ihre Bemühungen nichts ändern. In rasendem Sturz sank die Mark bis auf ein Atom ihres einstigen Wertes. Ende 1923 betrug der Umlauf an Reichsbanknoten fast 500 T r i l l i o n e n M., der Goldwert dagegen belief sich auf ganze 500 M i l l i o n e n . Das deutsche Volk aber stand im Oktober 1923 vor einer Hungersnot und vor einem Zerfall seines Staates. Es war kennzeichnend für die damalige Zeit, daß sie aus Sorge vor den unvermeidlich schweren Härten einer Währungsstabilisierung den Entschluß dazu bis auf die allerletzte Stunde hinausschob; es ist aber ebenso kennzeichnend für die unzerstörbare Lebenskraft des deutschen Volkes, daß es die W ä h r u n g s s t a b i l i s i e r u n g aus e i g e n e r K r a f t

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durchzuführen vermochte. Die Mark wurde seit dem 20. November 1923 stabil gehalten, während das von der Reparationskommission eingesetzte sog. Dawes-Komitee, das die Mittel zum Haushaltsausgleich und zur Währungsstabilisierung erwägen sollte, erst am 14. Januar 1924 in Funktion trat. Die Stabilisierung selbst war eine Sache des Vertrauens, des Willens und der Technik. Das Vertrauen war am schwersten zu schaffen. W o sollte es auch herkommen, nachdem bisher jede Regierung der A u f b l ä h u n g des Haushaltsdefizits passiv zugesehen hatte? Es ist das historische Verdienst K a r l H e l f f e r i c h s , daß er mit dem Projekt der R e n t e n m a r k eine Lösungsmöglichkeit gefunden hatte, die — was im damaligen Parteienstaat wichtig war — parteipolitisch tragbar schien, die weiter den damals angesichts der katastrophalen Versorgungslage ausschlaggebenden Bauernstand in den Dienst des Währungs-Neubaues stellte, und die schließlich in breitesten Volkskreisen durch ihre Verknüpfung mit dem unzerstörbaren Grund und Boden den Anschein einer inneren Wertstabilität erweckte. Sachlich freilich war die Rentenmark schlecht genug fundiert. Wegen ihrer „ D e c k u n g " durch Grundbesitz notwendig eine Binnenwährung, konnte sie auch die brennend gewordene Frage des Außenhandels nicht lösen. A b e r sie war hervorragend geeignet, eine Atempause zu schaffen, und das war zunächst das wichtigste. Das Notenausgaberecht der Rentenbank war natürlich gesetzlich begrenzt — darin lag j a der einzige wirksame Schutz vor Entwertung — , und zwar zunächst auf 2,4 Milliarden R e n t M , aber schon die Satzung der Rentenbank ließ unter bestimmten Kautelen eine Erhöhung um ein Drittel dieses Betrages zu, und auf legislativem Wege konnte der Betrag überhaupt beliebig ausgedehnt werden. Es hing also alles davon ab, die Bank vor der Überbeanspruchung durch das Reich zu schützen. Grundsätzlich war die Möglichkeit eines H a u s h a l t s a u s g l e i c h s nach Einstellung der Reparationszahlungen und A u f h e b u n g des passiven Widerstandes gegeben. Praktisch aber war es ungeheuer schwer, mit 900 Mill. Rentenbankkredit den Etat durchzuhalten. D e m damaligen Reichsfinanzminister Dr. Hans L u t h e r ist diese schwierige Aufgabe gelungen. Nach Wiederherstellung der notwendigen Voraussetzungen für ihre Tätigkeit war die alleinige Verantwortung für das Gelingen der Währungsstabilisierung auf die R e i c h s b a n k übergegangen. Das Stabilisierungswerk ist unauslöschlich mit dem Namen des Mannes verknüpft, dem das vorliegende Werk gewidmet ist. Dr. H j a l m a r S c h a c h t hatte bereits am 12. November 1923 das neugeschaffene A m t eines „Reichskommissars für Währungsangelegenheiten" übernommen. K u r z darauf, am 20. November 1923, raffte ein Herzschlag den Präsidenten des Reichs36

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bankdirektoriums Dr. Havenstein unvermittelt hinweg. Die tiefe Tragik, die die letzten Lebens- und Amtsjahre dieses vorbildlich pflichtgetreuen Mannes umgab, hat sich bis zur letzten Grenze des Möglichen gesteigert — er starb an dem Morgen des Tages, von dem an die Reichsbank die Kraft fand, den Kurs der Mark stabil zu halten. Am 22. Dezember wurde Dr. Schacht sein Nachfolger. Wir alle wissen heute, daß die Wahl auf keinen besseren Mann hätte fallen können. Die Lage der Reichsbank war vor allem deswegen so schwierig, weil sie das Geldwesen überhaupt nicht mehr in der Hand hatte. Nur ein Drittel des damaligen Geldumlaufs bestand aus Reichsbanknoten, zwei Drittel waren N o t g e l d aller möglichen öffentlichen, halböffentlichen und selbst privaten Stellen. Schon am 17. November hatte das Reichsbankdirektorium verfügt, daß dieses Notgeld bei ihren Kassen ab 22. nicht mehr in Zahlung genommen werde; gleichzeitig wurden die Emittenten zur kurzfristigen Einlösung aufgefordert. Diese Maßnahme bedeutete angesichts der riesigen Höhe der ausgegebenen Beträge eine Gewaltkur, wie sie in der Währungsgeschichte wohl noch nie dagewesen ist. Aber sie wirkte. Der Spekulation fehlte plötzlich die Möglichkeit, die eingegangenen Engagements anders als unter ganz enormen Verlusten glattzustellen. Innerhalb von 10 Tagen stürzte der Dollarkurs an den schwarzen Börsen um 55%. Die nächste dringliche Aufgabe bestand darin, die zunächst nur im Inlandsverkehr funktionsfähige Währung auch für den Verkehr mit dem Ausland tauglich zu machen. Das war praktisch nur möglich durch einen A n s c h l u ß an das G o l d , der seinerseits wieder einen genügend großen Manipulationsfonds voraussetzte. Die Gold- und Devisenbestände der Reichsbank waren aber durch die Abgaben für Reparations-, Versorgungs- und Interventionszwecke erschöpft. Nach Überwindung einer Unzahl von Schwierigkeiten gelang es, die Deutsche Golddiskontbank ins Leben zu rufen. Die dabei entscheidende ausländische Kredithilfe war in erster Linie dem hilfsbereiten Verständnis der Bank von England zu danken. Die deutsche Währung war nunmehr nach innen wie nach außen wieder funktionsfähig geworden. Die Währungsgesundung war jedoch notwendigerweise mit einer starken Wirtschaftskrise erkauft worden, die zwar die Devisen- und Warenspekulation und überhaupt vieles Ungesunde aus der Inflationszeit beseitigte, infolge der scharfen Geldverknappung aber darüber hinaus die Wirtschaft zu lähmen drohte. Zur einzigen Geldquelle des Landes geworden, sah sich die Reichsbank zu einer stärkeren Kreditgewährung genötigt. Die labile Vertrauensgrundlage, wie sie sich aus der abwartenden, j a mißtrauischen Einstellung weiter Bevölkerungs-

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schichten gegenüber dem großen Währungserneuerungsversuch ergeben mußte, erwies sich zumal bei der Schnelligkeit, mit der das Reich seinen Anteil an dem neu geschaffenen Geld in Anspruch nehmen mußte, bald nicht als tragkräftig genug. Der Kurs der Mark zeigte Schwächeerscheinungen, die Spekulation witterte bereits Morgenluft, das unter unsäglichen Schwierigkeiten eben Erreichte drohte ins Wanken zu kommen. D a schritt die Reichsbank noch einmal zu einer Radikalkur. A b 7. April 1924 — die Wahl des Tages beruhte auf betriebstechnischen Gründen — verhängte sie die bekannte K r e d i t r e s t r i k t i o n . Genau wie seinerzeit bei der Abdrosselung des Notgeldumlaufs ließ sie sich durch die zahlreichen und äußerst scharfen Widerstände nicht von ihrem Ziel abbringen und erreichte in relativ kurzer Zeit die endgültige Befestigung der neugeschaffenen Währung. V o m 3. Juni 1924 an war sie in der Lage, alle Devisenanforderungen voll zuzuteilen, und damit war das Werk der Stabilisierung vollendet. Die in die gleiche Zeit fallende Tätigkeit des Dawes-Komitees sei nur gestreift. Etatsausgleich und Währungsstabilisierung, seine Hauptaufgaben, waren von Deutschland selbst gelöst worden. Seine ursprüngliche Absicht, die deutsche Währungspolitik Ausländern zu übertragen, j a sogar die deutsche Zentralnotenbank ins Ausland zu verlegen, war damit vereitelt. Ein gewisser Auslandseinfluß ist im Bankgesetz vom 30. August 1924 noch verblieben, doch wurde er durch die Energie und das Verhandlungsgeschick Dr. Schachts so weit zurückgeschraubt, d a ß er praktisch nie eine Rolle spielte. Die weiter festgelegte U n a b hängigkeit der Reichsbank von der Reichsregierung war in ihrer damaligen Form eine wirklichkeitsfremde Konstruktion, über die die Entwicklung später hinweggeschritten ist. V o n ausschlaggebender Bedeutung war hingegen der unter dem Namen „ D a w e s p l a n " bekannte Versuch einer Reparationsregelung. Das Komitee kann das unter den damaligen Verhältnissen hoch zu bewertende Verdienst in Anspruch nehmen, die Reparationsfrage zum erstenmal aus der Sphäre eines irrsinnigen politischen Hasses herausgenommen und auf den nüchternen Boden wirtschaftlicher Überlegungen gestellt zu haben. Ganz konnte das naturgemäß nicht gelingen, denn die politischen Faktoren waren übermächtig, und so trägt der Dawesplan deutlich den Charakter eines Kompromisses zwischen politischen Ambitionen und wirtschaftlicher Vernunft. D a ß die ersteren stärker waren, zeigt die Festsetzung der Reparationsannuität auf 21/* Milliarden G M . Es bedarf heute nicht mehr der Erläuterung, daß und warum diese Summe wirtschaftlich untragbar war. Das Dawes-Komitee hat denn auch bewußt die Dauer der Zahlungen und die Frage der Transfermöglichkeit offen gelassen. 36*

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Es hat dafür erstmals den Grundsatz aufgestellt, daß Reparationen nur durch Warenlieferungen geleistet werden können. Leider hat es gleichzeitig den internationalen Kredit in das Reparationsproblem eingeschaltet, freilich mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß eine Lösung auf diesem Wege nicht möglich sei. Das Inkrafttreten der unter dem Namen „Dawesplan" bekannten Reparationsregelung und der neuen Währungsgesetze im Sommer 1924 bedeutete für die Reichsbank den formellen Abschluß der Stabilisierungsperiode und den Beginn eines neuen Abschnittes unter dem Zeichen des Wiederaufbaues. Die Arbeit der Reichsbank vollzog sich unter den denkbar größten Schwierigkeiten. Schon eingangs habe ich zu zeigen versucht, wie eng begrenzt die währungspolitischen Möglichkeiten überhaupt waren. Was die Tätigkeit der Reichsbank speziell erschweren mußte, war in erster Linie das D i l e m m a d e r d a m a l i g e n K r e d i t p o l i t i k . Krieg und Inflation hatten das immobile wie das mobile Sachkapital der deutschen Volkswirtschaft, also die Gebäude, Fabrikanlagen, Maschinen einerseits und die Gold-, Rohstoff- und Fertigwarenvorräte andererseits dezimiert. Die Vernichtung des entsprechenden Geldkapitals war zunächst noch stärker. Unter diesen Umständen war ein kräftiger Einsatz von Notenbankkredit die gegebene finanzielle Lösungsmöglichkeit. Aber die Reichsbank war in ihrer Bewegungsfähigkeit aufs äußerste beengt. Das Vertrauen in die Währung war derart schwankend, daß die geringste Überschreitung des unbedingt Notwendigen sofort Wirkungen auslöste, die mit den normalen Notenbankmitteln nicht mehr zu überwinden waren. Als sich dann, vor allem in Auswirkung der Kreditrestriktion von 1924/25, das Vertrauen — vielleicht weniger in die Währung selbst als in die Person Dr. Schachts — langsam festigte, fehlte immer noch das Vertrauen in die Reichshaushaltsführung und die Staatsführung überhaupt. Unter diesen Umständen konnte ein wirklich großzügiger Einsatz des nationalen Kreditinstruments, wie er gerade der tatkräftigen und wagemutigen Persönlichkeit eines Dr. Schacht am besten gelegen hätte, nicht in Frage kommen. Die Bank mußte sich mehr auf K l e i n a r b e i t beschränken. Trotzdem hat sie der deutschen Volkswirtschaft außerordentliche Dienste geleistet. So konnten, um die wichtigsten Einzelheiten wenigstens zu erwähnen, die kurzfristigen Zinssätze, die im Januar 1924 noch bis zu 100% betrugen, bis Mitte 1926 auf 5 — 6 % gesenkt werden. Trotz der infolge der damaligen bankgesetzlichen Vorschriften nur bescheidenen Einwirkungsmöglichkeiten der Reichsbank gaben auch die Kapitalmarktsätze bis auf 8 % nach, um im Frühjahr 1927 vorübergehend auf 7 % zu fallen. Das wiegt um so schwerer,

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als sich der Inlandsumlauf an festverzinslichen Werten von Ende 1924 bis Ende 1927 verzehnfacht hatte (von 1430 auf 14078 Millionen R M . ) . Hand in Hand ging eine vorsichtige Verbreiterung des Geldmarktes, eingeleitet durch die Wiedereinbürgerung des Bankakzeptes. Für den deutschen Außenhandel war die Bereitstellung von Exportkrediten durch die Golddiskontbank lange Zeit von großer Bedeutung. Das gleiche Tochterinstitut hat später durch eine ganz neuartige Zwischenfinanzierungsmethode der deutschen Landwirtschaft eine wertvolle Übergangshilfe geleistet. Diese Erfolge sind um so bedeutsamer, als sich die S t r u k t u r d e s d e u t s c h e n Z a h l u n g s - u n d K r e d i t v e r k e h r s stark zum Nachteil der Reichsbank gewandelt hatte. A m auffälligsten zeigte sich das in dem völligen Verschwinden des Goldmünzenumlaufs, der bei Kriegsbeginn immerhin noch rund 23/4 Milliarden M . betragen und damit eine währungspolitische Reserve gebildet hatte, deren Wert besonders während des Krieges offenbar geworden war. Weniger augenscheinlich, aber in der Auswirkung noch wichtiger, war das Vordringen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Die monopolähnliche Stellung, die die Reichsbank ursprünglich auf diesem Gebiete besaß, war freilich schon in der Vorkriegszeit verloren gegangen. Die Einbürgerung des Schecks und der Überweisung und die Konzentrationsbewegung im Bankwesen hatten das Schwergewicht der unbaren Zahlungen mehr und mehr auf den Sektor der privaten Kreditinstitute verlagert und ihnen dadurch die Möglichkeit eigener Kreditschöpfung gegeben. Während des Krieges hatte der bargeldlose Verkehr einen außerordentlichen — von der Reichsbank aus psychologischen Gründen übrigens geförderten — Aufschwung genommen, nach dem Krieg und besonders nach der Stabilisierung setzte sich der Konzentrationsprozeß verstärkt fort. Diese Entwicklung bedeutete für die Reichsbank eine empfindliche B e e i n t r ä c h t i g u n g i h r e r K r e d i t p o l i t i k . In Perioden wirtschaftlichen Aufschwungs konnten sich die privaten Kreditinstitute dank der Möglichkeit, selbst „Giralgeld", d. h. umlaufsfähige Bankguthaben zu schaffen, dem Einfluß der Reichsbank weitgehend entziehen. A u c h eine Reihe anderer Gründe, besonders das Vordringen des Kontokorrentkredits auf Kosten des Warenwechsels und die industrielle Konzentration, schwächten die Diskontpolitik empfindlich. Je mehr aber das nationale Kreditvolumen der Kontrolle der Reichsbank entglitt, desto gefährdeter mußte ihre Stellung in Zeiten wirtschaftlicher Rückschläge werden, in denen sie, plötzlich zur einzigen nationalen Kreditquelle geworden, die Fehler der vorangegangenen Kreditüberspannung auszubaden hatte. A n dieser Stelle sei auch kurz des Dilemmas gedacht,

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in das die Diskontpolitik durch die übermäßige Aufnahme von Auslandskrediten zwangsläufig geriet. Erhöhte nämlich die Reichsbank ihren Diskontsatz, um eine Kreditüberspannung zu erschweren, so lockte das erhöhte Zinsniveau so große Beträge an kurzfristigen Auslandsgeldern an, daß die bremsende Wirkung der Diskonterhöhung kompensiert, wenn nicht überkompensiert wurde. Die S t e l l u n g d e r R e i c h s b a n k z u r R e i c h s r e g i e r u n g und zur Staatsführung überhaupt glaubte das Dawes-Komitee durch die Unabhängigkeitsklausel im Bankgesetz gesichert zu haben. Es übersah, daß die öffentliche Hand in halbwegs normalen Zeiten immer und überall Kredit erhält. In Krisenzeiten aber kann sich die Notenbank dem Staate nicht schlechthin verschließen; denn eine gesunde Währung in einem bankrotten Staat ist ein Ding der Unmöglichkeit. Die Reichsfinanzen waren in den ersten Jahren nach der Stabilisierung infolge einer Steuerbelastung, deren Druck sich gegenüber der Vorkriegszeit verdoppelt hatte — wenigstens für eine isolierte Betrachtungsweise — , sehr günstig gestellt, kassenmäßig leider sogar zu günstig; denn die hohen Einnahmen verleiteten zu unnötigen Ausgaben, und bald zeigte sich immer deutlicher die alte Wahrheit, daß nichts leichter fällt, aber auch nichts gefährlicher ist als das Geldausgeben. Die F i n a n z l a g e spitzte sich trotz lebhafter Wirtschaftstätigkeit allmählich zu, und anfangs 1929 ergab sich zum ersten Male eine akute Kassenklemme. Das Verhängnisvolle dabei war, daß gerade unter diesem Zeichen die Regierung des Deutschen Reiches in die Pariser Reparationskonferenz eintrat. Gegen Ende der Konferenz waren die finanziellen Schwierigkeiten schon so weit vorgeschritten, daß das Deutsche Reich keinen anderen Ausweg sah, als sich die erst erhoffte und relativ geringfügige Senkung der Reparationsannuität vom Ausland bevorschussen zu lassen. Die Finanzen der Länder und Gemeinden sahen nicht viel besser, vielfach sogar noch wesentlich schlechter aus. Defizitwirtschaft in den öffentlichen Haushalten berührte aber die Reichsbank aufs stärkste, denn sie mußte auf sie zurückfallen. Dr. Schacht hatte daher bereits im Jahre 1924 gefordert: „Für kommunale Wohlfahrtszwecke ist nur soweit Raum, als die eigenen Ersparnisse des Landes dies erlauben. Ich halte es deshalb für dringend erforderlich, daß zentral geleitete Maßnahmen ergriffen werden, um die Verschuldung öffentlicher Körperschaften, insbesondere an das Ausland, unter eine wirksame Kontrolle zu nehmen 1 )." Das gleiche hatte er kurz vorher in einer Ministerkonferenz erklärt. Der Ton dieser Mahnungen Rede vor dem Zentralausschuß der Reichsbank am 28. 10. 1924.

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wurde immer schärfer, je mehr sich die Finanzlage zuspitzte, und schließlich schleuderte Dr. Schacht in dem berühmt gewordenen „ M e m o r a n d u m z u m Y o u n g p l a n " der Reichsregierung vor aller Öffentlichkeit die lapidaren Sätze ins Gesicht: „ V o n der deutschen Regierung muß . . . verlangt werden, daß sie, bevor der Youngplan von ihr endgültig angenommen wird, Ordnung in den Haushalt von Reich, Ländern und Gemeinden bringt und die Zurückführung der Belastung des deutschen Volkes auf ein Maß vorsieht, das mit der Ertragsfähigkeit der deutschen Wirtschaft vereinbar ist." Der Kampf war umsonst. Ich komme nunmehr auf das düsterste Kapitel jener Epoche, die R e p a r a t i o n e n und die deutsche A u s l a n d s v e r s c h u l d u n g . Das „Ende der Reparationen", das Dr. Schacht in seinem bekannten Buche vorausgesagt hat, ist inzwischen zur Tatsache geworden. Unter dem Fluch der durch den Zwang der Reparationen verursachten Auslandsverschuldung aber leiden wir heute noch; denn alle unsere derzeitigen Außenhandelsschwierigkeiten gehen auf diese eine Wurzel zurück. Die D a w e s a n n u i t ä t e n setzten Außenhandelsüberschüsse voraus; diese Überschüsse konnten aber wegen der Handelsbeschränkungen des Auslandes nicht erzielt werden. An die Stelle tatsächlicher Reparationszahlungen sind daher Scheinzahlungen mit Hilfe a u s l ä n d i s c h e r K r e d i t e getreten. Die Kreditaufnahme ging so rapid vor sich, daß Deutschland Ende 1930 mit über 25 Milliarden R M . a n das Ausland verschuldet war. Da die Verzinsung außerordentlich hoch war, trat zu den Reparationen noch eine rasch wachsende Zinslast, deren Transfer wiederum nur aus den Devisenerträgen neuer Kredite geleistet werden konnte. Daß eine solche Pumpwirtschaft früher oder später mit einem großen Fiasko enden mußte, war der Reichsbank stets klar. Ebenso klar war es ihr, daß ein plötzlicher Abzug dieser zum größeren Teil kurzfristigen Kredite die Währung in die gefährlichste Lage bringen mußte. Es ist allgemein bekannt, daß sich die Reichsbank mit aller Energie gegen eine solche Entwicklung gewehrt hat. Ebenfalls schon Ende 1924 hat Dr. Schacht zum ersten Male öffentlich vor einer Überspannung der Kreditaufnahme im Auslande gewarnt, und seitdem hat die Reichsbank ständig scharf dagegen gekämpft. Auch dieser Kampf war im wesentlichen erfolglos. Er mußte es sein; denn zu den Gegnern zählten in erster Linie die Politiker innerhalb und außerhalb der Grenzen. Im Inland war das herrschende parlamentarische System darauf angewiesen, Mittel zu schaffen, um seine Wähler zufrieden zu halten. Hinzu kamen „Wirtschaftsführer", die x ) 14,5—15,0 kurzfristige, 10,8 langfristige Kredite. D a z u traten noch 6,8 Milliarden ausländische Vermögensanlagen in Deutschland.

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zu einem bedauerlich großen Teil die Grenze zwischen Optimismus und Leichtsinn nicht mehr zu ziehen wußten. Nach außen waren die Interessenten die Reparationsgläubiger selbst. Hier ging es darum, d a ß die Reparationen gezahlt wurden; über das Wie machte man sich wenig Kopfzerbrechen. Immerhin hat der vom Dawesplan bestellte Vertreter der Reparationsgläubiger, der Reparationsagent, klarer gesehen; denn anders sind seine schon Ende 1927 einsetzenden Bemühungen, selbst aus der Verantwortung für den Transfer herauszukommen und sie auf Deutschland abzuwälzen, nicht zu erklären. Die Reichsbank war von Anfang an der Überzeugung, daß Deutschland auch nicht annähernd in dem geforderten Umfang Reparationen zahlen könne, und daß sich jeder irgendwie geartete „ P l a n " zwangsläufig totlaufen müsse, es sei denn, daß das Ausland selbst dazu beitrüge, Deutschland einen wesentlich erhöhten Umsatz im Welthandel zu ermöglichen. Als es, übrigens gegen den Rat der Reichsbank, im Jahre 1929 zu den Verhandlungen um den Y o u n g p l a n kam, hat sich Dr. Schacht logischerweise darum bemüht, einmal die Reparationssumme erheblich zu ermäßigen, zum anderen, den Plan auf eine rein wirtschaftliche Basis zu bringen. Beim ersteren ist er nicht durchgedrungen — über den Reparationsbetrag waren sich die Politiker, leider auch deutscherseits, schon vorher längst einig —, das letztere gelang ihm wenigstens zum Teil in der Form gewisser Schutz- und Revisionsklauseln. Erst als der Youngplan bereits unterzeichnet war, ist auch dieser Erfolg zunichte geworden. Die damalige Reichsregierung gestand den einzelnen Gläubigermächten u. a. das R e c h t auf S a n k t i o n e n zu. Damit war die wirtschaftliche Linie, die der Dawesplan eingeschlagen und der Youngplan fortgesetzt hatte, zugunsten der Gewaltpolitik des Versailler Diktats verlassen. Und nicht nur das: Die Sanktionsklausel zielte eingestandenermaßen auf den Fall, daß in Deutschland die nationalen Parteien ans Ruder gelangen sollten. Die Grenze dessen, was Dr. Schacht mit seinem Namen zu decken vermochte, war nunmehr endgültig überschritten. Schachts Freunde wissen, mit welch' schweren Gewissensbedenken er den Youngplan in seiner ursprünglichen Form unterschrieben hatte; ihn nachträglich auf das Versailler Niveau heruntergedrückt zu sehen, war mit seiner Auffassung von den Forderungen der nationalen Ehre nicht mehr vereinbar. Nach sechsjährigem leidenschaftlichem Kampf um Deutschlands Wiederaufstieg legte er sein schweres Amt als Lenker und Hüter der deutschen Währung nieder. Bald darauf fand er den Weg zu Adolf Hitler. Die kommende Entwicklung aber verlief so, wie er sie vorausgesagt hatte. Fast genau 172 Jahre nach der Unterzeichnung

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der Haager Vereinbarungen kam die Kreditkrise in Deutschland zum Ausbruch. Über den tragischen Abschluß, den das Nachkriegskapitel erfahren mußte, ist wenig mehr zu sagen. Wie erwartet, war die deutsche Währung den schwersten Erschütterungen ausgesetzt. Die R e i c h s b a n k p o l i t i k jener furchtbaren K r i s e n z e i t ist viel angefeindet worden. Selten aber pflegen schwere Katastrophen so eindeutig zu verlaufen, daß über die zur Abwehr anzuordnenden Maßnahmen Meinungsverschiedenheiten nicht entstehen. Die Kritiker vergessen auch meist, daß die Entscheidung über viele Maßnahmen, die damals getroffen oder unterlassen wurden, weitgehend beeinflußt worden ist durch Zusammenhänge der wirtschaftlichen Dinge mit den Vorgängen in der Sphäre der Außenpolitik; erinnert sei hier vor allen Dingen an die Hoover-Botschaft über die Aussetzung der Reparationszahlungen und an die daran anschließenden schwierigen Verhandlungen mit Frankreich. Wie der Verlauf der Ereignisse im zweiten Halbjahr 1931 und im Jahre 1932 gezeigt hat, gelang es der Reichsbank verhältnismäßig rasch, die Krise des Zahlungsverkehrs zu überwinden; auch die schwere Kreditkrise erfuhr durch Zusammenwirken von Regierung und Reichsbank alsbald eine schnell fortschreitende Milderung, so daß im Jahre 1932 die finanzielle Sanierung des deutschen Kreditapparates erfolgreich in Angriff genommen werden konnte. Mittels der noch Ende Juli 1931 begonnenen Einführung einer immer umfassenderen Devisenbewirtschaftung gelang es bald, die Devisenpanik in einen gesetzlich oder vertraglich geregelten Devisenabfluß überzuleiten. D u r c h die G e s a m t h e i t d e r g e t r o f f e n e n M a ß n a h m e n hat die R e i c h s b a n k die d e u t s c h e W ä h r u n g i n m i t t e n einer v e r h e e r e n d e n W i r t s c h a f t s k r i s e stabil g e h a l t e n . Sie hat damit die unentbehrliche Grundlage des Wirtschaftens hinübergerettet in die neue Zeit. Ob dies viel oder wenig ist, ob der gleiche Erfolg mit weniger Opfern hätte erreicht werden können, ob die eine oder andere Maßnahme früher oder umfassender angewandt den Lauf der Geschehnisse wesentlich hätte erleichtern können, über all das mag einmal die Geschichte entscheiden. Jedenfalls ist es kein schlechtes Zeichen für die Reichsbankpolitik der schweren Krisenjahre 1931 und 1932, daß die Regierung des Dritten Reiches bei Übernahme der Macht in der deutschen Zentralnotenbank einen aktionsbereiten, leistungskräftigen Apparat vorfand, der sich geeignet erwies, Träger der unerhörten Aufgaben zu werden, mit denen das neue Reich alsbald seine Tätigkeit begann.

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I I I . DIE R E I C H S B A N K I M D R I T T E N R E I C H I n den gärenden Zeiten einer Weltenwende ist es schwer, die große Linie der Entwicklung zu erfassen. Trotzdem hat das deutsche Volk in der Krise seinen Weg richtig erkannt und den Mann gerufen, der allein diesen Weg zu führen vermag. Heute, wo der Bolschewismus wieder einmal zu einer Weltoffensive ausholt, ahnen wohl auch andere Völker, daß es nicht mehr u m irgendwelche innen- oder außenpolitische Tagesfragen geht, sondern um die weltgeschichtliche Entscheidung: Soll die europäische Kultur dem Bolschewismus das Feld räumen, oder kann sie ihn überwinden? Europa wird in diesem Kampf unterliegen, wenn es ihn mit den Waffen des Liberalismus, Marxismus, Parlamentarismus führen will. Es wird die ihm aufgedrängten Kämpfe nur dann bestehen, wenn es dem Bolschewismus eine stärkere Weltanschauung entgegenzusetzen hat. Adolf Hitler hat Deutschland diese Weltanschauung gegeben, und in ihrem Zeichen muß alles stehen, was in Deutschland geschieht, sei es auf dem Gebiet der Politik, sei es auf dem der Wirtschaft oder der Währung. Der Umbruch einer Zeit ist freilich ein unsäglich schmerzhaftes und mühevolles Geschehen. Zuviel des Alten stürzt, und zuviel an neuen, früher kaum gekannten Lebensfragen tut sich auf. In solchen Zeiten wächst die V e r a n t w o r t u n g auch der W i r t s c h a f t ins Ungeheure, denn sie hat die materiellen Grundlagen für den schicksalhaften Kampf zu gewährleisten. Sie kann ihrer fast in das Übermenschliche gesteigerten Aufgabe nur dann gerecht werden, wenn sie die neue Zeit völlig in sich aufnimmt. Zwar ist die Frage, w i e gewirtschaftet wird, wie die Güter des menschlichen Bedarfs geschaffen werden, immer nur eine Frage des Könnens. Aber w o f ü r und a u s w e l c h e m G e i s t heraus gewirtschaftet wird, das sind Fragen der Weltanschauung, und deshalb setzt die Wirtschaft im nationalsozialistischen Staat ein n e u e s W i r t s c h a f t s e t h o s voraus. Der sogenannte wirtschaftliche Liberalismus ist dadurch groß geworden, daß er der Einzelpersönlichkeit mit ihrem Streben, ihrer Tatkraft, ihrem Wagemut die vordem versperrte Bahn freigemacht hat. Er ist untergegangen, weil er den Egoismus der Einzelpersönlichkeit nicht in den natürlichen Schranken zu halten verstand, weil er es nicht zu verhindern wußte, daß die freie Betätigung zu einer zügel- und hemmungslosen Privatwirtschaft wurde. Der N a t i o n a l s o z i a l i s m u s hat wieder Ernst mit der Erkenntnis gemacht, daß der Einzelne nicht lebensfähig ist ohne die Gesamtheit und daß deshalb das Interesse des Volkes dem Interesse des einzelnen Volksgenossen vorangestellt werden muß.

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A u f wirtschaftlichem Gebiet rührt sein Grundsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" zunächst an das vielumstrittene Problem der f r e i e n K o n k u r r e n z . M a n mag füglich bezweifeln, ob es jemals eine völlig freie Konkurrenz gegeben hat. Der ausgehende Liberalismus wies jedenfalls weder eine freie noch eine vernünftig geregelte Konkurrenz auf. Er ist gekennzeichnet durch den Widerpart der Konkurrenz, den wirtschaftlichen Zusammenschluß in Kartelle, Konzerne, Truste und dergleichen. Dieser K o n z e n t r a t i o n s p r o z e ß zeitigte verhängnisvolle wirtschaftliche Verfallserscheinungen. Niemand wird verkennen, d a ß er auch große Vorteile hat, insbesondere nach der technischen Seite hin, aber der Saldo schließt mit einem bedenklichen Minusposten. Es gefährdet, um es an Beispielen zu verdeutlichen, die Volksversorgung, wenn ein Kartell seine Preispolitik auf den Gestehungskosten seines am teuersten arbeitenden Mitgliedes aufbaut. Es wirkt destruktiv, wenn ein Großunternehmer eine Konkurrenzfabrik aufkauft — oder gar, wie es vorgekommen ist, erst a u f b a u t — nur zu dem Zwecke, um sie stillzulegen und seinem eigenen Unternehmen eine höhere Quote zu sichern. M a n wird es beim weiteren Durchdenken dieser Beispiele verständlich finden, daß der Übergang vom Prinzip der K o n kurrenz zu dem der Konzentration zwangsläufig in erster Linie zu einer dauernden Beeinträchtigung des natürlichsten Anspruchs eines Menschen, des Anspruches auf Arbeit, weiterhin zu gefährlichen wirtschaftlichen Machtstellungen, zu einer Bürokratisierung der Wirtschaft, zu einer ungesunden Verteilung des Wohlstandes und letzten Endes zum Klassenkampf in Permanenz führen mußte. Für die künftige Entwicklung gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten: 1. eine Fortsetzung des einmal eingeschlagenen Weges bis zu seiner letzten Konsequenz, 2. eine radikale Rückkehr zum Grundsatz der freien Konkurrenz oder 3. ein Umschwenken auf ein neues Ziel. Die erste führt zur v ö l l i g e n P l a n w i r t s c h a f t . Sie gewährleistet eine hundertprozentige Ausnutzung der Vorteile der Konzentration und vermehrt auf der anderen Seite ihre Nachteile in geometrischer Progression. In einer Wirtschaft mit Hunderttausenden selbständiger Unternehmer werden Einzelfehler durch das Gesetz der großen Zahl weitgehend ausgeglichen. Das bewirkt im Zusammenspiel mit einem Ausleseprozeß, der die ungeeigneten Persönlichkeiten ausschaltet, daß die Entwicklungslinie nach oben geht. In einer Wirtschaft dagegen, die nur e i n „ U n t e r n e h m e r " leitet, haben Fehler eine derartige Tiefenwirkung, daß ein einziger Irrtum u. U . die Volksversorgung bedroht. Im übrigen bedeutet die „Planwirtschaft" eine Erstarrung und ist daher unserem lebens-, d. h. entwicklungsfähigen Volke wesensfremd. Die

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zweite Möglichkeit, in das andere Extrem, die völlig u n g e b u n d e n e K o n k u r r e n z , zu verfallen, scheitert ebenso, und zwar vornehmlich an dem destruktiven, die Bande der Gemeinschaft auflösenden Element der Zügellosigkeit. Es bleibt also nur die dritte Möglichkeit, die einer g e r e g e l t e n K o n k u r r e n z . Die Devise des Nationalsozialismus „ G e m e i n n u t z v o r E i g e n n u t z " will das Ziel zeigen. Wir müssen den kühnen Griff wagen, uns die Vorteile der Konzentration wie die der Konkurrenz gleichermaßen zu sichern und ihre unvermeidbaren Nachteile auf das geringst mögliche Maß zu beschränken. Das können wir nur dadurch, daß wir den obersten Vollstrecker des Volkswillens, den S t a a t , mit der obersten L e i t u n g d e s g e s a m t e n W i r t s c h a f t s l e b e n s betrauen. Träger der Wirtschaft soll wieder der wagemutige Einzelunternehmer werden, Lenker der Wirtschaft aber der Staat. Geben wir uns keinen Illusionen hin, d e r W e g zu d i e s e m Z i e l i s t l a n g u n d s c h w e r ! Eine seit hundert und mehr J a h r e n bestehende Wirtschaftsauffassung läßt sich nicht mit einem Hebelgriff in eine andere umschalten. Das Gesetz der Trägheit gilt nicht nur in der Mechanik. Einzelinteressen sind nicht leicht, Gruppeninteressen sogar sehr schwer zu leiten. Der Unfähige oder der Träge wird immer geneigt sein, seine eigene ausreichende Versorgung für den vordringlichsten Staatszweck zu halten. Männer, die in der Lage sind, den unendlich komplizierten Mechanismus einer modernen Wirtschaft zu übersehen, und die die Kraft haben, ihm Richtung und Tempo aufzuzwingen, werden immer selten sein. Dazu kommen noch die oft unterschätzten, in Wahrheit aber sehr großen Schwierigkeiten, die in der b e s o n d e r e n W i r t s c h a f t s l a g e Deutschlands begründet liegen. Wir sind durch Krieg und Kriegsfolgen verarmt und nach innen wie nach außen hoch verschuldet. Bar aller Reserven, j a sogar mit einer Hypothek auf die Zukunft beladen, werden wir noch lange von der H a n d in den Mund leben müssen. Auf der anderen Seite stehen wir unter dem unerbittlichen Z w a n g r a s c h e n H a n d e l n s . Eine schrittweise Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hätte dem Bolschewismus in die H a n d gearbeitet. Eine langsame Aufrüstung hätte uns der Gefahr ausgesetzt, halbgerüstet angegriffen zu werden. Wie kein anderes Volk sind wir gezwungen, unsere Zeit zu nützen. Darin liegt ein R i s i k o , das wir nicht außer acht lassen dürfen. Die zahllosen gegenseitigen Verflechtungen der modernen Wirtschaft bringen es mit sich, daß ein überhitztes Tempo leicht zu bitteren Rückschlägen führen kann. Es wird großer Energie und hoher Kunst bedürfen, diese noch jahrelang dauernde Gefahr immer rechtzeitig zu bannen. Aber trotzdem, das Stück Weg, das wir in den letzten drei J a h r e n

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zurückgelegt haben, berechtigt uns zu einem g e s u n d e n O p t i m i s mus. Wir haben unsere Wirtschaft inmitten einer Weltkrise ohnegleichen wieder in Gang gebracht. Zum Staunen der ganzen Welt haben wir unsere gewaltige Arbeitslosigkeit in unerwartet großem Umfange beseitigt. A n einer der schwierigsten Stellen haben wir den Egoismus des Einzelnen mit den Erfordernissen der Gesamtwirtschaft in Einklang gebracht und die größte freiwillige Zinskonversion unserer Geschichte erfolgreich durchgeführt. Wir haben den Klassenkampf durch die Volksgemeinschaft überwunden und Arbeiter und Unternehmer, einst zwei feindliche Welten, auf eine gemeinsame Arbeit ausgerichtet. Und schließlich haben wir die Wehrhaftmachung unseres Volkes soweit durchgeführt, daß wir keinen Überfall mehr zu fürchten haben und daß wir militärisch und damit auch politisch wieder zu einer Großmacht geworden sind. Eine Übersicht über die wirtschaftliche Problemstellung der neuen Zeit wäre in einem entscheidenden Punkt lückenhaft, wollte man die B e z i e h u n g e n d e r n a t i o n a l e n W i r t s c h a f t zu d e n W i r t s c h a f t e n des A u s l a n d e s übergehen. Ich kann mich aber in diesem Punkt sehr kurz fassen; denn ich brauche an das früher Gesagte nur anzuknüpfen. Wir haben bereits gesehen, daß der Hauptgrund der Weltkrise direkt in der wirtschaftlich u n h a l t b a r e n W e l t v e r s c h u l d u n g und indirekt in der G e w a l t p o l i t i k d e r S i e g e r m ä c h t e lag. Die gleiche Politik trägt auch zu einem wesentlichen Teil die Schuld daran, daß eine Lösung der Weltkrise bis heute noch nicht möglich war; denn die Politik der Nachkriegszeit hat in der ganzen Welt das Vertrauen zerstört, und ohne Vertrauen ist kein Aufstieg denkbar. W i e l a n g e die Welt noch in ihrem w i r t s c h a f t l i c h e n K r i e g s z u s t a n d verharren will, wie lange noch Währungsentwertungen, Devisen- und Handelsrestriktionen den Welthandel lahmlegen sollen, weiß niemand. Vielleicht wird man dem widersinnigen Schauspiel, daß Produzenten ihre Vorräte verfaulen lassen und Konsumenten hungern, noch eine Zeitlang zusehen können. Man wird aber eines Tages doch erkennen müssen, daß 20 Millionen Arbeitsloser die größte Chance des Bolschewismus bilden. Eines Tages wird bestimmt die Einsicht kommen, daß internationales Zusammenarbeiten weiterführt als ein Welthandelskrieg. Bis dorthin aber werden alle Nationen unter dem Fluch dieses Krieges leiden müssen. Es soll nicht geleugnet werden, daß D e u t s c h l a n d als das größte Schuldnerland, als eines der größten und dichtest besiedelten Handelsländer das weltwirtschaftliche Chaos b e s o n d e r s t i e f verspürt. Aber wir können nichts anderes tun als das, was wir bisher getan haben,

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nämlich uns soweit als möglich auf eigene Füße stellen. Wir wissen, daß Autarkie keine Lösung ist, und wir streben sie auch nicht an. Aber unter den augenblicklichen Verhältnissen bleibt uns nichts anderes übrig, als das letzte Atom unserer eigenen Kräfte in den Dienst der Erhaltung unseres Volkes zu stellen. Wir halten das bilaterale Clearing für unvereinbar mit einem gesunden Welthandel. Aber wir haben dieses System nicht auf dem Gewissen und können uns umgegekehrt, wie die Dinge heute liegen, nicht daran hindern lassen, fremde Waren von da zu beziehen, wo man unsere eigenen Waren dafür in Zahlung nimmt. Besinnt sich die Welt einmal auf sich selbst, so sind wir unter voller Wahrung der Interessen unserer derzeitigen Handelspartner bereit, uns in den Welthandelsmechanismus wieder stärker einzuschalten. Wir haben durch die Gesundung unserer Wirtschaft — gleichbedeutend mit der Wiederherstellung unserer Konsumkraft — und durch unseren oft bekundeten Willen zu einer ehrlichen Friedenspolitik wertvolle Vorbereitungsarbeit geleistet. Auch unseren Auslandsschuldendienst werden wir sofort wieder voll aufnehmen, sobald eine Lösung — sei es auf handelspolitischem, sei es auf finanziellem Gebiet — gefunden wird, die für uns wie für unsere Gläubiger tragbar ist. Wenn die Wiederherstellung einer funktionsfähigen Weltwirtschaft noch Verzichte und Opfer verlangt, und wenn solche Opfer von a l l e n Welthandelsländern getragen werden, dann werden auch wir den auf uns entfallenden Anteil daran bereitwillig übernehmen; denn das nationalsozialistische Deutschland bejaht den Wert einer friedlichen und gedeihlichen Zusammenarbeit der Völker rückhaltlos und auf allen Gebieten. Der Ausschnitt aus dem wirtschaftlichen Problemkreis der Zeitenwende, den ich in dem bisherigen Teil meiner Ausführungen geben konnte, ist gewiß klein und lückenhaft, aber er wird ausreichen, um zu dem zweiten Teil des Themas überzuleiten: d a s S p e z i a l p r o b l e m d e r W ä h r u n g i m R a h m e n d e s g r o ß e n G e s a m t p r o b l e m s . Angesichts des gewaltigen Umwertungsprozesses unserer Zeit muß ich hierbei — etwas abweichend von der Behandlung des ersten Teils — das Hauptgewicht auf das Grundsätzliche legen. Der in vielfachen Abwandlungen gebrauchte Begriff der Währung enthält als grundlegendes Element das einer staatlichen Regelung des Geldwesens. Dieses s t a a t l i c h e E l e m e n t gehört daher an die Spitze unserer Betrachtungen. Geschichtlich gesehen übte der Staat seine Währungshoheit ursprünglich dadurch aus, daß er die Prägung der M ü n z e n selbst vornahm oder vornehmen ließ. Den Zahlungsverkehr beherrschte er damit zwar nicht vollständig — es gab stets einen Ver-

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kehr in Metallbarren, später auch einen Wechsel- und Giroverkehr —, der wesentliche Sektor des Geldverkehrs aber lag in den Händen des Staates. Das änderte sich, als aus dem Wechsel einerseits und dem Metallzertifikat andererseits die B a n k n o t e entstand, die die staatliche Währungshoheit ernstlich bedrohte. Eine kurze Zeitspanne weiter war auch dieser Zustand bereits wieder überwunden; denn es erwies sich deutlich, daß ein zu weit ausgedehnter privater Geldverkehr wegen der Gefahr von Auswüchsen die Gesamtwirtschaft schädigte. Zwar zog der Staat aus triftigen Gründen das Notenausgaberecht in der Regel nicht ganz an sich — wo er es tat, waren meist noch schlimmere Schäden die Folge —, aber er überwachte die Notenbanken und regelte die Notenausgabe durch scharfe gesetzliche Bindungen. In England, dem klassischen Lande der Banknote, erwiesen sich diese Bindungen als zu starr, und wieder half sich die Wirtschaft durch einen privaten Geldverkehr mit Hilfe des umlaufsfähigen (Privat-) Bankguthabens, des sogenannten G i r a l g e l d e s , das sich bald auch in den übrigen Volkswirtschaften durchsetzte. Die Ausdehnung der staatlichen Geldhoheit auf dieses Giralgeld, ihr zweckmäßigstes Ausmaß und ihre beste Form stehen heute in vielen Ländern im Mittelpunkt geldpolitischer Erwägungen und Maßnahmen. Als in Deutschland der Nationalsozialismus die Macht übernahm, tauchte hier und da vorübergehend eine andere, geschichtlich weiter zurückliegende Frage auf, nämlich die einer „ V e r s t a a t l i c h u n g " d e r R e i c h s b a n k . Freilich spielte diese Frage nur theoretisch eine Rolle; denn praktisch hat die Reichsbank seit ihrem Bestehen nie irgendwelchen privaten, sondern immer und ausschließlich den Interessen der Gesamtheit gedient. Auch ihre Eigenschaft als oberste Reichsbehörde war gesetzlich verankert. Es konnte sich also nur darum drehen, ob die Reichsbank enger in den Apparat der ministeriellen Bürokratie verflochten oder ob ihre S e l b s t v e r a n t w o r t u n g erhalten werden sollte. Für das erstere sprach wenig — im Grunde nur ein recht problematischer Zentralisationsgedanke —, für das letztere sehr viel. Die Reichsbank steht mitten in der Wirtschaft; Wirtschaft und Bürokratie aber schließen einander aus. Die Reichsbank wirkt auf die Wirtschaft ein vermittels des Kredits, eines an sich schon sehr gefährlichen Instrumentes, das in den Händen des immer zu einer gewissen Starre neigenden Verwaltungsorganismus leicht zu einer Lähmung der Wirtschaftsentwicklung führen kann. Nicht umsonst hat man j a auch den öffentlichen Kreditbanken stets eine grundsätzliche Selbständigkeit belassen. Schließlich hat die Reichsbank auf dem Gebiete der Erhaltung des Außenwertes der Währung besonders schwierige

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Aufgaben zu erfüllen, die z. B. bei der Einwirkung auf die ausländischen Geldmärkte oder bei der Zusammenarbeit mit ausländischen Zentralnotenbanken eine größere Beweglichkeit zur unbedingten Voraussetzung haben. Auf der anderen Seite hatte die Reichsbank durch die uns auferlegte D a w e s g e s e t z g e b u n g formal nahezu die Stellung eines Staates im Staate erhalten. Einen praktischen Sinn hat dies, wie schon erwähnt, nie gehabt; trotzdem mußte der Nationalsozialismus auch diese Bestimmungen beseitigen, denn sie waren mit seiner Staatsidee absolut unverträglich. Er tat es in der denkbar einfachsten Form. Die B a n k g e s e t z n o v e l l e vom 27. Oktober 1933 gibt dem Führer das alleinige Ernennungs- und Abberufungsrecht des Präsidenten und der Mitglieder des Reichsbankdirektoriums. Ihre Amtsführung wird nunmehr vom V e r t r a u e n des F ü h r e r s genau so ausschließlich getragen wie die Amtsführung der Leiter der übrigen obersten Reichsbehörden, und damit ist die Möglichkeit eines Dualismus zwischen Reichsregierung und Reichsbank denknotwendig ausgeschaltet. Auf der anderen Seite hat der Nationalsozialismus die grundsätzlich stets und unter den heutigen Verhältnissen doppelt notwendige enge Z u s a m m e n a r b e i t z w i s c h e n d e n M i n i s t e r i e n u n d d e r R e i c h s b a n k auf eine ebenso einfache Weise gelöst, indem der Reichsbankpräsident grundsätzlich zu den Kabinettsitzungen zugezogen wurde. Als für die Dauer der Verschärfung der Devisen- und der eng damit zusammenhängenden Rohstofflage eine noch innigere Zusammenarbeit notwendig schien, hat der Führer den Reichsbankpräsidenten Dr. Schacht gleichzeitig mit der Führung der Geschäfte des Reichswirtschaftsministers betraut. Weit schwieriger als diese die Stellung der Reichsbank im Behördenorganismus betreffende Frage war das andere Problem der E i n b e z i e h u n g des G i r a l g e l d e s in d i e s t a a t l i c h e W ä h r u n g s h o h e i t zu lösen. Ausländische Vergleichsmöglichkeiten waren zwar vorhanden, aber sie konnten uns wenig nützen. In England fehlt jede gesetzliche Regelung der Giralgeldfrage, und trotzdem gibt es dort kein Giralgeldp r o b l e m . In U S A existiert eine gesetzliche Regelung; aber sie hat sich nicht sonderlich bewährt, und das Problem bleibt noch weitgehend offen. Wir waren somit auf uns selbst angewiesen, und das war nur gut; denn das Bankwesen ist international so verschieden geartet, daß der Versuch, ein ausländisches Vorbild zu kopieren, höchstwahrscheinlich gescheitert wäre. Eines stand in Deutschland von vornherein fest: Eine Einbeziehung des Giralgeldes in die staatliche Währungshoheit war unumgänglich. Jede andere Lösung wäre mit dem Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus unverträglich gewesen. Sie

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hätte auch praktisch scheitern müssen. Eine Zeitenwende stellt die Führung eines Staates auf allen Gebieten vor ungeheure Aufgaben. D a ß in Deutschland, und hier wieder gerade auf wirtschaftlichem Gebiet, die Aufgaben fast übermenschlich sind, habe ich bereits zu schildern versucht. Nur ein sehr starker Staat vermag sie zu meistern. E i n S t a a t o h n e a u s r e i c h e n d e W ä h r u n g s h o h e i t a b e r ist k e i n starker Staat. Mit dieser Erkenntnis beginnen erst die Schwierigkeiten. Die radikalste Lösung wäre natürlich die einer Verstaatlichung des Kredits gewesen. Sie wäre gleichzeitig die verfehlteste gewesen. Der Kredit ist der bewegende Motor des Wirtschaftslebens. Ihn zu verbürokratisieren, wäre — vor allem unter den heutigen Umständen — ungefähr das gleiche, wie wenn eine Fabrik ihre Kraftzentrale stärker belasten, von den angeschlossenen Maschinen aber gesteigerte Arbeitsleistungen erwarten wollte. Die richtige Lösung konnte nur auf der Linie liegen, d a ß dem Staat ausreichende Einwirkungsmöglichkeiten gesichert, der freien Initiative aber ein ausreichender Tätigkeitsraum gelassen wird. A u f diesem Grundsatz baut sich denn auch das R e i c h s g e s e t z ü b e r d a s K r e d i t w e s e n vom 5. Dezember 1934 auf. Eine gewisse formale Schwierigkeit entstand dabei noch dadurch, daß es unmöglich war, eine bestimmte staatliche Stelle mit der z e n t r a l e n K o n t r o l l e d e s K r e d i t w e s e n s zu betrauen. Der Kredit greift so tief in das moderne Währungswesen ein, daß der Gedanke nahe liegen mußte, der Reichsbank als der vom Staat zur obersten Hüterin der Währung bestellten Behörde diese oberste Leitung des Kreditapparates anzuvertrauen. A b e r der Kredit berührt nicht nur die Währung, er beeinflußt auch direkt die Wirtschaft, und er strahlt auf das Rechtsleben, j a auf das ganze Leben des Volkes aus. Deshalb erwies es sich als notwendig, als oberste Instanz ein Gremium einzusetzen, das sich aus Vertretern der Reichsbank, der beteiligten Ministerien und der Partei zusammensetzt. Entsprechend dem Führerprinzip einerseits und dem überragenden Interesse der Reichsbank andererseits hat man die Leitung dieses Gremiums dem Reichsbankpräsidenten, die Lösung von etwaigen Streitfragen aber dem Reichskabinett übertragen. Die f o r m a l e S e i t e des Reichsgesetzes über das Kreditwesen — im folgenden kurz „Kreditgesetz" g e n a n n t — tritt natürlich an Bedeutung weit zurück hinter seiner i n h a l t l i c h e n S e i t e . Hier stand man vor einer sehr großen Schwierigkeit. Einmal ist die Bedeutung des Kredits eine ungemein weitreichende und der Kreditapparat ein sehr komplizierter, zum anderen ist das Giralgeld heute noch in hohem Maße unerforschtes Gebiet. Griff daher das Kreditgesetz zu sehr in die 37

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Einzelheiten des Kreditorganismus ein, so konnten weitreichende Störungen erwachsen; ging es zu wenig in die Tiefe, so blieb es leicht wirkungslos. Diesem Dilemma konnte man nur dadurch ausweichen, d a ß man dem Gesetz selbst einen w e i t e n R a h m e n zog und es in die Hände der ausführenden Organe legte, den Rahmen gemäß den jeweiligen Erfordernissen der Wirtschaft auszufüllen. Sachlich wird das Kreditgesetz von zwei großen Gedanken getragen. Der eine ist der einer G e s u n d u n g des d e u t s c h e n B a n k w e s e n s . Sie wird erreicht in der Hauptsache durch eine klare Herausstellung der Einzelverantwortlichkeit, durch gesunde Anlage- und Liquiditätsregeln und durch eine scharfe und laufende Überwachung. Der andere Leitgedanke war der einer V e r s t ä r k u n g d e r k r e d i t p o l i t i s c h e n M i t t e l d e r R e i c h s b a n k . Der im einzelnen bereits geschilderte Zustand, daß die Reichsbank über völlig unzulängliche kreditpolitische Handhaben verfügt, war offensichtlich unhaltbar. Er existiert auch in keinem anderen großen Industriestaat. In USA sind die Banken durch gesetzliche Liquiditätsbestimmungen an das Zentralnotenbanksystem gebunden, in England setzen sie den Wünschen der Bank von England allenfalls sachliche — und darum durchaus erwünschte — Kritik, niemals aber irgendeinen Widerstand entgegen. Das K r e d i t g e s e t z hat nunmehr auch in Deutschland die E i n w i r k u n g s m ö g l i c h k e i t e n d e r R e i c h s b a n k in ausreichendem Maße vergrößert. Es würde zu weit führen und angesichts einer umfangreichen Spezialliteratur auch überflüssig sein, wollte ich alle hierher gehörigen Bestimmungen einzeln aufführen. Nur als Hauptpunkte seien genannt die Einführung einer variablen Barreserve, die Verbesserung der Publizitätsbestimmungen, die Vollmachten zur Regelung des bargeldlosen Verkehrs und die Einwirkungsmöglichkeit auf die Bankenkonditionen. A u ß e r h a l b des Kreditgesetzes stehend, aber in dem gleichen Zusammenhang, sei noch die durch die letzte B a n k g e s e t z n o v e l l e geschaffene Möglichkeit einer O f f e n - M a r k t - P o l i t i k der Reichsbank erwähnt. Während die Diskontpolitik immer nur passiv wirkt — suchen die Banken keinen Kredit, so verpufft jede Diskontermäßigung —, gestattet die Offen-Markt-Politik auch eine aktive Verflüssigung der Geldmärkte. Außerdem gibt sie der Reichsbank die heute nicht mehr zu entbehrende Möglichkeit einer direkten Einflußnahme auf den Kapitalmarkt, die diesem wiederum eine wertvolle und wohl noch auf J a h r zehnte hinaus unentbehrliche Stütze zu gewähren vermag. Die Politik der Reichsbank ist somit im Rahmen des Möglichen effektiv gemacht worden. Diese Verstärkung ihrer Stellung war dringend notwendig, denn a u ß e r o r d e n t l i c h sind auch die A u f g a b e n ,

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vor die die Zeitenwende das deutsche Zentralnoteninstitut gestellt hat. Als der Nationalsozialismus die Macht übernahm, stand Deutschland vor der Alternative: A r b e i t s b e s c h a f f u n g oder Bolschewismus. Schon das parlamentarische System hat diese Gefahr, wenn auch nicht in voller Schärfe, erkannt. Es stand ihr jedoch machtlos gegenüber; denn eine wirksame Arbeitsbeschaffung erforderte gewaltige Mittel. Der völlig zerrüttete Kapitalmarkt konnte sie nicht aufbringen, und so konnte nur zusätzlicher Kredit — und das ist in letzter Linie Notenbankkredit — Hilfe bringen. Aber auch dieser Weg war versperrt, denn eine Kreditausweitung erfordert neben der Wahl des wirtschaftlich richtigen Zeitpunktes ein Höchstmaß an V e r t r a u e n , und dieses Vertrauen fehlte in weitesten Kreisen unseres Volkes. Der Nationalsozialismus hat die innere Einheit wiederhergestellt, und damit war der Augenblick gekommen, in dem der Kredit der Notenbank eingesetzt werden durfte und eingesetzt werden mußte. K a u m war im "weiteren Verlauf die erste Etappe der Arbeitsbeschaffungspolitik erfolgreich zurückgelegt, da stellt die W i e d e r w e h r h a f t m a c h u n g unseres Volkes neue und diesmal noch gewaltigere Aufgaben an die Reichsbank. Heute ist der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit weit vorgetragen, u n d die Aufrüstung hat einen Stand erreicht, der die Sicherheit unseres Volkes weitgehend gewährleistet, aber d i e A u f g a b e d e r d e u t s c h e n F i n a n z - u n d K r e d i t p o l i t i k s t e h t t r o t z d e m e r s t a n i h r e m Beg i n n . Die bisher entstandenen Ausgaben sind naturgemäß nur zu einem Teil aus dem bisherigen Wirtschaftsaufschwung gedeckt worden. Den anderen — und sehr beträchtlichen — Teil hat der Kredit der Reichsbank finanziert. Die Reichsbank kann aber ihre Kreditgewähr u n g nicht beliebig ausdehnen, sie muß im Gegenteil im Laufe der Zeit daran gehen, ihr illiquides Portefeuille an Arbeitsbeschaffungsu n d Aufrüstungswechseln zu verkleinern. Denn einmal wirkt jede e f f e k t i v e Kreditausweitung von einem gewissen Betrag und einem gewissen Zeitabschnitt an inflationistisch, d. h. sie bringt ungeachtet aller Gegenmaßnahmen die Preisschraube in Bewegung. Zum anderen m u ß eine verantwortungsbewußte Notenbank, wiederum von einem gewissen Zeitpunkt an, mit der Möglichkeit w i r t s c h a f t l i c h e r R ü c k s c h l ä g e rechnen und sich dementsprechend liquid erhalten. Ist sie nämlich liquid, so kann sie Rückschläge abfangen oder wenigstens abmildern. Ist sie es nicht, so wird aus dem Rückschlag eine Krise. Die weiter notwendig werdenden Kredite und die langsame Konsolidierung der bisherigen Kredite werden daher von den E r s p a r n i s s e n u n s e r e s V o l k e s getragen werden müssen. Langfristige Ausgaben 37*

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können auf die Dauer nicht durch Noten, Wechsel oder irgendwelche Künsteleien, sondern einzig und allein durch echte Ersparnisse finanziert werden. Jedes Volk muß sparen, und ein Volk mit besonders großen Aufgaben m u ß es u m so mehr. U m diese Notwendigkeit kommen wir nicht herum. Entweder wir sparen freiwillig oder wir werden durch Notzeiten dazu gezwungen. Eine nationalsozialistische Regierung wird es nicht zu letzterem kommen lassen, und deshalb müssen wir uns rechtzeitig eine weise Selbstbeschränkung auferlegen. Eine weitsichtige Sparpolitik wird naturgemäß in erster Linie Sache der öffentlichen Haushalte sein. Das Sparen muß aber auch organisiert werden, denn die Gefahr eines falschen Sparens oder eines verkehrten Einsatzes der Sparkräfte ist von jeher groß gewesen. Diese O r g a n i s a t i o n d e s S p a r e n s wird zu einem guten Teil Sache der R e i c h s b a n k sein. Die Sammlung aller an irgendeiner Stelle der Volkswirtschaft aufkommenden Ersparnisse, die sorgsame Überwachung aller Emissionen, die pflegliche Behandlung des Kapitalmarktes, die Erfassung aller entbehrlichen Reserven des Geldmarktes, die Ausmerzung von Reibungsverlusten im Zahlungsverkehr — das alles wird die Reichsbank vor große Aufgaben stellen. Die ä u ß e r e n A u f g a b e n d e r R e i c h s b a n k , u m nunmehr auf diesen letzten Punkt zu kommen, sind durch die Folgen des Zusammenbruchs von 1931 außerordentlich schwierig und umfangreich geworden, und sie werden es aller Voraussicht nach noch jahrelang bleiben. Genau wie bisher wird die Reichsbank auch weiterhin zusammen mit den anderen berufenen Organen von Staat und Wirtschaft u m Lösungen bemüht sein müssen, die helfen, einmal die Versorgung unserer Volkswirtschaft mit den notwendigen Auslandsstoffen zu sichern und andererseits die verhängnisvolle Auslandsverschuldung abzutragen, u m auf diesem einzig möglichen Wege aus der ausländischen Schuldknechtschaft herauszukommen. Solange das gegenwärtige internationale Wirtschafts- und Währungschaos und damit der künstlich geschaffene Widerspruch in der Lösung dieser beiden Aufgaben noch anhalten, solange wird sich auch an bisherigen, bereits skizzierten Lösungswegen nicht viel ändern können. Vor wesentlich v e r ä n d e r t e , den normalen Funktionen einer Notenbank aber näher liegende Aufgaben wird sich die Reichsbank erst dann gestellt sehen, wenn sich die Weltgläubigerländer einmal bereit finden, die W e l t w i r t s c h a f t n e u a u f z u b a u e n . Dann werden all die zahlreichen und viel umstrittenen Fragen der äußeren Währungspolitik ein völlig neues Gesicht bekommen. Über die dann an die Reichsbank herantretenden Aufgaben heute schon zu sprechen, scheint mir noch verfrüht zu sein.

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Währung

581

Die Leitung einer modernen Zentralnotenbank ist immer schwer und verantwortungsvoll. Der Ernst der Zeit fügt für Deutschland noch Aufgaben von einmaliger und fast beängstigender Größe hinzu. Das verpflichtet die Reichsbank, die ihr zur Verfügung stehenden währungs- und kreditpolitischen Mittel bis zur äußersten G r e n z e d e s M ö g l i c h e n einzusetzen. Diese Grenze ist zwar gegenüber den Vorkriegsverhältnissen stark erweitert, weil sich der Staat mit seiner Autorität und seinen Machtmitteln schützend vor die Notenbankpolitik stellt, aber sie ist vorhanden und muß respektiert werden. Es gibt in Zeiten, in denen die Währungsprojekte wie Pilze aus dem Boden schießen, sicher noch viele, denen die Reichsbank nicht weit genug zu gehen scheint. All diese Leute mögen sich einmal überlegen, welch geradezu ungeheure Leistungen das neue Deutschland mit Hilfe des Notenbankkredits vollbracht hat. Das ist gewiß in erster Linie das Verdienst der nationalsozialistischen Aufbaupolitik, es ist aber auch das Verdienst des Leiters der Reichsbank. Die Aufgabe, die Adolf Hitler dem Präsidenten der Reichsbank gestellt hat, findet in der Notenbankgeschichte keine Parallele, und es bedarf wirklich einer überragenden Persönlichkeit, sie zu meistern. Aber irgendwo hat die Natur immer eine Grenze gesetzt, und gerade, daß er sich dessen bewußt ist, unterscheidet den genialen Könner vom genialen Phantasten. Die Grenze des Notenbankkredits liegt da, wo die I n f l a t i o n beginnt. Der Kredit ist die stärkste Triebkraft der modernen Volkswirtschaft; denn er vermag einen Teil des wirtschaftlichen Ertrags der Zukunft bereits in die Gegenwart vorzuverlegen. Sobald aber der Kredit seine Funktion als Brückenschlag überspannt und über das hinausgeht, was die nächste Zukunft zu erarbeiten vermag, wird er zu einem destruktiven Faktor. Die Aufgaben des neuen Deutschland k ö n n e n auf dem Wege einer Inflation nicht gelöst werden, der Versuch dazu d a r f nicht gemacht werden, und er w i r d nicht gemacht werden. Die U n m ö g l i c h k e i t ist leicht zu begreifen. Das Geld hat nur insoweit eine Existenzberechtigung, als es zum Güteraustausch gebraucht wird. Die w i r k l i c h e n W e r t e einer Volkswirtschaft sind die G ü t e r , das G e l d ist nur ihr S p i e g e l b i l d . Die Erzeugung von Gütern aber ist durch die Natur und die Umwelt beschränkt. Es können nur soviel Güter hergestellt werden, als es die Arbeitskräfte und die Naturschätze des eigenen Landes einerseits und die vom Ausland eintauschbaren Güter andererseits gestatten. Theoretisch sind diese Grenzen sehr weit gezogen, praktisch sind sie gerade für unser rohstoffarmes Vaterland und gerade in der heutigen Zeit zwischenstaatlicher Handelsbeschränkungen drückend eng. Wollte man aber das Geld schneller vermehren,

582

Friedrich

W.

Dreyse

als man die marktfähigen Güter vermehren kann, so würde man lediglich den G e l d w e r t vermindern. Deutschland ist ein gebranntes Land. Wir haben erst vor einem halben Menschenalter eine Inflation furchtbarsten Ausmaßes erlebt; aber diese Erinnerung hat nicht gehindert,, daß im Laufe der letzten fünf J a h r e immer wieder die leichtfertige Anschauung auftauchte, man brauche j a die Geldentwertung nicht bis zum Nullpunkt zu treiben, eine kleine Inflation könne jedenfalls nicht viel schaden. Man täusche sich nicht: Ist der Weg der Inflation einmal beschritten, so kann er nur um den Preis einer Wirtschaftskrise verlassen werden. Wer aber möchte es verantworten, den Erfolg der Arbeitsschlacht auf diese Weise wieder zunichte zu machen? Doch damit nicht genug. Der Entschluß zur Umkehr ist gerade wegen der Unvermeidlichkeit der Krise ungeheuer schwer, und die Geschichte lehrt,, daß er fast immer solange hinausgeschoben wird, bis das letzte Fünklein leerer Hoffnung verlischt. Eine Inflation ist nicht nur deswegen so gefährlich, weil sie den Geldwert ändert, sondern hauptsächlich deswegen, weil diese Änderung die einzelnen Wirtschaftszweige ganz ungleichmäßig trifft. Die Verschiebung der Wertmaßstäbe führt zu einer Erschütterung der Wirtschaftsstruktur; denn das Zusammenspiel der wirtschaftlichen Kräfte verträgt keine Zerstörung der Gleichgewichtslage. Es geht aber, und das ist die verderblichste Seite einer Inflation, n i c h t a l l e i n um die Z e r r ü t t u n g d e r w i r t s c h a f t l i c h e n W e r t m a ß s t ä b e , sondern deren Zerrüttung zieht nach Erfahrung und Logik zwangsläufig auch eine Z e r r ü t t u n g d e r m o r a l i s c h e n M a ß s t ä b e nach sich. Die Wirtschaftsgesinnung des Nationalsozialismus ist aber in einer einwandfreien Wirtschafts-Ethik verankert, und deshalb muß ihr die Methode einer Inflation wesensfremd bleiben. Ich möchte die Ausführungen über diesen Punkt nicht schließen,, ohne noch der Sorge mancher unserer S p a r e r besonders zu gedenken. Die Kosten einer Inflation bezahlt das ganze Volk in der Form steigender Preise, sinkender Reallöhne und verschlechterter Lebenshaltung. Einen doppelten Verlust aber tragen die Sparer, denen darüber hinaus auch der zurückgelegte Ertrag früherer Arbeit weggenommen oder wenigstens stark vermindert wird. Und wer sind die Sparer? Es sind n i c h t die „Kapitalisten", die „reichen Leute". Die großen Vermögen sind in Deutschland selten geworden, der wohlhabende Mittelstand ist aufs stärkste dezimiert. Davon abgesehen, stellten schon vor dem Krieg die kleinen Einkommensschichten die Hauptmasse der Sparer, und das gilt heute noch weit mehr. An i h r e n Notgroschen hängt letzten Endes das Gelingen unserer großen Gegenwartsaufgaben; der „ u n bekannte Sparer" trägt Deutschlands finanzielle Zukunft. Es wäre u n -

Reichsbank

und

Währung

583

verantwortlich, ihn um das Wenige, das er sich von seiner Hände Fleiß zurücklegen kann, ganz oder teilweise zu betrügen. Deshalb hat der F ü h r e r des neuen Deutschland dem Sparer seinen S c h u t z zugesichert, und deshalb hat er mit eindeutiger Schärfe den Weg einer Inflation abgelehnt. Das große Aufbauwerk des Nationalsozialismus verlangt Opfer von uns allen. Aber diese Opfer dürfen nicht erschlichen werden, sondern müssen offen gefordert und ehrlich und gerecht dem einzelnen auferlegt werden. D i e R e g i e r u n g d e s n e u e n D e u t s c h l a n d k a n n k e i n e a n d e r e als e i n e e h r l i c h e W ä h r u n g s p o l i t i k treiben.

KAPITALBILDUNG UND KAPITALMARKT IN DEUTSCHLAND SEIT DER STABILISIERUNG VON

WOLFGANG REICHARDT

I. Die Grundzüge der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung von 1924 bis 1929 *. 585—587 I I . Investitionstätigkeit und Kapitalbedarf 587—597 I I I . Die Geldkapitalbildung 597—602 I V . Zahlungsbilanz und Auslandsschulden 602—605 V . Die Form der Kreditversorgung 605—610 V I . Marktreform und Marktpflege seit 1933 610—614 V I I . Die Entwicklung der Kapitalbildung seit 1933 614—618

I. D I E G R U N D Z Ü G E D E R W I R T S C H A F T L I C H E N I U N D F I N A N Z I E L L E N E N T W I C K L U N G V O N 1924 BIS 1929 AUS DER INFLATION GING DIE DEUTSCHE WIRTSCHAFT MIT einem gewaltigen realen Kapitalbedarf hervor. Der Raubbau am deutschen Boden, der während der Kriegsjahre infolge des Mangels an Arbeitskräften, Gespannen, Maschinen und Dünger betrieben worden war, der ungeheure Verschleiß des industriellen Produktionsapparates, die Erschöpfung der Lager von Rohstoffen, Halbfabrikaten und Fertigerzeugnissen hatten einen Investitionsbedarf geschaffen, der in seiner Höhe dem Kriegsbedarf durchaus vergleichbar war. Selbst wenn die deutsche Wirtschaft alle ihre Kraft auf diese Aufgabe hätte konzentrieren können, hätte man noch auf ausländisches Kapital zu-

586

Wolfgang Reichardt

rückgreifen müssen, weil man im Kriege schon alle verwertbaren eigenen Auslandswerte eingesetzt hatte, um den Nahrungs- und Kriegsbedarf zu decken, der über die eigene Erzeugungskraft hinausging. Die furchtbaren Erpressungen der Waifenstillstandsbedingungen und des Vertrages von Versailles machten aber alle Anstrengungen der eigenen Wirtschaft zu einer Danaidenarbeit. Hinzukam, daß die innerpolitische Zerrüttung die Zusammenraffung aller Kräfte und ihre Steigerung zur höchsten Energieleistung unmöglich machte. Statt Wiederaufbau erlebten wir so den grauenhaften Zerstörungsprozeß der Inflation, die Land und Volk materiell noch weit stärker aushöhlte und seelisch mehr zermürbte, als es der Krieg getan hatte. Die Eröffnungsbilanz, die gezogen wurde, als die Schöpfung der Rentenmark den Schluß-Strich unter diese Periode des Verfalls setzte, bot ein erschütterndes Bild. Von Vorräten jeder Art fast völlig entblößt, mit Produktionsanlagen ausgestattet, die teils übermäßig heruntergewirtschaftet waren oder deren Wert recht problematisch war, weil in der Inflation z. T . wähl-, ziel- und sinnlos investiert worden war, belastet mit dem erdrückenden Gewicht der Tribute und der fast unlösbaren Aufgabe, sich vollkommen veränderten weltwirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen, so stellte sich die wirkliche Lage der deutschen Volkswirtschaft dar. Ihr entsprach als getreues Abbild die finanzielle Verfassung der privaten und der öffentlichen Wirtschaft. Die Vernichtung des materiellen Wohlstandes und die Zerrüttung der Warenmärkte hatten ihr Gegenstück in der völligen Unordnung der K r e ditwirtschaft und besonders in dem völligen Schwund des Geldkapitals. Deutschland war so vor eine dreifache Aufgabe gestellt: i. Wiederaufbau der Staatswirtschaft, 2. Wiederaufbau des Produktionsapparates, 3. Wiederaufbau des Finanzapparates. Diese dreifache Aufgabe mußte geleistet werden von einem Volk, das politisch, wirtschaftlich und finanziell durch die auf politische Vernichtung abgestellte Politik der ehemaligen Gegner gelähmt wurde. In der S t a a t s w i r t s c h a f t erlebten wir zunächst eine kurze Periode, in der es der Regierung gelang, vorübergehend befreit von den Fesseln der Parlamentswirtschaft, das deutsche Volk zu einer erstaunlichen Kraftentfaltung und zu einem verheißungsvollen Anlauf aufzurütteln, denen aber eine um so bedenklichere Reaktion folgte. Hätte die öffentliche Wirtschaft der Energie und Klugheit ihrer Steuerpolitik die gleiche Energie und Besonnenheit bei den Ausgaben zugesellt, so hätte sie der privaten Wirtschaft durch ihr Beispiel und durch ihre Stärke einen Rückhalt gegeben und dafür gesorgt, daß der volkswirtschaftliche Wiederaufbau das gesunde Bild verhaltener Kraft, maßvoller Bewegung und größerer Stetigkeit geboten hätte. Die Verschuldung

Kapitalbildung und Kapitalmarkt in Deutschland seit der Stabilisierung 587 gegenüber dem Ausland wäre allerdings nicht völlig vermeidbar, aber in ihrem U m f a n g e doch so zu begrenzen und in ihrer Form so zu gestalten gewesen, daß sie nicht jenes Katastrophenrisiko barg, das im Sommer 1 9 3 1 mit so verheerenden Folgen akut werden sollte. Eine solche Politik der Mäßigung und strengen Zucht wäre vor allem unerläßliche Vorbedingung für eine erfolgreiche Bekämpfung der Tributpolitik gewesen, während die zügellose Ausgabenwirtschaft im Verein mit der ebenso unbedenklichen wie maßlosen Schuldaufnahme im Ausland das trügerische Bild eines Wohlstandes im Innern hervorbrachte, zugleich aber die Voraussetzung für die ungehemmte Übertragung der in dem Dawesplan fixierten Tribute schuf. D i e p r i v a t e W i r t s c h a f t hat im Wiederaufbau des Produktionsapparates in der Zeit von 1924 bis 1929 Gewaltiges geleistet. A b e r auch in ihrem Bereich ist gefehlt worden. Sehr viel Investitionen geschahen in Verkennung der wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten, welche Markt- und Absatzverhältnisse bestimmen, und im G a n zen gesehen wurde viel zu wenig die Linie respektiert, welche die Beschränktheit der eigenen Mittel der deutschen Volkswirtschaft zog. In dieser Beziehung haben auch die deutschen Banken nicht immer der zügelnden und auf Selbstbeschränkung hinwirkenden Lenkung der Reichsbank gehorcht, vielmehr mehrfach die Kredit- und Diskontpolitik der Reichsbank durchkreuzt, indem sie ausländische Geldmärkte aufsuchten, sobald die Reichsbank ihnen den K o r b höher hängte, wobei allerdings nicht zu verkennen ist, daß die Banken sich der drängenden Kreditnachfrage der Unternehmungen nicht immer entziehen konnten. Das Beispiel der kommunalen Wirtschaft sowie die stimulierende Wirkung und zugleich die hohen Verdienstmöglichkeiten, welche die umfangreichen öffentlichen Investitionen schufen, trug dazu bei, die betriebswirtschaftliche Disziplin in der Privatwirtschaft zu lockern und diese zu den gekennzeichneten Übersteigerungen und der übermäßigen Auslandsverschuldung zu verleiten. II. I N V E S T I T I O N S T Ä T I G K E I T U N D

KAPITALBEDARF

Die industrielle Investitionstätigkeit wird in Deutschland durch A n triebskräfte erhöht, die nicht voll im Bereich des rein Wirtschaftlichen liegen. V o r allem seit der Jahrhundertwende wurde mit dem Bewußtwerden des Reichseins der U m f a n g der industriellen Investitionstätigkeit bisweilen mehr durch Rücksichten auf das Prestige und auf die Rüstung der Betriebe und Konzerne für den Machtkampf untereinander, sowie durch ein Schwelgen in Modernität als durch strenge Rentabilitätserwägungen bestimmt.

588

Wolfgang

Reichardt Die Volkswirtschaft (in Mill.

Wirtschaftsgruppen

1924

1925

1926

1927

I. An a. A n l a g e i n v e s t i t i o n e n (Neu1. Industrie (ohne industr. Wohnungsbau) 2. Elektrizitäts-, Gas- und Wasserversorgung 3- Verkehr 4- Landwirtschaft, Molkereiwirtschaft, Forstwirtschaft, Gartenbau, Siedlung 5- Wohnungswirtschaft 6. Öffentliche Verwaltung 7- Sonstige Wirtschaftsgruppen . . Insgesamt

1 388

2 188

1 786

2 257

432 1 502

757 1 621

855 1 735

2 221

751

763 i 712 1 859 1 388

772 1 940

982 1 407

963 7 425

10 288

727

845

337

2 622 2 690 1 667

10 710

13 029

2 285 1

b. G e s c h ä t z t e N o r m a l a b 1. Industrie (ohne industr. Wohnungsbau) 2. Elektrizitäts-, Gas- und Wasserversorgung 3- Verkehr 4- Landwirtschaft, Molkereiwirtschaft, Forstwirtschaft, Gartenbau, Siedlung 5- Wohnungswirtschaft 6. öffentliche Verwaltung 7- Sonstige Wirtschaftsgruppen . . Insgesamt 1. Industrie (ohne industr. Wohnungsbau) 2. Elektrizitäts-, Gas- und Wasserversorgung 3- Verkehr 4- Landwirtschaft, Molkereiwirtschaft, Forstwirtschaft, Gartenbau, Siedlung 5- Wohnungswirtschaft 6. Öffentliche Verwaltung 7- Sonstige Wirtschaftsgruppen . . Insgesamt Stat. Jahrb. 1936. S. 507.

1 069

1 233

1 327

1 422

197 751

218 830

233 907

1 034

258

623

623

610

610

1 007

1 027 1 010

1 056 1 036

810

850

1 096 1 121 935

912

715 5 274

6019 6476 5 751 c. S a l d o a u s g e s a m t e n A n l a g e

3'9

+

955

+

459

+

835

+

235

539 791

+ +

622 828

469

751

+ +

+

+

+ 1 187

+ + + +

162 884 1 249 487

+

235

248

+ 140 + 685 + 849 + 578

+ 1 526 + 1 569 + 732

+ 2 151

+ 4 537

+ 4691

+

6553

+

+

128



25

+

495

+

Kapitalbildung und Kapitalmarkt in Deutschland seit der Stabilisierung 589 liehen

Investitionen1)

RM.) 1928

1930

1929

1

>931

19332)

1932

•9342)

lagen und Ersatzanlagen zusammen) 2 677

2 019

1 575

890

449

520

1 023 2 001

1 083 1 823

748

395 954

218 622

200

225

1 553

793

1 134

945 2 825 2658 1 679

702

2 877 2 670 1 422

554 764

727 1 494 2 943 780

13 758

12 8 1 5

864 2 442 2 092

921

'93 1 456 868

1 095 545

596 929 1 416 650

6458

4 247

5 104

8253

1

1 145 10 4 1 9

950

Schreibungen auf Anlagen 1 534

1 614

1 611

1 521

1 320

1 300

1 300

292 1 069

327 1 142

342 1 097

336 972

322 857

316 860

300 900

662

695 1 238 1 084 900

695 1 272 831 850

640 1 292 700 800

650 1 300 700 800

650 1 300 700

950

1 193 1 170 900

6 756

7 008

6967

6 477

5 951

5 926

6 000

6.7 1 142 1 152

Investitionen und

Normalabschreibungen

+

1 093

+

4°5



+ +

73i 932

+ +

756 68!

+ +

+ + +

328 1 683 1 506

+ 729 + 7 002 2

+ 259 + 1 684

36 406

+ i 500 522 +

+ 3 452

) Vorläufig.

5807



+

456

+ 169 + 1 204 + 1 008 + 245

+

850

+ + +





631 59 18

7 79 625 18 •9





871 104



780





116



235



+



-

86 528 395 255 684

67



54 37i 716 150



822



+

+

350 75 234

+ 77 + >94 + 2 243 —

70

+ 2 253

Wolfgang

590

Reichardt

1924

Wirtschaftsgruppen

1926

1925

II. V o r r ä t e i. 2. 3. 4 a.

4 b. 7 a. 7b. 7c.

Industrie Elektrizitäts-, Gas- und Wasserversorgung Verkehr Landwirtschaft, Molkereiwirtschaft, Forstwirtschaft, Gartenbau, Siedlung Bewertung der Veränderung des Viehbestands Handwerk Einzelhandel Großhandel Insgesamt

....

+

2 161

+ +

115

21

809 •

+ + +

555 264 2 39' 1 33° 6028

1927 (Mengen-

und

+

1 288

+

32 44

— —

31 82

45°



731

+

+ —

466 40

+

3 110 844

— —

233 365

+

35 2 712

+ 426 + 182 + 1 039 + 610

— 1999

+ 4 449



+ —

+ +

-

983

+ 1 543 + —

21 20

648

Die Grenze zwischen Notwendigkeit und Verschwendung ist zwar sehr schwer zu ziehen, aber einer nüchternen Betrachtung werden Umfang und Art der öffentlichen und privaten Investitionstätigkeit, die den am Kapitalmarkt wirksam werdenden Kapitalbedarf begründet hat, zeitweilig als übersteigert erscheinen können. Auch die Beweggründe, die den Umfang und die Art der Investitionstätigkeit geleitet haben, lassen oft das Urteil zu, daß die Grenze des WirtschaftlichVernünftigen nicht ausreichend innegehalten worden ist. Besonders gilt dies wohl für die Anlagen auf dem Gebiet der Versorgungs- und Verkehrswirtschaft. Gesamtwirtschaftlich aber wird diese Ausdehnung der Investitionstätigkeit, die den deutschen Kapitalmarkt beherrscht, durch die besondere Struktur der deutschen Wirtschaft — den Trägern dieser Investitionstätigkeit unbewußt — gerechtfertigt. Auf Grund des Reichtums an Arbeitskräften und deren technischer und organisatorischer Begabung haben die Kapitalgüterindustrien in Deutschland einen besonders hohen Anteil an der Gesamterzeugung. Die Investitionstätigkeit ist die volkswirtschaftliche Sachkapitalbildung. Umfang und Gliederung der Investitionstätigkeit in den J a h r e n seit der Wiederherstellung der Währung spiegeln den Kapitalbedarf der Nachinflationsjahre und seine Besonderheiten wider. Insbesondere erklären sie Umfang und Form des Langkreditbedarfs, der am Kapitalmarkt wirksam geworden ist. Bei der zahlenmäßigen Feststellung des Umfangs derjenigen wirtschaftlichen Tätigkeit, die sich als Bildung

Kapitalbildung

1928

und Kapitalmarkt

in Deutschland

r

1930

1929

931

seit der Stabilisierung

1932

J

9331)

591

I9341)

Wertveränderungen)

+ 1 266

— 523



+

+

9



+

8

17 67

+

681



122

+ + + +

7 5° 424

-

.76

— —

25 104

+

2 648

270

— 323 - 1 2 5 6

Vorläufig.







26



-

38



22 117

— —

37 94

258



260

+

272

+

55

280



400



9'5

— 1 415



700



3 821

-5

1

006

— 2 197



-

2

1 801

90 2 )

52) 47

+ 530

+

100

23

+

135

-

+ —

+ —



400 2 )

42) 40

400

173

800 148

) Schätzung.

volkswirtschaftlichen Sachkapitals bewerten läßt, folgen wir der Methode, die die Statistik, bei der Darstellung der volkswirtschaftlichen Investitionen 1 ) anwendet. Diese vom Statistischen Reichsamt durchgeführte Statistik kommt zu einer Summe der volkswirtschaftlichen Investitionen, die dem Vorstellungsinhalt des Begriffs Kapitalbildung weitgehend entspricht. Sie läßt das Verbrauchsvermögen unbeachtet. Hierbei geht sie von dem privatwirtschaftlich beeinflußten Kapitalbegriff aus, sie ordnet also dem „Konsumvermögen" alle Güter zu, die in der Hand eines Verbrauchers sind und keinem Erwerbszweck dienen. Aber über den erwerbswirtschaftlichen Gesichtspunkt der Zuordnung hinausgehend, rechnet sie in die Investitionstätigkeit die gesamte Wohnungswirtschaft, auch soweit sie nicht gewerbsmäßig genutzt wird, und die gesamte öffentliche Wirtschaft ein. Zu diesen Anlageinvestitionen treten noch als Teil des volkswirtschaftlichen Sachkapitals die Vorräte. Unter Ausschaltung der Bestände an verbrauchsreifen Gütern, die sich bereits in den Händen der Verbraucher befinden, rechnen zu den dem Sachkapital zugeordneten Vorräten die Bestände der Erwerbswirtschaft an Rohstoffen, Halbwaren und verkaufsreifen Waren. Die Mengenbewegung dieser Vorräte ist allerdings nicht allein durch den Bedarf bestimmt. Der Vorrat an verkaufsreifen Waren kann dadurch aufgebläht sein, daß Vgl. „Kapitalbildung 1 9 2 4 bis 1 9 2 8 " .

und Investitionen

in

der

deutschen

Volkswirtschaft

Sonderheft des Instituts für Konjunkturforschung, ferner die

laufenden Veröffentlichungen des Statistischen Reichsamts.

592

Wolfgang Reichardt

infolge Überschätzung der Absatzmöglichkeiten ein Teil der Erzeugung unverkäuflich geworden ist. In der Zusammenfassung von privater Wirtschaft, gesamter Wohnungswirtschaft und öffentlicher Wirtschaft erreichen1) die Bruttoinvestitionen (Summe von Neuanlagen und Ersatzanlagen) von 1924 bis 1934 den Gesamtbetrag von 102,5 Milliarden R M . Mit diesem Betrag wird der Produktionswert der Anlagen, gemessen an den jeweiligen Preisen, dargestellt. Die Verteilung dieses Gesamtbetrages auf die einzelnen Jahre zeigt die erheblichen Schwankungen der Investitionstätigkeit. Der starken Ausweitung bis etwa Mitte 1929 folgt das scharfe Absinken der Investitionstätigkeit und ihre Wiederbelebung seit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus. Die Bewegung der Investitionstätigkeit entspricht gleichzeitig der Bewegung der Gesamtbeschäftigung der Wirtschaft. Der in der Struktur der Wirtschaft liegende Tatbestand, daß zur vollen Beschäftigung ein bestimmtes Maß von Investitionen erforderlich ist, wird durch diesen Gleichklang der Bewegungen in den Nachinflationsjahren veranschaulicht. In ihrem wertmäßigen Ausmaß sind die Schwankungen der Investitionstätigkeit allerdings durch die Preisveränderungen vergröbert worden. Die Wertzahlen geben daher kein genaues Bild von den Schwankungen im mengenmäßigen Umfang der Investitionen. Insbesondere bringen sie den Wiederanstieg der Investitionstätigkeit in den Jahren 1933 und 1934 nicht ausreichend zum Ausdruck. Eine Vergleichbarkeit des Umfangs der Investitionen läßt sich aber herstellen, wenn man die Werte auf der gleichen Preisbasis errechnet. Gemessen an den Preisen von 1913 erreichen die Investitionen in den Jahren 1924 bis 1934 einen Gesamtbetrag von 72,3 Milliarden Vorkriegsmark. Von ihrem Höhepunkt im Jahr 1928 mit 9,1 Milliarden Vorkriegsmark sind sie bis auf 3,4 Milliarden Vorkriegsmark im Jahre 1932 gesunken. Aber im Jahr 1934 erreichten sie bereits wieder einen Betrag von 6,8 Milliarden Vorkriegsmark, bleiben also nur um ein Viertel hinter dem Höchststand von 1928 zurück. Im Jahre 1935 dürften sie diesen Höchststand überschritten haben. Die Ursachen für die scharfe Steigerung der Investitionen unmittelbar nach der Währungsstabilisierung sind eingangs bereits gewürdigt worden. Erwähnt war auch schon, daß die öffentliche Ausgabenwirtschaft im Zusammenhang mit dem Wettlaufen der verschiedenen jeweils am Ruder befindlichen Parteien sich nicht diejenige Reserve auf1

) Nach der amtlichen Statistik der Investitionstätigkeit.

Kapitalbildung

und Kapitalmarkt

in Deutschland

seit der Stabilisierung

593

Volkswirtschaftliche Investitionen nach den Preisen 1913 in M i l l i o n e n V o r k r i e g s m a r k Jahr

von

Private Wirtschaft 1 )

Wohnungswirtschaft 2 )

Öffentliche Wirtschaft 3 )

Summe

2414 3 >93 2940 3663 3833 3 >47 2 599 1878 >37 1546 2 >57 28677

707 1 002 1 170 >562 1 612 1615 >429 765 578 738 > >35 >23>3

2 499 2762 3267 3 78> 3638 3520 2845 >955 >544 2006 3503 31320

5620 6957 7377 9006 9083 8282 6873 4598 3429 4290 6795 72310

1924 >925 >926 1927 1928 '929 1930 >93i 1932 >933 >934 Zusammen 1)

Umgerechnet mit der Großhandelsindexziffer für Produktionsmittel. Desgl. Indexziffer der Baukosten. 3 ) Desgl. Durchschnitt aus den Indexziffern der Produktionsmittel und der Baukosten. 2)

Die Verteilung der

Jahr

>924 >925 1926 >927 1928 >929 >93° >93> >932 . . . . >9333) •• >9344) •• Zus.

Insgesamt

7425 10288 10710 13029 >3758 12815 10419 6458 4247 5104 8253 102506

Bruttoinvestitionen

in Mill. R M .

in vH.

Öffentl. WohPrivate WirtnungsWirtschaft 1 ) wirtschaft schaft 2 )

WohÖffentl. Private WirtWirtnungsschaft wirtschaft schaft

3 102 4339 3895 4769 525> 4362 3584 2460 1548 1766 2 457 37533

982 1712 1940 2622 2825 2877 2442 > >93 764 929 >494 19780

334> 4237 4875 5638 5682 5576 4393 2805 >935 2409 4302 45 >93

Industrie, Landwirtschaft, Handel, Gewerbe. Versorgung, Verkehr und Verwaltung. 3 ) Vorläufig. 4 ) Geschätzt.

2)

38

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

41,8 42,2 36,4 36,6 38,2 34.o 34.4 38, > 36,4 34.6 29,8 36,6

>3.2 16,6 18,1 20,1 20,5 22,5 23,4 >8,5 18,0 18,2 18,1

45.o 41,2 45.5 43.3 4>.3 43.5 42,2 43.4 45.6 47.2 52, >

>9.3

44. >

594

Wolfgang Reichardt

erlegt hat, die der wirtschaftlichen und finanziellen Lage der deutschen Volkswirtschaft entsprochen hätte. Es trat daher das Überwiegen der Investitionstätigkeit der öffentlichen Hand stark in die Erscheinung. So ist die Privatwirtschaft im engeren Sinn (Industrie, Landwirtschaft, Gewerbe und Handel) an den Gesamtinvestitionen der J a h r e 1924 bis 1934 nur mit knapp 37 v. H. beteiligt. Im J a h r e 1929 ist ihr Anteil sogar auf 34 v. H. gesunken. Alle übrigen Investitionen entfallen auf die öffentliche und öffentlich-beeinflußte Wirtschaft. Diese Verlagerung der Investitionstätigkeit von der privaten auf die öffentliche Wirtschaft hat auch nach 1934 noch angehalten; sie entspricht auch den strukturellen Veränderungen in der deutschen Volkswirtschaft. Von der technischen Rationalisierung der ersten Nachinflationsjahre abgesehen, ist der Investitionsbedarf in der eigentlichen Industrie gering. An manchen Stellen ist der Erzeugungsapparat geradezu überdimensioniert. Die durch eine gewaltige Dynamik charakterisierte Epoche des industriellen A u f b a u s , die mit ihren Ausläufern in die letzten Vorkriegsjahre hineinreicht, scheint durch eine mehr konservative Züge tragende Periode des Ausbaues abgelöst zu sein. Neue wirtschaftliche Investitionsaufgaben, die nach ihrer Natur, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der privatwirtschaftlichen Rentabilität, für den privaten Sektor der Wirtschaft in Betracht kommen, sind, von Wohnungsbau, Film, Radio und Kraftwagen abgesehen, seit Beendigung des Krieges kaum noch vorhanden. Wenn die Investitionen also den Umfang erreichen sollen, der allein die volle Beschäftigung der Gesamtwirtschaft sicherstellt, dann muß die öffentliche Wirtschaft Investitionsaufgaben finden und durchführen. Diese durch den Strukturwandel der deutschen Wirtschaft begründete Verlagerung des Investitionsbedarfs vom privaten auf den öffentlichen Sektor der Wirtschaft hat erhebliche geldwirtschaftliche Rückwirkungen. Sie hat die Knappheit an Langkredit verschärft. Mit den Trägern der Investitionstätigkeit hat sich die Form der Finanzierung gewandelt. Denn diese Form ist in der Wohnungswirtschaft und in der öffentlichen Wirtschaft eine ganz andere als in der privaten Wirtschaft. Die typische und fast ausschließliche Finanzierungsform für die Investitionen der öffentlichen Wirtschaft ist die festverzinsliche Schuldverschreibung und für den Wohnungsbau die Hypothek, in beiden Fällen also der echte festverzinsliche Langkredit. Entgegen dieser Einförmigkeit ist in der privaten Wirtschaft die Finanzierung der Investitionen vielförmig. Soweit sie marktmäßig durch Heranziehung von Langmitteln erfolgt, hat die Aktie eine erheblich größere Bedeutung als der festverzinsliche Langkredit. Mit der Wandlung in den Trägern

Kapitalbildung

und Kapitalmarkt

in Deutschland seit der Stabilisierung

595

der Investitionstätigkeit verschiebt sich also der an den Kapitalmarkt herantretende Kapitalbedarf von der Aktie auf die Schuldverschreibung. Diese Verschiebung in den Formen des Kapitalbedarfs gibt dem Kapitalmarkt der Nachinflationsjahre sein Gepräge. Die „Kapitalknappheit", die ihn charakterisiert, ist im wesentlichen ein Mangel an Aufnahmefähigkeit für festverzinsliche Schuldverschreibungen. Die Überhöhung des Zinssatzes tritt vor allem in Nominalzins und Rendite der Rentenpapiere in Erscheinung. Die Finanzierung öffentlicher Investitionen belastet regelmäßig den Kapitalmarkt erheblich stärker als die Finanzierung gleich hoher privater Investitionen. In der gewerblichen Wirtschaft wird ein erheblicher, stellenweise der überwiegende Teil der Investitionen aus eigenen Mitteln finanziert. Bei rationeller Betriebsführung und einigermaßen normalem Geschäftsgang werden grundsätzlich alle Ersatzinvestitionen, darüber hinaus aber auch ein großer Teil der Neuinvestitionen, von den Unternehmungen selbst finanziert. Abschreibungen, stille und offene Reserven sind insoweit Finanzquellen, sei es, daß die Mittel schon im Augenblick der Investition als liquide Rücklagen zur Verfügung stehen, sei es, daß sie nach erfolgter Investition dem Unternehmen zufließen und ihm die Abdeckung der kurzfristigen Kredite gestatten, die die Rolle der Zwischenfinanzierung übernommen haben. In der öffentlichen Wirtschaft werden in normalen Zeiten Ersatzinvestitionen zwar gewöhnlich auch aus laufenden Einnahmen bestritten, und im Regelfall wird die Abnutzung und Überalterung, die durch Ersatzinvestitionen nicht behoben werden kann, finanziell dadurch ausgeglichen, daß als Tilgungsanleihen aufgenommene Schulden amortisiert werden. Neuinvestitionen werden aber fast durchweg durch Kreditaufnahme finanziert. Die Finanzierung des Wohnungsbaus hingegen weicht völlig von den Finanzierungsmethoden in der gewerblichen und öffentlichen Wirtschaft ab. Die Abnutzung des vorhandenen Gebäudekapitals wird volkswirtschaftlich regelmäßig durch Bauten ausgeglichen, die privatwirtschaftlich Neuinvestitionen sind. Finanziert werden sie nicht aus laufenden Einnahmen, sondern aus angesammelten und zwar überwiegend fremden Ersparnissen. Abweichend von der öffentlichen Wirtschaft wird der Abnutzung regelmäßig nicht durch Abschreibung und Schuldentilgung voll Rechnung getragen. Der an den Kapitalmarkt herantretende Kapitalbedarf wird daher nicht allein durch den Umfang, sondern sehr stark durch die Art der Investition bestimmt. I m industriellen Bereich der Wirtschaft wird bei normalem Gang der 38«

596

Wolfgang Reichardt

Wirtschaft nur ein Teil der Neuinvestitionen, in der öffentlichen Verwaltung werden im allgemeinen nur die Neuinvestitionen, in der Wohnungswirtschaft aber die Gesamtinvestitionen über den Kapitalmarkt finanziert. In den Nachinflationsjahren ist die Spannung am Kapitalmarkt dadurch verstärkt worden, daß sich die Investitionstätigkeit auf diejenigen Wirtschaftsgruppen verlagert hat, deren Kapitalbedarf stärker über den Markt finanziert wird. Abschreibungen in vH. der Bruttoinvestitionen

in Mill. RM.

Private Woh- Öffentl. Private Woh- öffentl. ZuZuWirt- nungs- Wirt- sammen Wirt- nungs- Wirt- sammen 2 1 schaft wirtschaft schaft schaft ) wirtschaft schaft )

Jahr

1924.

..

1925 ••

1926 . . 1927 . . 1928 . .

1929 !93° '93 1 1932 !933 1934 Zus. J

•• •• •• •• •• ••

2407 2666

2787

2 967

3 «O! 3 '76

3 206 3 066 2 760 2 750 2 800

31

686

1 007 1 027 1 056 1 096 1 142 1 193 1 238 1 272 1 292 1 300 1 300 12 923

1 860 2 058 2 176 2413 2 5'3 2 639 2 523 2 139 1 879 1 876 1 900 23

976

5 274 5 751

6 019 6476 6 756 7 008 6967

6 477 5 931 5 926

77.6

61,4

7 1 ,6

62,2

59,i

72,8

89,5

124,6

102,5 60,0

54,4

41,8 40,4

4i,5 50,7 106,6

169,1

6 000

•78,3 155,7 114,0

139,9

68 585

84,4

65,3

87,0

55,7

48,6

44,6 42,8

44,2 47,3 57,4 76,3

97,i 77,9 44,2 53,i

71,0

55,9 56,2 49,7 49,1 54,7

66,9 100,3

139,7 116,1 72,7 66,9

) Industrie, Landwirtschaft, sonstige Wirtschaftsgruppen. ) Versorgung, Verkehr, Verwaltung.

2

Einen gewissen Anhalt dafür, welchen Anteil die Selbstfinanzierung bei der Deckung des Kapitalbedarfs hat, gibt die amtliche Investitionsstatistik dadurch, daß sie die normalen Abschreibungen und damit den Anteil der volkswirtschaftlichen Ersatzinvestitionen berechnet. Im Durchschnitt der J a h r e 1924 bis 1934 wurden die Ersatzinvestitionen auf 66,9 v. H. der Bruttoinvestitionen in der Gesamtwirtschaft berechnet, so daß nur ein Drittel der Gesamtinvestitionen volkswirtschaftlich als Neuinvestitionen und reale Kapitalbildung anzusehen wäre. Für die gewerbliche Wirtschaft allein wird der Anteil der Ersatzinvestitionen mit 84,4 v. H. weit höher berechnet als für die Wohnungswirtschaft, wo er 65,3 v. H. ausmacht und für die öffentliche Wirtschaft, wo er mit 53,1 v. H. angegeben ist. Diesen Zahlen gegenüber ist zu beachten, daß in der gewerblichen Wirtschaft im allgemeinen

Kapitalbildung und Kapitalmarkt in Deutschland seit der Stabilisierung

597

die Selbstfinanzierungsmittel mehr oder weniger erheblich über den Betrag der Abschreibungen hinausgehen, während in der Wohnungswirtschaft zunehmend weder normal abgeschrieben wird, noch aus Abschreibungsfonds Bauten finanziert werden, die volkswirtschaftlich Ersatz des Verschleißes, privatwirtschaftlich aber Neuinvestitionen sind. III. DIE

GELDKAPITALBILDUNG

Sachkapital entsteht durch Investitionen. Geldkapital entsteht durch Ersparnis. Die Summe des Sachkapitals ist nicht gleich der Summe des Geldkapitals. Geldkapital ist zunächst nur ein Ausfluß der Verschuldungsbeziehungen der einzelnen Wirtschaftssubjekte untereinander. Wachsendes Geldkapital in einem Teil der Wirtschaft bedeutet zunächst also nur wachsende Verschuldung in einem andern Teil. Solange den höheren Schulden kein höheres Sachvermögen gegenübersteht, hat sich das Eigenkapital der Sachvermögensbesitzer nur zugunsten der Geldvermögensbesitzer verschoben. Die Bildung von Geldkapital ist allerdings nur ein Teil der gesamten Spartätigkeit. Ihr Umfang hängt somit auch davon ab, in welchem Maße die Ersparnis die Form der unmittelbaren Sachvermögensbildung oder die Form der Schuldentilgung annimmt. Schwankungen im Umfang der Geldkapitalbildüng können also oft nur Verlagerungen zwischen den einzelnen Formen der Spartätigkeit darstellen. Die Bildung von Geldkapital hat ihre besondere Bedeutung für den Wirtschaftsverlauf. In der modernen Wirtschaft werden Investitionen in großem Umfang mit Kredit finanziert. Die Bildung neuen Geldkapitals aber ist die wichtigste Quelle, aus der diese Kredite finanziert werden. Die Bildung neuen Geldkapitals hat unmittelbar nach Beendigung der Geldentwertung in sehr starkem Umfang eingesetzt. Insbesondere die J a h r e bis 1928 sind durch eine sehr starke Zunahme aller derjenigen Geldformen gekennzeichnet, die unter den Begriffdes Geldkapitals fallen. Das Maß dieser Geldkapitalbildung ist aber nur mit großen Schwierigkeiten festzustellen. Schwierig ist es vor allem, „echte" und „unechte" Geldkapitalbildung zahlenmäßig zu unterscheiden. Ohne Rücksicht auf ihre äußere Anlageform sind gesamtwirtschaftlich als Geldkapital alle diejenigen Geldvermögensteile anzusehen, die für den Besitzer geldliches Reinvermögen, also Überschuß über seine Schulden sind. In der modernen Wirtschaft hat jedes einzelne Glied der Verbrauchsund Erwerbswirtschaft einen Bedarf an Reserven für die Verwendung in der Zukunft. Diese Geldkapitalbeträge umfassen neben den lang-

598

Wolfgang Reichardt

fristigen Vermögensreserven auch die Kassenbestände und die mittelfristigen Geldreserven. Die Unterscheidung von echter und unechter Kapitalbildung kann nicht dadurch vereinfacht werden, daß man nur langfristige Vermögensreserven als echtes „Kapital", dagegen Kassenbestände und mittelfristige Geldresereven als „Geld" und damit als unechtes Kapital kennzeichnet. Der Unterschied zwischen echter und unechter Kapitalbildung ergibt sich vielmehr aus der Art, wie zusätzliche Geldkapitalien entstehen. Als echte Kapitalbildung wird man nur diejenige Zunahme der Geldkapitalmenge ansehen, die durch das Aufsparen echter Einkommensüberschüsse entstanden ist. Sicherlich ist die umfangreiche Geldkapitalbildung, insbesondere der ersten Nachinflationsjahre, weitgehend keine echte in dem Sinne, daß sie der Niederschlag echter Einkommensüberschüsse ist. Auch stand sie nicht in vollem Umfange für die Finanzierung des Kapitalbedarfs zur Verfügung, der aus der hohen Investitionstätigkeit dieser Jahre entsprang. Aber ein zutreffendes Bild von der Kapitalbildung dieser Jahre, den sie bewegenden Kräften und ihren Wirkungen auf die Kreditversorgung der Wirtschaft kann man nur gewinnen, wenn man die Gesamtheit aller Geldformen betrachtet, die „Geldkapital", d. h. Anlageform für Kassenbestände, kurzfristige Geldreserven oder langfristige Vermögensreserven sind. Es sind dies: die umlaufende Stückgeldmenge, die Bankdepositen (ohne Auslandsgelder und Guthaben der Banken untereinander), die Spareinlagen aller Sparinstitute, die Versicherungen (gemessen am Reinvermögen der Lebensversicherungen und Sozialversicherungen), der Publikumsbesitz an festverzinslichen Wertpapieren, Aktien und Hypotheken sowie derjenige Publikumsbesitz an Wechseln und Schatzwechseln, der Geldanlage darstellt. In den Nachinflationsjahren ist die Bildung liquider Reserven stark durch den Zwang beherrscht und gefördert worden, das durch die Inflation vernichtete Betriebskapital wieder aufzubauen. A m stärksten wirkt sich der Zwang bei denjenigen Geldkapitalien aus, die als Kassenreserve gebraucht werden. Der gleiche Zwang gilt aber auch, wenn auch in geringerem Maße, für diejenigen Geldreserven, die als mittel- und langfristige Vermögensreserve gedacht sind. Die ersten Nachinflationsjahre sind durch eine schnelle Wiederauffüllung der Kassenbestände und kurzfristigen Geldreserven gekennzeichnet. Der Bedarf an solchen Reserven war so groß, daß er Umfang, Form und Charakter der Geldkapitälbildung in diesen Jahren fast ausschließlich geprägt hat. Namentlich am Anfang dieser bis etwa 1929 reichenden Wiederaufbauperiode beschränkt sich die Geldkapitalbildung im wesentlichen auf eine Erhöhung der Stück-

Kapitalbildung und Kapitalmarkt in Deutschland seit der Stabilisierung 599 Geldkapitalbildung

1925 bis

1935 in M i l l . R M .

in Mill. R M . Davon insgesamt

Davon

bankmäßige marktmäßige kurzfristige Formen Formen Formen

langfristige Formen

in Mill. R M . 1925 1926 1927 1928 >929 1930 •931 1932 1933 '934 1935

5 973 7 "7 6 525 9 445 5 3'9 3 292 — 1 002 — 2518 1 773 2 766 6 236

4926 6 101 5 377 7 445 3897 • 785 — 3 447 — 2 939 989 3 016 4446

1 1 1 2 1

047 016 148 000 422

1

507 2 445 421 784 — 250 1 790

3 °55 3 441 1 831 3 298 92 — 815 — 2 199 - 2 345 757 1 028 3 386

2 917 3 676 4694 6 147 5 228 4 106 —

1 197 172 1 015

1 738 2851

in vH. 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 '933 •934 '935

100 0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 —

100,0 100,0 100,0

82,5 85,7 82,4 78,8 73.3 54.2 —

55,8 109,0 7i,3

17,5 14.3 17,6 21,2 26,7 45,8 —

44,2 — 9,0 28,7

51,1 48,3 28,1 34,9 i,7 — 24,7 —

42,7 37.2 54.3

48,9 5i,7 7 ! >9 65,1 98,3 124,7 —

57,3 62,8 45,7

geldmenge und der Bankdepositen, die sowohl von der Verbrauchswirtschaft wie von der Erwerbswirtschaft als Kassenbestände und liquide Mittel verwendet werden. Vor allem wurde durch diesen Zwangsbedarf an Kassenbeständen und liquiden Reserven die Geldkapitalbildung weitgehend eine unechte. Zwar in der Verbrauchswirtschaft ist die Erhöhung der liquiden Mittel (Stückgeld und Bankdepositen) echte Kapitalbildung, weil sie eine — wenn auch nur kurzfristige — Ersparnis aus laufenden Einkommen darstellt. Aber in der Erwerbswirtschaft stehen den Kassenbeständen häufig Geldschulden des Inhabers gegenüber. Außerdem ist zeitweise das Volumen der Bankdepositen erheblich dadurch aufgebläht worden, daß Erlöse von Auslandsanleihen bis zu ihrer endgültigen Verausgabung auf Bankkonto stehen blieben.

Wolfgang Reichardt

600

B a n k m ä ß i g e G e l d k a p i t a l b i l d u n g 1925 b i s 1935 i n M i l l . R M . Jahre

Stückgeld

Bankdepositen 2 148,4 2 821,6

1 410,2 1 908,6

1 357,9 2 980,6 80,7

2 113,6 2 985,6 2 593,i

— 592,i — 2 736,3 — 1 568,8

1 565,1 — 1 453,8 — 637,0

907,0 618,9 473,o

1925 1926 1927 1928

3i7,7 11,0 — 222,5 258,6

'929 >93° i93i '932

— 995,6 72,6

1933 1934 '935



257,3 401,4

Versicherungen

Spareinlagen

460,2 1 1 1 1

751,6 432,6 161,1 212,5 034,0 484,9 262,6

553,8 936,4 1 269,4

27,4 1 102,7 1 844,2

Zusammen

389,5 7'9,2

4 925,8 6 100,7 5 7 3 1 — 3

377,i 445,o 897,3 784,5 446,6

— 2 938,8 988,5 3 015,6 4446,1

93i,i

Der Bedarf an Kassenbeständen und liquiden Mitteln hat die Bildung langfristiger Vermögensanlagen zunächst gehemmt. Denn er hat die Sparkraft in Anspruch genommen, die sonst für langfristige Vermögensanlage verfügbar gewesen wäre. Trotz dieser Hemmung aber hat die Bildung langfristigen Geldkapitals schon ab 1925 erheblichen U m f a n g angenommen. Das deutsche Geldvermögen

1 9 1 3 , 1929, u n d

in Mill. R M .

Formen 1

1935.

in vH.

9I3

•929

1935

'9'3

1929

•935

6552 12 292

6 602

6 373 12 462 18488 10 028

4,9 9,i 17,4 6,1

10,5 24,6

9,1 17,7 26,2 14,2

47 3 5 '

14 599

Bankmäßiges Geldvermögen Stückgeld Bankdepositen . . . Spareinlagen Versicherungen . .

23 342 8 233

Zusammen

50419

5 930 42 869

Rentenpapieren . Aktien Hypotheken Ausl. Wertpapieren Wechseln

40 508

13

Zusammen

84008

20 1 3 3

23 1 1 7

62,5

32,0

32,8

*34 427

63 002

70 468

100,0

100,0

100,0

15489 14848

37,5

23,5 9,4 68,0

67,2

30,1

21,7

20,7

Publikums besitz

Insgesamt



25 000 18 500 —

6

33



6 500 — —



6 500 —

2 018



18,6 13,8 —



10,3 — —



9,2 —

2,9

Kapitalbildung

und Kapitalmarkt in Deutschland seit der Stabilisierung

601

A u c h Ende 1929 erreicht das deutsche Geldvermögen trotz des umfangreichen Wiederaufbaus, der der Stabilisierung folgte, noch nicht die Hälfte des Vorkriegsstandes. N u r das kurzfristige Geldvermögen, insbesondere die dem Zahlungsverkehr dienenden Kassenbestände, haben den Stand von 1913 nicht nur erreicht, sondern sogar überschritten. V o n den langfristigen Geldanlagen der Vorkriegszeit dagegen sind — trotz der teilweisen Aufwertung — fast zwei Drittel verloren. Die 40 Milliarden R M . langfristige Vermögensanlagen aber, die durch Aufwertung und Ersparnis bis Ende 1929 wieder erreicht worden sind, bleiben erheblich unter dem Bedarf an solchen Reserven zurück. Der Z w a n g zur Vermögensbildung hat gleichzeitig die Form der Geldkapitalbildung stark beeinflußt. Die Klein- und Kleinstersparnisse haben an ihr einen weit größeren Anteil als vor dem Krieg. Darum überschreitet die Kapitalbildung in der Form der Spareinlagen und Versicherungen den Vorkriegsumfang. Dagegen ist die Hemmung der Kapitalbildungskraft, die die Nachinflationsjahre charakterisiert, vor allem bei derjenigen Form der Geldkapitalbildung wirksam geworden, die man die marktmäßige nennen kann. Die Aufnahmefähigkeit des Publikums für Wertpapiere und Hypotheken ist erheblich geringer als die Kapitalbildung, die sich bei den Sparkassen und Ver • Sicherungen vollzogen hat. Marktmäßige Geldkapitalbildung Rentenpapiere

'933 • '934 1935 1

800

1





925 598 309 386 524 352 185 "3

129

348

247 91 55°

691 1 036 3)

Wechsel und Schatzwechsel

sonstige 2 )



— .

















983 3 )



— —

387

279 2'94)

1 8143) 185 211 302

712")

—332

1 140

— — — —

zusammen

1 047 1 016

CO

1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932

Aktien 1 )

1925 bis 1935 i n M i l l . R M .

2 000 1 422 1 507 2 445

421 784. —250 1790

) Aktienmissionen abzügl. Bewegung der Konsortialbeteiligungen, Reports, Lombards und Effektendebitoren der Banken. 2 ) Devisen, ausländische Wertpapiere, Privathypotheken u. a.; zahlenmäßig nicht abzuschätzen. 3 ) Überwiegend Tilgung der Effektenkredite. 4 ) Ausfolgung der Steuergutscheine.

602

Wolfgang Reichardt

Schon diese Verschiebung in der Form der Kapitalbildung hat die Eigentümlichkeit der Kapitalknappheit, die die Jahre nach der Währungsstabilität beherrscht, noch verschärft. Denn nicht so sehr eine a l l g e m e i n e Knappheit an Finanzierungsmöglichkeiten kennzeichnet diese Jahre, zu ihr tritt vielmehr eine spezielle, im Zinssatz sichtlich in Erscheinung tretende Knappheit an Unterbringungsmöglichkeiten für festverzinsliche Wertpapiere und ähnliche Formen der Versorgung mit Langkredit. In der gleichen Richtung unzulänglicher Aufnahmefähigkeit des Marktes für neue Emissionen hat die zweite Folge der Geldentwertung gewirkt; mit dem Geldvermögen waren gleichzeitig auch die Schulden der Wirtschaft aufgehoben. Damit entfielen für die Schuldner zwar die Zinsbelastung, für die Gläubiger aber die Zinseinnahmen. Für die Kapitalbildung hatte dieser Fortfall erhebliche Bedeutung. Denn Zinseinnahmen werden überwiegend nicht für den Verbrauch, sondern zu neuer Kapitalbildung verwendet. Auch das schnelle Anwachsen einer neuen Zinsbelastung aus den neuen Schulden, die von 1924 bis 1929 entstanden sind, hat dem Kapitalmarkt nicht die Stütze wiedergegeben, die er sonst durch die Wiederanlage von Zinsen hat. Ein großer Teil der Zinsen floß, da die neuen Schulden weitgehend Anstaltskredite waren, in den Bankapparat und diente der Unkostenfinanzierung. Ein zweiter großer Teil floß, soweit die Schulden Auslandsschulden waren, in das Ausland. Die „marktmäßige" Kapitalbildung, d. h. die Aufnahmefähigkeit des offenen Markts für Langkredite, wurde so durch das Fehlen der Zinseinnahmen geschwächt. Weiterhin ist in keinem Lande und zu keiner Zeit die Finanzierung neuer Investitionsaufgaben allein von der Bildung n e u e n Geldkapitals abhängig. Ein großer Teil des Kapitalbedarfs wird immer dadurch finanziert, daß bestehende Schulden getilgt und die Rückzahlungsbeträge wieder angelegt werden. Mit dem Wegfall der inländischen Schulden entfiel auch für den Kapitalmarkt die Stütze, die er durch die Wiederanlage von Rückzahlungsbeträgen hat. IV. ZAHLUNGSBILANZ UND AUSLANDSSCHULDEN Die Periode von 1924 bis 1930 wird kapitalpolitisch durch die Auslandsverschuldung charakterisiert, die Ausdruck zugleich unserer politischen Ohnmacht und unserer wirtschaftlichen Überbelastung ist. Die ausländischen Kapitalanlagen in Deutschland betrugen Ende 1930etwa 28 bis 29 Milliarden. Von dieser Gesamtsumme waren statistisch erfaßt Ende Juli 1931 13,1 Milliarden als kurzfristige Kredite und 10,7

Kapitalbildung und Kapitalmarkt in Deutschland seit der Stabilisierung

603

Milliarden als langfristige Kredite, die teils von der privaten, teils von der öffentlichen Wirtschaft mit und ohne Vermittlung von Banken aufgenommen waren. Welcher Verwendung — gesamtwirtschaftlich gesehen — die Auslandsgelder in der Periode 1924 bis 1930 letztlich zugeführt worden sind, kann bei rund 19 Milliarden nachgewiesen werden: 6,3 Milliarden Defizit der Handelsbilanz, 2,1 Milliarden A u f füllung der Währungsreserven und 10,1 Milliarden Reparationen. Soweit nicht Fehler in der statistischen Erfassung des Außenhandels und der Dienstleistungen vorliegen, erklärt sich die Differenz zwischen der Gesamtsumme aller ausländischen Kapitalanlagen in Deutschland von 29 Milliarden und der in der Verwendung nachgewiesenen Summe von rund 19 Milliarden dadurch, daß ein Teil der Schuld schon vor 1924. bestand, ein anderer Teil aber durch deutsche Anlagen im Ausland kompensiert wurde. Es genügt, sich diese Zahl zu vergegenwärtigen, um die Verfassung der deutschen Kreditmärkte in dieser Periode zu verstehen. Eine derartig riesige Verschuldung konnte nur zustande kommen bei einem sehr hohen Zinsgefälle. Die Zinsen am Geldmarkt und am Kapitalmarkt lagen in Deutschland in dieser Zeit denn auch ganz erheblich über den Marktsätzen in England und den Vereinigten Staaten. Die Spanne beZ i n s s ä t z e in D e u t s c h l a n d u n d i m

1913 1924 1925 1926

1927

1928

1929 1930 '93i 1932 '933 1934 '935

19365) 1)

1910.

5,89 10,00 9,15 6,74 5,83 7,00

7,II 4,93 6,91

5,21 4,00 4,00 4,00 4,00 2)

4,00

3,7° 3,42 3,84 3,80 4,5° 5,16 3,04 2,11 2,82

2,56 i,54 1,5° i,5°

4,98

4,77

4,00

2)9,20

4,57

7,62

5,00

4,9i 5,49 6,54

4,65 4,5° 5,48 3,42 3,96 3,oi 2,00 2,00 2,00 2,00

Dezember.

3)

3, 11 3,32 3,59 3,5i 4,17 5,io

4,43

2,53

6,78

1,65

4,95 3,88 3,77 3,i5

i,3i

4)

I-*

0 ae

4,26

4,64 4,85 4,72 4,60

11,40 8,36 6,90 6,32

4,47 4,49 4,70 4,52

6,95 7,3i 7,o7 3)6,93

2,57 3,6I 1,88

4)8,20

0,69 0,82 0,58 0,58

7,04 6,53 5,07 4,66

9

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4,24 4,16 5,26

0,67 0,29 0,16 0,18

Monate.

festverzinslicher Werte

4,39 3,46 4,i3 4,47

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2,96 6

Vereinigte Staaten v. Amerika

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Reich

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vi 4

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87,2

37.3 62,7

A n der gesamten Kreditverschuldung waren die kurzfristigen Kredite Ende 1913 mit 12,8 v. H., Ende 1929 jedoch mit 37,3 V. H . beteiligt. V o n diesem hohen Betrag entfällt gewiß ein sehr erheblicher

Kapitalbildung und Kapitalmarkt in Deutschland seit der Stabilisierung

607

Teil auf solche Kredite, die nicht nur formal, sondern auch wirtschaftlich Kurzkredite sind, d. h. auf echte Betriebskredite, mit denen die Warenvorräte und die laufende Erzeugung finanziert werden. Aber mit 33,2 Milliarden R M . geht der Gesamtumfang der kurzfristig geformten Kredite erheblich über den Bedarf an echten Betriebskrediten hinaus. Mit einem Betrag in der Größenordnung von 20 Milliarden R M . sind sie nur formal Kurzkredite, wirtschaftlich aber Langkredite. Gewiß ist der hohe Umfang der unechten Kurzkredite dadurch veranlaßt worden, daß in der Geldkapitalbildung der ersten Nachinflationsjahre die kurzfristigen Formen, insbesondere Stückgeld und Bankdepositen, erheblich überwogen. Aber die bis zum Ausgang des 19. J a h r hunderts gültige Gesetzmäßigkeit, daß die Form der Kapitalbildung die Form der Kreditversorgung zwangsläufig bestimmt, trifft für die moderne Geldwirtschaft nicht mehr in vollem Umfang zu. J e mehr die Geldkapitalbildung die anstaltsmäßige Form annimmt, umsomehr wird die Form der Kreditversorgung davon abhängig, wie die Träger der bankmäßigen Geldkapitalbildung ihr Aktivgeschäft formen. Die Knappheit an echten Langkrediten ist in den Nachinflationsjahren dadurch erheblich verschärft worden, daß die Banken entgegen dem Strukturwandel der Wirtschaft an der überlieferten Form des Aktivgeschäfts festgehalten haben. Die goldene Bankregel bleibt immer richtig, daß kurzfristige Bankmittel nur kurzfristig angelegt werden sollen. Aber die Banktechnik des 19. Jahrhunderts, nach der Bankdepositen n u r in bankmäßigen Kurzkrediten angelegt werden, ist in der modernen Geldwirtschaft nicht mehr anwendbar. Mit der Ausweitung der bargeldlosen Kassenhaltung werden, solange die Erzeugungswirtschaft liquide ist, die Bankdepositen immer höher sein als der Betrag, der in echten Betriebskrediten angelegt werden kann. Es bleibt immer ein Überhang, der nur für Investitionskredite verwandt werden kann. Diesem Zwang, Kredite zu geben, die wirtschaftlich Investitionskredite sind, kann sich die moderne Bankwirtschaft nicht immer entziehen. Problematisch bleibt nur, solche Kredite zu finden, die für die kreditnehmende Wirtschaft Langkredite, für die Banken aber Kurzanlagen sind. Eine ausreichende Lösung dieses Problems war in der deutschen Kreditorganisation nicht rechtzeitig gefunden worden. Schon seit der Jahrhundertwende war auch im deutschen Bankwesen der Zwang wirksam geworden, Bankmittel in solchen Krediten anzulegen, die wirtschaftlich nicht Betriebskredite, sondern Investitionskredite sind. Kennzeichnend hierfür ist das starke Anwachsen der bankmäßigen Effektenkredite in der Form der Reports, Lombards und

608

Wolfgang Reichardt

effektengedeckten Debitoren. Mit diesen Effektenkrediten haben die Banken denjenigen Kapitalbedarf finanziert, der — von der privaten Wirtschaft ausgehend — durch die Form der Aktienemission gedeckt werden konnte. Gegenüber der Vorkriegszeit ist nun aber die Wandlung der wirtschaftlichen Aufgaben wirksam geworden. Der Investitionsbedarf hat sich von der privaten Unternehmungswirtschaft auf die öffentliche Wirtschaft verlagert. Dadurch hat sich auch der Kapitalbedarf von der Form der Aktie auf die Form der Schuldverschreibung verlagert. Damit entfällt für die Banken weitgehend die Aufgabe, durch Effektenkredite mittelbar Bankmittel für Aktienemissionen verfügbar zu machen. Bis zum J a h r 1933. ist diesem Strukturwandel in der Form des Kapitalbedarfs nicht in der Weise Rechnung getragen worden, daß Bankmittel in irgendwelcher Form zur Finanzierung von Schuldverschreibungskredit verfügbar gemacht wurden. In der gleichen Zeit ist innerhalb der Langkredite selbst die Darlehnsform stärker an die Stelle der Schuldverschreibungsform getreten. Auch dies hat dazu beigetragen, daß am Kapitalmarkt, an dem sich der Zins durch Angebot und Nachfrage bildet, die Spannungen sich verstärkten und der Zins sich erhöhte. Das Vordringen der Darlehnsform hat zunächst rein wirtschaftliche Gründe. Für die Wohnungswirtschaft ist die Hypothek die einzige Finanzierungsform. Mit der Ausdehnung der Investitionstätigkeit in der Wohnungswirtschaft mußte der Kapitalbedarf daher stärker die Form des Hypothekenbedarfs annehmen. Gleichzeitig aber ist das Schuldscheindarlehen stärker Finanzierungsform für den Kapitalbedarf der öffentlichen Wirtschaft geworden. Diese Umformung hat bereits in den letzten Vorkriegsjahren eingesetzt. Sie entspricht der Verlagerung der Investitionsaufgaben in der öffentlichen Wirtschaft. Während bis zur Jahrhundertwende der Kapitalbedarf der öffentlichen Wirtschaft überwiegend dem Ausbau der interlokalen Verkehrsmittel diente und daher von den großen Gebietskörperschaften (Reich und Ländern) durch Schuldverschreibungen gedeckt wurde, sind schon in den letzten Vorkriegsjahren und vor allem in der Nachkriegszeit die örtlichen Verkehrsanlagen und Versorgungsbetriebe sowie die örtlichen Investitionen auf dem Gebiet der Verkehrs- und Versorgungswirtschaft und des Wohnungswesens in den Vordergrund getreten. Damit ist ein erheblicher Teil des Finanzierungsbedarfs dezentralisiert worden und entfiel auf Kreditnehmer, denen der Weg der Anleihebegebung nicht zur Verfügung steht. Allerdings besteht durch die Pfandbriefe und Kommunalobligationen der Boden- und Kommunalkreditinstitute die Möglich-

Kapitalbildung

und Kapitalmarkt

in Deutschland

seit der Stabilisierung

609

keit, die Dezentralisierung des Kapitalbedarfs durch die Zentralisierung der Kapitalbeschaffung auszugleichen. Insbesondere mit den Kommunalanleihen der Sparkassen- und Giroverbände ist dieser Weg auch beschritten und der Langkreditbedarf auch der kleinen Gebietskörperschaften in den offenen Kapitalmarkt gelenkt worden. Die für die Bildung des Kapitalzinses notwendige Zusammenfassung der K a pitalversorgung am offenen Kapitalmarkt war damit von seiten der kreditnehmenden Wirtschaft weitgehend ermöglicht. Die Formung des Anstaltskredits aber hat diese Zusammenfassung behindert. Diese setzte und setzt voraus, daß die Anstalten, die die Hauptsammelbecken der Geldkapitalbildung sind, in ihrem Aktivgeschäft die Anlage in festverzinslichen Wertpapieren betonen. Schon bei den Banken war diese Anlage gering. V o r allem aber haben Sparkassen und Versicherungen bei weitem nicht in dem gleichen Umfang, wie es in andern Ländern üblich ist und dort die bestehende Aufnahmefähigkeit des Rentenmarkts begünstigt, festverzinsliche Wertpapiere als Anlage für ihre Spareinlagen und Prämienreserven gewählt. Ende 1929 waren von den Spareinlagen nur 15,3 V. H., von dem Reinvermögen der Sozialversicherungen nur 25 v. H. und von den Kapitalanlagen der Lebensversicherungen sogar nur 11,4 V. H. in Wertpapieren angelegt. Anteil

der

W e r t p a p i e r e an den A n l a g e n und Versicherungen.

der

Sparkassen

Wertpapiere in v H . Ende

d e r Spareinlagen d e r Sparkassen

1925 1926 1927 1928

3.7 18,0 18,4

1929 1930

15,3 16,4

!93i 1932 '933 '934 1935

des R e i n v e r m ö g e n s d e r d e r K a p i t a l a n l a g e n d e r Lebensversicherungen Sozialversicherungen 12,9 22,9

•9,9 13,5 11,4 12,0

18,9

25,5 25,1 25,0 29,9 28,6

«7.5 17,5 21,4 26,4«)

25,8 25,9 35,2 36,9

15.8

1

1

3>5

13,9 13,5 15,4 19,3 22,5 2 )

) Angestellten- u n d Invalidenversicherung. ) N a c h der Zweimonatsstatistik; d i e V e r g l e i c h s z a h l e n für 1934 l a u t e n bei d e n Sparkassen 21,7 u n d b e i d e n L e b e n s v e r s i c h e r u n g e n 18,6. 2

39

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

610

Wolfgang

Reichardt

Mengenmäßig ist die Versorgung mit Langkredit hierdurch nicht beeinträchtigt worden, solange und soweit Sparkassen und Versicherungen ihre langfristigen Mittel langfristig in Hypotheken und Kommunaldarlehen anlegten. Aber der Kapitalzins, der am Markt sich bildet, ist durch die Vernachlässigung des Rentenpapiers im Aktivgeschäft der Banken, Sparkassen und Versicherungen überhöht worden. In dem Maße, in dem Bank-, Sparkassen- und Versicherungsmittel durch Ankauf von Wertpapieren dem offenen Kapitalmarkt zugeführt werden, wird zwar auch der Kreditbedarf dem Markt zugelenkt. Das Spannungsverhältnis am Markt verändert sich hierdurch noch nicht, aber der Markt wird erheblich verbreitert. Die Bildung des Zinsfußes ist u m so zuverlässiger, je breiter der Markt ist. Der Zinssatz am Markt ist überhöht worden, weil am Markt immer nur Spitzenbeträge finanziert werden. Das vielleicht nicht absolut, aber jedenfalls relativ sehr hohe Mißverhältnis zwischen den Spitzenbeträgen von Geldkapitalbildung und Kreditbedarf hat den Marktsatz bestimmt; ohne Rücksicht darauf, daß der Marktsatz durch das Spannungsverhältnis nicht der gesamten Kapitalversorgung, sondern nur der Spitzen gebildet und überhöht worden ist, ist er Richtschnur für alle Langkredite geworden. VI. M A R K T R E F O R M U N D M A R K T P F L E G E S E I T 1933. Nach drei J a h r e n nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik hat sich das Bild des Kapitalmarkts und der Kapitalversorgung von Grund aus gewandelt. Trotz stärkster Steigerung des Kapitalbedarfs, ausgelöst zunächst durch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und dann durch die wehrwirtschaftlichen Aufwendungen des Reichs, hat sich das für die J a h r e 1924 bis 1932 typische Bild schärfster Kapitalknappheit gewandelt. Nach Überwindung einer Anlaufsperiode wird der Langkreditbedarf des Reichs zu Marktsätzen finanziert, die als normal gelten können. Der Markt zeigt schon jetzt eine Aufnahmefähigkeit für unmittelbare und mittelbare Emissionen des Reichs, die noch vor wenigen J a h r e n ebenso unvorstellbar erschien wie die Tatsache, daß die Arbeitslosigkeit durch eine Knappheit an Arbeitskräften abgelöst worden ist. Gewiß kann man sagen, daß die Aufnahmefähigkeit für Reichsemissionen von einer B e w i r t s c h a f t u n g d e s M a r k t s getragen wird. Emissionen, die die Deckung des Langkreditbedarfs des Reichs stören könnten, werden behindert. Das einstmals mehr aus finanz- als kreditpolitischen Gründen ergangene Verbot kommunaler Schuldaufnahme ist, wenn auch gelockert, beibehalten worden, ebenso ist die Konzes-

Kapitalbildung und Kapitalmarkt in Deutschland seit der Stabilisierung

611

sionierung der Pfandbriefemissionen geblieben. In der gleichen Richtung wirkt die Vielzahl der Investitionsverbote. Der durch Rentabilitätserwägungen nicht gebremste „ R u n der Kreditnehmer auf den K a pitalmarkt", der die Marktlage bis 1929 kennzeichnete und die Auftriebstendenzen des Kapitalzinses wirksam werden ließ, ist unterbunden, die verfügbare Kapitalversorgung ist rationiert, die verfügbaren Mittel werden der gesamtwirtschaftlich wertvollsten Verwendung zugelenkt. In der Praxis wird diese Lenkung hauptsächlich auch dadurch durchgeführt, daß die Sparkassen und Versicherungen unmittelbar zur Deckung des Anleihebedarfs des Reichs herangezogen werden. Aber die Kapitalversorgung der Gegenwart erhält ihr Gepräge dadurch, daß diese Bewirtschaftung des Marktes, auch wenn sie dem an den äußeren Formen freier Wirtschaft haftenden Denken als planwirtschaftlich erscheint, reibungslos funktioniert. Gewiß bedeutet die Vorrangstellung, die sich das Reich am Kapitalmarkt geschaffen hat, daß die Finanzierungswünsche der privaten Wirtschaft und anderer Teile der öffentlichen Wirtschaft zurücktreten müssen. Aber im praktischen Ergebnis hat die Vorrangstellung des Reichs n o t w e n d i g e Finanzierungsmaßnahmen anderer Träger der volkswirtschaftlichen Investitionstätigkeit nicht behindert. Dieser Erfolg der Marktbewirtschaftung ist zunächst dadurch ermöglicht worden, daß entsprechend der Struktur der Wirtschaft der echte Investitionsbedarf außerhalb der Reichsaufgaben — abgesehen vom Wohnungsbau —gering ist. Diese Knappheit an volkswirtschaftlichen Aufgaben, die durch die private Unternehmerwirtschaft durchzuführen sind, hatte j a auch dazu geführt, daß die sogenannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen von 1932, insbesondere die Steuergutscheine, die Investitionstätigkeit nicht merkbar belebt haben. Mit der Bewirtschaftung des Marktes und der Vorrangstellung der Reichsemissionen sind daher mehr solche Investitionen und Kapitalbeschaffungsmaßnahmen behindert worden, deren volkswirtschaftliche Dringlichkeit zweifelhaft sein kann. Die Finanzierung volkswirtschaftlich notwendiger und privatwirtschaftlich rentabler Investitionen hat sich im weiteren Fortgang der Marktwirtschaft sogar erheblich günstiger gestaltet als vor 1933. Die Bewirtschaftung der Finanzierungsmöglichkeiten funktioniert, weil mit ihr eine Steigerung der gesamten Kapitalversorgung verbunden ist. Abgesehen von der Vorrangstellung, die sich das Reich bei den Sparkassen und Versicherungen gesichert hat, und der Kontrolle der Emissionen, wird die Bewirtschaftung kaum noch als solche empfunden. Kennzeichnend ist vor allem Stand und Bewegung des Kapitalzinses. Der Zinssatz der Reichsemissionen entspricht völlig dem Marktsatz, 39»

612

Wolfgang Reichardl

der sich aus Angebot und Nachfrage natürlich auspendelt. Die Bewirtschaftung des Marktes hat den Charakter einer M a r k t p f l e g e angenommen, die auch in Zeiten und Ländern mit sogenanntem freien Kapitalmarkt üblich ist. Diese Marktpflege hat sich in der Praxis aus Maßnahmen heraus entwickelt, die nicht zur Regelung der Kapitalversorgung ergriffen worden waren, vielmehr eher geeignet waren, diese zu hemmen. Dies gilt vor allem für die beiden großen Maßnahmen, die am augenfälligsten sind: d i e Z i n s s e n k u n g u n d d i e b e i d e n U m s c h u l d u n g e n , die agrarische und die kommunale. Beide wurden ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Schuldnerentlastung und ohne Rücksicht auf den Kapitalmarkt durchgeführt. Insbesondere bei der ersten Zinssenkung vom Dezember 1931 sind die Nachteile, die eine solche Maßnahme für die Langkreditversorgung bedeuten kann, weitgehend wirksam geworden. Denn Zinsen sind nicht nur Lasten für den Schuldner, sondern auch Einnahmen für den Gläubiger. Zinseinnahmen aus langfristigen Anlagen aber werden auch in der deutschen Wirtschaft überwiegend wieder langfristig angelegt; das gilt vor allem für die Zinseinnahmen der Sparkassen und Versicherungen. Vor allem war die Zinssenkung von 1931 geeignet, die Popularität der Schuldverschreibung erneut zu schwächen. Auch die agrarische und kommunale Umschuldung konnten, weil nur unter dem Schuldnergesichtspunkt erdacht, die spezielle Knappheit an Langkredit verschärfen. Denn für die Umschuldung wurde die Form der Schuldverschreibungen gewählt; dadurch wurde für den Schuldner die Schuld langfristig, für den Gläubiger aber blieb die Anlage kurzfristig. Zu einer Belastung des Kapitalmarktes konnte sich also die Umschuldung in dem Maße auswirken, in dem die Gläubiger die Osthilfe-Entschuldungsbriefe und die kommunale Umschuldungsanleihe abstießen und dadurch die geringe Aufnahmefähigkeit des Markts für sich in Anspruch nahmen. Im Laufe der Zeit aber haben sich die beiden Eingriffe in das Verschuldungsgefüge, so marktfremd und marktschädigend sie anfänglich sein mußten und im Ergebnis auch vielfach waren, als fördernd für die Langkreditversorgung erwiesen. Durch Kurssteigerung der festverzinslichen Wertpapiere wurde der durch Zinssenkung autoritär festgesetzte Nominalzins zum natürlichen, durch Angebot und Nachfrage ausgependelten Marktzins. Dieses Hineinwachsen des autoritär bestimmten Zinses in den Marktzins wurde allerdings dadurch erleichtert, daß unter den besonderen Bedingtheiten des deutschen Kapitalmarkts auch die autoritäre Zinssenkung einen richtigen Kern haben kann. Denn der Nominalzins

Kapitalbildung und Kapitalmarkt in Deutschland seit der Stabilisierung

613

und der Realzins der inländischen Schuldverschreibungen entsprach nicht dem wirklichen „Landeszinsfuß", der sich aus dem Spannungsverhältnis in der g e s a m t e n Kapitalversorgung ergibt. Es war vielmehr über diesen hinaus durch die Verengung des Marktes erhöht worden. Eine autoritäre Zinssenkung kann daher bedeuten, daß sie den überhöhten Marktzins auf den wirklichen Landeszinsfuß zurückführt. Außerdem hat auch der Zins das gleiche Beharrungsvermögen wie die Warenpreise, es bedarf oft eines äußeren Anstoßes, eine in dem wirklichen Spannungsverhältnis zwischen Kapitalbedarf und K a pitalbildung begründete Senkung des Kapitalzinses im Marktzins effektiv in Erscheinung treten zu lassen. Die autoritäre Zinssenkung k o n s t a t i e r t in diesem Fall nur den wirklichen Landeszinsfuß, aber sie schafft ihn nicht. Diese Wirkung und Bedeutung hatte vor allem die zweite Zinssenkung von A n f a n g 1935. I m Gegensatz zu der Notverordnungsmaßnahme von Ende 1931 beschränkte sie sich im praktischen Ergebnis darauf, den wirklichen Landeszinsfuß zu konstatieren und diesem den Marktsatz anzupassen. In der äußeren Form glich sie zwar weitgehend der Kostensenkungsmaßnahme der Regierung Brüning, aber im Gegensatz zu dieser waren die markttechnischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen einer als autoritär geformten Zinssenkung hergestellt worden. Die Enge des Rentenmarkts, die bis 1932 die Tendenz zur Steigerung des Kapitalzinses verschärft hatte, ist weitgehend beseitigt. Die für die Form und den Zins der Kapitalversorgung wichtige Breite des Rentenmarkts ist dadurch hergestellt worden, daß entgegen der Banktechnik des 19. Jahrhunderts das festverzinsliche Wertpapier zum wichtigen Anlagemittel der Reichsbank und der Depositenbanken gemacht worden ist. Durch das Gesetz zur Änderung des Reichsbankgesetzes vom 27. Oktober 1933 ist die Reichsbank ermächtigt worden, festverzinsliche Wertpapiere und Lombarddarlehen gegen solche in die Notendeckung einzubeziehen. Dadurch erhielt die festverzinsliche Schuldverschreibung eine Vorzugsstellung ähnlich der des Wechsels. Sie wurde in weitaus stärkerem Maße, als es früher möglich war, bankfähig. Das Kreditwesengesetz vom 5. Dezember 1934 bestätigt und unterstreicht die neugeschaffene Vorrangstellung des Rentenpapiers. Der Bestand an reichsbank-lombardfähigen Schuldverschreibungen ist wichtiger Teil der den Banken vorgeschriebenen Liquiditätsreserve geworden. Durch die neue Reichsbankfähigkeit und Bankfähigkeit des Rentenpapiers sind die kredittechnischen Voraussetzungen dafür geschaffen worden, daß die Kreditversorgung der Wirtschaft

614

Wolfgang Reichardt

weitgehend die Form des Langkredits und vor allem der marktgängigen Schuldverschreibung annimmt. Die Reform des Bankwesens ist damit eine wichtige Maßnahme zur Bereinigung der Struktur des deutschen Kapitalmarkts geworden. Sie hat gleichzeitig ermöglicht, daß die agrarische und vor allem die kommunale Umschuldung nicht oder kaum zu einer Belastung des Kapitalmarkts führten. Sie erleichterte es den Banken, die ihnen als Gegenwert der Kurzkredite zugeflossenen Umschuldungspapiere im eigenen Besitz zu behalten und z. T. auch solche aufzunehmen, die von anderen Gläubigern agrarischer oder kommunaler Kurzschulden abgestoßen wurden. Autoritäre Zinssenkung, Umschuldung und vor allem Bankreform haben das deutsche Kreditsystem so umgeformt, daß ein neuer Kapitalbedarf weit mehr als in den Jahren bis 1929 in den Formen echten Langkredits gedeckt werden kann. Sie haben die kredittechnischen Voraussetzungen dafür geschaffen, daß seit 1933 der durch die Arbeitsbeschaifungsmaßnahmen und die wehrwirtschaftlichen Aufgaben des Reichs ausgelöste umfangreiche Kreditbedarf in erheblichem Umfang sowie zu Zinssätzen und in Formen finanziert werden konnte, die im Bereich des Normalen liegen. V I I . D I E E N T W I C K L U N G D E R K A P I T A L B I L D U N G S E I T 1933 Wirtschaftlich ist die Finanzierung des umfangreichen Kreditbedarfs durch das schnelle und starke W i e d e r a u f l e b e n d e r G e l d k a p i t a l b i l d u n g ermöglicht worden. Die umfangreiche Kapitalbildung, die die Zeit seit 1933 kennzeichnet und vor allem seit Anfang 1936 am offenen Kapitalmarkt sichtbar in Erscheinung tritt, ist die S e k u n d ä r w i r k u n g d e r W i r t s c h a f t s b e l e b u n g . Der Umfang dieser neuen Kapitalbildung ist durch die gegebenen Zahlen angedeutet, ihre Ursachen ergeben sich aus den Zusammenhängen, die immer zwischen Wirtschaftstätigkeit und Kapitalbildung bestehen. Der politische Umbruch war von einer Revolution des wirtschaftlichen Denkens begleitet. Mit der Inangriffnahme der unmittelbaren Arbeitsbeschaffung war der wirtschaftspolitische Methodenstreit, der die Initiative der Wirtschaftspolitik gelähmt hatte, beendet. Gegen die Annahme, daß die Kapitalbildung das Primäre und die Voraussetzung einer Mehrbeschäftigung sei, hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, daß die Beschäftigung der Wirtschaft das Primäre und die Kapitalbildung nur die automatische Sekundärwirkung der aus der Beschäftigung entstehenden Einkommen ist. Die von dem Gestaltungswillen des Nationalsozialismus geschaffene Wirtschaftstätigkeit hat die

Kapitalbildung und Kapitalmarkt in Deutschland seit der Stabilisierung

615

Einkommen erzeugt, von denen ein Teilbetrag durch Ersparnis zu Geldkapital werden kann. Kapitalbildung ist immer eine Funktion der Einkommenshöhe. Sie wächst, wenn die Einkommen steigen, und sinkt, wenn die Einkommen sich vermindern. Spartätigkeit ist abhängig vom Sparen w o l l e n und vom S p a r e n k ö n n e n . In der Praxis aber hat die S p a r f ä h i g k e i t einen stärkeren Einfluß auf den Umfang der Kapitalbildung als der S p a r w i l l e . Bei einer gegebenen geistigen und sittlichen Struktur der Bevölkerung und bei einem gegebenen Bedarf an Reserven für die Zukunft ist der Sparwille immer vorhanden. Von dem Maße, in dem die Einkommen über das Existenzminimum hinausgehen, hängt es ab, in welchem Umfang der Sparwille praktisch betätigt wird. Gewohnheiten der Einkommensverwendung und Organisationsformen der Verbrauchslenkung führen dazu, daß dieser Zusammenhang zwischen Einkommen und Kapitalbildung z. T . ein zwangsläufiger ist. A m sichtbarsten ist dieser Zusammenhang bei der Kapitalbildung, die sich bei den Trägern der Sozialversicherung vollzieht. Ihre Einnahmen, aus denen Vermögensrücklagen gebildet werden können, sind zwangsläufig von der Höhe der Lohnsummen der Versicherungspflichtigen abhängig. Aber auch bei den Lebensversicherungen ist die gleiche Erscheinung zu beobachten; rückständig gewordene Prämien werden nachgezahlt und Policedarlehen abgedeckt, wenn die Einkommen steigen. Selbst bei den Spareinlagen der Sparkassen sind diese Zusammenhänge erkennbar. In der deutschen Wirtschaft bestimmt die Einkommenshöhe den Umfang der Kapitalbildung so stark, daß fast mit zahlenmäßiger Genauigkeit sich errechnen läßt, welchen Einfluß eine Steigerung der Einkommen auf den Umfang der Kapitalbildung hat. In dem Versuch 1 ), die Auswirkungen der unmittelbaren Arbeitsbeschaffung größenordnungsmäßig darzustellen, ist geschätzt worden, daß im Kreislauf der Einkommen 24 bis 57 v. H. aller Beträge, die durch Arbeitsbeschaffung der Wirtschaft als Einkommen zusätzlich zugeführt werden, sich als Kapitalbildung niederschlagen. Davon entfallen 9,3 bis 10,8 v. H. auf die Mehreinnahmen der Sozialversicherungen, 1,0 bis 1,1 v. H. auf die Ersparnisse der Lohnempfänger und 12,1 bis 46,5 v. H. auf Ersparnisse und Schuldentilgungen der Unternehmer. Form und Umfang der Kapitalbildung, die die Finanzierung der Reichsaufgaben bisher ermöglicht hat, sind durch die geldwirtschaftlichen Voraussetzungen bestimmt worden, auf die die Belebung der l

) V g l . Sonderbeilage zu „Wirtschaft und Statistik"

13. J a h r g .

1933 Nr. 21.

616

Wolf gang Reichardt

Wirtschaftstätigkeit und die Steigerung der Einkommen trafen. Die Art der Kapitalbildung hat dazu geführt, daß wirtschaftlich gesehen sich die Finanzierung der Reichsaufgaben in drei verschiedenen Stufen vollzog. Zuerst war die Reichsbank der Hauptträger dieser Finanzierung. Dann ist die Finanzierung an den sogenannten Geldmarkt, d. h. auf die Banken, übergegangen. Seit 1936 werden die Reichsaufgaben in steigendem Maße durch den Kapitalmarkt finanziert. In der äußeren Form ist diese allmähliche Verlagerung in der wirtschaftlichen Bereitstellung der vom Reich benötigten Kreditmittel nicht in Erscheinung getreten. Denn unterschiedslos sind die Sonderaufgaben des Reichs einförmig mit Wechseln finanziert worden, die sowohl von der Reichsbank wie von den Banken wie vom freien Verkehr aufgenommen werden können. Die wirtschaftlich bedeutsame Verlagerung der Finanzierung von der Reichsbank über den Geldmarkt auf den Kapitalmarkt ist nur daran erkennbar geworden, daß die Bestände an Arbeitsbeschaffungswechseln und Sonderwechseln des Reichs zuerst bei der Reichsbank, dann bei den Banken und schließlich im freien Verkehr stiegen. Erst die Begebung der Reichsanleihen, mit denen praktisch die im freien Verkehr befindlichen Wechsel fundiert wurden, hat dann auch äußerlich erkennbar gemacht, daß die wirtschaftliche Finanzierung der Reichsaufgaben weitgehend auf den Kapitalmarkt übergegangen ist. Diese zeitliche Reihenfolge in der wirtschaftlichen Aufbringung der vom Reich benötigten Kreditmittel ist Folge und Symptom der Stufen, die die Kapitalbildung seit 1933 durchlaufen hat. Auch die Kapitalbildung wird ebenso wie die gesamte Einkommensverwendung nach einer Art Dringlichkeitsskala geformt. Entsprechend der Dringlichkeit des Bedarfs gilt für die Kapitalbildung etwa folgende Reihenfolge: 1. Auffüllung der Kassenbestände (Stückgeld und Bankguthaben), 2. Tilgung von Schulden, 3. Ansammlung kurzfristiger Reserven (zumeist Bankguthaben), 4. Bildung langfristiger Geldreserven. Ebenso wie im Jahre 1924 überwogen auch in der Kapitalbildung der Jahre 1933 und 1934 die kurzfristigen Formen. Denn weit über das Maß jeder andern wirtschaftlichen Depression hinaus hatten sich in der großen Krise die Kassenbestände und kurzfristigen Geldreserven der Verbrauchs- und der Erwerbswirtschaft vermindert. Eine Zahl von 7 Millionen Arbeitslosen bedeutete, daß ein erheblicher Teil der Bevölkerung praktisch ohne Kassenbestände lebte. Außerdem hatte die Bankenkrise von 1931 mit der überstürzten Kündigung von Krediten der Erwerbswirtschaft große Teile ihrer liquiden Mittel entzogen. Allerdings hatte die Ausschüttung der Steuergutscheine hier einen ge-

Kapitalbildung und Kapitalmarkt in Deutschland seit der Stabilisierung

617

wissen Ausgleich für die verlorene Liquidität geschaffen. Die durch die Arbeitsbeschaffung ermöglichte Wiederaufnahme der SpartätigJceit wurde daher anfänglich durch die Wiederauffüllung der Kassenbestände in Anspruch genommen. Diese nahm um so mehr die Form zunehmenden Notenumlaufs an, wie die Arbeitsbeschaffung anfänglich stark arbeitsintensiv war und zunächst eine merkliche Steigerung der Lohnsummen herbeiführte. Innerhalb der Erwerbswirtschaft aber nahm die durch die Mehrbeschäftigung der Betriebe ermöglichte Kapitalbildung anfänglich fast ausschließlich die Form der Schuldentilgung an. Die erhebliche kurzfristige Verschuldung, die die Liquidität der Betriebe bis 1929 gehemmt und in der Bankenkrise von 1931 erheblich gestört hatte, wirkte sich jetzt zugunsten der Kapitalbildung aus. Denn in jeder Betriebsführung liegt das Bestreben, Einnahmeüberschüsse zur außerplanmäßigen Tilgung von Schulden zu verwenden und von dieser Seite her das „Eigenkapital" zu erhöhen. Gegenüber den kurzfristigen Schulden wurde dieses Streben noch durch die unangenehmen Erfahrungen bestärkt, die in der Bankenkrise von 1931 mit der jederzeitigen Rückforderbarkeit von Krediten gemacht worden waren. Die geldwirtschaftliche Entwicklung der J a h r e 1933 und 1934 ist daher durch einen scharf ausgeprägten „Rückzahlungsdrang der Schuldner" gekennzeichnet. Die gesamte Kapitalbildung dieser J a h r e ist — vor allem in der Erwerbswirtschaft — erheblich höher, als in den Zahlen zunehmender Bankdepositen und sonstigen Geldvermögens zum Ausdruck kommt. Die Kapitalbildung der Erwerbswirtschaft erstreckte sich anfänglich nur darauf, die aus früheren Jahren verbliebenen Schulden, insbesondere ihren kurzfristigen Teil, zu tilgen. Die Kapitalbildung der Erwerbswirtschaft floß somit in erster Linie den Banken auf Debitorenkonto zu. Die Banken selbst haben anfänglich die ihnen hauptsächlich auf den debitorischen Konten zufließenden Mittel verwendet, ihre Verschuldung gegenüber der Reichsbank zu tilgen. Dadurch wurde die Reichsbank Hauptträger der Finanzierung der Reichsaufgaben. In dem Maße, wie sie Arbeitsbeschaffungswechsel diskontierte, verminderte sich ihr Bestand an Akzeptbankwechseln. In dem Augenblick, in dem die Tilgung der Bankakzepte und von Banken girierten Wechsel beendet war, ging die Finanzierung der Reichsaufgaben automatisch auf die Banken über. Seit Anfang 1936 hat die Kapitalbildung der Wirtschaft, vor allem in der Erwerbswirtschaft, ihre Form gewandelt. Durch die Kapitalbildung der Jahre 1933 bis 1935 ist der Bedarf an Kassenbeständen und

618

Wolf gang Reichardt, Kapitalbildung

und Kapitalmarkt

in

Deutschland

liquiden Reserven gedeckt; die Schulden sind weitgehend getilgt. Die aus den weiter laufenden Einnahmeüberschüssen sich bildenden K a pitalien können nunmehr die Form langfristiger Vermögensanlagen annehmen. Die an und für sich schon lange umfangreiche Kapitalbildung, deren Ausmaß bisher durch Bildung kurzfristig geformter Reserven und durch Tilgung von Schulden verschleiert war, ist nunmehr am Kapitalmarkt offen in Erscheinung getreten. Damit ist die wirtschaftliche Voraussetzung dafür geschaffen, daß die Finanzierung des Kapitalbedarfs auch äußerlich die Form von Kapitalmarktschulden annehmen kann. Allerdings wird die Sekundärwirkung, die die Mehrbeschäftigung der Wirtschaft auf die Kapitalbildung ausübt, nur dadurch ermöglicht, daß der Kreislauf der Einkommen gegenüber dem Ausland abgeriegelt worden ist. Gerade die Gegenwart läßt den störenden Einfluß erkennen, den die sogenannten Reparationszahlungen auf die Kapitalbildung gehabt haben. Entscheidend für diese Hemmung war nicht die Aufbringung. Denn auch jetzt werden mit Steuern Einkommen abgeschöpft. Der Unterschied liegt in der Verwendung der Steuern. Mit den Reparationszahlungen wurden die Steuerbeträge endgültig aus dem deutschen Einkommenskreislauf herausgerissen. Bei ihrer jetzigen Verwendung kehren die gleichen Steuerbeträge in den innerdeutschen Kreislauf der Einkommen zurück und können sich als Kapitalbildungniederschlagen. Aus den Zusammenhängen zwischen Einkommen und Spartätigkeit erklärt sich auch die hohe Bedeutung, die die Devisenbewirtschaftung und der „Neue Plan" für die Kapitalbildung haben. Der Grundsatz des Neuen Plans, nicht mehr zu kaufen, als bezahlt werden kann, bedeutet für den Kreislauf der Einkommen, daß aus ihm nicht höhere Beträge für Wareneinfuhr und Schuldendienst herausgelassen werden, als durch Warenausfuhr in ihn hineinfließen. Mit der Sicherung des Kreislaufs der Einkommen wird auch die Kapitalbildung gesichert.

DIE FINANZIELLE BEDEUTUNG DES ARBEITSEINSATZES UND DER ARBEITSLOSENHILFE VON

FRIEDRICH

SYRUP

I M R A H M E N D E R F I N A N Z W I R T S C H A F T DER Ö F F E N T L I C H E N Körperschaften, insbesondere des Reiches, spielen die Finanzen der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung eine beachtenswerte Rolle. U m welche Beträge es sich bei der Reichsanstalt handelt, ergibt sich aus der Tatsache, daß seit der Errichtung der Reichsanstalt am i. Oktober 1927 bis jetzt rund 15 Milliarden R M . der Reichsanstalt zur Verwaltung anvertraut waren. Die Aufgaben der Reichsanstalt, der Arbeitseinsatz und die Arbeitslosenhilfe, sind daher nicht nur sozial- und wirtschaftspolitisch, sondern auch finanzpolitisch von hoher Bedeutung. Die finanzpolitische Seite soll in den folgenden Ausführungen besonders behandelt werden.

I. D I E R E C H T S S T E L L U N G U N D D I E DER

ORGANISATION

REICHSANSTALT

Als Grundlage der folgenden Betrachtungen seien zunächst einige allgemeine Bemerkungen über die Rechtsstellung und Organisation der Reichsanstalt gemacht. Die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung ist im Jahre 1927 als s e l b s t ä n d i g e K ö r p e r s c h a f t d e s ö f f e n t -

620

Friedrich Syrup

l i e h e n R e c h t e s errichtet worden. Da die Reichsanstalt somit keine Reichsbehörde im eigentlichen Sinne ist, erscheinen ihre Einnahmen und Ausgaben auch nicht im Reichshaushalt. Die Reichsanstalt setzt ihren Haushalt selbst fest, der jedoch der Genehmigung der Reichsregierung bedarf. Das Recht zur Prüfung der Einnahmen, Ausgaben und Belege hat der Rechnungshof des Deutschen Reiches, der von diesem Recht im Hinblick auf die finanzielle Bedeutung der Reichsanstalt weitgehend Gebrauch macht. Die Aufsicht über die Reichsanstalt führt der Reichsarbeitsminister. Die Errichtung der Reichsanstalt erfolgte durch das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. Juli 1927 (Reichsgesetzblatt I Seite 187). Der Gesetzentwurf wurde damals mit einer für die Nachkriegszeit selten großen Mehrheit angenommen. Die organisatorischen Bestimmungen dieses Gesetzes hatten mehr als fachliche Bedeutung. Es ging damals um die Klärung der Frage, ob es richtig sei, die geschichtlich begründete Einheitlichkeit der Verwaltung durch Herausnahme einer bedeutungsvollen sozialen und wirtschaftlichen Aufgabe zu beeinträchtigen, diese Aufgabe also der politischen Verwaltung zu entziehen und sie einer besonderen Reichsfachverwaltung zu übertragen. Trotz aller theoretischen Betrachtungen, die für die Einheitlichkeit der Verwaltung sprachen, trug man den Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit Rechnung. Man war sich schon damals klar, daß der Arbeitseinsatz und die Arbeitslosenhilfe eine solche staatspolitische Bedeutung habe, daß sie nur vom Reich durchgeführt werden könne. Allerdings ahnten die wenigsten, was eine festgefügte, schlagkräftige Reichsorganisation für den Arbeitseinsatz und die Arbeitslosenhilfe in den Zeiten des Wiederaufbaues, wie wir ihn seit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus erleben, bedeuten würde. Dadurch, daß man das große Aufgabengebiet des Arbeitseinsatzes von der allgemeinen politischen Verwaltung löste, gab man der Reichsanstalt die Möglichkeit, ihren Aufbau unabhängig von den politischen Länder- und Bezirksgrenzen nach den Anforderungen wirtschaftlicher Zusammenhänge vorzunehmen. Unter Überwindung großer partikularistischer Schwierigkeiten gelang es, das Gebiet des Deutschen Reiches für die Aufgaben der Reichsanstalt in 13 große Wirtschaftsbezirke, 13 Landesarbeitsämter, aufzugliedern. Mit den politischen Landesgrenzen deckten sich nicht alle Bezirke. In der Mehrzahl der Bezirke wurden die verschiedenen deutschen Länder und preußischen Provinzen zusammengefaßt. Die Bezirke sollten nach dem Willen der Reichsanstalt durch eine Mannigfaltigkeit ihres Wirtschafts-

Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe

621

gefüges für den Arbeitseinsatz möglichst schon in sich ausgleichsfähig sein. Die damals von der Reichsanstalt vorgenommene Wirtschaftsgliederung des Deutschen Reiches in 13 Bezirke ist in der folgenden Zeit richtunggebend für anderweitige Abgrenzungen geworden. In den folgenden Ausführungen wird auf die einzelnen Landesarbeitsamtsbezirke zurückgegriffen werden. Die Wirtschaftsgliederung sei deshalb im folgenden in großen Zügen, ohne Berücksichtigung kleiner Abweichungen, wiedergegeben : 1. Landesarbeitsamt O s t p r e u ß e n in Königsberg, Gebiet: Provinz Ostpreußen. 2. Landesarbeitsamt S c h l e s i e n in Breslau, Gebiet: Provinz Oberschlesien, Provinz Niederschlesien. 3. Landesarbeitsamt B r a n d e n b u r g in Berlin, Gebiet: Stadt Berlin, Provinz Brandenburg, Provinz Grenzmark-Posen-Westpreußen. 4. Landesarbeitsamt P o m m e r n in Stettin, Gebiet: Provinz Pommern. 5. Landesarbeitsamt N o r d m a r k in Hamburg, Gebiet: Provinz Schleswig-Holstein, Land Hamburg, Land Mecklenburg, Land Lübeck, oldenburgischer Landesteil Lübeck und die hannoverschen Kreise Harburg, Stade, Hadeln. 6. Landesarbeitsamt N i e d e r s a c h s e n in Hannover, Gebiet: Provinz Hannover (ohne die zu Nordmark gehörenden Kreise), Land Oldenburg, Land Bremen, Land Braunschweig, Land Schaumburg-Lippe. 7. Landesarbeitsamt W e s t f a l e n in Dortmund, Gebiet: Provinz Westfalen, Land Lippe. 8. Landesarbeitsamt R h e i n l a n d in Köln, Gebiet: Rheinprovinz, Saarland, oldenburgischer Landesteil Birkenfeld. 9. Landesarbeitsamt Hessen in Frankfurt a. M., Gebiet: Provinz Hessen-Nassau, Land Hessen. 10. Landesarbeitsamt M i t t e l d e u t s c h l a n d in Erfurt, Gebiet: Provinz Sachsen, Land Thüringen, Land Anhalt. 1 1 . Landesarbeitsamt S a c h s e n in Dresden, Gebiet: Land Sachsen. 12. Landesarbeitsamt B a y e r n in München, Gebiet: Land Bayern.

622

Friedrich Syrup

13. Landesarbeitsamt S ü d W e s t d e u t s c h l a n d in Stuttgart, Gebiet: L a n d Württemberg, Land Baden, Regierungsbezirk Sigmaringen. Noch einschneidender waren die Maßnahmen der Reichsanstalt bei der Festsetzung und Abgrenzung ihrer unteren Dienststellen. Aus 889 kommunalen Arbeitsnachweisämtern wurden 360 Arbeitsämter. Stadt- und benachbarte Landkreise, Arbeiterwohngemeinden und Betriebsorte, landwirtschaftliche und industrielle Bezirke .wurden zusammengefaßt; der natürliche Mittelpunkt eines solchen Arbeitsamtsbezirkes wurde unter Berücksichtigung der Verkehrsverhältnisse als Sitz des Arbeitsamtes gefunden. Das umfangreiche Material, das der Reichsanstalt bei ihren Beschlußfassungen über die Bezirksabgrenzungen der Landesämter und Arbeitsämter als Unterlage diente, zeigte mit aller Deutlichkeit, welche U n stimmigkeiten zwischen den vor vielen Jahrzehnten abgegrenzten politischen Bezirken und den Wirtschaftsbezirken der Jetztzeit bestanden. II. D I E S T A T I S T I K E N D E R

REICHSANSTALT

Mit Hilfe des geschilderten Unterbaues der Reichsanstalt, der gleichmäßig über das ganze Reich verteilt ist und nach einheitlichen Richtlinien arbeitet, wurde eine möglichst einwandfreie Erfassung der Arbeitslosen in Deutschland möglich. Derartige laufende exakte Statistiken der Arbeitslosigkeit und des Beschäftigungsgrades sind die Grundlagen f ü r die Finanzpolitik der Reichsanstalt. Ohne sie wäre auch eine geordnete und vorausschauende Finanzwirtschaft unmöglich. Bei der Arbeitslosenstatistik werden von den Arbeitsämtern alle Personen gezählt, die sich zwecks Vermittlung von Arbeit an sie wenden. Bei dieser Zählung ist es unerheblich, ob •dem Arbeitsuchenden eine Unterstützung aus öffentlichen Mitteln gewährt wird, oder ob er sich selbst während der Arbeitslosigkeit unterhalten kann. Die Zählung der Arbeitslosen ist also umfassend; sie zeigt, wieviel Volksgenossen arbeitslos sind und in das Erwerbsleben eingesetzt zu werden wünschen. Ohne eine derartige laufende und genaue Zählung der Arbeitslosen läßt sich eine vorausschauende Politik des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe gar nicht machen. Die Reichsanstalt hat daher von jeher auf Genauigkeit und Zuverlässigkeit dieser Arbeitslosenstatistik den größten Wert gelegt. Sie ist auch zu einem wertvollen Gradmesser f ü r die Beurteilung der allgemeinen Wirtschaftslage geworden. Die Arbeitsämter zählen die von ihnen betreuten Arbeitslosen am

Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe

623

letzten Tage jedes Monats. Die Hauptstelle der Reichsanstalt stellt alsdann die Meldungen zu der Reichszahl zusammen und gibt diese durch die Presse der Öffentlichkeit bekannt. Die folgende Übersicht I zeigt die Entwicklung dieser Zahlenreihe seit dem Jahre 1928. I. 1 9 2 8

1 9 2 9

1 9 3 0

I 9 3

J a n u a r

1 8 6 2

2 8 5 O

3 2 1 8

4 8 8 7

F e b r u a r

1 7 8 6

3O7O

3 3

6 6

4 9 7 2

M ä r z

1 5 0 8

2 4 8 4

3 0 4 1

4 7 4 4

A p r i l

1 2 1 8

I

2 7 8 7

4 3 5 8

! 9 3 2

1

in

7 1 2

1 9 3 3

1 9 3 4

1 9 3 5

6 0 4 2

6 0 1 4

3 7 7 3

2

6 1 2 8

6 0 0 1

3 3 7 3

2 8 1 6

6 0 3 4

5 5 9 9

2 7 9 8

2 4 0 2

' 9 3 7

5 3 3 i

2 6 0 9

2 2 3 3

1 7 6 3

1 9 3 6

T a u s e n d

5 7 3 9

9 7 4

2 5 2 0 2 5 1 5

M a i

1 0 8 5

1 3 5 0

2 6 3 5

4 0 5 3

5 5 8 3

5 0 3 9

2 5 2 9

2 0 1 9

J u n i

1 0 5 5

I

2 6 4 1

3 9 5 4

5 4 7 6

4 8 5 7

2 4 8 1

1 8 7 7

J u l i

I

1 2 5 1

2 7 6 5

3 9 9 0

5 3 9 2

4 4 6 4

2 4 2 6

1 7 5 4

1

1 7 0

A u g u s t

1 0 1 7

I

2 8 8 3

4 2 1 5

5 2 2 4

4 1 2 4

2 3 9 8

1

1

0 9 8

S e p t e m b e r

I O I 9

1 3 2 4

3 0 0 4

4 3 5 5

5 1 0 3

3 8 4 9

2 2 8 2

1 7 1 4

1

0 3 5

O k t o b e r

I

1 5 5 7

3 2 5 2

4 6 2 3

5 1 0 9

3 7 4 5

2 2 6 8

1 8 2 9

0 1 2

1 7 1

2 6 0

2 7 2

N o v e m b e r

1 5 7 6

2 0 3 6

3 6 9 9

5 0 6 0

5

D e z e m b e r

2

2 8 5 1

4 3 8 4

5 6 6 8

5 7 7 3

3 8 5

3 5 5

3 7 1 5

2

4 0 5 9

2 6 0 5

3 5 3

7 0 6

r

4 9

J

1 3 1 5

1 9 8 4 2 5 0 8

Dieser Arbeitslosenstatistik stellt die Reichsanstalt ergänzend eine Beschäftigungsstatistik zur Seite, die im wesentlichen auf den Zählungen der Krankenkassenmitglieder aufgebaut ist. Diese Beschäftigtenstatistik verzeichnet in den gleichen Jahren folgende in Arbeit befindliche Arbeiter und Angestellte. II. 1 9 2 8

1 9 2 9

1 9 3 0

1 9 3 1

J a n u a r

1 6 2 5 3

1 5 8 4 9

1 6 1 5 9

1 3 9 7 0

1 2 0 8 5

F e b r u a r

1 6 3 3 1

1 5 4 7 3

1 5 9 3 4

1 3 7 6 5

1 1 9 2 8

M ä r z

1 6 6 8 6

1 6 6 6 9

1 6 2 9 3

1 4 0 9 2

A p r i l

1 7 6 4 2

1 8 0 6 1

1 6 7 9 4

M a i

1 7 9 6 7

1 8 4 9 0

1 7

J u n i

1 8 1 5 7

1 8 6 3 8

1 7 0 3 3

J u l i

1 7 9 5 9

1 8 5 3 9

A u g u s t

1 8 1 1 5

1 8 5 3 8

S e p t e m b e r

1 8 1 9 8

O k t o b e r

in

1 9 3 2

1 9 3 3

1 9 3 4

1 9 3 5

1 9 3 6

1 4 4 0 9

1 5 6 7 2

T a u s e n d CO

1 3 5 1 8

11

5 3 3

1 3 9 6 7

1 4 6 8 8

1 5 6 7 5

9 7 4

12

1 9 3

1 4 6 8 7

1 5 2 7 9

1 6 4 1 6

1 4 8 1 3

1 2 5 3 5

I2

6 g 8

1 5 3 2 2

1 5 9 3 0

1 7 0 3 9

1 5

1 2 7 4 4

1 3

1 8 0

1 5 5 6 0

1 6 3 8 6

1 7 5 2 0

1 5 2 5 3

1 2 7 7 9

1 3 3 0 7

i 5 5 3 o

1 6 5 0 4

1 7 6 7 5

1 6 8 4 3

1 5 0 2 0

1 2 7 5 6

1 3 4 3 6

1 5 5 3 3

1 6 6 4 0

1 7 8 3 9

1 6 6 8 7

1 4 6 1 8

1 2

1 3 7 1 6

1 5 5 5 9

1 6 6 9 0

1 7 8 9 6

1 8 4 2 7

1 6 5 4 0

' 4 3 7 0

1 2 8 3 4

1 3 9 2 1

1 5 6 2 1

1 6 6 3 4

1 7 8 8 6

1 8 0 9 7

1 8 2 3 2

1 6 2 3 0

1 3 9 7 8

1 2 9 1 5

1 4 0 6 2

1 5 6 3 6

1 6 5 0 8

N o v e m b e r

1 7 5 6 7

I 7 7 I 4

1 5 6 9 3

' 3 4 3 3

1 2 6 9 9

1 4 0 2 0

1 5 4 7 6

1 6 4 9 7

D e z e m b e r

1 6 4 9 4

1 6 5 3 5

1 4 6 1 7

1 2 4 4 0

1 1 9 8 3

1 3 2 8 7

1 4 8 7 3

1 5 5 8 2

1 2 0

1 9 7

1 1

7 5 5

Unterstellte man, daß die Zahl der Arbeiter und Angestellten in den J a h r e n 1928 bis 1936 gleich geblieben ist, so müßte — rein theoretisch

624

Friedrich Syrup

gesehen — die Gesamtzahl der beschäftigten und der arbeitslosen Arbeiter und Angestellten die gleiche sein. Tatsächlich schwankt aber diese Gesamtzahl, und diese Schwankungen lösen gelegentlich Fragen aus, die hier kurz beantwortet werden sollen. Es wurde bereits erwähnt, daß die Arbeitsämter jeden Volksgenossen zählen, der sich bei ihnen um Arbeitsvermittlung bemüht. Neben diesen amtlich gezählten Arbeitslosen gibt es aber noch Arbeitslose, die auf jede Hilfe des Arbeitsamtes verzichten, die sogenannten „unsichtbaren Arbeitslosen". Auf ihnen beruhen in der Hauptsache die angedeuteten Schwankungen der Gesamtzahlen. Jeder Arbeitslose, der eine Unterstützung aus öffentlichen Mitteln erhält, wird von den Arbeitsämtern gezählt, denn die Gewährung der Unterstützung ist von seiner Meldung zur Arbeitsvermittlung abhängig. Dagegen gibt es Arbeitslose, deren Lebensunterhalt durch Rücklagen, Familienzugehörigkeit gesichert ist, und die eine amtliche Arbeitsvermittlung nicht in Anspruch nehmen, da sie besondere Bedingungen an ihren Arbeitseinsatz knüpfen. In Krisenzeiten nimmt die Zahl der „unsichtbaren Arbeitslosen" deshalb größeren Umfang an, weil viele Arbeitslose, die nicht auf die öffentliche Arbeitslosenunterstützung angewiesen sind, die Hoffnung verlieren, während der Krise geeignete Arbeit zugewiesen zu bekommen, deshalb überhaupt auf eine Meldung beim Arbeitsamt verzichten und aufbessere Zeiten warten. Sie nehmen die Arbeitsvermittlung des Arbeitsamtes erst in Anspruch, sobald die Nachfrage nach Arbeitskräften einsetzt. Die Zahl der „unsichtbaren Arbeitslosen" sinkt alsdann auf ein geringes Maß herab. Die Zahl der „unsichtbaren Arbeitslosen", deren Zusammensetzung sehr unterschiedlich ist, ist schwer zu schätzen. Im Krisenjahr 1932 ist sie 10 bis 15 v. H. der amtlich verzeichneten Arbeitslosen gewesen. Jetzt dürften die „unsichtbaren Arbeitslosen" überwiegend Personen umfassen, die aus Gründen ihrer Person nur sehr bedingt arbeitseinsatzfähig sind und auf einen glücklichen Zufall hoffen, den sie durch persönliche Bemühungen zu erlangen versuchen. Zu diesen beiden großen Statistiken der „Arbeitslosen" und der „Beschäftigten" treten im inneren Dienstbetrieb der Reichsanstalt noch die mit diesen Zählungen im engen Zusammenhang stehenden Finanzstatistiken. Arbeitslose und Unterstützungsempfänger einerseits, Beschäftigte und Beitragszahler andererseits stehen in engen Wechselbeziehungen. Steigt oder fällt die Zahl der Arbeitslosen, so werden die Ausgaben der Reichsanstalt an Unterstützungsmitteln im bestimmten Verhältnis gehoben oder gesenkt. Steigt oder fällt die Zahl der beschäftigten Arbeiter und Angestellten, so steigt oder fällt gleichzeitig

Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe

625

die Zahl der Beitragszahler; die Einnahmen der Reichsanstalt steigen oder sinken. Auf diese Weise werden die genannten allgemeinen Statistiken der „Arbeitslosen" und der „Beschäftigten" dauernd durch die Finanzstatistiken kontrolliert. Meldet z. B. ein Arbeitsamt einen Rückgang an Arbeitslosen, so muß sich dieser Rückgang automatisch in seinen Ausgaben an Unterstützungsmitteln bemerkbar machen. Die Arbeitsämter sind daher auch aus finanziellen Gründen bemüht, die Arbeitslosenzählungen so genau wie möglich zu gestalten, da ihnen sonst im Zahlungsverkehr der Reichsanstalt nicht die erforderlichen Gelder für die Arbeitslosenunterstützung zur Verfügung gestellt werden. III. DER Z A H L U N G S V E R K E H R DER

REICHSANSTALT

Entsprechend dem i 1 / 2 bis 2 1 / 2 Milliarden R M . jährlich betragenden Geldumsatz der Reichsanstalt ist ihr Zahlungsverkehr von erheblicher Bedeutung für die gesamte Geldbewegung. In den ersten Jahren nach Errichtung der Reichsanstalt war ihr Zahlungsverkehr sehr zersplittert. Jede Landesregierung, jede Provinzialverwaltung, jede Kreis- oder Gemeindeverwaltung hatte bisher mit ihrer Bank oder Sparkasse gearbeitet. Die Reichsanstalt mußte zunächst alle diese Bankverbindungen übernehmen. Nach sorgsamen Erwägungen und aus triftigen Gründen beschloß dann die Reichsanstalt auf Wunsch der Reichsbank diese Bankverbindungen zu lösen. Im Hinblick auf den Umfang der Geldbewegung seien hier über die Zusammenarbeit zwischen Reichsbank und Reichsanstalt einige genauere Ausführungen gemacht. Die Verbindung mit der Reichsbank hat für die Reichsanstalt zunächst den großen Vorteil, daß diese auf umlaufende Betriebsmittel weitgehend verzichten kann. Früher mußten nämlich, um den oft stoßweisen Geldanforderungen der Arbeitsämter jederzeit nachkommen zu können, bei den zahlreichen Banken und Sparkassen laufende Konten unterhalten werden. Die derart festgehaltenen Beträge, die im ganzen Reiche über 50 Millionen R M . ausmachten, wurden durch den Anschluß der Reichsanstalt an die Reichsbank fast in vollem Umfange frei. Die Dienststellen der Reichsanstalt haben jetzt die Möglichkeit, im Rahmen der von der Hauptstelle festgelegten Kreditzulassung mit Hilfe der sogenannten bunten Schecks von den Reichsbankstellen draußen im Lande jeden benötigten Betrag abzuheben, so daß irgendwelche Reserven nicht mehr erforderlich sind. Umgekehrt werden die Beträge, die sich durch den Zufluß der Einnahmen laufend auf den zahlreichen Reichsbankkonten der Reichsanstalt ansammeln — soweit sie die Sum40

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

626

Friedrich

Syrup

me von iooo R M . übersteigen—, täglich automatisch dem Hauptkonto der Reichsanstalt zugeführt und gutgeschrieben. Trotzdem wird eine Zentralisierung der Gelder in Berlin vermieden; denn diese Geldbewegungen sind nur buchmäßig; die Gelder selbst bleiben bei den Reichsbankstellen draußen im Reich und können die örtliche Wirtschaft befruchten. Die Geldumsätze, die sich auf diese Weise im gegenseitigen Geschäftsverkehr zwischen Reichsanstalt und Reichsbank entwickeln, sind schon rein zahlenmäßig sehr beträchtlich. Sie machten in den Jahren I 93°— 1 933 weit über 2 Milliarden R M . jährlich aus, um in den letzten J a h r e n mit der Abnahme der Arbeitslosigkeit auf etwa 1 1 / 2 Milliarden R M . zu sinken. Sie sind aber auch geschäftsmäßig betrachtet sehr bedeutsam, und zwar deshalb, weil sich sowohl die Einnahmen wie die Ausgaben der Reichsanstalt meist aus kleinen Einzelbeträgen zusammensetzen. Die Einnahmen der Reichsanstalt, die über die dreizehn Landesarbeitsämter eingehen, bestehen ganz überwiegend aus den Beiträgen der Unternehmer und ihrer Gefolgschaftsmitglieder. Die Reichsanstalt zieht diese Beiträge nicht gesondert ein, sie werden vielmehr aus Gründen der Geschäftsvereinfachung von rund 2 Millionen Unternehmern zugleich mit den Beiträgen zur Krankenversicherung an etwa 7000 Krankenkassen abgeführt. Von diesen werden die Arbeitslosenversicherungsbeiträge durch Banküberweisungen oder durch Postscheck an die Landesarbeitsämter eingezahlt. I m Durchschnitt werden täglich etwa 2000 Zahlungen allein von den Krankenkassen auf die Reichsbankkonten der Reichsanstalt geleistet. Da nun die Reichsanstalt aber weiter bestrebt war, auch die Krankenkassen ihrerseits zur Anlage eines Reichsbankkontos zu veranlassen und den Arbeitgebern die Einzahlung ihrer Beiträge auf dieses Konto nahezulegen, wird ein beträchtlicher Geldfluß von vornherein auf die Bahn des Reichsbankweges geleitet, auf dem er bei der Reichsanstalt einmünden muß. Werden auf diese Weise schon die Einnahmen der Reichsanstalt aus vielen, kleinen Kanälen zugeführt, so strömen auf der andern Seite auch die Ausgaben — hauptsächlich soweit sie für Unterstützungszwecke bestimmt sind — wiederum in vielen Kanälen bis in die kleinsten Orte zurück, indem die Arbeitsämter und deren Nebenstellen auf dem Reichsbankweg durch orangefarbene Schecks mit den für jeden Zahltag erforderlichen Geldmitteln versehen werden. Neben diesem Ausgleich der Einnahmen und Ausgaben geht aber noch weiter ein sehr wichtiger Ausgleich innerhalb der Reichsanstält einher, der ebenfalls von den Reichsbankanstalten bewältigt werden

Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe

627

muß. Dies ist der Ausgleich zwischen den einzelnen Landesarbeitsämtern selbst. Er muß mittelbar oder unmittelbar die täglichen Kassenüberschüsse der einen und die Kassenfehlbeträge der andern Landesarbeitsämter ausgleichen, die wiederum im J a h r e in die hunderte von Millionen gehen. Hierzu tritt der zeitliche Ausgleich zwischen den verschiedenen Zahltagen und zwischen den Zeiten besonderer Anspannung vor allem im Winter und den Zeiten geringerer Ausgaben. Bemerkt darf noch werden, daß es der Zusammenarbeit zwischen Reichsbank und Reichsanstalt — vielfach auch unter Mithilfe der Reichspoststellen — möglich geworden ist, hohe Beträge an Hartgeld, die die Reichsbank zwanglos in Umlauf setzen wollte, in die kleinsten Ortschaften hinauszupumpen. IV. D I E AUSGABEN DER R E I C H S A N S T A L T Bei einer geordneten und sorgsamen Haushaltführung haben sich die Ausgaben im Rahmen der Einnahmen zu halten. Sicherlich können zeitweise die Ausgaben die Einnahmen überschreiten; doch müssen dann die überhöhten Ausgaben durch früher gemachte Ersparnisse oder durch zukünftig erhöhte Einnahmen, die mit Sicherheit zu erwarten sind, ausgeglichen werden können. Bei der Reichsanstalt kann dieser Grundsatz nur bedingt Anwendung finden; denn im Hinblick auf ihre staatspolitisch lebensnotwendigen Aufgaben ist das Primäre ihre Ausgabenseite. Die Reichsanstalt muß in Zeiten großer Not den Lebensunterhalt der arbeitswilligen, arbeitsfähigen und unverschuldet arbeitslosen Volksgenossen sichern, auch wenn die hierdurch bedingten Ausgaben der Reichsanstalt nicht durch ihre Einnahmen gedeckt werden können. Eine, wenn auch nur beschränkte, Zahlungsunfähigkeit der Reichsanstalt ist staatspolitisch unmöglich. Im Hinblick auf diese besondere Sachlage empfiehlt es sich, bei den Finanzbetrachtungen von der Ausgabenseite auszugehen. Bei den Ausgaben sind leider die Unterstützungsaufwendungen der Reichsanstalt der finanziell bedeutungsvollste Posten. Er gliedert sich in die eigentliche Arbeitslosenunterstützung, in die nachfolgende Krisenunterstützung und in die Kurzarbeiterunterstützung. Die Höhe dieser Ausgaben ist unerfreulich, weil die Aufwendungen nicht zum Arbeitseinsatz der Arbeitslosen, also zum wirtschaftlichen und sozialen Aufbau Verwendung finden, sondern im wesentlichen nur einer Existenzsicherung der arbeitslosen Volksgenossen dienen. Viel wertvoller sind die Ausgaben für den Arbeitseinsatz, also für die Arbeitsvermittlung, Berufsberatung, für die Maßnahmen zur Ver40*

628

Friedrich Syrup

hütung und Beendigung der Arbeitslosigkeit, für die werteschaffende Arbeitslosenfürsorge und dergleichen. Diese Ausgaben sind produktiv. Sie sind seit der Machtübernahme wesentlich verstärkt worden. Die folgende Übersicht III gibt ein Bild von den Ausgaben der Reichsanstalt in den 8 Rechnungsjahren von 1928 bis 1935. III. UnterstütRechnungszungsaufjahr wendungen

Aufwendungen Abfuhrungen Gesamtausfür den Arbeitsan das Reich gaben 2 ) x einsatz ) in Millionen R M .

1

2

3

1928

1215 1420 2190 2120 1470 1070 820 775

95 105

1929 i93o '93' 1932 1933 «934 1935

9° 90 110 300 370 345

4 — — — —

100 316 288 182

5 I3T7 1592 2329 2219 1692 1697 1483 1312

) Abgerundet. ) Die Gesamtausgaben (Spalte 5) entsprechen nicht ganz der Summe der Ausgaben in Spalte 2, 3 und 4, sondern sind etwas höher, da in der Übersicht bestimmte durchlaufende Ausgaben nicht berücksichtigt sind. 1

2

Im Hinblick auf die Größe der Unterstützungsaufwendungen seien diese noch etwas näher erörtert. Sehen wir von der Kurzarbeiterunterstützung ab, die im Höhepunkt der Krise etwa einen Jahresbetrag von 50 Millionen R M . erreicht hat, so ist die Reichsanstalt zu Unterstützungszahlungen in zweifacher Form verpflichtet. Sie zahlt einmal die Unterstützungen aus der Arbeitslosenversicherung und zahlt sodann die Unterstützungen aus der Krisenfürsorge. Die Zahlung der versicherungsmäßigen Unterstützung erfolgt aus den eigenen Mitteln der Reichsanstalt, denn sie ist Trägerin der Arbeitslosenversicherung. Bei den Beratungen über die gesetzliche Regelung der Arbeitslosenversicherung im Jahre 1927 ging man zunächst von einer Durchschnittsziffer von 700000 unterstützten Arbeitslosen in der Versicherung aus. Diesen Umfang der Unterstützungsleistungen betrachtete man damals als den Normalzustand. Man war sich aber gleichzeitig darüber klar, daß man mit Zeiten besonders ungünstiger Wirtschaftslage rechnen müsse, in denen die Zahl

Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe

629

der Unterstützungsempfänger weit über diesen normalen Rahmen hinausgehen würde. Für diese Zeiten war gesetzlich die Einführung einer besonderen Krisenfürsorge vorgesehen. Während man die Aufbringung der Geldmittel für die Unterstützungen in der Arbeitslosenversicherung — also im Normalzustand — ganz der Wirtschaft (Unternehmer und Gefolgschaften) überließ, regelte man die FinanzbeschafFung für die Krisenfürsorge völlig anders. Man ging nämlich von dem Standpunkt aus, daß Folgen von ungewöhnlichen Krisenzeiten nicht von der Wirtschaft, sondern vom Staat, d. h. von der Allgemeinheit zu tragen seien. Infolgedessen wurde bestimmt, daß die Aufwendungen für die Krisenfürsorge der Reichsanstalt zu vier Fünfteln vom Reich und zu einem Fünftel von den örtlich zuständigen Gemeinden zu erstatten seien. Die folgende Übersicht I V gibt die Ausgaben der Reichsanstalt in den Rechnungsjahren 1928 bis 1931 wieder: IV. Rechnungsjahr

Arbeitslosenversicherung

Krisenfürsorge

in Millionen RM.

1

2

3

1928 1929 1930 1931

1055,8 1172,0 1638,3 1120,7

110,4 182,2 451,8 890,4

Schon im Jahre 1928 gingen die Aufwendungen in der Arbeitslosenversicherung infolge Einsetzens der Wirtschaftskrise über den geschätzten Normalzustand hinaus. Die Ausgaben für die Krisenfürsorge waren zunächst ohne große Bedeutung. Im Jahre 1931 waren die Leistungen für die Krisenfürsorge jedoch auf annähernd 900 Millionen RM. gestiegen. Das Reich hob damals die gesetzliche Verpflichtung, die dem Reich vier Fünftel der Kosten der Krisenfürsorge auferlegte, auf und verpflichtete die Reichsanstalt zur Zahlung dieses Kostenanteils. Im Jahre 1933 wurde die Reichsanstalt auch zur Übernahme des Gemeindefünftels verpflichtet, so daß seitdem die gesamten Kosten der Krisenfürsorge neben den Kosten der Arbeitslosenversicherung von der Reichsanstalt getragen werden. Wie hoch die Gesamtunterstützungsaufwendungen der Reichsanstalt in den letzten Jahren gewesen sind, ergibt sich aus der Übersicht I I I , Spalte 2.

630

Friedrick Syrup

V . DIE E I N N A H M E N D E R

REICHSANSTALT

Bei den Einnahmen der Reichsanstalt sind zwei verschiedene Gruppen zu unterscheiden, die eigenen Einnahmen, die zur Befriedigung der Pflichtaufgaben der Reichsanstalt dienen, und die durchlaufenden Einnahmen, die der Reichsanstalt zur Erstattung von Kosten zufließen, die sie für Auftragsangelegenheiten zu verausgaben hat. Bei der Errichtung der Reichsanstalt war der Gesetzgeber von der Auffassung ausgegangen, daß die Kosten des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenversicherung von der Reichsanstalt aus eigenen Mitteln zu tragen seien. Dagegen war damals, wie bereits ausgeführt, festgelegt worden, daß die Aufwendungen für die Krisenfürsorge der Reichsanstalt im vollen Umfange zu erstatten seien. Die eigenen Mittel der Reichsanstalt bestehen aus dem Beitragsaufkommen und bestanden außerdem in den Jahren 1932 bis 1934 in den Einnahmen aus der Abgabe zur Arbeitslosenhilfe. Das Rückgrat der Finanzen der Reichsanstalt bilden die Beiträge, welche die Unternehmer und die Arbeiter und Angestellten zu gleichen Teilen an die Reichsanstalt zu zahlen haben. Die Höhe des Beitragsaufkommens ist abhängig von der Zahl der Beitragszahler, von dem Arbeitseinkommen der Beitragszahler und dem Beitragssatz, der als Hundertsatz vom Arbeitslohn festgesetzt wird. Die folgende Übersicht V gibt einen genauen Einblick in die Entwicklung des Beitragsaufkommens: V.

Rechnungsjahr

BeitragsBeitragssatz

zahler

in

Millionen

1

2

Monatliches A u f k o m m e n je K o p f eines Beitragszahlers in R M .

3

4

A u f 1 v. H . Beitragssatz sind im Monat aufgekommen in R M .

Beitragsaufk o m m e n in Mill.

RM.

5

6 835,9 886,0

1928

3

15,14

4,60

1,53

'929

3.09

4,79

1,55

'93°

4» 8 3

"5,40 13,60

i93i

6,5

7,30 9,26

i,5i 1,42

1932

6,5

n,49 10,10

8,19

1,26

992,2

1933

6,5

10,26

8,18

1,26

1007,3

1934

6,5

",32

8,96

1,38

1217,2

1935

6,5

12,02

9,46

i,45

1364,1

H90,3 1283,4

Insgesamt machte das Beitragsaufkommen in den verflossenen acht Jahren rund 65 v. H. der Gesamteinnahmen aus. 8,776 Milliarden R M .

Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes

und der Arbeitslosenhilfe

631

wurden zur Hälfte von den Unternehmern, zur anderen Hälfte von den Arbeitern und Angestellten aufgebracht. Aus der Spalte 2 der Übersicht geht die Entwicklung des Beitragssatzes hervor. Bei den Beratungen über das Arbeitslosenversicherungsgesetz im Sommer 1927 ging man von einer Durchschnittsziffer von 700000 unterstützten Arbeitslosen in der Versicherung aus und setzte auf dieser Grundlage einen Beitragssatz von 3 v. H. des Arbeitsentgelts als Versicherungsbeitrag fest. Die Rechnung war in einem Punkte sehr vorsichtig aufgestellt worden. Es stellte sich nämlich heraus, daß das Beitragsaufkommen von 3 v. H. des Arbeitsentgelts die Reichsanstalt in die Lage versetzte, nicht nur 700000, sondern rund 850000 Arbeitslose zu unterstützen. Die Rechnung war hingegen hinsichtlich der Ausgabenschätzung falsch. Selbst die Zahl von 850000 unterstützten Arbeitslosen blieb weit hinter der Wirklichkeit zurück. Die wirtschaftliche Entwicklung lief völlig anders, als man im Sommer 1927 geschätzt hatte. Im Winter 1928/29 stieg die Zahl der unterstützten Arbeitslosen in der Arbeitslosenversicherung auf fast 2,5 Millionen. Trotzdem wurde der Beitragssatz bis zum 31. Dezember 1929 auf 3 v. H. belassen, er wurde dann auf 3 1 / 2 v. H. und vom 1. August 1930 ab auf 4X/2 V. H . erhöht. V o m 6. Oktober 1930 ab wurde ein Beitragssatz von 6 1 / 2 v. H. festgesetzt, der bis jetzt unverändert geblieben ist. Der Beitragssatz ist auch in den letzten Jahren gehalten, trotzdem die Zahl der unterstützten Arbeitslosen infolge der starken Belebung der Wirtschaft wesentlich zurückgegangen ist. Allerdings ist das Beitragsaufkommen, trotz Beibehaltung des Beitragssatzes, insofern gemindert worden, als der Personenkreis der Beitragszahler erheblich beschränkt ist. Durch das Gesetz zur Befreiung von Hausgehilfinnen von der Pflicht zur Arbeitslosenversicherung vom 12. Mai 1933 (RGBl. I S. 265) wurden die Hausgehilfinnen und die Haushaltungsvorstände aus dem Kreis der Beitragszahler ausgeschaltet. Durch ein Gesetz vom 22. September 1933 (RGBl. I S. 656) wurde die Beschäftigung in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in der Binnen- und Küstenfischerei in vollem Umfange für versicherungsfrei erklärt. Beide Maßnahmen waren vom Standpunkt des Arbeitseinsatzes richtig. Die letzte Maßnahme lag auch im Interesse der Landwirtschaft, deren Gesundung mit allen Mitteln angestrebt werden mußte. Wie aus der Spalte 3 der vorstehenden Übersicht V erkenntlich ist, blieb die Zahl der Beitragszahler jedoch in ihrer natürlichen Entwicklung infolge dieser Maßnahmen stark zurück. Infolge der zögernden Beitragspolitik der Reichsregierung in den

Friedrich Syrup

632

Jahren 1928 bis 1930 mußte die Reichsanstalt bereits im Januar 1929 an das Reich mit der Bitte um Darlehnsgewährung herantreten, zu der das Reich gesetzlich verpflichtet war. Am 3 1 . März 1929 betrug die Verschuldung der Reichsanstalt beim Reich 184 Millionen R M . ; Ende des Haushaltsjahres 1929 war sie auf 622 Millionen R M . angewachsen. Es stellte sich klar heraus, daß die finanzielle Ausrüstung der Reichsanstalt (3 v. H. Beiträge kein Notstock oder Ausgleichsfonds) für die beginnende Krise nicht ausreichte und die Inanspruchnahme des Reiches zu einem Dauerzustand würde. An eine darlehnsweise Hingabe der Summe war ernstlich nicht mehr zu denken, da der Reichsanstalt eine Rückzahlung unmöglich war. Bis zum Ablauf des Rechnungsjahres 1930 stieg die finanzielle Hilfe des Reiches auf 1,4 Milliarden R M . Erst dann wurde die gesetzlich festgelegte, unbeschränkte Hilfeleistungspflicht des Reiches aufgehoben, die Beiträge auf 6 1 / 2 v. H. erhöht und die Reichsanstalt auf sich selbst gestellt. Neben den 8,776 Milliarden R M . aus Beitragsmitteln hat die Reichsanstalt also noch auf 1,4 Milliarden R M . allgemeine Reichsmittel zurückgreifen müssen. Weitere beachtliche Einnahmen flössen der Reichsanstalt aus der „Abgabe zur Arbeitslosenhilfe" zu, die in den Rechnungsjahren 1932 bis 1934 für die Reichsanstalt erhoben wurde. Die Einnahmen hieraus betrugen 1932 1933 1934

329,0 Millionen R M . 526.7 Millionen R M . 262.8 Millionen R M . zusammen: 1 1 1 8 , 5 Millionen R M .

Da diese Abgabe, die vom Arbeitnehmer zu tragen war, nicht nur von den zur Arbeitslosenversicherung Beitragspflichtigen, sondern von allen Lohn- und Gehaltsempfängern erhoben wurde, teilten sich in den Einzug zwei Verwaltungen. Für die zur Arbeitslosenversicherung Beitragspflichtigen wurde sie mit diesen Beiträgen durch die Krankenkassen eingezogen, für alle übrigen Abgabepflichtigen zusammen mit der Lohnsteuer durch die Finanzämter. Über die Krankenkassen flössen insgesamt rund 600 Millionen R M . , über die Finanzämter rund 5 1 8 Millionen R M . ; die Reichsfinanzverwaltung lieferte das von ihr eingezogene Aufkommen aus der Abgabe zur Arbeitslosenhilfe nicht wie die Krankenkassen an die Landesarbeitsämter, sondern zentral an die Hauptstelle der Reichsanstalt ab, die ihrerseits aus diesen Mitteln die erforderlichen Ausgleiche zwischen den Bezirken vornahm.

Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe

633

Die Abgabe zur Arbeitslosenhilfe ist seit Januar 1935 als Einnahmequelle für die Reichsanstalt in Fortfall gekommen. Endlich hat die Reichsanstalt ihre Aufwendungen für die Krisenfürsorge zurückerstattet erhalten. Das Reich führte 1,656 Milliarden, die Gemeinden 0,623 Milliarden R M . hierfür an die Reichsanstalt ab. Die Gesamteinnahmen der Reichsanstalt in den Jahren 1928 bis 1935 setzten sich also aus folgenden großen Zahlen zusammen: Beiträge der Unternehmer und ihrer Gefolgschaften 8,8 Abgabe zur Arbeitslosenhilfe 1,1 1,4 Hilfe des Reiches Reichsbeitrag für Krisenfürsorge . . . . 1,7 Gemeindebeitrag für Krisenfürsorge . 0,6 zusammen: 13,6

Milliarden Milliarden Milliarden Milliarden Milliarden Milliarden

RM. RM. RM. RM. RM. RM.

Die Verteilung der Einnahmen auf die einzelnen Jahre ergibt sich aus folgender Übersicht V I : VI. 1928

1206,6 Millionen R M .

1929 1930 1931

1655.3

2303,6 2251,1

'932 1933

'934 '935

1710,9 Millionen RM. 1660,6 ,, ,,

1485,8 1393.2

Eingangs bei der Erörterung der Rechtsstellung der Reichsanstalt ist ausgeführt worden, daß die Reichsanstalt eine selbständige Körperschaft des öffentlichen Rechts sei und ihren eigenen Haushalt habe. Die vorstehenden finanziellen Ausführungen haben jedoch klar gezeigt, wie abhängig die Reichsanstalt in finanziellen Dingen von den Entschließungen der Reichsregierung ist und wie die Finanzen der Reichsanstalt im Grunde genommen ein Bestandteil der Reichsfinanzen sind. Wäre der Beitragssatz der Reichsanstalt von vornherein auf 672 v.H. des Arbeitsentgelts von der Reichsregierung festgesetzt worden, so hätte die Reichsanstalt in den Krisenzeiten keiner Hilfe des Reiches bedurft, sondern hätte weitgehende Rücklagen bilden können. Der erwähnten Hilfe des Reiches im Betrage von 1400 Millionen R M . stehen in den Jahren 1932 bis 1935 Ablieferungen der Reichsanstalt an das Reich im Betrage von 886 Millionen R M . gegenüber. Dadurch, daß die Reichsanstalt die Aufwendungen für die Krisenfürsorge übernahm, hat sie das Reich um rund 2000 Millionen RM., die Gemeinden um 275 Millionen R M . entlastet.

Friedrich Syrup

634

Diese wenigen Zahlen genügen, um die finanziellen Zusammenhänge zwischen Reich und Reichsanstalt aufzuzeigen. VI. VERSCHIEDENHEIT DER

WIRTSCHAFTSGEBIETE

Bisher haben wir unseren Betrachtungen das Reich als Ganzes zugrunde gelegt. Gehen wir auf die einzelnen Wirtschaftsgebiete (13 Landesarbeitsämter) zurück, so erkennen wir die großen Unterschiede zwischen ihnen und die Bedeutung des Finanzausgleiches auf dem Gebiete des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe. Wie bereits festgestellt wurde, haben die Gesamtausgaben der Reichsanstalt in den Jahren 1928 bis 1935 rund 13640 Millionen R M . betragen. Annähernd 8 v. H. dieser Ausgaben, nämlich 1034 Millionen RM., wurden von der Hauptstelle zentral für das ganze Reichsgebiet verausgabt. 12606 Millionen R M . sind in den 13 Landesarbeitsämtern zur Ausgabe gekommen. Wie die folgende Aufstellung V I I zeigt, waren die Ausgaben in den einzelnen Landesarbeitsämtern sehr verschieden. VII.

Landesarbeitsamt '

1

Rheinland Brandenburg Sachsen Bayern Westfalen Mitteldeutschland Schlesien Nordmark Hessen Niedersachsen Südwestdeutschland Pommern Ostpreußen Deutsches Reich

Ausgaben in Millionen RM. 2 1736 1 721

v. H. der Reichssumme 3

Auf 1 Einwohner entfallen Ausgaben in R M . 4

13.8 13.6 10,8

209 236 261 153 '97 183

769 719 714 317 302

9.3 8,3 7,8 7,4 6,6 6,1 5,7 5,7 2,5 2,4

197 202 196 161 136 165 129

12606

100,0

19«

1364 1178 1042 990 928 826

Die Spalte 3 der Übersicht zeigt, daß in den hochindustriellen Gebieten wie Rheinland, Brandenburg die Ausgaben ein Vielfaches der Ausgaben in den landwirtschaftlichen Bezirken Pommern, Ostpreußen betragen.

Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe

635

Die Spalte 4 soll ein Bild geben, welche Belastung den einzelnen Bezirken erwachsen wäre, falls die Ausgaben nicht durch Beitragseingänge aus der Wirtschaft und durch einen zentralen Reichsausgleich gedeckt wären. Die Zahlen zeigen z. B. die besonders hohe Belastung Sachsens. Bei der Bewertung der Zahlen ist jedoch zu beachten, daß es vielleicht schwerer gewesen wäre, z. B. in Ostpreußen die geringe Belastung aufzubringen, als in Brandenburg die stärkere Inanspruchnahme. In der folgenden Aufstellung V I I I sind die Einnahmen, die in den 13 Bezirken aufgekommen und den betreifenden Landesarbeitsämtern zugeflossen sind, verteilt aufgeführt. Die Einnahmen bestehen in erster Linie aus den Beiträgen; in den Zahlen sind jedoch auch die Anteile der Gemeinden an der Krisenfürsorge, solange sie von den Gemeinden gezahlt wurden, und die bezirklich aufgekommenen Beträge der Abgabe zur Arbeitslosenhilfe, solange diese Abgabe erhoben wurde, enthalten. Es handelt sich dabei um die Aufteilung von rund 10 Milliarden R M . VIII. Landesarbeitsamt

Einnahmen in Millionen RM.

1

2

v. H . der Reichssumme 3

Brandenburg Rheinland Sachsen Westfalen Bayern Mitteldeutschland Südwestdeutschland Nordmark Niedersachesn Hessen Schlesien Pommern Ostpreußen

1622 1296 1041 862 860 785 785 690 590 553 520 191 172

8,7 8,6 7,9 7,9 6,9 5,9 5,6 5,2 i,9 ',7

Deutsches Reich

9967

100,0

16,3 13.0 10,4

Auf 1 Einwohner entfallen Einnahmen in RM. 4 222 154 200 163 112 145 149 169 132 141 110 99 74 151

Die Spalte 3 zeigt die große Verschiedenheit des bezirklichen Aufkommens. Im Landesarbeitsamtsbezirk Brandenburg ist fast das Zehnfache des Betrages von Ostpreußen aufgekommen. Die Spalte 4 soll wiederum zeigen, welche Umlagen auf den Kopf der Einwohner nötig gewesen wären, falls keine Beiträge zur Reichs-

636

Friedrich Syrup

anstalt erhoben wären, aber der gleiche Betrag aus den Bezirken hätte a u f k o m m e n müssen. Ein Vergleich der Ausgaben u n d Einnahmen, wie er in der Übersicht I X vorgenommen ist, zeigt die Höhe der Fehlbeträge, auf den Kopf der Einwohnerschaft der Bezirke bezogen. Nur das Landesarbeitsamt Südwestdeutschland macht eine erfreuliche Ausnahme. IX.

Landesarbeitsamtsbezirk

Auf 1 Einwohner entfielen im Landesarbeitsamtsbezirk Ausgaben in RM.

Einnahmen in RM.

Fehlbetrag (—) Überschuß ( + )

Schlesien Pommern Sachsen Rheinland Hessen Ostpreußen Bayern Mitteldeutschland Westfalen Nordmark . . Niedersachsen Brandenburg Südwestdeutschland

197 165 261 209 196 129 153 183 197 202 161 236 136

154 141 74 112 145 163 169 132 222 i49

— — — — +

Deutsches Reich

19'

151

— 40

110 99 200

-87 — 66 — 61 — 55 — 55 — 55 — 39 -38 34 33 29 14 13

U m den erforderlichen Ausgleich der Ausgaben u n d E i n n a h m e n in den einzelnen Landesarbeitsamtsbezirken herbeizuführen, m u ß t e n von der Hauptstelle allen Landesarbeitsämtern außer Südwestdeutschland, das einen Überschuß von 70,4 Millionen R M . erzielte, erhebliche Mittel aus d e m zentralen Ausgleichsfonds zugeführt werden: Rheinland Schlesien Sachsen Bayern Hessen Mitteldeutschland Westfalen Nordmark Ostpreußen Pommern Brandenburg

440,5 4°7>7 323,5 317,1 215,9 205,8 180,2 136,1 130,0 126,4 98,6

Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen

RM. RM. RM. RM. RM. RM. RM. RM. RM. RM. RM.

Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe

637

X. Jahr

Landesarbeitsamt I

I.

Ostpreußen

[




6'6i

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Vechta

Gütersloh

Korbach

Gummersbach

Stendal

Grimma

Sigmaringen

Memmingen

Memmingen Ol

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Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe

643

ersten Gruppen werden von der Reichsanstalt, die letzte Gruppe von den Gemeinden betreut, denen für ihre Aufwendungen im bestimmten Ausmaße auch Mittel der Reichsanstalt zufließen. Die folgende Übersicht X V I zeigt jedoch, wie diese Betätigung der Gemeinden im Laufe der Wirtschaftsgesundung seit der Machtübernahme immer stärker zurückgehen konnte. XVI. Unterstützte Arbeitslose aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung und Krisenfürsorge

I Januar 1933 Januar

1934

Januar 1935 J a n u a r 1936

2 2 372 1711 I 622 i 536

Anerkannte Wohlfahrtserwerbslose

3 OOO 000 OOO 000

2 3 6 6 000

1 317 000 682 000 3 7 4 000

Während sich im J a n u a r 1933 bei der Machtübernahme die Unterstützungsempfänger der Reichsanstalt und die anerkannten Wohlfahrtserwerbslosen der Gemeinden die Waage hielten, machten die Wohlfahrtserwerbslosen im J a n u a r 1936 rund etwa 19 v. H. der Unterstützungsempfänger aus. VII. T R A G K R A F T DER REICHS ANSTALT Wie bereits ausgeführt wurde, liegt die größte finanzielle Belastung der Reichsanstalt in der Unterstützung der unterstützungsbedürftigen Arbeitslosen. In den folgenden Überlegungen ist von der Gesamtzahl aller Arbeitslosen einschließlich der Notstandsarbeiter ausgegangen, also der unterstützten und der nicht unterstützten Arbeitslosen. Diese umfassende Zahl wird von der Öffentlichkeit am stärksten gewürdigt; sie wird in den monatlichen Berichten der Reichsanstalt am meisten herausgestellt. Die genannte Zahl muß für die Errechnungen der Tragkraft als Jahresdurchschnittszahl angegeben werden. U m die Bedeutung dieser Jahresdurchschnittszahl jedoch zu beleuchten, seien der Jahresdurchschnittszahl die Höchst- und die Mindestzahl zur Seite gestellt. Gehen wir von der Annahme aus, die Gesamtzahl der Arbeitslosen (im Jahresdurchschnitt) könnte zwischen 1,4 und 2,6 Millionen schwanken, so ergibt sich folgendes Bild: 41*

644

Friedrich Syrup

XVII. Lfd. Nr.

Jahresdurchschnittszahl

1

2

3

4

1 2

1400 1600 1800 2000 2200 2400 2600

2065 2200

1065 1300

2365 2535 2700 2900 3070

'5'5 1735 1950 2150 2370

Höchstzahl

Mindestzahl

in Tausend

3 4 5 6 7

Von allen Arbeitslosen wird ein Teil nicht unterstützt. Der Anteil ist prozentual in Zeiten guten Arbeitseinsatzes größer als in Zeiten stärkerer Arbeitslosigkeit. Auf Grund der Erfahrungen läßt sich die Gesamtzahl der Arbeitslosen, wie in folgender Übersicht X V I I I dargestellt, zerlegen: XVIII. Lfd. Nr.

Gesamtzahl der Arbeitslosen

J

2

1 2 3 4 5 6 7

1400 1600 1800 2000 2200 2400 2600

davon unterstützte Arbeitslose

nicht unterstützte Arbeitslose

3 in Tausend 1110 1300 1485 1670 1860 2050 2240

4 290 300 315 33° 340 350 360

(20,7 (18,8 (17,5 (16,5 (15,5 (14,6 (13,8

v. v. v. v. v. v. v.

H.) H.) H.) H.) H.) H.) H.)

Die Klammernzahlen in Spalte 4 geben die Hundertsätze der Nichtunterstützten in bezug auf die Gesamtzahl der Arbeitslosen wieder.

* Die Unterstützung der Arbeitslosen kann in zweifacher Form erfolgen: durch Einschaltung der Arbeitslosen in Notstandsarbeiten und Beteiligung an der Finanzierung dieser Notstandsarbeiten oder durch Barunterstützungen. Aus Gründen einer praktischen Durchführung der Arbeitslosenhilfe kann die Einschaltung eines Teils der Arbeitslosen in Notstandsarbeiten nicht entbehrt werden, schon allein um sich über den Arbeitswillen, die Arbeitsfähigkeit der Arbeitslosen ein zutreffendes Bild machen zu können. Die Mindestzahl der Arbeitslosen, die in Notstandsarbeiten einzuschalten ist, sei mit 10 v. H. angenommen. Die

Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe

645

Aufwendungen der Reichsanstalt für diese Arbeitslosen in Notstandsarbeiten betragen iooo R M . für den Kopf und das J a h r . Selbstverständlich kann auch von den übrigen Arbeitslosen ein großer Teil bei Notstandsarbeiten angesetzt werden, doch sollen die Aufwendungen für diese Notstandsarbeiter die gleichen sein als die Unterstützungsaufwendungen, d. h. 700 R M . für den Kopf und das J a h r . Für die finanziellen Betrachtungen können also diese Notstandsarbeiter und die Unterstützungsempfänger zusammengefaßt werden. XIX. Lfd. Nr.

Unterstützte Arbeitslose

1

2

1 2 3 4 5 6 7

in Tausend 1110 1300 1485 1670 1860 2050 2240

davon Arbeitslose mit Aufwendungen von

Kosten für die Arbeitslosen der

1000 RM.

700 RM.

Spalte 3

Spalte 4

3

4

5

6

in Tausend 111 999 1170 130 1336 149 167 1503 186 1674 1845 205 2016 224

in Millionen RM. 111 699 130 819 149 167 186 205 224

935 1052 1172 1292 1411

insgesamt 7 810 949 1084 1219 1358 1497 1635

Zu diesen Unterstützungslasten treten noch die Kosten für den Arbeitseinsatz, die Arbeitsvermittlung und Berufsberatung, für Reisekosten, Arbeitsausrüstungen, für Umschulungen, für die Unterstützung der Kurzarbeiter und für die allgemeinen Verwaltungskosten. Diese Kosten bilden einen ziemlich konstanten Faktor von rund 200 Millionen R M . Rechnen wir diese Kosten zu den früher aufgezeigten Lasten hinzu, so ergibt sich die Summe der Ausgaben. XX. Lfd. Nr.

Jahresdurchschnittszahl aller Arbeitslosen

Ausgaben der Reichsanstalt

1

2

3

in Tausend 1400 1600 1800 2000 2200 2400 2600

in Millionen RM. IOIO

1 2 3 4 5 6 7

ii49 1284 1419 1558 1697 1835

Friedrich Syrup

646

Ebenso schwankend wie die Ausgaben sind die Einnahmen der Reichsanstalt. Leider ist das Verhältnis derartig, daß mit steigenden Ausgaben die Einnahmen der Reichsanstalt, die in den Beiträgen bestehen, sinken und umgekehrt. Auf Grund der Erfahrungen über die Relation zwischen den Zahlen der Arbeitslosen, der beschäftigten Arbeiter und Angestellten und der Beitragszahler läßt sich die Zahl der Beitragszahler mit ziemlicher Sicherheit schätzen. Gehen wir weiter davon aus, daß jeder Beitragszahler durchschnittlich eine Jahreseinnahme von 120 R M . bedeutet, so ergibt sich folgendes Bild der Einnahmen der Reichsanstalt:

XXI. Jahresdurchschnitt Lfd. Nr.

der Beitragszahler in Tausend

aller Arbeitslosen in Tausend

i

Einnahmen der Reichsanstalt in Millionen RM.

3 1400 1600 1800 2000 2200 2400 2600

i 2 3 4 5 6 7

4

13 100 12 800 12 500 12 200 I I 9OO I I 600 I I 3OO

1572 1536 1500 1464 1428 1392 1356

Stellen wir nunmehr die Einnahmen und Ausgaben gegenüber, so haben wir ein Bild von der finanziellen Tragkraft der Reichsanstalt.

XXII. Jahresdurchchnitt Einnahmen Lfd. Nr. aller Erwerbslosen in Tausend 1 2 3 4 5 6 7

1400 1600 1800 2000 2200 2400 2600

1372 1536 1500 1464 1428 1392 1356

Ausgaben

Überschüsse Fehlbeträge

in Millionen RM. 1010 II49 1284 1419 1558 1697 1835

562 387 216 45 — — —

— — — —

130 3°5 479

Die finanzielle Bedeutung des Arbeitseinsatzes und der Arbeitslosenhilfe

647

Aus der vorstehenden Übersicht ist auch erkennbar, bei welcher Jahresdurchschnittszahl aller Arbeitslosen die Einnahmen und Ausgaben der Reichsanstalt sich die Waage halten. Die Tragkraft der Reichsanstalt liegt bei 2050000 Arbeitslosen. Bei dieser Durchschnittszahl würden die Einnahmen und Ausgaben der Reichsanstalt rund 1455 Millionen R M . betragen. Der Haushalt der Reichsanstalt würde ohne Überschuß und Fehlbetrag völlig ausgeglichen sein.

III. VOLKSWIRTSCHAFT UND WELTWIRTSCHAFT

VOLKSWIRTSCHAFT UND WELTWIRTSCHAFT UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER ROHSTOFFLAGE VON

CONSTANTIN VON DIETZE

I. ZUR ERÖRTERUNG DES VERHÄLTNISSES ZWISCHEN VOLKSwirtschaft und Weltwirtschaft und seiner Zusammenhänge mit der Rohstofflage bieten die jüngsten Auseinandersetzungen über die deutschen Kolonialansprüche besonders geeignete Anknüpfungspunkte. Dem deutschen Verlangen wird, namentlich von britischer Seite, häufig entgegnet, es könne nur politisch, aus einem Streben nach Macht und Ansehen begründet werden. Wirtschaftlich dagegen — so sagt man — versprechen die Kolonien keine Erleichterung, auch nicht in der Rohstoffversorgung. Die jüngste Weltwirtschaftskrise stehe j a geradezu im Zeichen einer Übererzeugung sowohl an mineralischen wie an organischen Rohstoffen; die deutsche Volkswirtschaft könne sich diese also durch Einkauf aus allen Teilen der Welt wohlfeil beschaffen, voraussichtlich billiger als durch den Ausbau der Erzeugung in eigenen Kolonien. — Ehe wir in die Nachprüfung dieser Behauptung eintreten, müssen wir etwas weiter ausholen, um den Boden für die Beweisführung vorzubereiten. Sowohl die Volkswirtschaften wie die Weltwirtschaft sind geschichtlich geworden, ohne von Menschen geplant oder konstruiert zu sein; sie können daher auch nicht willkürlich, nach irgend welchen vor-

652

Constantin

von

Dietze

gefaßten, die Wirklichkeit vernachlässigenden Meinungen abgeschafft oder auseinandergerissen werden. Mit dieser Bewertung halten wir uns frei auf der einen Seite von der Vorstellung geschlossener Handelsstaaten, auf der andern vom Traume eines Universalstaates, also von „den beiden großen Hauptformen alles politischen Unsinns" (Adam Müller). Volkswirtschaft und Weltwirtschaft sind beide für die Existenz unseres Volkes unerläßlich, und sie bedingen sich in ihrem Wesen und in ihrem Gedeihen wechselseitig; auch im Hinblick auf das Wirtschaftsleben ist „die Zivilisation des menschlichen Geschlechtes nur denkbar und möglich vermittels der Zivilisation und Ausbildung der Nationen" (Friedrich List). Eine christliche Sozialphilosophie von der Weltgemeinde und der Weltwirtschaft hat sich im Mittelalter entwickelt. Viel gesprochen und geschrieben wurde dann von Weltwirtschaft im 18. Jahrhundert mit seinen kosmopolitischen Gedanken, die auf die antike Philosophie, namentlich auf die Stoa, zurückgriffen. Doch ist die Weltwirtschaft, die uns beschäftigt, und die unser Ergehen bestimmt, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Ausbildung und Vollendung gelangt, vor allem mit der Erleichterung der Verkehrsverbindungen durch Eisenbahn und Dampfschiff; denn sowohl von Volkswirtschaft wie von Weltwirtschaft in dem heute allein belangvollen Sinne können wir erst sprechen, wenn eine regelmäßige Arbeitsteilung zwischen den Einzelwirtschaften besteht, wenn sich also Verkehr und Güteraustausch nicht nur gelegentlich vollziehen. Die wechselseitige Verflochtenheit und Abhängigkeit umfaßt in der Volkswirtschaft Einzelwirtschaften eines Staatsgebietes, die einer gemeinsamen Rechtsordnung und Währungshoheit unterstehen und unter anderm durch das Vorhandensein eines gemeinsamen Staatshaushaltes miteinander in der Inanspruchnahme ihrer Einkommen, aber auch in ihrer Einkommensbildung verbunden sind. Die Weltwirtschaft besteht dagegen in Beziehungen und Wechselwirkungen, welche über die Staatsgrenzen hinweglaufen. Sie gründet sich auf international anerkannte Rechtssätze und Verkehrsregelungen; diese beruhen auf Staatsverträgen, also nicht auf einem einseitigen, obrigkeitlich erzwingbaren politischen Hoheitsakt. Die Bedeutung der innerstaatlichen wirtschaftlichen Verflochtenheit konnte von der Weltwirtschaft niemals zurückgedrängt werden; auch das Band, mit welchem die öffentlichen Haushalte die Einzelwirtschaften umschließen, ist gerade im Zeitalter des Weltverkehrs mit der Wirksamkeit des „Gesetzes der wachsenden Staatsausgaben" immer fester geworden. Doch die Stärkung des Austausches innerhalb der einzelnen Volkswirtschaften beruhte wiederum

Volkswirtschaft

und

Weltwirtschaft

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zu erheblichen Teilen auf der Verwendung von Rohstoffen und anderen Gütern, welche sie sich aus fremden Ländern zu verschaffen vermochten. In der Zeit der Ausbildung der Weltwirtschaft und weiter bis vor wenigen Jahren bestanden Austauschbeziehungen und vollzogen sich Geschäftsabschlüsse über die Staatsgrenzen hinweg ganz überwiegend zwischen Einzelwirtschaften. Die Redeweise, daß z. B. Deutschland Mais aus Argentinien kauft, war ungenau; in Wirklichkeit meinte man, daß ein deutscher Kaufmann den Mais von einem argentinischen Kaufmann — unmittelbar oder durch Vermittlung von Zwischengliedern — bezieht. Erst neuerdings sind in zahlreichen Volkswirtschaften die Außenhandelsabschlüsse in die Hände staatlich eingerichteter oder bevollmächtigter Körperschaften gelegt worden, womit die Abwicklung der internationalen Verkehrsbeziehungen dem genauen Inhalt der alten Redeweise entspricht. Dadurch ist die Ordnung der Volkswirtschaften wie der Weltwirtschaft in wichtigen Zügen umgestaltet, der Bestand einer erdumspannenden internationalen Arbeitsteilung und eines Weltmarktes jedoch noch nicht aufgehoben worden. Damit ist aber auch die Weltwirtschaft noch eine lebenskräftige Tatsache; die gelegentlich anzutreffende Behauptung, daß wir in der Gegenwart zwar noch einen Weltmarkt, aber keine Weltwirtschaft mehr hätten, engt den Begriff der Weltwirtschaft in unzweckmäßiger und künstlicher Weise auf diejenige Form ein, welche sie im Zeitalter ihrer Entstehung unter der Geltung des Liberalismus angenommen hat. Die bedeutsamsten Voraussetzungen sowohl für die Ausbildung der modernen Volkswirtschaften wie für die Entwicklung der Weltwirtschaft sind, wie bereits aus den vorstehenden Bemerkungen hervorgeht, technischer und politischer Art; sie liegen also sowohl auf materiellen wie auf geistigen Gebieten. Eine regelmäßige Arbeitsteilung zwischen den Einzelwirtschaften einer Volkswirtschaft wurde erst möglich, als die Verkehrsbedingungen der Bewältigung eines ausgedehnten Güteraustausches gewachsen waren. Dies war, solange zur Unterstützung der Menschen bei der Fortbewegung von Lasten nur Tragtiere, Zugtiere und Segelschiffe zur Verfügung standen, nur ausnahmsweise in hinreichendem Umfang möglich. Erst die Nutzbarmachung der Dampfkraft für den Land- und Seeverkehr hat im 19. Jahrhundert eine so plötzliche Verstärkung und Steigerung der Verkehrsleistungen ermöglicht, daß sich eine innige Verflechtung und Durchdringung der wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Staatsgrenzen und über sie hinweg entwickelte. Der Einsatz der Dampfmaschine, des Verbrennungsmotors und der Elektrizität in den gewerblichen Erzeugungs-

654

Constantin von Dietze

Stätten und die vervollkommneten Verfahren der Bodennutzung haben diesen Vorgang bisher mehr unterstützt als beeinträchtigt, zumal die technischen Leistungen der Menschen in den verschiedenen Völkern und Erdteilen keineswegs auf gleicher Höhe stehen. Die Auswirkung der technischen Fortschritte für die Gestaltung der Wirtschaftsbeziehungen bestand in erster Linie darin, daß die Vorteile des Austausches immer stärker wahrgenommen werden konnten. Neben der Technik, die bereits zu ihrer eigenen Entfaltung einer hohen Ausbildung des menschlichen Geistes bedurfte, mußte aber auch die Politik die Voraussetzungen für die Entwicklung nationaler und internationaler Arbeitsteilung darbieten. Die Entstehung der Volkswirtschaften und das Werden der modernen Staaten sind nur zwei verschiedene Seiten des gleichen Vorgangs. Ohne die Sicherungen einer auf Handel und Verkehr abgestimmten Rechtsordnung, ohne entsprechende Regelung des Geldwesens und die Schaffung einer geschulten Verwaltung, die auch einen geordneten Staatshaushalt gewährleistet, ganz allgemein ohne die Einordnung des Lebens und Strebens der einzelnen Wirtschaftsleiter in die Aufgaben und Forderungen einer Gemeinschaft kann es keine leistungsfähige Volkswirtschaft geben. Für die Weltwirtschaft war dagegen Vorbedingung ein gedeihliches Verhältnis der Staaten und ihrer Untertanen zueinander, insbesondere die Bereitwilligkeit, jeder wirtschaftlichen Leistung den Erfolg nicht zu versperren. Eine solche Gesinnung mußte sich auch in der Abfassung und Ausführung der Staatsverträge bekunden. Die unentbehrlichen sittlichen Grundlagen eines derartigen Zustandes können im internationalen Verkehr nicht durch hoheitliches Gebot gefestigt werden, sondern nur aus dem Bewußtsein gemeinsamer Verpflichtungen erwachsen. Trotz mancher politischer Gegensätze und Zusammenstöße hat tatsächlich die Auffassung, daß kein Land vom Elend seiner Nachbarn gewinnen könne, sondern vielmehr deren wirtschaftliches Gedeihen im eigenen Interesse wünschen müsse, lange Zeit hindurch das Handeln der verantwortlichen Staatsmänner beeinflußt. Dem entsprach die Richtung der auswärtigen Wirtschaftspolitik, die dem Güteraustausch — wenn überhaupt — nur durch mäßige Zölle Hindernisse bereitete, den Menschen eine fast unbeschränkte Freizügigkeit und für Kapitalübertragungen völlige Bewegungsfreiheit gewährte. Die völlige Unterbindung des wirtschaftlichen Austausches, die Napoleon I. in der Kontinentalsperre als Druckmittel versucht hatte, wurde vor 1914 auch in Kriegszeiten nur ausnahmsweise angewandt; die englische Auffassung von der Kriegsführung, die in der allgemeinen Anerkennung des Wirtschaftskrieges mit der Vernichtung des feindlichen Außen-

Volkswirtschaft

und

Weltwirtschaft

6 55

handels und der Beschlagnahme der Vermögen von Untertanen feindlicher Staaten gipfelt, ist erst 1 9 1 4 — 1 8 zur Herrschaft gelangt. Vorher hatten die meisten Volkswirtschaften auch die militärische Ausrüstung der Staaten gerade durch kräftige Anteilnahme am Weltverkehr auf die bestmögliche Höhe bringen können. Solange für den Kriegsfall eine völlige Absperrung von den ausländischen Bezugsquellen an Rohstoffen, Nahrungsmitteln und selbst an Kriegsgerät kaum befürchtet zu werden brauchte, war die von nationaler Arbeitsteilung ausgehende Steigerung des Volkseinkommens auch wehrwirtschaftlich zumeist bedeutsamer als die Sicherung der Versorgung aus dem Heimatland; eine Industrialisierung, welche über die Ansprüche des eigenen Landes hinauswuchs, schuf sogar erst die Möglichkeit, um eine sehr hohe Bevölkerungszahl innerhalb der Staatsgrenzen zu halten. Nunmehr können wir die anfangs begonnene Erörterung der Kolonialfrage wieder aufnehmen. In einer Welt gleichberechtigter Staaten, deren Leiter die Lebensansprüche der übrigen achten und den Grundsätzen anständigen Wettbewerbs in einer friedlichen Arbeitsgemeinschaft huldigen, ist die wirtschaftliche Bedeutung der Staatsgrenzen zwar nicht aufgehoben, aber doch stark herabgesetzt. In einer solchen Welt könnte allerdings die Behauptung vertreten werden, daß der Besitz eigener Kolonien für die Rohstoffversorgung nicht unbedingt notwendig sei. Vermag doch unter den genannten Bedingungen jedes Land mit denjenigen Arbeitskräften und Kapitalien, welche es für die Entwicklung der Kolonien einsetzen müßte, auch auf eigenem Boden Güter herzustellen, welche andere Volkswirtschaften ihm abnehmen, und für den Erlös die erforderlichen Rohstoffe oder sonstigen Waren einzukaufen. Häufig wird es dadurch sogar seine Menschen und sachlichen Produktionsmittel lohnender verwenden. Nun haben aber schon in der Vergangenheit die Leiter der Politik es nicht für angezeigt gehalten, die Geschicke ihrer Länder dem Bestände internationaler Arbeitsteilung rückhaltlos anzuvertrauen. Nur kurze Zeit hindurch schien es so, als ob mit einer allgemeinen Ausbreitung des Freihandels auch die Auflösung der im Zeitalter des Merkantilismus begründeten Kolonialreiche einsetzen werde. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts haben jedoch die alten Kolonialreiche zielbewußt eine straffere Zusammenfassung und eine Ausbreitung ihrer Besitzungen zu betreiben begonnen, und unter dem Druck dieser imperialistischen Politik haben andere Staaten es unternommen, noch vor Toresschluß in die Reihe der Kolonialmächte einzutreten. Die Ansprüche und Kämpfe dieser Epoche entsprangen dem Bestreben, die wichtigsten Güter aus Gebieten zu beziehen, welche der eigenen Staatshoheit unterliegen und

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Constantin von Dietze

daher nicht durch fremde Macht oder Willkür der heimischen Volkswirtschaft entzogen werden können. Gewiß haben dabei auch Erwartungen wirtschaftlicher Gewinne mitgesprochen. Entscheidend für den Imperialismus, der die Geschicke der Welt im letzten Menschenalter bestimmte, war aber die Ausdehnung des Herrschaftsbereiches zur Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklung. Solange man den Krieg noch nicht als gleichbedeutend mit einer Unterbindung der wichtigsten Möglichkeiten wirtschaftlichen Austausches ansah, jedenfalls nur auf eine kurze Kriegsdauer gefaßt war, brauchten freilich die beherrschten Gebiete noch nicht so fest in ihren Verbindungen geschützt und so straff wirtschaftlich zusammengefaßt zu werden, um eine etwaige Kriegswirtschaft selbständig tragen zu können. So waren trotz der Ausbreitung des Imperialismus vor 1914 die dem internationalen Warenaustausch durch die Ausbreitung imperialistischer Politik bereiteten Erschwerungen noch wenig spürbar. Der Welthandel hob sich in unerhörten Ausmaßen, 1900—1910 dreimal so stark wie im letzten freihändlerischen Jahrzehnt 1870—1880. Erst der Weltkrieg, den die großen Imperien gemeinsam gegen die Festlandsmächte Mitteleuropas führten, zeigte mit aller Schärfe, wie verderblich die Abschnürung gewohnter Verbindungen für die einzelnen Volkswirtschaften werden kann. Während des Kampfes erhob die Propaganda der Westmächte die Ausbreitung bestimmter innerpolitischer Ordnungen, nämlich die Verwirklichung demokratischer Ideen, zum Kriegsziele, und der Abschluß, welchen sie dem Völkerringen in Versailles gaben, wirkte um so verhängnisvoller, als der Inhalt des Friedensdiktates den angeblich verfochtenen Idealen keineswegs entsprach und der von Sowjetrußland getragenen Propagierung der Weltrevolution einen gefährlichen Nährboden verschaffte. So konnten auch nach dem Abbruch der militärischen Feindseligkeiten und der Aufhebung der Blockade die Beziehungen zwischen den Staaten und Volkswirtschaften nicht wieder gesunden. Nach der Überwindung der ersten Nachkriegswirren, namentlich nach dem Abschluß des Dawes-Abkommens, hat sich zwar zunächst der internationale Kapitalverkehr und Warenaustausch in überraschender Stärke wieder entwickelt, nur die Wanderungen blieben dauernd empfindlichen Beschränkungen unterworfen und haben das frühere Ausmaß niemals wieder erreicht. Der Welthandel betrug 1929 nicht weniger als 177%, nach Abzug der eingetretenen Geldentwertung immer noch 130% des Standes von 1913. Die Versorgung mit den wichtigsten Rohstoffen war dabei infolge erheblicher Fortschritte in der mechanischen, chemischen und organischen Produktionstechnik reichlicher

Volkswirtschaft und Weltwirtschaft

657

und billiger geworden. Die Ende 1929 anhebende Weltwirtschaftskrise wurde durch einen Zusammenbruch der Rohstoffpreise eingeleitet. Damit war das Bemühen der für das Diktat von Versailles verantwortlichen Imperien, durch die Beherrschung aller wichtigen Rohstoffquellen sich alle Völker der Welt dienstbar zu machen, um seine Früchte gebracht worden. Etwa gleichzeitig stellte sich die Unsinnigkeit der Tributverpflichtungen heraus, welche den Unterlegenen unter Bruch des Vorfriedens in unerschwinglicher Höhe auferlegt worden waren. Die Weltwirtschaftskonferenz von 1927 glaubte noch, durch die Empfehlung freihändlerischer Grundsätze eine allgemeine, anhaltende Gesundung der Wirtschaftslage herbeiführen zu können. Als aber nach 1929 die Volkswirtschaften fast ausnahmslos in erhebliche Schwierigkeiten gerieten, zeigte sich in aller Deutlichkeit, wie weit man sich von den politischen Auffassungen und den sittlichen Grundsätzen entfernt hatte, welche die Ausbildung einer Weltwirtschaft erst ermöglicht hatten. Jetzt wollte jeder verkaufen, ohne selbst zu kaufen, und man verlangte die Begleichung bestehender Zahlungsverpflichtungen, verweigerte aber gleichzeitig die Einfuhr von Waren. Schließlich sind die Möglichkeiten internationalen Güteraustausches durch neuartige, die Schutzzölle in ihrer Wirkung wesentlich übertreffende Einfuhrerschwerungen (Kontingente, Monopole, Verbote) erheblich eingeengt, ausgedehnte Kapitalübertragungen durch die Ausbreitung der Devisenbewirtschaftung in vielen Fällen fast unmöglich gemacht worden. Dies alles entsprang der inneren Unsicherheit, von welcher die weltbeherrschenden Mächte erfüllt waren. J e mehr sie empfanden, daß bei den geknebelten Völkern eine Revolutionierung der Geister einsetzte, und daß auch in ihren eigenen Staaten infolge tiefer Enttäuschung Unzufriedenheit und Unrast einzogen, um so ängstlicher vereitelten sie die Durchführung der vertraglich übernommenen Abrüstungsverpflichtungen und suchten von ihren Grenzen fremden Wettbewerb fernzuhalten. Den Wünschen der Interessenten im eigenen Lande konnten sich die Politiker, selbst wenn sie es wünschten, nicht widersetzen, und außerdem waren sie darauf bedacht, sich auf die Möglichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen vorzubereiten. Das bedeutete aber eine empfindliche Beeinträchtigung der weltwirtschaftlichen Beziehungen; denn man hatte j a erlebt, daß ein Krieg auch mit allen wirtschaftlichen Mitteln geführt wird, und daß er erst gewonnen werden kann, wenn bei den Gegnern die innere Ordnung zusammenbricht. Wie ist es unter diesen Umständen einem rohstoffarmen Lande, das keine bedeutenden Auslandsguthaben mehr besitzt, möglich, die be42

Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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nötigten Rohstoffe einzukaufen? Die Grundlage könnte doch nur die Warenausfuhr bieten, welche die erforderlichen Devisen beschafft. Wenn dieser Warenausfuhr aber unüberwindliche Hindernisse von fremden Staaten bereitet werden? Dann kann eben nur die Erzeugung im eigenen Staatsgebiet und Währungsbereich helfen, der Ausbau der heimischen Produktivkräfte des Mutterlandes oder der Erwerb von Kolonien. Für die deutschen Kolonialansprüche sind Gründe der Politik und des nationalen Ansehens gewiß nicht gleichgültig, und es liegt uns völlig fern, diese gering einschätzen zu wollen. In der heutigen Welt sind aber auch wirtschaftlich die Möglichkeiten, die eigene Volkswirtschaft durch koloniale Betätigung auszuweiten, von unersetzlicher Bedeutung. Manche Rohstoffe können aus klimatischen oder sonstigen natürlichen Gründen daheim nicht gewonnen werden, und man muß j a nicht nur ständig auf den Ausbruch von Wirtschaftskriegen gefaßt sein, sogar im sogenannten Frieden werden die Grenzen verrammelt und wird dadurch den rohstoffbedürftigen Ländern die Beschaffung von Zahlungsmitteln für den Einkauf fremder Erzeugnisse bis zur Unmöglichkeit erschwert. Was nützt eine Berechnung, welche etwa besagen würde, daß die Erzeugung einer bestimmten Rohstoffeinheit in der eigenen Kolonie 100 R M . kosten, für ihren Einkauf im Auslande aber nur £ 4 auszugeben wären, wenn die Warenausfuhr nicht gesteigert werden kann und infolgedessen fremde Zahlungsmittel in Höhe von £ 4 überhaupt nicht beschafft werden können! Beim Versagen der Weltwirtschaft kann nur die Erzeugung im Bereiche der eigenen Volkswirtschaft den unentbehrlichen Bedarf sicherstellen. Das würde dann freilich die Möglichkeiten einer Weltwirtschaft noch mehr beeinträchtigen. Wir sind nun zwar, wie die später noch anzuführenden Ziffern des Außenhandels zeigen, noch nicht genötigt, gerade im Hinblick auf die wirtschaftliche Seite der Rohstoffversorgung bereits von einem völligen Versagen der Weltwirtschaft zu sprechen. Was haben wir aber für die Zukunft zu erwarten? Zur Beantwortung dieser Frage werden wir gut tun, davon auszugehen, wie sich die Rohstoffversorgung in der Weltwirtschaft der Vergangenheit gestaltet hat. II. Einen lebhaften Austausch von notwendigen Massengütern, namentlich auch von Nahrungsmitteln und Rohstoffen, hat es Jahrhunderte hindurch im Römerreich gegeben. Zwischenstaatlich hat er sich dann nach der Kolonisation Ostdeutschlands entwickelt, welche die Ostsee-

Volkswirtschaft

und

Weltwirtschaft

659

länder für ein halbes Jahrtausend zum wichtigsten Ausfuhrgebiet für Getreide, Holz und Wolle machte. Die überseeische Kolonisation hat zunächst noch keinen Verkehr mit Massengütern hervorgerufen, sondern neben Edelmetallen hauptsächlich Genußmittel, zu denen damals auch noch der Zucker gehörte, und Drogen nach Europa geliefert. Erst mit dem Ausbau der angelsächsischen Kolonien wurde dies anders; die in ihren Siedlungen und Pflanzstätten erzeugten Rohstoffüberschüsse sind eine wichtige Grundlage für die Ausbildung der neuzeitlichen Weltwirtschaft geworden. Man hat nicht ganz mit Unrecht gesagt 1 ), daß die Baumwolle, welche von den amerikanischen Plantagen nach England kam ( 1 7 8 1 : 1 3 0 0 0 Ballen, 1820: 5 7 2 0 0 0 Ballen, 1860: 3,36 Millionen Ballen), den Ansporn für die Mechanisierung der Webtechnik bot und damit einen der stärksten Anstöße für die industrialistische Epoche bedeutete. Tatsächlich ist dieser Entwicklung die Ausbildung der Technik in Europa — damals unter klarer englischer Führung — entgegengekommen; in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden die ersten Kokshochöfen errichtet, und im Puddelverfahren wurde der Koks für die Herstellung von Schmiedeeisen und Stahl nutzbar gemacht. Der Einsatz der Dampfmaschine in den verschiedenen Erzeugungsstätten und im Verkehrswesen hat dann die Gewinnung und Verwendung der Rohstoffe, darunter auch der chemischen, in dem Maße gesteigert, welches zur Vollendung der Weltwirtschaft erforderlich war. Jetzt konnte die pflanzliche Erzeugung auf bisher kaum genutzte Böden ausgedehnt werden; noch wirkungsvoller war die Ausweitung des Abbaus mineralischer Stoffe. Von ihnen wurden die altbekannten in wesentlich gesteigerten Mengen erzeugt, sowohl in den bisherigen wie auch in neuen, nunmehr erst entdeckten oder durch den Verkehr zugänglich gewordenen Gebieten des Bergbaus. So wurde die Abhängigkeit der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung von den organischen, dem Pflanzen- und Tierreich entstammenden Stoffen verringert; an ihre Stelle traten in starkem Ausmaße die der leblosen Natur entnommenen Mineralien. Vor allem wurde das Holz in seinen zahlreichen Verwendungsarten durch Eisen und Kohle ersetzt. Da diese nur an bestimmten Stellen der Erdoberfläche vorkommen, entwickelte sich mit ihnen und ihren Erzeugnissen ein weltumspannender Verkehr, und ihre vermehrte Verwendung ermöglichte wiederum die Leistungssteigerung der Verkehrsmittel. Mit deren Hilfe konnten nun die in Europa beheimateten oder schon lange eingebürgerten Pflanzen und Tiere in die gemäßigten A . Reichwein, Die Rohstoffwirtschaft der Erde. J e n a 1928. 42»

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Zonen der übrigen Erdteile eindringen. Vor allem wanderte der Getreidebau nach Nord- und Südamerika, Osteuropa und Australien; für die Ölfrüchte und Ölsaaten traten die Ernten der Tropen und Subtropen immer mehr in den Vordergrund und überflügelten die alten europäischen Erzeugnisse (Raps, Leinsaat, Oliven). Die Fettversorgung fand durch den Walfang auch in der Arktis und Antarktis geeignete Beschaffungsgebiete. Die Belieferung mit Wolle, Häuten und Fellen wurde in starkem Ausmaße von den Ländern der südlichen Halbkugel übernommen. Die Vervollkommnung der Kühltechnik gestattete seit der Jahrhundertwende, von dort auch Fleisch und Molkereiwären nach den Industriegebieten zu verschicken. Die Tropen konnten außer wichtigen und geradezu unentbehrlich gewordenen Genuß- und Nahrungsmitteln (Kaffee, Tee, Kakao, Zucker) auch Qualitätshölzer und als wichtigen neuen Rohstoff den Kautschuk für die ganze Welt darbieten, der in Verbindung mit den Erdölvorkommen Amerikas und Vorderasiens die Grundlage für die Entwicklung der Kraftfahrzeuge lieferte. Dabei erhöhten zwar die Stätten der Industriezusammenballung in Westeuropa und Nordamerika die Gewinnung der in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft vorkommenden Rohstoffe beträchtlich, waren aber gleichzeitig darauf angewiesen, für den Ausbau ihrer Erzeugung auch fremde Mineralien in wachsendem Maße heranzuziehen. Wenn auch dem Werte nach der Verkehr zwischen den Industrieländern sich noch stärker entwickelte als ihre Einfuhren aus den Staaten überwiegender Agrar- oder Rohstofferzeugung, so waren hieran doch, selbst unmittelbar, die Rohstoffe und halbfertigen Waren mit nicht geringen Beträgen beteiligt, und im gesamten Welthandel spielte sich das Verhältnis ein, daß er sich — gleichfalls dem Werte nach — zu reichlich ein Drittel aus Fertigwaren, in etwa gleicher Höhe aus Rohstoffen und Halbzeug und zu etwas mehr als ein Viertel aus Lebensmitteln zusammensetzte. Die Zerreißung der bisherigen Wirtschaftsbeziehungen im Welt-' kriege ist nach dem Dawes-Abkommen überraschend schnell wieder vergessen worden. In den Jahren 1925—1929 hob sich ständig die Ausfuhr von Rohstoffen im gesamten internationalen Handelsverkehr von 1 1 1 % auf 144% des Vorkriegsstandes (unter Ausschaltung der Veränderung des Geldwertes). Noch stärker war aber ihre Erzeugung gestiegen, nämlich von 1 3 2 % auf 163%. Die Ausfuhrquote war demnach gesunken und betrug im Vergleich zu 1913 nur noch etwa 88 % . Die alten Industriestaaten hatten ihre eigene Rohstoffversorgung zu V g l . den Bericht des deutschen Enquete-Ausschusses: D e r deutsche A u ß e n handel unter der Einwirkung weltwirtschaftlicher Strukturwandlungen, Berlin 1 9 3 2 .

Volkswirtschaft und Weltwirtschaft

661

erweitern verstanden, und in den Ländern überwiegender Rohstoffausfuhr hatte man einige Verarbeitungsindustrien neu angesiedelt. Trotzdem blieb die absolute Höhe der Rohstoffausfuhren im Steigen; davon gingen über 70% in die Industrieländer, von denen kein einziges sich selbst mit allen benötigten Rohstoffen zu versorgen in der Lage war. In der Zusammensetzung des Rohstoffverkehrs zeigten sich einige bemerkenswerte Verschiebungen. Namentlich die für die Entfaltung der Elektrizitätswirtschaft und der Motorenverwendung benötigten Rohstoffe traten stärker in den Vordergrund: Kautschuk, Erdöl, Kupfer, Aluminium, dazu Papiermasse. In Industrieeuropa, welches nur die beiden letztgenannten Rohstoffe selbst zu erzeugen vermag, übertraf die Einfuhr in dieser Gruppe 1928 den Stand von 1 9 1 3 um 81 %. Dagegen war der Bedarf an Bekleidungsrohstoffen (Wolle, Baumwolle, Seide, Jute, Felle, Häute) um 1 7 % zurückgegangen, bei den sonstigen Rohstoffen war die Einfuhrsteigerung mit 3 % nur gering, sodaß sich im ganzen für Industrieeuropa auch nur eine Vermehrung der Rohstoffzufuhren um 4 % ergab. Hier ist die Technik mit besonders spürbarem Erfolge nutzbar gemacht worden, um die eingeführten Rohstoffe besser auszuwerten, die selbst gewonnenen Rohstoffe durch neuartige Verwendungsweisen und Kombinationen zum Teil an ihre Stelle zu setzen, das Altmaterial stärker heranzuziehen und einige wichtige Produkte, so insbesondere Stickstoff und Benzol, auf synthetischem Wege zu gewinnen. Doch haben diese technischen Leistungen nicht ausgereicht, um den Gesamtbedarf Europas an Rohstoffen herabzudrücken. Ähnlich wie für das gesamte Industrieeuropa war in jener Zeit hinsichtlich der Rohstoffversorgung die Lage Deutschlands, das allerdings noch für den Verlust wichtiger Mineralvorkommen, namentlich in Lothringen und Oberschlesien, Ersatz schaffen mußte. Seine Einfuhren lagen 1927/29 bei Mineralölen, Eisenerzen, Buntmetallen, Phosphaten und Holz erheblich höher, bei Nicht-Eisenerzen, Bekleidungsrohstoffen und Gerbstoffen etwas niedriger als 1 9 1 1 / i3. Nur beim Stickstoff hatte die Gewinnung aus der Luft es ermöglicht, an Stelle eines Einfuhrbedarfs der Vorkriegszeit eine sehr beträchtliche Ausfuhr treten zu lassen. III. In der Krise nach 1929 ist der gesamte Welthandel dem Werte nach bis 1932 auf 3 9 % (1929 = 100) zusammengeschrumpft; der Rück1

) V g l . die Angaben in den Vierteljahrsheften zur Konjunkturforschung, nament-

lich 1936, Heft 1, T e i l A , und die damit fast genau übereinstimmenden Ergebnisse der vom Völkerbund alljährlich herausgegebenen R e v i e w of World T r a d e .

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gang setzte sich bis 1934 (33,9%) fort und hat erst 1935 (34,6%) einem leichten Wiederanstieg Platz gemacht. Die im Welthandel umgesetzten Mengen sind allerdings erheblich weniger zurückgegangen, nämlich bis 1932 auf 74,5%, und seitdem ist ein ständiger Wiederanstieg bis auf 8 2 % (1935) zu verzeichnen. Schon diese Zahlen lehren, daß die Weltwirtschaft keineswegs der Vergangenheit angehört. Für unsere Betrachtung ist nicht weniger bedeutsam die Unterscheidung nach den großen Warengruppen. Am krassesten war der Absturz in den umgesetzten Mengen bei den Fertigwaren (1932 : 5 8 % von 1929), bei denen andererseits die Preise mit 64% verhältnismäßig fest gehalten worden waren. Bei den Lebensmitteln war der Preissturz mit 5 2 % erheblich schärfer; am heftigsten traf er die Rohstoffe und Halbwaren mit 44%. Dafür hielten vor allem die Lebensmittel mit 90,5%, aber auch die Rohstoffe und Halbwaren mit 82 % sich günstig hinsichtlich der umgesetzten Mengen. Wenn in den Jahren 1933—35 der Welthandel den Mengen nach ständig bis auf 8 2 % des Höchststandes von 1929 stieg, so erreichte er damit wieder annähernd die Friedenshöhe. Die Werte gingen infolge des anhaltenden Rückgangs der Preise (bei Lebensmitteln auf 40%, Rohstoffen und Halbwaren auf 30 %, Fertigwaren auf 48 %) noch auf die oben genannte Zahl von 34,6% herunter. Doch haben die Mengen im internationalen Verkehr mit Rohstoffen und Halbwaren von 1932 bis 35 ununterbrochen sich wieder gehoben und zwar von 82 auf 93,5 %, bei den Fertigwaren von 58 auf 68,5%. Die Gruppe der Rohstoffe und Halbwaren hat sich also auch in der Weltwirtschaftskrise verhältnismäßig am günstigsten gehalten und sich schließlich dem J a h r e des stärksten Außenhandels wieder am meisten angenähert. Deutschland hat, wie die nachfolgende Tabelle zeigt, selbst in den Jahren des stärksten Einfuhrrückgangs ( 1 9 3 1 — 3 3 ) den Bezug wichtiger ausländischer Rohstoffe nur bei Erzen, Holz und Bekleidungsrohstoffen wesentlich unter den Stand der Vorkriegszeit ( 1 9 1 1 — 1 3 ) sinken lassen. In den J a h r e n 1934 und 1935 sind die Einfuhren Deutschlands an den hier aufgeführten Rohstoffen nur bei Ölfrüchten, deren Verwendung seit 1933 bewußt zurückgedrängt wurde, merklich zurückgegangen. Alle übrigen Gruppen haben wieder kräftig zugenommen und bei Mineralölen, Kautschuk, Nichteisenerzen und Papierholz sogar die Zahlen von 1927—29 überschritten. Trotzdem wäre die Behauptung, daß von der ökonomisch-technischen Seite der Rohstoffversorgung her die Weltwirtschaft den Stand und die charakteristische Aufwärtsbewegung der J a h r e vor 1930 oder auch nur vor 1 9 1 4 wieder für die Dauer zu erreichen strebe, nicht un-

Volkswirtschaft und

Weltwirtschaft

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E i n f u h r ü b e r s c h ü s s e des D e u t s c h e n R e i c h e s an w i c h t i g e n in iooo t

Eisenerze Nichteisenerze . . . . Buntmetalle Phosphate Mineralöle Ölfrüchte und Ölsaaten, T r a n 2 ) . . Textilrohstoffe Felle und H ä u t e . . Gerbstoffe Bau- u. Nutzholz . . Papierholz Harze, Kautschuk u. dergl 2

1911/13

1927/29

9 820,0 2923,1 235,7 515,8 1 277,0

15 898,7

5!7,o 954,9 164,1 280,6 5 981,8 1 004,5

830,2 812,8 129,2 !59,6 5 190,3 2 213,0

436,7 104,7 127,1 2 213,9 2 111,0

H9,9

124,5

113,2

2 865,3

499,0

1 685,3 1 995,7

1930

I

93I/33

13814,1 4 999,5 2 715,3') 1 585,7 294,0 250,7 1693,6 1 461,7 3088,1 2 452,4

882,1

Rohstoffen

1934

!935

8 183,8

14042,7

2 55i,5 358,1

3 291,3

1806,7

367,7 1 321,6

2 920,3

3 478,1

835,1 674,8 108,7

8i3,9 732,9

127,5 558,4 1 7IO,3

169,6 2 140,1

3 018,0

643,5 750,4 140,4 188,0 2 732,3 2811,3

105,8

153,7

146,3

i57,o

Nicht völlig vergleichbar; die entsprechende Zahl für 1927/29 beträgt 2412,7. ) Ölfrüchte und Ölsaaten nach Ölwert, nur Einfuhr.

eingeschränkt zu verteidigen. Noch weniger fest begründet wäre — selbst abgesehen von den Schwierigkeiten der politischen Lage — die Meinung, daß einer einzelnen Volkswirtschaft, wie der unseren, die Notwendigkeiten des Rohstoffbezuges aus fremden Ländern und Erdteilen den Zwang auferlegen, sich in jeder Hinsicht gleich stark wie in der Vergangenheit in die Weltwirtschaft einzugliedern. Wir haben bereits in den vorausgegangenen Betrachtungen gesehen, daß die neuere Entwicklung der Technik es auf manchen Gebieten gestattet hat, die eigene Rohstoffgrundlage zu erweitern oder die aus der Fremde eingeführten Rohstoffe besser auszunutzen, um so einer wachsenden Abhängigkeit von den ausländischen Bezugsquellen entgegenzuwirken. Jede technische Vervollkommnung bedeutet ja, gerade in Bergbau, Verkehr und Industrie, einen Schritt zur Überwindung der naturgegebenen Bedingungen. Hat die technische Entwicklung des 19. Jahrhunderts es in erster Linie ermöglicht, durch die Ausgestaltung des Verkehrswesens die Fundstätten und Böden der ganzen Welt für die eigene Volkswirtschaft heranzuziehen, so ist schon in den vergangenen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Verbesserung und Vermehrung der Erzeugung aus der eigenen Volkswirtschaft noch stärker als früher hervorgetreten. Eine völlige Überwindung aller natürlichen Erzeugungsschranken ist durch den Ausbau der Technik freilich auch in dem fleißigsten und best geschulten, mit Erfindergeist reichlich ausgestatteten

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Volke nicht denkbar. Doch sind gerade in den letzten Jahren auf einigen Gebieten (Kautschuk, Faserstoffe, Treibstoffe) sehr bemerkenswerte und vor gar nicht langer Zeit noch als unmöglich angesehene Erfolge erzielt worden. Seit zwei Jahrzehnten hat unsere chemische Industrie, als sie die Gewinnung des Stickstoffs aus der Luft unter Zuhilfenahme heimischer Rohstoffe erreichte, uns von der Einfuhr von Chilesalpeter unabhängig gemacht und sogar beträchtliche Mengen für die Ausfuhr bereit gestellt. Ein ähnlich durchschlagender Erfolg technischer Leistung ist auf dem Gebiet der organischen Erzeugung bereits vor 100 Jahren erzielt worden, als die Einbürgerung des Zuckerrübenbaus mit der Züchtung stark zuckerhaltiger Pflanzen und den Verbesserungen der Zuckergewinnung uns in den Stand setzte, dem Rohrzucker der Tropen zu entsagen und zeitweilig sogar mehr als das Doppelte des eigenen Bedarfs an diesem wichtigen Lebensmittel unseren Äckern abzugewinnen. Der deutsche Vierjahresplan, welchen der Führer 1936 in Nürnberg verkündete, berücksichtigt sowohl die außenpolitisch bedingten Erschwerungen der bisherigen Weltwirtschaft als auch die gesteigerten Möglichkeiten, ihnen mit den Mitteln der Technik in einer leistungsfähigen innerpolitischen Ordnung zu begegnen. Zwar sind in der Vergangenheit immer nur gelegentlich auf Teilgebieten durch technische Fortschritte ausländische Rohstoffe entbehrlich geworden. Mit dem Anwachsen der Bevölkerung und der Verbesserung ihrer Lebenshaltung ist daneben für die Rohstoffversorgung im ganzen der Rückgriff auf die Weltwirtschaft unverändert, j a durch längere Zeiträume sogar in dauernder Steigerung notwendig geblieben. Doch können für die Zukunft stärkere Erfolge für den Ausbau der heimischen Rohstoffgrundlagen erwartet werden, zumal wenn der Bildung des deutschen Geistes, ohne den j a auch alle früheren technischen Leistungen unvorstellbar wären, mit allem Verantwortungsbewußtsein die rechte Beachtung geschenkt wird. Nicht vorstellbar ist freilich eine Loslösung der deutschen Volkswirtschaft aus allen internationalen Rohstoffmärkten. Diese ist auch keineswegs beabsichtigt. Damit bleibt aber die Notwendigkeit bestehen, deutsche Waren in hinreichenden Mengen im Auslande abzusetzen, um so die erforderlichen Gegenwerte für den Bezug der in der Heimat nicht herstellbaren oder nicht ersetzbaren Rohstoffe zu liefern. Diese Waren müssen in ihrer Zusammensetzung und Güte den Ansprüchen und Geschmacksrichtungen entsprechen, welche außerhalb unserer Grenzen herrschen und von uns kaum beeinflußt werden können. Auch darin liegen gewisse Grenzen für die Möglichkeit der Ausschaltung ausländischer Materialien.

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So bietet der Blick auf die technischen Entwicklungsmöglichkeiten zwar Aussichten auf eine teilweise Zurückdrängung der weltwirtschaftlichen Verflechtungen, aber gerade im Verkehr mit Rohstoffen doch keineswegs auf ihre völlige Beseitigung, sofern den Völkern eine unveränderte oder verbesserte Erfüllung ihrer Verbrauchsansprüche gewährt werden soll. Selbst der Erwerb wertvoller Kolonien, so unentbehrlich sie für die Erleichterung unserer Rohstofflage sind, kann uns doch keinesfalls in eine bessere Lage versetzen, als sie Frankreich oder das Britische Weltreich aufweisen, die doch auch noch einen sehr erheblichen Anteil der benötigten Rohstoffe aus fremden Staatsgebieten beziehen müssen. Von der ökonomisch-technischen Seite her besteht damit wohl Anlaß, Verlagerungen und auch einige Einschränkungen im internationalen Rohstoffverkehr zu erwarten, aber damit wird die Notwendigkeit nicht aufgehoben, die eigene Volkswirtschaft durch die Teilnahme an der Weltwirtschaft zu ergänzen und erst voll leistungsfähig zu machen. IV. Nun beruht aber die Weltwirtschaft in ihrer bisherigen Entwicklung und mit ihren Zukunftsaussichten keinesfalls ausschließlich auf technisch-ökonomischen Grundlagen. Wir sahen bereits in anderem Zusammenhang, daß für ihren Bestand politische und sittliche Voraussetzungen unentbehrlich sind. Wir haben also zu prüfen, ob und in welchem Maße das Verhalten der Menschen, Völker und Staaten zueinander solchen Anforderungen entspricht. U m d i e damit aufgeworfene Frage beantworten zu können, müssen wir uns darüber klar zu werden versuchen, welche Wandlungen die Organisation des Rohstoffverkehrs in der Welt zur Zeit durchmacht. Wir werden uns dabei nicht auf Rohstoffe in einem eng begrenzten Sinne beschränken dürfen, sondern wollen sowohl die pflanzliche wie die mineralische Erzeugung zu überblicken versuchen. Bekanntlich ist in der Schwerindustrie einschließlich des mit ihr häufig eng verbundenen Bergbaus der freie Wettbewerb bei Einzelunternehmungen am frühesten und gründlichsten aufgegeben worden. Seit etwa 50 J a h r e n wird gerade die Erzeugung der mineralischen Rohstoffe und Halbwaren von Kartellen beherrscht. Diese haben auch in die äußeren Wirtschaftsbeziehungen durch ihre Preispolitik, die Regelung der Erzeugung und Abkommen über die Absatzgebiete neue Züge hineingetragen. In der Nachkriegszeit sind besonders internationale Kartelle zu wachsender Bedeutung gelangt, um die politische Zer-

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reißung wichtiger Wirtschaftsgebiete wenigstens teilweise auszugleichen und auch den Auswirkungen der zahlreichen Geldentwertungen entgegenzutreten. Es ist freilich nicht möglich, ihre Tätigkeit in allen Einzelheiten zu übersehen, da verständlicherweise die Öffentlichkeit hierüber nicht immer genau unterrichtet wird. Eine neuere Untersuchung 1 ) zählt, ohne vollständig sein zu wollen, nicht weniger als 127 internationale Kartelle auf, von denen 44 seit 1930 und 51 in den Jahren 1925—29 gegründet worden sind. Von ihnen haben natürlich nicht alle weitreichende Wirksamkeit erlangt oder bewahrt, auch liegt die Zahl nicht viel höher als die Ergebnisse von Schätzungen aus der letzten Vorkriegszeit. Aber die Zahl der Abmachungen besagt j a wenig, und der Hinweis auf die für Stickstoff, Stahl, Eisen, Zinn und Erdöl getroffenen Regelungen genügt, um die Bedeutung solcher Zusammenschlüsse und ihren zunehmenden Einfluß zu kennzeichnen, namentlich für die mineralischen Rohstoffe. Bei ihnen liegt das Schwergewicht dieser Entwicklung; auch die vom Völkerbund 1930 veröffentlichte Denkschrift über Internationale Industriekartelle brachte ganz überwiegend Angaben aus der Rohstoffwirtschaft. Für die landwirtschaftliche Erzeugung 2) sind bereits in der Vorkriegszeit Versuche gemacht worden, nach dem Beispiel der Schwerindustrie Kartelle zu bilden und womöglich Monopolstellungen zu schaffen. Damals waren diesen Bemühungen aber keine weitreichenden Erfolge beschieden. Sie fanden zwar Unterstützung bei einigen Staaten, doch ging man nirgends so weit, einen zwangsweisen Zusammenschluß der landwirtschaftlichen Erzeuger zu Kartellen oder Syndikaten durchzuführen. Die Entwicklung der Absatzgenossenschaften mußte sich infolgedessen auch hauptsächlich darauf beschränken, dem privaten Handel einen leistungsfähigen Wettbewerb an die Seite zu stellen. Nur wo in Ausfuhrländern — wie in Dänemark — Qualitätskontrollen für den Export vorgeschrieben wurden, bestand ein mittelbarer Zwang für die Erzeuger, sich den Genossenschaften anzuschließen. Die bei der Kriegsernährungswirtschaft befolgte Politik der Preisfestsetzungen und der Beschlagnahme wichtiger Lebensmittel zugunsten von Staatsmonopolen und Zwangssyndikaten hat nur vereinzelt längeren Bestand gehabt, so bei den Getreidemonopolen der Schweiz und Norwegens. In den angelsächsischen Überseeländern 1

) V g l . F . Werr, Internationale Wirtschaftszusammenschlüsse und Staat als V e r -

tragspartner. 2

Berlin

1936.

) V g l . den ausführlichen Bericht, welchen der Verfasser für die letzte T a g u n g der

Internationalen Konferenz für Agrarwissenschaft geliefert hat: Weltagrarkrise.

Berlin 1 9 3 6 .

Preispolitik in der

Volkswirtschaft

und

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sind aber ihre mittelbaren Fortwirkungen zum Teil bedeutungsvoll geworden. Nach dem großen Preissturz von 1921 haben Australien, Neuseeland und Südafrika unter Zuhilfenahme staatlichen Zwangs, K a n a d a auf freiwilliger Grundlage, Kartelle und Syndikate für den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse geschaffen. Allgemein sind ferner in den Nachkriegsjahren die Absatzgenossenschaften und die Qualitätskontrollen bei Ausfuhrwaren unter staatlicher Mitwirkung stärker ausgebaut worden. In einigen Staaten führte man offene Ausfuhrprämien ein. Brasilien hat für Kaffee, J a p a n für Seide und Reis die schon in der Vorkriegszeit unternommenen Valorisationen neu aufgenommen. Die Einfuhrländer haben sich dagegen fast durchweg— wie vor 1 9 1 4 — mit Schutzzöllen begnügt, die j a dem Wesen einer freien Verkehrswirtschaft nicht entgegenstehen. Kartellartige Regelungen lassen sich vor 1929 nur in einigen Zweigen der Verarbeitungsindustrien und bei wenig transportfähigen Erzeugnissen (Frischmilch, Zuckerrüben, Gemüse) anführen. In der Weltagrarkrise seit 1929 haben zunächst wiederum die überseeischen Ausfuhrländer neben der allgemeinen Einführung von Ausfuhrprämien die Bildung von Zwangskartellen, Zwangssyndikaten und Staatsmonopolen weiter vorangetrieben. Seit 1933 wird in den Vereinigten Staaten unter staatlicher Lenkung darauf hingearbeitet, die landwirtschaftliche Erzeugung dem Bedarf anzupassen, um den Farmern einen angemessenen Teil am Volkseinkommen zu verschaffen. Besondere Erzeugerorganisationen und Marktverbände wurden errichtet, wobei die Farmer zum Anschluß zwar nicht durch gesetzlichen Zwang, wohl aber durch erhebliche wirtschaftliche Vorteile veranlaßt wurden. In den Agrarländern des Donauraums konnten die weitreichenden Pläne zur Sicherung einer lohnenden Getreideausfuhr durch Syndikate, Stützungskäufe und Staatsmonopole infolge der Kapitalarmut und geringen Finanzkraft nicht vollständig durchgeführt werden. Stark ausgedehnt wurden — ebenso wie in den baltischen Ländern und in Polen — die Ausfuhrprämien. Jedenfalls hat die Überwachung der Ausfuhren und ihre Zusammenfassung in staatlich geleiteten oder privilegierten Gesellschaften in allen zwischeneuropäischen Staaten starke Fortschritte gemacht. Von den Ländern mit starker Ausfuhr an Veredelungserzeugnissen hat namentlich Holland durch straffe Kontingentierung der Viehhaltung und Regelung der Anbauflächen ein umfassendes System zur staatlichen Lenkung der Erzeugung und des Absatzes geschaffen. Auch der irische Freistaat hat, um die Abhängigkeit vom britischen Markt

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zu verringern, ähnliche Wege beschritten. Dagegen sind Dänemark und die skandinavischen Länder weniger weit gegangen. Ihre Politik ist noch von dem Willen beherrscht, den freien Wettbewerb nach Möglichkeit zu erhalten. Sie bedient sich namentlich des hochstehenden Genossenschaftswesens, hat aber auch an einigen Stellen zwangsweisen Zusammenschluß der Erzeuger angeordnet. V o n den Einfuhrländern hat das Deutsche Reich seit 1933 dem Reichsnährstand die Aufgabe gestellt, gerechte und möglichst feste Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu sichern und dabei sowohl die Lage der Erzeuger wie der Verbraucher zu berücksichtigen. Die hierfür aufgebaute Absatz'organisation besteht der Form nach in Zwangskartellen und Zwangssyndikaten. Diese lehnen aber unmittelbare Eingriffe in die Erzeugung grundsätzlich ab, legen vielmehr meist nur die Preise und Absatzbedingungen fest. In der Tschechoslowakei ist dagegen deutlich das Bestreben erkennbar, nicht nur den Absatz in Getreidemonopol und Viehsyndikat zusammenzufassen, sondern die gesamte landwirtschaftliche Erzeugung einheitlich zu lenken; dies geschieht bereits in Vorschriften über die Anbauflächen und in der Kontingentierung der Schweinehaltung. Die Bauernpolitik der Schweiz verfolgt neben der aus dem Kriege übernommenen staatlichen Förderung des Getreidebaus vor allem das Ziel, die entscheidenden Einnahmen aus der Vieh- und Molkereiwirtschaft den heimischen Erzeugern zu sichern. Daher sind die schon früher freiwillig entstandenen Absatzorganisationen zu Zwangsverbänden erweitert worden, welche die sehr kaufkräftige inländische Nachfrage syndikatsmäßig beherrschen und die daraus erzielbaren Einnahmen der zunftartig zusammengeschlossenen Bauernschaft vorbehalten. A u c h Großbritannien ist jetzt zur Politik des Agrarschutzes übergegangen. Es steigert die Einnahmen seiner Farmer durch hohe Subventionen für Weizen, Zucker und Schlachtvieh. In der Veredelungswirtschaft werden die Erzeugergruppen auf Grund von Mehrheitsbeschlüssen zu allgemein verbindlichen Kartellen und Syndikaten zusammengefaßt. Die Bildung von Zwangssyndikaten für landwirtschaftliche Erzeugnisse liegt, wie die angeführten Tatsachen zeigen, nicht nur in den Ausfuhrgebieten, sondern neuerdings auch in den Einfuhrländern im Zuge der gegenwärtigen Entwicklung. Wo sie noch nicht Tatsache geworden ist, sind Kräfte am Werke, um zur Durchsetzung der Bestrebungen vorhandener Kartelle eigene Verkaufsstellen zu bilden, also Syndikate i m engeren Sinne des Wortes zu schaffen. Wo für bestehende Kartelle und Syndikate noch die Freiwilligkeit des Beitritts erhalten geblieben ist, sehnt man vielfach staatliche Hilfe herbei, u m

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sich gegen die Außenseiter wehren zu können. Das gleiche Bestreben zeigt sich bei den Absatzgenossenschaften; überhaupt sind die Unterschiede zwischen Kartellen und Genossenschaften vielfach verwischt worden. Wo die Staaten versucht haben, mit bloßen Preisfestsetzungen oder mit Handelsmonopolen ihre Ziele zu erreichen, hat sich regelmäßig herausgestellt, daß die eingeschlagene Politik zu ihrer Durchsetzung einer organisatorischen Zusammenfassung der Erzeuger bedarf. An internationalen Vereinbarungen über den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse ist das Weizenabkommen von 1933 bereits am 3 1 . J u l i 1935 abgelaufen und auch vorher wenig wirksam gewesen. Für Zucker hat der Chadbourne-Plan 1 9 3 1 — 1 9 3 5 in den beteiligten Staaten die Ausfuhrmengen, Vorräte und Anbauflächen geregelt. Von seiner Verlängerung hat man jedoch abgesehen, weil es nicht gelang, die Außenseiter zur Beteiligung zu veranlassen. Diese haben während der Dauer des Abkommens ihre Erzeugung und auch ihre Ausfuhren ausgedehnt, und hieraus ergaben sich umsomehr empfindliche Störungen, als die beim Vertragsabschluß erwartete allgemeine Steigerung des Zuckerverbrauchs infolge der langen Dauer der internationalen Depression sich nicht verwirklichte. Noch in K r a f t sind die Abkommen für Tee und Kautschuk. Sie gelten hauptsächlich für die britischen und niederländischen Kolonialgebiete in Ostindien; ihr Kernstück ist die Festlegung der zulässigen Ausfuhrmengen, zu deren Innehaltung die Erzeugung beschränkt, jedenfalls eine starke Ausweitung der vorhandenen Pflanzungen verhindert wird. Die Vertragsstaaten scheinen mit den Auswirkungen bisher soweit zufrieden zu sein, daß kein Anlaß erkennbar ist, aus dem nach dem Ablauf der jetzigen Regelungen (1938) von einer Verlängerung oder Erneuerung Abstand genommen werden sollte. Die Wandlungen in der Organisation des internationalen Rohstoffverkehrs, deren Bedeutung für das allgemeine Verhalten der Menschen, Völker und Staaten zueinander uns hier beschäftigt, laufen also hinaus auf eine Ausbreitung der Kartelle und Syndikate. V. Ob die starke und vielfach beherrschende Stellung, welche Kartelle und Syndikate in der mineralischen und pflanzlichen Rohstoffwirtschaft errungen haben, in der Zukunft behauptet oder gar noch ausgedehnt werden wird, ist für die Volkswirtschaften wie für die Weltwirtschaft von weitreichendem Einfluß. Erwartet man von der künftigen Entwicklung eine Vollendung der bereits weit getriebenen

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Ansätze — und gewiß sind gewichtige Kräfte in dieser Richtung wirksam —, so muß man sich darüber klar werden, welche Grundlagen damit für die Volkswirtschaften und die Möglichkeiten ihrer wechselseitigen Verflechtung bestehen bleiben oder neu erwachsen. Eine Allgemeinherrschaft von Zwangssyndikaten bedeutet zwar noch keine so tiefgreifende Zerschneidung der geschichtlich gewordenen zwischenstaatlichen Wirtschaftsbeziehungen, wie sie die Verwirklichung des marxistischen Sozialismus, wenn sie sich in einzelnen Staaten vollzieht, mit sich bringen müßte und für Sowjetrußland bereits hat zur Tatsache werden lassen. Immerhin wird dadurch das im freien Verkehr zwischen Einzelunternehmern eingespielte Wirtschaftsleben der Welt vor neuartige und bedeutsame Aufgaben gestellt. Es handelt sich dabei zum großen Teil um Aufgaben, welche auch Kartelle im Binnenlande zu meistern haben, nur wird ihre Bewältigung durch die Beteiligung verschiedener Staaten und Volkswirtschaften erheblich schwieriger, zumal wenn die maßgebenden Verbände von staatlichen Stellen beeinflußt, also politischen Rücksichten unterworfen werden. In der Preispolitik, die j a im Mittelpunkte aller Kartellmaßnahmen steht, müssen Grundsätze für die anzustrebende oder festzusetzende Preishöhe gefunden werden. Den binnenstaatlichen Maßnahmen der letzten J a h r e liegen bereits mannigfache Bemühungen um die Ermittlung eines als gerecht, reasonable oder fair angesehenen Preisstandes zugrunde. Der deutsche Reichsnährstand sieht die Forderung des gerechten Preises dann als verwirklicht an, wenn er dem Erzeuger für seine Arbeit und seinen Aufwand ein angemessenes Entgelt bietet und gleichzeitig für den Verbraucher erschwinglich ist. Nach der Auffassung des englischen Landwirtschaftsministers soll der Verbraucher veranlaßt werden, das replacement value zu bezahlen, also einen Preis, der den Ersatz des Verbrauchten bietet, die Wiedererzeugung ermöglicht. In den Vereinigten Staaten ist bereits 1929 dem Federal Farm Board die Aufgabe gestellt worden: toplace agriculture on a basis of economic equality witk other industries, d. h. eine wirtschaftliche Gleichstellung der Landwirtschaft mit den übrigen Berufsgruppen herbeizuführen. 1933 ist der Gedanke eines fair exchange value dann dahin festgelegt worden, daß das Preisverhältnis zwischen landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Bedarfsgütern, wie es 191 o — 1 9 1 4 bestanden hat, wiederhergestellt werden müsse (parity prices). Diese Beispiele für das einer Preispolitik zu setzende Ziel sind zwar ausschließlich dem landwirtschaftlichen Gebiete entnommen. Genau die gleichen Erwägungen gelten aber überall, wo die Preisgestaltung nicht grundsätzlich der Marktentwicklung überlassen wird, sondern

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durch Behörden oder Verbände bestimmt werden soll. Daß die Lösung in jedem Falle auf erhebliche theoretische und praktische Schwierigkeiten stößt, liegt auf der Hand. Diese müssen sich noch wesentlich steigern, wenn eine international verbindliche Regelung getroffen werden soll, von der notwendig auch politische Gegensätze berührt werden. Ihre Vereinbarung und Durchführung verlangt ein ungewöhnlich hohes Maß von Verständnis, gutem Willen und gegenseitigem Vertrauen. Bei allen Kartellmaßnahmen, insbesondere wo Vorschriften über den Umfang der Erzeugung erlassen werden, ist ferner eine zuverlässige Vorausschätzung des künftigen Bedarfes erforderlich. Wie leicht dabei auch bei sorgfältiger Vorbereitung Irrtümer unterlaufen können, ist bekannt. Verfallen hierbei einzelne Unternehmer verhängnisvollen Fehlern, so werden sie mit Vermögensverlusten bestraft. Eine Regelung, welche für ein Staatsgebiet vorgenommen wird, kann beim Auftreten von Spannungen dadurch gehalten werden, daß den Untertanen, sofern die politische Verfassung dies ermöglicht, eine Veränderung ihrer Verbrauchsgewohnheiten nahegelegt oder aufgezwungen wird. Internationale Vereinbarungen umfassender Art bedürfen schon für ihren Abschluß einer besonders eindringenden Kenntnis der wirtschaftlichen Verhältnisse und ihrer Veränderungsmöglichkeiten sowie der Bereitwilligkeit, die Lebensrechte der Partner gebührend zu berücksichtigen. Muß dabei doch schließlich der Bedarf der einzelnen Volkswirtschaften an Rohstoffen geregelt und darüber hinaus festgelegt werden, wieviel jedes Land ausführen kann und muß, welche Staaten diese Mengen abzunehmen haben, und welche Austauschverhältnisse dabei maßgebend sein sollen. Bleiben die politischen Voraussetzungen für derartige Vereinbarungen auf wenige Staaten beschränkt, die von dem Willen geleitet sind, sich gegenseitig zu unterstützen, so kann von einer gedeihlichen Weltwirtschaft kaum noch die Rede sein, sondern an ihre Stelle tritt eine Blockbildung. Nun können aber auch internationale Verträge — wie nicht nur das Beispiel des Chadbourne-Planes lehrt — unter Vorstellungen über die künftige Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse zustande kommen, welche sich später nicht verwirklichen. Daraus ergeben sich notwendig Störungen und Meinungsverschiedenheiten zwischen den Beteiligten. Deren Beilegung kann, wenn große Verbände oder gar die Staaten unmittelbar betroffen sind, nicht von der Anrufung ordentlicher Gerichte erwartet werden, wie sie zwischen Einzelunternehmern üblich ist. Solche Auseinandersetzungen drohen sich dann zu politischen Streitigkeiten zu entwickeln, zumal wenn in den internationalen Beziehungen nicht nur die Belange der Staaten und Na-

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tionen, sondern in steigendem Maße die Gegensätze von politischen Ideologien und Weltanschauungen aufeinander stoßen. Diese gefährlichen Spannungen sind durch die Kriegspropaganda der Westmächte eingeleitet worden; die enge Verflechtung Sowjetrußlands mit der Kommunistischen Internationale gibt ihnen ständig neue Nahrung und ruft entsprechende Abwehr hervor. Auch der englische Ministerpräsident hat kürzlich besorgt vor Glaubenskriegen gewarnt, ohne dabei allerdings der Verantwortlichkeit seines eigenen Landes für die Heraufbeschwörung dieser Gefahr zu gedenken. Das Bewußtsein einer Interessengemeinschaft, welche aus Nützlichkeitserwägungen den Ausbruch von Feindseligkeiten verhindern würde, kann nicht mehr als genügende Sicherung angesehen werden. Ohne eine zuverlässige und tragfähige sittliche Grundlage, wie sie insbesondere der christlichen Auffassung von den Verpflichtungen gegenüber Volk und Weltgemeinschaft entspricht, ist auch die Regelung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und namentlich des Rohstoffverkehrs zwischen staatlichen Stellen oder großen Syndikaten nicht für längere Dauer möglich. Wenn diese unerläßliche Voraussetzung für friedliche Beziehungen der Völker und Staaten zueinander fehlt, dann sind bei der Vorherrschaft kartellartiger Organisationen die Möglichkeiten der Entfaltung, j a sogar des Bestandes der Weltwirtschaft noch stärker beeinträchtigt als bei freier Verkehrswirtschaft.

Für das Deutsche Reich ist der vom Führer entwickelte Plan eines allgemeinen und tragfähigen Friedens und sind die Möglichkeiten seiner Verwirklichung auch entscheidend in der Wirtschaftspolitik. Nur in einem echten, die Lebensansprüche der Völker auf ihre Gleichberechtigung und auf die Teilnahme an den Gütern dieser Welt gewährleistenden Frieden ist eine gesunde und entwicklungsfähige Weltwirtschaft und damit auch das denkbar günstigste Wachstum der Volkswirtschaften möglich. Die Formen und die Organisation, in welcher sie sich vollzieht, sind nicht in erster Linie entscheidend. Solange ein solcher Friede nicht sichergestellt ist, werden die Völker um ihrer Selbstbehauptung willen auf den verstärkten Ausbau derjenigen Wirtschaftsgrundlagen hingedrängt, auf welche die eigene Staatshoheit ungestört Einfluß auszuüben vermag. Man denkt unwillkürlich an das Wort des Homunculus: Natürlichem genügt das Weltall kaum, Was künstlich ist, verlangt geschlossnen Raum.

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U n d m a n möchte so gern glauben, d a ß eine geistige und sittliche Verfassung, welche die Ausnutzung aller wirtschaftlichen K r ä f t e der Erde in friedlichem Wettbewerb ermöglicht, das Natürliche, die jetzige Verwirrung dagegen etwas Künstliches u n d damit auch Vorübergehendes sei. Die gewaltigen Kräfte, welche im Nationalsozialismus die Zusammenfassung der einzelnen Menschen zu einer Societas, einer Volksgemeinschaft, ermöglicht und durchgesetzt haben, sollen nicht auf eine Zwangsorganisation des Wirtschaftslebens u n d der Rohstoffversorgung hinauslaufen, bei welcher eine Weltwirtschaft k a u m noch durchführbar wäre. Ihnen fällt vielmehr die hohe Aufgabe zu, in dem unvermeidlichen Kampf der Geister und der Willenskräfte die verbitternden Unterschiede zwischen Siegern und Entrechteten, zwischen Besitzenden und Habenichtsen unter den Kulturvölkern zu überwinden u n d damit die Grundlagen f ü r einen wahren Frieden der Welt wiederherstellen zu helfen; nur in diesem Zeichen ist eine Behauptung u n d neue Entfaltung der Weltwirtschaft u n d damit die größtmögliche H e b u n g der deutschen Volkswirtschaft denkbar.

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Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

INDUSTRIALISIERUNG UND WELTWIRTSCHAFT VON

ANDREAS P R E D Ö H L

DIE INDUSTRIALISIERUNG DER NEULÄNDER HAT DIE ALTEN Industrieländer mit Befürchtungen erfüllt, seit ihre ersten Anfänge in Erscheinung getreten sind. Eine solche Haltung ist nur zu verständlich, denn die Arbeitsteilung zwischen Agrar- und Industrieländern scheint damit durchbrochen, und die Schlußfolgerung liegt nahe, daß die alten Industrien vom Export ganz ausgeschaltet sein werden, wenn erst alle neuen Länder eigene Industrien aufgebaut haben. Der Einwand, daß der Aufbau dieser Industrien zu einem vermehrten Export von Produktionsmitteln aus den alten Ländern führe, scheint wenig zu besagen, denn er deutet nur auf einen Aufschub. Gerade der Produktionsmittelexport, so ist man geneigt zu folgern, zumal wenn er auf Kredit, also unter gleichzeitigem Kapitalexport erfolgt, ist geeignet, den Niedergang der alten Industrien zu beschleunigen. Es tritt dann um so schneller der Zustand ein, von dem Sembart gesagt hat: „auf derselben Agrarbasis können sich nicht zwei verschiedene Industriesysteme aufbauen, nämlich nicht das eigene und das europäische, gemäß dem Gesetz des proportionalen Verhältnisses zwischen Agrarbasis und Industrie". Der Weltkrieg und seine Folgeerscheinungen haben der Industrialisierung der Neuländer einen so 43*

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gewaltigen Auftrieb gegeben, daß man diesen Zustand nahezu als erreicht hinstellen möchte. J a , es liegt nahe, bei aller Würdigung der mannigfachen Ursachen, die zur Zerrüttung der Weltwirtschaft geführt haben, der Industrialisierung der Neuländer einen wesentlichen Anteil an der Dauer und Schwere der Weltwirtschaftskrise zuzuschreiben. Diese scheinbar einfachen Zusammenhänge verdecken nun aber eine Reihe recht komplizierter Probleme. Zunächst müssen wir uns darüber klar werden, daß sich hinter dem Begriff „Industrialisierung" eine so große Vielfalt von individuellen Prozessen verbirgt, daß es dringend erforderlich ist, ihn aufzulösen und den unterschiedlichen Typen von Industrialisierung und ihren unterschiedlichen Auswirkungen nachzugehen. Dabei wird sich zeigen, daß sich eine Fülle von Fehlurteilen aus unklaren und summarischen Vorstellungen von dem erklärt, was mit dem Decknamen Industrialisierung gemeint ist. Wir wollen deshalb zunächst und hauptsächlich die Voraussetzungen der Industrialisierung herausarbeiten und aus der Verschiedenheit der Voraussetzungen die Unterschiedlichkeit der Industrialisierungsprozesse erklären. Mit Hilfe der dabei gewonnenen Ergebnisse wollen wir dann die Möglichkeiten der Weiterentwicklung der einzelnen Industrialisierungsprozesse erörtern und ihre Grenzen zu finden suchen. In einem dritten Teil schließlich wollen wir uns mit den Rückwirkungen der Industrialisierung der Neuländer auf die alten Industrieländer befassen. Die Untersuchung stützt sich in erster Linie auf die Ergebnisse von Studienreisen des Verfassers in den Vereinigten Staaten, Kanada, England und Rußland und auf ein ziemlich breites Fundament von Einzeluntersuchungen über amerikanische Industrieverlagerungen, von denen der Verfasser einige in den Jahren 1928/29 im „Weltwirtschaftlichen Archiv" veröffentlicht hat. Es kann jedoch nicht Aufgabe der vorliegenden Skizze sein, jede Begründung im einzelnen vorzutragen oder überhaupt jeder konkreten Konstellation nachzugehen. Worauf es ankommt, ist vielmehr, die Probleme aufzuzeigen und zu ordnen und damit künftiger empirischer Forschung vorzuarbeiten. Das gilt vor allem für die Fragen der Wirkungen der Industrialisierung der Neuländer, die im einzelnen noch sehr umfangreicher empirischer Untersuchungen bedürfen. Aber gerade in diesen für die aktuelle Wirtschaftspolitik höchst bedeutsamen Fragenbereich kann vielleicht durch eine grundsätzliche Erörterung einige Klarheit gebracht werden, die die praktische Forschung anzuregen und damit auch die Wirtschaftspolitik zu fördern geeignet ist.

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I. i. Die Weltwirtschaft der Vorkriegszeit war in ihrem A u f b a u und in ihrem Wachstum überwiegend der räumliche Ausdruck kapitalistischer Expansion. Sie türmte in den Zentren Westeuropas und Ostamerikas immer größere Massen von Kapital und Arbeit zu stark miteinander verflochtenen industriellen Häufungen aufeinander und schob die Landwirtschaft unter abnehmender Intensität bei zunehmender Entfernung immer weiter an die Peripherie vor. I m Zuge dieser Entwicklung bezog sie nicht nur die unbesiedelten oder schwachbesiedelten Gebiete, vor allem des amerikanischen Kontinents, sondern auch die menschengefüllten Räume des Ostens in zunehmendem Umfang in ihren Bereich ein. Die weltwirtschaftliche Pyramide wuchs und verbreiterte damit zugleich ihre Basis. Aber sie wuchs und verbreiterte sich nicht in gleichbleibenden Proportionen. Es veränderten sich vielmehr zugleich die Grundlagen, auf denen das bisherige raumwirtschaftliche System sich aufbaute, und es bildeten sich die Voraussetzungen für die Entstehung neuer industrieller Teilkerne. Diese Voraussetzungen müssen wir zunächst verstehen, wenn wir die Industrialisierung der Neuländer in ihrer Unterschiedlichkeit und Mannigfaltigkeit begreifen wollen. Es leuchtet ein, daß uns die k o n s u m o r i e n t i e r t e n I n d u s t r i e n in diesem Zusammenhang kein Problem aufgeben. Mögen sie ihrer technisch-ökonomischen Struktur nach in größeren oder kleineren Einheiten vorkommen, sie verteilen sich entsprechend der Verbrauchsdichte über die Fläche und treten mit zunehmender landwirtschaftlicher Erschließung auch im agrarischen Neuland schon ziemlich früh auf. Das gilt vor allem für diejenigen Industrien, die keine hohen Anforderungen an die Arbeitsqualität stellen. Sie verdichten sich mit der Industrialisierung der Neuländer und sind gewiß geeignet, den Industriekörper als Ganzes erheblich zu verstärken. Aber sie sind ihrer Natur nach sekundär und nicht die eigentlichen Träger neuer Industrialisierungsprozesse. Zahlreiche Zweige der Nahrungs- und Genußmittelindustrie gehören dazu, Bäckereien und örtliche Brauereien, Wäschereien und viele kleinere Industrien mit mehr oder minder handwerklicher Technik. Ähnlich mit Bezug auf den Industrialisierungsprozeß, aber doch unterschiedlich im räumlichen Aufbau, verhalten sich jene r o h s t o f f o r i e n t i e r t e n I n d u s t r i e n , die agrarische Rohstoffe verarbeiten. Das sind vor allem die Mühlenindustrie und die Großschlachtereien und gewisse Zweige der holzverarbeitenden Industrie, wie die Sägewerke,

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die Zeitungspapierindustrie und Teile der Zelluloseindustrie. Da die Lage am Rohstoff 1 diesen Industrien auf Grund ihrer technisch-ökonomischen Struktur erhebliche Vorteile bringt, neigen sie dazu, sich dem agrarischen Rohstoff anzuschließen, sobald dieser sich verschiebt. Sie finden auch im Neuland günstige Bedingungen, sobald die ersten Schwierigkeiten der Arbeitsbeschaffung und Organisation überwunden sind. Besonders deutlich zeigt sich dies auf amerikanischem Boden, wo diese Industrien sich vom ostamerikanischen Industriekörper losgelöst und den Kontinent regelrecht durchwandert haben, die Mühlenund Schlachtereiindustrie, indem sie den agrarischen Rohstoffen nach Westen gefolgt sind, die Zeitungspapierindustrie, indem sie sich der Abholzung der Wälder nach Norden angeschlossen und sich tief in die kanadischen Waldgebiete vorgeschoben hat. Entsprechende Entwicklungen beobachten wir auch in Europa bei Industrien und in Ländern, die nicht willens oder fähig gewesen sind, ihre agrarische Grundlage im Staatsraum zu halten, und darüber hinaus auch die Rohstoffbindung dieser Industrien nicht durch handelspolitische Mittel aufgehoben haben. Dies sind auch die Industrien, an die man in erster Linie zu denken hat, wenn man davon spricht, daß ein Rohstoffland seine Rohstoffe im eigenen Land zu verarbeiten beginne. A b e r es sind weit überwiegend Exportindustrien des Neulandes, jedenfalls nur als solche von wirklich bedeutendem Umfang. Es sind also Industrien, die auf den Absatz in den alten Industrieländern, mithin auf die wirtschaftspolitische Billigung dieser Länder angewiesen sind. W o und soweit diese Länder die höheren Kosten zu tragen bereit waren, haben sich diese Industrien überwiegend als Hafenindustrien im alten Staatsraum gehalten. A u c h die Vereinigten Staaten hätten ihre Zeitungspapierindustrie im Inland halten können, wenn sie eine erhebliche Drosselung ihres gewaltigen Konsums in K a u f genommen hätten. Diese Industrien nehmen also ganz deutlich eine Sonderstellung ein. Sie sind auch auf Grund ihrer zentrifugalen Tendenzen nicht geeignet, die Kerne neuer großer Industriekörper zu bilden. Dabei machen sie einen sehr erheblichen Teil der „Industrialisierung" der rohstoffproduzierenden Länder aus. Das gilt sowohl für Argentinien als auch für Australien und Neuseeland und in gewissem Umfange auch für die skandinavischen Länder, zumal wenn man sinngemäß auch die Konservenindustrie hinzurechnet. U n d es gilt erst recht für K a n a d a , dessen industrielle Globalziffern eine so außergewöhnlich weitgehende industrielle Emanzipation vortäuschen. 2. Ganz anders liegen die Probleme im Bereich derjenigen Industrien,

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die die eigentlichen Kerne der alten Industrieländer bilden. Bei diesen wiederum muß deutlich unterschieden werden zwischen der rohstofforientierten Schwerindustrie und den arbeitsorientierten Leichtindustrien. Mit diesen a r b e i t s o r i e n t i e r t e n I n d u s t r i e n wollen wir uns zunächst beschäftigen. Sie sind ihrerseits wieder in sehr verschiedener Lage, je nachdem, ob sie auf qualifizierter oder ob sie auf billiger Arbeit beruhen. Und auch diese Unterscheidung reicht im Hinblick auf die industrielle Entwicklung noch nicht aus. Es gibt nämlich unter ihnen eine Gruppe, die ohne qualifizierte Arbeit, ohne einen hohen Grad technischer und kommerzieller Organisation überhaupt nicht entstehen kann. Und es gibt eine Gruppe, die zunächst Produkte geringer Qualität mit Hilfe billiger und ungeschulter Arbeit erzeugt, die sich aber allmählich unter langwieriger Erziehung ihrer Arbeiterschaft zu höher qualifizierter Produktion entwickelt, so daß ein nahezu kontinuierlicher Übergang von der niedrigsten zur höchsten Qualität besteht. Diese Industrien sind es, die im Rahmen der Industrialisierung der Neuländer zunächst eine wesentliche Rolle spielen. Es handelt sich um die Produktion einfacher Gebrauchsgegenstände, u m die Bekleidungsindustrie aller Arten, vor allem aber um die Textilindustrien und unter ihnen wieder besonders um die Baumwollindustrie. Soweit diese Industrien in relativ kleinen Einheiten auftreten können und keine Massen billiger Arbeit benötigen, finden sie in den meisten Neuländern ziemlich frühzeitig einen günstigen Nährboden. Insoweit unterscheiden sie sich nach Umfang und Bedeutung aber auch nicht wesentlich von den konsumorientierten Industrien, über die ich schon gesprochen habe. Viel wichtiger sind diejenigen Industrien, die wie die Baumwollindustrie eine starke Großbetriebsüberlegenheit aufweisen und zu den Hauptstützen der alten Industrieländer gehören, zumal sie — entsprechend der hohen Bedeutung der Arbeitskosten gegenüber den Transportkosten, die ihre Standorte bestimmt — auch über sehr große Aktionsradien verfügen und von einzelnen zentralen Punkten aus die ganze Welt beherrschen können. Diese Industrien finden günstige Bedingungen an der Peripherie nur, wenn das Neuland über große Massen billiger Arbeit verfügt. Und in dieser Hinsicht sind die Länder sehr unterschiedlich begabt. Die Gebiete agrarischer Neusiedlung bieten durchweg sehr ungünstige Bedingungen. Das gilt vor allem für die Gebiete der angelsächsischen Kolonisation. Dagegen finden diese Industrien in den menschengefüllten Ländern des Ostens mit ihrer starken landwirtschaftlichen Überschußbevölkerung überaus günstigen Nährboden. Sie haben sich sowohl in J a p a n als auch in China und Indien entwickelt, sobald sie eine kurze

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Anfangsschwelle organisatorischer Schwierigkeilen überwunden hatten. Und sie haben von dieser Grundlage aus nicht nur die heimischen Märkte erobert, sondern sind darüber hinaus schon in frühen Entwicklungsstadien auf die Weltmärkte vorgedrungen, wobei ihnen die großen Aktionsradien, einst die Stärke der alten Zentren, zugute gekommen sind. Aber auch in den altbesiedelten Agrarländern, die nicht über so große Expansionsmöglichkeiten verfügen, wie in Rußland und den Agrarstaaten des Südostens, finden sie günstige Bedingungen für die Deckung des heimischen Bedarfs, der ohnehin auf die geringsten Qualitäten eingestellt ist. Der R a u m der V e r e i n i g t e n S t a a t e n bietet einen Sonderfall, aber einen Sonderfall, der in seiner Eigenart die dargestellte Entwicklung bestätigt. Innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika hat sich nämlich die allgemeine Entwicklung wiederholt. Neuengland ist das alte Zentrum, das seine Stärke aus den breiten Schichten wechselnder Einwanderergruppen gezogen hat. Obgleich diese Arbeit im internationalen Vergleich relativ teuer ist —- Neuengland hat deshalb auch bis zur Gegenwart keinen nennenswerten Export von Baumwollfabrikaten getätigt — , so ist sie doch zunächst die weitaus billigste Arbeit innerhalb der Vereinigten Staaten selbst. Die Ausdehnung der amerikanischen Wirtschaft nach Westen vermag diesem Zentrum keinen Abbruch zu tun; der Mittelwesten, der Ferne Westen, j a auch die Baumwollgebiete des Südwestens sind Gebiete hoher Löhne in völliger Analogie zu den Ländern agrarischer Neusiedlung. Als jedoch nach dem Bürgerkrieg die besitzlosen „Armen Weißen" des Südostens dem zweiseitigen Druck der Neger und der Pflanzer erliegen, geben sie eine breite Arbeitsgrundlage für die Baumwollindustrie ab, die sich in einer starken Entwicklung dieser Industrie äußert und zu einem erheblichen Einbruch in die Absatzgebiete der alten Industrie führt analog dem Vordringen der asiatischen Industrie auf die Weltmärkte. Was nun die anderen arbeitsorientierten Industrien betrifft, die auf q u a l i f i z i e r t e A r b e i t angewiesen sind, sich aber nicht aus unqualifizierten Industrien allmählich entwickeln können, so finden sie umgekehrt gerade in den Gebieten günstigere Bedingungen, die Siedlungsgebiete europäischer Völker sind. Aber sie können sich auch in diesen Ländern nicht unmittelbar aus dem agrarischen Unterbau entwickeln, denn sie sind letzte oder doch zum mindesten späte Glieder eines reifen Industriekörpers. Das gilt besonders dann, wenn ihre technisch-ökonomische Struktur eine starke Spezialisierung verlangt, oder wenn sie große Produktionseinheiten benötigen, um billig produzieren zu können. Fast alle Zweige der Maschinenindustrie gehören dazu, ferner die

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Elektroindustrie, die optische Industrie, große Teile der chemischen Industrie und andere mehr. Sie können sich mit wenigen Ausnahmen nur dort erfolgreich entwickeln, wo über spezielle Voraussetzungen hinaus überhaupt günstige Bedingungen für einen großen und umfassenden Industriekörper vorhanden sind. Ein solcher aber hat zur Voraussetzung vor allem die Möglichkeit der Entwicklung einer starken Schwerindustrie, zumal sie die Rohstoffgrundlage für viele Zweige der Maschinenindustrie bildet, von der sich auch diese arbeitsorientierte Industrie im allgemeinen nicht allzu weit entfernen kann. Damit sind wir zum Kernproblem der Industrialisierung der Neuländer gelangt, der Frage des Aufbaus der Eisen- und Stahlindustrie. 3. Die Bedingungen der Entstehung neuer Zentren der E i s e n - u n d S t a h l i n d u s t r i e unterscheiden sich wesentlich von den bisher behandelten Fällen. Die Eisen- und Stahlindustrie ist eine eindeutig rohstofforientierte Industrie, und zwar bestimmt die erz- und kohlenverarbeitende Roheisenindustrie den Standort der Gesamtindustrie, weil die weiterverarbeitenden Stufen der Stahlindustrie nicht nur an sich rohstofforientiert, sondern darüber hinaus durch Integrationsvorteile an die Vorstufen gebunden sind; eine Ausnahme bilden nur einzelne überwiegend Schrott verbrauchende Stahlwerke. Die Eisenindustrie liegt überall in der Welt an den Orten, an denen sich — von den Punkten stärkster Verbrauchsmassierung her gesehen — Kohle und Erz am günstigsten vereinigen lassen. Das sind in der Frühzeit, als die Produktionseinheiten noch klein waren, vor Aufkommen einer großen Stahlindustrie, meist die Erzlager, und zwar Erzlager geringer Größe. Es sind mit Wachsen der Betriebsgrößen, vor allem mit Zunahme der kombinierten Großbetriebe, in denen das größte Aggregat der Stahlindustrie den Umfang des Gesamtbetriebes bestimmt, meist die Kohlenlager oder an Wasserwegen gelegene Zwischenpunkte, weil die ganz großen Erzlager überwiegend an der Peripherie der Weltwirtschaft liegen, so daß die Anziehungskraft der Kohle durch die Nähe des Konsums verstärkt wird. Das Ruhrgebiet, Nordfrankreich und Belgien, die englischen Midlands, das Gebiet von Pittsburgh sind die typischsten Beispiele für den ersten, die Standorte am Rhein, an der amerikanischen Ostküste, in Chicago sind Beispiele für den zweiten Fall. Ausnahmen von R a n g bilden die auf der zentral gelegenen Minette aufgebaute lothringische Industrie und die auf dem Uralerz sich stützende russische Industrie. Die Schwerindustrie hat kleine Aktionsradien, weil die Kosten der Versendung ihrer Produkte sehr hoch sind. J e mehr die Weltwirtschaft wächst, je breiter die Basis der Pyramide wird, um so

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teuerer wird die Belieferung der Peripherie von den alten Zentren. In dem Maße, wie das raumwirtschaftliche System sich ausdehnt, bilden sich mithin günstige Bedingungen für neue Industrien an neuen der Peripherie nähergelegenen Punkten günstiger Verbindung von Kohle und Erz. Aber diese günstige Rohstofflage allein ist nicht ausreichend. Erforderlich ist eine so erhebliche Absatzgröße, daß die Industrie von den Vorteilen degressiver Kosten bei zunehmender Betriebsgröße Gebrauch machen kann. Diese Bedingung ist bei der Roheisenindustrie früher und häufiger erfüllt als bei der kombinierten Eisenund Stahlindustrie. Die Eisenindustrie kann nach ihrer technisch-ökonomischen Struktur nicht nur an sich in kleineren Einheiten günstig produzieren. Sie erzeugt auch ein Produkt, das einer vielseitigeren und primitiveren Verwendung als das Vorprodukt der Walzwerksindustrie fähig ist. Infolgedessen kann die Roheisenindustrie im Neuland früher und häufiger Fuß fassen als die Stahlindustrie. Wenn auch die Eisenindustrie ebenfalls ein entwickeltes agrarisches Hinterland zur Voraussetzung hat, so kann die Stahlindustrie doch überhaupt nur auf ganz breiter agrarischer Grundlage und im Verein mit spezialisierten Abnehmerindustrien entstehen. Diesen Verhältnissen entsprechend hat sich in vielen Ländern eine kleinere Eisenindustrie, aber nur in wenigen Ländern eine Stahlindustrie entwickelt. Außerhalb der alten europäischen und amerikanischen Zentren ist eine große Stahlindustrie nur in Rußland und in J a p a n entstanden, eine große Eisenindustrie in Britisch-Indien. Daneben fällt eigentlich nur noch Kanada und in geringerem Ausmaß Australien ins Gewicht. Alles andere sind vergleichsweise kleine Splitter. Eine Walzwerksindustrie von Rang gibt es außerhalb der alten Zentren überhaupt nur in Kanada. Die Entwicklung auf a m e r i k a n i s c h e m Boden bietet in fast schematischer Vereinfachung ein so klares Bild des räumlichen Aufbaus der Eisen- und Stahlindustrie, daß es sich lohnt, sie in großen Zügen nachzuzeichnen. Dort wurde zunächst ostpennsylvanischer Anthrazit mit ostpennsylvanischen Erzen unweit der amerikanischen Ostküste vereinigt. Und in dem Maße, wie die Besiedlung sich nach Westen ausdehnte, wanderte die Industrie über die Alleghanies und bildete um Pittsburgh das erste große beherrschende Zentrum, in dem westpennsylvanische Kohle mit den hoch oben im Nordwesten gelegenen Erzen aus den riesigen Lagern am Oberen See zusammengeführt wurde, ein deutlicher Parallelfall zur Verbindung von Ruhrkohle und schwedischen Erzen im Ruhrgebiet. Aber dieses östliche Zentrum wuchs, und die Landwirtschaft schob sich über den Mississippi nach Westen und Nordwesten vor. So bildete sich mit zunehmender Besied-

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lung des Mittelwestens ein neuer Industriekern am Südende des Michigansees, wo sich die Erze vom Oberen See mit der Kohle aus Pennsylvanien und West Virginia zwar teuerer, aber für den Verbrauch des Mittelwestens billiger vereinigen ließen als im weitentfernten Osten, und es entstand das gewaltige Industriegebiet, das Chicago zu einer der größten Städte der Welt hat werden lassen. Damit aber hatte die raumwirtschaftliche Entwicklung auf amerikanischem Boden wiederum nicht ihr Ende erreicht. In dem Maße, wie die Landwirtschaft sich weiter nach Westen und Nordwesten verschob bis an die Grenzen, die die klimatischen Bedingungen des Landes der weiteren Ausdehnung setzten — im Westen durch Trockenheit, im Norden durch Kälte —, in dem Maße haben sich weitere Teilkerne an der Peripherie gebildet. Pueblo in Colorado am Fuße der Rocky Mountains, Duluth am Oberen See unweit der großen Erzlager, die kanadischen Produktionsorte sind die neuen Zentren. Aber sie haben die Bedeutung der älteren Zentren nicht erreicht. Besonders die Stahlindustrie der nördlichen Peripherie hat nicht mehr die Absatzgrößen gefunden, die eine billige Produktion verbürgen; die kanadische Industrie bedarf bereits eines starken handelspolitischen Schutzes. Abseits der Ausdehnung nach Westen hat sich auf amerikanischem Boden nur im Süden in Birmingham im Staate Alabama noch ein großes Zentrum entwickelt, das die Ungunst seiner Absatzlage durch Verlängerung seiner Absatzradien ausgleichen konnte, denn hier ist einer der seltenen Punkte der Erde, wo Kohle und Erz unmittelbar beieinander liegen und mit geringem Transportaufwand im Werke zusammengeführt werden können. Aber auch hier hat die geringere Intensität der Landwirtschaft dazu geführt, daß die Eisenproduktion günstigere Bedingungen findet als die Stahlproduktion. II. 4. Wir haben die Voraussetzungen der Industrialisierung der Neuländer am Falle der wachsenden Weltwirtschaft studiert, wie sie als Ausdruck kapitalistischer Expansion typisch gewesen ist für die Weltwirtschaft der Vorkriegszeit. Inzwischen haben sich nun aber die Verhältnisse wesentlich geändert. Neue Kräfte sind am Werke, das raumwirtschaftliche Bild umzugestalten. Und hinter allen zufälligen und einmaligen Abweichungen zeichnet sich aufs deutlichste eine allgemeine Tendenz zur N a t i o n a l i s i e r u n g der Volkswirtschaften ab, die das Schwergewicht der Wirtschaft in den Staatsraum zurückverlegt und der Vorherrschaft des weltwirtschaftlichen Marktzusammenhanges Abbruch

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tut. Auch die Industrialisierung der Neuländer ist nicht mehr überwiegend Äußerung weltwirtschaftlichen Wachstums und der damit verbundenen räumlichen Verschiebungen. Sie entspringt vielmehr dem Bestreben, sich weit darüber hinaus von der Vorherrschaft der alten Industrieländer zu befreien, steht also eindeutig im Zeichen der Nationalisierungstendenz. Gewiß mögen die Weltwirtschaftskrisis und ihre Folge- und Begleiterscheinungen diese Tendenz vorübergehend übermäßig verstärkt haben, so daß sie den Augen der Gegenwart perspektivisch vergrößert erscheint, aber der Wandel als solcher ist nicht zu verkennen und muß in Rechnung gesetzt werden, wenn man in weltwirtschaftlichen Fragen urteilen will. Die Nationalisierung der Volkswirtschaften kann nun aber nicht in jedem Fall unbegrenzt fortgesetzt werden. Sie steht nämlich von einem bestimmten Punkt ab, in dem der größtmögliche Güterertrag erzielt wird (Maximum), unter steigenden Kosten, bedeutet mithin ein Sinken der Güterversorgung bei gleichem Aufwand, bis der Punkt erreicht wird, von dem ab der Ertrag den Aufwand nicht mehr ersetzt, so daß die Wirtschaft sich in ihr Gegenteil verkehrt und abstirbt (Minimum). Dieser Minimumzustand bezeichnet die ökonomische Grenze der Nationalisierung. Die politische Grenze wird dagegen in den meisten Fällen früher erreicht. Denn mit abnehmender Tragfähigkeit der Wirtschaft wird von einem gewissen Punkte ab auch die Erreichung eben der übrigen Ziele des Volkes wiederum gefährdet, u m derentwillen die Nationalisierung der Wirtschaft erfolgt. Die Nationalisierung kann also sinnvollerweise nur bis zu dem Punkt gehen, in dem das Gleichgewicht zwischen dem Wirtschaftsziel und den übrigen Zielen des Volkes erreicht ist (Optimum). Wo dieser Gleichgewichtspunkt liegt, ist von Volk zu Volk verschieden. Er wird bestimmt von der Lage des Staatsraumes im raumwirtschaftlichen System und der Stärke der Spann ngen zwischen Staatsraum und Wirtschaftsraum, vor allem aber auch von der Steigerung der Produktivkräfte, mit der die Nationalisierungspolitik die „komparativen" Kostennachteile auszugleichen vermag. Die G r e n z e n d e r I n d u s t r i a l i s i e r u n g der Neuländer im Sinne der vorhergehenden Ausführungen aufzuzeigen, ist nunmehr unsere Aufgabe. Dabei knüpft unsere Untersuchung unmittelbar an unsere bisherigen Ergebnisse an und stellt fest, ob und inwieweit die einzelnen Industrien in den einzelnen Staatsräumen nach Rohstoff-, Arbeits- und Absatzlage wirtschaftspolitisch mögliche Bedingungen ihrer Existenz finden. Wir haben aber gerade bei der Industrialisierung der Neuländer noch einen anderen Gesichtspunkt zu beachten, den Gesichts-

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punkt nämlich, daß der A u f b a u der neuen Industrien mehr oder minder starke Ansprüche an Kapital stellt, je nach der Länge der Produktionsumwege, die zu überwinden sind; sei es nun, daß dieses Kapital den Sparquoten der heimischen Volkswirtschaft entnommen, sei es daß es von anderen Volkswirtschaften zur Verfügung gestellt wird. Beide Gesichtspunkte müssen wir in jedem Einzelfall beachten, wenn wir ein Urteil über die Grenzen der Industrialisierung der Neuländer fällen wollen. 5. Die Verhältnisse liegen am einfachsten bei den Industrien, von denen ich oben ausgeführt habe, daß sie sich ohnehin ziemlich frühzeitig im Neuland ansiedeln. Handelt es sich um ausgesprochen k o n s u m o r i e n t i e r t e Industrien kleineren Umfanges, so bedarf es höchstens einer geringen wirtschaftspolitischen Hilfsstellung, um die Anfangsschwelle zu überwinden. Aber auch die zahlreichen a r b e i t s o r i e n t i e r t e n Industrien, die in relativ kleinen Einheiten auftreten können und keine Massen billiger oder qualifizierter Arbeit benötigen, finden keine wesentlichen Widerstände. Sie sind in vielen Fällen sogar ökonomisch notwendig, selbst wenn sie dem komparativen Kostenschema nicht entsprechen, weil die Exportmöglichkeiten der Agrarländer sich im Zuge der allgemeinen Nationalisierungstendenz wesentlich verschlechtert haben. Unter diesen Umständen sind die politischen Möglichkeiten einer Industrialisierung solchen Grades in den Ländern, die überhaupt für eine Industrialisierung in Betracht kommen, nahezu unbegrenzt. Die Widerstände, die diese Industrien zu überwinden haben, sind um so geringer, als auch der K a p i t a l a u f w a n d gering ist und in den meisten Fällen aus den Sparquoten selbst nicht allzu hochentwickelter Agrarländer gedeckt werden kann. Schwieriger ist in dieser Hinsicht allerdings die Lage, wenn es sich um konsumorientierte Industrien höherer Kapitalintensität handelt, wie sie etwa Gas- und Elektrizitätswerke kleineren oder mittleren Umfangs darstellen. Wahrscheinlich werden solche Werke, zum mindesten in den zurückgebliebenen Agrarländern — ganz abgesehen davon, daß die Produktionsmittel selbstverständlich eingeführt werden müssen — nur mit Hilfe ausländischer Kredite errichtet werden können. Man wird jedoch kaum einen peripheren Staatsraum finden, der zu solcher Industrialisierung nicht fähig wäre. Damit aber ist schon ein großer Teil der Industrien erfaßt, die man meint, wenn man davon spricht, daß die Neuländer ihren industriellen Bedarf selbst decken oder decken können. Ähnlich, aber unter anderer Verteilung der Schwierigkeiten liegen die Verhältnisse bei der großen Gruppe der arbeitsorientierten Indu-

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Strien, die wie die Textilindustrie erhebliche G r o ß b e t r i e b s v o r t e i l e mit großen Anforderungen an billige Arbeit verbinden. Dabei haben wir die jungbesiedelten Agrarländer im Auge, denn in den altbesiedelten finden j a gerade diese Industrien ganz besonders günstige Bedingungen. Die Widerstände, die in den jungbesiedelten Agrarländern überwunden werden müssen, liegen weniger in der Länge der Produktionsumwege, die nicht allzu groß und gerade für diese Länder erträglich ist, als vielmehr in dem Mangel an billigen Arbeitskräften. Die Textilindustrie und ähnliche Industrien — auch die Schuhindustrie ist ein typisches Beispiel — können also in diesen Ländern nur mit verhältnismäßig hohen Kosten betrieben werden. Aber die Entwicklung in den britischen Dominions, um die es sich hier in erster Linie handelt — die südamerikanischen Länder bieten schon günstigere Bedingungen — zeigt deutlich, daß diese Lasten tragbar sind. Wir dürfen also annehmen, daß diese Industrien allgemein innerhalb der wirtschaftspolitischen Grenzen der Neuländer liegen. 6. Obwohl sich aus diesen Darlegungen ergibt, daß die Grenzen der Industrialisierung der Neuländer, selbst wenn es sich um kleine oder schwachbesiedelte Staatsräume handelt, weit gezogen sind, ist doch das eigentliche Problem der Industrialisierung der Neuländer im Sinne der Nationalisierung ihrer Wirtschaftsräume erst am Rande berührt. Es hat sich bisher nur um Konsumgüterindustrien gehandelt; entscheidend aber ist das Problem der P r o d u k t i o n s m i t t e l i n d u s t r i e n . Das sind in erster Linie die Eisen- und Stahlindustrie und die auf hochqualifizierter Arbeit beruhenden Spezialindustrien, wie sie am typischsten von der Maschinenindustrie repräsentiert werden. Nun zeigt sich allerdings, daß die Kostendegression der Roheisenindustrie nicht so stark ist, daß sie einer entschlossenen Nationalisierungspolitik erheblichen Widerstand entgegensetzt. Man kann, wie wir gesehen haben, auch in verhältnismäßig kleinen Einheiten Eisen produzieren, und der Absatz wird bei höheren Preisen nicht empfindlich gedrosselt. Auf der Roheisenindustrie kann eine Gießereiindustrie aufbauen, die ohnehin in ziemlich kleinen Betrieben auftritt und keinen allzu hohen Kapitalbedarf hat. Damit erweist sich zum mindesten in den entwickelten Agrarländern ein beträchtlicher Zuwachs des Industriekörpers als möglich. Ein entscheidender Einbruch in die Sphäre der Produktionsmittelindustrie ist aber auch damit noch nicht erfolgt. Er beginnt erst mit der Aufnahme der Stahlproduktion. Nimmt man die Bedingungen so, wie sie gegenwärtig liegen, dann kommt man mit Bezug auf die S t a h l i n d u s t r i e zu mehr oder minder negativem Urteil. Gewiß kann die Industrie mit wirtschaftspolitischen

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Mitteln sehr viel weiter entwickelt werden, als es etwa die Werke an der Peripherie des nordamerikanischen Wirtschaftsraumes nahelegen. Es haben j a auch bereits Länder wie Brasilien und Mexiko ihre Stahlindustrie. Aber selbst wenn wir zugeben, daß im Zuge der Natiönalisierungsbewegung noch erheblich höhere Kosten in Kauf genommen werden können, scheitert die Entwicklung der kombinierten Schwerindustrie doch an den geringen Absatzgrößen, und zwar in vielen Fällen nicht nur an den hohen Kosten der geringen oder unausgenutzten Betriebsgrößen, sondern an dem Mangel an Absatz überhaupt. Dies gilt um so mehr, als ein Export dieser Industrien vom agrarischen Neuland aus im frühen Stadium der industriellen Entwicklung nicht in Frage kommt. Was für die Stahlindustrie, insbesondere die Walzwerksindustrie gilt, gilt cum grano salis auch für die sämtlichen Zweige arbeitsorientierter Q u a l i t ä t s i n d u s t r i e , von der Maschinenindustrie über die optische und Elektroindustrie bis zur chemischen Industrie in ihren arbeitsorientierten Zweigen. Wo die Stahlindustrie kein ausreichendes Absatzgebiet findet, finden es erst recht nicht die hochqualifizierten Spezialindustrien. Selbst wenn sie nicht in allzu großen Einheiten auftreten, wird die geringere Betriebsgröße doch in den meisten Fällen durch die höhere Spezialisierung und die damit erforderliche größere Breite der Absatzgebiete aufgewogen. Dazu kommen bei diesen Industrien die hohen Ansprüche an die Qualität der Arbeit, die erst in einem relativ späten Stadium der Industrialisierung befriedigt werden können, ganz abgesehen davon, daß viele dieser Industrien überhaupt nur auf der Grundlage einer entwickelten Stahlindustrie entstehen können. Diese Widerstände sind auch mit wirtschaftspolitischen Mitteln nicht zu überwinden. Es gibt A u s n a h m e n ; aber bei diesen handelt es sich stets um ganz besondere Bedingungen. So finden wir z. B., daß Industrien mit unmittelbarstem Absatz an die Landwirtschaft, wie die Landmaschinenindustrie, sich auch in minderentwickelten Agrarländern und ohne breite industrielle Grundlage ansiedeln können; sie haben sich auch in den Vereinigten Staaten ungewöhnlich weit nach Westen vorgeschoben. Sie können mit wirtschaftspolitischen Mitteln unter verhältnismäßig geringer Belastung der Volkswirtschaft ins Land gezogen werden. Es kann sich gelegentlich auch um eine besonders günstige Rohstoffkonstellation oder eine spezifische Arbeitseignung handeln. Auch die besondere Lage eines Staatsraums zu einem anderen kann zu besonderen Konstellationen führen. So hat Kanada zahlreiche Filialen amerikanischer Werke in seinen Staatsraum hineinziehen können. Aber auch, wo es sich nicht nur um Montagefabriken handelt,

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bleiben dies Fälle, die das allgemeine Urteil wohl modifizieren und verfeinern, aber nicht aufheben können. Wenn somit die Marktgrößen, letzten Endes also die Stärke der agraren Basis eine so entscheidende Rolle für die Entwicklung dieser Industrien, j a für eine Industrialisierung in großem Stil spielen, dann müssen wir nach den Möglichkeiten der Ausweitung dieser Grundlage fragen, wenn wir die Grenzen der Industrialisierung der Neuländer finden wollen. Diese Ausweitung steht und fällt in den jungbesiedelten, dünnbevölkerten Agrarländern mit der Verdichtung der B e v ö l k e r u n g . Dieser aber stehen, soweit das Neuland nach seiner geographischen Struktur überhaupt aufnahmefähig ist, entscheidende Hemmnisse entgegen, seit der Auswanderung aus den stark bevölkerten alten Industrieländern fast überall Riegel vorgeschoben sind. Die Einwanderung hat Amerika zu dem großen Industrieland gemacht, als das es heute vor uns steht, und Einwanderung wäre das einzige Mittel, mit dem auch in den anderen Kolonialländern die Voraussetzung für eine große Industrialisierung geschaffen werden könnte. Zwar sind die räumlichen Verhältnisse in keinem Lande so günstig wie in Amerika, dafür hat Amerika aber auch mehr als e i n „Industriesystem" auf seinem Boden entwickeln können, und die Bedingungen sind in manchen Ländern nicht ungünstiger als im amerikanischen Osten; zwar hat Amerika überdies seinen industriellen A u f b a u mit einem Menschenmaterial durchführen können, das für wirtschaftliche Aufgaben prädestiniert war, aber die Erfahrung, vor allem im Osten, zeigt, daß auch mit anderem Menschenmaterial große industrielle Aufgaben gelöst werden können. Unter diesen Umständen bieten die dichtbevölkerten Gebiete der europäischen Peripherie der Industrialisierung immer noch günstigere Möglichkeiten als die dünnbesiedelten Kolonialländer. Vor allem aber scheinen die menschengefüllten R ä u m e des asiatischen Kontinents, in erster Linie China, die Voraussetzungen für eine Industrialisierung in breitestem Ausmaße zu erfüllen. Das ist auf lange Sicht sicherlich richtig. Aber es handelt sich in China vorerst nur um einen potentiellen Absatzmarkt und eine potentielle Industriebevölkerung. Solange das Land nicht erschlossen, die Landwirtschaft nicht aus ihren traditionalistischen Bindungen herausgelöst und die politischen Hemmungen einer großen wirtschaftlichen Entwicklung nicht beseitigt sind, sind auch hier die Voraussetzungen für eine umfangreiche Industrialisierung nicht gegeben. Selbst Indien, das eine viel breitere und tragfähigere Basis für den Industrieaufbau abgibt, ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen einer Industrialisierung in ganz großem Stil noch nicht fähig.

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7. So bleiben also von den großen dichtbesiedelten Staatsräumen für das, was man V o l l i n d u s t r i a l i s i e r u n g im europäisch-amerikanischen Stil nennen könnte, zunächst nur Rußland und J a p a n übrig, die beide bereits einen erheblichen Grad industrieller Reife erlangt haben. Hier sind in der Tat alle Bedingungen erfüllt, die die Industrialisierung verlangt. Alle anderen Staatsräume der Peripherie haben entweder eine zu schwache Basis insgesamt oder nur eine Spezialbegabung für bestimmte Industrien. Sie stoßen — mit Ausnahme von Indien, das den großen Ländern aber erst in weitem Abstand folgt — auf nahezu unüberwindliche Hemmungen, sobald sie sich auf das Gebiet der eigentlichen Großindustrie, insbesondere der Produktionsmittelindustrie und der Fabrikation der hochqualifizierten Spezialitäten, begeben. Aber es kommt noch ein Weiteres hinzu. Der A u f b a u der Eisen- und Stahlindustrie, der Maschinenindustrie und anderer Großindustrien bedeutet eine gewaltige Verlängerung der Produktionswege, verlangt also einen sehr großen Aufwand an K a p i t a l . Diesen Widerstand haben auch die Länder zu überwinden, die an sich günstige Bedingungen für die Vollindustrialisierung aufweisen. Er ist besonders groß in einer Zeit, in der in Übereinstimmung mit der allgemeinen Nationalisiel ungstendenz auch die Kapitalüberschüsse der alten Industrieländer in erhöhtem Umfange im eigenen Staatsraum Verwendung finden. Dadurch werden die Agrarländer in großem Ausmaß gezwungen, ihre Industrialisierung aus den Sparquoten der eigenen Volkswirtschaft zu bestreiten. Diese aber machen im kleinen oder dünnbesiedelten Agrarland geringere absolute Beträge aus als im großen oder dichtbesiedelten Agrarland, so daß sich der Industrialisierungsprozeß, ganz abgesehen von den sonstigen Schwierigkeiten, auf eine viel längere Zeit verteilen muß. Selbst wenn also die Bedingungen für einen Industrieaufbau großen Stils in den peripheren Gebieten günstiger lägen, als unsere Untersuchungen ergeben haben, würde die Vollendung der Vollindustrie in weiter Ferne liegen. Die Bedeutung dieses Faktors wird besonders deutlich, wenn wir den Industrieaufbau des Landes betrachten, das von allen Agrarländern die günstigsten Bedingungen aufweist; das ist R u ß l a n d . Zweifellos ist die russische Industrialisierung erheblich belastet durch ihre unorganische Planung, die letztlich ein Ausdruck der bolschewistischen Ideologie ist und sich in vollkommener Nichtachtung jeder Entwicklungsgesetzlichkeit an Industrien wagt, die nur als letzte Glieder eines reifen Industriekörpers voll funktionsfähig sind. Auf der anderen Seite aber wird ihr Kapitalaufbau durch den rücksichtslosen Abbau der 44

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reichen Naturschätze wie Getreide, Holz und Petroleum, wie ihn große Neuländer betreiben können, und ihre kurzfristige Umwandlung in Produktionsmittel der Industrie wesentlich erleichtert. Vor allem aber kann sie sich auf die ungeheuren Sparmittel stützen, die die landwirtschaftliche Bevölkerung auf Grund einer Unterkonsumtion gewaltigen Ausmaßes hervorzubringen gezwungen ist. Die russische Industrie kann also mit einem Vergrößerungsquotienten wachsen, wie die keines anderen jüngeren Industrielandes der Welt. Trotzdem ist auch die russische Industrialisierung zunächst ziemlich einförmig geblieben. Sie richtet sich, unter starker Vernachlässigung der Konsumgüterindustrien, in erster Linie auf Eisen, Stahl und Maschinen, die über die Motorisierung der Landwirtschaft als Mittel zum Zweck der Erhöhung der Sparquoten letztlich dem Ziel der Entfaltung der Heeresmaschinerie dienen. Von einer Vollindustrialisierung im westeuropäisch-amerikanischen Sinne ist auch der russische Industriekörper noch weit entfernt. Wir haben festgestellt, daß es nur wenige Länder außerhalb der alten Industriestaaten gibt, die die Voraussetzungen für die Vollindustrialisierung erfüllen, und daß auch dort, wo die Voraussetzungen gegeben sind, noch erhebliche Entwicklungsspannen zu überwinden sind, ehe das Ziel erreicht ist. Wir müssen nun auch den Begriff der Vollindustrialisierung selbst noch weiter differenzieren, bevor wir den Auswirkungen der Industrialisierung der Neuländer auf die alten Industrieländer nachgehen können. Auch im Stadium der Vollindustrialisierung sind nämlich die Industriekörper noch stark nach nationalen Besonderheiten unterschieden. Ja, gerade im Stadium der Vollindustrialisierung, wenn sie ihre industriellen Kräfte zur höchsten Vollendung gebracht haben, haben sie zugleich auch die Spezialleistungen ihrer nationalen Produktivkraft am weitesten entwickelt. Das zeigt sich deutlich, wenn man etwa den englischen mit dem amerikanischen und dem japanischen Industriekörper vergleicht und insbesondere die Industrieprodukte, mit denen diese Länder am stärksten auf den Weltmärkten auftreten. Das ist in Japan das Produkt billiger Arbeit; das ist in den Vereinigten Staaten das Produkt der mechanisierten und standardisierten Massenproduktion; und das ist in England das Produkt der hochentwickelten Qualitätsarbeit. Also auch die volle Industrialisierung findet ihre Grenzen noch in den Besonderheiten der nationalen Produktivkraft. III. 9. Wenn wir uns nunmehr mit den R ü c k w i r k u n g e n der Industrialisierung der Neuländer auf die Exportindustrie der alten Länder

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befassen wollen, so müssen wir uns darüber klar sein, daß wir sie selbst dann nicht genau ermitteln könnten, wenn uns das umfassende statistische Material zur Verfügung stände, das Aufschluß über die Verschiebungen in der Stellung der Industrien der Welt geben würde. Viel zu viele Faktoren haben durcheinander gewirkt, und in jüngster Zeit hat die Weltwirtschaftskrise die internationalen Wirtschaftsbeziehungen völlig zerrissen oder verzerrt und die Rückwirkungen der Industrialisierung der Neuländer auf die Exportindustrien der alten Industrieländer durch andere Faktoren überkompensiert, die für die Lage der alten Exportindustrien von ungleich größerer Bedeutung sind. Wir brauchen nur auf die zahlreichen durch die Krise bedingten Hemmungen des internationalen Güteraustausches, insbesondere die Währungskrise hinzuweisen, um zu zeigen, welche Faktoren heute die Weltwirtschaft bestimmen. Aber selbst wenn wir annehmen dürfen, daß die Zerrüttung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen einer neuen weltwirtschaftlichen Ordnung weichen wird, hängt die Auswirkung der Industrialisierung der Neuländer doch entscheidend von dieser künftigen Ordnung selbst ab. Vor allem wird die Auswirkung auf die verschiedenen Industrieländer sehr verschieden sein, je nachdem wie sich diese Länder in die neue Ordnung einfügen. Anders wird die Wirkung sein, wenn wir einer Zeit stabiler, als wenn wir einer Zeit labiler Wechselkurse entgegengehen, und in beiden Fällen wieder verschieden von Land zu Land, je nach den währungspolitischen Methoden, mit denen sich das einzelne Land in die neue Ordnung einschaltet. Unterschiedlich werden die Rückwirkungen sein je nach dem Grade und dem Umfang regionaler Gruppenbildung im weltwirtschaftlichen Austausch. Verschieden müssen sie sich gestalten nach Maßgabe der Lösung der Rohstoff- und Kolonialprobleme, ja, nach der politischen Grundlage einer künftigen weltwirtschaftlichen Ordnung überhaupt. Angesichts dieses engen Zusammenhangs weltwirtschaftlicher und weltpolitischer Fragen können wir die Frage der Rückwirkungen der Industrialisierung der Neuländer auf die Exportindustrien der alten Länder nicht aufwerfen, ohne zugleich den Gesamtkomplex der außenwirtschaftspolitischen Gegenwartsfragen aufzurollen. Das würde selbstverständlich den Rahmen unserer Untersuchung sprengen. Es ist auch gar nicht unsere Aufgabe. Es kommt vielmehr darauf an, das Industrialisierungsproblem zu isolieren, indem wir uns darauf beschränken, aus den Ergebnissen unserer bisherigen Untersuchungen abzuleiten, welche Möglichkeiten positiver und negativer Art die Industrialisierung der Neuländer den alten Exportindustrien bietet. D a ß die Anpassung 44»

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an diese Möglichkeiten sich keineswegs automatisch vollzieht, wie es mit mehr oder minder großen Einschränkungen unter den Bedingungen und Ordnungsprinzipien der Weltwirtschaft der Vorkriegszeit geschah, daß die Anpassung vielmehr je nach der Konstellation der übrigen Probleme sehr verschieden sein kann, ist eine andere Frage. In jedem Fall gibt die Kenntnis der Möglichkeiten eine Grundlage für wirtschaftspolitische Entscheidungen. 10. Die Industrialisierung der Neuländer ist ein Wachstumsprozeß, der dem Absatz der Exportindustrien der alten Länder in steigendem Umfange V e r l u s t e bringt. Diese Verluste treffen zunächst die Konsumgüterindustrien, im weiteren Verlauf des Industrialisierungsprozesses auch die Produktionsmittelindustrien, sofern und soweit dem Neuland ein Eindringen in den Bereich der hochqualifizierten Spezialindustrien und der Schwerindustrie möglich ist. Wir müssen uns aber davor hüten, den gesamten Absatz der neuen Industrien jeweils als Verlust der alten zu buchen, denn in sehr erheblichem Umfange schafft sich die zuwachsende Industrie einen zusätzlichen Absatzmarkt. Da der Grad der industriellen Reife, bis zu dem die einzelnen Länder unter den gegebenen Bedingungen gelangen können, sehr verschieden ist, verbleiben industrielle Reservate, die nur von den jeweils höher qualifizierten Industrieländern ausgefüllt werden können. Einzelne Industrien, die in gewissen Ländern so günstige Bedingungen finden, daß sie über die heimischen Märkte hinaus vordringen können, bringen einen zusätzlichen Absatzverlust für die alte Industrie. Die langwierige Strukturkrise der Baumwollindustrie von Lancashire ist die unmittelbare Folge eines solchen Vordringens der asiatischen Industrie ebenso wie auf amerikanischem Boden die schwierige Lage der neuenglischen Industrie die unmittelbare Auswirkung der Ausdehnung der neuen Industrie in den Südstaaten. Die Tatsache nun aber, daß es sich um einen Wachstumsprozeß handelt, verschafft den höherentwickelten Industrieländern jeweils K o m p e n s a t i o n e n in Form neuer Absatzbereiche, die auf dem Zuwachs an Kaufkraft für Qualitätsprodukte beruhen, der mit dem Wachstum der Volkswirtschaften entsteht. Diese Kaufkraft kann sich zunächst auf K o n s u m g ü t e r richten. Daraus erklärt sich die Möglichkeit der unmittelbar angegriffenen Exportindustrie, sich vor der nachdrängenden jungen Industrie auf die Fabrikation immer höherer Qualitäten zurückzuziehen, wobei die alte Industrie häufig Reservate erreichen kann, in die ihr die junge Industrie nicht mehr zu folgen vermag. Diese Entwicklung hat die Baumwollindustrie von Lancashire tatsächlich durchgemacht, und auch die neuenglische Industrie hat

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sich in dieser Weise vor der Industrie der Südstaaten zurückgezogen, obgleich gerade die amerikanische Industrie auf Grund ihrer besonderen Kosten- und Absatzstruktur bei der Höherentwicklung schon ziemlich frühzeitig Grenzen findet. Die Kompensationen treten aber keineswegs nur im Bereich der gleichen Industrie, sondern auch bei anderen Industrien höherer Qualität und Spezialisierung auf. J a , sie verschaffen auch neuen Industrien, die aus dem Industriekörper der alten Industrieländer herauswachsen, zusätzlichen Raum. Man muß nun allerdings zugeben, daß die Kompensationen, die sich auf den Märkten der Konsumgüter äußern, einen verhältnismäßig geringen Umfang haben. Es kommt ihnen auch im Zeitalter der Nationalisierung und angesichts der gegenwärtigen Lage der Weltwirtschaft eine relativ geringe praktische Bedeutung zu, da bei den Neuländern keinerlei Zwang zum Import besteht. Auch ist der Zuwachs an Nachfrage nach hochqualifizierten Konsumgütern um so geringer, j e größer Tempo und Ausmaß des Wachstums der Wirtschaft in Form der Industrialisierung sind. Dafür nimmt nun aber die zusätzliche Nachfrage nach P r o d u k t i o n s m i t t e l n einen um so größeren Umfang an. Sie hat auch unter allen Umständen eine größere praktische Bedeutung für die alten Industrieländer, weil die Einfuhr von Produktionsmitteln Voraussetzung der Industrialisierung ist. Die Konsumgüterindustrie, die im frühen Stadium der Industrialisierung in kleinen Einheiten im Agrarland entsteht, tritt nur mit einem ziemlich beschränkten Produktionsmittelbedarf auf. In sehr viel stärkerem Umfange fällt bereits die mechanisierte Konsumgüterindustrie mit ihrem großen Aufbau- und ihrem ständigen Ersatzbedarf nach Produktionsmitteln ins Gewicht. Ganz große Bedeutung aber gewinnt der Produktionsmittelbedarf erst in den Ländern, die sich selbst auf das Gebiet der Produktionsmittelherstellung begeben. Ihre Nachfrage unterliegt bei zunehmender Industrialisierung einer ständigen Steigerung und führt auf lange Zeit von der Autarkie fort statt an sie heran. Zwar macht sich das Land von Etappe zu Etappe von bestimmten Produktionsmitteln frei. Dafür aber bedarf es in jedem Fall für die Weiterentwicklung wieder einer neuen Spezialapparatur und vieler ergänzender Hilfsmittel und -Stoffe, die die eigene Industrie nicht zu liefern vermag. Das gilt gerade auch für die Länder, die zur Vollindustrialisierung fähig sind, wie aufs deutlichste der Fall Rußlands mit seinem starken industriellen Zuschußbedarf zeigt. Es ist selbstverständlich nicht möglich, die einzelnen Positionen unserer Untersuchung exakt gegeneinander aufzurechnen und so etwas wie eine Bilanz aufzustellen. Ganz abgesehen von den Einschränkungen und Erweiterungen der Absatzbereiche müßten auch die Verluste be-

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rechnet werden, die durch Umstellungs- und Anpassungsschwierigkeiten entstehen, und die unter Umständen so groß sein können, daß sie die Vorteile der Absatzerweiterung zum mindesten vorübergehend aufheben. Eine solche Rechnung würde aber auch gar keinen Sinn haben, weil es sich um einen Entwicklungsprozeß mit fortdauernd wechselnden Phasen handelt, der statischer Betrachtung unzugänglich ist. Wir müssen vielmehr den Wachstumsprozeß als solchen ins Auge fassen. Die Nachfrage der Neuländer nach Industrieprodukten der alten Länder ist um so größer, je stärker ihr volkswirtschaftliches W a c h s t u m ist. Daß dieses Wachstum der Wirtschaft der Neuländer sich angesichts der fortgeschrittenen agrarischen Erschließung der Erde und im Zuge der allgemeinen Nationalisierungstendenz in den Formen der Industrialisierung vollzieht, ist für die alten Industrieländer von Fall zu Fall mit mehr oder minder schweren Verlusten an Absatz verknüpft. Aber auch diese Einbußen sind im Verhältnis zum Zuwachs an Produktionsmitteleinfuhr um so geringer, je stärker das Wachstum ist. Das entscheidende Problem für die Exportindustrien der alten Industrieländer ist also gar nicht die Frage, ob die Industrialisierung der Neuländer ihnen mehr oder minder Einbuße an Absatz bringt, sondern es ist die Frage, ob die Neuländer überhaupt wachsen oder nicht. Nur wenn sie wachsen, ist die Voraussetzung für die Existenz der alten Exportindustrien in gleichem oder wachsendem Umfange erfüllt. Damit wandelt sich das Industrialisierungsproblem, das uns zunächst als ein internationales Wettbewerbsproblem entgegengetreten ist, zum volkswirtschaftlichen Entwicklungsproblem. Allerdings hat der Zwang zur Einfuhr von Industrieprodukten bei den Ländern, die zur Vollindustrialisierung fähig sind, ein Ende, wenn dieses Stadium erreicht ist. Dafür bieten sich auch mit diesen, wenn sie sich weiterentwickeln, neue Austauschmöglichkeiten auf Grund wechselseitiger Ergänzung durch die nationalen Besonderheiten der Produktivkraft und des technischen Geschicks. Das ist durchaus vereinbar mit den autarkischen Bestrebungen der Nationalisierungspolitik. Die Wirtschaftspolitik kann nämlich die eigene Volkswirtschaft in lebenswichtigen Bezügen um so besser vom Ausland unabhängig machen, je mehr sie die dadurch entstehenden Belastungen durch verstärkten Austausch auf anderen Gebieten mit Hilfe spezifisch nationaler Begabungen auszugleichen imstande ist. Sie braucht diesen Austausch vor allem für jede Art von Wohlstandssteigerung über den Bereich der Existenzsicherung hinaus. Der bekannte rege Austausch zwischen hochentwickelten Industrieländern gibt dafür einen Beleg, der auch unter den veränderten Verhältnissen der Nationalisierungspolitik seine Bedeutung nicht verloren hat.

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I i . Fraglich könnte allerdings noch scheinen, ob wir nicht mit einer fiktiven Entwicklung ins Unbegrenzte rechnen, die in der Wirklichkeit keine Stütze findet. Bekannt sind die Argumente im Streit um das Ende des K a p i t a l i s m u s , die behaupten, daß die Expansion und damit der Fortschritt der Wirtschaft erschöpft, die Technik im Stillstand und die Dynamik des Kapitalismus erlahmt sei. Es ist hier nicht der Ort, dieses Problem auf breiter Grundlage zu erörtern. So viel aber sei zur Sicherung unserer These festgestellt, daß die besseren Argumente auf der Seite derer liegen, die das Erstarrungstheorem leugnen, so gründlich sie sich im übrigen über die Zukunft des kapitalistischen Wirtschaftssystems geirrt haben mögen. Selbst wenn kein R a u m für die Ausdehnung der Wirtschaft auf der Erde mehr zur Verfügung stehen sollte, so zeigt doch gerade die Analyse des Industrialisierungsproblems, welche gewaltigen Möglichkeiten intensiver Entwicklung noch gegeben sind. Man braucht nicht nur auf J a p a n , China, Indien und Rußland hinzuweisen, wo es noch u m die Heranbildung des Industriekörpers geht. Auch die vollindustrialisierten Länder bieten fortgesetzt neue Intensivierungsmöglichkeiten, wie die amerikanische Volkswirtschaft mit der Automobilisierung im letzten Konjunkturaufschwung gezeigt hat, und wie die deutsche Volkswirtschaft mit der Industrialisierung der Rohstoffgewinnung von neuem beweist. Auf der anderen Seite bieten auch die Agrarländer, die an die gegenwärtigen Grenzen ihrer Industrialisierung gelangt sind, zusätzliche Möglichkeiten landwirtschaftlicher Intensivierung, die auf lange Sicht auch wieder die Grundlage für die Industrialisierung verbreitern. Gerade in diesen Ländern bedeutet allerdings die geringe Bevölkerungsdichte ein Hemmnis, wie für die Industrialisierung, so für den wirtschaftlichen Fortschritt überhaupt. Dazu kommt, daß alle Neuländer unter den Erschwerungen leiden, die dem Kapitalexport aus den Ländern mit dem größten Kapitalzuwachs im Zeitalter der Nationalisierung entgegenstehen. Auf der anderen Seite tendieren die progressiven Kosten der Rohstoffgewinnung und die progressiven Kosten, die die Nationalisierung der Volkswirtschaften überhaupt in gewissem Umfange im Gefolge hat, dahin, die Kapitalzuwachsraten auch in den alten Ländern zu verkleinern. Es kommt also alles darauf an, inwieweit das dynamische Element in der Lage ist, diese Hemmungen durch erhöhte Sparquoten zu überwinden und sich der großen Intensivierungsmöglichkeiten zu bedienen. Was die kapitalistische Wirtschaft und ihre Dynamik betrifft, so ist sie n u n allerdings auf einem großen Teil der Erde — nicht etwa erlahmt, sondern nach ihrer Übersteigerung zu äußersten finanzkapitalistischen Konsequenzen von völkischen Kräften gebunden worden. Aber nicht

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Andreas Predöhl, Industrialisierung und

Weltwirtschaft

u m sie in eine vorkapitalistische statische Bedarfsdeckungswirtschaft zurückzuführen. Im Gegenteil, alle Anzeichen sprechen dafür, daß wir im Zeichen der nationalen Volkswirtschaften unter voller Verwendung kapitalistischer Techniken einer wirtschaftlichen Dynamik im Dienste völkischer Ziele entgegengehen, die die Entwicklung im Zeichen des überwundenen Kapitalismus noch in den Schatten stellt, gerade weil die nationale Volkswirtschaft Kräfte zu entfesseln imstande ist, die dem kapitalistischen Wirtschaftssystem mit seiner ausschließlich wirtschaftlichen Ausrichtung nicht zur Verfügung stehen. 12. Wir dürfen also erwarten, daß die Entwicklung der Volkswirtschaften sich auch in Zukunft in stärkstem Ausmaß fortsetzen, mithin auch die Industrialisierung der Neuländer weiter zunehmen wird. Unsere Untersuchung aber hat gezeigt, daß damit eine positive, nicht eine negative Voraussetzung für die W i r t s c h a f t s p o l i t i k der alten Industrieländer gegeben ist, und daß, aus welchem Grunde man immer den Export würde aufgeben müssen, die Industrialisierung der Neuländer jedenfalls der Grund nicht sein kann. Wie dieser Ansatzpunkt für die Exportpolitik der alten Länder im einzelnen geartet ist, haben die ersten beiden Teile unserer Untersuchung dargelegt. Für den konkreten Fall den konkreten Ansatzpunkt herauszuarbeiten, muß Sache der empirischen Einzelforschung bleiben. In welchem Umfange sich auf der ahderen Seite die alten Industrieländer die Industrialisierung der Neuländer zunutze machen können, hängt ganz davon ab, wie sie die übrigen politischen, insonderheit wirtschaftspolitischen Probleme lösen oder auf Grund ihrer besonderen Lage lösen können. Unser Ergebnis präjudiziert diese Aufgaben nicht, es will nur mit dem ihm eigenen Gewicht in das Ganze der Wirtschaftspolitik eingecrdnet werden. Es greift insbesondere auch den unmittelbaren Aufgaben der deutschen Gegenwart nicht vor, deren Lösung Voraussetzung einer weltwirtschaftlichen Neuordnung ist. Dazu gehört in erster Linie die Sicherung der Volkswirtschaft in ihren lebensnotwendigen Belangen, also die Lösung der dringlichsten Rohstoffprobleme auf dem Boden der eigenen Volkswirtschaft. Denn nur von gesicherten nationalen Volkswirtschaften aus kann eine neue weltwirtschaftliche Ordnung aufgebaut werden. Darüber hinaus aber bleibt es Aufgabe der deutschen Wirtschaftspolitik, diese Ordnung so zu gestalten, daß auch die deutsche Industrie an der Belieferung der wachsenden Volkswirtschaften der Neuländer teilnehmen kann, damit die deutsche Volkswirtschaft die Möglichkeit erhält, stärker zu wachsen und reicher zu werden, als es nach Rohstofferzeugung und Fabrikatabsatz der eigene Staatsraum gestattet.

DIE KREDITBANKEN IM WELTHANDEL VON

KURT

WIEDENFELD

I. Die weltwirtschaftliche Lage vor dem Kriege

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1. Welthandel und Weltmarktwirtschaft. — 2. Die staatlichen und privaten Beschränkungen der Weltmarktfreiheit. — 3. Die räumliche Ausdehnung der Weltmarktwirtschaft. II. Die Banken in der Weltmarkt-Wirtschaft

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1. Anlagekredite und Beteiligungen. — 2. Rembourskredit und Konsignationen. — 3. Der internationale Bankenaufbau. — 4. Die internationale Zahlungsvermittlung. III. Die neue Lage

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1. Die internationale Verteilung des Kapitalbesitzes. — 2. Die KapitalNeubildungskraft, besonders in Deutschland. I V . Die Banken in der neuen Zeit

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1. Der Zahlungsverkehr der Welt. — 2. Der internationale Kapitalverkehr. — 3. Deutschland im internationalen Kapitalverkehr. V . Die Kapital- und die Güter-Übertragungen in ihrem Zusammenhang 744

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Kurt

Wiedenfeld

I. I. EINEN W E L T H A N D E L — EINEN GÜTERAUSTAUSCH ALSO über den örtlichen und landschaftlichen Bereich hinaus — hat es so weit zurück gegeben, wie wir überhaupt die Menschheitsentwicklung nach Geschichte und Grabungswissenschaft in fernste Vergangenheit zu verfolgen vermögen; und sehr früh treten uns auch Erscheinungen entgegen, die wohl als Anfänge eines Bankentums anzusprechen sind und sogar so etwas wie eine Technik des überörtlichen, verschiedene Geldarten ausgleichenden Zahlungsverkehrs schon erkennen lassen. Die auf Geld lautende, an fremdem Ort zahlbare Anweisung und anschließend die den Geldtransport vermindernde Abrechnung internationaler Art dürften (wie der Welthandel selbst) eher entstanden sein, als es im landschaftlichen Bereich zu einem regelmäßigen, die Geldbenutzung allgemein machenden Güteraustausch und demgemäß zu einem alltäglichen Zahlungsverkehr gekommen ist. Hier sei nur daran erinnert, daß im europäischen Mittelalter unter Kanonischem Recht die Gültigkeit eines Wechsels an die Bedingung der d i s t a n t i a l o c i , an die Verschiedenheit also von Ausstellungs- und Zahlungsort, geknüpft war; als Zahlungsplätze kamen aber nur die Messestätten kraft besonderer Wechselprivilegien in Betracht, und stets bedurfte es außerdem besonderer Vereinbarungen zwischen den Magistraten der Ausstellungs- und der Zahlungsorte, die Rechtsverfolgung am Zahlungsort für den Wechsel zu sichern. I n ganz ähnlicher Weise schieben sich heute etwa in die Nomadenwirtschaft der sibirischen Steppen, deren alltägliches Leben die Züge ungebrochener Naturalwirtschaft aufweist, der Jahrmarkt und der auf ihn fällig gestellte Wechsel als Instrumente eines primitiven Welthandels ein: die sartischen Händler Mittelasiens und die russischen Kaufleute bringen hier ihre gegenseitigen Forderungen und Verpflichtungen zur Abrechnung, während mit den Kirgisen auch auf dem Jahrmarkt naturalwirtschaftlich Ware gegen Ware getauscht wird. Einen solchen Welthandel und das ihm dienende Bankentum wird man selbst dann, wenn sie in einigen Städten dank besonderer Gunst der Verkehrslage oder dank politischen Verhältnissen schon zu größerer Bedeutung gelangt sind, noch nicht als Träger einer besonderen, das Ganze des Lebens ausdrückenden Wirtschaftsform bezeichnen dürfen; sie legen sich tangentenhaft an den geschlossenen und alle wesentlichen Bedürfnisse des Daseins aus eigener Gütererzeugung deckenden Kreis des einzelnen Hofes oder der einzelnen Landschaft heran, dringen

Die Kreditbanken im Welthandel

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jedoch nicht in den Kern der Wirtschaftsführung hinein. Welthandel ist nicht gleichbedeutend mit Weltwirtschaft. Die neue Wirtschaftsform — von den Banken zum guten Teil mit herbeigeführt und ihren Aufgabenkreis zugleich der Art nach von Grund aus verändernd — ist recht eigentlich ein Kind des 19. J a h r hunderts. Ihr Wesen ist darin gegeben, daß der Güteraustausch über weite Erdgebiete hinweg für das Ganze der Bevölkerung — nicht mehr nur für dünne, wohlhabende Schichten in einigen Handelszentren — die Grundlage der Daseinsführung abgibt. Allgemein wird nicht für den Bedarf des eigenen Haushalts oder der nachbarlichbekannten Landschaft, sondern für den Verkauf an die weite — immer wieder neue Verhältnisse zeigende und insofern unbekannte — Welt produziert und fabriziert, und umgekehrt wird der Bedarf gerade nach den tagtäglichen Lebensnotwendigkeiten durch alle Schichten der Bevölkerung hindurch von diesem W e l t m a r k t her gedeckt. Auch der tatsächlich örtliche Güteraustausch steht unter diesem Weltmarkteinfluß, ist ein Teil des Weltmarkts geworden; d. h. nicht einmal im nachbarlichen Verkehr richten sich die Preise nach den örtlichen Gestehungskosten, sondern danach, wie der Käufer die Ware aus irgendeinem anderen Teile der Erde beziehen könnte, und für den Produzenten ergibt sich die Notwendigkeit, seine Gestehungskosten diesen weltmarktmäßig sich bildenden Preisen anzupassen oder aber seine Produktion einzustellen. Ein Risiko also, wie es weder die haushaltmäßig noch die landschaftlich gebundene Wirtschaft kennt, legt sich in der Weltmarktwirtschaft auf alle Beteiligten — das Risiko, ob Güterherstellung und Bedarf sich mengenmäßig wirklich decken werden, und wie die Preise zu den Gestehungskosten einerseits, den Einkommensgewohnheiten andererseits sich stellen. Ein Risiko, das um so schwerer auf den Produzenten lastet, als die fortschreitende Technik der Kraft- und Arbeitsmaschinen immer stärker das stehende Kapital, die festen Anlagen zu betonen zwingt, die aller tatsächlichen Produktion vorangehen müssen und in ihrer Marktwirkung sich niemals im voraus berechnen lassen; sogar derjenige Unternehmer, der nur „auf Bestellung" und nicht „auf Vorrat" arbeitet, ist von seinen technischen Anlagen her in jenen Risikozusammenhang hineingestellt. Oft genug bleibt nur die „Kapitalreorganisation" oder gar der Konkurs als letztes Mittel, den erzielbaren Preisen wenigstens privatwirtschaftlich die Gestehungskosten des einzelnen Werkes anzupassen. Immer steht der Gewinnaussicht die Verlustmöglichkeit gegenüber; und nicht als Gewinn-, wohl aber als Gewinn-Verlust-Wirtschaft läßt sich die Wirtschaftsform des Kapitalismus, die Weltmarktwirtschaft,

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Kurt Wiedenfeld

kennzeichnen — was für die Tätigkeit der Banken und für ihre volkswirtschaftliche Würdigung von maßgeblicher Bedeutung ist. 2. Besonders mag noch betont werden, daß an diesem Wesen der Weltmarktwirtschaft vor dem Weltkriege weder von den S t a a t e n noch von den privaten G r o ß o r g a n i s a t i o n e n grundlegend gerüttelt worden ist. Es hat zwar noch niemals und nirgends Staaten gegeben, die das Wirtschaftsleben ihres Gebietes sich völlig selbst überlassen hätten; auch Großbritannien hat mit seiner Notenbank-Gesetzgebung und seiner staatlichen Eisenbahnkontrolle, mit dem Schutz der landwirtschaftlichen Pächter und sogar mit seinen Finanzzöllen einen beträchtlichen Einfluß auf die Produktionsgestaltung ausgeübt — hat es doch zur Sicherung eines hohen Zollertrages den Tabakbau für die englische Landwirtschaft gänzlich verboten, und hat man doch ausrechnen können, daß die aus demselben Grunde besonders schroffe und umständliche Kontrolle der gesamten Einfuhr z. B. für Getreide eine Belastung mit sich gebracht hat, die hinter den deutschen Schutzzöllen nicht viel zurückgeblieben ist. Ebenso hat sich fast in demselben Augenblick, in dem die Weltmarktwirtschaft sich wirklich durchgesetzt hatte, in mannigfachen Wirtschaftszweigen das Bestreben geregt, durch nationale und auch internationale Vereinbarungen (Kartelle) dem Wettbewerb sogleich seine schärfsten Spitzen abzubrechen und die Gestehungskosten des einzelnen Bezirks wieder zur Grundlage der Preisbildung zu machen. Bei den staatlichen Maßnahmen jedoch hat es sich so gut wie durchweg — das englische Verbot des Tabakanbaus ist eine ganz vereinzelte Ausnahme — lediglich um das Bemühen gehandelt, einerseits die allgemeinen und durch ihre Natur an die Staatsgrenzen gebundenen Unterlagen allen Wirtschaftslebens für das Gesamtgebiet gleichmäßig zu stellen (Notenbankund Eisenbahn-, Arbeiterschutz- und Sozialversicherungspolitik), andererseits dem Bezug ausländischer Waren die Tür offen zu lassen und allenfalls nur eine feste, die weltmarktmäßige Grundlage der Preisbildung unberührt lassende Spese aufzudrücken (Zollpolitik). Und die privaten Kartelle haben lediglich auf einigen, ganz wenigen Sachgebieten besonders günstiger Bedingungslagerung das Ziel der Binnenmarktbeherrschung erreicht; sogar das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, überall in der Welt als Musterkartell angesprochen, hat stets etwa die Hälfte seines Absatzes im „bestrittenen Gebiet" unter Wettbewerbsdruck suchen müssen, und das Deutsche Kalisyndikat ist, obwohl früher außerhalb Deutschlands keine abbauwürdigen Lagerstätten bekannt waren, lediglich durch staatlichen Zwang (Gesetz von 1910) zusammengehalten worden. Es ist eine

Die Kreditbanken im Welthandel

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arge, völlig unzulässige Übertreibung, wenn von der marxistischsozialistischen Seite von Monopolkapitalismus als dem Kennzeichen neuzeitlicher Wirtschaftsführung gesprochen wird. Der Wettbewerb ist die vorherrschende Erscheinung geblieben, bis im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit dank den staatlichen Produktionsregelungen und Gütervernichtungen, Währungsabwertungen und Einfuhrbeschränkungen vom Wesen der kapitalistischen Wirtschaftsweise nichts übrig geblieben ist. 3. Seinen r ä u m l i c h e n B e r e i c h hatte der Weltmarkt allerdings noch längst nicht über die ganze Erde erstreckt. Der Fläche nach war es sogar nur der bei weitem geringere Teil, der am Ende der Friedenszeit in Produktion und Konsumtion schon entscheidend auf den überlandschaftlichen Güteraustausch sich eingestellt hatte. So führten ins Innere Südamerikas und Afrikas trotz der großen Stromsysteme, die dem Verkehr schon dienten, nur schmale Streifen weltmarktwirtschaftlicher Verflechtung hinein, und auch sie reichten nicht bis in die ganze Tiefe jener Erdteile hinauf; es war noch immer lediglich ein Welthandel primitiver Art, der hier sein Wesen trieb und die Lebensweise der Bevölkerungen nur an der Oberfläche berührte. Nicht anders stand es mit dem Innern Australiens und dem weitaus größten Teil Asiens sowie dem Norden Kanadas. Sogar das europäische Rußland konnte nur mit einem schmalen Streifen seiner westlichen Grenzgebiete bereits als weltmarktgebunden angesprochen werden; selbst der Getreideexport, der schon tief in den Osten hineingriff, hat hier die Lebensweise nicht aus ihrer Ursprünglichkeit herausziehen können — die Wolga, Europas gewaltigster Strom, endet nun einmal in einer Sackgasse und kann nicht zum Träger des Weltmarktanschlusses werden. Was aber übrig bleibt — West- und Mittel-, Nord- und Südeuropa, die Vereinigten Staaten von Amerika und der größere Teil Kanadas sowie endlich in den anderen Erdteilen die von den Küsten her schon aufgeschlossenen Streifen —, das war wirtschaftlich aufs engste miteinander verbunden, in der Gütererzeugung und im Güterverbrauch zu straffer Gegenseitigkeit voneinander abhängig und auch in dem Sinne eine Einheit, eine Weltmarktwirtschaft, daß sich aus dem Verhältnis der Gestehungskosten und der Preise allmählich und immer deutlicher in der Landwirtschaft ebenso wie in den Verarbeitungsgewerben eine internationale Produktionsteilung herausgearbeitet hat; zugunsten gewiß des Güterverbrauchs, der nie zuvor in gleicher Regelmäßigkeit und Mannigfaltigkeit sich hat befriedigen können — zu Lasten jedoch so mancher nationaler Urproduktion und Güterfertigung, die mit ihren Gestehungskosten

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Kurt Wiedenfeld

sich den weltmarktmäßig gebildeten Preisen nicht anzupassen vermochten 1 ). II. Am Aufbau dieser Weltmarktwirtschaft haben die B a n k e n in zwiefacher Weise entscheidend mitgearbeitet. Extensivierend, indem vorzugsweise sie es waren, welche jeweils aus den schon reicheren Landgebieten den Kapitalstrom in die noch zurückstehenden Länder geleitet und so den Bereich des Weltmarktes immer mehr ausgeweitet haben. Intensivierend, indem sie durch Beistellung ihrer Geldmittel es zahllosen Menschen „kapitalloser Energie" ermöglicht haben, zu selbständiger Handelstätigkeit zu gelangen und das Monopol der „Königlichen Kaufleute" allseitig zu durchbrechen. Mit ihren Emissionen von Aktien und Schuldverschreibungen hauptsächlich (nicht allein) haben sie jene Aufgabe der Extensivierung erfüllt; der Handelskredit, der sich die Rechtsform des Wechsels nutzbar gemacht hat, ist das wichtigste Mittel der Intensivierung geworden. i. Den überlandschaftlichen Güteraustausch zu einer allgemeinen, die ganze Daseinsführung großer Gebiete tragenden Erscheinung werden zu lassen, bedurfte es in allererster Linie eines Transportapparates, der auf Massenleistungen und auf Regelmäßigkeit eingestellt ist. Das mochte auf dem Meere schon in gewissem Grade die Segelschiffahrt darbieten, zumal man im Laufe der Jahrhunderte die Strömungen von „Wind und Wellen" auszunutzen gelernt hatte. Auf dem festen Lande jedoch genügen hierfür weder die Flußschiffahrt, solange sie sich den natürlichen Gegebenheiten des Stromlaufs und ihren ewigen Schwankungen anzuschmiegen hat, noch gar die primitiven Wege, die jeder Regen und jedes Tauwetter für längere Zeit unbrauchbar machen; nicht einmal die befestigten Straßen, da auch auf ihnen nur Wagen geringer Tragkraft verkehren können, solange es andere als tierische Zugmittel nicht gibt. Erst die Eisenbahnen, die den mechanischen Zugkräften den Weg entsprechender Lastfähigkeit unterlegen und dank der Zwangsläufigkeit des Schienenbetriebes von vornherein auf Fahrplanmäßigkeit gestellt werden müssen, bringen in die Tiefe der Länder dasjenige Transportmittel hinein, das jene Ansprüche auf Massenhaftigkeit und Berechenbarkeit befriedigt und Das Wesen der Weltmarktwirtschaft und ihren Gegensatz zu den anderen Wirtschaftsformen habe ich des näheren behandelt in dem Buche „Die Grundformen des Wirtschaftslebens. V o n der Haus- und Dorfwirtschaft zur Weltmarktund Nationalwirtschaft" (Leipzig, 1937).

Die Kreditbanken im Welthandel

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damit den Güteraustausch auch abseits der schmalen Meeresküstenstreifen auf Lebensnotwendigkeiten umzustellen erlaubt. Ihrer Leistungsfähigkeit müssen nun aber auch die See- und die Flußschiffahrt angenähert werden; auch diese, in deren Betrieb schon die ersten Versuche mit der Dampfkraft technisch gemacht worden sind, werden daher fast gänzlich auf Dampferbenutzung gerichtet, was wiederum weitgehende Verbesserungen der Wasserstraßen des festen Landes und die Leuchtturmsicherung schwieriger Meeresstraßen, schließlich sogar den Bau hoch leistungsfähiger Festlands- und Seekanäle hinter sich herzieht. Mit dem nun lebhaft und vor allem notwendig werdenden Güteraustausch wächst die Bedeutung der Nachrichtenübermittlung: Telegraph und bald auch Seekabel, anfangs an die Eisenbahnlinien und die wichtigsten Seestraßen geknüpft, stellen sich neben die Briefpost. Die entlegensten, in den allgemeinen Güteraustauch noch nicht hineingezogenen Erdgebiete, in die das staatliche Verwaltungsbedürfnis den Telegraphen- und Telephondraht hineinführt, werden so schon auch wirtschaftlich dem Weltmarktbereich wenigstens angenähert. Alle diese Anlagen sind gegenüber der Transporttechnik primitiverer Art und auch gegenüber der maschinellen Industrietechnik durch eine besonders scharfe Betonung des stehenden Kapitals gekennzeichnet, und sie brauchen auch, abgesehen von den besonderen Nachrichtenmitteln, ein verhältnismäßig hohes Betriebskapital. Ihre Unternehmungen mußten also von allem Anfang an mit einer Größe des Gesamtkapitals ins Leben treten, die man niemals zuvor zu einheitlicher Verwaltung zusammengefaßt hatte. Die Eisenbahnen zumal, obwohl sie überall in der Welt zunächst auf ganz kurze Strecken, auf die Verbindung benachbarter Städte sich beschränkt und erst später je mehrere Linien zu vereinigen gewagt haben — sie konnten nicht einmal in England, geschweige denn in anderen Ländern ihren Kapitalbedarf aus dem Vermögen einzelner Personen oder auch Familien befriedigen — mußten die ganze Breite der Kapitalistenkreise zu gewinnen suchen: eine Summe von rund 40 Millionen Pfund Sterling, also fast eine Milliarde Goldmark, wie sie die größte Eisenbahngesellschaft Englands in den fünfziger Jahren (die LondonNordwest-Bahn) schon aufwies, hat sich auf anderem Wege nicht beschaffen lassen. Es ist aber für die Gesamtheit des Transportwesens kennzeichnend, daß auch die alten englischen Reederfirmen, als sie zum Dampferbetrieb übergehen mußten, großenteils besondere Gesellschaften unter sich gestellt haben, die lediglich das Eigentum an den Dampfern zu erwerben, den ganzen Betrieb aber jenen Firmen

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Kurt

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zu überlassen hatten 1 ). Hier wird unmittelbar deutlich, daß es das stehende, nur langsam in Amortisationsraten sich reproduzierende Kapital ist, was die Heranziehung fremder Geldmittel zu dauernder Beteiligung notwendig gemacht hat. Die Rechtsform der Aktiengesellschaft ist daher von den Bedürfnissen der Transportunternehmungen aus zuerst in ihre neuzeitliche Gestalt geführt worden. Eben hierdurch, wie dann bald auch durch die gleichartigen Bedürfnisse der Industrie, sind die Banken vor eine völlig neue Aufgabe gestellt worden: die G r ü n d u n g s - und E m i s s i o n s t ä t i g k e i t . Dieser Geschäftszweig ist für das 19. Jahrhundert so neu, daß man in England noch heute den darin tätigen Firmen die Bezeichnung Bank verweigert, und daß auf dem europäischen Festland eine eigene Bankenform, die Aktienbank mit voll eingezahltem und als Betriebsfonds dienendem Kapital, sich daran entwickelt hat. Die alten Privatbankhäuser, wie sie aus dem Warengroßhandel und zum Teil auch aus selbständiger Quelle sich gebildet hatten, waren zwar schon längst aus reinen Zahlungsvermittlern mit Hilfe ihres Eigenkapitals und der ihnen zufließenden Depositengelder zu Instituten der Kapitalvermittlung geworden; es braucht hier nur an die Rolle erinnert zu werden, welche die niedersächsische Familie der B e r i n g (englisch Baring geschrieben) von London aus im 18. Jahrhundert als Kreditgeber des englischen Staates und die Rothschild während und nach der napoleonischen Kriegszeit gegenüber fast allen Staaten Europas innegehabt haben. Stets waren es jedoch kurzfristige, etwa durch Wechsel gesicherte Kredite gewesen, die man gegeben hatte; für die private Wirtschaft Betriebskredite, die alsbald nach der Abwicklung des einzelnen Geschäftsvorgangs von den Schuldnern zurückgezahlt wurden, und auch den Staaten gegenüber insofern kurzfristige Bindungen, als die staatlichen Schuldverschreibungen raschest an das Publikum weitergegeben wurden. Sogar die erste deutsche Aktienbank, der A. S c h a a f f h a u s e n s c h e B a n k v e r e i n in Köln (1848), für die man die Rechtsform der Aktiengesellschaft nur aus Verlegenheit — zur Zusammenfassung der Gläubiger eines zusammengebrochenen Privatbankhauses — zugelassen hatte und die daher auf preußischem Boden lange Zeit keine Nachfolge gefunden hat, sie betont durch den Mund ihres langjährigen Leiters und eigentlichen Schöpfers G u s t a v M e vissen in den ersten Jahren ihres Bestehens sehr stark, „daß es die Aufgabe eines großen Bankeninstituts sei, nicht sowohl durch eigene Diese eigentümliche Kombination von Eigentums- und Betriebsunternehmungen ist näher dargestellt in W i e d e n f e l d , Die nordwesteuropäischen Welthäfen in ihrer Verkehrs- und Handelsbedeutung (Berlin, 1903), S. a n .

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große Beteiligung neue Industriezweige ins Leben zu rufen, als durch die Autorität ihrer auf gründlicher Prüfung und Einsicht beruhenden Empfehlung die Kapitalisten des Landes zu veranlassen, die müßigen Kapitalien solchen Unternehmungen zuzuwenden, welche — richtig projektiert, wirklichen Bedürfnissen entsprechend und mit der Garantie einer sachkundigen Leitung versehen — eine angemessene Rentabilität in Aussicht stellen" 1 ). Der Bankverein hat jedoch diesen Grundsatz reiner Kapitalvermittlung nicht lange festzuhalten vermocht, ist vielmehr schon von der Krisis von 1857 als Eisenbahnund Industriebeteiligter erheblich getroffen worden. Und mit dem C r é d i t M o b i l i e r der Gebrüder P e r e i r e tritt in Paris im J a h r 1852, mit der (Darmstädter) Bank für Handel und Industrie in Deutschland im Jahre 1853, das neue System ins Leben, das durch die Ausgabe eigener Aktien (der C r é d i t M o b i l i e r sogar durch die Ausgabe von Obligationen) sich die Mittel verschaffen will, Aktien von Eisenbahn- und Industrie-Unternehmungen (neben festverzinslichen Staatsund Privatobligationen) zu erwerben und dadurch die Errichtung solcher Unternehmungen zu ermöglichen. Sogar England macht, wenngleich erheblich später, diesen Schritt mit; denn die I n v e s t m e n t T r u s t s , deren erste im Jahre 1868 errichtet worden sind, haben zu Anfang der 70er Jahre die Aktiengesellschaftsform angenommen und neben ihrem Besitz von staatlichen und staatlich garantierten Schuldverschreibungen den Erwerb von Aktien gepflegt 2 ). In allen Fällen haben der Absicht und der Tat nach die neu erstehenden Eisenbahnen von Anfang an, in England auch die Schiffahrts- und die Kabelunternehmungen die besondere Aufmerksamkeit dieser neuen Banken gefunden. Und wenn dann auch — nach dem Mißerfolg des C r é d i t M o b i l i e r (1867) und nach der schweren Krisis von 1873 — die kontinentalen Banken sich wieder stärker von der eigenen Beteiligung auf die Kreditvermittlung zurückgezogen haben, so ist es doch nicht nur in Deutschland allgemein üblich geblieben, die gewaltigen Geldmittel für die Gründung neuer Verkehrsunternehmungen zunächst einmal durch eine Großbank stellen zu lassen — wie sollte anders die „Simultangründung" des Aktienrechts zustande kommen? — und auf das Gründungsgeschäft erst das Emissionsgeschäft aufzusetzen. Kein Zweifel also, daß der Einsatz der Aktienbanken in der einen wie in der anderen Form zur Entstehung des neuzeitlichen Transport1

) Jahresbericht des Bankvereins für 1 8 5 2 ; zitiert nach H a n s e n , Gustav M e -

vissen (Berlin, 1906), Bd. I I , S. 520. 2

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) J ö r g e n s , Finanzielle Trustgesellschaften (Stuttgart, Berlin, 1902), S. i 8 f f . Probleme d e s Deutschen Wirtschaftslebens

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Kurt Wiedenfeld

wesens grade auch im westlichen und mittleren Europa ganz wesentlich beigetragen hat. Die europäischen Großbanken sind es dann auch gewesen, die in den unentwickelten Erdgebieten — in Europa selbst wie in den anderen Erdteilen — die Errichtung von Eisenbahnen herbeigeführt und so den Anschluß dieser Länder an den Weltmarkt eingeleitet haben. Dies ist namentlich Nordamerika gegenüber zu betonen, weil hinter den vielgenannten Namen der dortigen „Eisenbahnkönige" die entscheidende Mitwirkung des europäischen Kapitals und damit der vermittelnden Banken allzu stark zurückzutreten pflegt. Ohne die englischen, französischen und holländischen Geldmittel hätten weder ein V a n d e r b i l t , noch ein C a s s a t t , noch ein G o u l d das ältere Nordostviertel der Vereinigten Staaten mit Schienenwegen überziehen können, und ohne das Hinzutreten deutscher Kapitalien wäre den F i n k , H i l l und H a r r i m a n (alle drei deutschen Ursprungs) das Erschließen des Westens so rasch und geschlossen ebenfalls nicht möglich gewesen. Das Bankhaus M o r g a n , das um die Wende des vergangenen Jahrhunderts die Rolle eines Schiedsrichters im nordamerikanischen Eisenbahnwesen hat spielen können, ist ursprünglich durch seine Londoner Zweigverbindung mit den erforderlichen Geldmitteln versorgt worden; und noch im neuen Jahrhundert hat die Deutsche Bank eine so große und für den ganzen Westen der Union so wichtige Aufgabe wie die Reorganisation der N o r t h e r n P a c i f i c R a i l r o a d Co. durchführen müssen 1 ). Auch bei den zahlreichen Konkursen (receiverships) und freien Kapital-Reorganisationen der älteren Vergangenheit, namentlich der 70er und 80er Jahre des 19. Jahrhunderts, ist europäisches und so auch deutsches Kapital in beträchtlichem Ausmaß verloren gegangen — ein nicht nur privatwirtschaftlicher Verlust zugunsten der Vereinigten Staaten, in denen die von Europa gelieferten und mit jenem Kapital bezahlten, nun aber nicht mehr zins- und dividendenpflichtigen Materialien als fertige und betriebsfähige Eisenbahnen weiter arbeiten konnten. Im ganzen ist jedoch diese Art der Kapitalanlage auch für Europa zum volkswirtschaftlichen Vorteil geworden; denn neben jenen Verlusten und neben der schweren Schädigung, die sich für die europäischen Landwirte aus der plötzlich hereinbrechenden Konkurrenz der amerikanischen Prairie ergab, stehen doch auch die reichen Lieferungen V g l . v o n d e r L e y e n , Die nordamerikanischen Eisenbahnen in ihren wirtschaftlichen und politischen Beziehungen (Leipzig, 1885). — W i e d e n f e l d , Die Einheitsbewegung unter den Eisenbahnen der V . St. A . (Archiv für Eisenbahnwesen, 1903, S. u g g f f . )

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an Baumwolle und mannigfachen Erzen, auf deren Verarbeitung sich die europäischen Industrien nun stützen konnten, und später auch zunehmend ein Fabrikateaustausch, der die natürlichen Gegebenheiten beider Seiten zur vollen Geltung gebracht hat. A n andern Ländern, denen deutsche Banken durch die Vermittlung entsprechend großer Kapitalsummen den Eisenbahnbau ermöglicht haben, seien etwa Österreich und Ungarn, Rußland und Rumänien, die Türkei, Siam und China aufgeführt. Zumeist stand man allerdings in diesen Fremdgebieten in heftiger Konkurrenz mit den Banken der westeuropäischen Staaten, zumal Englands und Frankreichs. Rußland jedoch war wenigstens bis zum J a h r e 1887 beinahe eine Domäne deutscher Bankenbetätigung — bis zu dem Zeitpunkt also, in dem auf Bismarcks Forderung hin die russischen Wertpapiere von der Lombardliste der Reichsbank abgesetzt wurden und nun Frankreich dem russischen Staate die Mittel zum Bau strategischer Eisenbahnen gewährte; und Rumänien hat seine Schienenwege so gut wie vollständig durch die Berliner Discontogesellschaft bekommen. In der Türkei konnte sich keine der englischen und der französischen Bankunternehmungen auch nur annähernd mit dem großen Werk der Deutschen Bank, der Anatolischen und der Bagdadbahn, an wirtschaftlicher und gar an staatlicher Bedeutung messen. In Siam hat sogar das Staatsbahnnetz bis zum Kriege unter deutscher Leitung gestanden. Im ganzen wird man Deutschlands Eisenbahnbetätigung auf ausländischem Boden wohl in eine Reihe mit der französischen Kapitalgewährung stellen dürfen; mit dem Unterschiede jedoch, daß die deutschen Banken für diesen Zweck zunächst private Unternehmungen errichtet und mit dem erforderlichen Kapital ausgestattet haben, während die französischen Mittel dieser Zielsetzung überwiegend als Staatskredite gewährt worden sind. Ungleich stärker ist der Anteil des englischen Kapitals gewesen. Nicht nur hat es den ganzen Bereich des britischen Kolonialbesitzes so gut wie allein mit Eisenbahnen versorgt; hier finden sich auch Staatsbetriebe in recht großem Ausmaß, für die den Kolonialreichen die Mittel durch Londoner Banken zugeführt worden sind — im Gegensatz zu den wenigen Kolonialbahnen, die dem Herrschaftsstaate gehören und demgemäß unmittelbar aus Anleihen dieses Staates, ohne Beanspruchung von Bankenhilfe finanziert worden sind. Auch im selbständigen Ausland, so namentlich in Südamerika, sind die meisten Schienenwege von England her gebaut und englischer Leitung unterstellt worden, und zwar durchweg als Privatunternehmungen englischen Rechts. Diese Betätigung hat so weit ausgegriffen, daß man 45*

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noch heute, obwohl in und nach dem Weltkrieg manche Linie Südamerikas verstaatlicht worden oder auch in nordamerikanische Hände übergegangen ist, Englands Anteil an der Eisenbahnausstattung der nichteuropäischen und nicht zur nordamerikanischen Union gehörenden Länder auf etwa die Hälfte schätzen kann. In ihm ist das vielleicht stärkste Band zu erblicken, das das britische Weltreich umschlingt und das auch jetzt noch so manchen selbständigen Staat tatsächlich von England abhängig macht. Und sehr bezeichnend: während in England selbst die I n v e s t m e n t T r u s t s für die Eisenbahnfinanzierung schon vor dem Weltkrieg kaum noch Bedeutung besitzen und auch innerhalb des gesamten Bankentums hierfür keine Nachfolge gefunden haben, stehen die großen M e r c h a n t B a n k e r s und die F o r e i g n a n d C o l o n i a l B a n k s , wenn sie schon formell nicht als Gründer und Emissionshäuser aufzutreten pflegen, doch tatsächlich so gut wie immer hinter den großen Eisenbahnen des Kolonialbereichs wie auch des selbständigen Auslands, und oft haben sie auch für die Aktienemissionen ebenso wie für die Ausgabe der staatlichen Schuldverschreibungen in aller Form die Garantie des Gelingens übernommen 1 ). Die bekannte Klage englischer Wirtschaftskreise, daß die englische Tradition dem Ausland zugestehe, was sie dem Inland verweigere, findet hier eines ihrer wichtigsten Objekte. Überall in der Welt sind nun aber die Eisenbahnen nur die ersten Erschließer des Landesinnern gewesen. Die Massentransporte, die durch sie über große Entfernungen hinweg möglich wurden, haben an den Meeresküsten ihre Fortsetzung in der Seeschiffahrt gefunden und umgekehrt. Und wie diese um das Jahr 1880 sich entscheidend auf den Dampferbetrieb und damit auf die Großunternehmung spezialisierter Transportaufgaben umgestellt hat, so entstehen allenthalben in den Seehäfen und längs den Schienenwegen im Innern auch die Umlade- und Lagerungsanlagen, die in gleicher Weise die Massenleistung und die Regelmäßigkeit ihres Betriebes betonen. Auch die Industrialisierung der noch zurückstehenden Länder setzt längst vor dem Weltkriege ein, wo nur immer ein entsprechend großer Bedarf nach einfachen Fabrikaten und eine genügende Menge geeigneter Arbeitskräfte zusammentreffen. Die maschinellen Anlagen, das stehende Kapital also, werden für jene Hilfsbetriebe des Transports ebenso wie für die neuen Fabriken von den alten Industrieländern gestellt, die auch regelmäßig die Gesamtfinanzierung übernehmen. Meist sind es dieselben Banken, die sich hier als Gründer betätigen, *) V g l . J a f f e , Das englische Bankwesen (2. Aufl., Leipzig 1910), S. 7 5 f r .

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die auch hinter den Eisenbahnen stehen; und wenn sie auch nicht annähernd so regelmäßig wie bei diesen der Gesellschaftsgründung die Emission etwa der Aktien in Europa folgen lassen können, — durch Vermehrung ihres eigenen Kapitals schaffen sie doch aus der europäischen Kapitalbildung sich die Mittel, durch ihre Auslandsfilialen und ausländischen Tochterbanken an der Auslandsentwicklung mitzuarbeiten. 2. Im Gegensatz zu der Gründungs- und Emissionstätigkeit der Banken, bei der sich aus einer neuen Aufgabe auch neue Geschäftsformen entwickelt haben, ist für die Intensivierung der Welthandelsorganisation, die Vergrößerung des dazu befähigten Personenkreises hauptsächlich eine alte Form des Wechseldiskontierens benutzt worden: der sog. R e m b o u r s k r e d i t . Mit seiner starken Ausweitung bildet er die erste Unterlage jener internationalen Bankenverzweigung, die dann auch dem Gründungs- und Emissionsgeschäft dienstbar gemacht worden ist. Er steht aber nach wie vor auch in engstem Zusammenhang mit dem internationalen Zahlungsverkehr und hat durch diesen einen durchaus eigentümlichen, den sonst im Welthandel zu beobachtenden Entwicklungstendenzen sich nur leise und spät anpassenden Ortsaufbau erhalten. Das Wechseldiskontierungsgeschäft, an die Rechtsform des Indossaments geknüpft und mit diesem zur Entfaltung gebracht, gehört an sich zu den älteren Bankbetätigungen und ist auch im internationalen Warenverkehr, in Verbindung mit dem Schiffskonnossement und der Versicherungspolice, wohl schon seit längerer Zeit zur glatteren Abwicklung der Zahlungsverpflichtungen benutzt worden. Immerhin wissen wir aus handelstechnischen Darstellungen der älteren Zeit, wie etwa aus der Handlungslehre von B ü s c h (erste Auflage 1792), und aus Lebensbeschreibungen selbst jüngeren Datums, daß es tief bis ins 19. Jahrhundert hinein in den Großkaufmannskreisen keineswegs üblich war, die ihnen zugehenden Akzepte ihrer Warenkäufer etwa bei einer Bank schon längere Zeit vor der Fälligkeit zur Diskontierung zu bringen; es wurde vielmehr als selbstverständlich betrachtet, daß der Königliche Kaufmann — ein Begriff, der nicht eigentlich ethischen Inhalts war — ebenso wie den technischen Apparat der Schiffe und Lagerspeicher, so auch ein genügend großes Betriebskapital besaß, jene Akzepte bis zur Fälligkeit im eigenen Besitz zu behalten und sie nur allenfalls zwecks Einziehung oder Abrechnung kurz vorher von einer Bank diskontieren zu lassen. Das Wechselrecht war auch noch nicht zu jener vollen Abstraktheit der Wechselforderung und vollends nicht zu der internationalen Gleichheit gelangt, den Banken in wirk-

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lieh großem Umfange den Erwerb von Wechseln außerhalb eines engbegrenzten Kreises altbewährter Kunden nahezulegen. Solange die Bemängelungen aus dem Warenkauf, aus dem der Wechsel erwachsen ist, auch der Wechselforderung gegenüber geltend gemacht werden können, ist dieser immer noch fast nur Zahlungserleichterer und allenfalls Kreditsicherer, aber nicht der Träger einer selbständigen Kreditgewährung und nur in begrenztem Umfang umlaufsfähig — wie es noch heute des nordamerikanischen Rechtes wegen für den Dollarwechsel gilt. Vom zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts an greifen jedoch eine ganze Reihe von Wirtschafts- und Rechtserscheinungen ineinander, den Welthandel auf eine breitere Personenbasis zu stellen. Mit den Eisenbahnen und der Dampfschiffahrt wird es unmöglich, daß der einzelne Großkaufmann noch selbst Besitzer des Transportapparates bleibe; neu errichtete Aktiengesellschaften nehmen ihm diese Aufgabe ab, und nur noch in deren Aufsichts- oder Verwaltungsräten hat der alte Handel ein gewichtiges Wort mitzusprechen. Besondere Lagerhaus-Unternehmungen stellen sich ebenfalls neben den Handel, j e größer die Gesamtumsatzmengen der einzelnen Handelsplätze werden. Die großen Produktenbörsen endlich machen alle wichtigen Nachrichten aus aller Welt zum Gemeingut ihrer Besucher, wie auch die Wissenschaften von Land und Leuten dem Anfänger manches Lehrgeld ersparen. Alles dies bedeutet für die selbständigen Großhandelsfirmen, daß sie von der Last des stehenden Kapitals sich befreien können. Damit wird der Personenkreis, der sich selbständig machen kann, ganz beträchtlich ausgeweitet und das Monopol der Königlichen Kaufleute, das zu ausschlaggebendem Teil sich auf privatem Kapitalbesitz aufgebaut hatte, an der entscheidenden Stelle durchbrochen. Dieser Tendenz fügt sich die Wandlung an, die in derselben Zeit im Wechselverkehr allgemein und besonders auch in der Devisenbehandlung eingetreten ist. Auf der einen Seite hat das Bedürfnis der kapitalschwächeren Handelskreise, auch ihr — verhältnismäßig geringes — Betriebskapital zu möglichst häufigem und deshalb jeweils raschem Umschlag zu bringen, das vorzeitige Verkaufen der aus K a u f preisschulden entstandenen Akzepte nicht nur nicht in der Rolle einer seltenen Ausnahme gelassen, sondern geradezu zur herrschenden Regel gemacht; oft genug gibt der Exporteur den von ihm erst ausgestellten, vom bezogenen Importeur noch nicht akzeptierten Wechsel bereits der befreundeten Bank des Exportplatzes zur Diskontierung, um auch noch die Zeit des Wechseltransportes für die Flüssigmachung der in

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seinem Einkauf angelegten Mittel zu sparen — die dann übliche, dem erhöhten Risiko der Bank entsprechende Sonderprovision, die neben dem Diskont des Wechsel-Zahlungsortes von dem Nennbetrage abgezogen wird, zeigt dann besonders deutlich die Betonung des Kapitalumschlagtempos. Auf der anderen Seite sind aber auch die Banken durch die völlige Abstraktheit des Wechsel Versprechens, die sich in diesem Zusammenhang bei den wichtigeren Handelsstaaten der Erde rechtlich durchsetzt, in die Lage gebracht worden, ihre Mittel in ganz anderem Maße wie vordem einem solchen Bedürfnis dienstbar zu machen; denn sie werden bei dem Erwerb des Wechsels rechtlich in keiner Weise mehr mit den besonderen Bedingungen des zugrunde liegenden Kaufvertrages verknüpft und haben nur noch allgemein nach der „Güte der Unterschriften" zu fragen. In voller Breite kann jetzt das dem einzelnen Handelszweig fremd gegenüberstehende Bankenkapital, obwohl seine Organe z. B. die Qualität der gelieferten Ware auf ihre Vertragsgemäßheit gar nicht zu beurteilen vermögen, helfend und den Umschlag des Handelskapitals beschleunigend in die verschiedensten Zweige des internationalen Warenhandels als kurzfristiger, dem wirklichen Warenumschlag sich anpassender Kredit eingefügt werden. Gewiß pflegten die Banken, die sich diesem Rembourskredit widmeten, bis zum Weltkriege wohl ausnahmslos bei der Kreditgewährung sich zu vergewissern, daß dem zu diskontierenden Wechsel eine wirkliche Warentransaktion des Ausstellers zugrunde lag; ihm mußten die „Dokumente" (Konnossement, Versicherungspolice und Rechnung) angeheftet sein. Die reale Sicherheit jedoch, die Verfügungsgewalt über die Ware, gaben sie ebenso ausnahmslos aus der Hand, wenn sie jene Dokumente, vor allem also das Konnossement, dem Bezogenen gegen sein Akzept aushändigten. Der Charakter der Devise als eines Kreditsicherungsmittels trat also, ebenso wie der des Zahlungsausgleichers, in den Hintergrund; der Wechsel war zum Träger eines selbständigen Kredit-Zusammenhanges geworden. Noch in einer zweiten Form ist das Bankenkapital durch Gewährung kurzfristigen Kredits dem Bedürfnis des Warenhandels nach Beschleunigung seines Kapitalumschlags förderlich geworden: durch seine Beteiligung am K o n s i g n a t i o n s v e r k e h r . Obwohl nämlich für die derben Massenstoffe des neuzeitlichen Welthandels (wie Getreide, Baumwolle, Erze u. a. m.) bereits die Lieferungsverträge durch formularmäßige Festlegung aller Bedingungen außer dem Preise und namentlich durch die Schematisierung der Warenqualitäten (Aufstellung von Standardtypen u. ähnl.) mehr und mehr auf die Mög-

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lichkeit eines telegraphischen Abschlusses eingerichtet worden sind und so dem Exporteur ein rasches Abstoßen der von ihm gekauften Ware erlauben, kommt es doch selbst bei diesen Gütern gar nicht selten und bei den noch stärker individualisierten Objekten (wie Wolle, Häute u. a. m.) ganz regelmäßig vor, daß ein Weiterverkauf sich so rasch nicht bewirken läßt. In den Rohstoffexportgebieten ist aber dank ihrer Kapitalknappheit im allgemeinen der Zinssatz verhältnismäßig hoch, eine Lombardierung der Waren also teuer; und so sendet man beträchtliche Mengen lieber nach Europa ab, auch wenn sich noch kein Käufer für sie gefunden hat. Hierbei werden als vorläufige Empfänger die Banken eingeschaltet, während gleichzeitig Fachagenten um den Verkauf bemüht bleiben, oder bis zu dem Zeitpunkt der nächsten Auktion, die dann den Käufer bringen soll; die technisch-fachgemäße Lagerung wird einem Lagerhaus-Unternehmen übertragen. So kommt die Bank in den Besitz des Konnossements und danach des Lagerscheins, realer Sicherheiten also; und sie kann auf den erwarteten Preis der Ware einen Vorschuß gewähren. Dies geschieht dann auch entweder schon unmittelbar nach der Verladung der Güter, indem der überseeischen Vertretung der europäischen Bank die Ladepapiere ausgehändigt werden, oder aber bei der Ankunft des Postdampfers, der diese Papiere schneller, als der einfache Güterdampfer das Gut, nach dem Konsignationsplatz bringt. Von der Wechseldiskontierung unterscheidet sich aber diese Vorschußgewährung durch das größere Risiko, das die Bank läuft, eben weil der endgültige Käufer und der Verkaufspreis noch nicht feststehen; der Vorschuß kann deshalb immer nur einen Bruchteil des erwarteten Preises ausmachen, nicht aber allein durch Abzug eines Diskontes errechnet werden, und nur für solche Waren, deren Preisbewegung die — nicht fachverständige — Bank aus einer irgendwie autoritären, börsenmäßigen Preisnotierung abzulesen vermag, kommt diese Sonderform der Konsignation in Betracht. Trotz solcher Einschränkungen ist sie jedoch, wie einzelwirtschaftlich für die beteiligten Warenhändler, so volkswirtschaftlich für die Produktionsentfaltung der Export- und für die Bedarfsdeckung der Bezugsgebiete von maßgeblichem Wert gewesen; auch sie bedeutet, daß die reicheren Importländer aus ihrem Vorrat flüssiger Mittel und nach Maßgabe ihrer niedrigeren Zinssätze jenen „den Ernte-Absatz finanzieren" und sich selbst den regelmäßigen Zufluß sichern konnten. — 3. Von der Pflege des kurzfristigen Auslandskredits hat jener i n t e r n a t i o n a l e B a n k e n a u f b a u , der dann auch den langfristigen Anlagen von Europa her dienstbar gemacht worden ist, seinen Ausgang ge-

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nommen. Die erste Neuerung des 19. Jahrhunderts hat darin bestanden, daß dank den napoleonischen Kriegen, die alle wirtschaftlich schon wichtigen Festlandsstaaten in ihren Produktionskräften schwer getroffen hatten, und nicht zuletzt dank der Kontinentalsperre England sich zur ersten Welthandelsmacht entwickeln konnte: ihm allein standen die Weltmeere und der Zugang zu den fremden Erdteilen offen, mit Hilfe der erst damals hochkommenden Baumwollieferungen der nordamerikanischen Südstaaten brachte es die Baumwollverarbeitung seiner Mittelgebiete an die Spitze der ganzen europäischen Textilindustrie, und auf englischem Boden zuerst ist überhaupt die neue Dampfmaschine, die Massenfabrikation zur Beherrscherin der gewerblichen Entwicklung geworden. In London und nicht mehr in Amsterdam konzentrierte sich der Wechselverkehr der Welt; sogar Rußland und die Donauländer, obwohl sie direkt noch Berliner und Wiener Banken in Anspruch zu nehmen pflegten, waren doch indirekt zur Befriedigung ihrer Kreditbedürfnisse auf Englands Kapitalbildung angewiesen. Und so blieb nicht aus, daß bald auch die kontinentalen Handelshäuser, die ihre Waren in England absetzen oder von dort beziehen wollten, ihre englischen Verkaufs- oder Einkaufsfilialen zum Hauptgeschäft umwandeln mußten — wie noch heute der Warengroßhandel Englands durch das Überwiegen ursprünglich deutscher, griechischer, jüdischer Firmen und eine auffallende Seltenheit eingeboren-englischc.- Häuser gekennzeichnet ist. Von England aus sind die ersten Dampferlinien, die mit festem zeitlichen und örtlichen Fahrplan arbeiten, sowohl für die Bedienung des europäischen Bereichs als auch nach den andern Erdteilen hin errichtet worden. Das den napoleonischen Kriegen folgende Menschenalter ist denn auch die Zeit, in der diejenigen F o r e i g n a n d C o l o n i a l B a n k e r s , die noch heute in London führend sind, zumeist vom Ausland her — die ursprünglich englischen Firmen sind auch hier selten — sich in England niedergelassen haben und die ersten B a n k s dieser Art errichtet worden sind. Die zweite Hälfte des ig. Jahrhunderts bringt den Kampf des westund mitteleuropäischen Festlandes um die weltwirtschaftliche Selbständigkeit; gegen Ende des Jahrhunderts machen sich auch in den Vereinigten Staaten von Amerika die Bestrebungen geltend, die Vermittlung Londons und überhaupt Nordwesteuropas abzuschütteln — bereits in engstem, ursächlichem Zusammenhang mit der rasch zunehmenden Industrialisierung eben dieser Gebiete, da auf ihr ebenso die gewaltige Zunahme der im Welthandel umgesetzten Gütermengen wie das beschleunigte Tempo der Kapitalienbildung beruht. Den

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Anfang macht überall die Seeschiffahrt, indem sich neben London und Liverpool die Festlandshäfen als Ausgangsplätze direkter Linienverbindungen nach Übersee hinstellen; die Kosten der Umladung sind zu hoch, als daß man sie nicht beim Erreichen der erforderlichen Mindest-Gütermengen durch eigene Linien ersparen müßte: so wird in den fünfziger Jahren Nordamerika, in den sechziger und siebenziger Jahren Süd- und Mittelamerika, in den achtziger Jahren Ostasien und Australien, im letzten Jahrzehnt endlich Afrika mit Hamburg und Bremen, Amsterdam und Rotterdam, Antwerpen und Le Havre, in geringerem Maße auch mit Marseille in fahrplanmäßigen und immer dichter sich folgenden Fahrten verbunden, und die Wende des Jahrhunderts bringt auch für New York den Versuch, sich durch eine eigene Linie nach Ostasien (durch den Suezkanal) von der nordwesteuropäischen „Verkehrsecke" unabhängig zu machen. Der Seeschiffahrt folgte der Warengroßhandel; Englands Versuch, durch sein Handelsmarkengesetz von 1887 (made in Germany) die Bewegung aufzuhalten, erweist sich als fruchtlos und hat sie wahrscheinlich sogar beschleunigt. Hand in Hand mit dem Warenhandel, jedoch in eigenartiger Entwicklung, greift auch das Bankentum über seine ursprünglichen Betätigungsräume hinaus, in das Ganze der schon erschlossenen Erde hinein. Auf dem Festland ist zunächst Frankreich führend, wo sich in den wichtigeren Seehäfen (Marseille, L e Havre, Bordeaux und selbst Nantes) Bankhäuser für den Außenhandel bilden und namentlich die Beziehung zum Mittelmeergebiet und nach Nord- wie Südamerika stärker zu pflegen anfangen. Auch hier sind es vielfach Deutsche, welche die Initiative ergreifen — wie übrigens auch im Warengroßhandel dieser französischen Städte ursprünglich der deutsche Firmeninhaber bis zum Weltkrieg eine sehr wichtige Rolle innegehabt hat. Paris wird dagegen der Sitz einiger Aktienbanken, die sich von vornherein mehr den Finanzierungs- als den Außenhandels-Geschäften widmen. Deutschland tritt etwas später auf den Plan und bleibt längere Zeit durch eine gewisse Einseitigkeit gekennzeichnet. Die ersten Bankverbindungen nämlich, die sich von London unabhängig machen, sind nach Nordamerika hinübergelegt worden, und hierbei ist es bis in die siebziger J a h r e geblieben. Der starke Auswandererverkehr der älteren Jahrzehnte dürfte hierfür mehr noch als der Güteraustausch die Grundlage abgegeben haben. Es ist aber kennzeichnend, daß die Darmstädter Bank als Bank für Handel und Industrie schon im ersten J a h r e ihres Bestehens (1853) sich an der Errichtung eines New Yorker

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Bankhauses (G. vom Baur & Co.) beteiligt und für diesen Entschluß neben der Pflege der Auswanderer-Zahlungen ausdrücklich die Aufgabe, den deutschen Export und Import zu fördern, als Begründung angibt. Die bald darauf erfolgte Errichtung der N o r d d e u t s c h e n B a n k und der D e u t s c h e n V e r e i n s b a n k (beide 1856 in Hamburg), zeigt vollends, daß die deutschen Privatbankhäuser sich in dieser Richtung entweder überhaupt nicht betätigt oder aber den Ansprüchen des steigenden Menschen- und Güterverkehrs nicht mehr genügt haben. U m 1870 ist es schon dahin gekommen, daß die Denkschrift, mit der das Interesse B i s m a r c k s für die geplante Gründung der D e u t s c h e n B a n k gewonnen werden sollte, ausdrücklich die Vereinigten Staaten Nordamerikas von denjenigen Erdgebieten ausnimmt, für die Deutschland noch der fremden Bankvermittlung bedürfte *). Die D e u t s c h e B a n k (1871) kann für sich in Anspruch nehmen, daß sie zuerst das Reifgewordensein der Zeit erkannt und den Gedanken, nach allen Erdteilen hin die deutsche Bankenbetätigung zu erstrecken, zur Tat gemacht hat: A d a l b e r t D e l b r ü c k (vom Bankhaus Delbrück, Leo & Co.), der die Gründung betrieben, und G e o r g S i e m e n s , der die Bank jahrzehntelang geleitet hat, dürfen als echte Pioniernaturen angesprochen werden. Ihren Wagemut hat denn auch die Bank zunächst in erheblichen Rückschlägen büßen müssen; sie hat ihre ersten Überseefilialen (Santiago und Yokohama) bald wieder schließen müssen, weil die sachlichen Unterlagen, namentlich die Währungsbeziehungen zu Deutschland, noch nicht genügend klar lagen. Auch die große Schwierigkeit, die sich später wiederholt bei allen Auslandbanken geltend gemacht hat, die Frage der leitenden Personen, ist schon damals zutage getreten. Von bleibender und ständig zunehmender Bedeutung ist jedoch aus jener Anfangszeit (1873) die Errichtung der L o n d o n A g e n c y der Deutschen Bank geworden. Auf eine breitere Grundlage ist das deutsche Auslandsbankentum erst in den achtziger und namentlich in den neunziger Jahren gestellt worden. Von 1886 ab haben in rascher Folge fast sämtliche Großbanken, vielfach hierfür miteinander sich vereinigend, besondere Tochterinstitute für die verschiedenen Auslandgebiete errichtet. Und wenn es auch dann noch, meist wegen der Personenwahl, nicht ohne Rückschläge abgegangen ist, so kann doch das Netz der Weltbeziehungen um die Wende des Jahrhunderts als gut fundiert und abgerundet bezeichnet werden. Nachdem schließlich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts auch noch die deutschen Kolonien ihre selbV g l . H e l f f e r i c h , Georg von Siemens, Bd. I, S. 2 1 5 (Berlin 1921).

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ständigen, nicht mehr mit dem Warenhandel und dem Pflanzungsbetrieb verbundenen Banken erhalten haben, sind als einzige Lücken — aus politischen Gründen — Australien und Südafrika übrig geblieben. Die Wende des Jahrhunderts hat auch neue Filialen deutscher Banken nach London gebracht; die Dresdner Bank ist hier 1895, die Discontogesellschaft 1899, die Darmstädter Bank 1901 neben die Deutsche Bank getreten; worauf einige englische Banken mit der Errichtung von Filialen in Hamburg geantwortet haben. Im neuen Jahrhundert treten auch nordamerikanische Banken den Weg ins Ausland an: nach Mittel- und Süd-Amerika; hier allerdings weniger auf unmittelbare Förderung des Handels, als vielmehr auf die Gewinnung dauernder Produktionsunterlagen eingestellt. Für die Pflege des Handelskredits bleibt man von London abhängig, wo mit Hilfe englischen Kapitals, aber unter nordamerikanischer Leitung formell selbständige, tatsächlich von New York „kontrollierte" Bankhäuser nunmehr zu größerer Bedeutung gelangen. So läßt sich auch vom Bankentum her gesehen das dem Weltkrieg vorangehende Menschenalter als diejenige Zeit erkennen, in der sich die Weltmarktwirtschaft über das Ganze der schon erschlossenen Erdgebiete in dichtmaschigem Netz gelegt hat. Aufgebaut allerdings noch immer in der Art eines Spinnennetzes, da auch die Kapital- und Kreditbeziehungen in Nord Westeuropa konzentriert geblieben sind. Aber doch auch schon die Entwicklung zum Fischernetz in leisen Anfängen zeigend, indem die Lenkung jener Beziehungen in erheblichem Umfang bereits von London fort auf das europäische Festland und nach Nordamerika abgewandert ist. — 4. U m so auffallender ist es, daß im dritten Dienst, den die Banken für den Welthandel und die Weltmarktwirtschaft zu leisten haben, von der Aufteilungs- und Verbreiterungstendenz bis zum Weltkrieg nur ganz wenig hervortritt: im i n t e r n a t i o n a l e n Z a h l u n g s - u n d A b r e c h n u n g s v e r k e h r hat London seine Zentralstellung im wesentlichen festhalten können. Zwar spielte Paris im südamerikanischen und Amsterdam im Verkehr der holländischen Kolonien, Berlin in den Weltbeziehungen Rußlands und seit etwa 1900 auch allgemein eine gewisse Rolle. Mit Londons Wirken jedoch verglichen, waren es wenig bedeutende Begleiterscheinungen — nicht viel mehr als Brosameti, die von des Reichen Tische fielen. Und New York fiel noch ganz aus, der Dollarwechsel war international eine fast unbekannte Erscheinung. Noch nach 1900 berichtet die Deutsche Bank wiederholt, daß der Zuwachs ihres Wechselverkehrs zum weitaus größten Teil von ihrer Londoner Filiale beigebracht sei; auf diese also hauptsächlich,

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nicht auf die Berliner Zentrale, wurden sogar diejenigen Wechsel und sonstigen Anweisungen gestellt, die durch die Hand der deutschen Auslandsbanken gingen. Dies zu verstehen, darf daran erinnert werden, daß zwar im Endergebnis jede Kapitalübertragung — mag sie im Kreditwege oder als Beteiligung, kurz- oder langfristig angenommen sein — notwendig mit einer vorangehenden oder nachfolgenden Güterlieferung oder Leistung des kapitalgebenden Landes verbunden ist; denn nur darin kommt jene Kaufkraft zur Wirksamkeit, um deren Übertragung es in Wirklichkeit geht — das empfangende Land oder ein drittes Land, an das jenes seine Kapitalforderung übertragen hat, soll im gebenden Land die entsprechenden Warenmengen kaufen und bezahlen können, die es aus eigner Kaufkraft sich nicht zuzuführen vermöchte. Der Zeitpunkt jedoch, wann dieser Ausgleich zwischen der auf Geld lautenden Kapitalforderung und der Kaufkraft-Betätigung erfolgt, ist im Übertragungsvertrage nur ausnahmsweise festgelegt; etwa in der Weise, daß dem Empfänger die Verpflichtung zur Abnahme bestimmter Gütermengen aus dem gebenden Lande auferlegt wird, oder daß von vornherein der Kapitalbetrag im gebenden Lande zum Ankauf der erwünschten Güter (Produktionsmittel) verwandt und tatsächlich dann in dieser Sachform geliefert wird. In der Regel geht die Vereinbarung, zumal wenn eine Bank als Geber auftritt, auf nichts anderes als eine ganz abstrakte, nur in Geld ausgedrückte Summe, und es bleibt der wirtschaftlichen Entwicklung vorbehalten, wann und in welcher Sachform die Güter- oder Leistungsübertragung erfolgt. Nicht anders liegt es bei der Rückübertragung der Zinsen oder der Gewinnanteile wie auch des Kapitals selbst. Und nicht anders bei jenen Kaufpreisforderungen, die sich aus schon abgeschlossenen Güterlieferungen ergeben, und den Frachten oder sonstigen LeistungsGegenleistungen. Immer sind es abstrakte Geldverpflichtungen, die sich länderweise gegenüberstehen, wie es der Wechsel und seine neuzeitlichen Surrogate, der Scheck und die telegraphische Anweisung, rechtlich durchaus zutreffend ausdrücken. Das Abstrakte tritt um so mehr in den Vordergrund, je mehr das einzelne Land in das Ganze des Weltgüteraustauschs verflochten ist, und je unsicherer damit wird, ob jener Ausgleich zwischen denselben Gebieten erfolgt oder ob nicht ein drittes und viertes Land sich noch einschiebt. Und wie im einzelnen Staat das Geldsystem, die Währung, dazu bestimmt ist, den Güter- und Leistungsaustausch der gesamten Bevölkerung aus den konkreten Beziehungen der einzelnen Menschen herauszulösen, indem sie alle auf einen gemeinsamen Wertausdruck

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gebracht werden können, so braucht auch der Weltaustausch einen solchen allen gemeinsamen Nenner. Er hat ihn in der Währung desjenigen Landes gefunden, das jenen Austausch zuerst weltweit ins Große und Regelmäßige hineingehoben und zugleich sein Geldsystem auf die als besonders gleichmäßig geltende Goldbasis gestellt hat. Es wäre sogar besser zu sagen: nicht das Pfund Sterling, sondern die für das Pfund angenommene Goldmenge ist zu einer Art von Weltwährung geworden. Daß sich das Pfund in dieser Stellung hat halten können, obwohl die andern Handelsstaaten längst ebenfalls zur Goldwährung übergegangen waren, — das ist einesteils in dem Beharrungstrieb begründet, der dem Wirtschaftsleben und nicht zuletzt dem Großhandel allgemein innewohnt; man hatte das Pfund als den Ausdruck einer festbestimmten Goldmenge in jahrzehntelanger Erfahrung kennen und ihm vertrauen gelernt. Diese Beherrschung ist aber auch durch einige, sehr reale Berechnungselemente noch stark unterstützt worden. Denn das Aufrechnen der internationalen Forderungen und Verpflichtungen, das die teuren Zahlungsmittel-Transporte erspart, ist u m so mehr gewährleistet, je mehr es sich an einem einzigen Orte konzentriert; und im Kaufpreis einer Ware pflegt sich zu äußern, mit welchen Kosten voraussichtlich die Einziehung des Preises verbunden sein wird. Hinzukommt das Gewicht des Zinsfußes, den sich der Forderungsberechtigte bei vorzeitiger Einlösung seiner Forderung von deren Nennbetrag abziehen lassen muß, und der in England stets niedriger war als in den anderen Handelsstaaten, weil — vielleicht nicht die Kapitalbildung an sich, wohl aber — die Zunahme der flüssigen Mittel stärker zu sein pflegte. Und nicht zuletzt der Zahlungsverkehr selbst brachte immer wieder neue Mittel in die Verfügungsgewalt der Londoner Banken: er lockte die Waren-Konsignationen durch seine Billigkeit an, und die dann in London verkauften Waren waren hier zu bezahlen, gleichgültig wohin'sie schließlich gehen sollten; es kamen also aus fremden Ländern die Kaufpreise großenteils wieder dorthin, wie auch die von den Banken berechneten Provisionen flüssige Mittel hereinbrachten. Es war also ein in sich geschlossener Ring, der Londons Zentralstellung umhegte; ein stets besonders schwer von außen anzugreifendes Gebilde. In der Höhe der Bankprovisionen und in der Strenge, mit der man auf frühzeitiges Bereitstellen der Deckungsmittel gegenüber aller Kundschaft hielt, hat sich immer die Monopolstellung ausgewirkt, die London ungeachtet einiger Abbröckelungen — im Gegensatz zum Kapitalverkehr — im Zahlungsdienst der Welt erhalten hatte.

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Unter den Abbröckelungen war die nicht nur für Deutschland, sondern vielleicht allgemein wichtigste das internationale Vorrücken der deutschen Mark. Es gründete sich in erster Linie auf die gewaltige Zunahme des deutschen Außenhandels; diese hat nicht nur in immer größerem Maßstabe eine unmittelbare Aufrechnung deutscher Importverpflichtungen gegen deutsche Exportforderungen möglich gemacht, sondern namentlich auch in Städten wie Hamburg und Bremen für eine Reihe von Welthandelsartikeln den Konsignationsverkehr zur Entfaltung gebracht. Es kamen hinzu die steigenden Auslandsanlagen, sowie die für ausländische Rechnung erfolgten Verfrachtungen und Versicherungen, die sogar einen Überschuß deutscher Forderungen ergaben. Bedeutsam war aber auch, daß die deutschen Banken durch ihre Londoner Filialen ihre Firmen in den Pfundverkehr der Welt eingeschaltet hatten und dadurch auch bekannt geworden waren; es war nur ein zweiter Schritt, wenn sie dann langsam die Zentralen und mit ihnen den Markwechsel zur Geltung zu bringen versuchten. Und es war ein Vorgehen, das auch der politischen Bedeutung nicht ermangelte. Über mehr als leise Anfänge ist jedoch — abgesehen vom Rußlandverkehr — die Einführung der Mark vor dem Weltkrieg nicht hinausgekommen. Im wesentlichen ist es also dabei verblieben, daß etwa der in Rio sitzende Exporteur brasilischen Kaffees, der längst schon die Verschiffung unmittelbar von Santos nach New York oder Hamburg vorzunehmen gewöhnt war und auch bereits seit Jahrzehnten sich zum Verkaufen seiner Ware nicht mehr eines Londoner Kommissionärs bediente, dennoch die Kaufpreis-Tratte regelmäßig auf eine Londoner Bankverbindung seines Käufers ausgestellt oder ein Londoner Bankakzept von diesem genommen hat. Auch die Rembourskredite, die von deutschen Banken den deutschen Exporteuren oder Importeuren eingeräumt wurden, gingen größtenteils über die Londoner Filialen. Sogar Anlagekredite und Beteiligungskapitalien, die vom europäischen Festland oder Nordamerika in fremde Gebiete hineinfließen sollten, wurden vielfach in London zahlbar gestellt. London war d e r Zahlungsplatz der Welt. III. Wie scharf der W e l t k r i e g in die Weltmarktwirtschaft eingegriffen, und in welchem Umfang er ihr die Fundamente zerstört hat, braucht hier nicht des näheren dargelegt zu werden; das ist nachgerade — nach langem Verkennen — Gemeingut des Wissens geworden. Herauszuheben sind jedoch, weil sie die Banken und ihr Verhältnis zum Welt-

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handel angehen, jene schweren Umwälzungen, die sich im internationalen Kapitalaufbau vollzogen haben. Sie gelten ebenso f ü r den Kapitalbesitz wie für die Kapitalneubildung. i. Für die i n t e r n a t i o n a l e V e r t e i l u n g d e s K a p i t a l b e s i t z e s ist von entscheidender Bedeutung, daß in sämtlichen kriegführenden Staaten Europas erhebliche Teile ihres Volkskapitals (ihres Besitzes an Produktionsmitteln also) durch den Krieg und seine Folgeerscheinungen vernichtet worden sind, während in der überseeischen Welt zwar eine Vermehrung eingetreten ist, jedoch schwerlich ein genügender Ausgleich. In Europa gilt es naturgemäß in erster Linie für das eigentliche Kriegsgebiet; die lange Dauer des Krieges und die gewaltige Anspannung aller Produktionskräfte für die Herstellung von Kriegsmaterial haben aber auch die nicht unmittelbar berührten Landschaften schwer in Mitleidenschaft gezogen und aller Wahrscheinlichkeit nach auch hier mehr zerstört als neu gebildet. Aus den fremden Erdteilen ragen dagegen als Nutznießer des Krieges die Vereinigten Staaten von Amerika hervor. Doch ist auch in vielen anderen Staaten eine Steigerung ihres Produktionsmittelbestandes in ungewöhnlich kurzer Zeit eingetreten. Im Kriegsgebiet war diesmal — im Gegensatz zu allen früheren Kriegen — die Kapitalvernichtung besonders stark, weil die unvermeidliche Zerstörung produktiver Anlagen sich nicht nur auf den landwirtschaftlich benutzten Boden, sondern — der wirtschaftlichen Struktur jener Landschaften entsprechend — in erheblichem Umfang auf Bergwerke und Fabriken erstreckt hat. Der landwirtschaftliche Grund und Boden ist zwar auch diesmal zerwühlt und für manches J a h r seiner Produktivität beraubt worden, manche Saat hat es nicht zur Ernte gebracht; der Boden selbst ist aber geblieben, und sofern man ihn nicht nach Beendigung des Krieges künstlich (aus politischen Gründen) von der Einebnung und neuen Bestellung freigehalten hat, ist er auch bald und ohne Aufwendungen wieder zur gewohnten Fruchtbarkeit gelangt: endgültig verloren gegangen sind nur die zerstörten Gebäude und Meliorationsanlagen, im Weingebiet die Dauerreben und — wenn man so will — von der künstlichen Düngung der Vorkriegsjahre diejenigen Teile, die noch in die Kriegszeit hinein wirksam sein sollten. Bei den Bergwerken und Fabriken aber ist es u m das Ganze gegangen; Feind und Freund haben die produktiven Anlagen bis zum Grunde zerschossen, über und unter Tage nicht viel brauchbar gelassen. Der hiermit bewirkte Kapitalverlust wurde allerdings dadurch noch einigermaßen niedrig gehalten, daß die nordfranzösischen Bergwerke fast sämtlich nur von schon überalteter Technik

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waren; die Entschädigungsansprüche, die dafür an Deutschland gestellt worden sind, waren auch nach englischem Urteil weit überhöht. Ein Dauerverlust an Kapitalien ist es immerhin, wenn erst durch neue Schächte und Gänge die Lagerstätten der Kohle wieder erreichbar wurden und erst recht neue Übertaganlagen und sonstige Fabriken das Industriebild der Landschaft wiederherstellen mußten. Deutschland hat es zu spüren bekommen, daß Frankreich ihm diesen Verlust aufgebürdet und ihn sogar durch die völlige Modernisierung aller Anlagen zu einem Kapitalgewinn umgewandelt hat; die deutschen Verluste sind um so größer geworden, zumal bekanntlich nicht einmal die angebotenen deutschen Arbeitskräfte zum Aufbau (richtiger: Neubau) der zerstörten Anlagen zugelassen wurden. Ohne die Möglichkeit einer unmittelbaren Überwälzung ist jedoch auf Frankreich der Verlust der in Rußland angelegten Kapitalien, seines Anteils also am russischen Volkskapital gefallen. Und was es aus den deutschen Bar-Reparationszahlungen an sich gezogen hat, das ist großenteils zur unproduktiven Goldhortung verwendet, also nicht in Kapital umgewandelt worden. Für Deutschland hat es, obwohl ihm seine Heere die Kriegsfurie selbst mit schier übermenschlicher Leistung fern gehalten haben, doch eine schwere Einbu ße an Volkskapital bedeutet, daß schließlich — vom Hindenburg-Programm (Herbst 1916) an — fast seine ganze industrielle Produktionskraft und seine Transportmittel in den Dienst der Kriegführung gestellt werden mußten. Dies hat zwar gewiß in großem Umfange zur Errichtung neuer und höchst leistungsfähiger Fertigungsanlagen geführt und zahlreiche Erfindungen hervorgelockt. Aber es hat zugleich auch einen erheblichen Teil der bestehenden Apparatur aus der Nutzbarkeit herausgehoben oder nur mit neuen Material- und Arbeitsaufwendungen nutzbar gehalten; jenes vielfach mit der Wirkung, daß nach beendetem Krieg die Maschinen verrostet und wertlos waren, und dieses in der Weise, daß wiederum neue Aufwendungen erst (wenn überhaupt) die Rückverwandlung in Friedensinstrumente möglich machten, wie j a auch die eigens für die Kriegsarbeit aufgebaute Maschinerie vielfach für Friedenszwecke nicht verwendbar war. Vollends war es reiner Kapitalverlust — Verlust an Volkskapital —, was gemäß dem Versailler Unfriedens-Diktat an Maschinen und Apparaten zerstört werden mußte, selbst wenn es friedlicher Arbeit dienen konnte, und was vergütungslos an Roh- und Betriebsstoffen den Gegnern auszuliefern war. Wie stark war ferner das Ganze der Transportmittel abgenutzt; und gerade die noch besten und neuesten Lokomotiven und Wagen waren es, die sich der Feind 46

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aussuchte, selbst wenn er sie (wie die schweren Lokomotiven) auf seinen eigenen Bahnen gar nicht benutzen konnte. Ganz große Kapitalverluste geschlossener Art brachten dann die Landesabtretungen; größere sogar, als allein die neuen Grenzziehungen erkennen lassen, weil sowohl in Oberschlesien als auch im deutschen Westen ein gut Teil der deutsch bleibenden Industriewerke ihr organisches Gesamtgefüge verloren und nun entweder (wie z. B. der Aachener Betrieb Rothe Erde) mit erheblicher Minderbewertung an die neuen Besitzer der lothringischen und luxemburgischen Erzgruben und Eisenhütten verkauft oder (wie zumeist in Oberschlesien) durch kostspielige Neuanlagen erst wieder nutzbar gemacht werden mußten. Die zwangsweise Liquidierung der deutschen Auslandsanlagen nahm uns ebenfalls keineswegs nur wichtige Zins- und Gewinnquellen privatwirtschaftlicher Natur; sie nahm unserer Schiffahrt und unserem Handel wesentliche Bestandteile ihrer Arbeitsunterlagen und ließ sich zumeist nicht einmal durch entsprechende neue Einrichtungen später ausgleichen, weil die günstigen Plätze sich nicht wiedergewinnen ließen. Unsere Seeschiffahrt haben wir völlig und unsere Binnenschiffahrt großenteils neu aufbauen müssen; nicht einmal die nach Kriegsende erst auf Stapel gelegten Neubauten hat man uns ganz gelassen. Es ist wahrlich eine riesige Liste von Verlusten, die uns der Krieg und das Versailler Diktat unmittelbar auferlegt haben; und sie wird noch durch die Reparationszahlungen insoweit erhöht, als wir diese nicht durch gesteigerte Warenausfuhr haben bewirken können und deutsche Produktionsanlagen in ausländischen Besitz übergegangen sind. Vorsicht ist indessen geboten, auch die Inflation als einen Kapitalverlust zu bewerten. Größtenteils hat sie zwar privatwirtschaftlichen Kapitalbesitz innerhalb Deutschlands vernichtet, volkswirtschaftlich jedoch nur eine Verschiebung dieses Besitzes zugunsten der deutschen Schuldner und nicht zuletzt des deutschen Reichsfiskus bedeutet; und wenn dieser mit den Mitteln der Notenausgabe und der Kriegsanleihen nur in verhältnismäßig geringem Umfang neue Produktionsanlagen geschaffen hat, viel größere Beträge im wahren Wortsinn in Rauch hat aufgehen lassen und zur Bezahlung seines Heeres und seiner Verwaltung, nicht zuletzt zur Finanzierung des Ruhrwiderstandes anstatt regulärer Einnahmen hat verwenden müssen, so ist es eben der doppelte Krieg, der hier Werte vernichtet und in der Inflation nur den Ausdruck, nicht den Grund der Entwertung gefunden hat. Wohl aber war es ein Verlust an Volkskapital, daß am Ende der Inflationszeit der große Vorrat an ausländischen Rohstoffen und Halbfabrikaten,

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mit dem wir in den Krieg eingetreten sind, sich völlig verflüchtigt hatte und an seine Stelle bei den Verarbeitern fast nur Papiergeldmassen getreten waren, mit denen wir im Ausland nichts kaufen konnten. Auch in dieser Beschränkung wiegt die Verarmung also schwer genug. Einen beträchtlichen Kapitalverlust hat wahrscheinlich sogar Großbritannien erlitten. Er ist natürlich im ganzen nicht im leisesten mit dem Deutschlands zu vergleichen; immerhin darf er auch nicht unterschätzt werden. Vor allem deshalb nicht, weil die Anlagen zur Fertigung von Kriegsmaterial in den beiden ersten Kriegsjahren so gut wie ausschließlich von Nordamerika geliefert worden sind und die doppelte Wandlung der heimischen Produktion vom Friedens- zum Kriegsmaterial und zurück genau wie in Deutschland nur mit Verlusten der ursprünglichen Produktivität sich hat durchführen lassen. Jedenfalls sind fast der ganze Besitz an nordamerikanischen Werten, der Anteil Englands also am Volkskapital des anderen Landes, und auch in beträchtlichem Umfang Anteile von Unternehmungen anderer, namentlich südamerikanischer Länder aus englischer in Unionshand übergegangen. In erheblichem Grade sind diese Einbußen aber durch alles das, was England an deutschen Schiffen und Auslandsanlagen an sich gebracht hat, wiederum ausgeglichen worden. U n d die Abgabe fremdländischer Werte ist nicht so weit gegangen, daß nicht das alte Land des „Exportkapitalismus" auch heute noch sich des größten Besitzes ausländischer Anlagen erfreute. Alle Verluste der europäischen Staaten haben nun nicht etwa sich in entsprechende Steigerungen des Kapitalbesitzes anderer Staaten umgewandelt. Gewiß hat sich das Tempo, in welchem Südamerika, Indien, Südafrika, Australien und namentlich J a p a n ihre Industrialisierung vorwärtsgetrieben haben, gegenüber der Vorkriegszeit ganz gewaltig gehoben; und auch die nordamerikanische Union hat ihren Vorteil nicht nur aus der Herstellung von Kriegsmaterial, sondern auch aus der Befriedigung des sonst von Europä gedeckten Fabrikatebedarfs anderer Überseegebiete in der Errichtung neuer Produktionsstätten gezogen. Ein sehr großer Teil der buchungsmäßig übertragenen Werte hat jedoch in den Empfangsländern, wie in Frankreich so auch in Nordamerika, nicht wieder den Charakter von Produktionsmitteln angenommen, vielmehr zur Heranziehung gewaltiger Goldvorräte gedient; und diese lagern seit J a h r e n unproduktiv in den Kellern der Notenbanken und Schatzämter — als eine Belastung, gleichartig der eines Privatmannes, der mehr Zahlungsmittel hortet, als er zur Führung seines Lebens und seiner Geschäfte wirklich braucht. Und wie solches Horten, wenn es plötzlich und in ungewöhnlichem Umfang 46*

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eintritt, den Gang der einzelnen Volkswirtschaft empfindlich zu stören pflegt, so ist auch das länderweise Einsperren der Goldvorräte für die Welt weithin von verheerender Wirkung gewesen: der Rundlauf Produktion — Verbrauch — Produktion ist, wie schon in den einzelnen Ländern durch die unorganischen Abzapfungen und Zuwendungen, n u n auch über die Erde hin empfindlich gestört, und alle Staaten suchen durch Einfuhrsperren (weit über das politisch notwendige Maß hinaus) n u n wenigstens den eigenen Verbrauch für die eigene Gütererzeugung zu sichern — was wiederum die international durchgeführte und die Produktivität allenthalben steigernde, jedoch an freien Verkehr gebundene Produktionsteilung völlig außer Kraft gesetzt hat. Die Folgen haben sich alsbald eingestellt. In mannigfachen Industriezweigen hat sich allenthalben eine Überkapazität geltend gemacht und manches Werk wiederum zum Stillstand gezwungen. Vollends hat der Rückgang der europäischen Aufnahmefähigkeit die überseeische Landwirtschaft in ihren Erträgen beträchtlich geschwächt und ihr Einschränkungen der Erzeugung auferlegt, teilweise die schon gewonnenen Erzeugnisse sogar künstlicher Vernichtung überantwortet. Dank der Ausschaltung der kapitalistischen Wirtschaftsmethoden ist an die Stelle jener fast geradlinigen, nur durch Stillstände und nicht mehr durch Rückschläge unterbrochenen Aufwärtsentwicklung, wie sie die letzten zwanzig Vorkriegsjahre gerade in den vollkapitalistischen Staaten Europas gekennzeichnet hat, ein ruckweises Auf und Ab getreten, das bisher weder die Produktion noch die Konsumtion irgendwo zu stetiger Ruhe wieder hat kommen lassen. — 2. Die außerwirtschaftlich begründete und deshalb überstürzt vollzogene Verschiebung des Völkerkapitalbesitzes und die anschließende, tiefgreifende Durchbrechung der internationalen Produktionsteilung haben mit elementarer Gewalt auch die K a p i t a l n e u b i l d u n g der Welt gewaltig verlangsamt. Beides hat die menschlichen Produktivkräfte der alten Kulturländer durch alle sozialen Schichten hindurch in erheblichem Umfang brachgelegt, zur Arbeitslosigkeit verurteilt oder wenigstens in ihrer Wirksamkeit stark abgeschwächt; und keine Rede kann davon sein, daß die Neuproduktionen, wo immer sie aufgegriffen worden sind, allein wegen ihrer gleichartigen oder selbst fortgeschrittenen Technik mit den ungeübten Arbeitern, Angestellten und Leitern die alten Ergebnisse durch gleichen Arbeits- und Materialaufwand hätten erreichen können — der Überschuß, der zur Kapitalbildung dient, mußte geringer werden. Hinzugekommen ist aber auch noch, daß aus eigentümlicher Überschätzung des rein technischen Fortschritts die sachlichen Produktionsmittel und die menschlichen

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Produktivkräfte grade in den alten Kulturländern vielfach in unzeitgemäßer Richtung eingesetzt worden sind — als ob in jedem Falle die Einstellung einer neuen, besonders leistungsfähigen Maschine einen Produktionsvorteil mit sich bringe und als ob eine neue Maschine, deren Erzeugnissen nicht die entsprechende Aufnahmefähigkeit und Aufnahmewilligkeit der Abnehmerkreise gegenübersteht, etwas anderes wie ein Haufen alten Eisens sei. Beide Erscheinungen sind in Deutschland deutlich zutage getreten, gelten jedoch ebenso für die andern sog. Industrieländer — die Vereinigten Staaten von Amerika nicht ausgenommen. So ist Deutschland zwar von der Industrialisierung der sog. Neuländer und ihrem beschleunigten Tempo unmittelbar sehr viel weniger als etwa Großbritannien getroffen worden; es hatte sich, seiner Verkehrslage und seiner Bevölkerungsart entsprechend, in starker Betonung auf die Fertigung hochwertiger Waren geworfen, und für diese ist denn doch, da ihre empfindlichen Maschinen in ihrem Gange zu leiten und nicht nur zu bedienen sind, durch staatliche Subventionen und Zölle weder der gut durchgebildete und disziplinierte Arbeiterstamm, noch die wissenschaftlich erzogene Technikerschaft, noch gar das bewegliche und auf gründliche Kenntnis von Land und Leuten sich stützende Unternehmertum aus der Erde zu stampfen. Mittelbar haben jedoch auch unsere Feinindustrien jene Entwicklung zu spüren bekommen; ihr Absatz ist in den alten Industrieländern zurückgegangen, weil diese dank mangelndem Export nicht mehr so kaufkräftig wie früher sind. So entstand für Deutschland das entgegengesetzte Problem: seine Fertigung auf solche Länder anderer Bevölkerungsart umzustellen, die noch größeren R a u m für die Einfuhr ihrer einfachen Bedarfsgegenstände oder wenigstens für die Maschinen ihrer eigenen, ebenfalls einfachen Fabrikation belassen. Dies bedeutet aber nichts anderes, als daß nicht nur die hochwertige Apparatur der Feinindustrie insoweit unbenutzbar wird und aus dem Kapitalfonds des Volkes ausscheidet, daß vielmehr auch all' die Sonderfähigkeiten und Sonderkenntnisse der beteiligten deutschen Menschen ihren Wert und ihre Kapitalbildungskraft verlieren. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, welche Einbuße an deutschem Volkseinkommen sich ergeben muß, sobald etwa an die Stelle der feinen Wirkwarenfertigung, für die wir bis zum Weltkrieg fast ein Monopol in der Welt hatten, die Herstellung derber Webwaren tritt: fast die ganze Werkzeug- und auch ein Teil der Kraftmaschinerie wird wertlos, die weibliche Arbeitskraft verdrängt den hochentlohnten Mann, für wissenschaftlich geschulte Techniker ist nur noch ganz

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wenig Platz, die Unternehmer können im scharfen internationalen Wettbewerb nur noch ganz geringe Gewinne erzielen. Unentrinnbar wirkt eine solche allseitige Einkommensminderung auch auf den Absatz der Feinwaren im Inland zurück. Von der starken Kapitalbildung dieser Wirtschaftszweige bleibt nur ein Bruchteil übrig. Andrerseits ist auch — unter dem Druck des Schlagworts Rationalisierung — die Frage der technischen Erneuerung, die sicherlich nach dem Weltkrieg und seiner Maschinenabnutzung in zahlreichen Fällen bejahend entschieden werden mußte, mehrfach allzu einseitig mit dem technischen Maßstab geprüft und ohne genügende Beachtung der wirtschaftlichen Seite beantwortet worden. Hier erhebt sich erstens die Teil-Frage, ob denn wirklich die neue Apparatur mit ihrer hohen Leistungsfähigkeit in absehbarer Zeit eine Verbilligung der Produktion — volkswirtschaftlich gesehen: ein geringeres Maß an Material- und Arbeitsaufwand — herbeiführen konnte. Im allgemeinen gilt der Satz, daß die größere Maschine ihre Leistung billiger darbietet als die alte kleinere, doch nur unter der Voraussetzung, daß für die größere Menge der gelieferten Objekte sich auch der entsprechende Absatz findet. Ist dies nicht gegeben, muß also die Großmaschine auf unvollständige Ausnutzung gestellt oder muß stark „auf Lager" gearbeitet werden, dann kommt nur allzu rasch der Augenblick, in dem man nach der alten Maschinerie sich zurücksehnt. Und nichts gab gerade der derben Massenfabrikation Deutschlands auch nur die Wahrscheinlichkeit eines so großen Absatzes, wie man ihn zur vollen Ausnutzung der neuen Anlagen nötig hatte. Hinzu trat noch der besondere Umstand, daß den alten Einrichtungen dank der Inflation keine Zinsforderungen und auch keine Dividendenansprüche mehr gegenüberstanden; und so hätte privatwirtschaftlich die Rechnung aufgemacht werden müssen, ob die neuen Produktionskosten (d. h. geringere Betriebskosten bei hoher Kapitalverzinsung) sich wirklich niedriger als die alten Aufwendungen (d. h. hohe Betriebskosten, aber keine Kapitalverzinsung) selbst bei voller Ausnutzung gestellt hätten — eine Rechnung, die sicherlich oft zugunsten der alten Apparatur ausgegangen und für das deutsche Wirtschaftsleben um so wichtiger gewesen wäre, als man für die neuen Anlagen in großem Umfang dem Ausland zinspflichtig geworden ist. Der Rechenstift des Kaufmanns kam jedoch in jenen Jahren 1925—1928 gegen den Erneuerungsdrang des Technikers ebenso wenig an, wie die Warnung des Wissenschafters 1 ). Dem technischen Geist verbündete sich eine der besten 1)

Titel

H i e r darf ich auf einen V o r t r a g hinweisen, den ich im Juni 1924 unter d e m „Gegenwartsfragen

industrieller

Organisation"

im

Deutschen

Verein

der

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im Welthandel

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Seiten deutschen Unternehmertums, der wagende Mut und der Gestaltungstrieb. Und so kam es zu jenen bitteren Erfahrungen, die sich privatwirtschaftlich im Fortfall der Gewinne ausgewirkt, die aber auch in volkswirtschaftlichem Zusammenhang viel Material und Arbeitsleistungen als falsch angesetzt erwiesen haben. Zur Neubildung von Volkskapital haben diese „Rationalisierungen" lange, wichtige Jahre nichts beigetragen. Glücklicherweise hat die irrationale Rationalisierung auf dem Gebiete der Unternehmungs-Organisation, mit rheinisch-derbem Ausdruck: „der Konzernfimmel", sich nur in verhältnismäßig wenigen Fällen in die Wirklichkeit umgesetzt. Man mußte schon zweifeln, ob nicht in der derben Massenproduktion der Montan- und Stahlindustrie die Zusammenfassungen denjenigen Grad überschritten, der noch vom letztlich entscheidenden Maßstab her — der Übersichtskraft der leitenden Männer — als zulässig gelten konnte 1 ). Die Übertragung des Konzerngedankens auf andere Wirtschaftszweige, in denen die Qualitätsbetonung eine entscheidende Rolle spielt und die sich im heißen Kampf des Weltmarktes zurechtzufinden haben, wie z. B. die Wollverarbeitung und die Seeschiffahrt, war bei nüchterner Betrachtung unschwer als arg übertrieben zu erkennen. Warum war denn in Hamburg vor dem Weltkrieg der Meinungsstreit so heftig, ob die Weltumspannung der Hamburg-Amerika-Linie nicht bereits ungesund weit ausgegriffen habe und ob nicht die örtliche Spezialisierung einer Hamburg-Südamerika-Linie und der andern Speziallinien den Schwankungen des Weltfrachtenmarktes besser begegnen könne? Und es hatte doch auch seinen guten Grund, daß die Konzernbewegung sich in aller Welt auf nur einige, ganz wenige Industriezweige erstreckt und auch in diesem zumeist dem einzelnen Konzern nur geringe Ausdehnung gegeben hatte. Aber wie die Öffentlichkeit nach dem Weltkriege — unter arger Verkennung der Tatsachen und mit unheimlicher Übertreibung — von dem Schlagwort der Konzernbildung beherrscht worden ist, so hat auch in einigen Fällen der wirtschaftlichen Praxis wiederum der Rechenstift des Kaufmanns gefehlt, der den errechenbaren Kostenvorteilen die unberechenbaren Kosten der erhöhten Reibung entgegenzusetzen hatte. Was im Kriege notwendig und bei völligem Ausschluß aller Markteinflüsse immerhin Gas- und Wasserfachmänner gehalten und in dessen O r g a n alsbald veröffentlicht habe; er ist in meinem Buch „ K a r t e l l e und K o n z e r n e " (Berlin 1927) dann wieder abgedruckt worden. 1)

V g l . W i e d e n f e l d , D a s Persönliche im modernen Unternehmertum (2. A u f l . ,

München 1921) und Gewerbepolitik

(Berlin 1926).

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erträglich war, hat in der Nachkriegszeit sich als unheilvoll erwiesen. Mit der Auflösung zahlreicher Großgebilde — es sind erheblich mehr Konzerne zurückgeschraubt worden, als die Öffentlichkeit erfahren hat — ist die „ N a t u r der Dinge" wieder zu ihrem Recht gekommen. Den starken privatwirtschaftlichen Kapitalverlusten, die bei den Reorganisationen entstanden sind, stehen von dieser Seite her nur wesentlich geringere Einbußen an Volkskapital und Kapitalbildungskraft zur Seite. I m ganzen aber ist unter den Großstaaten Deutschland, wie im Kapitalbesitz, so in seiner Kapitalbildungskraft am allerstärksten zurückgeworfen worden. I m Verhältnis zu unserer Volkszahl sind wir kapitalarm geworden — arm gewiß nicht an Maschinen und Transportanlagen, aber arm an Roh- und Betriebsstoffen und an notwendigen Lebensmitteln. Wir sind daher mehr als je zuvor darauf angewiesen, die in den Menschen uns gegebenen Produktivkräfte zu möglichst starker Entfaltung zu bringen und so auch wieder Volkskapital für uns in höherem Maß zu bilden. Für den gesamten Wirtschaftsbereich der Welt gilt die gleiche Entwicklungsrichtung, wennschon sie in den anderen Großräumen sich weniger stark geltend gemacht hat. Wie die Arbeitslosigkeit zeigt, hat nirgends die Kapitalbildung mit der Bevölkerungsbewegung Schritt gehalten. U n d vollends hat sie' nirgends ausgereicht, auch in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht, über den Bedarf des eigenen Gebiets hinaus dem Ausland im früher gewohnten Ausmaß die ihm fehlenden Produktionsmittel auf Kredit als Darlehn oder Unternehmungsbeteiligung zu liefern; die Emission ausländischer Aktien und Schuldverschreibungen, dieser Ausdruck solcher Sachleistungen, zeigt in den alten Gläubigerländern, namentlich in England und Frankreich, ebenso einen überaus starken Rückgang gegenüber der Vorkriegszeit, wie das neue Gläubigerland der Vereinigten Staaten nur wenige J a h r e einen kräftigen Aufschwung und dann gleich wieder einen starken Rückschlag erlebt hat. f ür den allgemein herrschenden Kapitalmangel ist kennzeichnend, daß der Eisenbahnbau auf der ganzen Erde seit dem Weltkrieg so gut wie vollständig stockt. Obwohl es noch riesige Gebiete gibt, die mangels eines Massentransportmittels den Voll-Anschluß an die übrige Welt wirtschaftlich noch nicht gefunden haben und doch für eine Erschließung geeignet sind, finden sich weder in den alten noch in den neuen Industrieländern die Mittel, die zur Errichtung so kostspieliger und auf so lange Sicht arbeitender Anlagen erforderlich sind. Notgedrungen verzichtet man hiermit auf die räumliche Weiterführung

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gerade derjenigen Technik, mit der sich bis zum Weltkriege die Weltmarktwirtschaft stetig ausgedehnt hat. Und man verzichtet zugleich auf die so wichtige Möglichkeit, in den neu zu erschließenden Räumen den Menschenüberfluß der eigenen Gebiete unterzubringen — muß die Einwanderungsverbote der sog. Neuländer in den Kauf nehmen. Sogar von der Absenkung der Goldwährungen ist man nicht zurückgeschreckt, um nur j a ohne langfristige Kredite und Beteiligungen die Ausfuhr einigermaßen hochzuhalten. Eine nur noch lose im Weltmarkt verbundene, kaum noch kapitalistisch zu nennende Welt ist aus dem Weltkrieg und der Nachkriegszeit hervorgegangen. IV. In der neuen Lage sich zurechtzufinden, ihre Tätigkeit und ihren Aufbau den gewandelten Verhältnissen anzupassen, hat den Banken eigenartige Schwierigkeiten bereitet. Für sie ist nicht nur der Umfang ihres Arbeitens dank der allgemeinen Kapitalschrumpfung erheblich eingeengt und dank der neuen Kapitalverteilung die Richtung vielfach geändert worden. Für sie in erster Linie galt es auch, vom rein geldmäßigen Denken und Empfinden sich auf eine fast naturalwirtschaftliche Betrachtungsweise umzustellen und betont hinter den Geldschleier zu schauen, der nun einmal die Vorgänge des Güter- und Leistungsaustausches dem ersten Blick verhüllt. Unmittelbarer noch als die anderen Wirtschaftszweige haben die Banken international die Wahrheit jenes Spruches zu spüren bekommen, daß das Geld, so sehr es jenen Austausch technisch erleichtert, so empfindlich das Verstehen der Zusammenhänge erschwert. i. Der i n t e r n a t i o n a l e Z a h l u n g s v e r k e h r ist von der Neugestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen am wenigsten berührt worden. Immerhin zeigt er in der Nachkriegszeit Zuckungen, die zu dem fast starren Beharrungsvermögen der vorangegangenen Jahrzehnte in auffälligem Gegensatz stehen und vielleicht für die Zukunft doch tiefer greifende Wandlungen erwarten lassen. So sicher wie früher steht London nicht mehr im Mittelpunkt des Weltbankentums, kann das Pfund Sterling nicht mehr als Weltwährung angesprochen werden. Berlin und die Reichsmark sind allerdings aus dem Kampf so gut wie völlig ausgeschieden. Schon die Liquidierung der deutschen Bankfilialen in London, die sogleich bei Ausbruch des Krieges von England vorgenommen worden ist und bisher auch nicht hat ausgeglichen werden können, hat Deutschland der wichtigsten Stützpunkte beraubt, von denen aus seine Währung sich in den Welthandel wieder hätte

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einschalten lassen. Auch in Übersee, wo unter britischem Druck die meisten der deutschen Tochterbanken ebenfalls ihre Pforten haben schließen müssen, fehlt es noch immer über viele Gebiete hin an festen Verbindungen, die dem deutschen Handel das auf Reichsmark lautende Akzept zur Verfügung stellen wollten. Selbst dort aber, wo es während des Weltkrieges zu keiner Beseitigung der deutschen Banken gekommen ist oder diese doch schon geraume Zeit wieder tätig geworden sind — wie in den neutral gebliebenen Staaten Europas und Südamerikas, wie aber auch in Brasilien und China —, steht die Kapitalarmut Deutschlands jedem Versuch im Wege, in einigermaßen ausreichendem Umfang den deutschen und den fremden Handelsfirmen den Rembours- und Konsignationskredit zu gewähren, auf dem sich die Zahlungsbenutzung des Reichsmarkwechsels und der anderen Anweisungsformen zu nennenswerter Höhe entfalten könnte. Was vor dem Krieg nur noch ein technisches Mittel war, die deutschen Weltbeziehungen in möglichst glatter Form abzuwickeln, das ist jetzt wiederum (wie im Anfang der deutschen Weltentwicklung) ein wirtschaftliches Bedürfnis geworden: wir nehmen, soweit überhaupt in den internationalen Güteraustausch Deutschlands noch Kreditverhältnisse eingeschaltet sind, dafür die Hilfe des ausländischen Kapitals und nicht nur den technischen Abrechnungsapparat Londons in Anspruch. Wir haben zwar Amsterdam und New York in ihrem Bestreben, sich als Zahlungsvermittler neben London zu stellen, zeitweise zu stärken vermocht. J e mehr sich aber unsere Einfuhr und Ausfuhr, dem Zwange bitterer Notwendigkeit gehorchend, über staatliche Abrechnungsstellen und im unmittelbaren Kompensationswege abwickeln, um so weniger tragen wir zu den internationalen Zahlungen bei; u m so mehr stellen wir unsere Reichsmark zu den Währungen aller einzelnen Länder in unmittelbaren Vergleich — was währungspolitisch unter den gegebenen Schwierigkeiten ein gewichtiger Vorteil und schlechthin notwendig ist, was aber unseren Auslandshandel in der Wahl der Bezugsquellen und der Absatzgebiete empfindlich einengt und die Reichsmark als allgemeines internationales Zahlungsmittel unmöglich macht. Hier zeigt sich deutlich, daß von Deutschland aus gesehen die Wirtschaft der Welt sich nicht mehr in der Form einer Weltmarktwirtschaft abspielt, daß man jetzt von ihr auch ihrem Aufbau, nicht mehr nur der Wirtschaftspolitik nach als einer Zusammenfügung und Summierung der einzelnen Nationalwirtschaften zu sprechen hat. Die anderen großen Wirtschaftsräume stehen jedoch — trotz hochgesteigerter Schutzzoll- und Subventionspolitik — zumeist je mit der

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übrigen Welt einstweilen noch in freierem Güter- und Leistungsaustausch; und deutlich ist zu sehen, daß die organisatorischen Tendenzen, die sich vor dem Weltkrieg in Europa schon fast ganz durchgesetzt hatten, in der Nachkriegszeit mit erheblich gesteigerter Geschwindigkeit den Verkehr der Überseeländer ergriffen haben. Keine Rede ist mehr davon, daß es abseits von Nordwesteuropa nur zwischen dem westlichen Nordamerika und Ostasien direkte Linienschiffahrtsverbindungen gibt; auch die Osthäfen der Union haben sich nach allen Richtungen der Windrose ihre Dampferlinien geschaffen, zwischen Südamerika und Ostasien gehen unter Berührung von Afrika und Indien die japanischen Dampfer in fahrplanmäßiger Fahrt hin und her, sogar das wenig entwickelte Ostafrika wird von Japan aus linienmäßig bedient — man braucht Europa nicht mehr als die allgemeine Zwischen- und Umladungsstelle. Der selbständige Handel ist auch hier der Schiffahrtsflagge gefolgt, zu gutem Teil sogar vorangegangen. Und so hat es auch nicht an Bemühungen gefehlt, die Zahlungen in direkter Abrechnung abzuwickeln: New York hat seinen Dollar eingesetzt, selbst der Peso Argentiniens und der japanische Yen haben zeitweise als Bewertungsmaßstäbe gedient. In Europa sind gleichzeitig der holländische Gulden und der schweizer Franken in die Höhe gekommen. Die Vorherrschaft des Pfundes und Londons schien gebrochen. Es ist doch wieder anders gekommen. Während England das Pfund wieder auf die alte Goldparität stellte (1925), ließen sich die Zahlungsbilanzen in Argentinien und Japan nicht im Gleichgewicht halten; der Peso und der Yen sanken ab. Und New York war teils mit seiner überstarken Gewohnheit der Barzahlung, teils mit seinem Wechselrecht zu schwerfällig; wer wird denn einen Wechsel erwerben, wenn er den Einreden seiner Vormänner, die aus der Entstehung des Wechsels vielleicht stammen, ausgesetzt bleibt und somit nicht eine völlig abstrakt gewordene Zahlungsverpflichtung in die Hand bekommt. So war mit dem Pfund doch wieder London zum Vorort des internationalen Zahlungsverkehrs geworden, neben dem auch Amsterdam und Zürich, selbst Paris nur eine wenig bedeutsame Rolle spielen konnten; über London z. B. ist auch der Großteil der von Nordamerika nach Deutschland gegebenen Kredite zahlungstechnisch geleitet worden. Hierbei ist es auch dann geblieben, als England seine Währung vom Golde loslöste (1931). Hinter ihm steht, durch die Vereinbarungen von Ottawa enger noch mit ihm und miteinander wirtschaftlich verbunden, das ganze gewaltige Weltreich, das fast die Gesamtheit aller

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seiner Bedürfnisse aus seinem eigenen Bereich zu befriedigen vermag und dadurch auch für den Absatz seiner überschüssigen Kolonialprodukte eine sichere Grundlage besitzt. Dem Sterlingblock haben sich auch selbständige Staaten, wie namentlich die skandinavischen Reiche, angeschlossen. Und Nordamerika hat die Loslösung des Dollars vom Golde schon im Frühjahr 1933 dem englischen Währungsschritt folgen lassen, bietet also dem Ausland mit seiner schwankenden Geldpolitik schon gar nicht die Sicherheit eines festen Bewertungs- und Abrechnungsmittels. Es ist, die Welt durch das englische Fenster gesehen, gar nicht so falsch, wenn der Engländer sich auf die Ansicht versteift, daß nicht das Pfund abgewertet, sondern der Franken und der Gulden überwertet seien. Jedenfalls haben Londons M e r c h a n t B a n k e r s und B a n k s von dem, was international noch für freie Zahlungsweise übrig geblieben ist, den weitaus überwiegenden Teil wieder in der Hand. — 2. D e r i n t e r n a t i o n a l e K a p i t a l v e r k e h r hat dagegen, verursacht durch die dargelegten Verschiebungen in der Kapitalverteilung und der Kapitalneubildung, eine eigentümliche und nachhaltig wirkende Rückwärtswandlung erfahren: der kurzfristige Kredit ist vor den langfristigen Anlagen wieder stark in den Vordergrund gekommen. Hierbei hat er für etwa ein Jahrzehnt in erheblichem Umfang, auch außerhalb Deutschlands, die Aufgaben des langfristigen Kredits mitübernommen; dem wirtschaftlichen Zweck ist also insoweit eine wesensfremde formalrechtliche Unterlage gegeben worden. Dies hat für die Banken selbst die sehr unbequeme und für die allgemeine Wirtschaftsentwicklung die sehr hinderliche Wirkung gehabt, daß diese tatsächlich langfristigen Kredite nicht durch Ausgabe von Aktien oder Schuldverschreibungen von den Banken auf das breite Kapitalistenpublikum abgewälzt werden können. Weil hierdurch die Liquidität der Banken gefährdet erscheint, wird nicht nur die Kreditgewährung an altbestehende Unternehmungen unter das Gebot besonderer Vorsicht gestellt; es werden auch neue Anlagen weiter Sicht — wie etwa neue Eisenbahnen in den weniger entwickelten Gebieten — zu einer völligen Unmöglichkeit. Deutschland hat es zudem hart zu spüren bekommen, daß der Zwiespalt zwischen formalrechtlicher Unterlage und tatsächlicher Verwendung der Kredite sich sogar als ein politisches Druckmittel hat verwenden lassen. Man darf es als eine Gesundung des Kapitalverkehrs bezeichnen, daß dank dem „ K r a c h " vom Juni 1931 der kurzfristige Kredit nun seiner eigentlichen Aufgabe, der Erleichterung des internationalen Güter- und Leistungsaustauschs, wieder zurückgegeben worden ist — so hemmend für die wirtschaftliche

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Entfaltung der Neuländer das Fehlen der internationalen Anlagekredite und Beteiligungen sich auswirkt. I m A u s l a n d begegnen sich zwischen denjenigen Ländern, die althergebracht für ein Kapitalgeben in Betracht kämen, und den kapitalbedürftigen Gebieten zwei Tendenzen gleicher Art, es zu den Kapitalanlagen früherer Zeiten nicht wieder kommen zu lassen. Die Neuländer selbständiger Staatlichkeit und sogar einige der großen britischen Siedlungskolonien (Südafrika und Australien) haben es schon vor dem Weltkriege als eine empfindliche Beeinträchtigung ihrer staatlichen Unabhängigkeit empfunden, daß ihre Eisenbahnen nicht nur aus europäischem Kapital erbaut worden waren, sondern auch von Europa aus verwaltet wurden; und wie sie deshalb schon damals vielfach zu einer Verstaatlichung der Schienenwege geschritten sind, so haben sie vollends die politische Schwächung, die sich während des Krieges für die kriegführenden Staaten Europas ergeben mußte, zu einer Verdrängung des fremden Kapitaleinflusses ausgenutzt, und so wollen sie in der Nachkriegszeit erst recht nichts von einem Wiedereindringen dieser wirtschaftlichen Mächte wissen: die allgemeinkulturelle und namentlich die staatliche Bedeutung der Eisenbahnen ist zu groß, als daß die selbstbewußt gewordenen Staaten sich hierin noch irgendwie vom Ausland abhängig fühlen wollten. Teilweise erstreckt sich diese Abneigung sogar auf solche Industriezweige, die man seit dem Weltkriege als Schlüsselindustrien zu bezeichnen pflegt, die also für den Kriegsfall die Herstellung der Kriegsmaterialien sichern sollen. Man wäre zwar vielleicht bereit, für derartige Zwecke im kapitalreicheren Europa und Nordamerika langfristige Anleihen aufzunehmen; das Eigentum und den Betrieb der Bahnen oder der Fabriken jedoch den fremden Kapitalgebern zu überlassen oder auch nur bestimmte Verpflichtungen für die Vergebung der Materiallieferungen zu übernehmen, lehnt man ab. Und hiermit wird den europäisch-nordamerikanischen Banken die Möglichkeit genommen, die erforderlichen Geldmittel in ihrem Heimatbereich aufzubringen; waren doch die sichere Aussicht, die in ein Unternehmen der Fremde investierten Gelder in Gestalt von Sachlieferungen einschießen zu können, und das Vertrauen zu einer Verwaltung heimischer Art regelmäßig die maßgeblichen Grundlagen für eine Auslandskapitalanlage. So hat sogar die eigens zwecks „Exportfinanzierung" errichtete, das allgemeine Vertrustungsverbot durchbrechende Vereinigung nordamerikanischer Industrieunternehmungen und Banken nur eine recht geringe Tätigkeit entfalten können. So sind auch von außen her die englischen F o r e i g n a n d C o l o n i a l B a n k s u n d

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M e r c h a n t B a n k e r s nur noch wenig zu wirklich lockenden Auslandsanlagen angeregt worden. Stärker noch ist die Einengung des Betätigungsfeldes durch das Kapitalembargo herbeigezwungen worden, das die heimischen Staatsgewalten der alten Überschußgebiete ihren Banken auferlegt haben. Auch hier hat die nationalpolitische Zielsetzung, die sog. Schlüsselindustrien erst einmal aus- und aufzubauen, die mannigfachen Maßnahmen entscheidend bestimmt. Und was dann von der — gegen die Vorkriegszeit gesunkenen — Kapitalbildungskraft übrig blieb, das sollte von England aus dem eigenen Reichsgedanken dienstbar gemacht werden, den Kolonien also zufließen. Wie stark jedoch gerade England, das bedeutendste Kapitalexportland der Vergangenheit, seit dem Weltkriege die Inlandsbedürfnisse in den Vordergrund gerückt hat, zeigt in elementarer Deutlichkeit das Bemühen der Bank von England, dem Inlandskapitalmarkt eine neue Form zu geben und neben die I n v e s t m e n t T r u s t s und Promotorfirmen, die nur in recht engem Umfang den Kapitalbedarf der englischen Wirtschaft zu decken vermögen, in weitschichtiger Zusammenfassung gerade auch der alten Auslandsbanken ein Bankinstitut zu stellen, das ausschließlich dem Ausbau und der Modernisierung der heimischen Industrien zu dienen bestimmt ist. Auch die Loslösung der englischen Währung vom Goldstandard (i 931) ist binnenwirtschaftlich-industriell begründet, während noch wenige Jahre zuvor (1925) die Wiederherstellung der Goldparität des englischen Pfundes gerade der Wiedergewinnung der alten Zentralstellung im Weltkapitalmarkt dienen und den „Parvenü" Dollar aus dem Felde schlagen sollte. In den „Stillhalte-Abkommen", die seit 1931 zwischen den englischen und den deutschen Banken in regelmäßiger Abfolge getroffen worden sind, tritt ebenfalls die Umstellung der englischen Bankhaltung deutlich hervor: man bewilligt den Aufschub und die Kürzung der deutschen Zahlungsverpflichtungen, weil deren volle Durchführung nur durch entsprechend hohe Warenausfuhr Deutschlands und damit zu Lasten der englischen Industrie sich ermöglichen ließe. In Frankreich scheint noch vom Kapitalistenpublikum her ein besonderes Hemmnis sich gegen Auslandskapitalanlagen aufzurichten. Von je her hat man hier diejenigen fremden Staatsgebiete bevorzugt, mit denen der eigene Staat in engeren politischen Beziehungen stand, bei denen also das wirtschaftliche Risiko einigermaßen abgeschwächt erschien. Der Verlust der in Rußland angelegten Gelder hat dieses Vertrauen natürlich schwer erschüttert; und es scheint sogar, daß der kleine Sparer jetzt sein Mißtrauen auf die Banken überträgt, die

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ihm sonst die Anlagewerte vermittelt haben. Anders ist nicht zu erklären, daß der französische Staat zur Sicherung seiner Kassenlage bei ausländischen (englischen und nordamerikanischen) Banken Anleihen aufgenommen hat, deren Valuta anerkanntermaßen aus französischen Kapitalfluchtgeldern stammt. Für unmittelbare Übernahme von Auslandswerten ist das französische Rentnertum vollends nicht zu haben. So schalten auch die französischen Emissionsbanken aus dem Auslandskapitalmarkt so gut wie völlig aus. Frankreich muß auf seinem überreichen Goldvorrat sitzen bleiben, weil seine Menschen noch immer dem mittelalterlichen Ideal des geruhigen Lebens mehr als den Zielen wagefrohen Unternehmertums nachgehen. All' diesen großen Ausfällen gegenüber bedeutet es nur geringfügigen Ersatz, daß von Holland, der Schweiz und auch Schweden aus eine Anzahl Banken seit dem Weltkrieg sich zu größerer Bedeutung als internationale Kapitalvermittler aufgeschwungen haben. Zwar stützen sie sich keineswegs nur auf die Kapitalkraft ihres eigenen Landes, sind vielmehr ebenso Nehmer wie Geber internationaler Kredite und sogar zu ihrer jetzigen Bedeutung gerade als Empfänger ausländischer Kapitalfluchtgelder gelangt. Es zeigt sich jedoch in ihrer ganzen Tätigkeit sehr deutlich, daß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des eigenen Landes auch für das internationale Handeln die maßgebliche Unterlage bedeutet. Und sie ist denn doch allein schon vom R a u m her hier nicht stark genug, ein wirklich großes und in die ganze Weite der Erde gehendes Geschäft internationaler Kapitalvermittlung darauf aufzubauen. Ein London, New York, Paris steht denn doch mit seiner Bankenschaft auch jetzt noch auf dem Weltkapitalmarkt im Vordergrund vor Amsterdam, Zürich, Stockholm. So ist es denn im ganzen stille geworden in der Herstellung neuer Anlagebeziehungen von Land zu Land, und selbst die reinen Agrargebiete, die dank ihrem langsamen Kapitalumschlag auch in der Kapitalbildung nur ein sehr langsames Tempo erreichen können, sehen sich im wesentlichen auf diese eigene Kapitalbildung angewiesen, auf eine langsame Allgemeinentwicklung gestellt; den Banken ist allenthalben, soweit sie überhaupt noch international sich betätigen wollen und können, fast nur die Pflege des kurzfristigen Handelskredits verblieben. In dessen A u f b a u hat sich aber gegenüber der Vorkriegszeit, wie beim Zahlungsverkehr, nichts Wesentliches geändert. Die Londoner F o r e i g n B a n k s und B a n k e r s , allerdings wohl stärker noch als früher zu den flüssigen Mitteln der englischen Wirtschaftswelt die Guthaben ihrer ausländischen Kundschaft heranziehend,

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stärker also noch zu internationalen Vermittlern geworden — sie haben im sog. Geldmarkt ihre Stellung sich zurückerobert und einstweilen auch durch die Abwertung des Pfundes davon nichts eingebüßt. Ihnen ist in starkem Maße zugute gekommen, daß der wichtigste Rivale des Pfundes, der nordamerikanische Dollar, ebenfalls einer Abwertung zugeführt worden ist und seitdem durch eine Währungspolitik „manipuliert" wird, die einer übersehbaren Linie entbehrt. Die französischen Banken sind umgekehrt durch die Starrheit und Beengtheit ihrer heimischen Kundschaft verhindert, die Goldfestigkeit des Franken zum A u f b a u einer überragenden Stellung im Weltmarkt der kurzfristigen Kredite auszunutzen. Der „Sterlingblock" hat sich demgemäß weit über das britische Kolonialreich hinaus ausgedehnt und den Londoner Banken von der Gleichheit der Währungsbewegungen her einen R a u m wieder unterlegt, von dem aus sie auch in den fern gehaltenen Staatsgebieten als Kreditvermittler ihre Stellung halten können. •— 3. Auf D e u t s c h l a n d hat, dank seiner besonderen Wirtschaftsbedingungen, die Gesamtentwicklung in eigentümlich-besonderer Art reflektiert. Hier war es zunächst wertvoll, daß es schon bald nach dem sog. Friedensschluß einigen seiner großen Bankhäuser gelang, im Ausland — in England, Holland und den Vereinigten Staaten von Amerika — einen wirklich kurzfristigen Kredit eingeräumt zu erhalten; dieser hat die Rohstoff- und Lebensmittelbeschaffung, die für unser ausgehungertes und materialentblößtes Land das dringendste Bedürfnis darstellte, in Gang gebracht und auch der Ausfuhr unserer Fertigwaren den Weg wieder geebnet. Es dauerte auch nicht lange, da ließen sich in Amsterdam einige der früher in Antwerpen führenden deutschen Bankfirmen nieder; gestützt auf Kommanditeinlagen deutschheimischer Großbanken und natürlich ebenfalls in erster Linie zur Erleichterung der deutschen Ein- und Ausfuhr bestimmt. Es kam zu jenen r e v o l v i n g c r e d i t s , bei denen zwar der einzelne Vorgang in der altgewohnten Form des Rembourses behandelt wurde, sich also an eine wirkliche Warenübertragung anschloß und jeweils in kurzer Frist sein Ende fand, — bei denen aber die zurückgezahlten Beträge alsbald durch einen neuen Kredit dieser Art in Anspruch genommen werden durften. Sie haben in der Form des kurzfristigen Kredits, der auch wirtschaftlich diesen Inhalt behielt, dem deutschen Handel ein weitsichtiges Disponieren ermöglicht und ganz wesentlich dazu beigetragen, daß vor allem unsere Exporteure viel schneller, als man ursprünglich annehmen konnte, in weiten Auslandsgebieten

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wiederum Fuß zu fassen vermochten und so die Devisen selbst beschafften, die zwecks Bezahlung der Einfuhr unentbehrlich waren. U m die Wende 1920 auf 1921 gab es bereits überall, wo überhaupt deutsche Waren zugelassen wurden, auch den kaufmännischen Apparat, der für den Absatz von Fertigfabrikaten bekanntlich in besonders hohem Grade wichtig ist; und es gab auch die Bankverbindungen, die für den erforderlichen Zwischenkredit sorgten. Diese Leistung ist um so höher einzuschätzen, als sie in die Zeit der stärker und stärker absinkenden Markwährung fällt. Und sie war volkswirtschaftlich gesund, weil wir mit ihrer Hilfe Produktionsmittel (Rohstoffe und unentbehrliche Nahrungsmittel) zu uns hereinbekamen, die wir — als Fabrikate im Werte durch unsere Menschen- und Maschinenarbeit erhöht — für unsere Ausfuhr verwenden konnten, die sich also gleichsam mit sich selbst bezahlten, weil es eine Vermehrung unseres Volkskapitals bedeutete. Was Deutschland noch fehlte und was ihm derartige Kredite auch nicht geben konnten, das waren die Mittel, seinen technischen Produktionsapparat auf Friedensleistung umzustellen und überhaupt wieder in die Höhe zu bringen. Diesen Mangel ebenfalls vom Ausland her zu beheben, schien sich nach dem Abschluß der D a w e s Verträge (1924) günstige Gelegenheit zu bieten: die nordamerikanischen Banken sahen in Deutschland das starke Arbeitsfeld, ihr eignes Land vor der Gefahr des „Im-Golde-Erstickens" zu bewahren. Und wie die Feindestaaten schon dem Reich die sog. D a w e s - A n l e i h e von 800 Millionen Reichsmark zur Entlastung Nordamerikas aufgezwungen hatten, so drängten sich von 1925 bis 1929 die privaten Banken in die deutsche Wirtschaft als Kreditgeber hinein; ihre Vertreter wurden tägliche Gäste in den Kontoren der Industrie und der Banken, sogar in den Büros der Stadtverwaltungen 1 ). Und tatsächlich ist es j a auch in jenen Jahren in sehr großem Umfang (man schätzt ihn auf etwa x ) In seinem Referat über „ D i e fehlerhafte Kreditpolitik", dem Untersuchungsausschuß für das Bankwesen 1933 erstattet, zitiert Dr. O t t o C h r . F i s c h e r von dem Leiter einer der größten New-Yorker Banken folgende Äußerung aus dem Jahre 1924: „Wenn schwere Gefahren für die amerikanische Wirtschaft vermieden werden sollen, dann ist die Gewährung von Auslandskrediten seitens der U S A . unbedingt notwendig. Amerika kann der Gefahr, im Golde zu ersticken, nur entgehen, wenn es Kredite ans Ausland gibt. Dabei ist die Kreditgewährung an Deutschland besonders verlockend, weil die anderen Länder entweder keine Kredite brauchen . . . oder nicht hinreichend kreditwürdig sind. Man muß sogar versuchen, mit Hilfe des deutschen Giros Kredite nach den östlichen Ländern Europas zu geben, weil man derartige Geschäfte nur mit Deutschland zusammen machen kann." (Referat I/io, S. 23).

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Probleme des Deutschen Wirtschaftslebens

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16 Milliarden Reichsmark) und auch nicht nur von den Vereinigten Staaten von Amerika her zur kreditmäßigen Hergabe ausländischer Mittel gekommen. Hiervon hat gewiß ein beträchtlicher Teil wiederum der Beschaffung von Rohstoffen und lebensnotwendigen Nahrungsmitteln gedient, unsern Wirtschaftskörper also gekräftigt und ausfuhrfähig gemacht. Ein verhältnismäßig nicht großer Betrag ist in der Einfuhr entbehrlicher Luxuswaren angelegt worden; auch er hat als echter Rembourskredit regelmäßig so kurzfristig, wie er gegeben wurde, seine Abdeckung erfahren. Ein sehr großer Anteil jedoch (man schätzt ihn auf etwa 10 Milliarden Reichsmark) ist in Deutschland als Unterlage für jene Anlagenerneuerung und -erweiterung benutzt worden, nach der sich fast alle unsere Industriezweige ebenso wie die Staats- und Stadtbetriebe sehnten. Auch die „Beratungsstelle für Auslandsschulden", deren Errichtung von S c h a c h t als Reichsbankpräsidenten schließlich (Dezember 1924) durchgesetzt worden ist, konnte den Zufluß nicht wesentlich hemmen; hatte sie doch nur die Anleihewünsche der öffentlichen Körperschaften, nicht auch die der privaten Unternehmungen und nicht die kurzfristigen Kredite zu genehmigen, und auch hierbei ließ sie sich nur von der Frage der innerwirtschaftlichen Zinsaufbringung, nicht von der einer Ausfuhrsteigerung und internationalen Zinsübertragung leiten. Der Umschlag ist vielmehr von den V. S. A. gekommen, als dort im Herbst 1929 mit einem schweren Börsenkrach die noch heute andauernde Krisis einsetzte: schon im Jahre 1930 ist etwa eine halbe Milliarde Reichsmark aus Deutschland mehr zurückgezahlt als neu aufgenommen worden. Und im Sommer 1931 ist dann das ganze Kreditgebäude zusammengestürzt, als Frankreich — um das Reich unter politischen Druck zu setzen — seine Guthaben (weniger aus Deutschland, wo es nicht viel ausstehen hatte, als zuerst aus Österreich und dann auch aus England und den Vereinigten Staaten von Amerika) zurückzog. Seitdem hat Deutschland zwar noch — durch Vermittlung seiner Banken — Rembourskredite in immerhin bedeutsamem Ausmaß vom Ausland empfangen, im ganzen aber milliardenweise (in den Jahren 1931 bis 1933 reichlich 7 Milliarden) mehr zurückgezahlt als erhalten. Gewiß eine gewaltige Leistung, aber doch auch eine schwere Störung des deutschen Wirtschaftslebens, da der (neben der Hingabe unseres Goldbestandes) erforderliche Ausfuhrüberschuß ganz überwiegend durch eine Drosselung der Einfuhr, d. h. des uns notwendigen Auslandsbezugs von Rohstoffen, erreicht werden mußte und so in steigender Arbeitslosigkeit innerwirtschaftlich sich ausgewirkt hat. Wie ist es zu so schweren Zuckungen gekommen, die geradezu an

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die Anfänge des kapitalistischen Zeitalters, an die großen Krisen von 1857 etwa und von 1873 mit ihren langdauernden Depressionsfolgen, erinnern und im voll ausgebildeten Kapitalismus kein Gegenstück finden? Ist nur die politische Unruhe, die seit dem Ausbruch des Weltkriegs und dem Unfrieden von Versailles die ganze Welt beherrscht, dafür verantwortlich zu machen? Mir will scheinen, daß auch in den Kreditverhältnissen selbst gewichtige Störungsursachen lagen, und zwar im Fundament des ganzen Gebäudes: im wirtschaftlichen Denken und Fühlen, das sich allzu einseitig von der Geldtechnik bestimmen ließ und die Sacherscheinungen zu wenig berücksichtigt hat. Es ist kennzeichnend, daß durch die nordamerikanischen Banken dem kurzfristigen Kredit eine Form gegeben worden ist, welche die Loslösung von der Ware unmittelbar aufzeigt. Denn wenn man auch diese Form als „unechten Rembours" zu bezeichnen pflegt, so hat sie doch mit dem echten kaum etwas gemein. Sie besteht in einem allgemeinen Darlehnsvertrag, in der Festlegung einer sog. Kreditlinie, über welche der Kreditnehmer je nach seinem Bedarf durch Wechselziehung oder Wechselbegebung verfügen darf, ohne irgend ein Dokument über einen Warenverkauf oder ähnliches vorzulegen. Negativ ausgedrückt: dem zu diskontierenden Wechsel und dem Akzept fehlen die für den echten Rembours charakteristischen „Anhängsel" — das Konnossement, die Versicherungspolice und die Warenrechnung. Der Wechsel hat also nur noch die Bedeutung einer rechtlichen Kreditsicherung; die Art des wirklichen, wirtschaftlichen Vorgangs, der seine Entstehung im Einzelfall hervorgerufen hat, ist weder aus ihm selbst noch aus irgendeinem Begleitpapier zu entnehmen. Infolgedessen wurde es möglich, diese Kreditform auch abseits aller Ein- und Ausfuhr zu benutzen. Und sie ist denn auch die Grundlage dafür geworden, daß deutsche Darlehnsnehmer mit Hilfe solcher kurzfristigen Kredite feste Anlagen errichteten, der kurzfristigen Verpflichtung also eine langfristige Verwertung gegenübergestellt haben; in der Erwartung, daß der ausländische Darlehnsgeber, der von dieser Anlageverwendung immer gewußt hat, die Kreditlinie bei Ablauf verlängern werde — aber ohne dessen sicher zu sein. Mit diesem Mißbrauch des Wechselkredits verbindet sich eine zweifache Gefahr. Erstens die Unstimmigkeit der Fristen. Es widerspricht nicht nur den Bankgrundsätzen, sondern allen Kreditregeln überhaupt, daß ein kurzfristig genommenes und tatsächlich (nicht nur rechtlich) auf jederzeitige Kündigung gestelltes Darlehn zu festen Anlagen verwendet werde, deren Kosten doch nur in jeweils kleinen Amortisations47*

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beträgen wieder hereinkommen, und die sich auch nicht als Ganzes zwecks Rückzahlung des Darlehns wieder in flüssige Mittel verwandeln lassen. Aus dem Kontokorrentkredite ist jeder Bank und jedem Industriellen die Gefahr des „Einfrierens" solcher Kredite geläufig. Die ganze Dringlichkeit der nordamerikanischen Kapitalangebote kommt darin zum Ausdruck, daß sie dafür diese gefährliche Form eingeführt haben. Auf deutscher Seite ist die zweite Gefahr noch stärker zu betonen, zumal sie von der Industrie und den öffentlichen Körperschaften völlig, teilweise auch von den Banken vernachlässigt worden ist. Es kam nämlich unter den gegebenen politischen Umständen keineswegs nur darauf an, die Stimmigkeit zwischen dem genommenen Kredit und seiner Verwendung in den Fristen festzuhalten. Mindestens die gleiche Aufmerksamkeit war darauf zu richten, daß bei Fälligkeit der Darlehen die ausländische Valuta für die Rückzahlung bereit stand. Und dies war nach dem Weltkrieg mit einiger Sicherheit fast nur dann zu erwarten, wenn das borgende Unternehmen aus eigener Warenausfuhr regelmäßig entsprechende Zahlungen fremder Währung erhielt. Tatsächlich hat man jedoch — man denke an die überhaupt nicht ausführenden Betriebe der Staaten und Städte und an die Unternehmungen der Schwerindustrie, die im Verhältnis zu ihrer Gesamtfertigung auch nur wenig für den Export liefern — in der Behandlung der Kreditverpflichtungen sich gestellt, als ob der Welthandel der Vergangenheit schon wieder zu voller Freiheit erwachsen wäre; oder richtiger: als ob es sich lediglich u m irgendwelche Geldüberweisungen drehe, hinter denen keinerlei Warenbewegung zu stehen brauche. Nur so konnte es kommen, daß der Großteil der Auslandskredite in die Schwerindustrie und einige verwandte Zweige des deutschen Wirtschaftslebens geflossen ist, weil man deren Firmen im Auslande kannte und sich dort ihre Entwicklung an den Produktionsziffern ablesen ließ, daß aber die Kerngebiete der deutschen Wirtschaft, die mannigfachen Zweige der feineren Verarbeitung, lediglich auf dem Umwege über die Banken und die Stadtverwaltungen und in erheblich geringerem Umfange daran teil hatten. Das schlug allerdings im Endergebnis nicht zum Schaden der einzelnen Unternehmungen aus, da auch die großen Werke nicht viel Freude an ihren Auslandskrediten gehabt haben. Es war jedoch für die allgemeine Wertung der verschiedenen Wirtschaftszweige insofern verhängnisvoll, als die sowieso schon weit verbreitete marxistische Irrlehre, daß in der deutschen Volkswirtschaft der Hang zum Großbetrieb und zur Konzernunternehmung herrsche, durch die Nachrichten über die Kreditvorgänge neue Nahrung erhielt.

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Vollends war es für die Allgemeinheit von übelster Bedeutung, daß beim „unechten Rembours" internationale Verpflichtungen ohne entsprechende Wertübertragungen entstehen können, und daß daher ein hierbei gebrauchter Wechsel das Wesen des reinen Finanzwechsels annehmen kann. So ist es in den Jahren 1925—1929 auch tatsächlich gewesen. Jener Großteil des Gesamtkredits, der zur Erstellung deutscher Anlagen benutzt worden ist, hat keinerlei ausländische Produktionsmittel zu uns hereingebracht. Die Devisen sind vielmehr von den Darlehnsempfängern zur Reichsbank gebracht und hier in Reichsmark verwandelt worden, damit man Löhne und Materiallieferungen bezahlen könne. Und von der Reichsbank sind sie auch nicht —- wenigstens größtenteils nicht — an deutsche Importeure zur Bezahlung eingeführter Rohstoffe oder Lebensmittel weitergegeben worden; diesem Bedürfnis hat zumeist der echte Rembours gedient. Jene Devisen sind vielmehr zu dem Reparationsagenten und durch ihn zu den Reparations-Gläubigerstaaten gewandert; und diese haben dann von den Darlehnsgebern (Devisenschuldnern) die Wechselvaluta eingezogen. Unsere Reparationsschuld war damit allerdings beglichen; aber nicht, wie es das Dawes-Gutachten verlangt hatte, durch einen entsprechenden Ausfuhrüberschuß, sondern durch die Aufnahme neuer und zwar privater Schulden, da j a die Verzinsungs- und Rückzahlungspflicht aus dem ursprünglichen Darlehnsvertrag auf den deutschen Darlehnsschuldnern trotz jenes Ganges der Darlehnsvaluta haften blieb. Für Deutschland selbst hat sich aus dem ganzen Zirkel lediglich die Möglichkeit ergeben, unter Beibehaltung zwar der gesetzlichen Formen, tatsächlich jedoch ohne sachliche Unterlagen Reichsbanknoten in Umlauf zu bringen und Giroguthaben zu schaffen; d. h. eine unerwünschte Geldausweitung, deren Gefahren allerdings u. a. auch durch die Bremsung gemildert wurden, welche die Rückzahlungs- und Verzinsungspflicht den deutschen Nehmern des ausländischen Kredits für die Höhe des Darlehns und damit für den Betrag der von der Reichsbank abzuziehenden Noten auferlegt hat. Und für die Zukunft war die Folge, daß der Zwiespalt zwischen Ausfuhrmöglichkeit und Ausfuhrnotwendigkeit sich noch mehr erweiterte; wuchs doch diese Notwendigkeit an, ohne daß eine Zufuhr ausländischer Produktionsmittel unsere Produktivkraft erhöht hätte. Vor allem aber entfiel der Grundgedanke der Dawes-Verträge, daß wir die Reparationen nur mit entsprechendem Ausfuhrüberschuß entrichten könnten und beim Fehlen solcher Überschüsse von der Zahlung befreit werden müßten; und es sind an die Stelle der politischen, eben dieser Erwägung unterstellten Verpflichtungen die privaten Zins- und Rückzahlungen getreten, die uns

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trotz Aufhebung der Reparationen noch immer belasten. Erst unter dem Young-Plan, dessen Erfüllung durch wirkliche Ausfuhrüberschüsse erzielt wurde, ist in den Gläubigerstaaten der Gegensatz zwischen den Banken, die von Deutschland die Schulden bezahlt sehen wollen, und der heimischen Industrie, die gegen die deutsche Wareneinfuhr geschützt werden will, zu solcher Stärke angewachsen, daß die Regierungen ihre Reparationsforderungen fallen lassen konnten, und daß die Banken sich auf Stillhaltungsabkommen einlassen mußten. Im ganzen also sind jene Auslandskredite der Jahre 1925—1929, soweit sie nicht der Einfuhr von Rohstoffen und andern Lebensnotwendigkeiten gedient haben, also mehr als zur Hälfte, für die deutsche Volkswirtschaft keineswegs ein Segen gewesen. Um so mehr ist zu betonen, daß gerade diese Kredite zum größten Teil nicht durch die deutschen Banken vermittelt, sondern unmittelbar von den Industrieund Transport-Unternehmungen, den Städten und Staaten hereingebracht worden sind: am Ende 1931 — dem ersten Zeitpunkt, für den durch die „Anmeldestelle" eine einigermaßen genaue Zusammenstellung gemacht worden ist — standen sich je 4,7 Milliarden R M . Direktkredite und Bankenkredite gegenüber, wobei aber diese auch die wirklichen Rembourskredite in sich enthalten, und bis zum Februar 1933 sind jene nur auf 4,5 — diese aber auf 3,4 Milliarden gesunken, was auf einen starken Anteil der Rembourskredite schließen l ä ß t . Es ist auch bekannt, daß gerade die im Auslandsgeschäft von jeher tätigen und daher erfahrungsreichen Banken den alten Grundsatz durchgehalten haben, wonach sie ihren Inlandskunden einen Kredit ausländischer Währung nur in solcher Höhe zu bewilligen pflegten, wie diese durch eigene Ausfuhr voraussichtlich abdecken konnten; die größeren Provinzbanken unserer Exportgebiete zumal haben sich sogar für sich selbst von den unechten Remboursen fern gehalten. Dagegen haben andere Banken, deren Leiter auch in der inländischen Kreditgewährung das rechte Augenmaß vermissen ließen, unzweifelhaft die Vermittlung von Auslandskrediten ohne Beachtung jenes Grundsatzes betrieben und sich dadurch Kunden zu gewinnen gesucht; das bekannteste Beispiel ist wohl die Darmstädter Bank, die auch ihre verhängnisvolle Rolle im Nordwolle-Konzern und in der großen Schiffahrtsunion Hamburg-Bremen gespielt hat. Diese Banken haben dann auch die Unbedachtheiten und den Ehrgeiz ihrer Leiter mit ihrer Existenz bezahlen müssen. Jene vorsichtigeren Unternehmungen durften dem Auslandsansturm der Junitage sich gewachsen fühlen, Die Ziffern nach O t t o C h r . F i s c h e r , a. a. O. S. 20.

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sind erst der Unruhe ihrer Depositenkundschaft gewichen und haben schließlich durch Reichshilfe, wenn auch unter Opfern ihrer Aktionäre, am Leben erhalten werden können. Diejenigen beiden Großbanken, die auch in ihrem Depositengeschäft sich nicht auf das breite und in allen kritischen Augenblicken unzuverlässige Privatpublikum stützen, sind sogar ebenso wie die vorsichtigen Privatbankhäuser aus eigener K r a f t durch den Sturm hindurchgekommen. Es geht also nicht an, von einem allgemeinen Versagen der deutschen Banken zu sprechen; so sicher schwere Verstöße gegen die allgemeinen Grundsätze aller Kreditpolitik für die Junivorgänge mit verantwortlich gewesen sind und sich in bittern volkswirtschaftlichen Folgen ausgewirkt haben und noch auswirken. Nicht zuletzt für den internationalen Kapitalverkehr Deutschlands ist diese Unterscheidung zwischen den Banken bewährter Vorsicht und den Instituten stürmischer Leitung bedeutungsvoll geworden: jene sind auch nach dem J u n i 1931 dem Ausland gegenüber wichtige Vermittler deutscher Kreditwünsche geblieben, und sie haben sogar allem Anschein nach in dieser Richtung ihre Stellung noch befestigt. Allerdings nicht in der Weise, daß sie etwa in Fortführung der Vorkiiegsentwicklung ihr eigenes Reichsmark-Akzept in den internationalen Verkehr wieder hätten einführen können; solchen Bestrebungen steht nun einmal die gewaltige Schwächung der deutschen Kapitalbildungskraft als entscheidende Hemmung entgegen. Wohl aber sind sie in den Handelskredit, der wieder die Form des echten, d. h. mit dem Warenverkehr organisch verbundenen Rembourses angenommen hat, als Zwischeninstanz besonders stark eingeschaltet worden. Von ihnen laufen die Fäden des Vertrauens zu jenen Banken des Auslands, die dem deutschen Einfuhr- und Ausfuhr-Bedürfnis mit kurzfristigem Kredit noch zu dienen bereit sind; und ihre Garantie steht hinter den „seitens der Kundschaft bei Dritten benutzten Krediten", bei denen es sich fast ausschließlich um die Abwicklung von Auslandsgeschäften handelt. Oft genug sind sie es auch, die mit ihrer Länder- und Personenkenntnis ausschlaggebend helfen, Kompensationsgeschäfte von Land zu Land und vollends über mehrere Länder hinweg zustande zu bringen. Vollends werden sie vom Inland und vom Ausland her als Auskunftstellen stark in Anspruch genommen, je mehr der Außenhandel aller Länder unter ganz spezielle, jedes Auslandsgebiet besonders behandelnde Regelung gestellt wird. Über sie geht durchweg der Verkehr jener mannigfaltigen Sonder-Reichsmarkformen, mit denen die im deutschen Inland „eingefrorenen" Auslandskapitalien allmählich wieder flüssig und verwendbar gemacht werden. Es ist bezeichnend, daß

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die Golddiskontbank, die als ein Organ der Reichsbank zur Gewährung fremdvalutarischer Kredite ursprünglich errichtet worden ist, völlig in die deutsche Binnenwirtschaft hat eingegliedert werden können. Unser Außenhandel, mag er von den besonderen Handelsfirmen oder von den Großproduzenten und Großkonsumenten betrieben werden, findet wieder seine Stütze in den Rembourskrediten, die ihm durch unsere Privatbanken und Privatbankiers vermittelt werden. Anlagekredite allerdings und Kapitalbeteiligungen können und sollen diese Banken weder nach außen hin, noch von außen her für unsere Volkswirtschaft schon wieder vermitteln. Für sie ist auf lange Zeit hinaus bei uns kein Raum geblieben. Nach dem Ausland hin nicht, weil wir die etwa ausgeführten Produktionsmittel genau so wie die Konsumwaren mit ihrem Erlös allzu dringlich und sofort für die Bezahlung unserer Einfuhr einsetzen müssen; nur ausnahmsweise, wenn der Rückfluß hoher Erträge in baldiger Aussicht steht, können wir auf die unmittelbaren Gegenwerte der Kapitalgüter selbst verzichten. Vom Ausland her nicht, weil wir ein Industriestaat sind, der mit seiner gelernten Arbeiter- und Angestelltenschaft im eigenen Bereich die ihm nötigen Produktionsmittel herstellen will, während doch Kapitaleinfuhr zu Anlagezwecken nichts anderes als Maschinen- und Transportmittel-Einfuhr bedeuten kann. Es war das Grundverhängnis des ersten Nachkriegsjahrzehnts, daß alle Welt im geldmäßig ausgedrückten Kapital etwas Selbständiges, etwas Ex- und Importierbares erblickte und nicht die Güter und Leistungen sah, die aus der geldmäßigen Kapitalmöglichkeit erst eine Ertragsquelle, also das wirkliche —, das volkswirtschaftliche Kapital zu machen vermögen. V. Die Erkenntnis dieses Zusammenhanges zwischen geldmäßiger und gütermäßiger Wertübertragung gilt es für alle Zukunft festzuhalten. Sie ist zwar von jeher ein Gemeingut der sozialökonomischen Theorie gewesen und hier und da auch gelegentlich von Praktikern des Bankwesens ausgesprochen worden. Sie hat dann im Dawes-Gutachten von 1924 die bekannte Formulierung bekommen, daß Deutschland seine Reparationsverpflichtungen nur mit Hilfe eines entsprechend großen Ausfuhrüberschusses erfüllen könne und solle. Sie ist jedoch — trotz des nordamerikanischen Namens, der jenem Gutachten seine übliche Bezeichnung gegeben hat — von dem nordamerikanischen Reparationsagenten P a r k e r G i l b e r t sofort wieder bei Seite geschoben worden. Selbst jetzt noch, trotz des Zusammenbruchs der internatio-

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Welthandel

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nalen Kapitalbeziehungen von 1931, läßt die Wirtschaftspolitik fast aller Staaten, namentlich aber die der Vereinigten Staaten von Amerika, eine Berücksichtigung dieses nun einmal elementar gegebenen Zusammenhangs völlig vermissen; man will Zinsen und Kapitalrückzahlungen erhalten, sperrt sich jedoch gegen die dann unerläßliche Wareneinfuhr. Der volkswirtschaftliche Wahnsinn von Versailles, auf völliger Unkenntnis volkswirtschaftlicher Zusammenhänge beruhend, ist also aus den Köpfen der Politiker noch nicht ausgeräumt. Und doch hat die ganze Welt ihn mit dem Chaos bezahlt, das keineswegs nur die internationalen Wirtschaftsbeziehungen, das vielmehr von diesen aus sehr ausgeprägt in allen Staaten auch die binnenwirtschaftlichen Verhältnisse lange J a h r e gekennzeichnet hat und sie auch jetzt noch zu einer ruhigen Entwicklung nicht kommen läßt. Die notwendige Folge ist nicht ausgeblieben: sämtliche Staaten der Erde suchen sich so weit, wie es irgend möglich, aus der weltmarktmäßigen Verflechtung mit dem eigenen Wirtschaftskörper herauszulösen. Aber in vollem Umfang ist dies keinem Staate und sogar keinem Staatenverbande bisher gelungen und auch keinem erreichbar. Und man will es auch gar nicht, insoweit man Kapitalforderungen gegen die übrige Welt hat. So ist es also tatsächlich in erheblichem Umfang dabei geblieben, daß internationale Güter- und Leistungsübertragungen und rein geldmäßig ausgedrückte Kapitalübertragungen nebeneinander hergehen. Sie werden auch, wie früher, in ihrer Vereinzelung jeweils von verschiedenen Teilen jedes Volkskörpers herbeiund durchgeführt. Und die Gefahr besteht daher immer, daß ihr Zusammenhang außer acht gelassen wird. U m so dringender müssen ihn die Banken betonen — als Träger der Kapitalbeziehungen, mit denen sie auch in den Güter- und Leistungs-Austausch eingreifen. In Deutschland zumal wird es zu den wichtigsten Aufgaben der Bankengemeinschaft und der Bankenaufsicht gehören, für den Auslandsverkehr die Berücksichtigung jenes Zusammenhangs jederzeit scharf in den Vordergrund zu rücken und so jede kapital-geldmäßige Transaktion unter die Frage zu stellen: wie sieht sie vorangehend oder nachfolgend giiter- und leistungsmäßig aus, und wie darf sie aussehen?

IV. GRUNDPROBLEME

WELTANSCHAUUNG, WISSENSCHAFT UND WIRTSCHAFT VON

W E R N E R SOMBART

EINLEITUNG „Drei Worte nenn' ich Euch, schicksalschwer, „Sie gehen von Munde zu Munde . . . " Sie bilden einzeln, sie bilden aber vor allem in ihrer Verbindung den Gegenstand zahlloser Erörterungen in allen Schichten der Bevölkerung und deshalb auf allen Niveaus: der Bildung, der Unbildung und — was das Schlimme ist — der Halbbildung: Weltanschauung — Wissenschaft — Wirtschaft. Von ihnen und ihren Beziehungen untereinander soll in folgendem die Rede sein. Dabei will ich gleich von vornherein sagen, welchen Sinn ich mit diesen Worten verbinde. Das ist nötig, denn bei ihrer Vieldeutigkeit im Sprachgebrauch verläuft man sich sonst leicht im Nebel. W e l t a n s c h a u u n g nenne ich das Insgesamt von Sinndeutungen der Welt und unseres Lebens in der Welt (als Erkenntnisproblem) nebst dem Insgesamt von Werten, nach denen wir unser Leben gestalten (als Willensproblem). Es handelt sich immer u m Entscheide l e t z t e r Fragen und um a l l g e m e i n e Entscheide. Die religiöse,

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Werner Sombart

politische, erkenntnismäßige, moralische usw. Einstellung des Einzelnen bildet immer nur einen Teil seiner Weltanschauung. W i s s e n s c h a f t nenne ich diejenige Erkenntnisweise, die es sich zur Aufgabe stellt, in systematischer Ordnung allgemein gültiges Wissen zu erlangen. Sie ist eine ganz besondere, einzigartige, geschichtliche Erscheinung, die nirgends da ist außer im „Abendlande" und auch hier erst seit dem Beginn der neuen Zeit. Sie wird durch folgende Merkmale gekennzeichnet: 1. Die V e r w e l t l i c h u n g des W i s s e n s . Diese äußert sich in der Begründung des Wissens, in der Zwecksetzung des Wissens und im Gegenstande des Wissens (und der Art seiner Erfassung). Die Begründung des Wissens wird insofern verweltlicht, als das Wissen von der Offenbarung auf Vernunft und Erfahrung gestellt wird; der Zweck des Wissens, sofern man nicht mehr um göttlicher, sondern um irdischer Werte willen (theoretischer oder praktischer) erkennen will; der Gegenstand des Wissens, sofern man die Dinge in ihrer Mannigfaltigkeit und Eigengesetzlichkeit, gelöst aus dem großen metaphysischen Zusammenhange, in dem man ehedem die Erscheinungen eingeordnet, zu erkennen trachtet. Dieser Gesamteinstellung des Erkennenden entspricht: 2. die D i f f e r e n z i e r u n g des W i s s e n s : die verschiedenen Teile der Welt werden gesondert betrachtet, es entstehen Einzelwissenschaften und sogar Teilwissenschaften. Endlich ist ein Merkmal der modernen Wissenschaft: 3. die D e m o k r a t i s i e r u n g des W i s s e n s . Während die Philosophie, die ältere Schwester der Wissenschaft, sich an den Kreis der Gleichgesinnten, die Jünger, wendet, wendet sich die Wissenschaft „an alle", an die ungegliederte Masse der Vernunftwesen. Sie erstrebt — und das ist ihr wichtigstes Kennzeichen (daher auch die definitio a potiori) — im Gegensatz zur Philosophie Allgemeingültigkeit ihrer Ergebnisse (die nicht mit Allgemeinverständlichkeit zu verwechseln ist). Mit der Forderung der Allgemeingültigkeit ist das Erfordernis der Allgemeinübertragbarkeit gegeben; das heißt: die Ergebnisse der wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen völlig objektivierbar, loslösbar von der Person des Erkennenden, müssen „beweisb a r " , aufzwingbar sein 1 ). W i r t s c h a f t nenne ich denjenigen Bereich der menschlichen Kultur, der die Unterhaltsfürsorge, das heißt die Sachgutbeschaffung, zum Inhalt hat. Alle Wirtschaft umfaßt folgende Bestandteile: l

) Das Nähere siehe in meiner Schrift: Die drei Nationalökonomien. 1930. 7. K a p .

Weltanschauung,

Wissenschaft und Wirtschaft

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1. Die W i r t s c h a f t s g e s i n n u n g , d. h.: den Inbegriff der die wirtschaftenden Menschen bestimmenden Zwecksetzungen, Beweggründe und Verhaltungsregeln; 2. die O r d n u n g , d. h.: den Inbegriff der objektiven Normen, denen alles Wirtschaften unterstellt ist. Die Ordnung erscheint als Rechtsordnung, Konventionalordnung und Sittenordnung; 3. die T e c h n i k , d . h . : den Inbegriff der Mittel, deren sich der Mensch bedient, um seinen wirtschaftlichen Zweck zu erreichen 1 ). Ich will also in diesem Aufsatze die Frage zu beantworten versuchen: O b zwischen diesen drei Begriffen und den durch sie bezeichneten Sachverhalten „Beziehungen" oder „Abhängigkeiten" bestehen und welcher Art diese sind: O b reale oder ideale, ob zufällige oder notwendige. Wenn wir die Verbindung zwischen unseren drei Begriffen durch die K o p u l a „ u n d " bezeichnen, so ergeben sich schulgemäß drei K o m binationen: Weltanschauung und Wirtschaft, Weltanschauung und Wissenschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Wie der geneigte Leser sieht, versuche ich diesem Tatbestand durch die Gliederung des Aufsatzes in drei Kapitel, die j e eine dieser drei Überschriften tragen, gerecht zu werden.

Erstes

Kapitel

WELTANSCHAUUNG UND WIRTSCHAFT I. V e r f e h l t e

Theorien

D a ß zwischen der Weltanschauung und der Wirtschaft in ihrer jeweiligen Gestaltung sehr enge Beziehungen bestehen müssen, leuchtet von vornherein ein, und ist auch zu keiner Zeit, in der man über diese beiden Begriffe nachgedacht hat, in Zweifel gezogen worden. Z u einem Kernproblem der Geschichtsbetrachtung wurden diese Beziehungen im Laufe des 19. Jahrhunderts, als — vornehmlich unter dem Einfluß des Marxismus — die Auffassung a u f k a m : es bestände eine notwendige Beziehung zwischen Weltanschauung und Wirtschaft derart, daß die Wirtschaft und ihre geschichtlichen Formen die Weltanschauung schlechthin bestimmen, daß die Wirtschaft das einzige ') Das Nähere siehe in meiner Schrift: Die Ordnung des Wirtschaftslebens. 2. A u f l . 1927.

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Werner Sombart

Reale, durch immanente Gesetzmäßigkeit selbstherrlich Bestimmte im Geschichtsprozeß, alles übrige im Menschendasein nur Funktion des Wirtschaftlichen sei. Daß diese unter dem Namen der materialistischen oder ökonomistischen Geschichtsauffassung bekannte Kulturdeutung in dieser allgemeinen Form falsch sei, davon sind wir heute überzeugt. Wir wissen heute, daß es immer der Geist — gerade auch in der Form, in der er sich in der herrschenden Weltauffassung auswirkt —, ist, der der Kultur, also auch der Wirtschaft, ihre Gestalt gibt und daß auch dort, wo die Wirtschaft zur Herrscherin über alle anderen Kultursphären geworden ist, wie in unserem Zeitalter, das ich deshalb das ökonomische genannt habe, diese Lage als der A u s f l u ß e i n e r g a n z b e s t i m m t e n W e l t a u f f a s s u n g anzusehen ist. Mag dann die Gestaltung der Wirtschaft ihre Rückwirkung auf die Weltanschauung der Menschen ausüben: das Primäre ist diese doch. Daß dem so sei, lehrt uns die gedankliche Durchdringung der gesellschaftlichen Zusammenhänge und bestätigt uns die Erfahrung. Den bestimmenden Einfluß der Weltanschauung auf die Wirtschaft vermögen wir aber hauptsächlich an zwei Tatbeständen zu ersehen: an der Stellung, die der Wirtschaft jeweils im Kulturganzen, genauer im Ganzen der Wertewelt zugewiesen wird und sodann an der Deutung, die man der Wirtschaft und ihrem Wesen zuteil werden läßt: an der Stellung, die man ihr in der Seinswelt anweist. Ich versuche, diese beiden Zusammenhänge im folgenden klar zu machen. II. D i e W e r t u n g der W i r t s c h a f t Überblicken wir die Menschheitsgeschichte, so'sehen wir, daß die Wirtschaft im Haushalt der menschlichen Zwecke, im Ganzen der Kultur zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten eine sehr verschiedene Stellung eingenommen hat. Wir können ganz im großen drei verschiedene Grundauffassungen vom Werte und der Bedeutung der Wirtschaft unterscheiden, die je ein besonderes Zeitalter bilden (ohne daß diese Zeitalter notwendig aufeinander zu folgen brauchten). Ich nenne sie 1. das magische Zeitalter, 2. das politische Zeitalter, 3. das ökonomische Zeitalter. Das m a g i s c h e Z e i t a l t e r erstreckt sich über alle Frühzeit der Kultur. Bei manchen Völkern dauert es auch in den Zeiten der Hochkultur, wie etwa in Indien und China. Da hier „magische" Vorstel-

Weltanschauung,

Wissenschaft

und Wirtschaft

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lungen die Menschen beherrschen, d. h. der Glaube, daß die Natur beseelt sei und alles menschliche Handeln — ganz besonders auch die Wirtschaft — darauf eingestellt sein müsse, diese übersinnliche Welt zugunsten des Menschen durch „Zauber" zu beeinflussen, so erscheint als das einzig Reale die übersinnliche Welt, von der alles irdische, wie die Wirtschaft, in Abhängigkeit steht. Die Wirtschaft dient der Religion, die Wirtschaft ist selbst Religion, d. h. Kultus, die Wirtschaft erhält ihr Gepräge von der Religion her. O b es sich um die Bedarfsgestaltung handelt — Kannibalismus, Tabu, Befolgung der Speisegesetze, Gebrauch von Genußmitteln, Tragen von Schmuckgegenständen —, ob um die Gütererzeugung — die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen, die Bestellung des Bodens, das Jagen des Wildes, das Zähmen der Haustiere —: alles erscheint in diesem Zeitalter als kultische Handlung, als Mittel zum Zweck, die übersinnlichen Mächte zu beherrschen, und empfängt von diesem Zweck her seinen Inhalt. Das p o l i t i s c h e Z e i t a l t e r ist dasjenige, in dem die Wirtschaft eine Funktion der (Staats-) Politik wird. Es lassen sich zwei Unterarten dieses Zeitalters unterscheiden: ein religiös-politisches und ein profan-politisches. Jenes, das die Frühzeit der europäischen Staatenwelt, die „Antike", umfaßt, wird gekennzeichnet durch das Zusammenfallen der religiösen mit der politischen Sphäre. Die Geister werden zu Göttern und die Götter zu Schutzheiligen der politischen Gemeinwesen. Es findet gleichsam eine Politisierung der religiösen Ansichten statt. Diesem religiös-politischen Gemeinwesen dient die Wirtschaft. Sie wird nur soweit und in der Form zugelassen, als sie dem Staate frommt. Dieser politische Geist, aber ohne seine religiöse Weihe, wirkt sich noch einmal aus im Zeitalter des Merkantilismus, in den Jahrhunderten der „neuen" Zeit, als die modernen, absoluten Staaten sich ausbilden. Auch hier ist die Wirtschaft ein Organ des Staates, sie ist zu nichts anderem da, als den Staatsinteressen, die nur ein rein weltliches Gepräge haben, zu dienen. Endlich beginnt das ö k o n o m i s c h e Z e i t a l t e r , das durch den Primat der ökonomischen Interessen gekennzeichnet wird. Es ist dasjenige, das in den Staaten Westeuropas seit dem 18. Jahrhundert sich ausgebildet hat und das bis heute die Länder mit kapitalistischer Kultur kennzeichnet. In welchem Umfange und in welcher Weise die Wirtschaft und die wirtschaftlichen Belange Einfluß auf die gesamte Lebensführung in diesen Ländern gewonnen haben, habe ich 48

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Sombart

unlängst an einer anderen Stelle 1 ) ausführlich dargelegt und brauche ich deshalb hier nicht zu wiederholen. Betrachten wir unsere gegenwärtige Lage unter dem Gesichtspunkt der K r i s e , so bedeutet diese nichts anderes, als daß Kräfte am Werk sind, die unser ökonomisches Zeitalter zu Ende zu bringen trachten, d. h. aber, die die Wirtschaft aus ihrer herrschenden Stellung wieder herauszudrängen und sie wieder in ein dienendes Verhältnis zu versetzen, ihr einen Sinn zu geben sich bemühen, der außerhalb ihrer selbst und der von ihr getragenen individuellen und materiellen Interessen liegt. Das kann aber bei der religiösen Lage unserer Zeit, vor allem angesichts der Tatsache, daß unsere herrschende Religion das Christentum ist, das mit der Wirtschaft überhaupt nicht in ein positives Verhältnis gebracht werden kann, offenbar nur in der Ausrichtung unserer Wirtschaft auf profan-politische, d. h. aber nationale Zwecke bestehen: die Wirtschaft soll ein dienendes Glied im nationalen Verbände und im politischen Gemeinwesen sein. Bei dieser Re-Politisierung der Wirtschaft handelt es sich um einen Wandel der Weltanschauung, dem dieser Wandel der Wirtschaftsgestaltung zu danken ist: überall tritt der Gegensatz zutage zu dem liberalistisch-pazifistisch-individualistischen Standpunkt, auf dem man bisher gestanden hatte. Freilich erscheint diese Abkehr vom ökonomischen Zeitalter in den verschiedenen Ländern in Verbindung mit recht verschiedenen Einstellungen zu anderen Grundfragen des Daseins, so daß man von einer einheitlichen Weltanschauung in den antiliberalistischen Staaten gewiß nicht sprechen kann; denn anti-liberal ist der atheistische Bolschewismus ebenso wie das demokratische Türkentum; der idealistische Faschismus ebenso wie der naturalistische Nationalsozialismus. In allen Fällen haben wir es aber doch mit einer Wirkung zu tun, di e die Weltanschauung auf die Wirtschaft ausübt. Das zeigt sich noch deutlicher, wenn wir nun eine andere Beziehung zwischen Weltanschauung und Wirtschaft uns zum Bewußtsein bringen. III. Die S i n n d e u t u n g der W i r t s c h a f t Im Zusammenhange mit der eben betrachteten Beziehung zwischen Weltanschauung und Wirtschaft, die im wesentlichen, wie wir sehen, in einer bestimmten W e r t u n g beruht, die man der Wirtschaft angedeihen läßt, steht eine andere, die mehr die D e u t u n g d e r W e s e n 1

) Siehe den ersten Abschnitt meines Buches:

A u c h in Broschürenform erschienen.

Deutscher Sozialismus.

1934.

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l i e i t der Wirtschaft betrifft. Während es sich dort um eine Einordnung der Wirtschaft in die Welt der Werte handelte, handelt es sich hier um eine Einordnung der Wirtschaft in die Welt des Seins. In beiden Fällen steht der Gegensatz zwischen liberalistischer und anti-liberalistischer Weltauffassung in Frage. Denn dieser Gegensatz tritt auch in der verschiedenen Deutung des Seins-Charakters der Wirtschaft zutage. Die liberalistische Wirtschaftstheorie ist der Ausfluß derjenigen Weltanschauung, die im 18. Jahrhundert namentlich in England und Frankreich zur Ausbildung gelangt war und die wir zusammenfassend als D e i s m u s bezeichnen können. Damals beherrschte die Geister die Lehre Isaac Newtons von dem Lauf der Gestirne, die durch Anziehung und Abstoßung sich im ewigen Gleichgewicht hielten und in wunderbarer Harmonie ihre Bahnen zogen. Diese Gedanken übertrug man auf die menschliche Gesellschaft und verband sie mit der metaphysischen Vorstellung von der prästabilierten Harmonie, wonach es auch f ü r die menschliche Gesellschaft, just wie für den gestirnten Himmel, eine von Gott gesetzte Ordnung gäbe, bei deren ungehindertem Walten das Höchstmaß von Glück und Wohlbefinden für die einzelnen wie für die Gesamtheit sich ergeben würde. Diese „natürliche Ordnung" bestand aber nach der Ansicht der einen, mächtigen Partei, hinter der die Interessenten des aufstrebenden kapitalistischen Wirtschaftssystems standen, in der freien Betätigung der einzelnen Wirtschaftssubjekte, die durch Anziehung und Abstoßung, gerade wie die Himmelskörper die „Harmonie der Sphären", so sie die „Harmonie •der Interessen" auf Erden herbeiführen würden. Dieser Glaube an eine harmonische Wirtschaftsordnung hat folgende Bestandteile: i. den Glauben an die Naturgesetzlichkeit der menschlichen Gesellschaft: diese ist ein Naturgebilde, der Geist ist ein Epiphänomen; •2. den Glauben an die Determiniertheit des menschlichen Willens: dieser bildet ein Glied in der Naturkausalität; 3 . den Glauben an den von Natur guten Menschen, den Bon sauvage: dieser wird nur durch die Einrichtungen der „Zivilisation" verderbt. Diesem Glauben setzt der Anti-Liberalismus einen anderen Glauben entgegen: 1. den Glauben an die Geistigkeit der menschlichen Gesellschaft; 2. den Glauben an die Spontaneität des freien, sich allein verantwortlichen Willens; 48*

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3. den Glauben an den von Natur sündhaften Menschen. Aus diesen beiden entgegengesetzten Weltanschauungen heraus wird man nun aber zu v e r s c h i e d e n e n G r u n d s ä t z e n d e r W i r t s c h a f t s p o l i t i k kommen: der Glaube an Naturhaftigkeit, Naturgebundenheit, Güte des menschlichen Willens führt zur Forderung einer liberalistischen Wirtschaftsordnung, die möglichst wenig Bindungen enthält; der Glaube an den freien und von Natur sündhaften Willen dagegen zum Normativismus, d. h. zu einer gebundenen Wirtschaftsordnung. Daß sich hinwiederum diese weltanschauliche Teileinstellung mit verschieden gearteten anderen Bestandteilen mischen kann, so daß die Forderung einer normativistischen Wirtschaftsverfassung sich mit verschiedenen Totalweltanschauungen paart, gilt hier ebenso wie in dem vorhin erörterten Fall der verschiedenen Wertung der Wirtschaft. In beiden Fällen ist eben darum doch der eingenommene Standpunkt weltanschaulich bestimmt.

Zweites

Kapitel

WELTANSCHAUUNG UND WISSENSCHAFT I. D i e

Problemstellung

Hier erst, im Gegensatz zu der Problematik des ersten Kapitels, enthält die Zusammenfügung der beiden Begriffe durch das Wörtchen „ u n d " die b e i d e n Fragen: Welche Bedeutung hat die Wissenschaft für die Weltanschauung? und Welche Bedeutung hat die Weltanschauung für die Wissenschaft? Ich teile deshalb dieses Kapitel in zwei Teile, deren jeder eines dieser beiden Probleme erörtern soll. II. Die B e d e u t u n g der W i s s e n s c h a f t f ü r die W e l t a n s c h a u u n g Wenn wir uns des Doppelsinns des Begriffes Weltanschauung erinnern: daß sie einerseits unseren Besitz an letzten Einsichten, andererseits an letzten Werten umfaßt, so müßten wir zu prüfen haben, was die Wissenschaft in dieser zweifachen Hinsicht für die Herausbildung einer Weltanschauung zu bedeuten hat. Was den ersten Punkt betrifft, so ist die moderne Zeit vielfach auf den Abweg geraten, zu wähnen, daß die Wissenschaft zu letzten Einsichten führe, daß sie den Glauben und die Metaphysik ersetzen könne. Nach dem bekannten, zuerst vom Grafen St. S i m o n und dann

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in breiter Ausführung von A u g u s t e C o m t e entwickelten Schema soll sogar die Menschheit in ihrer Gänze die drei Stadien des religiösen, metaphysischen und des wissenschaftlichen Zeitalters durchlaufen und jetzt für alle Zeiten in dem wissenschaftlichen Zeitalter gemündet sein. Vor allem die Naturwissenschaften hat man als Ersatz für die beiden Fundamente übersinnlicher Erkenntnis angesehen und hat geglaubt, mit ihrer Hilfe „die Welträtsel" lösen zu können. Von dieser Verirrung der Halbbildung sind wir heute zurückgekommen. Wir wissen jetzt, daß wir mit Hilfe der Wissenschaft niemals erfahren können: „was die Welt im Innersten zusammenhält". Und was man „wissenschaftliche Weltanschauung" nennt, kann berechtigterweise nur den Sinn des Agnostizismus haben, d. h. des V e r z i c h t e s auf eine überempirisch, „transzendent" verankerte Weltanschauung. Unsern Problemkreis, dessen Mitte Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft bilden, berührt diese Frage nicht. Wohl aber ragt die andere Frage nach der Bedeutung der Wissenschaft für die Weltanschauung: ihre Bedeutung für die Begründung unserer letzten W e r t e sehr stark in unseren Problemkreis hinein. Es handelt sich nämlich um die Frage: ob unsere Werte einer wissenschaftlichen Begründung zugänglich und bedürftig sind. Hier hatte das Zeitalter der Aufklärung die alte sokratische Frage: ob die Tugend „lehrbar" sei, mit aller Entschiedenheit wieder einmal bejaht: das Wertvolle, insbesondere das Sittliche wurden für Gegenstände der wissenschaftlichen Erkenntnis und somit in ihrer „Richtigkeit" für „beweisbar" erklärt. Die Aufklärung begegnete sich hier mit der rationalistischen Scholastik. Und den Einfluß dieses alten Rationalismus spüren wir heute noch in allen Kulturwissenschaften, nicht zuletzt in der Wirtschaftswissenschaft. Es soll uns weisgemacht werden, daß es zu deren Aufgabe gehöre, Werte, die ihrem Wesen nach im Übersinnlichen gründen — weil sie immer einen Entscheid über den Sinn des Menschendaseins enthalten, dieser aber nur im positiven oder negativen Entscheide überempirisch gedeutet werden kann — daß es zur Aufgabe der W i s s e n s c h a f t gehöre, Werte in ihrer Richtigkeit zu beweisen. Für alle „Werturteile" gilt aber: sie enthalten persongebundene, „relativ" wahre Erkenntnis, die man niemals den anderen verstandesmäßig aufzwingen kann. Werte werden geschaut von begnadeten Menschen und werden geglaubt von denen, die gleichen Sinnes sind. Werte werden — völlig irrational — von Mensch zu Mensch übertragen, kraft der unerforschlichen Macht der Persönlichkeit. An die

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Stelle des Beweises tritt die Liebe, aus der Liebe aber erwächst die Nachfolge. Für Werte l e b t man, für Werte s t i r b t man, wenn es notwendig ist. Werte aber b e w e i s t man nicht. Welchen Sinn hätte es, für etwas, das man als „richtig" „beweisen" kann, zu sterben? Es ist nichts anderes als ein altes Vorurteil der Aufklärung, das unsere „wertenden" Nationalökonomen noch immer mitschleppen. Die „Richtigkeit" der Werte beweisen, das heißt sie in den engen Umkreis der Verstandeserkenntnis herabzuziehen, heißt Werturteile verwissenschaftlichen wollen. Werte gründen in einer viel größeren Tiefe, alsin die das Senkblei der Wissenschaft hinabreicht. I n der meist sehr oberflächlich geführten Erörterung über „Werturteile" in der Nationalökonomie sollte nun wenigstens diese Einsicht nicht länger unbeachtet bleiben: d a ß W e r t e u n d d a m i t a u c h U r t e i l e ü b e r W e r t e a u ß e r h a l b d e s B e r e i c h s des E r f a h r u n g s wissens u n d des E v i d e n z w i s s e n s , also dessen, was wir im überlieferten Sinne „Wissenschaft" nennen, liegen, vielmehr d e r S p h ä r e p h i l o s o p h i s c h e r (oder religiöser) E r k e n n t n i s angehören. III. Die B e d e u t u n g der W e l t a n s c h a u u n g für die Wissenschaft Die andere Frage: welche Bedeutung die Weltanschauung für die Wissenschaft habe, führt in einen Problemkreis, der der sog. „Wissenssoziologie" zugehört und in dessen Mitte die in letzter Zeit viel erörterte Frage des sog. „Standpunktwissens" steht. Es handelt sich d a r u m : ob es ein sog. „voraussetzungsloses", „unbedingtes" Wissen gibt oder ob alle Erkenntnis „seinsgebunden" ist und im Bejahungsfalle: welcher Art diese Bedingungen sind: ob natürlicher, volkhafter, geistiger Art, ob unlöslich oder löslich usw. Ich bin nach wiederholter Durchprüfung dabei zu folgenden Ergebnissen gekommen: Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir von einem „ S t a n d p u n k t " aus erkennen, d. h.: daß a l l e s menschliche Wissen „seinsgebunden" ist, aus dem sehr einleuchtenden Grunde, weil es von endlichen Wesen in Zeit und R a u m gehandhabt wird. Das gilt für Kultur- u n d Naturwissenschaften grundsätzlich. Diese Standpunktgebundenheit ist zweifacher Art: sie gründet einerseits in der leib-seelischen Veranlagung, dem „Blut" des Forschers, andererseits in seinem Wissen und Werten,, seinem „Geiste", der sich in seiner Weltanschauung ausspricht. Die l e i b - s e e l i s c h e V e r a n l a g u n g bestimmt im wesentlichen das Können des Forschers. Von jener hängt es ab, ob jemand klar oder verschwommen denkt, ob er mehr mit Anschauungs- oder Ab-

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straktionskraft ausgestattet ist, ob er Formtalent besitzt oder nicht und dergleichen mehr. Beispielsmäßig: von allem anderen abgesehen wird der scharfe, jüdische Verstand eines R i c a r d o o d e r M e n g e r o d e r K e y n e s naturgemäß eine andere Nationalökonomie zutage fördern als die „tiefe, deutsche Unklarheit" (die F i c h t e an uns rühmte) eines A d a m M ü l l e r oder K n i e s oder S c h m o l l e r . Die w e l t a n s c h a u l i c h e G e b u n d e n h e i t äußert sich aber in folgendem: i. in der Z i e l s e t z u n g der Erkenntnis; diese kann himmlischen oder irdischen Zwecken dienen, d. h. sie kann eine Erkenntnis zu Gottes R u h m sein: um die göttliche Macht, Weisheit und Güte in allen Dingen zu erschauen, oder eine Erkenntnis zu diesseitigen Zwecken. In dieser Hinsicht, nämlich der Zielsetzung, ist die g e s a m t e , m o d e r n e W i s s e n s c h a f t „seinsgebunden". Sie ist der Ausfluß einer ganz bestimmten Weltanschauung, die sich seit der Zersetzung der europäischen Kultur, d. h. seit dem Ausgange des Mittelalters, also etwa dem 13. Jahrhundert 1 ), ganz allmählich vollzieht: der kritische, weltliche Geist tritt an die Stelle des religiös-kirchlich gebundenen, das Blickfeld verschiebt sich von den ewigen Werten zu den Dingen dieser Welt, es vollzieht sich, wie ich oben bereits feststellte, eine Säkularisation des Wissens und der Werte, gefördert vor allem durch den zunehmenden Wohlstand und die zunehmende Verstädterung. Damit erwacht das Interesse am Einzelnen, am Individuellen und damit erst an den Problemen, die die moderne Wissenschaft aufwirft. Aber auch innerhalb dieser im ganzen standpunktsgebundenen modernen Wissenschaft unterscheiden sich verschiedene Arten der Zielsetzung, die sich allein aus weltanschaulicher Gebundenheit erklären lassen. Die irdische Erkenntnis kann nämlich sehr verschiedenen Zwecken dienen: entweder dem reinen Erkenntniszweck oder außer ihr gelegenen Zwecken: im Bereiche der Natur kann erkannt werden, u m diese zu beherrschen: „savoir pour prévoir", „calculer pour dominer", i m Bereiche der Kultur, um politische oder andere praktische Forderungen zu rechtfertigen oder um die Mittel an die Hand zu geben, mit denen man das menschliche Dasein verbessert. Gerade den Sozialwissenschaften hat man i m modernen Westeuropa von jeher diese Aufgabe mit Vorliebe gestellt. Schon in ihren Anfängen vernehmen wir die Stimme des trefflichen J . J . B e c h e r , der ihnen und ihren Vertretern nur soviel Berechtigung einräumt, als 1)

S i e h e Seite

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sie dazu dienen, „den Statum corruptum der Menschheit zu korrigieren". In der Gegenwart wird sie namentlich von ihren sozialistischen und faschistischen Wortführern gern als Helferin im sozialen K a m p f e angerufen: sie habe die „Richtigkeit" der Endziele zu „beweisen", sonst sei sie ein müßiges Gerede. Andere Vertreter der Sozialwissenschaften erkennen auch diesen einen reinen Erkenntniszweck zu. Eine weltanschauliche Bindung tritt zutage: 2. in der A n n a h m e b e s t i m m t e r A x i o m e oder Glaubenssätze als Grundlage der Erkenntnis. Der Forscher wird an eine göttliche oder eine „natürliche" Weltordnung oder an gar keine „glauben". Er m u ß sogar glauben, wenn anders er Wissenschaft treiben will an die „Treue der Welt", wie man deren Konstanz genannt hat, das heißt: er muß daran glauben, daß eine Katze eine Katze bleibt und nicht plötzlich ein Vogel ist; j a er muß sogar den viel kühneren Glauben haben, daß die Sonne morgen wieder aufgehen wird; und er muß als Wissenschaftler vor allem den festen Glauben an die Unerschütterlichkeit der Denkkategorien, an die Evidenz alles a-priori-Wissens, d. h. an die „Vernünftigkeit" des menschlichen Geistes haben. Die weltanschauliche Gebundenheit des Forschers äußert sich: 3. in der A u s w a h l , sei es der Probleme, sei es der Arbeitsideen, sei es der Methode: Der P r o b l e m e : natürlich hat R i c a r d o das Grundrentenproblem in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt, weil ihn als glücklichen Effektenbesitzer das Fallen des Zinsfußes über alles interessierte; natürlich untersucht S i s m o n d i mit Vorliebe die Absatz- und Krisenprobleme, weil ihn als „Kleinbürger" die Not seiner Schweizer Handwerker und Hausindustriellen bedrückt; natürlich hat M a r x uns die Einsicht in die Gestaltung der Großbetriebe und die Bedingungen der Lohnarbeiter erschlossen, weil er Unterlagen für seine Revolutionsideen sich verschaffen wollte. Im allgemeinen, kann man sagen, interessiert sich der Liberale mehr für die Probleme des Handels, der Börse, des Geldes, der Marktvorgänge (Wechselkurse, Preise usw.); der Marxist mehr für die Gestaltung der Betriebe, die Organisation der Arbeit und der Arbeiter, die Lohnbildung, die Einkommensverhältnisse; der Nationalist mehr für das Bauerntum und den Mittelstand, ganz allgemein die Probleme der Gütererzeugung, der Wirtschaftspolitik, der Autarkie usw. Es treten bei diesen drei weltanschaulichen Standpunkten jeweils mehr die Zirkulation, die Distribution und die Produktion der Güter in den Vordergrund.

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Die A r b e i t s i d e e n : darunter verstehe ich solche Vernunftsbegriffe, die uns dazu dienen sollen, innerhalb des von Grund- und Gestaltidecn geschaffenen Rahmens den nationalökonomischen Erkenntnisstoff zu gliedern. Es sind also bestimmte Betrachtungsweisen, „Einstellungen", Fragestellungen, „Leitfaden für die Beobachtung" ( K a n t ) . Ihrer gibt es viele, und sie werden — das ist es, was uns hier interessiert — ausgewählt vom Forscher, sehr häufig, ohne daß sich dieser dessen bewußt wird, je nach seiner weltanschaulichen Einstellung. Ich will das an einigen dieser Arbeitsideen zu verdeutlichen versuchen. Da ist das Ideenpaar O r g a n i s m u s und M e c h a n i s m u s . Man stellt sich das Wirtschaftsleben vor: entweder als einen Organismus, d. h. als ein mit Eigenleben erfülltes, selbständig wachsendes, aus lebendigen Gliedern bestehendes Gebilde; oder als Mechanismus, d. h. als ein aus ieblosen Körpern zusammengesetztes, in seinem Bestand unveränderliches Kunstgebilde. Begreiflich, daß die Nationalisten die Arbeitsidee des Organismus, die Liberalen die des Mechanismus bevorzugen. Beide mit demselben Recht, wenn sie sich bewußt bleiben, daß die Wirtschaft w e d e r ein Organismus n o c h ein Mechanismus ist. Da sind ferner die Arbeitsideen der M a r k t g e s e l l s c h a f t und der Volkswirtschaft. Nun: wenn die Mcrkantilisten oder F r i e d r i c h L i s t oder heute die Faschisten und Nationalsozialisten die Idee der Volkswirtschaft in den Mittelpunkt ihrer Forschung stellten und stellen, so taten und tun sie es unwillkürlich oder bewußt darum, weil sie durch ihre Lehren dazu beitragen wollten und wollen, daß ihre Staaten und ihre Völker an Macht und Ansehen gewönnen; wenn dagegen von den „Klassikern" und ihren Nachfolgern das Interesse auf die Marktverhältnisse, d. h. die Austauschverhältnisse, gelenkt wurde, so lag diesem Wechsel des Blickpunktes unzweifelhaft eine größere Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal e i n e s Landes und eine liberalistisch-individualistischpazifistische Sinnesrichtung zugrunde. Alle „Volkswirtschaftler" sind „Patrioten", alle „Sozialökonomen" sind „Pazifisten". Betrachten wir endlich die Arbeitsidee des „ W e r t e s " . Es leuchtet ein, daß alle diejenigen Forscher, die mit ihrem Herzen an der Erhaltung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung beteiligt sind, sich irgendwelcher psychologischen Werttheorie, in Sonderheit der Grenznutzentheorie bedienen werden, mit deren Hilfe sie beweisen zu können glauben, daß diese Wirtschaftsordnung die beste aller Wirtschaftsordnungen und in der „Natur der Sache" begründet sei, während die Gegner des Kapitalismus sich ebenso begreiflicherweise die „Arbeitswerttheorie" zu eigen machen werden, sei es, daß sie mit ihrer Hilfe

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die „Ungerechtigkeit" der heutigen Wirtschaftsordnung zu erweisen unternehmen, sei es, daß sie sie verwenden (wie K a r l M a r x ) , um den. notwendigen Untergang des Kapitalismus zu deduzieren. In der Wahl der M e t h o d e äußert sich der weltanschauliche Standpunkt insofern, als alle diejenigen Forscher, die an die Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft glauben, sich gern einer evolutionistischen oder „dialektischen" Betrachtungsweise bedienen werden, während die Gegner dieser Auffassung einer voluntaristischen Einstellung zuneigen. Da hier die Eigenart des Forschungsobjektes — des jeweils vorherrschenden Wirtschaftssystems — entscheidenden Einfluß ausübt, so werde ich dieses Problem im folgenden Kapitel erörtern, wo ich den Einfluß der Wirtschaft auf die Wirtschaftswissenschaft aufzuzeigen versuche. Bisher haben wir festgestellt, daß sich in zahlreichen Fällen eine Bindung der Wissenschaft durch Blut oder Geist feststellen läßt, d. h. also: daß die wissenschaftliche Forschung durch die Persönlichkeit des Forschers (i.) beeinflußt sein k a n n (und —• bewußt oder unbewußt — ist). Um das Problem der Bindung der Wissenschaft aber völlig zu bewältigen, müssen wir nun noch zwei andere Fragen aufwerfen und zu beantworten trachten, die Fragen: (2.) muß es sein und (sofern es nicht zu sein braucht) (3.) d a r f es sein, daß die Forschung durch die Person des Forschers gelenkt wird? Die Frage (2.) nach der Lösbarkeit oder Unlösbarkeit der Bindungen ist dahin zu beantworten: daß alle blutsmäßige Bindung unlöslich, alle geisthafte (weltanschauliche) lösbar ist; das heißt: wenn ich ein dummer Kerl bin, kann ich beim besten Willen kein gescheiter,, ich kann aber jederzeit aus einem Saulus ein Paulus, aus einem Kommunisten ein Nationalsozialist werden. Fragt sich (und das war unsere d r i t t e Frage): ob dort, wo die Bindung n i c h t schicksalmäßig, also löslich ist, somit in allen Weltanschauungsfragen diese Bindung im Interesse der Forschung gleichgültig oder gedeihlich oder verderblich ist und deshalb beibehalten, werden mag oder gelöst werden sollte. Diese Frage ist dahin zu beantworten: daß eine weltanschauliche Bindung überall dort unschädlich ist, wo sie die Forschungsergebnisse nicht beeinträchtigt, dagegen dort vom Übel ist, wo sie dies tut. Der weltanschauliche Standpunkt des Forschers darf niemals zu unrichtigen Ergebnissen führen; eine wissenschaftliche Erkenntnis ist richtig oder falsch — daran ändert der „Standpunkt" des Forschers nichts. Wie sich im Zeitalter des Hochkapitalismus der Mittelstand entwickelt hat, muß und kann ich einwandfrei feststellen, gleichgültig

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ob ich seine möglichst rasche Beseitigung wünsche (wie der Marxist) oder ihn für das Kernstück der Volkswirtschaft halte (wie der Nationalsozialist). Dazu ist nur nötig, daß ich gewisse Axiome anerkenne, wie ich sie oben aufgewiesen habe. Auf Grund einer m a gischen Weltanschauung kann ich unmöglich Wissenschaft im modernen, westeuropäischen Sinne treiben. Das versteht sich. I m übrigen mag der Forscher über die Welt denken, was er will und wie er will. Seine weltanschauliche Eigenart ist uns als Männern der Wissenschaft völlig gleichgültig. Denn sie schadet der Forschung nicht. J a — eine starke weltanschauliche Beeinflussung des Forschers kann der Wissenschaft sogar zugute kommen, und sie ist ihr oft genug zugute gekommen, wie zahlreiche Beispiele aus der Geschichte gerade unserer Wissenschaft zeigen: dem Glauben F r a n ç o i s Q u e s n a y s an die Naturgesetzlichkeit der Wirtschaft verdanken wir das Tableau économique, dem leidenschaftlichen Patriotismus F r i e d r i c h Lists. die Lehre von den produktiven Kräften, dem fanatischen Hasse von K a r l M a r x gegen die Bourgeoisie die Entdeckung des Kapitalismus und so fort. Sogar wenn der Standpunkt des Forschers falsch ist> kann er dazu beitragen, die Wissenschaft zu fördern. Seine weltanschauliche Einstellung lenkt seine Aufmerksamkeit auf wichtige Probleme, und sein Wunsch, bestimmte Ideale zu verwirklichen, macht ihn hellsichtig und verstärkt seinen Willen, dem Zusammenhang der Dinge auf den Grund zu kommen. Wem alles gleichgültig ist, dem werden die tiefsten Erkenntnisse verschlossen bleiben. N u r der leidenschaftlich Wertende und Wollende wird ein Forscher von Format sein. Aber eins m u ß von jedem ernst zu nehmenden Forscher verlangt werden: er darf b e i s e i n e r F o r s c h u n g sich von keinem anderen Gedanken leiten lassen als dem: die Wahrheit zu erkennen. Er darf keinerlei anderes Interesse als das der Wissenschaft im Auge haben, und seien es die Interessen seiner Religion, seines Staates oder seinesVolkes. Sonst ist sein Schaffen wertlos. Wertlos auch für Religion, Staat und Volk. Das ist kein ,,l'art pour l'art"-Standpunkt, denn mit der Eingliederung der Kunst oder Wissenschaft in das Ganze de& Staates oder der Kultur hat er nichts zu tun. Ich möchte hier an ein Wort L e o p o l d v o n R a n k e s erinnern, der sich einmal dahin äußerte: die Wissenschaft müsse in das Leben eingreifen, müsse auf die Gegenwart wirken, und hinzufügte: „aber um zu wirken, muß sie vor allen Dingen Wissenschaft sein . . . wir können nur dann eine wahre Wirkung auf die Gegnwart ausüben, wenn wir von dieser zunächst absehen und uns zu der freien, objektiven Wissenschaft erheben."

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V o r allem gefährlich ist diejenige Einstellung, die man „ r e f l e x i v e n N a t i o n a l i s m u s " genannt hat und die darin besteht, daß der Schaffende, Wirkende bestrebt ist, so „national" — der Deutsche also so deutsch — wie möglich zu sein. Diese Bespiegelung ist der T o d j e d e r fruchtbaren Tätigkeit. Was wäre aus D ü r e r s Werken geworden, wenn er bei jedem Pinselstrich sich überlegt hätte: male ich auch deutsch? Das gilt für alle Schöpfertätigkeit, nicht zuletzt für die Wissenschaft, selbst für die Wirtschaftswissenschaft. Etwa eine „Deutsche" Volkswirtschaftslehre schaffen z u w o l l e n — es sei denn, man verstünde darunter eine Volkswirtschaftslehre f ü r Deutsche — , ist ein Beginnen, das von vornherein zum Scheitern bestimmt ist. Oder richtiger: das das Merkmal der Mittelmäßigkeit an der Stirn tragen wird. Wer ein guter Deutscher ist, wird schon deutsch malen, deutsch dichten, deutsch denken, auch ohne daß er sich dessen bewußt ist. J a — gerade wenn er es n i c h t ist. Der S a c h e gilt es, sich hinzugeben: dann allein entstehen wertvolle Werke (vorausgesetzt, daß außerdem der Schaffende auch was kann).

Drittes

Kapitel

WISSENSCHAFT UND

WIRTSCHAFT

I. B e r i c h t i g u n g e i n e s

Irrtums

Ehe ich im T e x t fortfahre und die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft aufzudecken versuche, muß ich einen seltsamen Irrtum berichtigen, der sehr häufig begangen wird: Ich meine die Verwechslung zwischen Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft. Dieser Irrtum tritt namentlich bei der Kritik mißliebiger Lehrmeinungen zutage. D a geschieht es nämlich öfters, daß man die Wissenschaft prügelt und die Wirtschaft meint. Ein Schulbeispiel für solche Art Verwechslung bietet die Polemik A d a m M ü l l e r s gegen die „westliche" Nationalökonomie, der er den V o r w u r f des Materialismus, des Chrematismus und der Rechenhaftigkeit mächt, indem er sich wie folgt über sie ausläßt 1 ): „ A b e r diejenigen Wesen, deren Vereinigung zu einem monischen Ganzen wir soeben beschrieben haben, sind aus Standpunkt der heutigen Theorien (!), gerade weil diese empfindlich sind für den belebenden Hauch von oben, der 1)

A d a m Müller, Gesammelte Schriften 1839.

S. 524 u. 66.

hardem undem

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Erdenkloß Leben einatmet, nichts als Sachen, tote mechanische und chemische Kräfte, Ziffern, aus denen das Rechenexempel besteht, welches sie Haushalt nennen. Nach ihnen sind die Bestandteile der Wirtschaft sämtlich Sachen; die persönlichen und die menschlichen Eigenschaften der Personen und Dinge taugen in diesen K r a m nicht; sie haben es nur mit der ewigen Sache, nicht mit dem Gesinde und dem Vieh, sondern mit dessen berechenbarer Arbeitskraft; nicht mit dem heiligen Boden, mit dem himmlischen Segen zu tun, der sich dort mit der Asche der vorangegangenen Geschlechter und des früheren Lebens geheimnisvoll mischt, sondern mit der Erzeugungskraft des Humus und des Düngers . . . Aus allen diesen rohen, von dem eigentlichen Leben tot abstrahierten Kräften und Zahlen bilden sie ein mechanisches Problem, das nach Art der Rechenexempel gelöst wird . . . Der Zweck der Wirtschaft nach diesen Theorien (!) ist — ausschließlich — der sogenannte reine E r trag, der Überschuß von verkäuflichen Sachen, welchen das Treiben der Maschine zurückläßt, also von verkauften Sachen,, also von der Sache par excellence, also vom Geld, wonach denn das ganze fromme und ehrenvolle Amt des Landbaues zu einem gemeinen und verächtlichen Gewerbe herabsinkt." „ E s ist augenscheinlich, daß aller wahre Wohlstand in dem Maße entweichen müsse, als man sich in der Schätzung der Güter ausschließlich durch den baren Ertrag und Geldwert bestimmen läßt und hierdurch zu erkennen gibt, daß man diese Güter nicht für sich, sondern für den Käufer und sein Geld besitze. Das aber ist das Wesen der heutigen Wissenschaften (!),, der Staatswirtschaft, des Ackerbaues und der Gewerbe; alle sind, als auf ihren eingestandenen wesentlichen Zweck, auf verkäufliches Produkt und reinen Ertrag gerichtet; nach ihnen (!) ist die Bestimmung des Lebens — der Geldfang, das Streben nach dem Maximum erreichbarer Willkür und eitlen Genusses." Das sind sehr schöne und sehr beherzigenswerte Worte, die auf schwere Schäden der Zeit hinweisen und — gesprochen beim Beginn der hochkapitalistischen Epoche, 30 J a h r e vor dem „kommunistischen Manifest", an das sie erinnern, — dem Weitblick ihres Sprechers alle Ehre machen. Nur — sie sind an die falsche Adresse gerichtet. Sie werfen der ökonomischen T h e o r i e vor, was der ökonomischen W i r k l i c h k e i t , nämlich dem K a p i t a l i s m u s vorzuwerfen gewesen wäre. Offenbar ist er es doch gewesen, der das Leben in ein Rechenexempel aufgelöst hat, nicht die Theorie, die das lediglich feststellt oder f ü r

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ihre Konstruktionen sich zunutze macht. Den nationalökonomischen Theoretikern für die Schäden schuld geben, die der Kapitalismus im •Gefolge hat, heißt doch nichts anderes als den Bakteriologen dafür verantwortlich machen, daß er in einem Präparate Pestbazillen entdeckt. Des Materialismus und Chrematismus, der „Krämerhaftigkeit" zeiht „die Schule" auch F r i e d r i c h L i s t , der es ihr verübelt, daß sie einen falschen Produktivitätsbegriff habe: Produktiv sei nach A d a m S m i t h nur, wer Schweine aufzieht, unproduktiv dagegen, wer Menschen aufzieht, das sei empörend, so zu denken. Nein, es ist nur sehr klug. D a ß es sich dabei u m zwei Produktivitätsbegriffe handelt, die beide kein „Werturteil" enthalten, und daß man frei •darüber entscheiden kann, welchen man für die Zwecke der ökonomischen Wissenschaft geeigneter erachtet, habe ich an anderer Stelle ausgeführt 1 ). Der vornehm denkende A d a m S m i t h würde List ohne weiteres zugegeben haben, daß Menschenerziehung etwas „Höheres" •sei als Schweinezucht treiben. Er glaube nur, mit seinem Produktivitätsbegriff in der Nationalökonomie weiterzukommen als mit dem anderen, und darum entschiede er sich für ihn. Also auch hier beruht •der Vorwurf des „Materialismus" auf einem Mißverständnis. Und einer solchen Verwechslung zwischen Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaften begegnen wir in den Kritiken, die an dieser geübt werden, bis in unsere Zeit hinein. Wenn m a n neuerdings •der Nationalökonomie daraus einen V o r w u r f machen hört, daß sie zu einer „internationalen Profitlehre" herabgesunken sei, so ist man geneigt, auch hier anzunehmen, daß es eigentlich die Wirtschaftsverfassung ist, die der Vorwurf treffen soll. Oder was soll dieser bedeuten? Will man sagen, daß die moderne Nationalökonomie die Lehre von der internationalen Profitwirtschaft — das i s t das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus zum größten Teile — gewesen sei, so bedeutet diese Feststellung doch ganz gewiß keinen Vorwurf. Es war doch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Wirtschaftswissenschaft, diese Lehre auszubilden. Nichts Wichtigeres oblag ihr, als die Lebensbedingungen des modernen Kapitalismus zu erforschen. Daß sie dabei aber versäumt hat, gleichzeitig Vorschläge zur Vertilgung des Ungeheuers, dessen Wesenheit sie zu ergründen trachtete, zu machen (übrigens hat sie es gar nicht durchgehend versäumt: Man denke an die in Deutschland und anderen Ländern weitverbreitete „ethische" Nationalökonomie, die umfangreiche sozialistische 1

) siehe meinen Aufsatz über „Produktivität" im Weltwirtschaftlichen Archiv, 3928.

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Reformliteratur oder an die gesamte Katholische Nationalökonomie), ist ihr ebenfalls nicht zum Vorwurf zu machen, da es, wie wir noch feststellen werden, gar nicht zur Kompetenz der Wissenschaft gehört, Reformvorschläge zu unterbreiten. Oder will man mit dem Vorwurf besagen, daß die verflossene Nationalökonomie sich vielfach habe angelegen sein lassen, den Ewigkeitscharakter des Kapitalismus nachzuweisen, so trifft sie mit Recht das Verdammungsurteil, aber nicht, weil sie eine „internationale Profitlehre", sondern weil sie dann eine s c h l e c h t e „Profitlehre" war. Oder meint man mit dem Vorwurf, sie habe ihr Augenmerk bei der Analyse des Kapitalismus zu ausschließlich auf die Marktverbundenheit der Wirtschaft gerichtet und dabei die volkswirtschaftliche Betrachtungsweise vernachlässigt, so ist auch dieser Vorwurf berechtigt 1 ), richtet sich aber nicht auf ihren Inhalt, sondern gegen ihre Einseitigkeit. Will man endlich an ihr tadeln, daß sie immer nur gelehrt habe, wie man Profit m a c h e n könne, so ist der Vorwurf ganz gegenstandslos, denn mit diesem Problem hat sich die Wirtschaftswissenschaft überhaupt nicht beschäftigt, sondern die Betriebswissenschaft, die den Vorwurf freilich in weitem Umfange verdient: Sieh', was ich auf Seite 782 über die Aufgaben der Wirtschaftskunstlehre bemerke. Das Ergebnis einer eingehenden Prüfung des erwähnten Anathemas ist also dieses: Der Wirtschaftswissenschaft ist n i c h t zum Vorwurf zu machen, daß sie im Zeitalter des Hochkapitalismus eine „internationale Profitlehre" gewesen ist, sondern höchstens, daß sie sich bei der Ausarbeitung einer solchen Lehre Fehler hat zu schulden kommen lassen. Der Vorwurf in seiner Gänze richtet sich gegen die europäische Menschheit, die sich auf die Irrpfade des Kapitalismus hat locken lassen. Nun — wie dem auch sei: Festhalten sollten wir immer, daß Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftswissenschaft zwei verschiedene Dinge sind, die auseinanderzuhalten wir uns angelegen sein lassen müssen, die wohl Beziehungen zueinander haben, die aber nicht dasselbe sind. Auf diese Beziehungen zwischen Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft will ich nun im folgenden das Augenmerk des Lesers lenken. Offenbar sind diese Beziehungen besonderer Art und nicht zu vergleichen mit denen der beiden anderen Begriffspaare, die wir in den voraufgehenden Kapiteln untersucht haben. Wohl aber lassen sich wieder die Wirkungen des einen auf den anderen und des anderen auf den ersten Sachverhalt unterscheiden, weshalb ich auch in diesem Kapitel die im vorigen beliebte Einteilung mache. ich habe ihn selbst einmal erhoben: siehe „Modern. Kapital" 22 (1927), g i g f f .

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II. D i e B e d e u t u n g der W i r t s c h a f t für die W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t Ich erwähne nur kurz die bekannte Tatsache, daß eine bestimmte Art zu wirtschaften — die kapitalistische — und eine Reihe von wirtschaftlich begründeten Zeitumständen ü b e r h a u p t e r s t e i n e b e s o n d e r e W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t ins L e b e n g e r u f e n h a b e n . Das bloße Erscheinen des kapitalistischen Wirtschaftssystems brachte schon eine Reihe von Problemen mit sich, die gebieterisch eine Lösung heischten. Durch das Heraustreten aus den alten Gemeinschaften wurden künstliche und kunstvolle Beziehungen in neuer Form geschaffen. Die zunehmende Entpersönlichung und Entkonkretisierung, d. h. die fortschreitende Versachlichung aller Lebensformen, die V e r flüchtigung aller wirtschaftlichen Vorgänge gestalteten das Leben verwickelter, unübersichtlicher, schwieriger. Dazu machte sich bald das Problem der Arbeit und der Arbeiter bemerkbar; zuerst dadurch, daß man keine Objekte für die kapitalistische Wirtschaftsform in genügender Menge und Beschaffenheit fand, später durch das Paradoxon, daß Menschen, die Sklavenarbeit verrichten, beanspruchten, als Menschen wie andere angesehen und im Staate als solche behandelt zu werden. Die revolutionäre Technik aber sorgte dafür, daß die Verhältnisse in jedem Augenblick neu gestaltet wurden und die Lösung eines Problems morgen schon veraltet war. Dazu fanden sich zum Überfluß zahlreiche Probleme besonderer Art täglich neu ein: die Einfuhr der Edelmetalle aus Amerika erzeugte eine unerträgliche Teuerung; Kriege und Revolutionen erschöpften die Hilfsquellen des Reichtums, leerten die Staatskassen, die trotzdem immer von neuem gefüllt werden mußten. Die Entwicklung der modernen Staaten schuf Schwierigkeiten eigener A r t : es galt, den Geldstrom in das eigene Land zu leiten. U n d was dergleichen Sorgen mehr waren. Alle diese Probleme regten zunächst das praktische, bald auch das theoretische Denken an, und die Herauslösung der Wissenschaft aus dem Bereiche der Theologie sorgte dafür, daß die Gedanken über die Wirtschaft zu einer eigenen Wissenschaft zusammenwuchsen 1 ), die sich uns als selbständige Wirtschaftswissenschaft erstmalig im Gewand des „Merkantilismus" darstellt. Was ich dagegen ausführlicher und vornehmlich in diesem A b schnitt erörtern will, ist das Problem: w e l c h e A n f o r d e r u n g e n d i e *) V g l . d. oben S. 750 Gesagte.

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Wirtschaft ü b e r h a u p t und bestimmte historische Wirts c h a f t s w e i s e n an e i n e W i s s e n s c h a f t s t e l l e n , die sie zum Gegenstand hat. D a nun meiner Meinung nach der Gegenstand einer Wissenschaft deren gesamten A u f b a u und Betrieb bestimmen soll, so bedeuten die folgenden Erörterungen nichts weniger als eine „Methodologie" oder Verfahrenslehre der neuen Nationalökonomie in der N u ß s c h a l e . Wem die Ausführungen an dieser Stelle zu abgebrochen erscheinen, den verweise ich auf mein Buch „Die drei Nationalökonomien" (1930), das ausführlich „Geschichte und System der Lehre von der Wirtschaft" (wie der Untertitel lautet) behandelt. Hier aber bemerke ich folgendes: Alle Wirtschaft, wie alle menschliche Kultur, ist Geist; deshalb muß a l l e W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t G e i s t w i s s e n s c h a f t sein. Es ist ein Verhängnis nicht nur der Wirtschaftswissenschaft, sondern fast aller anderen Kulturwissenschaften, daß dieser Sachverhalt lange Zeit verkannt wurde, daß man die Kategorien, die für die Naturwissenschaft gelten und in dieser fruchtbar angewandt waren, auf die Geistbereiche übertragen hat. So ist es gekommen, daß alle nach-merkantilistische Wirtschaftswissenschaft seit den französisch-englichen „Klassikern" über die historische Schule bis zu den Mathematikern und Grenznutziern in den falschen Bahnen naturwissenschaftlichen Denkens gewandelt ist, d . h . , wie ich es nenne, o r d n e n d e Nationalökonomie war. Demgemäß hat man in aller dieser Zeit der Wirtschaftswissenschaft ein falsches Z i e l gesteckt: die Auffindung von „Gesetzen", d. h. — im naturwissenschaftlichen Sinne — auf kurze Formeln gebrachter, aus der Erfahrung entnommener „Regelmäßigkeiten", denen der einzelne „ F a l l " untergeordnet wird. „Wir gewinnen das theoretische Verständnis einer konkreten Tatsache, wenn wir sie als einen Sonderfall von einer gewissen Regelmäßigkeit ( G e s e t z ) der Aufeinanderfolge oder Konsistenz der Tatsachen betrachten oder mit anderen Worten: Wir gelangen zum Verständnis des Daseinszwecks (!?), der Existenz und Natur einer Tatsache, indem wir lernen, in ihr im wesentlichen den Beweis eines Tatsachengesetzes zu sehen", heißt es bei C a r l M e n g e r , dem Begründer der Grenznutzenschule. Aber auch bei G u s t a v S c h m o l l e r , seinem Antipoden, begegnen wir demselben, naturwissenschaftlichem Denken entsprungenen Vorurteil: die Nationalökonomie habe als höchste Aufgabe die: „Gesetze" zu finden. Übereinstimmung herrschte bei allen Vertretern der alten Nationalökonomie auch in der Auffassung, welchen W e g man einzuschlagen 49

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habe, um zu dem der Wirtschaftswissenschaft gesteckten Ziel zu gelangen: man mußte die volkswirtschaftliche Erscheinung „elementarisieren", d. h. sie auf letzte Elemente, möglichst qualitätslose Größen zurückführen. „Die Wirtschaft hat das Bedürfnis, von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zurückzugehen auf immer Einfacheres, sie will zuletzt absolut einfache Ausgangspunkte, und hätte sie diese als wirkliche Erkenntnis, so könnte sie von hier aus das ganze Dasein wissenschaftlich ableiten" (! S c h m o l l e r ) . Solche „ A t o m e " der Wirtschaft fand man in „Empfindungen", „Trieben", in der Arbeit u. a. Nach diesem Verfahren wurden nun allgemeine Gesetze aufgestellt, etwa das Arbeitskostengesetz oder das Grenznutzengesetz oder das Gesetz der Strömung u. dgl. Aus diesen allgemeinen Gesetzen leitete man dann besondere (Spezial-) Gesetze ab: wie das Arbeitslohn-, das Grundrenten-, das Kapitalzinsgesetz u. a. J e n e allgemeinen Gesetze entsprechen etwa den Gesetzen der Mechanik, die besonderen denen der Physik. Andere, noch konsequenter naturwissenschaftlich denkende Nationalökonomen — die Vertreter der „mathematischen" Schule — stellten „Funktionsgesetze" auf, gemäß den Wandlungin, die sich im Bereiche der exakten Naturwissenschaften im letzten Menschenalter vollzogen hatten, d . h . mathematische Formeln (Differentialgleichungen), in denen bestimmte funktionale Beziehungen von Größen zueinander ausgedrückt werden. Diese Übertragung der naturwissenschaftlichen Denkweise ist nun g r u n d s ä t z l i c h v e r f e h l t aus folgenden Gründen: 1. der freie Wille des Menschen macht alle Ermittlung von Regelmäßigkeiten hinfällig; 2. der „ S t o f f " , an dem man Regelmäßigkeiten feststellen könnte, besteht nicht; 3. die geistigen Tatbestände, die den Inhalt aller Wirtschaft bilden, sind komplex und lassen sich nicht in elementare Bestandteile auflösen. Aber es bedarf einer solchen Widerlegung gar nicht, wenn man sich zum Bewußtsein bringt, daß der Gegenstand der Kulturwissenschaften, also die Welt des Geistes, erforscht werden kann, o h n e daß es nötig wäre, die Umwege der Naturwissenschaften zu machen. Da alle Kultur Geist von unserem Geiste ist, so sind wir in ihr zu Hause (stehen ihr nicht, wie der Natur, fremd gegenüber), wir „verstehen" sie, wir haben Einblick in den „ S i n n " ihrer Erscheinungen, wir erkennen sie von „innen".

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Deshalb ist die der Kulturerscheinung, also auch der Wirtschaft, angemessene Erkenntnisweise das „ V e r s t e h e n " , nicht das „Begreif e n " , auf das wir der Natur gegenüber angewiesen sind, weil diese uns „sinnfremd" ist, und sie ist uns sinnfremd, weil wir sie nicht gemacht haben. Man vergleiche unsere grundverschiedenen Einstellungen zu Erscheinungen der Natur und der Kultur: Baum und Fabrik, Wirbelwind und Börsenmanöver, Blätterfall und Preisfall, und man wird alsbald unser verschiedenes Maß von Wissen erkennen, das wir gegenüber dem einen und dem anderen haben und daß dieses höhere Wissen von Kulturtatsachen auf keinen anderen Grund zurückzuführen ist als auf den Umstand, daß diese unser höchsteigenes Werk sind. Also: wir sollen das Wirtschaftsleben verstehen, sollen seinen „Sinn" erfassen und sollen uns nicht mit allen möglichen unzulänglichen Mitteln abmühen, es in seiner äußeren Gestalt zu beschreiben, zu messen, zu wägen und dann die (unverstandenen) Ergebnisse unseres Herumtastens auf ein paar Formeln, sog. Gesetze zu bringen, die uns j a überdies nichts nutzen, da wir — aus den eben angeführten Gründen — gar nicht in der Lage sind, „Fälle" unter sie zu „ordnen". Nun wäre es aber falsch, anzunehmen, die „verstehende" Wissenschaft löse die Erkenntnis in eine bunte Reihe individuell vielleicht verschiedener Sinndeutungen auf, sie führe zu einem schillernden Subjektivismus — ein Einwand, den man schon öfters erhoben hat. Oder gar sie zöge sich auf den Bereich des Empirismus zurück, d. h. :sie kenne keine objektive Gesetzmäßigkeit und lehne die „Theorie" ab. Nichts ist verkehrter als diese Einwände. Die verstehende Nationalökonomie kennt sehr wohl den Begriff der Gesetzmäßigkeit und •weiß sehr wohl den Wert der Theorie zu schätzen. Nur freilich bedeuten diese beiden Begriffe für sie etwas anderes als im Rahmen der Naturwissenschaften und deshalb ist auch ihre Stellung, die sie ihnen im Ganzen der Erkenntnis zuweist, eine andere als dort. Wir sahen: die ordnende Nationalökonomie bedient sich des Begriffes „Gesetz" im Sinne der Naturgesetze, versteht also unter Gesetzmäßigkeit aus der Erfahrung abgezogene Regelmäßigkeit, der die Notwendigkeit mangelt, da diese niemals aus der Erfahrung abgeleitet werden kann. Es handelt sich hier also um unechte Gesetze, unechte Gesetzmäßigkeit. Dagegen faßt die verstehende Nationalökonomie diese wieder in ihrem ursprünglichen Sinne, als e c h t e G e s e t z m ä ß i g i e i t , als apodiktisches Urteil, dem Notwendigkeit eignet. Da nun aus der Erfahrung keine Notwendigkeit entnommen werden kann, so müssen die echten Gesetze, wie sie die verstehende Nationalökono49*

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mie kennt und anerkennt, a priori gelten, d. h. auf Denk- (oder Anschauungs-) Evidenz beruhen. Ich kann hier nur ganz kurz andeuten, daß wir drei Arten solcher echten Gesetze unterscheiden, die den drei Arten von Gesetzmäßigkeit ihr Dasein verdanken. Der m a t h e m a t i s c h e n Gesetzmäßigkeit, die auf der evidenten Einsicht gründet, daß der Teil kleiner ist als die Summe (TTöcv (Pan), compositum), entspringen diejenigen Gesetze, die ich G r ö ß e n g e s e t z e nenne. Beispiele: Das L o h n f o n d s g e s e t z : wenn der Fonds, aus dem der Lohn bezahlt wird, eine gegebene Größe ist, kann der Gesamtbetrag" der Löhne nicht steigen, ohne daß dieser Fonds sich ausweitet; wenn, gleichwohl der Lohn an einer Stelle steigt, muß er an einer anderen Stelle sinken; die Quantitäts-Theorie: wenn die Preise abhängig sind von der Menge des umlaufenden Geldes, so steigen sie, wenn, die Warenmenge und die Umlaufsgeschwindigkeit dieselben bleiben und die Geldmenge wächst; die V e r k e h r s g e s e t z e : die Absatzfähigkeit eines Gutes wächst im quadratischen Verhältnis zu seiner Transportfähigkeit. Hierher gehören: das M a r x s c h e Mehrwertgesetz, das Q u e s n a y s c h e Tableau économique, das R i c a r d o s c h e Grundrentengesetz, die E r t r a g s g e s e t z e , die S t a n d o r t g e s e t z e , die M o n o p o l p r e i s g e s e t z e und noch andere. Neben der mathematischen gibt es eine wesensmäßige oder S t i l Gesetzmäßigkeit, die auf der Glied-Ganzes- (öAov (holon), totum) Beziehung fußt und zu Strukturgesetzen führt. Beispiele etwa: das E x p a n s i o n s - K o n j u n k t u r g e s e t z (daß die Hausse notwendige Voraussetzung des Rückgangs ist) oder das K r e i s l a u f g e s e t z : Produktion— Transport—Verteilung—Konsumtion bilden eine notwendige Folge u.a. Endlich gibt es noch eine dritte Art von Sinngesetzmäßigkeit: die r a t i o n a l e , die die Zweck-Mittelbeziehung betrifft und zu F i k t i o n s g e s e t z e n führt. Diese Fiktionsgesetze nennen wir wohl auch rationale Schemata. In ihnen wird zum Ausdruck gebracht, wie sich der Ablauf wirtschaftlicher Ereignisse vollziehen oder ein Zustand aussehen w ü r d e , w e n n bestimmte Bedingungen erfüllt wären und völlig wirtschaftlich-rational gehandelt würde. Auch diese „Gesetze" stellen nicht etwa in der Erfahrung beobachtete Regelmäßigkeiten fest, sondern sind a priori, d. h. enthalten Aussagen über Denknotwendigkeiten. Hierher gehört eine Reihe der wichtigsten und bekanntesten Wirtschaftsgesetze, wie die K o n k u r r e n z p r e i s g e s e t z e , das P r o d u k t i o n s k o s t e n g e s e t z , das G r e s h a m s c h e G e s e t z , alle G r e n z n u t z e n g e s e t z e usw.

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Also: an „Wirtschaftsgesetzen", deren sich auch die verstehende Nationalökonomie bedient, fehlt es wahrlich nicht, nur sind sie, wie wir sahen, anders strukturiert und haben deshalb auch eine g r u n d s ä t z l i c h a n d e r e B e d e u t u n g im Fortschritt der Erkenntnis als in der naturwissenschaftlich eingestellten „ordnenden" Nationalökonomie: sie s t e h e n , so kann man es in einem Satz aussprechen, n i c h t a m E n d e , s o n d e r n i m A n f a n g d e r U n t e r s u c h u n g . Sie bilden nicht deren Zweck, sondern sie dienen als Mittel, um den Endzweck der geist-wissenschaftlichen Nationalökonomie: die wirtschaftlichen Zusammenhänge zu verstehen, besser verwirklichen zu können. Eine ähnliche Umkehrung hat in der verstehenden Nationalökonomie das V e r h ä l t n i s d e r T h e o r i e z u r E m p i r i e erfahren. Daß der Vorwurf: die neue Nationalökonomie vernachlässige die Theorie, oder gar: sie sei reine Empirie, unsinnig ist, bemerkte ich schon. Ein solcher Vorwurf konnte nur aus Unkenntnis erwachsen. Offenbar wissen die Vertreter der alten Schule weder was Theorie noch was Empirie ist. Ich will es ihnen deshalb noch einmal sagen: T h e o r i e ist die L e h r e v o n d e n D e n k b a r k e i t e n und umfaßt als solche drei Bestandteile: die Lehre von den Möglichkeiten, die Lehre von den Wahrscheinlichkeiten und die Lehre von den Notwendigkeiten; dagegen ist E m p i r i e : die L e h r e v o n d e n W i r k l i c h k e i t e n , d. h. die Erkenntnis des Besonderen im Gegensatz zum Allgemeinen, der Erscheinungen in R a u m und Zeit. Es leuchtet ein, daß eine Realwissenschaft, wie die Nationalökonomie, wesensnotwendig aus der Vereinigung von Theorie und Empirie bestehen muß. Deshalb ist a u c h die Gegenüberstellung von „theoretischen" und „historischen" -oder gar von „rationalen" und „empirischen" Nationalökonomien .sinnlos. Wer nicht Theorie u n d Empirie gleichmäßig treibt, ist überhaupt kein ganzer Nationalökonom, sondern nur ein Teil von einem solchen: er marschiert auf einem Bein, statt wie der gesunde Mensch auf zweien. Wir können ein bekanntes K a n t i s c h e s Wort sinngemäß auf das Verhältnis der beiden Seiten unserer Wissenschaft zueinander anwenden: Ein Nationalökonom ohne Theorie ist blind, ein solcher ohne Empirie leer. Freilich unterscheidet sich unsere Auffassung von der der älteren Schule, wie ich sagte, in einem sehr wesentlichen Punkte: dem Verhältnis, das wir den beiden Teilen im Gesamtbau der Wissenschaft anweisen. Das V e r h ä l t n i s v o n T h e o r i e u n d E m p i r i e zueinander bestimmten die Nationalökonomen früher ganz nach der Art der modernen Naturwissenschaften dahin, daß „concrete economics come in to Supplement pure ecomomy" (wie es der ältere K e y n e s aus-

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gedrückt hat), während in der richtigen Auffassung es umgekehrt heißen muß: „the pure economy (im Verstände von Theorie überhaupt) comes in to Supplement concrete economics". Zu deutsch: Wir studieren das wirkliche Leben n i c h t , u m Theorien aufzustellen und zu so etwas — das war das höchste Ideal der alten Schule! — wie einer Physik oder Mechanik des Wirtschaftslebens zu gelangen,, sondern wir stellen Theorien auf, um die Wirklichkeit zu verstehen. Nun müssen wir uns aber weiter zum Bewußtsein bringen, daß die Wirtschaftswissenschaft eine d o p p e l t e A u f g a b e zu erfüllen hat, auch sofern es sich um den E r k e n n t n i s b e r e i c h handelt, auf den sie sich erstreckt: sie hat einerseits die Zusammenhänge und Tatbestände aufzudecken, die a l l e r Wirtschaft gemeinsam sind, andererseits diejenigen, die nur in bestimmten Wirtschaftsverfassungen sich vorfinden: Sachgut und Preis; Gütererzeugung und Kreditwirtschaft; Betrieb und kapitalistische Unternehmung sind Begriffe, die auf verschiedenen Ebenen liegen, unbildlich gesprochen: die grundsätzlich verschiedenen Sinnzusammenhängen angehören: die einen der Wirtschaft als solche, die anderen einem bestimmten Wirtschaftssystem. Die Kategorien,, mit denen wir die ersten denken, sind a l l g e m e i n - ö k o n o m i s c h e , , diejenigen, mit denen wir die zweiten erfassen, h i s t o r i s c h - ö k o n o m i s c h e Kategorien (ökonomische Kategorien sind beide, deshalb kann man nicht „historische" und „ökonomische" Kategorien gegenüberstellen, wie es R o d b e r t u s und A d o l p h W a g n e r taten). Falsch ist es also zu sagen, wie man es heute wieder häufig hört, daß a l l e ökonomischen Erscheinungen historisches Gepräge tragen — es gibt schon allgemein-ökonomische Erscheinungen, deren Erforschung eine sehr wesentliche Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft bildet. U m nur ein paar zu nennen: G ü t e r b e d a r f — Sachgut — Gütererzeugung — Produktionsfaktoren — Ertrag — Einkommen — Produktivität -— gegenseitige Bedingtheit der wirtschaftlichen Teilvorgänge •— Reichtum usw. Falsch ist es aber wiederum, diese allgemein-ökonomischen Kategorien als rein-ökonomische (im Gegensatz zu p o l i t i s c h - ö k o n o m i schen) anzusprechen und aus ihrer Behandlung eine sog. „reine Ökonomie" (Pure Economy) zu machen. Diese Idee einer „reinen Ökonomie" war recht eigentlich aus dem Geiste einer naturwissenschaftlich eingestellten Nationalökonomie entsprungen; in ihr erschien die „natürliche", von aller gesellschaftlichen, insonderheit politischen. Ordnung losgelöste Wirtschaft — ein „Gespenst", wie es W i s k e m a n n mit Recht genannt hat. Denn es gibt eine solche „freie", „natürliche", ungeordnete, unpolitische Wirtschaft in der Wirklichkeit nicht. Z u m

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Begriffe der Wirtschaft als einer Kulturerscheinung, die sie nun einmal ist, gehört d e n k n o t w e n d i g die Ordnung, d. h. die menschliche Satzung, in der die staatliche Ordnung stets einen wesentlichen Bestandteil bildet, sofern man die richtige Auffassung hat vom Staate als dem größten politischen Verbände, der i m m e r da ist. In diesem Sinne ist a l l e Wirtschaft •— ich wiederhole: d e n k n o t w e n d i g — „politische Ökonomie". Dagegen bleibt es andererseits bei der grundlegenden Wahrheit, d a ß der Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft zum größten Teile aus h i s t o r i s c h b e d i n g t e n Erscheinungen besteht, und daß es eine ihrer Hauptaufgaben ist, die jeweilige Besonderheit dieser Erscheinungen zu erfassen und zur Darstellung zu bringen. Es war ein Hauptirrtum der alten Schule, an dieser Tatsache der verschiedenen Wirtschaftsweisen vorüberzugehen und nur e i n e Wirtschaft — die kapitalistische — zu kennen und für die „natürliche" zu halten •— wiederu m ein Ausfluß der naturwissenschaftlichen Denkweise: wie es nur e i n e Natur gibt, so gibt es nur e i n e Wirtschaft. Jede gute Nationalökonomie ist also eine historische Wissenschaft, ohne darum Geschichte zu sein. Wie eine historische Nationalökonomie möglich sei, ohne daß sie sich in Wirtschaftsgeschichte (d. h. Empirie) auflöst, habe ich in meinen Hauptwerken zur Genüge deutlich gemacht und will ich hier nicht weiter erörtern. Hier gilt es nur, uns wieder einmal zum Bewußtsein zu bringen, welche überragend große Bedeutung das Wirtschaftsleben für die Gestaltung der Wirtschaftswissenschaft hat: die bloße Tatsache, daß jenes mannigfaltig gestaltet ist, bedingt — wenn man sich nicht dem Leben verschließen will — den historischen Charakter dieser Wissenschaft. D e r e n Abhängigkeit vom Wirtschaftsleben geht nun aber noch weiter; sofern auch i h r e E r k e n n t n i s w e i s e u n d F o r s c h u n g s m e t h o d e im e i n z e l n e n d u r c h die h i s t o r i s c h e n F o r m e n des W i r t s c h a f t s l e b e n s b e d i n g t s i n d . Wenn wir vorstehend feststellten, daß Erkenntnisweise und Forschungsmethode unserer Wissenschaft vielfach den Einwirkungen der Weltanschauung ausgesetzt sind (vgl. S. 758), so wird uns hier klar, daß das Maß dieser weltanschaulichen Einflüsse beschränkt ist, wenn anders man in sinnvoller Weise Wissenschaft treiben will: E r k e n n t n i s w e i s e u n d F o r s c h u n g s m e t h o d e sind in w e i t e m U m f a n g e d u r c h die E i g e n a r t des Wirtschaftssystems, dem das Studium gilt, vorgeschrieben. Ich will das weitschichtige Problem, um das es sich hier handelt, einschränken auf die Frage: welche Entsprechungen zwischen Wirt-

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schaftssystem und Wirtschaftswissenschaft im Rahmen desjenigen Wirtschaftssystems bestehen, das unser Schicksal ist: der Kapitalismus. Da läßt sich nachweisen, daß dieses System nicht nur als Ganzes, sondern sogar in seinen drei Erscheinungsformen: im Früh-, Hoch- und Spätkapitalismus jeweils verschiedene Anforderungen an die Wirtschaftswissenschaft stellt. Ein Abschnitt meines „modernen Kapitalismus" (Band II Seite 912 bis 942) trägt die Überschrift: „ D i e N a t i o n a l ö k o n o m i e des F r ü h k a p i t a l i s m u s " . Dort habe ich zu zeigen versucht, in welcher vollendeten Weise die uns als „Merkantilismus" bekannte Wirtschaftswissenschaft jener Zeit (etwa vom Ende des 15. bis Anfang des 19. Jahrhunderts) den Anforderungen des frühkapitalistischen Wirtschaftslebens sich anzupassen gewußt hat. Ich habe auch den Gegensatz der merkantilistischen Nationalökonomie, in dem sie in Fragen, Methoden, Erkenntnisgebiet und Zweck ihrer Forschung zu der ihr folgenden Nationalökonomie des Hochkapitalismus steht, aufzuweisen mir angelegen sein lassen und habe festgestellt: daß das Denken der Theoretiker des Frühkapitalismus organisch, dynamisch, produktionsproblematisch, aktivistisch, idealistisch, dasjenige ihrer Nachfolger dagegen mechanisch, statisch, zirkulationsproblematisch, materialistisch, passivistisch gerichtet war. Ich würde heute hinzufügen, um noch einen sehr wichtigen Gegensatz herauszustellen: jene dachten teleologisch, diese kausal. Inwiefern jene Denkweise den Problemen des Frühkapitalismus gerecht wurde, habe ich am angezogenen Ort gezeigt. Aber auch, daß die N a t i o n a l ö k o n o m i e des H o c h k a p i t a l i s m u s dessen Wesenheit angepaßt war, ist nicht schwer zu erweisen. Die Periode des Hochkapitalismus wird, wie bekannt, gekennzeichnet durch eine selbstherrliche Gestaltung des Wirtschaftslebens: dessen Energiezentrum, das bis dahin im wesentlichen in den Regierungsstuben und bei den durch Normen gebundenen Dorfältesten und Zunftmeistern gelegen hatte, wird in die Kontore der Geschäftsleute verlagert, die nun — jeder auf eigene Faust — mit bestem Wissen und Gewissen drauf loswirtschafteten. Was konnte gegenüber dieser höchst sonderbaren Lage der Dinge die Wirtschaftswissenschaft anders tun, als festzustellen, was bei diesem wilden Kampfe herauskam. Es war wirklich fast ein Naturvorgang, der sich da abwickelte und dessen Verlauf es zu bestimmen galt. Die „Gesetze des Marktes" mußten erforscht werden, wie man die Gesetze der Sphären erforscht hatte. Eine solche Sachlage bot der naturwissenschaftlichen (ordnenden) Nationalökonomie in der Tat ein reiches Feld der Betätigung. Und wenn wir nach den Gründen Ausschau halten, w e s -

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h a l b ein ganzes Jahrhundert lang die Wirtschaftswissenschaft im Banne -des naturwissenschaftlichen Denkens gestanden hat, so werden wir — außer dem Einfluß der Zeitmode — doch ganz gewiß auch die eigenartige Gestaltung des Wirtschaftslebens als einen der Gründe erkennen. Es war allzu verführerisch, auf die Vorgänge im Zeitalter des Hochkapitalismus, die sich nach Art eines Naturprozesses abwickelten, die Kategorien der Naturwissenschaften anzuwenden. Auch die verstehende Nationalökonomie hätte sich vielfach ähnlicher Methoden bedienen müssen: wenn sie auch keine (Natur-) Gesetze suchen gegangen wäre, so hätte sie ihre Fiktionsgesetze, also ihre rationalen •Schemata doch der Eigenart der freien Wirtschaft anpassen müssen, d. h. sie hätte auch Preisgesetze, Konjunkturgesetze, Grundrentengesetze, Zinsgesetze, Arbeitsgesetze usw. aufgestellt. Nun aber: die Frage, die uns auf den Nägeln brennt: hat sich denn nicht vielleicht die Sachlage verändert, haben sich in der Gestaltung -des Wirtschaftslebens nicht wesentliche Züge verschoben, so daß die Voraussetzungen für den alten Betrieb der Wirtschaftswissenschaft nicht mehr zutreffen? Man weiß, daß das in der T a t der Fall ist: schon seit dem Kriege befindet sich das Wirtschaftsleben in einem Umwandlungsprozeß: es ist in meiner Sprachweise aus der Epoche des Hochkapitalismus in die des S p ä t k a p i t a l i s m u s eingetreten, ist aus einem grundsätzlich freien, ein grundsätzlich gebundenes Wirtschaftsleben geworden. Die Folgerung aber, die wir aus dieser Tatsache für die Gestaltung der Wirtschaftswissenschaft ziehen müssen, ist die: daß in dem Maße, in dem die Wirtschaft ihr freihändlerisches Gepräge verliert, die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise, aber auch die Aufstellung von „Gesetzen" als rationale Schemata für einen freien Ablauf der wirtschaftlichen Vorgänge — d. h. die wesentliche Tätigkeit der alten „Theorie" — ihre Bedeutung verlieren. Was sollen Schemata, die den tatsächlichen Verhältnissen nicht mehr entsprechen? Was soll ein Preis- oder Arbeitslohn-„Gesetz" (-Schema), wenn Preise und Arbeitslöhne „sich" nicht mehr bilden, sondern festgesetzt werden? Was soll ein Schema der Wechselkurse, wenn es keinen freien Devisenverkehr, was gar eine Konjunktur-Theorie, wenn es keine „Konjunkt u r " mehr gibt? Was soll ein Grundrentengesetz im Zeitalter der erbgebundenen Bauernhöfe? usw. Hier rächt sich der unhistorische Sinn der alten Schule; sie sah nicht •ein, daß die Wirtschaft und damit auch die Wirtschaftswissenschaft im weiten Umfange zeitgebunden ist, daß es Erscheinungen des Wirtschaftslebens gibt — sage die Expansionskonjunktur — die nie vorher

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da waren und nie nachher da sein werden und deren „Theorie" ebenfalls ihre Zeit hat. I m Falle des Beispiels: immer noch kurze, mittlere und lange Wellen ziehen, wenn es schon längst überhaupt keine „Wellen" mehr gibt, gleicht dem Verfahren des Mannes, der immer noch Untersuchungen über die Zugkraft der Pferde anstellt, nachdem das Pferd längst aus dem Verkehr ausgeschaltet ist. Will man den alten Nationalökonomen einen Vorwurf machen, so sollte es nicht der sein, daß sie einen schlechten Charakter und eine verruchte Weltauffassung haben, sondern ganz einfach der: daß ihr Apparat, mit dem sie arbeiten, veraltet ist. Eine neue Wirtschaftswissenschaft und in Sonderheit Wirtschaftstheorie muß es also schon aus dem Grunde geben, weil es eine neue Wirtschaft gibt. Die Frage: welcher Art von Wirtschaftswissenschaft denn wohl den veränderten Zeitumständen angepaßt ist, führt uns zu dem anderen Problem, das die Inbeziehungsetzung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft enthält und soll mit diesem im Zusammenhange behandelt werden: der Bedeutung der Wissenschaft für die Wirtschaft. III. Die B e d e u t u n g der Wirtschaftswissenschaft für die Wirtschaft Ich will hier nicht die Frage ausführlich erörtern: welchen Sinn die Wirtschaftswissenschaft und alle Wissenschaft ü b e r h a u p t habe, will nur bemerken, daß ich den Standpunkt, wonach die Wissenschaft (und bestimmt nicht die Wirtschaftswissenschaft) nicht Selbstzweck, sein k ö n n e oder solle, sondern immer irgendwelchen praktischen Zwecken dienen m ü s s e , aus weltanschaulichen, also indiskutablen Gründen n i c h t teile. Diese Auffassung bedeutet eine unnötige Verengung unseres Gesichtskreises und damit eine bedauerliche Verarmung unseres Geisteslebens. Das gilt selbst für die Naturwissenschaften. Soll man wirklich Zoologie nur treiben, u m zoologische Gärten einzurichten, Botanik nur,, u m die Heilkräuter für die Apotheker zu bestimmen, Astronomie nur, um Sonnenfinsternisse vorauszusagen?! Es gilt aber in gesteigertem Maße für die Geistwissenschaften, zu denen, wie wir wissen, die Nationalökonomie gehört. Selbst die Forderung, daß jede Wissenschaft „dem Leben dienen" müsse, kann ich nur dann für richtig halten, wenn man die Wissenschaft selbst zum Leben rechnet (sie muß freilich danach sein, nämlich „lebendig" !) Nein — wir müssen uns von dem utilitarischen Vorurteil ganz und g a r

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befreien, und den Mut haben, zu bekennen, daß die Wissenschaft jedenfalls die Geistwissenschaft, ihren Zweck zum guten Teile in sich selbst trägt. „ Z u m guten Teil": damit ist gesagt, daß sie zum anderen Teile praktischen Zwecken dienen mag. Das gilt gewiß von der Wirtschaftswissenschaft, und es soll deshalb hier nur die Frage aufgeworfen werden: ob unsere Wissenschaft das k a n n und bejahendenfalls w i e sie es kann. U m diese Frage zu beantworten, müssen wir erst wieder den Sachverhalt klarstellen und zu diesem Behufe eine Reihe von Irrtümern und schiefen Urteilen beseitigen, die sich in die Erörterung des Problems eingeschlichen haben und den klaren Blick verdunkeln. Der Hauptfehler, den man bei der Erörterung dieses Problems begangen hat, bestand darin, daß man das Verhältnis zwischen Wissenschaft und „Praxis" von den Naturwissenschaften, wo es sich fruchtbar gestaltet hat, allzu schematisch auf die Wirtschaftswissenschaft übertragen hat. Man hat nicht genügend beachtet, daß große Unterschiede zwischen den beiden Bereichen bestehen. Einerseits bedeutet „ P r a x i s " bei uns etwas ganz anderes als bei den Nutznießern der Naturwissenschaften. Diese sind im wesentlichen diejenigen Personen, die sich irgendeines technischen Verfahrens bedienen, um damit „zu wirtschaften", also die Fabrikanten, Transporteure, „Produzenten" im weiteren Sinne, die Geschäftsleute. Solche bilden nun gegenüber den „Theoretikern" auch bei uns die „Praktiker", für die etwa die Wirtschaftswissenschaft von Nutzen sein kann. Aber neben den Geschäftsleuten gehören zu den Praktikern bei uns auch noch die „Politiker", also insbesondere die Staatsmänner und die Verwaltungsbeamten. „Praxis" oder praktisches Leben umfaßt also hier immer zwei Bereiche menschlichen Handelns. Andererseits ist das V e r h ä l t n i s z w i s c h e n „ T h e o r i e " (in einem weiteren Sinne, in dem sie den Gegensatz zur „ P r a x i s " nicht zur Empirie bedeutet) u n d „ P r a x i s " anders gelagert als drüben. Zwar schieben sich zwischen die Wirtschaft und die Praxis hier wie dort K u n s t l e h r e n : in dem Bereiche des Naturerkennens die zahlreichen „Technologien", bei uns die bekannten drei Kunstlehren: 1. die Privatwirtschaftslehre, neuerdings Betriebswissenschaft genannt; 2. die Staatswirtschaftslehre, unter dem Namen Finanzwissenschaft bekannt; 3. die „praktische" Volkswirtschaftslehre.

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Die grundsätzliche Eigenart der Kunstlehren ist auch in beiden •Gebieten dieselbe. Unter Kunstlehre verstehen wir die Lehre von den Mitteln, die dazu •dienen sollen, einen bestimmten praktischen Zweck zu verwirklichen. Die Kunstlehre unterscheidet sich, obwohl sie auch mit dem Namen einer ,,Normwissenschaft" fälschlich belegt wird, von jeder „normativen" (philosophischen) Disziplin dadurch, daß sie nicht die Normen selbst, d. h. die Zwecke, sondern nur die Mittel, die zu deren Verwirklichung dienen, in den Kreis ihrer Erörterung zieht: die Zwecke selbst sind ihr gesetzt. Sie fällt deshalb auch keine „Werturteile", außer den ,technologischen", die über Eignung von Mitteln für bestimmte Zwecke aussagen. Darin also gleicht sie der Wissenschaft. Von dieser unterscheidet sie die Fragestellung. Während die Wissenschaft das erforscht, was ist, will die Kunstlehre das erkunden, was getan werden muß, w e n n ein bestimmter Zweck verwirklicht werden soll. J e n e also vermittelt, wenn man sich dieser gefährlichen Ausdrücke bedienen will: theoretisches, diese praktisches Wissen. Unsere westlichen Nachbarn haben diesen Gegensatz von Wissenschaft und Kunstlehre, gerade mit Bezug auf die Lehre von der Wirtschaft, schärfer herausgearbeitet als wir und haben ihn auch durch die Namengebung deutlicher erkennbar gemacht: sie nennen den einen Wissenszweig s c i e n c e , den anderen a r t ; Science: Indikativ; Art: Imperativ. Was nun aber im Bereiche des Geisterkennens, also auch der Lehre von der Wirtschaft, ganz und gar verschieden von dem im Bereiche des Naturerkennens ist, ist sowohl das Verhältnis der Wissenschaft zu den Kunstlehren als auch das Verhältnis der Kunstlehren zur Praxis. Die Naturwissenschaften, wenigstens diejenigen, deren Ergebnisse unmittelbar praktisch verwertet werden, also im wesentlichen Physik und Chemie, stellen Regeln auf (sog. Gesetze), die für längere Zeit •und für alle Fälle ihres Bereiches Gültigkeit haben. Diese „Regeln", die die Naturwissenschaft aufstellt, wendet die Kunstlehre oder Technologie, die sich auf die Bearbeitung und Verarbeitung von Naturdingen bezieht, an. Das heißt: sie ordnet den einzelnen Fall unter die Regel, was sie deshalb tun kann, weil die zu behandelnden Stoffe und Kräfte immer dieselben bleiben. Wenn die Wissenschaft entdeckt hat, daß im Steinkohlenteer Farbstoffe enthalten sind, so erfindet die Farbenchemie ein Verfahren, auf Grund dessen beliebige Mengen Farben aus Steinkohlenteer hergestellt werden können, und die chemische Industrie wendet dieses Verfahren an. G a n z a n d e r s ist in dem Bereiche des Kulturerkennens das Ver-

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hältnis von Wissenschaft, Kunstlehre und Technik, d. h. Praxis zueinander. Und zwar vornehmlich aus dem einleuchtenden Grunde,, weil der Problemkreis der Praxis, des praktischen Handeln, im Bereiche der Kultur ein grundsätzlich anderer ist als im Bereiche der Natur. In diesem hat die Technik es immer nur mit Bekanntem zu tun: selbst die kühnste technische Neuerung — drahtlose Telegraphie, Bau des Luftschiffes, Gewinnung des Stickstoffes aus der Luft — besteht in nichts anderem als der Inbeziehungsetzung b e k a n n t e r Stoffe und Kräfte; gerade in der genauesten und allgemeinsten Bekanntschaft mit diesen beruht j a die Fähigkeit der Neugestaltung. Dagegen handelt es sich bei jedem Eingriff in menschliche Verhältnisse um die Vereinigung bekannter Faktoren mit u n b e k a n n t e n zur Herbeiführung der gewünschten Wirkung. B e k a n n t ist alles, was vergeistet, in Geistgebilden niedergeschlagen ist: also in Rechtssystemen, Sittenordnungen,. Organisationen aller Art, Steuersystemen, Buchhaltungssystemen,. Statistik, Vorschriften usw. U n b e k a n n t ist alles, was noch Seele ist. Und das ist zuweilen sehr viel. Aus dieser Lage ergibt sich nun ohne weiteres die Einsicht, daß im Bereiche der Kultur die Wissenschaft niemals dieselbe Rolle spielen kann wie die Naturwissenschaft im Bereiche der Gütererzeugung: sie kann niemals Regeln aufstellen, nach denen die Kunstlehren sich richten, sie kann niemals die natürliche Grundlage sein, auf der die Technologien sich aufbauen. Ebensowenig wie diese der Praxis ohne weiteres die Verfahren liefern können, nach der das Leben gestaltet wird. Berücksichtigen wir diese eigentümliche Lage in unserem Bereiche,, so müssen wir das Problem der Beziehung zwischen „Theorie" und „Praxis" in folgende drei Fragen auflösen: 1. Was nutzen dem Geschäftsmann die Kunstlehren der Betriebswissenschaft? 2. Was nutzen dem Staatsmann und Verwaltungsbeamten (außer jener) die Finanzwissenschaft und die praktische Volkswirtschaftslehre? 3. Was nutzt den Kunstlehrern und gegebenenfalls ohne deren V e r mittlung den „Praktikern" beider Arten die Wirtschaftswissenschaft? Alle diese drei Fragen sind hart umstritten. Was die erste und zweite betrifft, so gibt es noch heute zahlreiche Geschäftsleute, Verwaltungsbeamte und Staatsmänner, die den Nutzen irgendwelcher „theoretischen" Ausbildung gering achten und alles der „Routine" überlassen wollen. Das ist sicher ein falscher Standpunkt. In dem Maße, i a

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dem sowohl die Einzelwirtschaft als auch die Volkswirtschaft komplizierter werden, werden sie nicht mehr gut ohne systematische Anordnung und begriffliche Durchdringung des Stoffes, d. h. aber: „theoretische Vorbildung", verwaltet werden können. D a ß dabei den veränderten Zeitläuften Rechnung getragen werden muß, versteht sich. Einige Hinweise auf die zukünftige Ausgestaltung der Wirtschaftskunstlehren mögen hier gegeben werden. Von den drei Wirtschaftskunstlehren ist die B e t r i e b s w i s s e n s c h a f t , die im letzten Menschenalter eine Wiedergeburt erfahren hat, zu einer beachtenswerten Disziplin entwickelt, der eine segensreiche Tätigkeit bevorsteht. Was ihr nottut, ist die Ausdehnung auf alle Arten von Wirtschaftsbetrieben: auf die öffentlichen und halböffentlichen, die j a in der Zukunft einen immer breiteren R a u m einnehmen werden, einerseits, auf die bäuerlichen und handwerklichen Betriebe andererseits. Mit der Einbeziehung der zuletzt genannten Art von Betrieben in den Bereich der Betriebswissenschaft muß diese ihre Grundeinstellung revidieren. Sie hat sich jetzt — unter dem Einfluß des Kapitalismus — im wesentlichen zu einer Rentabilitätswirtschaftslehre entwickelt: der stillschweigende Gedanke, der ihr zugrunde liegt, ist der, daß jeder Betrieb gemäß den Prinzipien der Rentabilität gestaltet werden müsse, wozu die Verwandlung a l l e r wirtschaftlichen Erscheinungen in errechenbaren Größen gehört. Eine der wichtigsten Einsichten, zu denen wir im letzten Menschenalter gelangt sind, ist nun aber die, d a ß die Rentabilitätsrechnung keineswegs auf alle Wirtschaftsbetriebe angewandt werden k a n n oder — falls eine solche Möglichkeit doch bestehen sollte — nicht angewandt werden soll. I n jeder Rentabilitätsrechnung steckt die Gefahr einer Vergewaltigung seelisch und kulturell wertvoller Bestandteile des Wirtschaftslebens. So muß denn die Betriebswissenschaft sich in der Richtung weiter entwickeln, daß sie Betriebslehren auch ohne die Grundlage der Rentabilitätsrechnung, namentlich für bäuerliche und handwerksmäßige Betriebe schafft. Sie braucht sich dabei nur ihrer eigenen, früheren Leistungen zu erinnern. Bestehen doch die Anfänge der Privatwirtschaftslehre in den klassisch gewordenen Haushaltungs- und Hausväterbüchern, die für eine bäuerliche oder gutsherrliche Eigenwirtschaft Verhaltungsmaßregeln aufstellen wollten und an denen das Altertum schon reich ist: Hesiod ! Xenophon! Scriptores de re rustica! Sie setzen sich fort bis tief in das 19. Jahrhundert hinein und begleiten die Entwicklung zur „rationellen", noch nicht verwissenschaftlichten Landwirtschaft. Zu ihnen gesellen sich im Mittelalter — v o r aller doppelten Buchhaltung! — die Handelsbücher von Pegolotti und

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Uzano bis Savary und Postlethwayt. Und in der neueren Zeit kommen •dann die Gewerbelehren hinzu, die in den Werken über den Bergbau, etwa denen Agricolas, ihren Ursprung haben; an sie muß ein neuer Zweig der Betriebswissenschaft ansetzen, die dadurch beträchtlich an Lebensnähe gewinnen und sich zu neuen Sichten erheben könnte. Von jeher hat man dem wichtigsten unter den Einzelwirtschaftsbetrieben: dem öffentlichen Haushalt, seine besondere Aufmerksamkeit zugewendet, und ihm eine besondere Wirtschaftskunstlehre, die sog. F i n a n z w i s s e n s c h a f t , gewidmet, die nach bescheidenen Ansätzen im Altertum und Mittelalter sich während des merkantilistischen Zeitalters, namentlich in Frankreich, entwickelt und seitdem reife Früchte getragen hat. Wenn man jetzt vielfach sich bemüht, aus der Finanzkunstlehre eine echte Finanzwissenschaft zu machen, so ist das eine Sache für sich. Unberührt muß dabei — um Gottes willen! — die hochentwickelte und offenbar segensreich wirkende Finanzkunstlehre bleiben. Zu wünschen wäre, daß neben die Privatwirtschaftslehre und die Finanzwirtschaftslehre wieder mehr die p r a k t i s c h e V o l k s w i r t s c h a f t s l e h r e trete. Dieser Zweig am Baume der Gesamtlehre von der Wirtschaft ist verdorrt. Nun werden wir aber in Zukunft gut ausgebildete „Volkswirte", wie die etwas unglückliche Bezeichnung lautet, in dem Maße immer mehr gebrauchen, wie unsere Wirtschaft aus einer „freien" eine „gebundene", „geregelte", aus einer seelsamen eine vergeistete, aus einer Konkurrenz- eine Verwaltungswirtschaft wird. Eine „praktische" Volkswirtschaftslehre, d . h . eine solche, die unter Annahme bestimmter Zwecke die Mittel zu deren Verwirklichung sucht, „praktische" Verwaltungsaufgaben im Gebiete der Wirtschaft löst und dem Nachwuchs unserer Beamten und Syndizi die Kenntnis übermittelt, die erforderlich sind, um im Leben nützliche Arbeit zu verrichten, mit einem Wort: eine z e i t g e m ä ß e K a m e r a l i s t i k tut uns bitter not. Die alte Kameralistik hat sich bekanntlich während des 17. und 18. Jahrhunderts fast ausschließlich in den Beamtenstaaten Deutschland und Österreich entwickelt und darf als ein besonderer d e u t s c h e r Zweig am Baum der Lehre von der Wirtschaft angesehen werden. Sie bestand, wie man weiß, in einer Zusammenstellung aller für die „Kammerverwaltung'' notwendigen praktischen Verhaltungsmaßregeln zur pfleglichen Behandlung der Forsten, Domänen, Bergwerke, Manufakturen usw. Oder wie es H e i n r i c h R a u , der Begründer der deutschen akademischen Volkswirtschaftslehre, ausdrückt: „Die Volkswirtschaftspflege (Wohlstandssorge, Wirtschaftspolizei) ist die unmittelbar auf den guten Erfolg der Volkswirtschaft oder auf den Volks-

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Wohlstand gerichtete Tätigkeit der Regierung. Sie bildet . . . einen besonderen Teil der Regierungsgeschäfte, einen zusammenhängenden Inbegriff von Regierungsmaßregeln." Ihre Lehre macht den Inhalt der sog. „praktischen" Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre aus, wie sie bis heute in den Lehrbüchern und Vorlesungen d e r deutschen Professoren gepflegt wird. Sie ist aber zu einem Sammelsurium von allerhand wissenschaftlichen und technologischen Einzelbemerkungen geworden, ohne das einigende Band einer richtunggebenden praktischen Idee. Die Neugestaltung dieser „praktischen" Volkswirtschaftslehre ist ein dringendes Erfordernis der nächsten Jahre. Daß es sich dabei um einen besonderen Wissenszweig eigener Art handelt, der mit Wirtschaftswissenschaft nicht vermengt werden darf, sollte man allmählich einsehen. Ein Vorschlag, der ernster Erwägung wert ist, ist der: diese Wirtschaftspolitik oder p r a k t i s c h e V o l k s w i r t s c h a f t s l e h r e ganz aus der Lehre von der Wirtschaft herauszutun und sie der auszubildenden L e h r e v o n d e r P o l i t i k o d e r d e r V e r w a l t u n g s k u n d e z u z u w e i s e n . Jedenfalls würde eine solche Verteilung der einzelnen Disziplinen dazu beitragen, dem Zweige der praktischen Volkswirtschaftslehre die nötige Pflege angedeihen zu lassen und vor allem auch die grundsätzliche Verschiedenheit zwischen ihm und der Nationalökonomie, also der Wissenschaft vom Wirtschaftsleben, zum Bewußtsein zu bringen. Alle Wissenschaft, das wollen wir uns einprägen, ist in ihrem Aufbau ausschließlich durch theoretische Ideen bestimmt und darf nie und nimmer im Hinblick auf einen praktischen Zweck gestaltet werden, während für die Kunstlehre gerade dieser die eigentliche bildende Kraft ist. Dort entscheidet über Inhalt, System, Methode der (theoretische) terminus a quo, hier der (praktische) terminus a quem. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß d e r S c h w e r p u n k t der L e h r e von der W i r t s c h a f t in der Z u k u n f t auf diesen K u n s t l e h r e n r u h e n w i r d . Sie werden alle drei eine gleichmäßige Ausweitung und Vertiefung erfahren müssen. Auf sie wird im wesentlichen die Befruchtung der Praxis durch theoretisches Wissen zurückgehen. So bliebe denn nur noch die l e t z t e der drei von mir aufgeworfenen Fragen zur Beantwortung übrig: Bedürfen die verschiedenen Wirtschaftskunstlehren zu ihrem Gedeihen und ihrer fruchtbaren Entfaltung der Wirtschaftsw i s s e n s c h a f t , und kann diese vielleicht sogar dem „Praktiker" — sei es dem Geschäftsmann, sei es dem Staatsmann — unmittelbar von Nutzen sein?

Weltanschauung, Wissenschaft und Wirtschaft D e r Professor, zumal wenn er die wirklichen Zusammenhänge nicht kennt, wird geneigt sein, diese Frage ohne weiteres zu bejahen. So einfach liegen die Dinge aber nicht. T a t s a c h e i s t , d a ß s i c h a u f unserem Gebiet alle die K u n s t l e h r e n ohne Z u s a m m e n h a n g mit der W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t e n t w i c k e l t h a b e n , die e b e n s o o h n e j e d e n E i n f l u ß a u f d a s p r a k t i s c h e L e b e n , sei es i m G e s c h ä f t , s e i es i n d e r V e r w a l t u n g , g e b l i e b e n ist. Die Nationalökonomie hat einmal ihre große Zeit gehabt, in der sie unmittelbaren Einfluß auf die Praxis ausüben konnte: um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, als die K r ä f t e des Wirtschaftslebens, d. h. im wesentlichen die kapitalistischen Interessenten nach Befreiung von den Fesseln strebten und die Wissenschaft ihren Herzenswunsch nach dem laissez faire „begründete". Das war natürlich einfach, zu erklären: die Regierungen sollen gar nichts tun. Als es sich später um positive Verwaltungsmaßnahmen handelte, hat die Wissenschaft versagt: sie sind ohne oder sogar gegen deren Urteil durchgeführt worden: von der Arbeiterschutzgesetzgebung bis zur Stabilisierung der Mark. Wenn Nationalökonomen einen persönlichen Einfluß auf die Politik ausgeübt haben, wie etwa die deutschen Kathedersozialisten auf die Finanzpolitik oder Handelspolitik oder Sozialpolitik, so haben sie das gewiß nicht ihren wissenschaftlichen Einsichten, sondern dem Gewicht ihrer ethischen und politischen Forderungen zu danken gehabt. Dasselbe gilt von der gewaltigen Wirkung, die der Marxismus ausgeübt hat. Auch sie stammt sicher nicht von den wissenschaftlichnationalökonomischen Sätzen her, die M a r x aufgestellt hat, sondern ist ausschließlich den in Mystik auslaufenden geschichtsphilosophischen Konstruktionen dieser Heilslehre geschuldet. Ist nun diese unfreiwillige Askese, die die Nationalökonomie geübt hat, in der Natur der Dinge begründet oder könnte es auch anders sein, ähnlich wie im Bereiche des Naturwissens? Daß diese Wirtschaftswissenschaft nie dieselbe Rolle spielen kann wie die Naturwissenschaft, geht aus dem Gesagten hervor: Sie kann niemals Regeln aufstellen, nach denen die Technologie arbeiten oder der Praktiker sich richten könnte. Daß man das von ihr erwartet hat, hat sicher dazu beigetragen, sie zur Unfruchtbarkeit zu verdammen. Doch könnte die Wirtschaftswissenschaft sehr wohl auf andere Weise die Wirtschaftskunstlehren befruchten, j a : sie könnte unmittelbar der Praxis Dienste leisten und darin sogar die Naturwissenschaften, die sich doch immer der Vermittlung der Technologie bedienen müssen, an Wirksamkeit überflügeln. 60

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Dazu braucht sie sich nur auf die Aufgaben zu besinnen, die einer verstehenden Nationalökonomie gestellt sind. Soviel ich sehe, handelt es sich vornehmlich um folgendes: 1. Die Wirtschaftswissenschaft muß die E i n s i c h t e n in die Bed i n g t h e i t der W i r t s c h a f t wecken, indem sie die G r u n d w a h r h e i t e n aufweist, die für alle Wirtschaft — ob Eigenwirtschaft, ob handwerksmäßige Wirtschaft, ob Kapitalismus, ob Kommunismus, ob Nationalsozialismus — gleichmäßig gelten. Es heißt, das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man den Historismus (wie es jetzt häufig geschieht) so weit treibt, das Dasein „ewiger" Wahrheiten, der vérités de raison, für das Wirtschaftsleben zu leugnen. Ich greife ein paar Sätze heraus, in denen sich solche ewigen Wahrheiten äußern: Arbeit und Natur sind die Quelle des Reichtums — j e d e zusätzliche Arbeitskraft bedeutet keineswegs an und für sich eine Steigerung des Reichtums — „Übervölkerung" ist ein Funktionsbegriff: sie hängt ab von drei Variabein: Menge, Produktivität, Lebensweise — das Ausmaß des Reichtums wird bestimmt durch das Volumen der Rohstoffe — der Reichtum eines Landes muß sich vermindern, wenn die verbrauchten Produktionsmittel nicht in gleicher Menge und Art ersetzt werden — „Kapital" kann nur durch Sparen oder Kreditschöpfung gebildet werden — die Betriebsgröße und der Grad der Spezialisation zwischen Betrieben und innerhalb eines Betriebes werden durch die Weite des Absatzgebietes bestimmt — Arbeitslosigkeit läßt sich nur durch Zusatzarbeit beseitigen, die eine Zusatznachfrage zur Voraussetzung hat — ein Land kann Schulden auf die Dauer nur durch Waren begleichen. — Und so weiter in unabsehbarer Reihe. 2. Die Wirtschaftswissenschaft soll die E i n s i c h t e n in das „ H i e r und J e t z t " der ökonomischen Lage eines Landes vermitteln, indem sie die Tatsachen des Wirtschaftslebens systematisch ordnet, das heißt, das von der Statistik, von Enqueten usw. zutage geförderte Material nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten verarbeitet. Indem sie diese Tätigkeit ausübt, ist sie „Wirtschaftskunde", ökonomische „ S o z i o g r a p h i e " , Wirtschaftsgeschichte. Damit sie aber diese ihre Aufgabe sachgemäß erfüllen kann, muß 3. die Wirtschaftswissenschaft die G e s i c h t s p u n k t e herausstellen, nach denen das Material geordnet werden muß, damit es einen klaren Einblick in die Sachlage gewährt. Dies leistet sie durch

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Herausarbeitung des Kategorien-Systems, in dem die historischen Formen der Wirtschaft gedacht werden müssen. Indem sie dies tut, ist sie Wirtschafts-Soziologie. Ich habe einen wesentlichen Teil meines Lebenswerkes darauf verwandt, eine solche historische Kategorien-Lehre für die Erkenntnis des Wirtschaftslebens zu schaffen und habe als die geeignetste Leitidee bei der Herausarbeitung dieser Kategorienlehre die Idee des W i r t s c h a f t s s y s t e m s erkannt, das heißt'): einer als sinnvoller Einheit erscheinenden Wirtschaftsweise, bei welcher die Grundbestandteile der Wirtschaft — Wirtschaftsgesinnung, Ordnung, Technik — je eine bestimmte Gestaltung aufweisen. Ich habe bisher keinen Vorschlag gehört, der ein besseres Ordnungsprinzip enthält, als diese Idee des Wirtschaftssystems. Würde er gemacht werden, so würde ich ihn gern annehmen. Feststehen sollte nur, daß o h n e eine solche G e s t a l t i d e e , wie ich sie genannt habe, jedes Urteilen über geschichtliche Wirklichkeit leeres Gerede, vorwissenschaftliche Erkenntnis bedeutet. Daß die I d e e d e r V o l k s w i r t s c h a f t zwar als Arbeitsidee gute Dienste leisten kann, als Gestaltsidee aber unbrauchbar ist,, habe ich an den genannten Orten nachzuweisen versucht. SGHLUSS Die hier vorgetragenen Ansichten, obwohl sie die Leitsätze einer Nationalökonomie der Zukunft enthalten, sind nicht neu. Ich vertrete sie in Wort und Schrift seit vielen Jahren und habe sie in meiner mehrfach erwähnten, 1930 erschienenen Schrift: „Die drei Nationalökonomien" systematisch zusammengefaßt und eingehend begründet. Welches ist nun demgegenüber das B i l d , d a s h e u t e d i e L e h r e v o n d e r W i r t s c h a f t in D e u t s c h l a n d d a r b i e t e t ? Erfreulich ist der gute Wille, der sich überall äußert, eine neue Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre, die den Anforderungen der veränderten Zeitlage entspricht, aufzubauen. Auch die Leitgedanken dieser reformerischen Bewegung sind gut: daß alle Wissenschaft „lebensnah" sein solle, daß man das Volk (Ganze) in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen müsse, daß alle Wirtschaft „politisch" sei und ihre Lehre dies zu berücksichtigen habe usw. Erfreulich sind auch eine ganze Reihe vortrefflicher Leistungen auf dem Gebiete der verschiedenen Kunstlehren und der Wirtschaftskunde. N ä h e r e s siehe in meiner S c h r i f t : D i e O r d n u n g des Wirtschaftslebens. 1 9 2 7 , Seite 1 4 . •50*

2. A u f l .

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Ich denke an so vortreffliche Schriften aus der neuesten Zeit wie die von R e i t l i n g e r , H a l m , Z o r n , R e i n e r , oder an so inhaltreiche Zeitschriften wie „Der deutsche Volkswirt", „Der deutsche Ökonomist", „Währung und Wirtschaft", „Die deutsche Handelswarte", die „Zeitschrift für Wirtschaftskunde" u. ä. Hier hat man den Eindruck: die neue „Kameralistik" marschiert. Erheblich weniger erfreulich dagegen sind — von ganz wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen — alle diejenigen Schriften, die es sich angelegen sein lassen, Leitsätze für eine neue W i r t s c h a f t s t h e o r i e aufzustellen oder gar den „neuen" Standpunkt erkenntnis-theoretisch zu begründen. Auch bei den Verfassern solcher Schriften ist die Absicht offenbar die beste; ihre Losung: Abkehr von der alten „liberalistischen" Theorie ist ganz gewiß vortrefflich. Ich habe aber doch bei der Lektüre dieses Schrifttums den Eindruck, als fehlte den Wortführern dieser „neuen Richtung" die volle Einsicht in die Problematik. Sie wissen nicht recht, worauf es eigentlich ankommt. Sie wissen nicht, was denn eigentlich die alte „liberalistische" Theorie war und wollte, wie sich eigentlich die alte und die neue Wirtschaftswissenschaft unterscheiden. Denn daß der Unterschied nicht in der „Gesinnung" liegen kann, wie man immer wieder betonen hört, sollte doch eigentlich klar sein. „Gesinnungen" unterscheiden Handelnde (z. B. im Wirtschaftsleben), aber nicht Erkennende. Bei diesen kommt es doch auf die Prinzipien und Methoden an, mit deren Hilfe sie des Erkenntnisstoffes Herr zu werden versuchen. So ist denn die Lage oft die: Die Jungen haben recht, aber sie können es nicht beweisen. Dazu fehlt ihnen die philosophische Durchbildung und Schulung, die durch einen noch so guten Willen u n d eine noch so helle Begeisterung nun einmal nicht ersetzt werden können. Auch daß man heute so oft Männer zu Kronzeugen aufruft, wie A d a m M ü l l e r , F r i e d r i c h L i s t , K a r l K n i e s u. a., von denen man alles lernen kann, nur nicht wie man Wissenschaft, in Sonderheit Wirtschaftswissenschaft, treiben soll, ist ein Zeichen dafür, daß diese Generation noch nicht begriffen hat, worum der Kampf geht. Diese Sachlage wäre nun an sich nicht so schlimm; man könnte sagen: warten wir a b ! „Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet, „Es gibt zuletzt doch noch -nen Wein." Aber man kann nicht abwarten. Während nämlich die junge Generation sich in allen Sackgassen verläuft, liegt der Feind auf der Lauer, jeden Augenblick bereit, das

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Feld, das er im Begriffe ist zu verlieren, wieder zu erobern. Dieser böse Feind ist aber die „alte" Nationalökonomie, deren Vertreter, zum Unterschied von den Jungen, sehr wohl über eine alterprobte Verstandesschulung und eine strenge Methode verfügen. In der T a t erleben wir im heutigen Deutschland das seltsame Schauspiel, daß diese alte, längst totgesagte, „liberalistische" Nationalökonomie mit ihrer Gesetzesmacherei und Schematakonstruktion an allen Ecken und Enden wieder eindringt und ihre alte, abgestandene Weisheit — in geschickter „ T a r n u n g " — wieder an den Mann zu bringen versucht. Ohne daß die „neue Richtung" auch nur etwas davon merkte. Dieser drohenden Gefahr gegenüber bleibt nichts anderes übrig, als daß unsere jungen Herren sich auf die Hosen setzen und tüchtig "Wissenschaft lernen. Diese ist nämlich (wie ich verraten will) ein ziemlich schwieriges Handwerk, wie etwa die Metallschlosserei oder die Kunsttischlerei, und muß mit Ernst und Eifer betrieben werden. Z u ihr muß man begeistert sein wie zur Metallschlosserei oder Kunsttischlerei; i n ihr b r a u c h t man es nicht, j a schadet die Begeisterung oft genug, wenn sie das klare Urteil trübt. Da helfen nur ein kühler Kopf, ein scharfer Verstand und methodische Dressur. Alle Wissenschaft ist „rationalistisch" oder sie ist nicht. Eine erste Stufe in diesem Lehrgange bezeichnet die Einsicht: wie