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German Pages 278 Year 2002
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 272
Probleme des § 1611 BGB Von
Senta Bingener
Duncker & Humblot · Berlin
SENTA BINGENER Probleme des § 1611 B G B
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 272
Probleme des § 1611 BGB
Von Senta Bingener
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Universität Regensburg hat diese Arbeit im Jahre 2000 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 3-428-10396-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ
Danksagung Diese Arbeit wurde im Sommersemester 2000 von der juristischen Fakultät der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. Meinem Doktorvater Prof. Dr. Dieter Schwab danke ich für die Anregung zu diesem Thema, dessen Überlassung und die wohlwollende Korrektur. Letzteres gilt ebenso für den Zweitgutachter Prof. Dr. Hans-Jürgen Becker. Ich danke meiner Mutter und meinen Großeltern für die finanzielle Unterstützung und den Glauben an das Gelingen dieser Arbeit sowie diesen, meinem Bruder und den Freunden, die mein während der Erstellung der Arbeit nicht immer ausgeglichenes Wesen duldsam ertrugen und mir ihren gesunden und betreffend die vorliegende Materie unbefangenen Menschenverstand in Diskussionen zur Verfügung stellten. Regensburg im Juli 2001
Senta Bingener
Inhaltsverzeichnis Einführung und Problemstellung
15 Erstes Kapitel
Historische Fassung und Intention
17
Abschnitt 1
Die Situation vor Inkrafttreten des BGB
17
Abschnitt 2
Die Entwürfe einer Verwirkungsnorm im Vorfeld des § 1611 BGB
20
A. Der Teilentwurf zum Familienrecht von Planck 1880 B. Der erste Entwurf (14901 EI)
20 22
C. Die weiteren Entwürfe (EI ZustRedKom § 1490, E l l § 1506, E l l rev. § 1591, EHI §1589)
24
Zweites Kapitel
Die Norm des § 1611 in ihrer Geltung bis 1969
25
Abschnitt 1
Die Auslegung des § 1611 a. F. durch Literatur und Rechtsprechung
26
Abschnitt 2
Die Bedeutung des § 1611 a. F.
27
Drittes Kapitel
Die geltende Fassung des § 1611 BGB seit dessen Änderung durch das NEhelG von 1969
30
Abschnitt 1
Gründe der Änderung und angestrebtes Ziel
30
8
nsverzeichnis Abschnitt 2
Das Verhältnis zu § 1618 a BGB
34
Abschnitt 3
Der materiellrechtliche Gehalt des § 1611 BGB unter Berücksichtigung der ergangenen Rechtsprechung A. Tatbestandliche Voraussetzungen des § 1611 Abs. 1 BGB I. Bedürftigkeit durch sittliches Verschulden § 1611 Abs. 1 Satz 1 1. Variante 1. Tatbestandliche Voraussetzungen a) Bedürftigkeit b) Eigenes sittliches Verschulden des Unterhaltsberechtigten aa) Schuldfähigkeit bb) Sittliches Verschulden c) Kausale Verknüpfung aa) Kausalität im Sinne von condicio-sine-qua-non und Adäquanz bb) Behandlung von Sonderfällen 2. Auslegung des Tatbestandes durch die Rechtsprechung - Fallgruppen a) Von der Rechtsprechung bereits zu § 1611 entschiedene Fälle aa) Arbeitsscheu bb) Verschwendung von Kapital cc) Alkohol- und Drogensucht bzw. deren unterlassene Behandlung dd) Berufliche Orientierungslosigkeit ee) Bedürftigkeit wegen (unehelicher) Elternschaft des Unterhaltsberechtigten ff) Verzicht auf Unterhaltsanspruch gegen Ehegatten gg) Verlust des Arbeitsplatzes b) Bislang nur im Zusammenhang mit § 1579 entschiedene Fallgruppen aa) Analyse der situativen Vergleichbarkeit von § 1579 Nr. 3 und § 1611 Abs. 1 Satz 1 1. Variante bb) Fallgruppen aus der Rechtsprechung (1) Bedürftigkeit infolge mißglückten Selbstmordversuches (2) Unterhaltsneurose c) Noch nicht entschiedene, denkbare Fallgruppen aa) Infizierung mit Aids und ähnlich gelagerten Krankheiten bb) Verlust des Vermögens bzw. der Erwerbstätigkeit wegen Zugehörigkeit zu einer Sekte cc) Risikosportarten dd) Verlust von Forderungen durch Nichtgeltendmachung ee) Unterlassene Heilbehandlung II. § 1611 Abs. 1 Satz 1 2. Variante: Gröbliche Vernachlässigung der eigenen Unterhaltspflicht gegenüber Unterhaltsverpflichteten 1. Systematische Einordnung 2. Erfaßte Konstellationen 3. Tatbestandliche Voraussetzungen a) Bestehen einer Unterhaltspflicht des Berechtigten gegenüber dem Pflichti-
35 35 36 36 36 43 43 46 48 48 49 51 52 53 54 55 60 62 66 69 71 71 72 72 74 74 74 75 76 77 78 79 79 80 81
nsverzeichnis gen zu einem früheren Zeitpunkt 81 aa) Bestehen einer Unterhaltspflicht 81 bb) Anforderungen an die Unterhaltspflicht 83 (1) Gesetzliche oder vertragliche Unterhaltspflicht 83 (2) Barunterhaltspflicht oder Betreuungspflicht 84 (3) Umgangsrecht 86 (4) Volle oder anteilige Haftung 86 b) Gröbliche Vernachlässigung der Unterhaltspflicht durch den jetzt Berechtigten 87 aa) Vernachlässigung 87 (1) Nichterfüllung 88 (2) Schlechterfüllung 88 bb) Gröblichkeit der Vernachlässigung 89 cc) Dauer des Zurückliegens der Vernachlässigung 91 4. Von der Rechtsprechung behandelte Fallkonstellationen 91 5. Verhältnis des § 1611 Abs. 1 Satz 1 2. Variante zur 3. Variante i.V. m. §§ 170 und 171 StGB 93 III. § 1611 Abs. 1 Satz 1 3. Variante: Vorsätzliche schwere Verfehlung gegenüber Unterhaltspflichtigem oder dessen nahem Angehörigen 94 1. Tatbestandliche Voraussetzungen 94 a) Vorsätzliche schwere Verfehlung 94 aa) Verfehlung 95 ( 1 ) Begriff der Verfehlung 95 (2) Verfehlender 95 (3) Schuldfähigkeit 96 (4) Erforderlichkeit der Strafbarkeit des Verhaltens 96 bb) Vorsätzlich 96 cc) Rechtswidrigkeit 97 dd) Schwere 97 dd) Die Bedeutung des Zeitmomentes für die Beurteilung einer Verfehlung 99 ee) Abgrenzung zur 1. Variante „sittliches Verschulden" 100 b) Gegenüber Unterhaltspflichtigem oder nahem Angehörigen 100 aa) Unterhaltspflichtigem 101 bb) Nahem Angehörigen 101 (1) Begriff des nahen Angehörigen 101 (2) Praktische Umsetzung der abstrakten Begrifflichkeit 105 (3) Erkennbarkeit 109 2. Fallgruppen von Verfehlungen 109 a) Von der Rechtsprechung bereits anerkannte Fälle 110 aa) Anschwärzen beim Arbeitgeber 110 bb) Bedrohungen 111 cc) Beleidigungen/Kränkungen 111 dd) Seelische Belastungen 113 ee) Schädigung des Eigentums und des Vermögens 113 ff) Erschleichen unberechtigter Unterhaltsleistungen in erheblichem Umfang 113 gg) Verletzung elterlicher Pflichten 115
10
nsverzeichnis
hh) Kontaktverweigerung ii) Absichtliches Nichtheiraten jj) Sonstiges b) Bisher nur zu anderen Vorschriften entschiedene Fälle aa) Unbegründeter Antrag auf Betreuung bb) Nichtinformation über für den Unterhalt wesentliche Umstände, insbesondere Einkünfte c) Noch nicht entschiedene, denkbare Fälle aa) Abtreibung bb) Entlassen Minderjähriger in die Volljährigkeit mit erheblichen finanziellen Belastungen cc) Unterlassen notwendiger Aktivitäten dd) Verschweigen wichtiger Informationen zur Abstammung ee) Verweigerung üblicher innerfamiliärer Manipulationen ff) Verzicht auf Unterhaltsanspruch gegen Ex-Ehegatten gg) Adoption durch Nicht-Familienangehörige bzw. deren Versuch durch Volljährige d) Natur des Schutzes B. Rechtsfolge § 1611 Abs. 1 Satz 1 a. E. und Abs. 1 Satz 2 BGB I. Unterhaltsbeitrag nach Billigkeit § 1611 Abs. 1 Satz 1 a.E 1. Der Begriff des Unterhaltsbeitrages 2. Bemessung des nach Abs. 1 Satz 1 billigen Unterhaltsbeitrages a) Richtiger Ausgangspunkt des Abwägungsvorganges b) Die Billigkeitsabwägung aa) Das Wesen der Billigkeit bb) Die Billigkeitsabwägung des § 1611 Abs. 1 Satz 1, insbesondere die einzustellenden Faktoren c) Die von der Rechtsfolge des § 1611 Abs. 1 Satz 1 erfaßten Positionen II. Unterhaltsausschluß bei grober Unbilligkeit § 1611 Abs. 1 Satz 2 1. Allgemeine Voraussetzungen und Anforderungen 2. Abgrenzungskriterien und einzelne Fallgruppen aus der Rechtsprechung III. Der zeitliche Umfang der Rechtsfolge des Abs. 1 1. Der Zeitpunkt des Eintrittes der Rechtsfolge a) Generelle Festlegung des Zeitpunktes b) Genauer Zeitpunkt 2. Die Dauer des Anhaltens der Rechtsfolge des § 1611 a) Möglichkeit des beschränkten Ausspruches im Urteil b) Mögliche notwendige Veränderungen der Rechtsfolge c) Möglichkeit der Beseitigung der Rechtsfolge durch Verzeihung aa) Notwendigkeit der Dogmatisierung der Verzeihung bb) Möglichkeit der Verzeihung cc) Anforderungen an die Ausprägung der Verzeihung dd) Von der Rechtsprechung entschiedener Fall 3. Das Verhältnis des § 1611 zu allgemeinen Erwägungen aus § 242 BGB C. Keine Anwendung auf Minderjährige § 1611 Abs. 2 BGB I. Gründe für die Einfügung des Abs. 2 II. Der hinter § 1611 Abs. 2 stehende Gedanke III. Geltungsbereich des Abs. 2
117 130 131 132 132 133 135 135 135 136 137 139 140 140 141 142 143 143 145 145 146 146 147 149 150 151 153 155 156 156 158 160 161 162 164 164 165 166 170 171 177 177 177 179
nsverzeichnis
D.
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G.
H.
1. Der systematische Standort der Prüfung 179 2. Anforderungen des Abs. 2 180 a) Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber ihren Kindern 180 aa) Analoge Anwendung auf Großeltern 180 bb) Konsequenzen für die von Abs. 2 erfaßten Konstellationen 181 b) Minderjährigkeit der Kinder 182 c) Unverheiratetsein der Kinder 185 IV. Das Verhältnis des § 1611 Abs. 2 zu anderen Vorschriften 186 1. Das Verhältnis zum Unterhaltsbestimmungsrecht nach § 1612 Abs. 2 187 2. Das Verhältnis zum elterlichen Erziehungsrecht nach § 1631 (bzw. § 1671) .. 187 V. Aussagen der Rechtsprechung zu § 1611 Abs. 2 189 Die Beweislastverteilung innerhalb des §1611 189 I. Die Beweislast hinsichtlich und innerhalb der Tatbestandsvarianten des § 1611 Abs. 1 Satz 1 191 1. 1. Variante: Bedürftigkeit durch eigenes sittliches Verschulden 191 2. 2. Variante: Gröbliche Unterhaltspflichtverletzung gegenüber jetzt Pflichtigem 193 3.3. Variante: Schwere Verfehlung gegenüber dem Pflichtigen oder nahem Angehörigen 193 II. Verzeihung des Verhaltens 195 III. Zeitpunkt des mißbilligten Verhaltens - Eingreifen des § 1611 Abs. 2 195 IV. Die Rechtsfolge des § 1611 Abs. 1, insbesondere die Billigkeitsabwägung 195 V. Veränderung der Umstände oder der Billigkeitsabwägung 196 Die in § 1611 Abs. 3 normierte Fernwirkung 197 I. Grundgedanke des Abs. 3 197 II. Inhalt des Abs. 3 197 III. Modalitäten der Geltendmachung des Abs. 3 203 Das Verhältnis des § 1611 zu Regelungskomplexen außerhalb des BGB 203 I. Das Verhältnis zum Bundessozialhilfegesetz (BSHG) 203 II. Das Verhältnis zum Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) 206 III. Das Verhältnis zu einer möglichen Förderung nach dem BAföG 208 Die entsprechende Anwendbarkeit des §1611 211 I. Entsprechende Anwendung kraft ausdrücklichen gesetzlichen Verweises § 16151 Abs. 3 211 II. Analoge Anwendung bei Nichtakzeptanz von Barunterhalt 213 III. Entsprechende Anwendung des § 1611 Abs. 3 auf § 1579 214 Die analoge Anwendung des §1579 auf §1611 215 Abschnitt 4 Der rechtstechnische Charakter des § 1611
A. Notwendigkeit einer rechtlichen Qualifikation B. Versuch der Einordnung in die gesetzliche Systematik C. Charakteristik des Ausschlußgrundes sui generis
216 216 216 219
12
Inhaltsverzeichnis Abschnitt 5
Besonderheiten des § 1611 BGB im Prozeß A. Auskunftsklage trotz §1611 B. Richtige Klage für die Geltendmachung des § 1611 : § 323 oder § 767 ZPO
219 219 223
Abschnitt 6
Gründe des Rechtsprechungsschubes im Bereich des § 1611 BGB Einfügung des § 1618 a BGB oder geänderte gesellschaftliche Realität?
230
Abschnitt 7
Entsprechung von Anspruch und (Rechts-)Wirklichkeit Zeitigte die Änderung den gewünschten Erfolg?
231
Abschnitt 8
Weitere künftig zu erwartende Einflüsse der gesellschaftlichen Realität auf die Auslegung des Tatbestandes
233
Viertes Kapitel
Versuch einer systematisierten Anwendung des § 1611 BGB anhand der Besonderheiten der erfaßten Konstellationen
236
Abschnitt 1
Die Typologie der Fallgruppen des § 1611 BGB
236
Abschnitt 2
Entwicklung einer Anwendungsanleitung unter Berücksichtigung dessen Zusammenfassung
243 248
Anhang I: Tabellarische Übersicht über die zu § 1611 BGB ergangenen Entscheidungen 249 Anhang II: Übersicht über die Darlegungs- und Beweislastverteilung bei § 1611 BGB
257
Entscheidungsregister
260
Literaturverzeichnis
264
Stichwortverzeichnis
272
Abkürzungsverzeichnis a. Α. a. E. a. F. AG AK a. 1. i. c. a. M. Anm. Art. Aufl. Az. BAföG BayObLG BErzGG Beschl. BGB BGH BSG BT-DS BVerfG BVerwG BVerwGE DAV Einl. entspr. f. FamRZ FamS ff. Fn. FRES FS FuR GG ggfs. h. A. h. L. h. M.
anderer Ansicht am Ende alte(r) Fassung Amtsgericht Alternativkommentar actio libera in causa andere(r) Meinung Anmerkung Artikel Auflage Aktenzeichen Bundesausbildungsförderungsgesetz Bayerisches Oberstes Landesgericht Bundeserziehungsgeldgesetz Beschluß Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Bundessozialgericht Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgerichte) Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes Der Amtsvormund Einleitung entsprechende^, s) folgende Familienrechtszeitung Familiensenat fortfolgende Fußnote Entscheidungssammlung zum gesamten Bereich von Ehe und Familie Festschrift Familie und Recht Grundgesetz gegebenenfalls herrschende(r) Ansicht herrschende(r) Lehre herrschende(r) Meinung
Abkürzungsverzeichnis
14 i. d. R.
in der Regel
i. d. S
in diesem Sinne
i. R. d.
im Rahmen der, des
JR
Juristische Rundschau
Kap.
Kapitel
KindRG
Kindschaftsrechtsreformgesetz
LG
Landgericht
LSG
Landessozialgericht
MDR
Monatsschrift Deutsches Recht
Mot.
Motive
MüKo
Münchener Kommentar
m. w. N.
mit weiteren Nachweisen
NEhelG
Nichtehelichengesetz
n. F.
neue(r) Fassung
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
NJW-RR
Neue Juristische Wochenschrift Rechtsprechungsreport
OLG
Oberlandesgericht
PKH
Prozeßkostenhilfe
RG
Reichsgericht
RGRK
Reichgerichtsrätekommentar
rkr.
rechtskräftig
Rn.
Randnummer
Rspr.
Rechtsprechung
S.
Seite
SGB
Sozialgesetzbuch
SH
Sozialhilfe
SHT
Sozialhilfeträger
StGB
Strafgesetzbuch
strg.
strittig
TE
Teilentwurf
Te-FamR
Teilentwurf Familienrecht
UA
Unterhaltsanspruch
u. a.
unter anderem
u. U.
unter Umständen
v.
vom, von, vor
Var.
Variante
vgl.
vergleiche
ZfJ
Zentralblatt für Jugendrecht
ZS
Zivilsenat
ZStW
Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft
Einführung und Problemstellung Gegenstand der vorliegenden Abhandlung ist § 1611 BGB, die Norm, die in Literatur und Rechtsprechung terminologisch als Regelung der „Verwirkung" des Unterhaltes zwischen Verwandten bezeichnet wird. Da das Wesen der Rechtsfolgen des § 1611 mit den Charakteristika der Verwirkung, wie sich zeigen wird, nicht harmoniert, ist die Bezeichnung als Beschränkungs- oder Ausschlußiatbestand adäquater. In praktischer und infolgedessen auch inhaltlicher Hinsicht führte § 1611, der in seiner derzeitigen Fassung dieses Jahr seinen 31. und insgesamt - mit dem BGB - den 100. Geburtstag feiert, bis in die 80er Jahre ein Schattendasein. Dies wird bei einem Vergleich mit seinem Pendant § 1579, dem sich mehrere Abhandlungen widmen, besonders deutlich. Ein Grund dafür liegt wohl darin, daß die vermehrte Tendenz zu Scheidungen zunächst eine Häufung der Berufung auf § 1579 nach sich zog und erst zeitversetzt gleichsam als Echo in der nächsten Generation § 1611 begründet. So wurde ihm 1977 bescheinigt, daß er als Ausnahmevorschrift kaum eine Bedeutung habe, und noch in einem Lehrbuch des Unterhaltsrechtes aus dem Jahr 1983 findet sich die Äußerung, daß § 1611 in der Praxis keine Rolle spiele. Dies änderte sich ab Anfang der 80er Jahre zunächst langsam, bis dann eine kleine „Entscheidungsflut" einsetzte. Nachdem es zunächst überwiegend um verschiedenste Ausprägungen der 2. Variante des § 1611 Abs. 1, der sittlich verschuldeten Bedürftigkeit, gegangen war, wechselte der Gegenstand des Vorbringens zunehmend zur 3. Variante, der schweren vorsätzlichen Verfehlung. Innerhalb derer wurden ab Anfang der 90er Jahre besonders Fälle der sog. Kontaktverweigerung volljähriger Kinder gegenüber ihren Eltern bekannt. Diese entfachten zunächst eine lebhafte Diskussion über ihre Beurteilung. Darüberhinaus waren sie aber - und das ist das Wesentliche - der Auslöser vermehrter Auseinandersetzung mit dem Gegenstand des § 1611, dem verwandtschaftlichen Verhältnis und der hieraus resultierenden Toleranz. Die nicht nur auf juristischem Terrain angesiedelte Diskussion darum ist Ausgangspunkt der Beurteilung, ob ein Verhalten eines Familienmitgliedes das angestrebte „Soll" in einer Familie erreicht. Dessen Definition wiederum ist aber geprägt von gesellschaftlichen, sozialen, philosophischen, psychologischen und nicht zuletzt emotionalen Erwägungen. Dementsprechend kontrovers waren dann auch Diskussion und Ergebnisse. Der Streit um die Kontaktverweigerung beruhigte sich zwar nach einigen Jahren mit im wesentlich einhelligem Ergebnis, daß eine solche allein grundsätzlich nicht den Unterhaltsausschluß bewirken kann. Es blieb aber das Dilemma, daß jedes (Fehl)verhalten unter dem Aspekt des stets geforderten schwe-
16
Einführung und Problemstellung
ren, die Aufrechterhaltung eines Unterhaltsanspruches unerträglich machenden Verstoßes gegen die verwandtschaftliche Solidarität nur in Abhängigkeit vom angestrebten Idealverhalten beurteilt werden kann. Das wiederum hängt ab vom gesellschaftlich herrschenden Zustand der Familie und deren interner Solidarität. Selbst wenn geklärt wäre, wie das ideale familiäre Verhalten auszusehen hätte, wäre immer noch unklar, ob und inwieweit dies nicht für die verschiedensten familiären und familienähnlichen Lebensformen, in denen Verwandte sich heute befinden, der Modifizierung bedürfte. Des weiteren sind derartige Wertungen stark moralisch beeinflußt. Daß sie daher insgesamt schwierig und trotz aller Abgrenzungs- und Definitionsversuche auch im Ergebnis selten eindeutig sein werden, drängt sich schon nach diesen kurzen Anmerkungen auf, wird aber im Laufe des Abfassens einer solchen Abhandlung noch klarer. Diese Arbeit unternimmt nach und neben der Behandlung der zahlreichen, sich um § 1611 rankenden dogmatischen Fragen und der zugänglichen Entscheidungen, den Versuch, den verschiedenen Verhaltensweisen unter Berücksichtigung der psychologischen und sozialen Besonderheiten auch juristisch durch eine angemessene Wertung innerhalb des § 1611 Rechnung zu tragen. Das generelle Problem bei der Behandlung des § 1611, seine Grenzlage zwischen Moral und Recht, läßt die Beurteilung besonders in der forensischen Praxis mit juristischen Maßstäben trotzdem schwierig bleiben. Darüberhinaus muß bei jeder Betrachtung des § 1611 stets der Tatsache Rechnung getragen werden, daß die Häufigkeit seiner Geltendmachung einerseits ein Indikator für den Zustand der Familie und deren Wertigkeit in der Gesellschaft ist, und andererseits dessen Handhabung durch die Gerichte wiederum Impulse für das Verständnis der Solidarität liefern kann. Insoweit sei nur eine in der Literatur zitierte Schlagzeile des Kölner Express in Konsequenz einer Entscheidung zu § 1611 „Enkel muß Opa nicht grüßen" angeführt. 1 Das Resümee der Abhandlung besteht nach dem Versuch möglichst umfassender Ergründung des Gehaltes und des Anwendungsstatus des § 1611 in der Aufforderung, den erst 80 Jahre nach seiner Schaffung „erwachten" § 1611 aufgrund der, mit konträrem Ergebnis vielbeschworenen Solidarität weitgehend wieder „einzuschläfern".
1
Zitiert nach Büttner, FamRZ 1998,406.
Erstes Kapitel
Historische Fassung und Intention In diesem Teil der Abhandlung soll die Entwicklung der Beschränkung des Verwandtenunterhaltes von ihren Wurzeln über die Entwürfe zum Bürgerlichen Gesetzbuch bis zu ihrer Fassung in diesem dargestellt werden. Dies möge der historischen Untermauerung der Thematik sowie größerer Verständlichkeit der Schilderung von Inhalt und Intention der aktuellen Gesetzeslage dienen. Nach einem kurzen Blick auf die insoweit bestehende Situation in Deutschland vor Beginn der Bemühungen um eine einheitliche Kodifikation werden die einzelnen Entwürfe der Norm im Zuge deren Schaffung bis zum Inkrafttreten des BGB dargestellt.
Abschnitt 1
Die Situation vor Inkrafttreten des BGB Der erste Abschnitt widmet sich einem Ausflug zur rechtlichen Situation des Verlustes des Unterhaltsanspruches von Verwandten infolge unangemessenen Verhaltens vor Inkrafttreten des BGB. Die ältere Auffassung im gemeinen Recht ging davon aus, daß das natürliche Recht es den Eltern unter keinen Umständen erlaube, ihr hilfloses Kind 1 gänzlich zu verstoßen und traf deswegen folgende Unterscheidung: Wahrend der notdürftige Lebensunterhalt (die sog. alimenta naturalia) dem hilflosen Kinde ungeachtet aller Verfehlungen nicht entzogen werden könne, könne der Anspruch auf den reichlicheren, nach Stand und Vermögen zu bemessenden Unterhalt (die sog. alimenta civilia) wegen unkindlichen Verhaltens versagt werden.2 Diese hinsichtlich des Umfanges verwandtschaftlicher Unterhaltspflicht als streng zu qualifizierende Auffassung lag gleichzeitig im Interesse der öffentlichen Armenpflege. Dieses Interesse sollte allerdings nicht überbewertet werden, da der Anwendungsbereich des Versagungsgrun1
Wobei darauf hingewiesen werden muß, daß der Begriff „Kind" auch damals unabhängig vom Alter lediglich zur Kennzeichnung des Verwandtschaftsverhältnisses verwendet wurde, so daß Vergleichbarkeit mit der heutigen Situation gegeben ist. 2 So ζ. B. OLG Kassel, Urt. v. 2.12.1880, Seuffert's Archiv Bd. 37 Nr. 39 mit folgender Argumentation: die Unterhaltspflicht zwischen Eltern und Kindern ist eine aus dem Naturband der Blutsgemeinschaft entspringende Verpflichtung, die nicht durch einen auf menschlichem Willen beruhenden Vorgang gänzlich aufgehoben werden kann. 2 Bingener
18
1. Kap.: Historische Fassung und Intention
des infolge der damals völlig anderen gesellschaftlichen Situation (nur wenige in Ausbildung befindliche Kinder; großer Anteil sehr jung verheirateter und daher als Unterhaltsberechtigte den Eltern gegenüber nicht mehr in Betracht kommender Kinder; geringe Zahl von Scheidungen, aus denen potentiell wieder Unterhaltsberechtigung den Eltern gegenüber resultieren könnte) unvergleichlich kleiner gewesen sein dürfte. In der Tradition dieser strengen Auffassung standen einige der ersten großen Kodifikationen 3, wie das preußische allgemeine Landrecht (ALR) sowie das österreichische und das sächsische Gesetzbuch.4 Zu Beginn der Vorarbeiten für die erste gesamtdeutsche Kodifikation, das BGB, zu Ende des 19. Jahrhunderts, hatte sich im gemeinen Recht die dazu konträre Auffassung durchgesetzt5, daß die vollständige Verwirkung des Unterhaltes bei Unwürdigkeit des Bedürftigen durchaus möglich sei. Ihren Ursprung findet sie in Quellen des römischen Rechtes, die für den Fall grober Verletzung der Kindespflichten den Unterhaltsanspruch des Kindes als gänzlich verwirkt ansahen. In inhaltlicher Hinsicht wurde folgende Argumentation angeführt: Grundlage der zur rechtlichen Pflicht erstarkten sittlichen Pflicht zu gegenseitiger Unterstützung der Familie sei die durch das Familienband unter nahen Verwandten begründete Zuneigung und Liebe, die sog. „Caritas sanguinis"6. Zerreiße der Bedürftige dieses aber durch unwürdiges Verhalten, könne er ohne Verletzung des aus dem Familienbande resultierenden officium als der Familie nicht mehr angehörig angesehen werden. Folge davon sei, daß auch der Unterhaltsanspruch gänzlich entfallen können müsse. Als Vorteile gänzlichen Entfallens wurden insbesondere angeführt, daß es dem Pflichtigen erspare, mit dem Berechtigten zum Zwecke der Unterhaltsgewährung in Kontakt zu treten und mit diesem umfangreiche, daher kostspielige Prozesse über das Maß der zu gewährenden Alimente zu führen. Letzteres ist meines Erachtens kein überzeugendes Argument, da über die Frage des gänzlichen Entfallens des Anspruches zumindest ebenso wahrscheinlich, wenn nicht sogar wegen der existenzielleren Bedeutung mit noch größerer Wahrscheinlichkeit (gerichtlicher) Streit entbrennen dürfte. Zum anderen sei die im Vergleich zu bloßer Anspruchsbeschränkung auf das notdürftige Maß unangenehmere Konsequenz, auf die mit Nachteilen und Beschränkungen verbundene öffentliche Armenpflege angewiesen zu sein, für den Berechtigten eine wirkungsvollere Motivation, das Familienband nicht durch (in seiner Macht liegendes) Verhalten zu zerstören. 7
3 Zur Theorie und den Voraussetzungen einer Kodifikation vgl. Staudinger-Coing, Einl. zum BGB Rn.43ff.; Rn.59, wo diese explizit als dem Begriff genügend aufgeführt. 4 Dort 112 §§ 252, 253; § 795 bzw. § 1854; ausführlich dazu Planck, Teil 2, 329 sowie die Motive IV, 700, wonach der französische code civil für diese Frage keine besondere Bestimmung enthält; Staudinger-Kappel Engler v. §§ 1601 ff. Rn. 11. 5 Staudinger-Kappe!Engler v. §§ 1601 ff. Rn. 11 unter Verweis auf das Bay LR Ia § 7 Nr. 6, eine Kodifikation, die dieser Tradition folgt. 6 So die Darstellung bei Planck, Teil 2, 330. 7 Motive IV, 701.
Abschnitt 1: Die Situation vor Inkrafttreten des BGB
19
War dies die zu dieser Zeit überwiegend präferierte Rechtsfolge, waren deren Voraussetzungen im gemeinen Recht durchaus umstritten. Teilweise wurde vertreten, die gänzliche Versagung des Unterhaltes habe sich an den für eine Enterbung geltenden Voraussetzungen zu orientieren. 8 Diese Verknüpfung ist vor dem Hintergrund, daß der Erbanspruch für die Vertreter dieser Auffassung auch eine unterhaltsrechtliche Funktion aufweist, nicht bloß verständlich, sondern beinahe zwingend. Zur Begründung berief man sich auf eine Digestenstelle (1.5 §. 11 D. de agnosc. et alend. Lib. 25, 3) folgenden Wortlautes „Idem judex aestimare debet, num habeat aliquid parens vel avus, propter quod merito filios suos nolit alere. Trebatio denique Marino rescriptum est, merito patrem nolle alere, quod eum detulerat." 9 Andere hingegen gingen davon aus, Voraussetzung für eine Versagung des Unterhaltes sei, daß der Berechtigte sich „gegen die verwandtschaftlichen Pflichten verfehlt habe" 10 , eine Formulierung, die an Passagen der heutigen Fassung des § 1611 erinnert. Interessanterweise sucht auch diese Auffassung ihre historische Rechtfertigung in der zitierten Digestenstelle, allerdings in Verbindung mit folgendem (1.4 C. 5, 25): „Si patrem tuum officio debito promerueris, paternam pietatem tibi non denegabit". Wie die Entscheidung vom 8.10.188111 bestätigt, war auch das Reichsgericht ein Verfechter der Möglichkeit gänzlichen Unterhaltsausschlusses. Es begründete dies damit, daß eine Abweichung von den insoweit eindeutigen Quellen des römischen Rechtes durch nichts gerechtfertigt sei. Insbesondere keine Rechtfertigung sei das aus der Ausbildung der öffentlichen Armenpflege resultierende Interesse der Armenverbände an extensiver Handhabung der verwandtschaftlichen Alimentationspflicht. Auch fehle der Beweis für modifizierendes Gewohnheitsrecht. Hinsichtlich der Voraussetzungen einer Versagung war das RG der zuletzt genannten Auffassung, daß für das Entfallen des Unterhaltsanspruches grobe Verletzungen der Kindespflicht erforderlich seien. Die Entscheidung darüber, welches schuldhafte Verhalten im Einzelfall genügen kann, wurde in das richterliche Ermessen gestellt. Eine Absage erteilte das höchste Gericht damit der Ansicht, es seien Enterbungsgründe vonnöten.12 Durch die gleichzeitige Betonung, daß bei Vorliegen von Enterbungsgründen unbedenklich auch die Versagung des Unterhaltes gerechtfertigt sei, wurde zwischen beiden Instituten ein deutliches Stufenverhältnis hergestellt.
8
OAG Darmstadt Seuffert's Archiv Bd. 28, Nr. 229. So Planck, Teil 2, 328. 10 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechtes § 475 Anm. 8 m. w. N. 11 RGZ 5,154 ff. 12 RGZ 5, 154ff., 157, 158.
9
2*
1. Kap.: Historische Fassung und Intention
20
Abschnitt 2
Die Entwürfe einer Verwirkungsnorm im Vorfeld des § 1611 BGB Nachdem die Situation zu der Zeit, als die schon ältere Idee einer einheitlichen Kodifikation im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erstmals konkretere Gestalt annehmen sollte, kurz skizziert wurde, soll nun die weitere Entwicklung im Zusammenhang mit den Kodifikationsarbeiten beleuchtet werden. Wie viele Normen des späteren Bürgerlichen Gesetzbuches durchlief auch die, die Versagung von Unterhalt zwischen Verwandten betreffende Norm bis zu ihrem Inkrafttreten am 1.1.1900 im Zuge der Konzeption mehrere Entwurfsphasen, die es nun zu schildern gilt.
A. Der Teilentwurf zum Familienrecht von Planck 1880 Mit Beschluß vom 24.9.1874 wurde Gottlieb Planck13, neben Pape, Windscheid und Kurlbaum einflußreichstes Mitglied der ersten BGB-Kommission und späterer Honorarprofessor in Göttingen, entsprechend dem Vorschlag der Vorkommission 14, Redaktoren zu bestimmen, zum Redaktor für das Familienrecht des zu schaffenden Gesetzbuches ernannt. 15 Ergebnis der in der Folgezeit, wenn auch aus verschiedenen Gründen zunächst zögerlich fortschreitenden Arbeit von Planck war unter anderem der 1880 vorgelegte Teilentwurf eines Familienrechtes mit umfangreicher Begründung. In diesem Teilentwurf (sog. TE-FamR) findet sich in dessen §§ 298-300 dann auch die erste Fassung der interessierenden Regelung in Form eines Normenkomplexes mit folgendem Wortlaut: § 298: „Hat der Bedürftige sich in solchem Maße einem unsittlichen Leben hingegeben oder die verwandtschaftlichen Pflichten so schwer verletzt, daß nach richterlichem Ermessen die Gewährung des Unterhaltes durch den letzteren als eine aus dem Familienbande hervorgehende sittliche Pflicht desselben nicht mehr angesehen werden kann, so tritt weder die Unterhaltspflicht des zunächst Verpflichteten noch, solange letzterer ohne die vorstehende Bestimmung unterhaltspflichtig sein würde, die der nach ihm verpflichteten Verwandten ein. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Bedürftige sich gegen den zur Gewährung des Unterhaltes zunächst Berufenen so betragen hat, daß dieser ihn zu enterben berechtigt sein würde. 16 13
Planck, ein Mann, der zu seiner Zeit als Richter wegen Verfechtung demokratischer Prinzipien häufig an abgelegene Gerichte versetzt und schließlich beurlaubt wurde, so Lüderitz Rn.38. 14 Staudinger-Coing, Einl zum BGB Rn.76. 15 Planck, Familienrecht I X / X X I X . 16 Entnommen ans Jakobs!Schubert-Schubert, 261.
Abschnitt 2: Die Entwürfe einer Verwirkungsnorm im Vorfeld des § 1611 BGB
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Soweit jedoch in Folge der vorstehenden Bestimmungen der Bedürftige einem Armenverbande zur Last fällt, hat letzterer gegen denjenigen Verwandten, welcher ohne jene Bestimmung unterhaltspflichtig sein würde, Anspruch auf Ersatz der nach den Grundsätzen der öffentlichen Armenpflege aufgewandten Kosten." § 299: „Die Bestimmungen des § 298 finden keine Anwendung, wenn dem zur Gewährung von Unterhalt Berufenen die Erziehungsgewalt über den Bedürftigen zusteht. In diesem Falle kann jedoch, soweit die Erziehung es erfordert, der Anspruch des Bedürftigen auf den nothdürftigen Unterhalt beschränkt werden. Steht der Bedürftige unter der Vormundschaft des Unterhaltspflichtigen, so bedarf es zu jener Beschränkung der Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes." § 300: „Auf den nothdürftigen Unterhalt beschränkt sich der Anspruch des Berechtigten in allen Fällen auch dann, wenn dessen Bedürftigkeit auf eigenem sittlichen Verschulden beruht." 17 Wie nach Lektüre des ersten Abschnittes unschwer zu erkennen, steht der Planck'sehe Entwurf im Einklang mit der zu jener Zeit im gemeinen Recht stark, insbesondere vom RG vertretenen Auffassung. So geht er davon aus, daß eine Versagung des Unterhaltes nicht nur bei Vorliegen von Enterbungsgründen, sondern allgemeiner bei unwürdigem Verhalten möglich ist. Wann im einzelnen eine so starke Verletzung der verwandtschaftlichen Pflichten anzunehmen sei, daß der Familiennexus mit der Folge einer Unterhaltsversagung zerstört ist, sei nicht ex ante per Gesetz festzulegen, sondern müsse im freien Ermessen des Richters verbleiben. Der sich aufdrängende Einwand der Gefahr von Entscheidungen aufgrund subjektiver Empfindungen und Ansichten sei zwar berechtigt, greife aber überall dort, wo eine sittliche Pflicht zur Rechtspflicht erhoben wird, somit an vielen Stellen des Familienrechtes und habe wegen Systemimmanenz gegenüber der Unmöglichkeit der Abgrenzung zurückzutreten. Bedeutung komme den Enterbungsgründen nur insoweit zu, als von deren Vorliegen ein Erst-Recht-Schluß auf die Möglichkeit des Unterhaltsausschlusses zulässig sei. Nicht tragbar sei aber eine Beschränkung auf diese Gründe, da „es ein sehr verschiedenes Ding sei, jemandem etwas zu geben, was man sich selbst abbricht und jemandem einen Teil des Vermögens nach dem Tod zu überweisen".18 Als Rechtsfolge sieht der Entwurf in Abweichung von den großen Gesetzbüchern der Zeit, dem ALR, dem österreichischen und dem sächsischen Gesetzbuch die gänzliche Unterhaltsverwirkung vor. Die Begründung dafür lautet, dies sei zum einen die Konsequenz eines Prinzips und zum anderen heilsame Mahnung gegen Impietät und Trägheit. Dem Einwand der Unbilligkeit einer Ersatzhaftung Verwandter werde durch Anordnung einer Fernwirkung, der Gefahr übermäßiger Belastung der 17
Jakobs/Schubert-Schubert, 262, 263. Planck, 331 mit dem weiteren Argument, die Enterbungsgründe könnten als abschließend gedachte Gründe für eine Unterhaltsversagung schon deshalb nicht ausreichen, weil der vorliegende Entwurf einige insoweit relevante Gründe unberücksichtigt läßt. 18
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1. Kap.: Historische Fassung und Intention
Armenverbände durch den vorgesehenen Regreßanspruch gegen die Verwandten wirksam begegnet - eine Regelung, deren Sinn für die Verwandten mir wegen des ähnlichen Ergebnisses gleichsam „durch die Hintertür" zweifelhaft erscheint. Eine Ausnahme von der völligen Versagung des Unterhaltes war für die Berechtigten vorgesehen, die unter der Erziehungsgewalt des Pflichtigen standen, da diese es nicht so weit kommen lassen dürften, daß der Berechtigte nicht mehr als zur Familie gehörend angesehen werden dürfe. 19
B. Der erste Entwurf (1490 I E I ) Über die von den einzelnen Redaktoren ausgearbeiteten Entwürfe wurde entsprechend den Vorgaben der Vorkommission von der aus Theoretikern und Praktikern bestehenden Kommission beraten. So war auch der Entwurf Planck's Grundlage einer, nämlich der 507. Sitzung der Beratung des Familienrechtes am 15.1.1886, deren Ergebnis der schon äußerlich völlig veränderte § 1490 I E I - anstelle des Normenkomplexes nur noch ein Paragraph mit mehreren Absätzen - war. Wollen wir uns die Veränderung einschließlich ihrer entscheidenden Gründe näher betrachten: Zu §§ 298-300 TE-FamR lagen zwei ändernde Anträge der Kommissionsmitglieder 20 v. Mandry und v. Weber vor, deren Inhalt im wesentlichen folgender war: Zum einen sollten aus dem ursprünglichen §299 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 gestrichen werden. Zum anderen sollten die §§ 298-300 durch einen einheitlichen Paragraphen ersetzt werden, der sich vom ursprünglichen Regelungskomplex vornehmlich dadurch unterschied, daß abgesehen von der Bedürftigkeit durch eigenes Verschulden in den Voraussetzungen an die Enterbungsgründe angeknüpft und die Rechtsfolge auf eine Beschränkung auf notdürftigen Unterhalt begrenzt wurde. 21 Die sich anschließende Beratung war in den beiden zentralen Punkten, Voraussetzungen und Umfang der Unterhaltsversagung von folgenden Erwägungen bestimmt: Für die Möglichkeit gänzlichen Unterhaltsausschlusses sprächen zwar die von der herrschenden Ansicht im gemeinen Recht angeführten Gründe. Dagegen spreche aber die daraus resultierende Notwendigkeit der als „anomal" bezeichneten Regelung des § 298 III. Für 19
Planck, 332, 333 dort auch weitere Einzelheiten der Begründung. Dies legt die Darstellung bei Jakobs/Schubert-Schubert, 261 nahe; hier besteht eine gewisse Unstimmigkeit zwischen den Quellen insofern, als die Kommentierung bei StaudingerCoing, Einl zum BGB Rn. 77 ff., 83 im Gegensatz dazu v. Weber der ersten, v. Mandry aber der zweiten Kommission zuordnet. 21 Vgl. Jakobs/Schubert-Schubert, 261; der genaue Wortlaut des ändernden Antrages lautete insoweit: „Beruht die Bedürftigkeit des zur Beanspruchung des Unterhaltes Berechtigten auf eigenem schweren sittlichen Verschulden oder hat sich der Berechtigte gegen den zur Gewährung des Unterhaltes zunächst Verpflichteten so betragen, daß dieser ihn zu enterben berechtigt sein würde, so beschränkt sich der Anspruch des Berechtigten sowohl dem zunächst Verpflichteten als auch ihm („an dessen Stelle aushülfsweise") Verpflichteten gegenüber auf den notdürftigen Unterhalt. Im Verhältnisse der Abkömmlinge als Unterhaltspflichtiger zu den Großeltern oder weiterer Voreltern als Unterhaltsberechtigten finden hierbei die Vorschriften über die Befugnis der Kinder, ihre Eltern zu enterben, entsprechende Anwendung." 20
Abschnitt 2: Die Entwürfe einer Verwirkungsnorm im Vorfeld des § 1611 BGB
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eine maximale Beschränkung auf notdürftigen Unterhalt hingegen streite insbesondere die Übereinstimmung mit dem ALR und dem sächsischen Gesetzbuch sowie die Rücksicht auf die kleineren Armenverbände. Letztlich entschied sich die Mehrheit für eine Beschränkbarkeit des Unterhaltes nur bis zum notdürftigen Maß. An den Voraussetzungen einer Beschränkung wurde kritisiert, das im Entwurf vertretene Konzept aus dem modernen Recht sei zu wenig greifbar, liefere dem Richter keine ausreichenden objektiven Anhaltspunkte und stelle daher in der Praxis eine erhebliche Schwierigkeit und Gefahr dar, von der eine große Prozeßflut drohe. Zum Zwecke eines Zuwachses an Sicherheit und im Interesse der Übereinstimmung mit ALR und sächsischem Gesetzbuch erschien daher nach der Mehrheitsauffassung eine Fixierung der Gründe, wie auch bei den Enterbungsgründen geschehen, nötig. Diese Ergebnisse fanden neben anderen, weniger relevanten Änderungen Niederschlag im sog. ersten Entwurf zum neuen Gesetzbuch. Auffallend an den Änderungen ist, daß sie sich inhaltlich nicht am damals herrschenden gemeinen Recht orientieren, sondern das ALR zum Maßstab nehmen. Dies ein Punkt, der dem gesamten neuen Bürgerlichen Gesetzbuch unter dem Schlagwort mangelnder Volksnähe noch viel Kritik einbringen sollte.22 Wortlaut des §1490 EI: Der Anspruch eines jeden Berechtigten beschränkt sich auf die Gewährung des nothdürftigen Unterhaltes, wenn dessen Bedürftigkeit auf eigenem sittlichen Verschulden beruht. Dasselbe gilt, wenn der Berechtigte sich gegen den Verpflichteten so betragen hat, daß dieser ihm in Gemäßheit der §§2001, 2002, 2004 den Pflichttheil zu entziehen berechtigt sein würde. In Ansehung des den Großeltern und weiteren Voreltern gegen die Abkömmlinge zustehenden Unterhaltsanspruches finden die Vorschriften über das Recht der Kinder zur Entziehung des Pflichtteiles 23 der Eltern entsprechende Anwendung. Durch die im zweiten Absatz bestimmte Beschränkung der Unterhaltsverpflichtung auf Gewährung des nothdürftigen Unterhaltes wird ein Anspruch gegen einen Mitverpflichteten oder gegen denjenigen, welcher nach dem zur Gewährung des nothdürftigen Unterhaltes Verpflichteten haften würde, nicht begründet.24 22
So auch Staudinger-Coing, Einl zum BGB Rn. 68: „Das Ideal der Volkstümlichkeit war sicher nicht erreicht"; noch dezidierter in diese Richtung v. Gierke , Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht, 11 : „die Wege der gelehrten Rechtserzeugung und der volkstümlichen Rechtsbildung sind für immer geschieden, und zwischen dem juristischen Denken und dem Volksrechtsbewußtsein gähnt von nun an eine Kluft, über welche keine Brükke mehr führt". 23 Zu den Gründen dafür, daß ab dem Entwurf § 14901 ein Wechsel der Formulierung von enterben zu Pflichttheil entziehen eintrat, ausführlich Motive V, 428 f. 24 Jakobs!Schubert-Schubert, 285.
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1. Kap.: Historische Fassung und Intention
C. Die weiteren Entwürfe ( E I ZustRedKom § 1490, Ε I I § 1506, E I I rev. § 1591, E I I I § 1589) Die folgenden Entwürfe, derjenige nach Zusammenstellung der Beschlüsse der Redaktionskommission der zweiten Kommission (sog. E I ZustRedKom) und der zweite Entwurf nach den Beschlüssen der Reichskommission in zweiter Lesung (E II), erschöpfen sich gegenüber dem ersten i m wesentlichen in terminologischen oder geringfügigsten inhaltlichen Modifikationen. Hier wird daher auf eine detaillierte Erörterung über den Abdruck des Wortlautes der einzelnen Fassungen in der Fußnote hinaus 2 5 , mangels Bedeutung verzichtet. Die Formulierung der aus den zum zweiten Entwurf gestellten Anträgen resultierenden Fassungen § 1591 E l l rev. sowie § 1589 des dritten Entwurfes E I I I entspricht bereits derjenigen des am 14.7.1986 vom Reichstag beschlossenen und am 1.1.1900 in Kraft getretenen §1611 BGB.
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Für den näher interessierten Leser eine Wiedergabe des Wortlautes n&ch Jakobs!SchubertSchubert, 297: Wortlaut E I ZustRedKom § 1490 Wer durch sittliches Verschulden bedürftig geworden ist, kann nur den nothdürftigen Unterhalt verlangen. Das Gleiche gilt, wenn sich der Bedürftige einer Verfehlung schuldig gemacht macht, die den Unterhaltsberechtigten berechtigen würde, ihm den Pflichttheil zu entziehen. Liegen Großeltern oder weiteren Voreltern gegenüber die Voraussetzungen vor, unter welchen Kinder berechtigt wären, ihren Eltern den Pflichttheil zu entziehen, so beschränkt sich die Unterhaltspflicht der Abkömmlinge ihnen gegenüber auf die Gewährung des nothdürftigen Unterhaltes. Der Bedürftige kann nicht wegen einer nach diesen Vorschriften eintretenden Beschränkung andere Unterhaltspflichtige in Anspruch nehmen. Wortlaut E II § 1506 Wer durch sein sittliches Verschulden bedürftig geworden ist, kann nur den nothdürftigen Unterhalt verlangen. Der gleichen Beschränkung unterliegt der Unterhaltsanspruch, wenn sich der Bedürftige einer Verfehlung schuldig macht, die den Unterhaltspflichtigen berechtigen würde, ihm den Pflichttheil zu entziehen, sowie der Unterhaltsanspruch der Großeltem und weiteren Voreltern, wenn diesen gegenüber die Voraussetzungen vorliegen, unter welchen die Kinder berechtigt sind, ihren Eltern den Pflichttheil zu entziehen. Der Bedürftige kann wegen einer nach diesen Vorschriften eintretenden Beschränkung seines Anspruches nicht andere Unterhaltspflichtige in Anspruch nehmen.
Zweites Kapitel
Die Norm des § 1611 in ihrer Geltung bis 1969 Dieses Kapitel ist einer kurzen Darstellung des § 1611 in der Fassung bis zu seiner bislang letzten Änderung durch das Nichtehelichengesetz (NEhelG) von 1969 gewidmet. Wie angekündigt, soll im Interesse besserer Nachvollziehbarkeit der Ausführungen zunächst der Wortlaut des § 1611 a. F. wiedergegeben werden: Wortlaut §1611 a.F. (1) Wer durch sein sittliches Verschulden bedürftig geworden ist, kann nur den notdürftigen Unterhalt verlangen. (2) Der gleichen Beschränkung unterliegt der Unterhaltsanspruch der Abkömmlinge, der Eltern und des Ehegatten, wenn sie sich einer Verfehlung schuldig machen, die den Unterhaltsverpflichteten berechtigte, ihnen den Pflichtteil zu entziehen*, sowie der Unterhaltsanspruch der Großeltern und weiteren Voreltern, wenn ihnen gegenüber die Voraussetzungen vorliegen, unter denen die Kinder berechtigt sind, ihren Eltern den Pflichtteil zu entziehen. (3) Der Pflichtige kann wegen einer nach diesen Vorschriften eintretenden Beschränkung seines Anspruches nicht andere Unterhaltspflichtige in Anspruch nehmen. Im folgenden wird nun das Verständnis des § 1611 dargestellt, soweit es Besonderheiten gegenüber der Norm heutiger Fassung aufweist, seien diese durch veränderte gesellschaftliche Auffassungen oder die veränderte Gesetzesfassung bedingt. Auf die Ausführung von bis heute Unverändertem wird hier zugunsten einer vollständigen Darstellung im Kapitel über die Norm in ihrer jetzigen Fassung verzichtet.
* diese waren § 2333 Nr. 1 Trachten nach dem Leben, Nr. 2 Vorsätzliche körperliche Mißhandlung des Erblassers oder dessen Ehegatten, soweit dieser von ihm abstammt, Nr. 3 Verbrechen oder schweres Vergehen gegen Erblasser oder dessen Ehegatten, Nr. 4 Böswillige Verletzung der gesetzlichen Unterhaltspflicht, Nr. 5 Führung eines ehrlosen oder unsittlichen Lebenswandels gegen den Willen des Erblassers.
2. Kap.: Die Norm des § 1611 in ihrer Geltung bis 1969
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Abschnitt 1
Die Auslegung des § 1611 a. F. durch Literatur und Rechtsprechung Nimmt man sich die Kommentierungen zu § 1611 aus den Jahren 1901 bis 1969 zur Hand, bietet sich folgendes Bild. In den ersten Jahren der Geltung des BGB ergingen einige Entscheidungen zu § 1611, dann ebbt dies weitgehend ab. Es drängt sich insoweit fast der Eindruck auf, daß die neue Norm anfangs einige Male ausprobiert wurde. Die Äußerungen der Kommentare zu dieser Zeit befassen sich überwiegend - wie aufgrund des anfänglich weitgehenden Fehlens von Problemen aus einer Anwendungsprajt/s naheliegend - mit systematischen Auslegungsfragen. So nimmt die Erörterung stets großen Raum ein, inwieweit die Ausschlußgründe absolut oder relativ wirken; dies eine Frage, die heute wesentlich weniger behandelt wird. Festgehalten wurde insoweit zumeist1, daß die Gründe des Abs. 1 absolut, die des Abs. 2 2 hingegen relativ wirken, so daß es des Abs. 3 nur bei letzteren bedurfte. Mehr Phantasie als heute bewiesen die Kommentatoren bei der Aufzählung möglicher Fälle von sittlichem Verschulden, ohne daß es dafür offenbar Präjudizien gab; jedenfalls wurde auf keine verwiesen. Genannt wurden: Ausschweifungen (was auch immer man sich darunter genau vorzustellen hat), Spielschulden, Vermögensverlust infolge erlittener Strafen 3, Arbeitsscheu, Trunksucht, verbrecherische Handlungen, verantwortungslose Spekulation4, schwere strafbare Handlungen mit kriminellem Charakter. Dies ist insgesamt wohl typisch für die, im Vergleich zu heute, damals noch wichtigeren Kategorisierung von Verhalten zum Kreis dessen, „was man nicht tut". Erstaunlich ist insoweit die schon sehr frühe Berücksichtigung ungünstiger Erziehungsverhältnisse zugunsten des Berechtigten: So betonte schon das RG in einem Urteil von 19015, daß das Fehlen der für eine geeignete Erwerbstätigkeit erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten bei ungünstigen Erziehungsverhältnissen nicht als sittliches Verschulden aufgefaßt werden könne. Dies ist eine Erkenntnis, die sich einige Gerichte noch heute zum Beispiel nehmen könnten. 1
Goldmann/Lilienthal/Sternberg §1611, der dies in Anm. 55 ff. anhand fiktiver Beispiele erläutert; Opet!v.Blume § 1611 Anm.3d; Planck(1901) § 1611 Anm.2; Staudinger (10./11. Aufl.) zu § 1611, der diesem Problem 6 von 26 Randnummern widmet. 2 Staudinger ( 10./11. Aufl.) § 1611 Rn. 11 bezeichnet diese als zu den Vorwirkungen der erbrechtlichen Verhältnisse gehörig. 3 Rosenthal Rn.4379. 4 BGB RGRK (10./11. Aufl.) § 1611 Anm. 5 2. 5 So Staudinger (10./11. Aufl.) § 1611 Rn. 6 unter Berufung auf RG Urt. v. 9.12.1901 JW 1902, 72f., 73, das innerhalb einer nicht entscheidungsrelevanten Passage ausführt, daß der Tatbestand des § 1611 nicht schon als erfüllt angesehen werden kann, weil jemand unter den konkreten Verhältnissen nicht die persönlichen Eigenschaften erlangte, die für eine geeignete Erwerbstätigkeit erforderlich wären.
Abschnitt 2: Die Bedeutung des § 1611 a. F.
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Einige Ausführungen betrafen selbstverständlich auch die vorgesehene Rechtsfolge, die Beschränkung auf notdürftigen Unterhalt. Dieser soll, wie auch der volle, der sog. standesgemäße Unterhalt alle Positionen des erforderlichen Lebensbedarfes erfassen (einschließlich besonderer persönlicher Bedürfnisse 6, allerdings nur, soweit nicht durch Gewöhnung an bessere Verhältnisse entstanden7). Im Unterschied zu diesem soll er aber auf das absolut dürftige Maß beschränkt sein, das noch unterhalb des notwendigen Unterhaltes im Sinne von § 850 d ZPO liegen soll. So soll der notwendige Unterhalt in kleinstem Umfang gewisse Genußgüter umfassen, was mit „dann und wann ein Glas Bier oder eine Zigarette" umschrieben wird, der dürftige hingegen nicht} Auch eine Badereise sei nicht zuzubilligen9. Ausschlaggebend für die Bestimmung dieses Existenzminimums sollten selbstverständlich deutsche Verhältnisse10 sein, wobei die Fürsorgerichtlinien einen gewissen Anhaltspunkt geben könnten. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß § 1611 a. F. keine Auslegungen erfuhr, die nicht der Wortlaut bereits nahegelegt hätte. Abschnitt 2
Die Bedeutung des § 1611 a. F. Wie schon die vorstehenden Erörterungen andeuten, ist die Bedeutung des § 1611 in den ersten 70 Jahren des 20. Jahrhunderts als gering zu erachten. Zwar ergingen in den Jahren bis ca. 1920 einige Entscheidungen11, dann allerdings gibt sich dies weitgehend. Die Kommentierung des Staudinger von 1966 umfaßt 3 1/2 Seiten 6 BGB RGRK (10./11. Aufl.) § 1611 Anm. 2 II; etwas modifizierend Rosenthal § 1611 Rn. 4379, der berücksichtigt wissen will, daß die notwendigen Bedürfnisse eines Menschen nach seiner Lebensstellung verschieden sind; dies noch genauer ausführend Goldmann/Lilienthal/Sternberg § 1611 Anm. 47: der gesamte Lebensbedarf, wozu nicht nur Verköstigung, Bekleidung, Obdach, ärztliche Behandlung, sondern auch die Befriedigung geistiger Interessen... gehört ist zu gewähren, gleichgültig, ob der Berechtigte... standesgemäßen oder den nothdürftigen Unterhalt zu verlangen berechtigt... Der Unterschied... besteht lediglich darin, daß sich der nothdürftige Unterhalt nur nach den Bedürfnissen richtet, während für den standesgemäßen die Lebensstellung maßgeblich ist. 7 Staudinger ( 10./11. Aufl.) § 1611 Rn.3. 8 BGB RGRK (10./11. Auflage) § 1611 Anm.2II. 9 Warney er (1930) § 1611 Fn. 6 unter Verweis auf Dresden SächsArchiv. 10 Opet!v.Blume § 1611 Anm. 4. 11 Um sich ein Bild von der Art der Sachverhalte zu verschaffen, exemplarisch nur ein Auszug aus einer Entscheidung des RG, zitiert bei Lüderitz in FS für Gaul, 411 ff., 413: Der Armenverband nahm den Vater der Unterhaltsberechtigten auf Zahlung von Unterhalt in Anspruch. Dieser verteidigte sich damit, die Tochter habe ihren Anspruch durch unkindliches Verhalten verwirkt. Als er nämlich mit ihr und ihrem Mann zusammen in einem Haus gewohnt habe, habe sie ihn wiederholt einen alten Spitzbuben genannt und gesagt, er müsse das Haus verlassen...; einmal habe sie ihm den Zugang zu seiner Stube durch Verkeilung verwehrt, ein anderes Mal unter Ausstoß von Drohungen mit Äxten an seine Tür geschlagen. Das RG reduzierte den Unterhalt um die Hälfte.
2. Kap.: Die Norm des § 1611 in ihrer Geltung bis 1969
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(§ 2333 im Vergleich dazu 6 Seiten) und nur ca. 15 Urteile, die auch nicht alle unmittelbar § 1611 betreffen. Die bescheidene Bedeutung, die bei oberflächlicher Betrachtung eigentlich kein schlechtes Bild der Familie der damaligen Zeit zeichnet, resultiert zum einen sicher daraus, daß die heute für § 1611 typischen Konstellationen der insgesamt zerrissenen Familie wesentlich seltener waren. Andererseits aber wäre jede Idealisierung der damaligen Zustände verfehlt: Denn die Tatsache, daß keine derartigen Fälle veröffentlicht sind, kann und wird auch bedeuten, daß die entsprechenden Mißstände zwar existierten, aber mehr verheimlicht 12 bzw. vom größeren sozialen Verband aufgefangen, jedenfalls nicht zum Gegenstand eines Prozesses gemacht wurden. Daß dies bei den tatbestandlich identischen Pflichtteilsentziehungsgründen häufiger geschah, läßt sich nur daraus erklären, daß die Berufung hierauf und das Ausbreiten des Sachverhaltes erst nach dem Tod der betreffenden Person erfolgt, einem Zeitpunkt, zu dem offenbar bestehende „Hemmungen" bereits geringer sind. Interessant, aber in den Auswirkungen leider wegen der insoweit herrschenden Quellenarmut nicht näher ergründbar sind die Veränderungen, die § 1611 während des Nationalsozialismus erfuhr. Wie an vielen anderen Stellen (wobei diese im Zivilrecht eher rar sind) wurde selbstverständlich auch, und gerade im Familien- und Erbrecht, sozusagen „an der Basis", versucht, der völkischen Gesinnung Eingang zu verschaffen. 13 Dies geschah nicht durch eine Veränderung des § 1611 selbst, sondern im Wege der Modifikation der, über den Verweis in Abs. 2 erfaßten, Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333. Dies wurde (vermutlich bereits vorhandene Rechtspraxis14 tradierend) dann durch das Gesetz über erbrechtliche Beschränkungen wegen gemeinschaftswidrigen Verhaltens vom 5.7.1937 erstmals legislativ umgesetzt. Das Gesetz, das dem Gemeinschafts- und Rassengedanken Geltung verschaffen sollte, ergänzte durch § 2 die ursprüngliche Fassung des § 2333 um einen weiteren Pflichtteilsentziehungsgrund, nämlich den, daß der Abkömmling entgegen dem Verbot des § 1 BlutSchG mit einem Juden oder ohne Genehmigung einem jüdischen Mischling die Ehe eingegangen ist. 15 Eine weitere Veränderung war 1940 mit der sog. Erbrechtsverordnung geplant, die § 2333 unter anderem § 2 des ErbBeschrG als Absatz 2 anfügen sollte und eine neue Nummer 4 betreffend den Verstoß gegen Pflichten gegenüber Staat und Volk durch Hoch- oder Landesverrat oder die Betätigung staatsfeindlicher Gesinnung, etwa durch Unterstützung kommunistischer Bestrebungen.16 12
Vgl. näher dazu Hettlage, 37 ff. So und dazu Hirsch/Meier!Meinck, 361 ff., 381 m. w. N. aus verschiedensten Monographien. 14 Bereits seit 1933 war der Ausdruck der guten Sitten um den Aspekt der Ungleichbehandlung von Juden „bereichert" worden; so äußerte etwa das LAG Düsseldorf, daß jede Norm einen ungeschriebenen Vorbehalt dahingehend aufweise, daß Juden unter keinen Umständen Vorteile haben dürfen, so bei Schubert, Das Familien- und Erbrecht im Nationalsozialismus, 382. 15 RGRK (9. Aufl.) §2333 Anm. 2, Vorbemerkung 3. 16 So Schubert, Das Familien- und Erbrecht im Nationalsozialismus, 28. 13
Abschnitt 2: Die Bedeutung des § 1611 a. F.
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Alle diese Veränderungen, die kaum der Erwähnungfinden, können leider in ihrer praktischen Auswirkung, insbesondere auf § 1611, nicht beurteilt werden, vermitteln aber einen Eindruck von der Wandelbarkeit der auch heute in § 1611 verwendeten Begriffe.
Drittes Kapitel
Die geltende Fassung des § 1611 BGB seit dessen Änderung durch das NEhelG von 1969 In diesem Hauptteil der Abhandlung soll nun der Versuch einer umfassenden Darstellung und Würdigung der Norm des § 1611 geltender Fassung1 unternommen werden.
Abschnitt 1
Gründe der Änderung und angestrebtes Ziel Seine derzeitige Fassung erhielt § 1611 durch Art. 1 Nr. 13 des NEhelG vom 19.8.1969. Dieses Gesetz, das seinem Grundtenor nach die Gleichstellung nichtehelicher mit ehelichen Kindern anstrebt, wurde vom Gesetzgeber zum Anlaß genommen, auch § 1611 tiefgreifender Änderung zu unterziehen. Mit Ausnahme des unverändert gebliebenen Abs. 3 wurde die Norm in den Absätzen 1 und 2 mit folgendem Ergebnis geändert: Wortlaut §1611 n.F. (1) Ist der Unterhaltsberechtigte durch sein sittliches Verschulden bedürftig geworden, hat er seine eigene Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltspflichtigen gröblich vernachlässigt oder sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen oder einen nahen Angehörigen des Unterhaltspflichtigen schuldig gemacht, so braucht der Verpflichtete nur einen Beitrag zum Unterhalt in der Höhe zu leisten, die der Billigkeit entspricht. Die Verpflichtung fällt ganz weg, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre. (2) Die Vorschriften des Absatzes 1 sind auf die Unterhaltspflicht von Eltern gegenüber ihren minderjährigen unverheirateten Kindern nicht anzuwenden. (3) Der Bedürftige kann wegen einer nach diesen Vorschriften eintretenden Beschränkung seines Anspruches nicht andere Unterhaltspflichtige in Anspruch nehmen. 1
Im folgenden sind nicht gesondert gekennzeichnete Paragraphen stets solche des BGB.
Abschnitt 1 : Gründe der Änderung und angestrebtes Ziel
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Als Anlaß der Änderung des § 1611 im Zuge des NEhelG wird stets die neue Verweisung in § 1615 angegeben, wonach § 1611 jetzt auch bei nichtehelicher Abstammung gelten soll. Angesichts dessen erscheine es angebracht, auch § 1611 zu reformieren. 2 Mag sich einem das Zwingende oder auch nur Überzeugende dieser Begründung auch nicht erschließen, so hat man sie wohl an dieser Stelle hinzunehmen. Die für die neue Formulierung angeführten Argumente 3 waren folgende: Insgesamt sei bei § 1611 größere Elastizität in der Anwendung notwendig, um der Vielfalt der Konstellationen gerecht werden zu können. Zum einen müsse auf der Tatbestandsseite der Norm höhere Flexibilität geschaffen werden. Zu diesem Zwecke sei anstelle der Verweisung auf die Pflichtteilsentziehungsgründe, bei denen die Voraussetzungen genau bestimmt sein müssen, was eine Abstufung nach der Schwere der Verfehlung und sonstigen Umständen ausschließt, eine den Besonderheiten des Einzelfalles eher gerecht werdende allgemeinere Bestimmung erforderlich gewesen. Deren Realisierung wurde mit der Aufzählung dreier Fallgruppen mit teilweise weiter Auslegungsmöglichkeit versucht.4 Wenig überzeugend erscheint mir allerdings das Argument des Erfordernisses größerer Flexibilität der Tatbestandsseite angesichts der gewählten Lösung, die anflexibler Formulierung eigentlich nur die auslegungsfähige schwere Verfehlung bietet. Diese erscheint jedoch angesichts des geforderten Vorsatzes wiederum wenigflexibel, will man die Begriffe nicht überdehnen - wie es aber inzwischen teilweise geschieht5. Nicht erforderlich sei die Übereinstimmung der Voraussetzungen für die Entziehung des Pflichtteiles und (teilweisen) Ausschluß des Unterhaltes, da die Pflicht zur Unterhaltsgewährung den Verpflichteten härter treffe, als den Pflichtteil gewähren zu müssen6. Diese Argumentation ist - wenn auch mit geringfügig anderer Tendenz - bereits aus einer Entscheidung des RG von 18817 vertraut. Zum anderen sei die bislang von § 1611 einzig ermöglichte Rechtsfolge der Beschränkung auf notdürftigen Unterhalt zu starr und könne angesichts der Vielzahl gradueller Abstufungen auf tatsächlicher Ebene mangels adäquaten Pendants abgestufter Rechtsfolgen zu unbilligen Ergebnissen führen. Dies ergebe sich daraus, daß bei einfacher Lebensstellung des Bedürftigen 8 der aus einer Anwendung des § 1611 resultierende, reduzierte Unterhalt oft den angemessenen Unterhalt des Berechtigten, der ohnehin nicht viel höher als der Sozialhilfesatz gewesen wäre, unterschreite 2 3
So BT Drucksache V/2370,40ff., 40; ebenso Staudinger (\2)-Kappe § 1611 Rn. 3. Kritisch zu den Argumenten sowie zur Änderung überhaupt Brühl, FamRZ 1966, 541 ff.,
545. 4
Odersky 4. Aufl. Anm. I zu § 1611; MüKo-Köhler § 1611 Rn. 1. Dazu später genauer. 6 BT Drucksache V/2370,40ff., 40. 7 Vgl. dazu i. R. d. Erörterung der Situation vor Inkrafttreten des BGB. 8 Das Abstellen auf die Lebensstellung des Bedürftigen mag zunächst erstaunlich anmuten, da die Lebensstellung des Deszendenten meistens vom Standard der Eltern abgeleitet wird; dies erklärt sich wohl daraus, daß § 1611 allgemein für Verwandte gilt und diese zumeist doch eine eigene, von den Pflichtigen unabhängige Lebensstellung haben. 5
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3. Kap.: Die geltende Fassung des § 1611 BGB
bzw. mit diesem übereinstimme. Insbesondere in diesen Konstellationen könne selbst die Heranziehung zum notdürftigen Unterhalt für den Verpflichteten eine unzumutbare Härte bedeuten. Zudem treffe diesen die immer wieder erneute Unterhaltsleistung an eine Person, die ihm gegenüber Verfehlungen begangen hat, weit härter als einen Erblasser die Gewährung des Pflichtteiles, da das Wesen der Ansprüche9 eine permanente Aktualisierung des in den Augen des Verpflichteten widersinnigen Zustandes bewirke. 10 Deswegen erscheine eine flexiblere Gestaltung der Rechtsfolge angebracht. Diese wurde dadurch realisiert, daß die Rechtsfolge jetzt im Grundsatz Unterhalt nach Billigkeit ist. Im Rahmen der Billigkeitsabwägung wird eine Berücksichtigung der beiderseitigen Belange ihrer Art und Schwere nach ermöglicht. Darüberhinaus sieht die neue Regelung für besonders krasse Fälle auch eine gänzliche Entziehung des Unterhaltes vor, wenn jegliche Zahlung grob unbillig ist 11 . Diese Möglichkeit war in Anknüpfung an das gemeine Recht bereits bei Schaffung des BGB angedacht, jedoch schließlich mit Rücksicht auf die öffentliche Armenlast nicht umgesetzt worden. Diesem Einwand wurde anläßlich der Änderung kein Gewicht mehr beigemessen, insbesondere, da infolge des NEhelG im übrigen wegen der Verbesserung der Unterhaltsansprüche nichtehelicher sowie der Ausnahme minderjähriger Kinder von § 1611 mit einer Entlastung der öffentlichen Hand zu rechnen sei. Zudem müßten bei der Gestaltung der Unterhaltsansprüche zwischen Verwandten familienrechtliche, nicht finanzielle öffentliche Belange den Ausschlag geben.12 Im übrigen wurde die Geltung des § 1611 für Ehegatten ausgeschlossen, da deren Unterhalt vom Gesetz in den §§ 1360 ff. gesondert behandelt wird und die Möglichkeit, daß ein Ehegatte seinen Beitrag zum Familienunterhalt zu Lasten des anderen (und damit mittelbar auch zu Lasten potentieller gemeinsamer Kinder; Anm. der Verf.) kürzen kann, dem Wesen der ehelichen Lebens- und Haushaltsgemeinschaft widerspreche. Für den Fall des Getrenntlebens hingegen sehe bereits § 1361 Abs. 1 eine entsprechende Regelung vor, so daß es der des § 1611 nicht bedürfe. Den vom Wortlaut „Ehegatten" ohnehin nicht mehr erfaßten und damit irrelevanten Fall der Beschränkung des nachehelichen Unterhaltes regele § 1579.13 Letzte wesentliche Änderung war die Herausnahme Minderjähriger von den Vorschriften des Abs. 1 durch Abs. 2. Die Begründung dafür war, daß es der gegenüber minderjährigen Kindern erhöhten und besonders geregelten Unterhaltspflicht sowie 9 Zum Wesen des Unterhaltsanspruches detailliert Staudinger-Kappel Engler v. §§ 1601 ff. Rn.61 ff. 10 Vgl. MüKo-Köhler § 1611 Rn. 7; insoweit kritisch Finger, FamRZ 95, 970: „warum eigentlich? weil der Erblasser „schon" tot ist, der Unterhaltspflichtige aber lebt". 11 Odersky (4. Aufl.) Anm. I zu § 1611. 12 BT-DS V/2370, 40ff., 41; dazu auch Becker, 52, der einen weiteren Grund für die Möglichkeit eines gänzlichen Ausschlusses in dem seit Schaffung des BGB gewandelten Verständnis von Inhalt und Aufgaben der staatlichen Unterstützung hilfsbedürftiger Bürger sieht. 13 Insoweit ungenau Odersky 4. Auflage Anm. I zu § 1611.
Abschnitt 1 : Gründe der Änderung und angestrebtes Ziel
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Recht und Pflicht der Eltern zu Erziehung und Beaufsichtigung nicht entspricht, die Unterhaltspflicht im Falle einer sittlichen oder sonstigen Fehlentwicklung ganz oder teilweise entfallen zu lassen.14 Infolgedessen wurde insgesamt größere praktische Bedeutung für den Elternunterhalt angenommen; eine Prognose, die sich aber angesichts der Fülle der Gerichtsentscheidungen zu § 1611 im Zusammenhang mit Volljährigen-Ausbildungsunterhalt 15 bislang nicht als zutreffend erwies. Die Einschätzung könnte sich jedoch angesichts der im folgenden Kapitel noch zu erläuternden veränderten gesellschaftlichen und familiären Situation nachträglich zu einem weit späteren Zeitpunkt doch noch bewahrheiten. Um die Stichhaltigkeit der Begründung des § 1611, insbesondere die damit bezweckte Sanktion für den Unterhaltsbegehrenden, sachgerecht beurteilen zu können, muß man sich fragen, ob selbst eine vollständige Versagung des Unterhaltes gegen Verwandte überhaupt eine wirksame Sanktion mißbilligter Verhaltensweisen darstellen kann. Betrachten wir dazu die geltenden Sozialhilfesätze, die bei dem permanent angeführten (-gedrohten) Verweis des Berechtigten auf Sozialhilfe zur Anwendung kommen würden, ergibt sich folgendes: Nach den einschlägigen Regelungen in § 21 BSHG besteht insoweit Anspruch auf laufende und einmalige Leistungen. Die laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt nach § 22 Abs. 1 BSHG werden nach Regelsätzen gemäß Abs. 2 gewährt. Der seit 1.7.1998 geltende Regelsatz sieht insoweit je nach Bundesland einen monatlichen Anspruch zwischen 515,und 541,-DM vor. 16 Daneben werden als laufende Leistungen die Kosten der Unterkunft, regelmäßig in tatsächlicher Höhe, gewährt. 17 Darüberhinaus besteht Anspruch auf sog. einmalige Leistungen nach § 21 Abs. Ia BSHG, etwa zur Beschaffung von Bekleidung, Hausrat, Brennstoffen etc. 18 Schon bei überschlägiger Abschätzung des Umfanges wird deutlich, daß die Leistungen der Sozialhilfe in vielen Fällen (abgesehen von sehr guten Einkommensverhältnissen) keineswegs hinter den Ansprüchen gegen Verwandte zurückbleiben, sondern diese sogar übersteigen. 19 Mithin kann der erstrebte Sanktionseffekt nicht in finanzieller Beschränkung bestehen. Als Motivation für den Gläubiger verbleiben daher nur die möglicherweise strengere Handhabung der Aufnahme zumutbarer Arbeit im Sozialrecht mit der möglichen Konsequenz, daß eine Ausbildung nicht finanziert wird und die soziale Degradierung, anstelle auf Ansprüche gegen Verwandte auf Inanspruchnahme von Sozialhilfe verwiesen zu sein. Die Wirksamkeit letzte14
So BT Drucksache V/2370, 40ff., 42. Vgl. dazu später im Zusammenhang mit der Erläuterung der Rechtsprechung. 16 So HzS/Schellhorn Gruppe 9 b, S. 229. 17 HzS /Schellhorn Gruppe 9 b, S. 206 Anm. 58. 18 Vgl. zu den im einzelnen umfaßten Positionen den Wortlaut des § 21 BSHG. 19 Man halte sich beispielsweise nur den Fall eines Studenten vor Augen, dem als Ausbildungsunterhalt in normalen Einkommensverhältnissen ein Anspruch etwa in Höhe des BAföG-Satzes, also ca. 1050,-DM/monatlich zugebilligt wird. Diese Summe umfaßt jedoch alle bestehenden Bedürfnisse. 15
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3. Kap.: Die geltende Fassung des § 1611 BGB
ren erscheint in den Fällen fragwürdig, die in solchen familiären Konstellationen häufig sein dürften, in denen jegliche Hemmschwelle ohnehin gefallen ist. Abschnitt 2
Das Verhältnis zu § 1618 a BGB Schon zu diesem frühen Zeitpunkt klärungsbedürftig ist noch das Verhältnis des §1611zu§1618a. Mit diesem wurde am 1.1.1980 durch das Sorgerechtsreformgesetz eine - wie Bosch20 prognostizierte - goldene Regel der familieninternen Beziehungen des Wortlautes „Eltern und Kinder sind einander Beistand und Rücksicht schuldig" eingefügt. Da dieser trotz seiner pauschalen Verpflichtung die ausgefeiltere Norm des § 1611 nicht überflüssig werden läßt (dazu gleich) stellt sich die Frage nach der Art seines Einflusses auf § 1611. Betrachten wir Inhalt und Durchsetzung des § 1618 a: Eng angelehnt an Art. 172 des schweizerischen ZGB setzt er Kritik an der zu einseitigen Betonung der Rechte des Kindes in den Entwürfen des SorgeRG in Richtung eines Kooperationsmodelles um. Es wird eine über das ethische Mindestmaß hinausgehende partnerschaftliche Rücksichtnahme- und Beistandspflicht der Familienmitglieder 21 festgelegt. Gernhuber qualifizierte ihn als „Wegweiser" 22 für Eltern und Kinder. Systematisch ist er damit der neue § 242 des Familienrechtes, parallel gelagert zu § 1353. Alle bisher zwischen Eltern und Kindern auf § 242 gestützten Erwägungen könnten und sollten nun auf ihn gestützt werden, eine Generalklausel später Stunde, eingefügt, als die entsprechenden Fragen bereits auf der Basis anderer Vorschriften, meist des § 242, gelöst wurden. Auf dieser Grundlage ist nun sein Verhältnis zu § 1611 zu beleuchten. Die häufig postulierte Auslegung entsprechend der des Art. 272 ZGB beinhaltet, daß die Verletzung der Pflicht zu Beistand und Rücksicht per se zu einer Unterhaltsminderung führen kann.23 Dies ist im deutschen Familienrecht meines Erachtens nicht möglich. Der Verlust des Unterhaltes ist im Verwandtenunterhaltsrecht abschließend in § 1611 geregelt, einer noch spezielleren Ausprägung von Treu und Glauben. In dieses System hat sich auch § 1618 a als allgemeiner Programmsatz, der nicht sanktionsbewehrt 24 und nicht isoliert durchsetzbar ist, einzufügen. Er kann den mit 20 So Bosch, FamRZ 1980,739 ff., 741; ausführlich zum Verhältnis von § 1611 und § 1618 a auch Meder, FuR 1995,23 ff., 26 ff.; van Eis, DAV 1991,123 ff. bezeichnet ihn als „zeitgemäße Ausformung des 5. Gebotes". 21 Der genaue Umfang, also ob über den Wortlaut hinaus auch Geschwister eingebunden sind, ist streitig, dazu und dafür Knöpfel, FamRZ 1985,554 ff., 559; zu für und wider, dies letztlich ablehnend Gernhuber, FS für Müller-Freienfels, 159ff., 170ff. 22 Diesen schönen Begriff prägte Gernhuber, FS für Müller-Freienfels, 159 ff., 165. 23 Kotzur, 681 ff., 690; Knöpf el, FamRZ 1985, 554 ff., 556. 24 BT-DS 8,2788, 36ff., 36.
Abschnitt 3: Der materiellrechtliche Gehalt des § 1611 BGB
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Rechtsfolgen ausgestatteten § 1611 direkt nicht beeinflussen 25, d.h. die Verletzung des § 1618 a erreicht - wie jedes § 242 widersprechende Verhalten - nicht 26 per se die für § 1611 Abs. 1 tatbestandsauslösende Schwelle. Vielmehr bleibt es dabei, daß die Rechtsfolge des § 1611 aus dessen Tatbestand folgt. Treten aber innerhalb der Auslegung der Tatbestandsmerkmale speziellerer Normen, wie etwa § 1611, Probleme auf (wie sich zeigen wird, passiert dies häufig), dann entfaltet eine Generalklausel selbstverständlich ihre Wirkungen, indem sie durch ihre Zielfestlegung das gewünschte Soll und damit den Grad der Abweichung und somit bei § 1611 etwa die Beurteilung der Schwere der Verfehlung beeinflussen kann. Somit ist § 1618 a ein Mahnmal der familiären Solidarität. Auch bislang wurde, wie wir sehen werden, die Tatbestandserfüllung des § 1611 stets am Grad der Verletzung der verwandtschaftlichen Rücksichtnahme gemessen, so daß inhaltlich direkt durch § 1618 a keine großen Veränderungen zu erwarten sind. Es bleibt festzuhalten, daß von § 1618a keine Bedrohung für § 1611 in seinem Bestand ausgeht und auch die durch ihn ausgelösten inhaltlichen Veränderungen, da auch bislang Maßstab die verwandtschaftliche Rücksichtnahme war, marginalster Natur sein dürften. Abschnitt 3
Der materiellrechtliche Gehalt des § 1611 BGB unter Berücksichtigung der ergangenen Rechtsprechung In diesem Abschnitt nun soll der Versuch unternommen werden, den materiellrechtlichen Gehalt des § 1611 zu erfassen. Der zweigliedrige Tatbestandsaufbau 27 des § 1611 Abs. 1 legt es nahe, zunächst jeweils Tatbestandsseite sowie die Rechtsfolgen möglichst abstrakt unter Berücksichtigung dogmatischer Fragen zu klären, um anschließend deren Ausgestaltung durch die Rechtsprechung zu untersuchen.
A. Tatbestandliche Voraussetzungen des § 1611 Abs. 1 BGB § 1611 Abs. 1 Satz 1 nennt als Voraussetzungen für eine Kürzung des Unterhaltes auf einen Beitrag, der der Billigkeit entspricht, drei Fälle: (1) Herbeiführung der Bedürftigkeit durch sittliches Verschulden des Berechtigten, (2) gröbliche Vernachlässigung der Unterhaltspflicht des Berechtigten gegenüber dem Unterhaltspflichtigen, 25 26 27
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Knöpfel, FamRZ 1985, 554ff., 556. Kotzur, 681 ff., 690. Handbuch des Scheidungsrechtes-ZtorfÄ V Rn. 218.
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3. Kap.: Die geltende Fassung des § 1611 BGB
(3) vorsätzliche schwere Verfehlungen des Unterhaltsberechtigten gegen den Unterhaltspflichtigen oder dessen nahen Angehörigen, Jedweder Erörterung der einzelnen Voraussetzungen vorausgeschickt werden muß, da Maßstab der Auslegung jedes Begriffes, daß es sich bei § 1611 um eine Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz handelt, daß Verwandte gerader Linie einander allein aus dem verwandtschaftlichen Bande heraus zum Unterhalt verpflichtet sind. Der Unterhaltsanspruch resultiert aus dem Verwandtschaftsverhältnis per se und bedarf gerade nicht einer weiteren positiven Voraussetzung in Gestalt des Wohlverhaltens des Unterhaltsgläubigers 28. Daher hat nach allgemeiner zivilrechtlicher Dogmatik eine restriktive Auslegung der Vorschrift zu erfolgen 29, für die Beschränkung oder Entziehung des Unterhaltes ist umgekehrt generell ein schwerer Schuldvorwurf Voraussetzung. Geahndet werden sollen mithin nur krasse Verstöße. Wie die Abgrenzung in diesem Sinne krasser von anderen Verstößen zu erfolgen hat, und ob dies in der Praxis von der Rechtsprechung entsprechend gehandhabt wird, soll anhand der einzelnen Fallgruppen und Voraussetzungen überprüft werden, die nun ihrer Reihenfolge nach untersucht werden.
I. Bedürftigkeit durch sittliches Verschulden § 1611 Abs. 1 Satz 1 1. Variante Die erste Variante, in der ein Unterhaltsanspruch gekürzt werden kann, ist die, daß der Berechtigte durch sein eigenes sittliches Verschulden bedürftig geworden ist. 1. Tatbestandliche
Voraussetzungen
a) Bedürftigkeit Es drängt sich zunächst der Eindruck auf, daß diese Voraussetzung eigentlich im Zusammenhang mit § 1611 keiner weiteren Erörterung bedarf, da „Bedürftigkeit" als anspruchsbegründende, positive Voraussetzung des Unterhaltsanspruches bejaht sein muß, bevor es überhaupt zur Prüfung der Negativvoraussetzung „kein Ausschluß wegen sittlich verschuldeter Bedürftigkeit" kommen kann. Bedürftig ist gemäß der Definition in § 1602 Abs. 1 wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Der Unterhaltsberechtigte ist dies, wenn er seinen ermittelten Bedarf 30 aus eigener Kraft nicht decken kann. Doch wann ist dies der Fall? Positiv 28
Palandt-Diederichsen § 1611 Rn.5. Handbuch des Familienrechtsanwaltes-G