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German Pages 187 Year 2007
Philosophische Schriften Band 69
Praktische Philosophie – heute Mit K. Popper zur Grundlegung einer Universalmoral
Von Erich Kadlec
Duncker & Humblot · Berlin
ERICH KADLEC
Praktische Philosophie – heute
Philosophische Schriften Band 69
Praktische Philosophie – heute Mit K. Popper zur Grundlegung einer Universalmoral
Von
Erich Kadlec
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
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Vorwort Karl Popper hat in seinem 1945 erschienenen Werk The Open Society and Its Enemies (Deutsch: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde) und in seinem 1961 veröffentlichten Addendum 1 Facts, Standards and Truth (Deutsch: Tatsachen, Maßstäbe und Wahrheit erst 1992 erschienen) seine Gedanken zum Dualismus von Tatsachen und Maßstäben und zur Notwendigkeit, diese beiden Gruppen voneinander zu unterscheiden, sowie zur Bewertung von Tatsachen durch Maßstäbe samt der Unumkehrbarkeit dieses Vorgangs dargelegt. Bereits im Hauptwerk hat Karl Popper den Vorschlag vorgelegt, statt – wie im konventionellen Utilitarismus – größter Glückseligkeit für die größte Zahl etwas bescheidener das kleinste Maß an vermeidbarem Leid für alle zu verlangen. Er hat zwischen dieser Betrachtungsweise der Ethik und seiner Auffassung der wissenschaftlichen Methodologie der Elimination der falschen Theorien statt Aufstellung voll begründeter Wahrheiten (Logik der Forschung 1935) eine gewisse Analogie gefunden und festgestellt, dass auf dem Gebiet der Ethik die negative Formulierung der Forderungen wesentlich zur Klarheit beiträgt. Poppers Vorschlag der Leidensminimierung wurde als „Negativer Utilitarismus“ von R.N. Smart u. a. unsachlich mit dem Vorwurf angegriffen, ein wohlwollender Weltzerstörer müsste die gesamte Menschheit ausrotten, um alles Leid zu minimieren. Die Folgedebatte veranlasste Popper zu dem Addendum 1 und dort zur Präzisierung und Ausführung der Gedanken zum Dualismus und der Suche nach moralischen Maßstäben. Er nannte dabei als Entdeckungen die Regel, dass Grausamkeit immer „schlecht“ ist, dass sie wo immer möglich vermieden werden muss; dass die Goldene Regel ein guter Maßstab ist, der vielleicht noch verbessert werden kann, indem man andere, wo immer möglich, so behandelt, wie sie behandelt werden wollen (Zitate siehe 5.3.5.2. Poppers Konzept). 1975 hatte ich ein Manuskript „Realistische Ethik – Verhaltenstheorie und Moral der Arterhaltung“ verfasst, in welchem ich, damals noch ohne Kenntnis des in der deutschsprachigen Ausgabe nicht enthaltenen Addendum 1, zum selben Resultat wie Poppers Verbesserungsvorschlag der Goldenen Regel gelangt war. Nach Überprüfung des Manuskripts in biologischer Hinsicht durch Konrad Lorenz erbat ich über seinen Rat die Stellungnahme seines Freundes Sir Karl Popper, der spontan die Veröffentlichung in der
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Vorwort
von ihm mitedierten Reihe „Erfahrung und Denken“ bei Duncker & Humblot, Berlin, veranlasste und mir in der weiteren Folge die Auszeichnung seiner Freundschaft erwies. Im Zuge mehrerer Besprechungen des mir zwischenzeitig zugegangenen Addendum 1 machte ich Popper auf eine weitere Asymmetrie der moralischen Dringlichkeit neben der von ihm aufgezeigten Leidminimierung vor Glücksmaximierung, und zwar auf diejenige zwischen dem Verbot, Leid zuzufügen, und dem Gebot, bereits bestehende Leiden zu minimieren, aufmerksam. Ich wies darauf hin, dass dieser Gedanke implizit in seinem Vorschlag bereits enthalten ist, wodurch der Negative Utilitarismus über seine sozialpragmatische Absicht hinaus Streitschlichtungskompetenz in persönlichen Interessenkonflikten erhält. Weiters stellte ich fest, dass der Dualismus von Facts and Standards eine konsequente methodische Trennung von Tatsachenfeststellung in einer deskriptiven Verhaltenstheorie und der Bewertung und Regelung in Ethik und präskriptiver Moral erfordert, was in Rechtssystemen zur selbstverständlichen Praxis gehört. Es müsste also ein Ansatz analog zur praktischen Philosophie des Aristoteles versucht werden, was in Manfred Riedels zweibändigem Sammelband „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ (1972) von zahlreichen Autoren gefordert worden war. Popper forderte mich auf, diese Ideen zu publizieren und schlug vor, in den Titel das Wort „– heute“ aufzunehmen, um die Distanzierung von dem von Aristoteles vertretenen Prinzip der Ungleichheit der Menschen von vornherein klarzustellen. Zusätzlich zu den beiden Grundgedanken Poppers, dem Dualismus von Tatsachen und Maßstäben und der negativen Formulierung moralischer Forderungen, habe ich aus seinem letzten Werk „Alles Leben ist Problemlösen“ (München 1994) die Konzentration ethischen Bemühens auf den Aufgabenkreis der Problemlösung entnommen, wobei ich auch hier von der Priorität der Problemvermeidung (durch Einhaltung der Moral) vor der Lösung von bestehenden Problemen ausgehe. Schließlich schien es mir im Hinblick auf den Praxisbezug unumgänglich, der Weiterführung der Grundgedanken Poppers eine deskriptive Theorie der die Voraussetzung selbstbestimmten Verhaltens bildenden Freiheit voranzustellen, wofür der Fall der Berliner Mauer 1989 ein anschauliches Lehrbeispiel lieferte. Bedauerlicherweise konnte ich infolge meiner anwaltlichen Berufstätigkeit meiner Dankesschuld, als die ich diese Arbeit betrachte, zu Lebzeiten meines Freundes nicht nachkommen und trage dies nach meiner Emeritierung als Zeichen meiner tiefen Verbundenheit nach. Wien, am 23.2.2007
Erich Kadlec
Inhaltsverzeichnis 1. Wozu heute praktische Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Alles Leben ist Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Individuum und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Der Sonderfall Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Der Versuch des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Die konventionelle Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6. Das Konzept praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.1. Der Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.2. Der Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.3. Die Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7. Universalmoral – Heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die Freiheit der Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Der Fall der Berliner Mauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Die Ausgangssituation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Die Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Freiheit des praktischen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Was Freiheit nicht ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Was Freiheit ist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Wessen Freiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Freiheitsträger Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Keine Freiheit der Kollektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Die Fähigkeiten des Freiheitsträgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Freiheit wovon?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1. Der Mensch und seine Umwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2. Mitwirkung und Gegenwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3. Freiheit als natürlicher Zustand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4. Der Freiheitsträger als Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.5. Wirklichkeit und Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Freiheit wozu? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1. Freiheit als Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2. Kausalität und Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3. Freiheit als Erkenntnisgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.4. Methodik der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.5. Die Einheit der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.6. Forderung nach Freiheit – Freiheitsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7. Frieden – Freiheit von fremder Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26 26 26 27 28 28 31 32 32 33 35 37 37 38 38 39 40 41 41 42 43 44 44 46 47 48
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Inhaltsverzeichnis
3. Das Verhalten der Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Verhaltenstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Gegenstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Übersicht über die Gliederung der Verhaltenstheorie . . . . . . . . . . . 3.2. Die beiden Arten des Verhaltens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Handeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Unterlassen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Ziel und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Das vorgegebene Lebensziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3. Finalität und Kausalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2. Direkte und indirekte Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3. Eigenwirkungsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4. Fremdwirkendes Sozialverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Problemverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1. Spaltungsverhältnis Subjekt – Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2. Objekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3. Nützlichkeit und Schädlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Absicht und Wirkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1. Der beabsichtigte Erfolg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2. Das andere Resultat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Freiheit und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.1. Möglichkeit und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.2. Selbstbestimmtes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.3. Fremdbestimmtes Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.4. Das Abgrenzungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51 51 51 53 54 55 55 57 59 59 60 61 62 62 63 64 65 66 66 68 70 72 72 73 75 75 76 76 78
4. Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Verantwortlichkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Selbstbestimmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Die unentrinnbare Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3. Verantwortlichkeit der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4. Die Verantwortlichkeit zur Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Zum Wesen der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Konventionelle Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2. Ethik in der praktischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3. Das unaufhebbare Spaltungsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4. Objektschutz – die ethische Grundentscheidung. . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Ethik als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Die Sorge um die Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. Die Sorge um die Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83 83 83 85 87 88 90 90 91 91 94 95 95 97
Inhaltsverzeichnis
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4.3.3. Ethik aus Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Die Ethik der Praktischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1. Ausgangspunkt Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2. Ausgangspunkt Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3. Die andere Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Humanethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1. Die Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2. Das Rechtfertigungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3. Die Suche nach der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Naturethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.1. Der andere Zugang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2. Objekt Tier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3. Objekt Pflanze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.4. Objekt Ökosystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99 100 100 102 103 106 106 108 111 115 115 119 121 123
5. Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Zum Wesen der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1. Gewissen – die innere Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2. Moral – die Ergänzung des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3. Die Grundlagen der Moral von heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Die Pflicht zur Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1. Freiheit als Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. Freiheit als Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Humanmoral. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1. Das oberste Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2. Die zweite Asymmetrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3. Die Moral der zwischenmenschlichen Begegnung. . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.1. Das Schädigungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.2. Das Verbot der Verweigerung von Hilfe . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4. Die gelebte Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.1. Umfang und Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4.2. Die Goldene Regel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5. Moral in der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5.1. Moral, Recht und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5.2. Poppers Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Naturmoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1. Objekt Tier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2. Objekt Pflanze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3. Objekt Ökosystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Frieden – Der gegenseitige Gewaltverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6. Zur Universalmoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
128 128 128 131 134 136 136 137 139 139 141 143 143 145 148 148 150 153 153 159 164 164 170 171 172 175
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Sachwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
Die Frage nach dem Zweck
1. Wozu heute praktische Philosophie? 1.1. Alles Leben ist Problemlösen So nannte Karl Popper sein letztes, kurz vor seinem Tod erschienenes Buch, das laut seinem Vorwort die Fortsetzung seines Werkes „Auf der Suche nach einer besseren Welt“ darstellt. Die Formulierung „alles Leben“ umfasst sowohl sämtliche Lebewesen – Pflanzen, Tiere und Menschen – als auch die gesamte Spanne ihrer Lebenszeit von ihrer Entstehung bis zum Tod. Es geht allen um die Sicherung ihrer Existenz, Verbesserung der Lebensbedingungen und Weitergabe des Lebens an Nachkommen. Selbst- und Arterhaltung als jedem Lebewesen vorgegebene Lebensziele erfordern ständige Aufnahme und Verarbeitung von Energie und Information aus der Umwelt und Lösung aller Probleme, die sich diesem Prozess entgegenstellen. Woher entstehen die Probleme, die den Ablauf des biologischen Prozesses Leben bedrohen? Es sind zwei Hauptgruppen, die sich in der Richtung ihrer Wirkung voneinander unterscheiden: • Mangelsituation: Das Lebewesen ist nicht im Stande, die notwendigen Subsistenzmittel seiner Umwelt zu entnehmen; • Einwirkung von außen: Naturgewalten oder Angriffe von anderen Lebewesen wirken aus der Umwelt auf das Lebewesen sein. Strategien der Problemlösung liegen in einem der Situation entsprechenden Verhalten und zwar bei der Bekämpfung der Mangelsituation im Verstärken der Aktivitäten zwecks Erlangung der für das Leben erforderlichen Mittel oder in der Suche nach neuen ökologischen Nischen oder entgegengesetzt durch Passivität mit einer Einschränkung des Verbrauches zwecks Überdauern von Mangelzeiten. Den Einwirkungen aus der Umwelt können die betroffenen Lebewesen durch Verhaltensweisen des Ausweichens oder der Abwehr begegnen. Bei allen Problemsituationen handelt es sich um tatsächliche Vorgänge, die ohne metaphysisches Beiwerk und ohne Zuhilfenahme ethischer Betrachtung beobachtet, beschrieben und gemessen werden können. Sie können auch zum Gegenstand beschreibender Theorien genommen werden. Je
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nach Art und Entwicklungshöhe der betroffenen Lebewesen werden sich solche Theorien inhaltlich beträchtlich voneinander unterscheiden.
1.2. Individuum und Umwelt Jedes Lebewesen bildet innerhalb seiner äußeren Begrenzung eine einheitliche Ganzheit – das Individuum. Dieses ist Träger des Vorganges Leben und erfährt an sich alles Schicksal, vom Entstehen bis zum Vergehen. Das Individuum lebt in seiner Umwelt, der anorganischen ebenso wie der organischen mit ihren anderen Lebewesen. Es steht mit ihr in einer zweifachen Beziehung, die sich aus der Wirkung ergibt. Entweder das Lebewesen wirkt als Subjekt in seine Umwelt hinein und verändert sie nach seinem eigenen Bedarf durch Entnahme, Bearbeitung, Umgestaltung, aber auch zur Entsorgung seiner Abfälle oder die Umwelt wirkt auf das Lebewesen und macht das Individuum zum Objekt ihrer Wirkung. Dieses gegenseitige Wirkungsverhältnis zwischen Individuum und seiner Umwelt ist in seinen Dimensionen ungleich und wird von der Größe des jeweiligen Einflussbereiches bestimmt. Sonnenlicht ermöglicht erst jedes Leben auf der Erde, die auf das Lebewesen wirkende Umwelt reicht weit in den Weltraum und schließt neben dem kosmischen Geschehen alle Naturgewalten und Prozesse des Planeten Erde ein. Umgekehrt ist der Wirkungsbereich der Lebewesen gering und die von ihnen beeinflussbare Umwelt daher vergleichsweise klein. Die Rolle jedes Lebenswesens als Objekt der ständigen Einwirkung aus seiner Umwelt ist daher eine Bedeutende, seine Möglichkeiten, als Subjekt in seine Umwelt hinaus zu wirken, dagegen vergleichsweise bescheiden, soweit nicht Massen von gleichartigen Lebewesen durch gleiche Tätigkeit Massenwirkung erzielen. Beim Menschen wird diese Wirkung auf die Umwelt zusätzlich noch durch die technische Entwicklung mit ihrem Einsatz von Maschinen und Waffen vervielfacht. Lebewesen wirken in ihre Umwelt durch ihr Verhalten und zwar direkt durch ihr Handeln, indirekt auch durch Unterlassen der in bestimmten Situationen notwendigen Handlungen.
1.3. Der Sonderfall Mensch Von allen heute bestehenden Arten der Lebewesen der Erde hat die Art Homo sapiens durch die Entwicklung ihrer Hirnstruktur eine Sonderstellung erlangt. Der Mensch besitzt dank der Entwicklung seines Großhirns die Fähigkeit zur kognitiven Erfassung von Situationen, Abschätzung von Verhaltensmöglichkeiten und ihrer Wirkung auf sich und die Umwelt sowie zur
1.4. Der Versuch des Aristoteles
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Zwecksetzung und Selbstbestimmung seines Verhaltens. Zur phylogenetischen Tradition von arterhaltender Information von Generation zu Generation tritt beim Menschen die Übertragung von Wissen durch individuelle Kommunikation mit Hilfe von Sprache innerhalb des Gemeinschaftslebens. Zusätzlich zu der auch anderen Lebewesen eigenen Steuerung des Verhaltensantriebes als Reaktion auf körpereigene und von außen kommende Signale sind es beim Menschen auch Denkprozesse mit Vorstellungen über Verhaltensabläufe, Bestimmung des gewünschten Erfolges, Prüfung der kausalen Eignung des gewählten Verhaltens, als Mittel für den beabsichtigten Zweck zu dienen, sowie die Überlegungen über die Auswirkungen auf die anorganische und organische Umwelt, die teils als auslösende, teils als hindernde Faktoren zur Bestimmung des Verhaltens beitragen. Gefühlsmäßige Verhaltenssteuerung kann so durch Aktivitäten der Großhirnrinde kontrolliert und der Steuerungsprozess damit auf die höhere Ebene des Bewusstseins verlagert werden. Diese Fähigkeiten des Menschen bilden in weiterer Folge die Grundlage für die Verantwortlichkeit des Individuums gegenüber seiner Umwelt, insbesondere gegenüber seinen Mitmenschen. Mit den intellektuellen Fähigkeiten erweitern sich für die Menschen die Möglichkeiten, ihre Probleme zu lösen. Aber ebenso vergrößert dieser Reichtum an Gestaltungsmöglichkeiten die Gefahr, anderen Lebewesen, vor allem anderen Menschen durch schädliches Verhalten Probleme zu bereiten. Der Mensch wird durch seine geistigen Leistungen nicht nur Problemlöser sondern auch Problemverursacher und aufgrund seiner technischen Errungenschaften noch dazu ein besonders gefährlicher. Aber das intellektuelle Instrumentarium der Menschen bildet nicht nur die Möglichkeit zur Kontrolle des eigenen Verhaltens und zur Überprüfung der Folgen, sondern erlaubt auch die Beschreibung der Vorgänge und die Erstellung wissenschaftlicher Theorien mit der Darstellung der Problemsituationen und schließlich die Erarbeitung von Prinzipien und Normen zur Problemvermeidung und Problemlösung. Aus dem Besitz des geistigen Instrumentariums erwächst jedem Menschen die Verpflichtung, von dieser Gabe Gebrauch zu machen und seiner Verantwortlichkeit für sein Tun zu entsprechen. Andernfalls wäre der beträchtliche evolutive Aufwand für diese höchste Entwicklungsstufe der irdischen Lebewesen nutzlos vertan und hätte sich als Irrweg der Evolution erwiesen.
1.4. Der Versuch des Aristoteles Von alters her haben Menschen die ihnen aus ihren Fähigkeiten erwachsene Verantwortlichkeit erkannt und über Wege nachgedacht, wie die aus dem Verhalten der Menschen anderen Menschen entstehenden Probleme
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gelöst werden können. Das Bemühen um Verhaltensregeln umfasste sowohl die Vermeidung der Problemverursachung als auch die Lösung bestehender Probleme. Aristoteles nannte dieses Teilgebiet seiner Philosophie Ethik und gliederte es gemeinsam mit den Fächern Politik und Ökonomie in ein staatspolitisches Gesamtwerk ein, das er im Gegensatz zur seiner theoretischen Philosophie der ersten Dinge praktische Philosophie nannte. Grundlage seines Denkens war sein metaphysisches Weltbild einer finalen Entwicklung des Hinstrebens des Ganzen zur Vollendung – eine Vorstellung, die heute durch die Kenntnis der Astrophysik vom Vergehen aller kosmischen Systeme widerlegt ist. Das Konzept des Aristoteles war aber auch auf die damalige Praxis des griechischen Stadtstaates zugeschnitten, bezog sich auf eine Ethik für privilegierte freie männliche Bürger und schloss die unterdrückten bis vollständig rechtlosen Klassen der Frauen, Kinder und Sklaven gänzlich aus ihren Anliegen aus. Ungeachtet seiner wichtigen Teilerkenntnisse zur Praxis des Menschenlebens verhindern schon diese beiden Grundlagen ein Aufgreifen des alten aristotelischen Konzepts. Außerdem haben sich die Fachgebiete Politik und Ökonomie längst aus der ehemaligen Einheitswissenschaft Philosophie zurückgezogen und selbständige wissenschaftliche Disziplinen gegründet, die auf eigenen Zugängen, Methoden, Fachsprachen und Zielsetzungen beruhen. Das heute noch verbliebene Fach Ethik wurde von Aristoteles in verschiedenen Schriften, besonders in seiner Nikomachischen Ethik, auf Basis der genannten Grundsätze bearbeitet und entwickelte sich in der Folge zu einer die verschiedensten Ansätze, Richtungen, Methoden und Resultate umfassenden Spezialdisziplin mit einer in allen Entwürfen enthaltenen Gemeinsamkeit, dem Gedanken der Suche nach einer besseren Welt.
1.5. Die konventionelle Ethik Ungeachtet ihrer verschiedenen Ausgangspunkte, Aufgabengebiete, Methoden und Ziele befassen sich konventionelle Konzepte der Ethik durchwegs mit der Ursache der durch Menschen hervorgerufenen Probleme, dem Verhalten der Menschen. Sie untersuchen dieses Verhalten und die zu ihm führenden Eigenschaften der handelnden Personen anhand ihrer eigenen Vorstellungen und Ansichten, ihres eigenen Vokabulars, ihrer eigenen Bedeutungen, anhand ihrer vorbestehenden ethischen, metaphysischen, transzendentalen oder werttheoretischen Annahmen. Statt Fakten, wie die Freiheit und das Verhalten der Menschen voraussetzungsfrei zu beschreiben und erst auf den Ergebnissen der Sachverhaltsfeststellung bewertend aufzubauen, werden durch die gemeinsame undifferenzierte Betrachtungsweise
1.5. Die konventionelle Ethik
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strikt voneinander zu trennende Feststellungen über Tatsachen und deren Beurteilung vorweg miteinander vermengt. Eine korrekte wissenschaftliche Bearbeitung der problemverursachenden Ereignisse in der Praxis der Beziehungen des Individuums zu seiner Umwelt wird damit unmöglich gemacht. Die undifferenzierte Methodik verleitet zudem quasi von „oben“ her, von der Theorie auszugehen und von ihr auf die Tatsachen schließen zu wollen, statt von „unten“ mit den Tatsachen zu beginnen und aus diesen die Theorie zu entwickeln. Diese Feststellungen betreffen besonders die ethischen Systeme des wichtigsten Teiles der üblichen Dreiteilung ethischer Theorien, der so genannten präskriptiven Ethik. Diese vorschreibende Wissenschaft sucht und erlässt Normen zur Regelung der menschlichen Handlungen als Antwort auf die auch von Kant gestellte Frage „Was sollen wir tun?“. Diese Normen ergehen in Form inhaltlicher Handlungsanweisungen oder als formale Prinzipien, wie Kants kategorischer Imperativ, sie beziehen sich auf den Charakter des handelnden Subjekts (Tugendethik), auf einen verselbständigten Willen als hypostasierte Abstraktion (Willensethik), auf die Tat selbst und ihre Auswirkung (Erfolgsethik), auf göttliche Anordnung (religiöse Ethik) oder auf verabsolutierte Werte als ideale Wesenheiten (Wertethik). Immer sind Gebote und Verbote Gegenstand und Resultat der ethischen Erkenntnis. Der griechische Begriff Ethik als Wissenschaft und der lateinische Begriff Moral als Kodex von Prinzipien und Normen werden meistens nicht voneinander unterschieden und alternierend verwendet. Die beiden anderen Gruppen von Ethik, die sich auf Sprachanalyse beschränkende Metaethik und die verschiedene Moralsysteme miteinander vergleichende so genannte deskriptive Ethik gehen nicht vom menschlichen Verhalten als Grundlage und zu regelndem Gegenstand aus. In der deskriptiven Ethik des Normenvergleiches versuchen sogar Theorien, den entgegengesetzten Weg zu gehen, wenn sie aus der Gegenüberstellung verschiedener moralischer Anordnungen Rückschlüsse auf das dort geregelte Verfahren ableiten und daraus Theorien bilden wollen. Diese Vorgangsweise ist grundverkehrt, da Normen auf Fakten beruhen müssen, nicht aber Fakten aus dem Bestand von Normen rekonstruierbar sind. Höchstens zur komparativen Rechtfertigung der Bevorzugung einzelner Normensysteme vor anderen etwa wegen ihrer höheren Effizienz oder logischen Schlüssigkeit finden Methoden der vergleichenden Ethik Berechtigung. Konventionelle Modelle der Ethik leiden nicht nur generell infolge ihrer Methode der gemeinsamen Behandlung an der Vermengung von Tatsachenfeststellung und ethischer Bewertung, sondern belasten ihre Arbeit vielfach auch durch vorweg eingebrachte und zum Ausgangspunkt genommene metaphysische Weltbilder wie beispielsweise:
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• teleologische Deutung alles Seins und Geschehens als vom Ende bestimmte Entwicklung zur Vollendung (Entelechie des Aristoteles), • Teilung der Welt in eine intelligible Sphäre und in eine Welt der Erscheinungen bei Kant, die zu transzendentalen Konstruktionen zur Überwindung der Trennlinien nötigt, um überhaupt Ethik betreiben zu können, • ein Reich von absoluten Werten als ideale Wesenheiten der materialen Wertethik Schelers und Nicolai Hartmanns mit ihren Problemen der Rangordnung der Werte in ihrer hierarchischen Gliederung. Befrachten sich ethische Theorien einerseits mit metaphysischem Ballast, unterlassen sie andererseits vielfach eine präzise Fragestellung sowohl über die anstehenden Probleme, zu deren Lösung sie angetreten sind, als auch über den Zweck, der mit ihrer Arbeit angestrebt wird. Eine Beschränkung auf die Frage nach den Mitteln der Problemlösung alleine, ohne Ermittlung der Verursachung und der Beziehung zwischen verursachendem Verhaltenssubjekt und betroffenem Objekt, reicht für eine korrekte Bewältigung der Aufgabe nicht aus und lässt allzu leicht von einem falschem Ausgangspunkt beginnen oder das Ziel aus den Augen verlieren. Umwege und Irrwege sind die Folge einer Konzentration auf die Mittel, die unversehens beginnen, ein Eigenleben um ihrer selbst willen zu entwickeln und in ihren Gedankengebäuden ihren Weg als Ziel zu verkennen. Die Ausweitung des Arbeitsgebietes auf möglichst viele Gegenstände, die nichts mehr unmittelbar mit dem Problem und seiner Lösung zu tun haben, ist die Folge. So wird versucht, sämtliche Handlungen eines Menschen starren Regeln zu unterwerfen und auf diese Weise weit über den relativ engen Kreis des anderen Probleme verursachenden oder bestehende Probleme anderer nicht lösenden Verhaltens hinaus in die persönliche Lebensgestaltung einzugreifen. Ablehnung des gesamten ethischen Konzepts ist die Folge und zwar auch der Teile, die durchaus Problemlösungen anbieten. Als Beispiel hiefür wäre der auf dem Verallgemeinerungsprinzip beruhende kategorische Imperativ Kants zu nennen, der fordert, dass die Maxime aller Handlungen tauglich sein müssen, zum allgemeinen Gesetz erhoben zu werden, womit allerdings die Zulässigkeit einer Einzelhandlung zur gesetzlichen Verbindlichkeit, so handeln zu müssen, umgewandelt wäre. Wenn Kant in diesen Pflichtenkreis unter anderen auch Verpflichtungen zur Entwicklung eigener Talente einbezieht (siehe sein drittes Beispiel der Talentvergeudung in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten), überschreitet er den Kreis der Probleme für andere schaffenden Verhaltensweisen. Mit der Rolle eines fiktiven Gesetzgebers für alle Handlungsmaximen überfordert er die Kapazität der Normadressaten im täglichen Leben mit seinen zahllosen Entscheidungssituationen. Die der Wirksamkeit der Regelung abträgliche Ausweitung des Normengegenstandes geht offenkundig auf die zu
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weite und zu allgemein gehaltene Fassung der Grundfrage Kants zurück „Was sollen wir tun?“. Mit dieser Formulierung wird ohne vorheriges Umreißen des zu lösenden Problemkreises nach dem gesamten Tun, nach jeder Handlung eines Menschen gefragt und damit auch problemloses Verhalten erfasst und in Diskussion gezogen. Damit wird Ethik als Aufgabe einer allumfassenden Verhaltenssteuerung gesehen, die weit über ein minimalistisches Erfordernis der Problemlösung hinausgeht. Besonders nachteilig macht sich bei den herkömmlichen ethischen Theorien bemerkbar, dass keine strikte Unterscheidung zwischen den Akteuren und den davon Betroffenen vorgenommen wird, woraus allein sich eine eindeutige Abgrenzung der Interessengegensätze darstellen ließe. Statt dessen wird versucht, über Hilfskonstruktionen wie das absolut „Gute“ oder „Böse“, über Tugenden oder Laster der handelnden Personen, über allgemeine Gesetze oder über Wertverwirklichung oder Wertverfehlung Trennungslinien zu schaffen, die oftmals weder als sachgerecht noch als überzeugend anzusehen sind. Erweisen sich derart Metaphysik als Grundlage für Ethik und die Vermengung von Tatsachenfeststellung und ethischer Beurteilung als unzweckmäßig, überschreitet die konventionelle ethische Normensetzung ihr Aufgabengebiet und unterbleibt methodisch einwandfreie vorherige Problemerforschung und Zwecksetzung, dann empfiehlt es sich, die bisherigen Wege zu verlassen und anstelle einer sämtliche Sparten behandelnden Einheitswissenschaft Ethik eine Aufgliederung in die verschiedenen Fächer mit der ihnen entsprechenden speziellen Arbeitsweise vorzunehmen und diese in einer praxisorientierten Problemlösungswissenschaft zusammenzufassen – der praktischen Philosophie.
1.6. Das Konzept praktische Philosophie Das Konzept der praktischen Philosophie geht von den beiden im Vorwort zitierten Grundgedanken Karl Poppers, dem Dualismus von Tatsachen und Maßstäben sowie der negativen Formulierung der ethischen Forderung aus. Der Dualismus von facts and standards erfordert einerseits die methodische Trennung von Tatsachenbeschreibung und deren ethischer Bewertung sowie die Suche nach moralischen Maßstäben andererseits. Die negative Formulierung der ethischen Forderung schafft nicht nur mehr Klarheit, sondern ermöglicht auch die Konzentration auf die eigentliche praktische Aufgabe, anderen Probleme verursachendes Verhalten zu verhindern. Sie vermeidet damit die Irrwege der positiven Forderung nach einem inhaltlich bestimmten Tun des Menschen. Praktische Philosophie bietet keine Anleitung für persönliche Lebensführung, keine Sinnvermittlung, keine Seelentherapie, sie ist keine Instanz für religiöse Fragen oder politische Ansichten. Ihre Forderung beschränkt sich bescheidener darauf, Verhalten eines Verhal-
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tenssubjekts mit schädlicher Auswirkung auf ein Objekt, auf andere Menschen oder sonstige Lebewesen, zu verhindern.
1.6.1. Der Gegenstand Praktische Philosophie • nach dem Stand des Wissens von heute • ohne spekulative Metaphysik • ohne manichäische Aufteilung in disjunktive Gegensatzpaare • ohne hierachischen Wertabsolutismus • ohne politische Doktrinen befasst sich mit dem Problemverhalten des Menschen in seiner Wirkung auf die Umwelt; beschreibt und untersucht die Fakten: • Freiheit als Voraussetzung und • Verhalten als Problemursache; zieht daraus ethische Folgerungen, Abgrenzungen und Vergleiche und sucht nach Grundlagen einer • allgemeinen Moral des Problemverhaltens • im Umgang der Menschen mit ihrer Umwelt und deren Lebewesen (andere Menschen, Tiere und Pflanzen). Die Beschränkung des Gegenstandes der praktischen Philosophie auf das menschliche Problemverhalten ergibt sich aus der Erkenntnis: • nur das Verhalten von Menschen, ihr Handeln oder ihr Unterlassen von situationsbedingt nötigen Handlungen, nicht aber ihre Wünsche, Ansichten oder Charaktere wirken in die Welt; • nur Menschen sind in der Lage, als Subjekt ihr Verhalten mit seinen Folgen zu beurteilen und verantwortlich selbst zu bestimmen; • nur Verhalten, das geeignet ist, schädlich für andere zu wirken, bedarf einer Regelung, nicht aber Individualverhalten ohne Wirkung auf andere oder das den anderen nützliche Sozialverhalten; • zwischen dem Verhaltenssubjekt und dem betroffenen Objekt des Problemverhaltens, dem anderen Lebewesen, entsteht ein unaufhebbares Spaltungsverhältnis, das den Schutz des dem fremden Verhalten ausgelieferten Objekts vor dem situationsbestimmenden Subjekt erfordert.
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Problemverhalten wird unterschieden in: • Handlungen – direkt gegen das Objekt mit schädlicher Wirkung, die • beabsichtigt • in Kauf genommen oder • fahrlässig durch Mangel an Sorgfalt verursacht wird – oder gegen anorganische Umwelt mit mittelbar schädlicher Wirkung auf das Objekt • Unterlassungen von Hilfe – zur Abwendung oder Minderung einer durch schädliche Zustände oder Prozesse dem Objekt erwachsenen Notlage, verursacht • durch das Subjekt • durch andere Faktoren • oder sogar vom Objekt selbst Asymmetrien der verschiedenen Verhaltensweisen und der daraus resultierenden Pflichten ergeben sich aus: • Urheberschaft • Absicht oder Fahrlässigkeit • Schwere und Gefährlichkeit der Schädigung • Behebbarkeit des Schadens • Mitwirkung oder alleinige Verursachung der Notlage durch das Objekt • Hilfsbedürftigkeit des Objekts • Grad der Hilfeverpflichtung des Subjekts – durch Verwandtschaft – durch besondere Berufspflichten (z. B. Heilberufe). 1.6.2. Der Zweck Wie bei jeder anderen menschlichen Tätigkeit steht auch beim Philosophieren und vor allem auch beim Befassen mit einer praxisorientierten Philosophie die Frage nach dem Zweck im Vordergrund:
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Welchem Zweck dient heute praktische Philosophie? Geht man von der aristotelischen Zweiteilung der Aktivitäten des Menschen in Handeln einerseits und Herstellen eines Werks andererseits aus, fällt das ernst verstandene Philosophieren in die zweite Kategorie. Die Zweckfrage beschränkt sich daher nicht bloß auf den Zweck des Tuns, das Erstellen einer Theorie, sondern umfasst auch den Zweck des Produkts. Was soll mit der Theorie erreicht werden? Von Poppers, die gesamte Biosphäre umfassenden Thema „Alles Leben ist Problemlösen . . . auf der Suche nach einer besseren Welt“ befasst sich praktische Philosophie nur mit einem kleinen Ausschnitt der Probleme, nämlich nur mit denen, die Menschen durch ihr Verhalten als dessen Subjekt anderen Menschen oder sonstigen Lebewesen als davon möglicherweise schädlich betroffenem Objekt verursachen, wobei dieses Verhalten – wie oben dargestellt – aus direkt gegen das Objekt gerichteten Schädigungshandlungen, aus Schädigung der anorganischen Umwelt mit nur mittelbaren Auswirkungen auf das Objekt oder aus Unterlassung von Hilfeleistungen an ein in Not befindliches Objekt entstehen kann. Da sich der Ansatz „Praktische Philosophie – heute“ systematisch aus vier Teilen zusammensetzt, von denen jeder auf den Ergebnissen seines Vorgängers aufbaut, muss die Zweckbestimmung für jeden Teil gesondert unter Wahrung der Eigenheiten aber auch unter Bedacht auf den Zusammenhang erfolgen: Die einleitende Freiheitstheorie dient dem Zweck, durch Beschreibung der vielfältigen Komponenten mit ihren Wechselwirkungen das Faktum Freiheit als Möglichkeit zu selbstbestimmtem Verhalten der Menschen darzustellen, um daraus die Grundlagen für eine Theorie des Verhaltens als Verwirklichung einer der bestehenden Verhaltensmöglichkeiten nach eigener Bestimmung des Subjekts zu gewinnen. Mit der Beschreibung und Kategorisierung der verschiedenen aus Handeln oder Unterlassen von Hilfe bestehenden Verhaltensweisen in ihrem Bezug zur Umwelt und Darstellung des sich daraus ergebenden Spaltungsverhältnisses zwischen Verhaltenssubjekt und dem von der Wirkung betroffenen Objekt (andere Menschen oder sonstige Lebewesen) sowie der Untersuchung möglicher Schädlichkeit für das Objekt wird bezweckt, die faktischen Grundlagen für eine Ethik des dem Objekt Probleme verursachenden Verhaltens zu ermitteln. Ethik als wissenschaftliche Suche nach Prinzipien und Regeln eines geordneten Verhaltens der Menschen in und gegenüber ihrer Umwelt mit ihren
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anderen Menschen, Tieren und Pflanzen findet ihren Zweck im Auffinden eines solchen Systems im Rahmen des Gegenstandes Problemverhalten auf der Basis der beschriebenen Verhaltensweisen und ihrer Eignung, dem Objekt ihrer Wirkung schädlich zu sein. Die Verschiedenheit der Objekte und ihre Stellung in der bestehenden Ordnung der Natur verlangt nach einer auf das jeweilige Objekt abgestellten Aufteilung: Humanethik bezieht sich auf das Verhalten der Menschen gegenüber anderen Menschen auf der Grundlage der Gleichwertigkeit der Individuen, die in arbeitsteiligen Gemeinschaften mit wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen leben und gegenüber den Institutionen der Gemeinschaften. Naturethik beschäftigt sich mit dem Verhalten der Menschen gegenüber Tieren und Pflanzen und kennt zahlreiche Abstufungen der Subjekt-ObjektRelation nach der jeweiligen Entwicklungshöhe des Objekts in seiner stammesgeschichtlichen Evolution, nach seiner Position in der Nahrungskette und der Beziehung des Menschen zu Tieren als Beute, als Zuchtobjekt mit seinen Funktionen als Nahrungslieferant, Arbeitstier und Material sowie dem Verhältnis zu Pflanzen als Sauerstoffproduzent und Grundlage aller Lebensformen. Der bezweckte Schutz des Objekts ist umso geringer, je niedriger es im Rang des Stammbaums der Evolution und der Nahrungskette liegt und reduziert sich bei Pflanzen als Objekt im Wesentlichen auf die Wahrung der Ordnung der Natur und den Schutz der Arten vor Ausrottung. Die Zweckbestimmung für den letzten Teil des Konzepts der praktischen Philosophie besteht im aristotelischen Sinn in der Brauchbarkeit der gefundenen Theorie, der Moral, als Kodex höchster Prinzipien und daraus ableitbarer Verhaltensregeln, ihrer Verständlichkeit und der Dringlichkeit ihres moralischen Appells an das Verhaltensubjekt, ihrer Überzeugungskraft und ihrem sich im Ausmaß ihrer Einhaltung zeigenden Erfolg. Unvollständig wäre allerdings eine Darstellung von Moral als isoliertes, von den sonstigen Systemen abgeschnittenes Phänomen. Es gilt daher, den Zusammenhang der Moral mit dem alten genetisch überlieferten Erfahrungsschatz der Menschheit, dem Gewissen, und ihre Funktion als Ergänzung der durch den technischen Fortschritt behinderten oder weitgehend lahmgelegten Imperative des menschlichen Gewissens aufzuzeigen. Ebenso sind der Zusammenhang von Moral und Recht und das gemeinsame Ziel Gerechtigkeit darzulegen, um mit diesen Gemeinsamkeiten die Grundlagen für die Universalisierung dieses Programms zu schaffen. Erst damit schließt sich der Kreis von Poppers Gedanken über die Suche nach einer besseren Welt durch Lösen der anstehenden Probleme, die anderen Menschen oder sonstigen Lebewesen von Menschen bereitet werden.
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1.6.3. Die Methode Die Methodik der praktischen Philosophie beginnt mit der vorurteilsfreien Beschreibung des Faktums Freiheit als Möglichkeit zu selbstbestimmtem Verhalten ohne jede Metaphysik und zunächst ohne ethische Bewertung. Zum Ausgangspunkt wird ein historisches Ereignis, der Fall der Berliner Mauer am 9.11.1989, genommen. Der auf einen Irrtum bei einer Pressekonferenz zurückgehende Ansturm der Ostberliner auf die durch Jahrzehnte ihre Freiheit behindernde Mauer hatte nicht nur den Zusammenbruch des Europäischen Herrschaftsbereiches der Sowjetunion eingeleitet, sondern zugleich drastisch vor Augen geführt, was die Freiheit der Menschen wirklich ist: eine beschreibbare und messbare Tatsache, ein von den Fähigkeiten ihres Trägers abhängiger natürlicher Zustand – soweit er nicht durch Gewalt von außen unterdrückt wird. Freiheit besteht unabhängig davon, ob sie erkannt wird und unabhängig davon, ob und auf welche Weise von ihr durch Vollzug eines selbstbestimmten Verhaltens Gebrauch gemacht wird. Die Evidenz des Geschehens vom 9.11.1989 hat weltweit bewiesen, dass es keiner transzendentalen Konstruktion von Freiheit bedarf und auch keiner hypostasierten Abstraktion „Wille“, deren Freiheit immer wieder an die Stelle der Freiheit des unteilbaren Menschen gestellt wurde. Auch die kategorische Leugnung von Freiheit in einer durchgehend determinierten Welt wurde ebenso widerlegt wie umgekehrt ihre Ableitung aus allgemeiner Unbestimmtheit des Weltgeschehens. Und letztendlich hat dieses Lehrbeispiel gezeigt, dass es bei dem Freiheitsproblem auf die Finalität jedes menschlichen Verhaltens ankommt, sodass die übliche Beschränkung der Fragestellung auf bloße Kausalität der Vielschichtigkeit dieses Faktums nicht gerecht werden kann. Geht man von der Freiheit als Möglichkeit zu selbstbestimmten Verhalten aus, stellt die Untersuchung und Beschreibung dieses Verhaltens als Verwirklichung einer der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten den nächsten methodischen Schritt dar. Aus der Erfahrung der Vielzahl der konkreten Verfahrensabläufe sind Gemeinsamkeiten zu gewinnen, die Verallgemeinerungen und ihre Klassifizierung zu Verhaltenstypen zulassen. Ausgehend von den beiden Arten der Aktivität oder Passivität, dem Handeln oder dem Unterlassen von situationsbedingt notwendiger Handlung, sind nach ihrem Umweltbezug einerseits Individualverhalten, das nur Wirkung auf das Verhaltenssubjekt selbst entfaltet, und andererseits Sozialverhalten, das auch in die Umwelt, auf ein Objekt, auf andere Menschen, Tiere oder Pflanzen wirkt, voneinander zu unterscheiden. In dem zwischen Subjekt und betroffenem Objekt entstehenden Spaltungsverhältnis ist die Wirkung als für das Objekt nützlich oder schädlich zu untersuchen. Da das Subjekt sein eigenes
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Verhalten selbst bestimmt, kann die weitere Befassung mit dem andere von vornherein nicht berührenden Individualverhalten ebenso entfallen, wie die Behandlung des für das Objekt günstigen Verhaltens. Der dritte Teil, Ethik, geht von den Ergebnissen der Verhaltenstheorie aus und besitzt damit, anders als bei einem konventionellen Ansatz der Ethik als Einheitswissenschaft, bereits eine gesicherte Tatsachenbasis für seine Folgerungen. Die Beschränkung des Gegenstandes auf das anderen Menschen oder sonstigen Lebewesen Probleme verursachende Verhalten, also auf Schädigungshandlungen und auf Unterlassen von Hilfe gegenüber einem Objekt, hat weitreichende Folgen für den ethischen Bereich: Zunächst entfällt die in keiner Weise zu rechtfertigende Einmischung in die Ausübung der persönlichen Freiheit des Menschen dort, wo keine schädliche Wirkung auf andere zu befürchten ist. In weiterer Folge entfällt jede Rechtfertigungspflicht von negativ formulierten Vorschriften überhaupt, die nur die Schädigung des Objekts durch das Subjekt verhindern sollen. In solchen Fällen liegt die Beweislast für die Rechtfertigung der Zulässigkeit des Verhaltens beim Schädiger. Unabhängig von dem gänzlichen Entfall der Rechtfertigungspflicht können zusätzliche weitere Argumente, die für einen Schutz des Objekts sprechen, dargestellt werden: Soweit das vorgegebene unabänderliche Lebensziel gefährdet wird, kann eine naturalistische Rechtfertigung damit begründet werden, dass eine Gefährdung von Selbsterhaltung und Arterhaltung selbstevidenten Prinzipien der Evolution widerspricht. Die Natur gibt die Rahmenbedingungen vor, deren Einhaltung das Überleben erst ermöglicht. Auch eine komparative Rechtfertigung durch den Vergleich von moralischen Prinzipien und Regeln mit dem Zustand ihres Fehlens oder gar mit ihrem inhaltlichen Gegenteil und den hieraus erwachsenden sicheren oder auch nur wahrscheinlichen Folgen für den Fortbestand der Menschheit und der anderen Arten von Lebewesen kann das Konzept des Objektschutzes der praktischen Philosophie zusätzlich als richtig und wichtig erweisen. Zu weiteren Vergleichen können altbekannte und in allen Kulturen gleichartige Gegenseitigkeits-Prinzipien wie die Goldene Regel in ihrer negativen und positiven Fassung, die Beschränkung schrankenloser Repressalien auf das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, die zehn Gebote Moses, der kategorische Imperativ Kants oder die Gebote der Bergpredigt, aber auch die Verhaltensregeln der praktischen Rechtssysteme herangezogen werden. Der methodisch nächste Schritt ist die Beurteilung des Problemverhaltens mit seinen Auswirkungen auf ein Objekt und die daraus zu ziehenden Folgerungen auf die Arten der Abhilfe, d.h. Problemvermeidung
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• durch Unterbleiben der für das Objekt schädlichen Handlungen – die entweder direkt gegen das Objekt gerichtet sind und unmittelbar schädliche Wirkung erzeugen können, oder – Handlungen gegen die anorganische Umwelt, die mittelbar ein Objekt schädigen können, • durch Unterbleiben der Unterlassung hilfreicher Handlung durch deren Vollzug. Daraus folgt die Formulierung oberster Prinzipien mit ihrem Verbot der dem Objekt schädlichen Handlung und dem Verbot der Unterlassung der ihm nützlichen Hilfeleistung, das letztgenannte in Abstimmung mit dem Ausmaß der sich aus der Situation und dem Moralprinzip ergebenden Dringlichkeit und dem Ausmaß von Handlungspflichten. Der nächste Schritt der methodischen Vorgangsweise liegt in der Abstimmung dieser Moral und der Untersuchung ihres Bezuges zu den mit Zwangsgewalt ausgestatteten Rechtsordnungen und zu dem als gemeinsames Ziel dienenden umfassenden Begriff der Gerechtigkeit. Der allgemeinen Gerechtigkeit haben sowohl Moral als auch die den Grundsätzen der Moral entsprechenden Rechtsordnungen und Verfassungen der menschlichen Gemeinschaften zu entsprechen. Die jeweiligen Übereinstimmungen und Abweichungen sind zu prüfen und aufzuzeigen und im Sinne einer konstruktiven Kritik zu behandeln, um Grundlagen für eine einheitliche Universalmoral zu erarbeiten.
1.7. Universalmoral – Heute Die Zeit der partikularistischen Moralsysteme ist längst abgelaufen. Die Globalisierung der Wirtschaftssysteme, der Verkehrssysteme mit ihrer Mobilisierung des Warenaustausches, der Kapitalströme und des Personenverkehrs, die weltweite Verfügbarkeit des Wissens und der Zusammenschluss politischer Einheiten zu größeren Gebilden mit dem schrittweisen Abbau ehemaliger partikulärer Souveränitäten erfordern heute nicht nur weltweit gleiche Verhaltensregeln sondern auch die Verlässlichkeit ihrer Einhaltung. Wenn Philosophie solche Notwendigkeiten skeptizistisch in Abrede stellt und in subjektivistischen Beliebigkeiten verharrt, hat sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Es geht nicht um veraltete Bräuche aus der Steinzeit, von separiert lebenden Indianerstämmen im Urwald Brasiliens oder von Kopfjägerstämmen im unzugänglichen Dschungel pazifischer Inseln sondern um die Regeln einer weltweit mobilen Gesellschaft von heute. Es geht um die Grundsätze der anständigen Begegnung und des Vertrauens in die Erklärungen der anderen, von Treu und Glauben, der Freiheit von Gewalt,
1.7. Universalmoral – Heute
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Unterdrückung, Aggression und Erpressung, um die Anerkennung der Gleichheit der Menschen und um den Respekt vor den sonstigen Lebewesen in ihrer natürlichen Ordnung. Es geht um den Schutz des gemeinsamen Lebensraumes als Basis für das Bestehen unserer Art und der Existenz der anderen Arten. Es geht um Bedingungen, die überall in der Welt benötigt werden, um die Erfordernisse des Lebens von heute erfüllen zu können. Benötigt wird eine einheitliche und einfache Universalmoral, die überall und von jedem Menschen verstanden und anerkannt werden kann, und die alle Menschen überzeugt, sie als Mindeststandard in der Praxis des alltäglichen Lebens einzuhalten. Sie muss eine strikte Untergrenze bilden, die weder von politischen Doktrinen noch von fundamentalistischen Interpretationen religiöser Texte, die zur Schädigung anderer aufrufen, durchbrochen werden darf. Sie darf aber andererseits weitergehende religiöse Gebote zur Nächstenliebe und Hilfeleistung für andere Menschen oder sonstige Lebewesen, wie die christliche Bergpredigt oder die Ehrfurcht vor allem Leben wie bei Albert Schweitzer oder dem Jainismus ebenso wenig behindern wie spezielle Berufspflichten von Heilberufen oder persönliche idealistische Initiativen, die über die Mindesterfordernisse der minimalen Universalmoral hinausreichen. Das Konzept der praktischen Philosophie versucht, Grundlagen für eine derartige Universalmoral von heute zu erarbeiten, indem sie sich auf das menschliche Problemverhalten beschränkt und sich nicht in darüber hinausgehende Bereiche der Verhaltensfreiheit einmengt. Jede Überschreitung dieses Mindeststandards wäre einer allgemeinen Einigung auf das Konzept der Universalmoral hinderlich.
Die Voraussetzung
2. Die Freiheit der Menschen 2.1. Der Fall der Berliner Mauer 2.1.1. Die Ausgangssituation Seit 13.8.1961 hatte die mitten durch Berlin verlaufende Mauer als Teil der gesamten innerdeutschen Grenzbefestigung das Staatsgebiet der „Deutschen Demokratischen Republik“ (DDR) gegen die westdeutsche Bundesrepublik hermetisch abgeriegelt, um die Flucht oder auch nur Reisen der ostdeutschen Bevölkerung in den Westen zu verhindern. Hunderte Menschen hatten Versuche, dieses angeblich gegen Aggression der NATO errichtete Grenzhindernis zur Flucht in den Westen zu überwinden, im Kugelhagel der DDR Grenztruppen mit ihrem Leben oder Verwundungen und langjährigen Gefängnisstrafen bezahlen müssen. Das abgewirtschaftete kommunistische Regime der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED) war durch die Schwäche ihrer Schutzmacht Sowjetunion, die gemeinsam mit ihren Satelliten Anfang 1989 das Wiener KSZE-Abkommen mit seinen Garantien der Reisefreiheit unterzeichnet hatte, in immer größere Schwierigkeiten geraten, den ständig wachsenden Forderungen seiner Bürger nach mehr demokratischen Rechten und Erweiterung ihrer Freiheit standzuhalten. Nach einer Massenflucht über die Ostblockstaaten, nach der Öffnung der Grenzen Ungarns zu Österreich, nach der Besetzung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag durch DDR-Flüchtlinge und ihrer durch sie erzwungenen Ausreise am 30.9.1989 war es zum Sturz der alten Machthaber im Politbüro der DDR gekommen. Die verzweifelten Versuche des neuen Politbüros, die Gewährung von Reiseerleichterungen gegen Westkredite einzutauschen, waren gescheitert. Die durch 28 Jahre geübte Praxis, die eigene Bevölkerung im „Paradies der Arbeiter und Bauern“ gefangen zu halten, war nicht mehr aufrecht zu erhalten.
2.1. Der Fall der Berliner Mauer
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2.1.2. Die Ereignisse Am 9. November 1989 billigt das neue Zentralkomitee der SED einen Vorschlag des ihm unterstellten Ministerrates mit Übergangsregelungen zur Erleichterung des Ausreiseverkehrs: Privatreisen nach dem Ausland sollen nunmehr von allen beantragt und von den Behörden Visa zur ständigen Ausreise erteilt werden können; ständige Ausreisen sollen über alle Grenzübertrittstellen zur Bundesrepublik bzw. zu Berlin (West) erfolgen können; eine Pressemitteilung soll erst am 10.11.1989 veröffentlicht werden.
Der neue SED-Generalsekretär Krenz übergibt diese Unterlagen dem Agitations- und Propagandamitglied des Politbüros Schabowski, der gerade zu seiner wöchentlichen Pressekonferenz unterwegs ist. Schabowski berichtet der internationalen Presse bei mäßigem Interesse über die ZK-Tagung. Ganz nebenbei erwähnt er auch die beabsichtigte neue Reiseregelung. Diese Sensationsnachricht lässt einen Tumult entstehen. Auf die drängenden Fragen, ab wann die neue Regelung gelten soll, übersieht Schabowski die Sperrfrist und antwortet: „sofort, unverzüglich“. Um weiteren Fragen auszuweichen, schließt er die Konferenz abrupt um 19 Uhr. Ab dann überstürzen sich die Ereignisse. Die internationalen Presseagenturen geben innerhalb weniger Minuten die Sensation weiter, dass ab sofort Ausreise über alle DDR-Grenzübergänge möglich ist. Das Zweite Deutsche Fernsehen informiert seine (auch zahlreichen ostdeutschen) Zuseher um 19:17 Uhr. Die Versuche des DDR-Fernsehens um 19:30 Uhr, auf die Notwendigkeit einer Antragstellung bei den Behörden nach alter bürokratischer Manier hinzuweisen, bleiben unbeachtet. Der Westberliner Bürgermeister spricht in der Abendschau um 19:35 Uhr vom Tag, den alle seit 28 Jahren herbeigesehnt haben. Der gerade tagende deutsche Bundesrat stimmt auf die Nachricht hin die Nationalhymne an. Um 20 Uhr bringt die Tagesschau des ARD den Titel „DDR öffnet Grenze“. Ab 20 Uhr finden sich an den Grenzübergangsstellen die ersten Ostberliner ein und fragen, ob sie in den Westen können. Die Grenzposten haben keine Weisungen und fragen bei ihren Vorgesetzten an, diese wieder bei ihren ebenfalls ratlosen Oberbefehlshabern. Die Parole wird ausgegeben: abwarten und hinhalten. Die Menschenmenge vor den Grenzübergängen der Berliner Mauer wächst immer mehr an. Sie kommen zu Fuß, mit oder ohne Gepäck, mit Fahrzeugen, es stauen sich Menschentrauben und Autokolonnen. Die Verwirrung wird immer größer. Inzwischen sammeln sich auch auf der Westseite der Mauer Menschengruppen, Reporter und Kamerateams und berichten über das Geschehen. Die Menge im Osten ist auf Zehntausende angewachsen und drückt gegen die Zäune der Übergänge.
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2. Die Freiheit der Menschen
Die Grenzposten telefonieren verzweifelt um Weisungen und berichten, dass die Situation außer Kontrolle gerät. Aber Entscheidungen von oben kommen nicht. Generalsekretär Krenz versucht in Moskau den Präsidenten der Sowjetunion Gorbatschow zu erreichen, wird aber nicht verbunden, da es in Moskau wegen des Zeitunterschiedes bereits Mitternacht ist und überdies tagsüber Feierlichkeiten zum Jahrestag der Oktoberrevolution stattfanden. Als die Lage an der Grenze unhaltbar wird, kommt endlich von den verwirrten Befehlshabern der erlösende Befehl „Lasst sie laufen!“. Erst einzeln, dann in breitem Strom fluten Menschenmassen und Fahrzeugkolonnen über die bis dahin unüberwindbare Grenze in den Westen. Jubelnd und weinend kommt es zu ergreifenden Begrüßungsszenen mit jahrzehntelang nicht mehr gesehenen Verwandten und Freunden. Fremde Menschen umarmen einander und können das Glück des Geschehens nicht fassen. Die Bilder dieses spontanen Ausbruchs einer neuen Dimension der Freiheit gehen in alle Welt.
2.2. Die Freiheit des praktischen Lebens 2.2.1. Was Freiheit nicht ist Der Fall der Berliner Mauer hat nicht nur gezeigt, was zur Freiheit des praktischen Lebens in allen ihren Ausformungen und Facetten dazugehört, sondern auch was zur Freiheit im praktischen Leben der Menschen nicht gehört. Viele Fragen und Problemstellungen, mit denen sich die Freiheitsphilosophie im Lauf ihrer Geschichte befasst hat, haben sich bei dem spontanen Ausbruch der neuen Dimension von Freiheit am 9.11.1989 für die davon Betroffenen als bedeutungslos erwiesen. Wohl keiner der Ostberliner, der damals zum ersten Mal in seinem Leben eine bis dahin für ihn gesperrte Grenze passieren konnte, hat sich gefragt, ob sein Wille in den Westen zu gehen, frei war oder sein Entschluss auf eine fremddeterminierte Kausalität in einer Welt durchgehender Determination zurückzuführen sei, ob die nun hereingebrochene neue Dimension der Freiheit bloß Fiktion oder metaphysische Spekulation sei und es Freiheit in Wirklichkeit gar nicht gäbe oder ob Freiheit gar nur Einsicht in die Notwendigkeit sei. Alle Irrwege der theoretischen Philosophie wurden durch die Ereignisse dieses Tages, die ein simpler Irrtum ausgelöst hatte, überzeugend widerlegt. Es wurde für alle Teilnehmer und Beobachter sichtbar, dass Freiheit keine Illusion, kein idealistisches Hirngespinst, keine Entität religiösen Glaubens oder ideologischer Doktrin, keine selbständige Wesenheit, nichts Absolutes, keine Abstraktion darstellt, sondern aus der konkreten Beziehung eines bestimmten Menschen mit seiner auf ihn einwirkenden Um-
2.2. Die Freiheit des praktischen Lebens
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welt entsteht, dass Freiheit in der Realität besteht und als Tatsache beschrieben und gemessen werden kann. Niemals zuvor wurden vor einer auch nur annähernd vergleichbaren Zahl von örtlich Mitwirkenden und Fernsehzusehern in aller Welt Scheinprobleme der Freiheitsphilosophie als solche entlarvt und deren Hypothesen widerlegt, allen voran die so genannte Willensfreiheit. Diese befasst sich nicht mit dem Menschen, dem Individuum als Freiheitsträger sondern mit einer abstrahierten Teilfunktion seines Nervensystems, dem zum Freiheitsträger erhobenen so genannten Willen. Dass diese hypostasierte Abstraktion nicht ein für die Freiheit geeignetes Bezugssystem darstellt, sondern nur der Mensch selbst als unteilbares Ganzes, als Individuum in Frage kommt, zeigt das Geschehen vom 9.11.1989 deutlich. Ein konsequenter Vertreter der Willensfreiheit hätte schließen müssen, dass sich durch den Wegfall der die Freiheit behindernden Gewalt nicht das Geringste an der Freiheit der Ostberliner geändert hätte. Gegenüber den Checkpoint Charlie erstmals hinter sich lassenden Ostberlinern hätte er mit seiner Ansicht nur Unverständnis oder Gelächter geerntet. Wie viele Ostberliner hatten in allen Jahren seit Bestand der Mauer nicht den Willen zur Flucht in den Westen gehabt! Dieser Wille war vorhanden, aber es fehlte dennoch die Freiheit zu handeln. Wille ohne Möglichkeit zur Tat schafft keine Freiheit. Die von der Theorie der Willensfreiheit untersuchte Frage, wie bzw. wie unbeeinflusst der Wille zustande kommt, ist ohne praktische Bedeutung, da kein Bezug auf das Verhalten des Wollenden erfolgt. Wie schon Hobbes erkannt hat, kommt es auf das Tun-Können und nicht auf das Wollen-Können an. Wegen des bloßen Willens zur Flucht hätte das DDR-Regime nicht die Mauer errichten müssen, vor dem Handeln, vor dem Verlust weiterer Millionen unzufriedener Bürger musste die SED-Führung zittern und deshalb die Mauer bauen und mit größter Brutalität ihre Überwindung verhindern. Mit dem Fall der Mauer begann auch der Zusammenbruch der Zwangsherrschaft zunächst in der DDR, dann in der Sowjetunion selbst und in ihrem gesamten Imperium. Es hat sich weiters gezeigt, dass es keine absolute Freiheit gibt und der abstrakte Begriff einer Freiheit an sich inhaltsleer ist. Sinnvoll kann sich Freiheit immer nur auf eine bestimmte Person, den Freiheitsträger, in ihrem raumzeitlichen Umfeld beziehen, auf das Verhältnis dieser Person zur Einwirkung aus seiner Umwelt. Wichtig ist festzuhalten, dass jeder Mensch Träger seiner eigenen Freiheit ist. Das gilt sowohl für den Unterdrücker als auch für den Unterdrückten. Nur ist sie eben verschieden groß. Es gab auch in der DDR Freiheit und zwar größere Freiheit als in jeder beliebigen Demokratie. Sie war aber auf einen kleinen Personenkreis der Staats- u.
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2. Die Freiheit der Menschen
Parteiführung beschränkt und auch innerhalb dieser Gruppe von Machthabern bestanden hierarchische Abstufungen. Der Generalsekretär der SED hatte innerhalb seines Wirkungskreises, aber auch als Privatperson nahezu unbeschränkte Freiheit aus seiner Machtposition heraus, konnte aber seinerseits vom Machtapparat der Schutzmacht Sowjetunion jederzeit aller Macht und Freiheit und sogar seines Lebens beraubt werden (z. B. in Stalins Schauprozessen). Er hatte aber jedenfalls die Möglichkeit zu Reisen in den Westen. Der unterdrückte und vom Staatssicherheitsdienst bespitzelte Bürger besaß diese Freiheit nicht und musste im Fall eines Fluchtversuches seine restliche, ihm noch verbliebene Freiheit und sein Leben riskieren. Die extrem ungleiche Verteilung der Freiheit war nicht nur das Grundproblem – wie in jeder Diktatur – sondern zeigt auch die Notwendigkeit, jede Freiheit als die eines bestimmten Freiheitsträgers zu definieren. Innerhalb einer geschlossenen Gesellschaft führt wie in kommunizierenden Gefäßen der Machtverlust der Herrscher und damit die Einengung ihrer Freiheit, die anderen zu unterdrücken, zum Wachsen der Freiheit der Beherrschten. Damit führt sich aber auch die Annahme ad absurdum, Freiheit als selbständige, unpersönliche Wesenheit oder als metaphysische Entität zu sehen, die von höheren Mächten gewährt oder in Form des vorbestimmten Schicksals verneint wird, das höchstens im Orakel erfragt, aber niemals selbst bestimmt werden kann – es sei denn, man würde einen Diktator oder ein Zentralkomitee als höhere Macht oder Gottheit missdeuten. Freiheit ist auch kein Wert an sich, sondern ein wertvolles Gut, dessen Wert vom Freiheitsträger bestimmt wird. Dem einen wird Freiheit wertvoller sein als selbst das Leben, der andere wird lieber auf Freiheit verzichten, um ein unfreies, aber bequemes Leben zu führen. Als allgemeine Naturkonstante kann die Regel gelten, dass der Wert der Freiheit mit steigender Unfreiheit steigt und umgekehrt Freiheit umso weniger geschätzt wird, je mehr man davon hat. Auch dafür dient die spätere Entwicklung in den neuen deutschen Bundesländern nach der Wiedervereinigung von 1990 als Beispiel, wo unrealistische Hoffnungen auf eine unverzügliche Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards nicht erfüllt werden konnten, was in manchen Menschen nostalgische Gefühle nach den alten Zeiten wachrufen konnte. Freiheit ist neutral zu ihrem Inhalt. Ihr Teilaspekt der „Freiheit zu“ etwas kann jedes Verhalten innerhalb der Fähigkeiten des Freiheitsträgers umfassen, also auch solches, das anderen zum Schaden gereicht. Die Vermengung von Freiheit und Moral hat noch jede Freiheitstheorie – auch der größten Philosophen – scheitern lassen. Kants Freiheitsantinomien sind nur ein Beispiel dieses Irrweges eines ethischen Freiheitsbegriffes. Auch hier kann wieder Berlin 1989 zum Beweis herangezogen werden. Die neu gewonnene Freiheit zum Betreten Westberlins hatte nicht das Ge-
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ringste mit ethischen Problemen zu tun, der Übergang über die Grenze wies keinerlei ethische Kriterien auf. Ob im Westen gute oder böse Taten verrichtet werden konnten, war ohne Belang für die Tatsache der neugewonnenen Freiheitsdimension der Ostberliner in ihrem Wunsch, in den Westen zu reisen oder auszuwandern.
2.2.2. Was Freiheit ist Der Fall der Berliner Mauer zeigt: • Freiheit ist eine Tatsache, die beschrieben und gemessen werden kann. • Freiheit entsteht aus einer Beziehung eines Menschen mit jenem Teil seiner Umwelt, der auf ihn einwirkt (hier: Menschen). • Freiheit hängt ab von den geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Freiheitsträgers. • Freiheit hängt ab vom Ausmaß der Einwirkung aus der Umwelt auf den Freiheitsträger. • Nur Gegenwirkung hindert, Mitwirkung fördert die Freiheit des Freiheitsträgers. • Freiheit ist der natürliche Zustand, zu ihrer Beschränkung bedarf es tatsächlich ausgeübter oder angedrohter Gewalt. • Freiheit entsteht dann als Errungenschaft, wenn der Freiheitsträger allein oder mit fremder Hilfe die Gegenwirkung beseitigt. • Freiheit ist Gegenstand der Erkenntnis, sei es des Freiheitsträgers, sei es anderer Menschen. • Freiheit besteht unabhängig von ihrem Erkanntwerden. • Der Freiheitsträger: ist Objekt fremder Einwirkung (Gegen- oder Mitwirkung), ist Subjekt eigener Erkenntnis seiner Freiheit, ist Subjekt eigener Erkenntnis der Folgen seines Verhaltens, ist Subjekt eigener Bestimmung seines Verhaltens, ist Adressat von Verhaltensvorschriften. • Freiheit kann als zielgerichtete Resultante eines Kräfteparallelogramms von eigenen Fähigkeiten des Freiheitsträgers plus fremder Hilfe minus Gegenwirkung aus der Umwelt dargestellt werden. Die dreifach unterteilte, aber nur gemeinsam lösbare Frage des Freiheitsproblems lautet: Wessen Freiheit, wovon, wozu?
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2. Die Freiheit der Menschen
Jede Antwort, die eine vollständige Lösung des Freiheitsproblems darstellt, muss alle drei Teilfragen in ihrer Einheit betreffen. Die Außerachtlassung auch nur einer der Teilfragen führt unweigerlich zu unvollständigen und falschen Ergebnissen. Auf derartige Fehler wird im Folgenden noch einzeln hingewiesen.
2.3. Wessen Freiheit? 2.3.1. Freiheitsträger Mensch Da es keine Freiheit an sich gibt, sondern Freiheit immer auf die Beziehung eines Bezugssystems zu seiner Umwelt zurückgeht, die hindernd oder fördernd auf es einwirkt, steht die Frage nach dem Freiheitsträger im Vordergrund. Sie nicht oder unpräzis gestellt oder falsch beantwortet zu haben, zählt zu den schwersten Fehlern in der Geschichte der Freiheitsphilosophie. Prinzipiell kommen auch andere Bezugssysteme in Frage („freier“ Fall oder „freies“ Schwingen eines Pendels), von Bedeutung ist aber nur die Freiheit von Lebewesen. Auch die Freiheit von Tieren kann beschrieben und gemessen werden, was für die artgerechte Haltung von Bedeutung ist. Schon im Hinblick auf das Beispiel Berliner Mauer, aber auch deshalb, weil nur der Mensch verantwortlich für sein Verhalten und Normadressat sein kann, soll hier nur von der Freiheit der Menschen die Rede sein. Freiheitsträger ist jeder Mensch, ist immer ein bestimmter Mensch als Individuum, als unteilbares Ganzes. Nur als solcher kann er sich auf eine von ihm bestimmte Art verhalten, kann von ihm bestimmte Handlungen begehen oder unterlassen. Freiheit als Voraussetzung dieses Verhaltens, bei dem der Mensch immer und ausschließlich in seiner Gesamtheit in Erscheinung tritt, kann sich sinnvoll nur auf das eines Verhaltens als Subjekt fähige Individuum beziehen. Unterhalb dieser Stufe gibt es keinen Freiheitsträger. „Innere“ Freiheit könnte sich nur auf bestimmte menschliche Organe beziehen wie die der Großhirnrinde vom Limbischen System, womit lange Zeit eine Freiheit des prinzipiell als moralisch höherwertig angesehenen Denkens vor den als niedriger erachteten Gefühlen und Instinkten angenommen wurde. Diese Ansicht wurde längst durch die Hirnforschung und deren Erkenntnisse über die Komplexität der Vernetzung des menschlichen Neurosystems widerlegt und widerspricht auch der praktischen Erfahrung. Gerade die ärgsten Verbrechen der Menschheit wurden gefühllos in zynischen Denkprozessen ersonnen (Holocaust) und benötigten zu ihrer Durchführung die Ausschaltung jedes Gefühlslebens und Gewissens. Davon abgesehen kann das Gehirn al-
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lein nicht tätig werden, sondern muss seine Anweisungen über das motorische System an den Muskelapparat des Individuums weitergeben. Und nur dieses, nur der ganze Mensch kann die wie immer zustande gekommenen Befehle der Steuerungseinheit ausführen. Ebenso verfehlt ist die Bindung der Freiheit an bloße Funktionen, die wie etwa der Wille zu diesem Zweck zu einer selbständigen Entität erhoben werden müssen. Derartigen hypostasierten Abstraktionen kommt jedoch keinerlei Realität zu, weshalb alle derartigen Spekulationen ins Leere gehen. Aus welchen Elementen sich der einheitliche Verhaltensantrieb zusammensetzt, welche Gefühlskomponenten mit welchen Denkprozessen zusammenoder gegen einander wirken, welche Rückkoppelungen positiver oder negativer Auswirkung den endgültigen Entschluss zur Handlung oder Unterlassung herbeiführen, mag die Naturwissenschafter interessieren, ist aber für das praktische Leben, in dem nur das Verhalten der Menschen und seine Folgen zählen, ohne Bedeutung. Die Menschheit steht erst am Anfang der wissenschaftlichen Erforschung dieser Prozesse und kann nicht auf eine Entflechtung derart komplexer Steuerungsprozesse warten, zumal nur ihr Resultat, der einheitliche Verhaltensantrieb, sein ausgelöstes Verhalten und dessen Folgen zählen. Darüber hinaus führt jede zergliederte Ursachenforschung in den unendlichen Regress und ins Dickicht des Determinismus – Indeterminismusstreits. Das Scheitern einer derartigen Freiheitsphilosophie ist bereits durch die Annahme des falschen Freiheitsträgers vorprogrammiert. Auch in praktischen Systemen wie dem Strafrecht hat ein auf den Willen und nicht auf die Tat und ihre Folgen gegründetes Willensstrafrecht auf allen Linien versagt. 2.3.2. Keine Freiheit der Kollektive Bildet das Individuum Mensch die Untergrenze eines möglichen Freiheitsträgers, bildet es in gleicher Weise auch seine Obergrenze. Es gibt keine Freiheit, die ein Kollektiv von Menschen als Freiheitsträger hat. Freiheit ist Sache der Individuen, ist Voraussetzung ihres Verhaltens, ihr Verlust betrifft nur sie und wird nur von ihnen wahrgenommen und erlitten. Während die Unterschreitung des Menschen als Freiheitsträger und die Annahme seiner Organe oder Funktionen als Bezugssystem auf die akademische Diskussion beschränkt und in der Praxis des Menschenlebens unbemerkt bleibt, hat die Überschreitung des Individuums durch Übertragung seiner Rolle als Freiheitsträger auf das Kollektiv weitreichende und immer fatale Folgen für die Betroffenen. Der einzelne Mensch wird durch die den natürlichen Gegebenheiten widersprechende Überwälzung seiner Rolle als Freiheitsträger auf das Kollektiv seiner Persönlichkeit beraubt und zum
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2. Die Freiheit der Menschen
Rädchen in einem nicht von ihm gelenkten Räderwerk, zum Bestandteil eines ihm übergeordneten Ganzen degradiert. Freiheit wird nach Hegel von Marx zur Einsicht in die Notwendigkeit (der Unterordnung) pervertiert. Das 20. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung zeigt besonders charakteristische Beispiele des Massenwahns des Kollektivismus im Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Weit über hundert Millionen Menschen sind diesen Wahnideen zum Opfer gefallen, die nur dadurch entstehen konnten, dass Millionen Menschen ihre Entpersönlichung und Freiheitsberaubung auf Grund falscher Ideologien, die von skrupellosen Politikern zur Tarnung ihrer persönlichen Macht- und Bereicherungsgelüste entwickelt und verbreitet worden waren, widerspruchslos hingenommen hatten. Dem Verlust ihrer Persönlichkeit als Träger ihrer Freiheit folgte die bedingungslose Unterwerfung unter die Wahnideen des Kollektivismus und die Enthebung von der mit der Freiheit verbundenen Verantwortung auf dem Fuß und ermöglichte so die scheußlichste Barbarei der Menschheitsgeschichte, den geradezu industriell betriebenen Massenmord von Millionen Menschen durch die Nationalsozialisten. Dem Rassenwahn gleichend forderte der Klassenwahn der Zwangskollektivierungen in der Sowjetunion und in China Millionen Tote, der japanische Kollektivchauvinismus verheerte Ostasien, das Pol Pot-Regime mordete Millionen Kambodschaner – die Opferreihe des Kollektivismus lässt sich auch heute noch fortsetzen. Allen diesen Systemen lag die ideologische Übertragung des Freiheitsträgers vom Individuum auf das Kollektiv, auf den Staat, die Rasse, die Klasse, die Volksgemeinschaft zu Grunde. Die Bezeichnung des neugeschaffenen Freiheitsträgers Kollektiv war ohne Bedeutung, ebenso die Ideologie, die sich als beliebig austauschbar erwies, wichtig war nur die Beraubung der Untertanen ihrer Identität durch Verlust ihrer Rolle als Freiheitsträger. Die Einzelheiten des Freiheitsentzugs durch Gesetze, bürokratische oder außergesetzliche Gewaltmassnahmen waren dann nur mehr ausführende Feinarbeit. Der Widersinn der bewusst geschaffenen Irrlehre über das Kollektiv als Freiheitsträger zeigt sich schon daran, dass mit der Freiheitsbeschränkung automatisch Akte der Gewaltausübung gegen die einzelnen Menschen, ihre Verhaftung, Folterung, Ermordung einher gehen, die von den Lenkern der Kollektive im Rahmen ihrer unbeschränkten Freiheit angeordnet und kontrolliert werden. Dass die im Kollektiv aufgegangenen Menschen in ihrer Gesamtheit oder als Mitglieder bestimmter Bevölkerungsgruppen verfolgt werden, ändert nichts daran, dass immer der Einzelne am eigenen Leib die gegen ihn persönlich ausgeübte Gewalt erfährt. Freiheit ist unaufhebbar mit dem Individuum als ihrem Träger verknüpft.
2.3. Wessen Freiheit?
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Der politisch abgewirtschaftete und überwunden geglaubte Kollektivismus kehrt allerdings im wissenschaftlichen Gewande der Systemtheorien wieder. Auch hier wird der Mensch seiner eigenständigen Persönlichkeit und damit seiner Freiheit entkleidet und findet sich nunmehr als Bestandteil nebuloser Systeme mit dem Leitspruch: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die Abwertung des Individuums zum Bestandteil wird hier zum wissenschaftlichen Inhalt erhoben. Die Analogie zum politischen Kollektivismus und damit die Gefährlichkeit der Auswirkungen liegt auf der Hand, wenngleich einer wissenschaftlichen Theorie die Sprengkraft der politischen Ideologie fehlt. 2.3.3. Die Fähigkeiten des Freiheitsträgers Die Freiheit jedes Menschen hängt von seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten ab, die den Rahmen seines Freiheitsraumes bilden. Nur innerhalb dieses Rahmens kann Freiheit entstehen. Dieser Rahmen ergibt sich in zweifacher Hinsicht: im Bereich der Freiheit von fremder Einwirkung, also im Ursachenbereich, wird Gegenwirkung aus der Umwelt umso wirkungsloser, je stärkere Fähigkeiten der Freiheitsträger aufweist; im Bereich der Freiheit zu selbstbestimmtem Verhalten erweitert sich der Freiheitsrahmen umso mehr, je mehr Tätigkeiten der Freiheitsträger auf Grund seiner Fähigkeiten auszuüben im Stande ist. So ist es technisch besonders begabten Menschen immer wieder gelungen, durch technische Tricks die Grenzbefestigungen der DDR zu überwinden. Körperliche und geistige Fähigkeiten zusammen bilden die einheitliche Größe, die in einem Kräfteparallelogramm zuzüglich fremder Hilfe als Gegenkraft zur Gegenwirkung aus der Umwelt die Resultante Freiheit ergibt. Mängel der einen Seite können durch höhere Fähigkeiten der anderen Seite ausgeglichen werden, Körperkraft durch geistige Fähigkeiten ersetzt werden und umgekehrt. Jeder Mensch durchlebt im Laufe seiner Entwicklung einen Aufbau- und später Abbauprozess. Körperliche und geistige Kräfte werden ausgebildet, Erfahrungen aus dem persönlichen Erleben werden eingebracht, Lernprozesse erweitern den Wissenshorizont, körperliche Funktionen werden trainiert. Auf diese Weise erhöht sich die Fähigkeit, eigenbestimmt zu handeln, aber auch die Fähigkeit, sich bestimmter Handlungen zu enthalten. Im Alter erfolgt dann wieder ein Abbau vorwiegend körperlicher Kräfte, später auch der geistigen Fähigkeiten. Was dem Freiheitsträger an körperlichen Kräften fehlt, kann durch Maschinen ersetzt oder ergänzt werden. Geistige Fähigkeiten werden ebenfalls durch Hilfsmittel ergänzt und verbessert und die Denkleistungen auf diese
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2. Die Freiheit der Menschen
Weise erhöht. Der Freiheitsträger gewinnt dadurch an Fähigkeiten, die ihm bei der Bestimmung seiner Freiheit zugute kommen. Dies gilt auch für die die Freiheit ihrer Mitmenschen unterdrückenden Machthaber. An der Berliner Mauer ließ die SED-Führung Selbstschussanlagen installieren, durch die ohne weiteres Zutun Flüchtlinge erschossen wurden, die der Grenze zu nahe kamen. Das Beispiel vom Fall der Berliner Mauer zeigt die Wirkung der Fähigkeiten des Freiheitsträgers besonders eindrucksvoll: Nicht gehfähige Ostberliner konnten sich entweder selbst mit Hilfe technischer Hilfsmittel wie Krankenfahrstühlen oder mit Hilfe anderer Menschen in den Westteil der Stadt begeben und so die neue Dimension ihrer Freiheit nutzen. Bettlägerige Patienten, die auch mit fremder Hilfe nicht transportfähig waren, hatten durch die Ereignisse unmittelbar keine Erweiterung ihrer Freiheit erfahren. Für sie war zwar die Gegenwirkung in Wegfall gekommen, aber mangels Fähigkeit zum Übergang in den Westen – auch mit fremder Hilfe – blieb ihnen Freiheit zu einem ihnen unmöglichen Handeln versagt. Es gibt keine Freiheit jenseits der Fähigkeiten des Freiheitsträgers (und der ihm zukommenden Hilfe aus seiner Umwelt). Dies gilt in besonderem Maß für genetisch tradierte Verhaltensprogramme, die den für den Fortbestand der Art nötigen Erfahrungsschatz der vielen Generationen von Vorfahren darstellt. Dazu zählen Instinkte, die Handlungsvorschriften beinhalten (etwa zur Aufzucht des Nachwuchses) und solche, die Hemmung artschädigender Handlungen bewirken (wie Tötungshemmungsinstinkte). Die Bezeichnung solcher ererbter Verhaltensvorschriften ist uneinheitlich, ihre Erforschung steckt noch in den Anfängen. Während es bei Tieren reichliche Erkenntnisse der Verhaltensforschung gibt, fehlen solche angesichts der weit größeren Komplexität der Verhaltensmuster bei Menschen fast zur Gänze. Wir wissen jedoch aus Erfahrung vom Gewissen der Menschen, das entweder vorauseilend Taten großer Sozialschädlichkeit verhindert oder nachträglich Reuegefühle hervorruft, dass es zwar verschieden intensiv ausgebildet sein kann, aber durchwegs Inhalte aufweist, die den Bestand der Art sichern helfen. Vorausgehend und bestimmte Taten verhindernd, wird die Freiheit der Menschen zu solchem Handeln eingeschränkt. Nachträgliche Reue über eine dem Gewissen widerstreitende, andere schädigende Handlung oder über unterlassene Hilfeleistung verhindert die Wiederholung solcher Untaten oder schränkt doch zumindest die Bereitschaft zur Wiederholung ein. Alle derartigen Mechanismen der Verhaltenssteuerung bedeuten nichts anderes als eine arterhaltende Einengung der Fähigkeiten und damit der Freiheit des Freiheitsträgers, dem bestimmte Fehlverhalten auf diese Weise unmöglich gemacht werden.
2.4. Freiheit wovon?
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2.4. Freiheit wovon? 2.4.1. Der Mensch und seine Umwelt Jeder Mensch lebt in seiner Umwelt, auf die er als Subjekt seines Handelns einwirkt (Umwelt 1) und die umgekehrt auf ihn als Objekt einwirkt (Umwelt 2). Diese beiden Umwelten sind nicht ident, sondern sowohl inhaltlich als auch in ihrer Ausdehnung verschieden. Die Reichweite der Wirkung der Menschen auf ihre Umwelt ist relativ gering im Vergleich zur Reichweite der Umweltwirkung auf die Menschen. Der Einzelne vermag wenig in seiner Umwelt 1 anzurichten, in der Gesamtwirkung aller oder auch nur vieler Menschen zählen jedoch auch verhältnismäßig geringfügige Handlungen, um auf die Umwelt der Freiheitsträger zu wirken. Umwelt darf hier nicht im ökologischen Sinn als heile Natur verstanden werden. Zur Umwelt 2 zählt vielmehr alles, was auf den einzelnen Menschen wirkt. Hier wirken Kräfte physikalischer, chemischer und biologischer Natur, Naturkatastrophen, das Wirken von Pflanzen, Tieren und anderen Menschen auf jeden Menschen ein. Zur Umwelt 1 gehören leblose Dinge und Prozesse ebenso wie alle Lebewesen, im Besonderen alle Menschen, die vom Tun anderer betroffen werden. Das Handeln der Menschen auf ihre Umwelt 1 und deren Bewohner, Lebewesen und besonders andere Menschen, erfolgt im Rahmen ihrer, jedem von ihnen zustehenden Möglichkeiten. Davon wird später im Punkt 2.5, der „Freiheit wozu“, und im Kapitel Verhalten die Rede sein. Bei der Freiheit von geht es um die Einwirkung der Umwelt 2 auf den Menschen, inwieweit sie die Freiheit des Freiheitsträgers fördert oder hindert oder gar verhindert. Da an eine Freiheitstheorie als Grundlage der praktischen Philosophie verhaltenstheoretische, ethische bzw. moralische Überlegungen anknüpfen und sich deren Forderungen nur an Menschen als Adressaten von Verhaltensvorschriften richten können, bleiben alle anderen als von Menschen verursachten Einwirkungen auf den Freiheitsträger außer Betracht. Es wird also das Verhalten anderer Menschen untersucht, soweit es Wirkungen auf den Freiheitsträger verursacht, die kausal für seine Freiheit sind. Von größter Wichtigkeit ist, dass diese Einwirkung auf den Freiheitsträger nicht allein für sich gesehen werden kann, sondern immer in Beziehung zu den in den in 2.3.3. beschriebenen eigenen Fähigkeiten des Freiheitsträgers gesetzt werden muss und erst diese Relation dann das Ausmaß der Freiheit beschreibt.
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2. Die Freiheit der Menschen
2.4.2. Mitwirkung und Gegenwirkung Nicht jede Einwirkung aus der Umwelt 2 bringt eine Beschränkung der Freiheit mit sich. Ganz im Gegenteil wäre ohne unterstützende Mitwirkung der Umwelt die Evolution der Lebewesen unmöglich. Sonnenlicht brauchen die Pflanzen als Basis ihres Stoffwechsels, Tiere als Wärmespender usw. In besonderem Maß gilt dies auch für zwischenmenschliche Beziehungen. Das Neugeborene benötigt die Hilfe der Mutter, um überhaupt existieren und heranwachsen zu können. Das Kind lernt durch Unterweisung, die ihm von anderen Menschen zuteil wird, seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten auszubilden, die dann das Maß seiner Freiheit mitbestimmen. Ohne diese Einwirkung würde es nie die Reife erreichen, die es zur Bewältigung seiner Aufgaben befähigt. Erst diese Hilfe formt den Menschen und seine Fähigkeiten und nützt so seiner Freiheit. Umgekehrt sind es vor allem Menschen, die durch ihr Handeln die Freiheit anderer beschränken. Wo liegt also der Unterschied, ob Fremdwirkung die Freiheit des Freiheitsträgers fördert oder behindert? Die Antwort liegt in der Richtung der Fremdeinwirkung: liegt sie in derselben Zielrichtung, die der Freiheitsträger einschlägt, und entspricht sie so seiner Verhaltensintention, handelt es sich um Förderung, in der Gegenrichtung aber um Freiheitsbeschränkung. 2.4.3. Freiheit als natürlicher Zustand Freiheit ist der natürliche Zustand. Man besitzt Freiheit (im Rahmen seiner Fähigkeiten), wenn sie einem nicht genommen wird. Die Beschränkung der Freiheit des Freiheitsträgers entsteht durch Handeln anderer Menschen. Wer Freiheit anderer behindern will, muss einen Aufwand an Information und Energie leisten, muss Gewalt ausüben oder für den Freiheitsträger glaubhaft androhen. Wo der natürliche Zustand Freiheit durch Gewaltausübung oder Gewaltandrohung anderer Menschen behindert wird, wo also Unfreiheit herrscht, kann diese durch eine gegenwirkende Gewalt auf den Freiheitsunterdrücker, sei es durch andere Menschen, sei es durch den Freiheitsträger selbst, beseitigt werden. Der Terror des Nationalsozialismus wurde nicht durch einen Aufstand des deutschen Volkes, sondern durch den Sieg der Alliierten beseitigt. Die Unterdrückung der Bevölkerung der DDR (und anderer mittelund osteuropäischer Staaten, vor allem Polens) durch den Kommunismus wurde aus eigener Kraft der Unterdrückten beendet. Dass hier der wirtschaftliche Zusammenbruch des Experiments einer durchgängig zentral gelenkten Staatsökonomie der Kolonialmacht Sowjetunion und ihrer Satelliten
2.4. Freiheit wovon?
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in Verbindung mit einer finanziell nicht verkraftbaren Rüstung zum Niedergang beitrugen und so die Fähigkeiten zur Unterdrückung schwächten, ändert nichts am entscheidenden Einfluss der Selbstbefreiung durch die Bürger der DDR (Polens und der anderen Oststaaten), ohne deren ständigem Druck die Entwicklung zur Freiheit nicht erfolgt wäre. Im Falle der Befreiung des Freiheitsträgers von fremder Unterdrückung wird Freiheit zur Errungenschaft. Dies ändert aber nichts daran, dass der Befreiungsakt nur den an sich natürlichen Zustand der Nichtbehinderung der Freiheit wiederhergestellt hat. Durch den Fortfall des Schießbefehls an der Berliner Mauer, an dessen Ernsthaftigkeit angesichts der zahlreichen Erschossenen nicht zu zweifeln war, war diese Gewaltandrohung beendet und damit der natürliche Zustand unbehinderter Reisemöglichkeiten wiederhergestellt. 2.4.4. Der Freiheitsträger als Objekt Der Freiheitsträger, der Subjekt seines selbstbestimmten Verhaltens ist, fungiert bei der Fremdeinwirkung aus seiner Umwelt auf ihn als Objekt. Aus diesem Grund kann er nicht als Subjekt seiner Freiheit bezeichnet werden, und zwar auch dort nicht, wo die fremde Mitwirkung, deren Objekt er ist, für seine Freiheit konstitutiv ist. Auch die auf ihm lastende Gegenwirkung aus der Umwelt macht ihn zu deren Objekt. Freiheit ist ihm dort möglich, wo seine Fähigkeiten die Gegenwirkung überwinden und wirkungslos machen. Dass dies bei verschiedenen Menschen verschieden ausfällt, liegt auf der Hand. Nur dort, wo keine Gegenwirkung zu dem von ihm geplanten Verhalten stattfindet, ist der Freiheitsträger nur Subjekt und nicht Objekt. Der auf den Freiheitsträger ausgeübte Zwang entsteht ausschließlich durch fremdes Handeln, niemals durch Untätigkeit. Nach seinem Zweck kann es Zwang zum Handeln oder zum Unterlassen bestimmter Handlungen sein. Der Zwang zur Verhinderung des Verlassens des Staatsgebiets ist ein Beispiel der zweiten Art, die Möglichkeit zur Ausreise ist Freiheit zum eigenbestimmten Handeln für die, die das auch wollen. Zwang zu aktivem Handeln bestand in der DDR in der Teilnahmepflicht an politischen Veranstaltungen, Schulungen, Extraschichten zur Erfüllung von Wirtschaftsplänen etc. In allen Fällen waren die Menschen Objekt fremder Willkürhandlung oder -androhung, die sie zu einem bestimmten von ihnen nicht gewünschten Verhalten zwang. Das Streben der Menschen nach Freiheit kann daher auch als Wunsch, nicht Objekt fremder Gegenwirkung zu sein, interpretiert werden. Mitwirkung anderer und Objekt deren Hilfe zu sein, ist dagegen stets erwünscht. Im Fall der Berliner Mauer erbrachten Fluchthelfer (meistens aus uneigen-
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2. Die Freiheit der Menschen
nützigen Motiven, seltener wegen Belohnung) diese Hilfeleistungen, indem sie Fluchtwege durch Tunnels, Schmuggel in LKWs oder auf andere Weise schufen. Dazu zählt auch der Menschenhandel über die Grenze, mit dem die DDR gegen Zahlung von Devisen durch die bundesdeutschen Behörden einzelne Personen auswandern ließ. 2.4.5. Wirklichkeit und Möglichkeit Freiheit ist Möglichkeit zu selbstbestimmten Verhalten. Wie aber steht es mit der Freiheit von fremder Gegenwirkung? Handelt es sich auch hier um ein Möglichkeitsverhältnis oder sind hier wirkliche Verhältnisse maßgebend? Wenn ja, wo setzen sie ein? Der Freiheitsträger ist frei nach Maßgabe seiner real existierenden Fähigkeiten, soweit nicht Gegeneinwirkung von anderen Menschen erfolgt. Um wirkliche Fähigkeiten wirkungslos zu machen, muss die Gegenwirkung wirklich erfolgen. Sie muss aber nicht in tatsächlicher Ausübung der Gewalt geschehen, es genügt die tatsächliche Androhung von Gewalt, soweit sie gefährliche Folgen plausibel macht. Die Gefährlichkeit liegt in der Glaubhaftigkeit, dass das angedrohte Übel tatsächlich erfolgt, wenn der Drohung entgegen gehandelt oder die verlangte Handlung nicht vollzogen wird. Jedes Strafgesetz ahndet nicht nur tatsächliche Gewaltausübung sondern auch die ernsthafte Drohung mit dem Vollzug von Gewalt. An der Berliner Mauer schuf bereits der vielfach vollzogene, allgemein bekannte Schussbefehl Unfreiheit in Bezug auf den Versuch eines Grenzübertritts nach Westberlin. Aus beiden wirklichen Faktoren und zwar den eigenen Fähigkeiten des Freiheitsträgers einerseits und dem Fehlen oder Nichtzureichen von Gegenwirkung andererseits entsteht ein Möglichkeitsverhältnis, die Möglichkeit zu selbstbestimmtem Verhalten, die wir Freiheit nennen. Gibt es aber keine glaubhafte und ernstzunehmende gefährliche Drohung mit schweren Nachteilen im Falle des Zuwiderhandelns, sondern unterwirft sich der Freiheitsträger in der Art vorauseilenden Gehorsams den Wünschen der Mächtigeren, handelt es sich nicht um reale Freiheitsbeschränkung sondern um opportunistische Liebedienerei, aus Furcht oder um eines erhofften Vorteils willen. Auch Beispiele dieser Art finden sich in der Geschichte der 56 Jahre Unfreiheit in Ostdeutschland in jeder Menge, vom Spitzeldienst für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR bis zurück zu den Helfershelfern und Nutznießern des Nationalsozialismus. Die Grenze zwischen diesen beiden Gebieten ist schwer zu ziehen, fließend und enthält erhebliche Grauzonen. Feigheit und Gleichgültigkeit, Sorge um die eigene Existenz und die Familie, Aussichtslosigkeit von Widerstand und Auflehnung, bei gleichzeitigem Bestreben, möglichst heil zu überdauern, spielten eine
2.5. Freiheit wozu?
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große Rolle bei dem damaligen Geschehen. Heute Unerklärbares erschien in Zeiten des Terrors möglicherweise aus einem anderen Blickwinkel. Sicherlich lassen sich heute aus der Distanz zu Zeit und Ort, aus der Geborgenheit der Demokratie und Freiheit strengere Werturteile fällen als damals in den Wirren der Ereignisse. Um so wichtiger ist es, zu erkennen, dass es immer Handlungen von Menschen gegen andere Menschen waren, die in Missbrauch arrogierter Macht und damit unbeschränkter Freiheit die anderen Menschen unterdrückten und ihrer Freiheit beraubten. Politischen Entwicklungen, die die Freiheit der Menschen bedrohen, muss daher frühzeitig entgegengetreten werden, um allgemeine Freiheit als wertvolles Gut der Menschen zu wahren.
2.5. Freiheit wozu? 2.5.1. Freiheit als Möglichkeit Freiheit ist die Möglichkeit zu einem vom Freiheitsträger selbst bestimmten Verhalten. Freiheit darf jedoch keineswegs mit dem Verhalten selbst gleichgesetzt werden. Ob das gewünschte Verhalten auch wirklich realisiert wird, ist für die Freiheit gleichgültig. Auch die nicht ausgenützte Freiheit zu einem Verhalten, das – aus welchen Gründen immer – nicht vollzogen wird, bleibt als objektive Tatsache Freiheit. Das vom Freiheitsträger gewünschte Verhalten bildet den Inhalt der aus dem Zusammenspiel von Fähigkeiten des Freiheitsträgers zuzüglich Mithilfe anderer Menschen gegenüber keiner oder einer schwächeren Gegenwirkung entstandenen Freiheit. Wird das gewünschte Verhalten vollzogen, muss die Freiheit hiezu während des gesamten Verhaltensvollzuges aufrecht bleiben, bis der mit dem Verhalten verbundene Zweck erreicht ist. Andernfalls wird es beim Versuch bleiben und die Realisation des Zieles abgebrochen werden müssen. Näheres zu diesem Thema findet sich im Kapitel 3 zur Verhaltenstheorie. Niemand ist absolut frei zu allem nur erdenklichen Verhalten. Daher ist es nur sinnvoll, von Freiheit zu bestimmtem Verhalten und zwar zu dem vom Freiheitsträger eigenbestimmten Verhalten zu sprechen. Es gibt unzählige Verhaltensmöglichkeiten, unzählige Freiheitsinhalte, weshalb eine generalisierende Betrachtung keinen Sinn ergibt. Jede für den Freiheitsträger bedeutsame Untersuchung muss sich daher auf ein ganz bestimmtes Verhalten beziehen, wie im Fall der Berliner Mauer auf die Möglichkeit, die Grenze zu überschreiten. Wichtig ist daher, das Untersuchungsfeld auf die Möglichkeit zu einem eigenbestimmten Verhalten in Bezug auf eine bestimmte räumlichzeitliche Situation einzugrenzen, um sich nicht im Uferlosen zu verlieren.
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2. Die Freiheit der Menschen
Ganz falsch wäre es aber, die Seinsgegebenheiten zu verlassen und ethische Erwägungen in die Frage nach der Freiheit zu einem vom Freiheitsträger eigenbestimmten Verhalten einzubeziehen und nach einer Freiheit „zum Guten“ zu suchen. Freiheit ist als Tatsache neutral zu einer moralischen Beurteilung des durch sie ermöglichten Verhaltens. Ob das mögliche Verhalten des Freiheitsträgers moralisch zu rechtfertigen ist, ob es an sich oder für einen bestimmten Menschen als „gut“ oder „böse“ zu bewerten ist, spielt für die Freiheit keine Rolle. Diese ist bereits erfüllt, wenn das vom Freiheitsträger gewählte Verhalten möglich ist. Es gibt Freiheit zum „Guten“ und zum „Bösen“, woraus sich eben die Notwendigkeit ergibt, einen Teil aller Verhaltensweisen über den Bereich der Freiheit hinausgehend ethischen Prüfungen zu unterziehen und Moralvorschriften anzuwenden. Die Ausführungen hiezu finden sich in den Kapiteln Ethik und Moral. An der Vermengung mit ethischen Gesichtspunkten sind viele der bedeutendsten Freiheitsphilosophen gescheitert. Zu 2.2.1. wurde bereits Kant als einer von vielen erwähnt, dessen ausweglose Freiheitsantinomien die Problematik der Vermengung dieser voneinander getrennten Betrachtungskreise durch Einbeziehung des Sittengesetzes in seinen Freiheitsbegriff zeigen. Man braucht nur die unzweifelhaft vorhandene Freiheit eines Hitler oder eines Stalin als unbeschränkte Herren über Leben und Tod, ihre Freiheit zu Terror jeglicher Art, der armseligen ungewissen Restfreiheit eines KZ-Häftlings oder GULAG-Verbannten, beschränkt auf die Hoffnung, diesen Tag gerade noch zu überleben, gegenüberzustellen, um zu erkennen, dass Freiheit nichts mit Ethik oder Moral zu tun hat. Gerade weil dies so ist, werden Ethik und ein Moralsystem von Verhaltensprinzipien und -vorschriften notwendig. 2.5.2. Kausalität und Finalität Im Bereich der Theorien zur Willensfreiheit wird die Annahme eines Indeterminismus, einer durchgängigen Unabhängigkeit des Weltgeschehens von vorgehenden Ursachen gefordert und dieser Indeterminismus teilweise mit einer ontologischen Interpretation der Unbestimmtheitsrelation Heisenbergs begründet, welche sich bis ins Alltagsgeschehen fortsetzen soll; allein aus Zufall könne Freiheit entstehen. Da die Ursache-Wirkung-Relation aber für jedermann beobachtbare Tatsache ist, wird hieraus wieder auf die Unmöglichkeit von Freiheit überhaupt geschlossen. Diese letztlich physikalistische Sicht, die noch dazu von einem hypostasierten Abstraktum Wille ausgeht, übersieht, dass für das Verhalten der Menschen nicht nur die Kausalität maßgeblich ist, sondern zu dieser zusätzlich eine in die Zukunft und auf den Zweck gerichtete Determination hin-
2.5. Freiheit wozu?
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zutritt, die Finalität. Der Freiheitsträger prüft das Ausreichen des gewählten Verhaltens zur Erreichung des angestrebten Ziels und erteilt sich dann Anweisung zum Handeln oder zum Unterlassen der vorgesehenen Handlung. Das ihm durch seine Freiheit ermöglichte Verhalten ist jedenfalls durch den Freiheitsträger determiniert und diese zu aller Kausalität hinzutretende Selbstbestimmung ist keine zufällige und schafft damit Verantwortlichkeit für die Folgen des selbstgewählten Tuns.
2.5.3. Freiheit als Erkenntnisgegenstand Freiheit ist Gegenstand eigener Erkenntnis des Freiheitsträgers. Sie ist aber auch Erkenntnisgegenstand für andere Menschen, die sie gleichsam von außen prüfen und beurteilen. In beiden Fällen sind wie bei jedem anderen Erkenntnisvorgang Fehler und Irrtümer möglich. Der Freiheitsträger hat, entsprechende Selbsterkenntnis vorausgesetzt, weniger Probleme bei der Beurteilung seiner eigenen Fähigkeiten, mehr jedoch bei der Beurteilung der Frage, ob und welche Gegenwirkung seinem geplanten Verhalten entgegensteht und welche Hilfe er von anderen Menschen erwarten kann. Hier kann es häufig böse oder angenehme Überraschungen geben. Umgekehrt hat der Gegner des Freiheitsträgers, der dessen Freiheit behindern will, nur geringe Schwierigkeiten, wenn er seine eigenen Fähigkeiten zur Verhinderung eines bevorstehenden Verhaltes des Freiheitsträgers überprüft. Er kennt aber die Fähigkeiten des Freiheitsträgers nicht genau und bewegt sich dort, ebenso wie bei der Möglichkeit von fremder Hilfeleistung an den Freiheitsträger im Bereich der Schätzung. Freiheit besteht als objektive Tatsache unabhängig von ihrer Erkenntnis durch den Freiheitsträger oder durch andere Menschen. Am 9.11.1989 haben viele Ostberliner nichts von den Ereignissen erfahren. Sie hatten Radio oder Fernsehgerät nicht eingeschaltet gehabt, waren früh zu Bett gegangen, hatten den Ausbruch von Freiheit verschlafen. Nichtsdestoweniger waren sie bereits an diesem Abend frei zum Übergang über die Grenze. Entgegengesetzt zum Nichterkennen der Freiheit können Fehler bei der Einschätzung der Situation zur falschen Annahme einer Scheinfreiheit führen, wo tatsächlich keine Freiheit zu einem bestimmten Verhalten besteht. Der Freiheitsträger wird dann beim Vollzug seines Verhaltens bemerken, dass er einem tragischen Irrtum unterlegen ist und scheitern. All diese Erkenntnisfehler können auch anderen Menschen unterlaufen, die die Freiheit des Freiheitsträgers beurteilen. Besonders kommt dafür der-
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2. Die Freiheit der Menschen
jenige in Frage, der diese Freiheit zu verhindern sucht. Dritte unbeteiligte Personen werden eher weniger Interesse für fremde Freiheit aufbringen.
2.5.4. Methodik der Fragestellung Aus der Interessenlage des Freiheitsträgers ergibt sich, dass im Vordergrund bei der Prüfung aller Aspekte des Freiheitsproblems zweckmäßigerweise vom geplanten Verhalten auszugehen ist. Dieses ist an der Kapazität der Fähigkeiten und ihrer Stärke gegenüber der zu erwartenden Gegenwirkung anderer Menschen zu messen. Reicht sie nicht aus, ist die Möglichkeit fremder Hilfe zu prüfen. Das Resultat aus diesen Beziehungen kann dann Freiheit oder Unfreiheit zum geplanten Verhalten sein. Die graphische Darstellung ist ein Kräfteparallelogramm der Fähigkeiten des Freiheitsträgers plus fremde Hilfe gegen fremde Gegenwirkung, die zielgerichtete Resultante ist dann die sich hieraus ergebende Freiheit. Unzweckmäßig und zu keinem Resultat führend wäre es, bei den beiden anderen Fragen zu beginnen, da für die Vielzahl verschiedener in Frage kommender Verhalten des Freiheitsträgers ganz verschiedene Ergebnisse herauskommen werden. Die sich aus Schabowskis Irrtum ergebende Möglichkeit zum Grenzübergang hat noch keine Freiheit zu weitergehendem Handeln, keine Freiheit zum sofortigen Sturz des verhassten DDR-Regimes, zur sofortigen Wiedervereinigung Deutschlands gebracht. Es mussten vielmehr noch zahlreiche Hürden zur Freiheit in diesem politischen Sinn aus dem Wege geräumt werden. Die Prüfung der Freiheitsfrage für die Ostberliner hatte daher beim geplanten Verhalten, dem Gang über die Grenze zu beginnen, den Wegfall des tödlichen Widerstandes in Form des Schießbefehles zu registrieren und gelangte dann nach Maßgabe eigener Fähigkeiten (Gehoder Transportfähigkeit) zur Erkenntnis der Erweiterung ihrer jeweiligen Freiheitsdimension. 2.5.5. Die Einheit der Freiheit Der Fall der Berliner Mauer hat den Ostberlinern eine neue Dimension ihrer Freiheit gebracht, die Möglichkeit der Freizügigkeit auch in den Westen, nach Westberlin und in die Bundesrepublik, zum „Klassenfeind“ statt wie bisher nur in die so genannten „Bruderländer“ zu reisen. Diese Errungenschaft stellt nur eine Erweiterung der bisher auch den Bürgern der DDR belassenen, wohl in weiten Bereichen beschränkten, aber rudimentär immer vorhandenen persönlichen Freiheit jedes Einzelnen zu von ihm bestimmtem Verhalten dar.
2.5. Freiheit wozu?
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Diese Freiheit jedes Individuums war zu Stalins Zeiten weit mehr eingeschränkt worden. Jeder stand unter dem Terror der Maschinerie des NKWDKGB, konnte jederzeit ohne Angabe von Gründen und ohne Verfahren verhaftet, gefoltert, in die Lager der GULAG verschleppt oder ermordet werden. Gleiches ereignete sich in der Zeit des Nationalsozialismus, vor allem in seiner Endphase. Dem gegenüber war die persönliche Freiheit im Laufe des Bestandes der DDR über Druck aus der Bevölkerung, durch Wirtschaftsbeziehungen mit dem sich wirtschaftlich rasant entwickelnden Westen und Krediten aus der Bundesrepublik langsam, aber stetig gewachsen. Die Fluchtbewegung ins andere Deutschland, das allen DDR-Flüchtlingen zur Niederlassung offen stand, hatte das Ihre zum zögerlichen Nachlassen der laufend große Finanzmittel verschlingenden Repression beigetragen. Das spektakuläre Ereignis, der 9.11.1989, war also keine gänzlich neue Freiheit, die eine bis dahin bestandene volle Unfreiheit abgelöst hatte. Es war der Gewinn einer Erweiterung bestehender Freiheit, eine Ausdehnung des individuellen Freiheitsraumes. Ältere Ostberliner hatten seit 1933, als Hitler zur Macht gelangte, eine schrittweise Beschränkung ihrer Freiheit erlebt. Für die jüdischen Bürger erfolgte die Freiheitsberaubung über Nacht durch Gesetzgebung, Durchführungsverordnungen, Willkürakte der „Reichskristallnacht“ und Verschleppung in Konzentrationslager bis in die industrielle Massenvernichtung der Todeslager vom Schlage eines AusschwitzBirkenau. Diese Beispiele zeigen, dass Freiheit eine Einheit darstellt, die am Freiheitsträger haftet und jeweils aus der Beziehung zwischen ihm und der Gegenwirkung und Mitwirkung aus der Umwelt resultiert, die ihm bestimmte von ihm gewählte Verhalten ermöglicht, während bestimmtes anderes Verhalten unmöglich ist. Verfehlt ist es, jedem der unzähligen möglichen Verhaltensweisen eine eigene Freiheit zuzuordnen und auf diese Weise von einer Vielzahl von Freiheiten zu sprechen. Es handelt sich immer um den nach Art und Wesen selben Freiheitsraum in verschieden weiten Ausformungen. Richtig ist, von einem Mehr oder einem Weniger an Freiheit eines Menschen, von höheren oder geringeren Freiheitsgraden zu sprechen. Diesen Erwägungen der Identität der Freiheit nach Art und Wesen steht nicht entgegen, wenn im Sprachgebrauch ohne Beachtung der vertikalen Gliederung nach den individuellen Freiheitsträgern eine horizontale Gliederung nach allgemeinen Sachgebieten der Freiheit zu etwas vorgenommen wird, die innerhalb der Identität der Freiheit der einzelnen Menschen gleichermaßen allen Freiheitsträgern zukommen: z. B. Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit etc. Das heißt, dass für alle oder für bestimmte Gruppen von Menschen gefordert oder dekretiert wird, dass ihnen
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2. Die Freiheit der Menschen
bestimmtes gleichartiges Tun möglich ist. Allgemeine Vorschriften wie Gesetze können die einzelnen Freiheitsträger nicht gesondert erwähnen, sondern müssen stattdessen sachbezogene Inhaltsbegriffe der Freiheit gebrauchen. Vor allem in den Grund- und Freiheitsrechten wird eine Garantie für Freiheit in bestimmten Belangen abgegeben. Diese Formulierungen sind historisch als Reaktion auf allgemeine Unfreiheit, Leibeigenschaft und Sklaverei, Gewissenszwang, Unterworfenheit unter Religionen, Standesvorschriften und ähnliches entstanden. Sie forderten historisch bestimmte Arten von Verhalten als frei zu erklären und diese Freiheit als Privileg vom Herrscher auf die Beherrschten umzuverteilen. Später stellen sie Freiheitsräume sicher, die auch vom Gesetzgeber nicht oder nur mit besonders qualifizierten Mehrheiten eingeschränkt werden dürfen. In dieser Abkehr vom Privilegiendenken und Hinwendung zur Sicherung von Freiheitsrechten zeigt sich auch der Wandel der Ansichten über die Stellung der Menschen. Aus heutiger Sicht stellt die Freiheit jedes Menschen den natürlichen Urzustand dar, der nicht durch Verleihung oder durch Gewährung begründet werden muss, sondern ausschließlich durch das Handeln anderer Menschen beschränkt wird, welchem Missbrauch Grund- und Freiheitsrechte vorbeugen.
2.5.6. Forderung nach Freiheit – Freiheitsverzicht Das Verlangen nach Freiheit, nach Möglichkeit zu eigenbestimmter Lebensgestaltung und selbstbestimmtem Verhalten kann bei allen Menschen (in verschieden starker Ausformung) beobachtet werden und ist daher als menschliche Naturkonstante anzusehen. Zu allen Zeiten, bei allen Völkern und Kulturen dieser Erde haben Menschen für die Erringung ihrer Freiheit große Opfer auf sich genommen, haben für sie gelitten und sind für sie gestorben. Freiheit ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Kultur der Menschheit. Sie ist stets in Gefahr, für eigensüchtige Interessen aufs Spiel gesetzt zu werden. Immer ist es aber die Freiheit der anderen, die geopfert werden soll, um die eigene Freiheit auszuweiten. Jeder muss daher eifersüchtig über seine Freiheit wachen, um sie nicht an andere zu verlieren, muss für seine Freiheit eintreten und jedem Versuch einer Minderung seiner Freiheit mit Entschiedenheit begegnen. Nun fordert aber die komplizierte Struktur der menschlichen Gesellschaft die Organisation von Systemen, in denen die Interessen der Einzelnen geschützt und das Zusammenleben der Menschen gefördert wird. Alle diese Systeme, staatliche und regionale Organisationen, Sicherheits- und Rechtswesen, Wirtschafts- und Verkehrswesen, setzen voraus, dass ein Teil der
2.6. Zusammenfassung
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persönlichen Freiheit abgetreten und diesen Strukturen zur Verfügung gestellt wird. Soweit dies im allseitigen Interesse geschieht, handelt es sich um Akte der Freiwilligkeit und damit um keine Freiheitsberaubung, um keine Unfreiheit in dem vorher geschilderten Sinn. Wo aber solche Gebilde zum Selbstzweck entarten und ihre Leitungsorgane immer mehr Freiheit ihrer Mitglieder an sich ziehen, wo immer größere Unfreiheit der Masse extremer Freiheit der diese Gebilde kontrollierenden Anführer und ihres Gefolges gegenübertreten, kommt es im Lauf der Entwicklung zu immer stärkerem Widerstand, zu Druck von unten, allenfalls sogar zum Kampf und letzten Endes zur Wiederherstellung einer Verbesserung der Aufteilung der Freiheit im Sinne von mehr Gerechtigkeit für die große Masse. Dies stellt aber keinen Akt der Zuteilung von Freiheit von oben her dar, sondern besteht im Wegfall eines von der Führungsschicht entgegen dem Machtaufteilungskonsens usurpierten und der übrigen Bevölkerung entzogenen Plus an Freiheit und in der Rückkehr zur allgemeinen Freiheit als natürlichem Zustand. Ein solcher Prozess kann sich über lange Zeiträume hinziehen. So bedeutet der mit dem Fall der Berliner Mauer eingeleitete Vorgang der endgültigen Befreiung eine Rückkehr zum natürlichen Zustand der Freiheit, wie er in den Zeiten der Weimarer Republik vor Hitlers Machtergreifung 1933 bestanden hatte und durch die Abschaffung von Demokratie und Rechtsstaat beseitigt worden war.
2.6. Zusammenfassung • Im praktischen Leben der Menschen ist Freiheit nicht: Willensfreiheit, bloße Fiktion, metaphysische Spekulation, abstrakte Wesenheit, Absolutum. • Freiheit ist keine ethische Kategorie, kein Wert (sondern wertvolles Gut). • Freiheit ist reale, beschreibbare, messbare Tatsache. • Freiheit entsteht aus der Beziehung eines bestimmten Menschen (Freiheitsträger) mit seiner Umwelt. • Grundfrage des Freiheitsproblems ist dreifach in unaufhebbarem Zusammenhang: Wessen Freiheit – wovon – wozu? • Freiheitsträger ist immer ein bestimmter Mensch in seiner Ganzheit seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten, unterstützt durch seine technischen Hilfsmittel. Nur das Individuum erlebt Freiheit. Kein Freiheitsträger sind Teile, Organe oder Funktionen des Menschen. Kein Freiheitsträger sind Gruppen (Kollektive) von Menschen.
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2. Die Freiheit der Menschen
• Einwirkung auf den Freiheitsträger durch andere Menschen in seiner Zielrichtung stärkt seine Freiheit, gegen seine Zielrichtung hindert seine Freiheit • Freiheitsträger ist Subjekt eigener Fähigkeiten, Erkenntnisse und Bestimmung seines Verhaltens, Objekt fremder Mit- und Gegenwirkung und Erkenntnisse, Adressat für Verhaltensanweisungen. • Freiheit von fremder Gegenwirkung: entweder keine oder zu schwache Gegenwirkung gegenüber seinen Fähigkeiten und allfälliger Mitwirkung kann Freiheit zu dem vom Freiheitsträger selbst bestimmtem Verhalten nicht verhindern. • Freiheit als natürlicher Zustand. • Freiheit als Errungenschaft: Gegenwirkung wird vom Freiheitsträger allein oder mit fremder Hilfe überwunden. • Freiheit ist zielgerichtete Resultante aus eigenen Fähigkeiten plus Mitwirkung minus Gegenwirkung. • Freiheit ist Möglichkeit zu selbstbestimmtem Verhalten, unabhängig von dessen Verwirklichung. • Freiheit besteht unabhängig von ihrem Erkanntsein durch den Freiheitsträger oder andere Menschen. • Einheit der Freiheit ist immer die individuelle Freiheit eines bestimmten Menschen bei verschiedener Ausfüllung des Freiheitsraumes. • Keine Mehrzahl von Freiheiten trotz horizontaler Generalisierung freier Verhaltensweisen in Gesetzen, Grund- u. Freiheitsrechtskatalogen. • Allgemeine Freiheit in der Demokratie. – Freiheitsentzug durch arrogierte Freiheitsfülle einzelner oder weniger Machthabender im Totalitarismus. • Selbsteinschränkung der Ausübung von Freiheit durch Moral- und Rechtssysteme.
2.7. Frieden – Freiheit von fremder Gewalt Ein besonderer Fall der Freiheit von fremder Gewalt liegt vor, wenn einander nicht Individuen gegenüberstehen, sondern Staaten als Organisationen, die mit militärischen Mitteln und hierarchisch strukturierten Formationen von Menschen unter Befehlsgewalt ausgestattet sind. In diesen Strukturen haben die ihnen Angehörenden ihre Freiheit zu selbstbestimmtem Verhalten weitestgehend verloren und fungieren als Befehlsempfänger einer kollektivistischen Befehlskette. Diese Struktur liegt in allen Militärverbän-
2.7. Frieden – Freiheit von fremder Gewalt
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den vor und weist je nach unterschiedlicher Offenheit und Demokratisierung des Staatsgebildes verschiedenartige Zwangsstrukturen auf. Im Zustand des Friedens besteht zwischen zwei oder mehreren Staaten wechselseitig Freiheit von fremder Gewalt und zwar sowohl von Gewaltausübung als auch von Gewaltandrohung. Es sind alle Formen zwischenstaatlicher Beziehungen möglich und nur eine Form ausgeschlossen, die Gewalt als Mittel zu dem von einem Staat angestrebten, von anderen jedoch abgelehnten Zweck. Stört einer der Staaten den Zustand gewaltfreier Gegenseitigkeiten durch Gewaltanwendung mit militärischen Mitteln oder Gewaltandrohung zwecks Erreichen einer Unterwerfung unter die Erpressung von Vorteilen, wandelt sich die friedliche Gegenseitigkeitsrelation in eine einseitige Aggression. Der Angreifer tritt als Subjekt der Schädigungshandlung dem Angegriffenen als betroffenem Objekt entgegen. Während der Angreifer seine Verhaltensfreiheit exzessiv ausübt, hat der Angegriffene seine Freiheit zur Beibehaltung des Friedens verloren. Dem Objekt bleibt nur mehr die Wahl zwischen militärischer Notwehr und damit Kriegsführung zur Abwehr des Angriffs oder Unterwerfung bei Aussichtslosigkeit der Gegenwehr. Daraus folgt, dass Frieden immer nur bei Gegenseitigkeit der Freiheit von Gewalt möglich ist, während der Friedensbruch allein vom Angreifer herbeigeführt wird. Frieden ist nicht das Gegenteil von Krieg, sondern wechselseitiger Respekt vor der Freiheit des anderen Staates. Frieden ist als gegenseitige Freiheit der natürliche Zustand, die Aggression zerstört ihn durch einseitigen Einsatz von Energie und Information gegen das angegriffene Objekt. Frieden zwischen Staaten erfordert die gegenseitige Bereitschaft, die natürliche Freiheit des anderen nicht anzugreifen und Frieden zu geben, um im Gegenzug Frieden zu haben. Verletzung des Friedens eines Staates und seiner Bevölkerung kann aber auch von Terrororganisationen ausgehen, die Gewaltverbrechen gegen Einzelpersonen oder Personengruppen verüben und auf diese Weise Forderungen nach Geld, nach politischen Konzessionen und nach Macht zu erpressen versuchen. Die wahren Absichten der Terroristen werden durch politische Parolen oder fundamentalistische Missinterpretationen religiöser Texte kaschiert, wobei die Etiketten beliebig austauschbar verwendet werden. Dem Terrorismus jeglicher Prägung kommt zugute, dass die Terrorakte in mitten der Bevölkerung erfolgen und die hochtechnisierten modernen Armeen nicht zur Bekämpfung eingesetzt werden können. Oftmals verbündet sich der politische oder pseudo-religiöse Terrorismus mit lokalen oder internationalen kriminellen Organisationen oder er lässt
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2. Die Freiheit der Menschen
sich von Staaten oder Staatengruppen finanzieren und logistisch unterstützen und mit Waffen und Sprengstoff versorgen, die ihm auch Rückzugsund Ausbildungsstätten zur Verfügung stellen. Derartige Allianzen stellen eine spezielle Form verdeckter Aggression dar und zwingen den Angegriffenen zu unpopulären, scheinbar von rechtsstaatlich garantierten Prinzipien abweichenden Schutzmaßnahmen, die aber tatsächlich Notwehr zur Bekämpfung der gegen den Staat und das Wohl seiner Bevölkerung entfesselten Aggression darstellen. In jedem Fall wird durch den Angriff die bestehende Freiheit des angegriffenen Staates und seiner Bürger verletzt und ihnen ein der Logik der Situation entsprechendes Verhalten aufgezwungen. Auch in solchen Fällen besteht keine Freiheit von fremder Gewalt, die als Gegenseitigkeitsrelation den Frieden konstituiert.
Das Problem
3. Das Verhalten der Menschen 3.1. Verhaltenstheorie 3.1.1. Gegenstand Gegenstand der Verhaltenstheorie ist in einer ersten groben Annäherung die Tätigkeit oder Untätigkeit eines Menschen in seiner Umwelt. Nicht zu diesem Verhaltensbegriff zählen innere Vorgänge und Prozesse (wie Stoffwechsel oder Denken) oder Zustände und Befindlichkeiten (wie Gesinnungen oder Gefühle). Maßgeblich ist vielmehr das „äußere“ Verhalten, mit dem jeder Mensch als unteilbare Einheit, als Subjekt, in seiner Umwelt in Erscheinung oder zu ihr in Beziehung tritt, in seiner Umwelt tätig wird oder untätig bleibt. Diese erste grobe Fassung des Oberbegriffes Verhalten muss jedoch in ihrer Unterscheidung von Aktivität und Passivität gesondert untersucht und näher präzisiert werden: Bei der nach außen in Erscheinung tretenden Abfolge menschlichen Tuns handelt es sich nicht um gestaltlose, nur durch Energie- und Informationsverbrauch und durch Zeit und Ort ihres Ereignens voneinander unterscheidbare Aktivitäten. Die Tätigkeit der Menschen erfolgt vielmehr in inhaltlich bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Einheiten, im „Etwas-BestimmtesTun“. Diese Tätigkeitseinheiten werden Handlungen genannt, der Vollzug dieser Tätigkeit handeln. Das Handeln und die Handlungen der Menschen bilden Gegenstand der Handlungstheorie, die aber nur den einen Teil der Verhaltenstheorie darstellt. Auch das Unterlassen erschöpft sich nicht schlechthin in bloßer Untätigkeit an sich, sondern bezieht sich auf das Unterbleiben einer bestimmten Handlung in einer bestimmten Situation. Das Verhaltensubjekt weiß genau, welche Handlung es unterlässt, ihm erscheinen die unterbliebene Handlung und der Vorgang der Unterlassung ihres Vollzuges als Einheit eines „EtwasBestimmten-Nicht-Tuns“. Dass ein unbeteiligter Beobachter unmittelbar nur ein Untätigsein des Subjekts sieht, spricht in keiner Weise gegen eine Erweiterung der nur Handlungen umfassenden Handlungstheorie in eine auch Unterlassung ein-
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3. Das Verhalten der Menschen
schließende Verhaltenstheorie. Denn das wesentliche Element einer Verhaltenstheorie im Rahmen der praktischen Philosophie bildet die Beschreibung und Typisierung des Verhaltens von Menschen in ihrer Beziehung zu anderen, im Verhalten eines Subjekts gegenüber einem Objekt. Dieses wird aus der Sicht der beiden Elemente dieser Beziehung, dem Verhaltenssubjekt einerseits und dem Objekt andererseits dargestellt, untersucht und sodann in der Ethik bewertet und kehrt als Moral-Prinzip oder -Vorschrift wieder zum jeweiligen Subjekt dieser Verhaltensweise als Adressat zurück. Aber auch dem in dieser Beziehung Unbeteiligten ist der Zusammenhang zwischen beobachtender Untätigkeit und unterbliebener Handlung prinzipiell erkennbar, sei es durch Analyse der Situation, sei es aus der Ankündigung der Beteiligten oder aus ihrer Befragung. Ein erkenntnistheoretisches Problem entsteht selbst aus einem von Unbeteiligten undurchschauten Zusammenhang nicht. Das „Etwas-Bestimmtes-Tun“ und das „Etwas-Bestimmtes-Nicht-Tun“, das Handeln und das Unterlassen einer bestimmten Handlung, stellen die beiden Arten des Verhaltens dar. Beide Arten ergänzen einander zu einem gemeinsamen Oberbegriff. Handeln oder Unterlassen, der Vollzug oder das Unterbleiben einer inhaltlich bestimmten Handlung, bilden ein einander ausschließendes Gegensatzpaar. Beide Arten des Verhaltens sind notwendige Bestandteile einer beschreibenden Verhaltenstheorie und Grundlage für eine darauf aufbauende Ethik als weitere Fortsetzung der praktischen Philosophie. Schon seit Aristoteles bildeten Handlungstheorien zumeist metaphysischer Grundlage (wie die Entelechie, das Streben der Welt nach Vollendung) vermengt mit ethischen Überlegungen einen Bestandteil der praktischen Philosophie. Unterlassungen wurden explizit nicht behandelt. Erst die junge Wissenschaft Ethologie, die durch Verleihung des Nobelpreises 1973 an Konrad Lorenz, Nikolaas Tinbergen und Karl v. Frisch anerkannte vergleichende Verhaltensforschung, konnte eine beschreibende Theorie des tierischen Verhaltens entwickeln, die schon im Hinblick auf ihre Verhaltenssubjekte frei von Metaphysik und Ethik blieb und auch dem Unterlassen zumeist arterhaltender Handlungen (wie der Brutpflege), aber auch dem im Ergebnis arterhaltenden Unterlassen von Aggressionshandlungen Beachtung schenkte. Die Ausdehnung von Erkenntnissen der Ethologie auch auf die Grundstufe menschlichen Verhaltens verlangt es, an die Stelle einer bloßen Handlungstheorie eine auch Unterlassungen umfassende Theorie des menschlichen Verhaltens zu setzen. Verhaltenstheorie befasst sich nicht nur mit dem Prozess des Verhaltens, sondern auch mit seinem Ergebnis, der Wirkung, die immer beim Subjekt, häufig aber auch bei anderen, dem betroffenen Objekt, eintritt. In diesem Kausalverlauf bildet das Verhalten die Ursache der durch sie entstehenden
3.1. Verhaltenstheorie
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Wirkung. Diese Wirkung wird in der Regel für das sie verursachende Subjekt positiv sein – mit Ausnahme der Verhaltensweisen der Selbstbeschädigung und der des altruistischen Verhaltens, bei dem sich das Subjekt zugunsten des Objekts verhält und dabei Nachteile für sich selbst in Kauf nimmt. Oftmals erwächst dem Objekt jedoch eine nachteilige Wirkung aus dem Verhalten des Subjekts, das seinen eigenen Vorteil zu Lasten des Objekts wahrnimmt. Nur dieses fremdwirkende, das Objekt belastende Sozialverhalten in der Subjekt-Objekt-Beziehung verursacht dem Objekt Probleme und bildet dann den Gegenstand der weitergehenden ethischen Untersuchung. Dagegen erübrigt sich die bewertende Befassung mit den beiden Gruppen der für das Objekt keine nachteilige Wirkung erzielenden Verhalten, dem nur auf das Subjekt wirkenden Individualverhalten und dem für das Objekt hilfreichen und nützliche Wirkung erzielenden Sozialverhalten. 3.1.2. Aufgabe Jeder Mensch vollbringt im Laufe seines Lebens unzählige Handlungen mit konkreten Inhalten. Da auf die meisten dieser vollzogenen unzähligen Handlungen meistens mehrere Handlungsmöglichkeiten entfallen, von denen jeweils nur eine ausgewählt und vollbracht wird, ist die Anzahl der unterbliebenen Handlungen um ein vielfaches höher als die der vollbrachten. Aufgabe der Verhaltenstheorie ist es nun nicht, sich mit jeder dieser vollzogenen oder unterbliebenen Handlungen zu beschäftigen – dies wäre in der Tat eine unlösbare und zudem keinen praktischen Sinn ergebende Aufgabe. Vielmehr ist es die Aufgabe der Verhaltenstheorie, die verschiedenen Arten und Weisen des Verhaltens in ihren typischen Aspekten zu erfassen, kategorial einzuteilen und in ein abstraktes Ordnungssystem zu integrieren. Dabei muss darauf geachtet werden, ausschließlich beschreibend vorzugehen und metaphysische Voraussetzungen und Deutungen ebenso zu unterlassen wie vorweg oder zugleich vorgenommene ethische Bewertungen. Nur auf diese Weise kann methodisch einwandfrei dem im Vorwort dargestellten Dualismus von Tatsachen und Maßstäben entsprochen werden. Wohl aber ist es zulässig, im Auge zu behalten, dass die Resultate der beschreibenden Verhaltenstheorie nicht für sich allein stehen, sondern als Grundlage für weiterführende ethische Betrachtungen dienen, weshalb sich aus Zweckmäßigkeitsgründen der Umfang der Verhaltenstheorie auf dasjenige Verhalten beschränken lässt, das anderen Probleme verursacht. Problemneutrale oder problemlösende Verhalten, die keiner ethischen Behandlung bedürfen, können auf diese Weise bereits in der deskriptiven Verhaltenstheorie unbearbeitet bleiben.
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3. Das Verhalten der Menschen
3.1.3. Übersicht über die Gliederung der Verhaltenstheorie Die beiden Arten Tätigkeit: Handeln Energieverbrauch Wirkung ändert Bestehendes greift in Prozesse ein
Untätigkeit: Unterlassen bestimmter Handlungen (im weiteren Sinn) kein Energieverbrauch keine Wirkung belässt Zustände und Prozesse unverändert Unterlassen (im engeren Sinn) von situationsbedingt notwendiger Hilfeleistung (so genanntes „deliktisches“ Unterlassen)
Die Richtung vorgegebene Ziele (aller Lebewesen) Selbsterhaltung und Arterhaltung
selbstgesetzte Zwecke (von Menschen) Verhalten als Selbstzweck oder Erfolg jenseits des Verhaltens erstrebt oder entstanden
Determinationsformen Kausalität ontologisches Verhältnis Verhalten als Ursache der Wirkung
Finalität Zwecksetzung: gewünschter Erfolg Zweckmäßigkeitsprüfung des Verhaltens als Mittel zum Zweck Vollzug verursacht Wirkung
Beteiligte Subjekt nur Mensch
Objekt jedes andere Lebewesen (Mensch, Tier, Pflanze) Ökosystem als Gesamtheit
Betroffene Eigenwirkung nur Subjekt erfährt Wirkung
Fremdwirkung auch Objekt erfährt Wirkung als nützlich: Hilfe löst Probleme als schädlich: Schädigung schafft Probleme direkt: Konfrontation indirekt: Wettbewerb um Güter Unterlassung situationsbedingt notwendiger Hilfeleistung belässt Objekt mittelbar in der Auswirkung schädlicher Zustände oder Prozesse
3.2. Die beiden Arten des Verhaltens
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Bestimmungsformen Freiheit Unfreiheit selbstbestimmtes fremdbestimmtes Verhalten Verhalten im Freiheitsrahmen Verhalten des Subjekts unter Zwang Freiheitsträger als Subjekt Interessenlage Problemverhalten objektschädliches Verhalten führt zu Regeln zum Objektschutz
Unproblematisches Verhalten keine Problemverursachung und keine schädliche Wirkung für Objekt nur Eigenwirkung oder Hilfe für Objekt keine Regeln erforderlich
3.2. Die beiden Arten des Verhaltens 3.2.1. Handeln Handeln ist die auf das vorgegebene Lebensziel oder auf einen selbst oder von anderen gesetzten Zweck gerichtete, von außen erkennbare Tätigkeit eines Menschen in seiner Umwelt. Handeln ist nicht bloße Aktivität ohne inhaltlichen Bezug, nicht das Tun an sich, sondern das „Etwas-Bestimmtes-Tun“. Die jeweilige Einheit dieses auf einen Erfolg ausgerichteten Tuns wird als Handlung bezeichnet. Ihr Vollzug ist das Handeln. Jedes Handeln beruht auf Muskeltätigkeit und verbraucht Energie und Information. Der Antrieb erfolgt durch Impulse über das Zentralnervensystem, an denen Großhirn, limbisches System und Hirnstamm rational und emotional beteiligt sind. Nur bei Reflexhandlungen verkürzt sich der Wege vom sensorischen Signal zum motorischen Impuls, da unmittelbare Reaktion auf den empfangenen Reiz erforderlich ist. Sonst ist der Handlungsimpuls jedoch das Resultat komplizierter Antriebs- und Hemmungsfaktoren, die in Regelkreisen gegeneinander verrechnet und aufeinander abgestimmt werden. Dabei spielen nicht nur die Erfahrung des Individuums selbst, sondern auch der genetisch überlieferte Erfahrungsschatz der Art, das Gewissen, in seiner arterhaltenden Funktion eine bedeutende Rolle. In seiner der Handlung vorauseilenden Wirkung als hemmender Faktor oder Antrieb begrenzt es sogar den Handlungsspielraum, im Nachhinein bewirkt es Gefühle der Genugtuung oder Reue und verhindert im letztgenannten Fall eine Wiederholung.
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3. Das Verhalten der Menschen
Jede Handlung findet an einem bestimmten Ort statt und hat somit eine räumliche Komponente. Diese ist wichtig für den Bezug zur Umwelt des handelnden Menschen, zu der auch andere Lebewesen (Menschen, Tiere und Pflanzen) gehören. Jede Handlung hat aber auch ihren Zeitverlauf. Der das Handeln bestimmende Antrieb muss die gesamte Zeit des Handlungsverlaufes aufrecht bleiben. Andernfalls wird die Handlung abgebrochen und es bleibt bei einer Teilhandlung oder (bei Abbruch schon im Anfangsstadium) bei dem bloßen Versuch oder der Vorbereitung einer Handlung. Beim Gedanken an eine Handlung oder bei ihrer Planung allein ohne jedes Handeln in der Umwelt des Subjekts ist einfach nichts geschehen, was Aufnahme in die Verhaltenstheorie erfordert. Diese stellt ja nur auf das Tätigwerden ab und nicht auf innere Prozesse. Der handelnde Mensch, das Subjekt der Handlung, tritt mit seiner Handlung als unteilbare Einheit, als Individuum, in seine Umwelt. Falls mehrere Menschen jeder für sich das gleiche tun, bleibt es immer individuelles Handeln, auch wenn es zufällig zu einer Aufschaukelung der Wirkung kommt (z. B. Börsenspekulation oder Massenpanik). Auch wenn mehrere Menschen koordiniert gemeinsam handeln, um gemeinsam einen bestimmten Zweck zu erreichen und gemeinsam eine bestimmte Wirkung zur erzielen (wie beim gemeinsamen Abwickeln eines Projektes oder beim Zusammenwirken zur Herstellung eines Produktes) liegen individuelle Handlungen der jeweiligen Teilnehmer des Gesamtwerks vor. Es bedarf des Antriebs jedes Menschen, der Muskeltätigkeit und Informationsverarbeitung jedes Individuums, um zur Erfüllung des gemeinsamen Zwecks tätig zu sein. Selbst wenn das gemeinsame Handeln unter Zwang erfolgt und das Individuum unter Verlust seiner persönlichen Freiheit nur in einem Kollektiv nach unausweichlichen Direktiven zu handeln hat (z. B. unter militärischer Befehlsgewalt), bleiben es immer Handlungen von Individuen in der Vielfalt ihrer persönlichen Ausformungen. Jedes Handeln erzeugt direkt oder indirekt Wirkung und stellt im Kausalverlauf die Ursache dieser Wirkung dar. Art und Weise der Handlung bestimmen die Wirkung. Diese ist bei normalem Kausalverlauf vorhersehbar. Bei Störungen des Kausalverlaufes oder Änderung der Situation kann es zu einer unerwarteten Wirkung kommen, ebenso bei Irrtum über die Eignung der Handlung, bestimmte Wirkung hervorzurufen. Eine Handlung die nur auf das handelnde Subjekt selbst wirkt, kann man als eigenwirkend bezeichnen. Eine auch auf andere Objekte der Umwelt (andere Menschen, Tiere und Pflanzen) wirkende Handlung als fremdwirkend. Was vorher zum gesamten Verhalten gesagt wurde, gilt insbesondere auch für das Handeln. Die Wirkung einer Handlung ist in der Regel nütz-
3.2. Die beiden Arten des Verhaltens
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lich für das handelnde Subjekt und nur ausnahmsweise für dieses schädlich (z. B. Selbstbeschädigung bis hin zum Selbstmord). Die Fremdwirkung einer Handlung kann für das von der Wirkung betroffene Objekt nützlich (z. B. bei Tätigkeit aller Heilberufe, Unterricht etc.), sehr oft aber auch schädlich sein (besonders bei allen Delikten des Strafrechtes). Allein diese letztgenannte Gruppe von Handlungen mit negativer Fremdwirkung auf ein Objekt bildet den Gegenstand einer an die Verhaltenstheorie anknüpfenden Ethik und wird daher in der Folge weiter zu behandeln sein. Wenn jedoch Fremdwirkung für das Objekt günstig ist, verbleibt dieses Handeln in der ausschließlichen Verfügungsmacht des Subjekts und bedarf selbst dann, wenn sich das handelnde Subjekt hierdurch in Gefahr begibt oder Nachteile erleidet, keiner ethischen Untersuchung und daher auch keiner Behandlung durch die hiezu vorgeschaltete beschreibende Verhaltenstheorie. 3.2.2. Unterlassen Wie bereits einleitend festgestellt, bedeutet „Unterlassen“ nicht bloßes Nichtstun, sondern das Unterlassen einer bestimmten Handlung in einer bestimmten Situation. Die unterbliebene Handlung und ihr Unterlassen bilden eine Einheit, die von der Absicht des Verhaltenssubjekts umfasst wird. Das Subjekt will die bestimmte Handlung in dieser Situation nicht ausführen und belässt die bestehende Situation oder den gerade in Gang befindlichen Prozess unverändert. Außer im eher ungewöhnlichen Prozess der Selbstbeschädigung, etwa durch Unterlassung von Nahrungsaufnahme, spielt sich die Unterlassung einer bestimmten Handlung immer in der Beziehung eines Verhaltenssubjekts zu einem davon betroffenen Objekt ab, welches die Wirkung des Unterbleibens der Handlung an sich erfährt. Diese Wirkung kann grundsätzlich für das Objekt nützlich oder schädlich sein, je nachdem ob die unterlassene Handlung dem Objekt schädliche oder nützliche Wirkung erzielt hätte. Unterbleibt eine dem Objekt schädliche Handlung, ist diese Unterlassung für das Objekt von Nutzen und kann im Sinne der Aufgabenbeschränkung auf Problemverhalten unbehandelt bleiben. Wurde die schädigende Tat nur erwogen oder geplant, kam es aber überhaupt nicht zu irgendwelchen Aktivitäten ihres Vollzugs nach außen, liegt ein Nichtereignis vor, dass sich nicht zum Gegenstand einer „äußeres“ Verhalten beschreibenden Verhaltenstheorie eignet. Zu umfangreich wäre dieses Schattenreich nicht erfolgter Handlungen für eine sinnvolle Erfassung und Bearbeitung. Hat eine schädliche Handlung bereits begonnen und wurde vor Eintritt von Schaden aus welchen Motiven auch immer vom Subjekt abgebrochen, kann vom Rücktritt vom Versuch gesprochen werden. Auch hier, in diesem
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3. Das Verhalten der Menschen
späteren Stadium, geht es um ein Ablassen von der geplanten Handlung zugunsten des Objekts – möglicherweise sogar in später Annahme eines moralischen Verbots – sohin kann eine solche Unterlassung der Vollendung verhaltentheoretisch außer Betracht bleiben. Der Begriff Unterlassung im engeren Sinne der Verhaltenstheorie, das so genannte „deliktische“ Unterlassen, steht für die vom Verhaltenssubjekt selbstbestimmte Verweigerung einer ihm möglichen und für das Objekt hilfreichen, situationsbedingt notwendigen Handlung. Es geht um ein gegen das Objekt abzielendes Passivbleiben, wenn ihm in einer Situation der Hilfsbedürftigkeit oder Notlage die nötige Hilfeleistung verwehrt wird. Der Schaden beim Objekt entsteht indirekt, indem das Verhaltenssubjekt ein Eingreifen in den für das Objekt schädlichen Zustand oder Prozess unterlässt, und das Objekt in seiner misslichen Lage verbleibt. Schädigungsabsicht steht bei der Unterlassung von Hilfe meistens nicht im Vordergrund, vielmehr will sich das Subjekt Mühen und Anstrengungen, vielfach auch eine Gefährdung durch die Hilfeleistung ersparen und nimmt dafür den nicht verhinderten Schaden des Objekts in Kauf. Zum Unterschied vom Handeln, das Energie und Information verbraucht, gibt es beim Unterlassen keinen Energieaufwand. Wohl aber wird Information benötigt. Das Subjekt muss erkannt haben, dass das Objekt die bestimmte Hilfehandlung in seiner Zwangslage benötigt, damit eine Verweigerung dieser Hilfe eine gegen die Interessen des Objekts gerichtete Unterlassung darstellt. Allerdings bildet das absichtliche Ignorieren der Notlage und die Verweigerung der Informationsbeschaffung in einer zweifelhaften Situation bereits den ersten Schritt zur Unterlassung von Hilfe. Die Situation, in der das Objekt Hilfe braucht, kann aus Naturereignissen, Mangelsituationen, Krankheiten, aus den Früh- und Spätstadien der Persönlichkeitsentwicklung hervorgehen, sie kann von anderen Menschen oder sonstigen Lebewesen, vom Subjekt oder vom Objekt selbst verursacht worden sein, es muss sich nur um eine Notlage des Objekts handeln, der das Subjekt mit seiner Handlung abhelfen könnte. Wie weit aus der Beziehung des Objekts zum Subjekt und aus der Verursachung der Notlage eine erhöhte Zumutbarkeit der Übernahme von Gefahren entsteht und Handlungspflichten abzuleiten sind, bleibt der ethischen Untersuchung und Bewertung vorbehalten. Von den vom Verhaltenssubjekt selbst bestimmten Unterlassungen sind die ihm durch das Handeln anderer Menschen aufgezwungenen Unterlassungen zu unterscheiden. Diese bilden einen Teil des durch Zwang fremdbestimmten Verhaltens, in dem das Verhaltenssubjekt zum Objekt von fremder Gewalt wird und dadurch seine Verhaltensfreiheit zu von ihm bestimmtem Verhalten einbüßt. Die Zwangshandlung zur Unterdrückung ist ein
3.3. Ziel und Zweck
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gesonderter Vorgang zwischen dem den Druck ausübenden Subjekt und dem von ihm gezwungenen Objekt, sich dem Zwang zu fügen und sich anders als gewünscht zu verhalten. Dieses erzwungene Verhalten kann bestimmte Handlungen, aber auch die Unterlassung bestimmter Handlungen beinhalten. Die Wirkung der Unterlassung kann sich auf ihr Subjekt, das Objekt des Zwanges, allein (Individualverhalten) oder auch auf das von der Unterlassung betroffene Objekt (Sozialverhalten) erstrecken. Mit der Berliner Mauer wurde die Unterlassung von Auswanderung oder Reisen in den Westen erzwungen, was zur ersten Gruppe gehört, mit nationalsozialistischen Terrormaßnahmen die Unterlassung von Hilfeleistung an verfolgte Juden, was zur zweiten Gruppe zählt (nähere Ausführungen zum fremdbestimmten Verhalten in 3.7.3.).
3.3. Ziel und Zweck 3.3.1. Das vorgegebene Lebensziel Für alle Lebewesen und damit auch für Menschen ist als Bedingung ihrer biologischen Existenz bereits das Lebensziel vorgegeben: Selbsterhaltung und Arterhaltung. Um ihren biologisch-thermodynamischen Prozess Leben aufrechtzuerhalten, müssen alle Menschen ständig handeln, Sauerstoff, Flüssigkeit und Nahrung ihrer Umwelt entnehmen und ihrem Stoffwechsel zuführen, müssen aber auch zeitweise ruhen, also untätig bleiben. Alle Vorgänge dieses Verhaltens dienen notwendig der Selbsterhaltung des Individuums Mensch. Die Nichteinhaltung zumindest eines Mindestmaßes dieses Verhaltens und damit ein Verfehlen dieses Zieles ist gleichzusetzen mit dem Ende der Existenz dieses Menschen. Die Weitergabe der Lebensfunktion durch Zeugung, Geburt und Aufzucht von Nachkommen ist vorgegebenes Ziel für den Weiterbestand der Menschheit und dient der Arterhaltung bei sonstigem Aussterben der Art Homo sapiens-sapiens. Dieser biologischen Zielvorgabe aller Lebewesen kann menschliche Zwecksetzung entgegengehalten werden, die entweder gegen das Ziel der Selbsterhaltung oder das Ziel der Arterhaltung gerichtet ist. Gegen das Ziel der Selbsterhaltung gerichtete Handlungen (z. B. Selbstmord) oder Unterlassungen (z. B. Verhungern) bilden die Ausnahme, kommen aber auch fallweise bei höheren Tieren vor. Die Arterhaltung dagegen unterliegt in Kulturbereichen aufgeklärter Menschen zumeist der freien Entscheidung, der durch Handlungen, aber auch durch Verzicht entsprochen werden kann. Bei Tieren findet sich die Tötung von eigenen Nachkommen aus Futtermangel
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3. Das Verhalten der Menschen
bei zu großer Nachkommenschaft oder von fremden Nachkommen zur Förderung des eigenen Genpools. Generell gilt für das gesamte vorgegebene Lebensziel, dass die Auswahl des konkreten Verhaltens dem einzelnen Menschen überlassen ist und er darüber – soweit handlungsfähig – selbst entscheiden kann.
3.3.2. Zwecke Das Verhalten der Menschen ist zweckbezogen. Menschen bestimmen den Zweck ihres Verhaltens selbst. Wie weit hier eigene Wünsche, fremde Vorbilder, wie weit Einhaltung von Regeln, Mitleid mit den Mitmenschen oder Sorge für nahe Angehörige eine Rolle spielen, hängt vom Charakter und der Persönlichkeit des Verhaltenssubjekts, wie weit äußere Einflüsse und Zwänge in seine Entscheidungsfreiheit eingreifen, von den äußeren Gegebenheiten der jeweiligen Situation ab. Die Bestimmung des Verhaltens durch die jeweilige Situation, in welcher bestimmte Verhalten als notwendig erscheinen, bezeichnet K. Popper als „Logik der Situation“ (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. II, Kap. 14, S. 114, 115). Der Zweck des Verhaltens kann im Verhalten selbst oder auch in einem Erfolg jenseits des Verhaltens liegen. Oft sind es Mischformen dieser beiden Zweckvarianten mit fließenden Übergängen. Handeln verbraucht Energie. Je mühevoller das Handeln ist, umso wichtiger ist die Bedeutung der auf den Erfolg gerichteten Zwecksetzung. Zwecksetzung steht für beide Arten des Verhaltens, für Handeln und Unterlassen, offen. Der angestrebte Erfolg kann positiv oder negativ gefasst sein. Ein gutes Beispiel stellt Goethes Gedicht „Gefunden“ dar: Ich ging im Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn worin sowohl das Verhalten als Selbstzweck (gehen) als auch eine negative Zwecksetzung (nichts zu suchen) dargestellt werden. Zwecksetzung erfolgt immer in Richtung Zukunft auf ein künftiges Verhalten oder darüber hinaus auch auf einen künftigen Erfolg hin. Wenn über den Selbstzweck des Verhaltens hinaus ein Erfolg angestrebt wird, ist eine Prüfung erforderlich, welche von mehreren möglichen Verhaltensweisen die geeigneteste oder, wenn nur ein bestimmtes Verhalten zur Verfügung steht, ob dieses Verhalten das geeignete Mittel ist, um den für die Zukunft vorgestellten Erfolg herbeizuführen. Es wird dabei gegen den Zeitverlauf rückläufig von dem in der Zukunft liegenden Erfolg zum Beginn des Kausalver-
3.3. Ziel und Zweck
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laufes hin die Eignung des Verhaltens überprüft, Mittel für den zukünftigen Erfolg zu sein. Erst bei positivem Ergebnis der Prüfung kommt es zum auslösenden Verhaltensantrieb und zum Ablauf des Verhaltens im realen Zeitverlauf (Finaldetermination). Das Verhalten verursacht dann die ihm gemäße Wirkung (Kausaldetermination), die bei falscher Einschätzung des Kausalgeschehens durchaus von dem erstrebten Erfolg abweichen und zu einem Misserfolg führen kann. Diese Zweckbestimmung durch das Verhaltenssubjekt setzt ein Denkleistungen ermöglichendes Gehirn voraus. Wie aus vielen Forschungen der Ethologie hervorgeht, können solche Denkleistungen ansatzweise auch bei höheren Tieren, besonders bei Primaten, festgestellt werden und bilden keine ausschließlich menschliche Errungenschaft. Die Entwicklungshöhe infolge der erheblich höheren Komplexität des menschlichen Gehirns erweitert jedoch die Möglichkeiten der Zweckbestimmungstätigkeit über die der Selbst- und Arterhaltung im Rahmen des vorgegebenen Lebenszieles dienenden Verhaltensprogramme des subkortikalen Bereiches hinaus und führt zu der immer schneller verlaufenden „kulturellen Evolution“ (mit allem Nutzen und allen Gefahren für die Menschheit). 3.3.3. Finalität und Kausalität Die Erkenntnis, dass es der Mensch selbst ist, der über den Zweck seines Verhaltens bestimmt, ist relativ neu in der Geschichte der Menschheit. Aus der Unterlegenheit einer Art gegenüber anderen stärkeren, schnelleren, mit gefährlicheren natürlichen Waffen versehenen Arten versteht sich die Überzeugung der Menschen von einem vorausbestimmten Schicksal, von einem Ausgeliefertsein, von einer Abhängigkeit vom Walten übergeordneter Mächte. Vom Vater der praktischen Philosophie Aristoteles stammt der Begriff Metaphysik und sein metaphysisches System der Entelechie, in dem sich die Welt zur Vollendung entwickelt und alle Natur darin auf diesen Endzweck angelegt ist. Zahlreiche andere teleologische Systeme, die Anlage und Ausrichtung des Weltalls auf den höheren Endzweck mit dem Menschen im Mittelpunkt zum Inhalt haben, sind durch Jahrhunderte hindurch dieser Tendenz gefolgt. Aus den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften ist jedoch bekannt, dass die Entwicklung des Weltalls in eine andere Richtung verläuft, dass unsere Sonne vergänglich und die Zeit der Bewohnbarkeit der Erde in kosmischen Dimensionen begrenzt ist. Das Werden und Vergehen von Lebewesen und Arten ist in seinen Ansätzen bekannt und wird immer weiter erforscht. Wo früher Geheimnis und Glaube an die Vorbestimmtheit des Schicksals standen, erkennt die Naturwissenschaft ein-
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3. Das Verhalten der Menschen
fache Kausalverhältnisse von Ursache und Wirkung im Allgemeinen und in der Entwicklung der Lebewesen von Mutation und Selektion der Unangepassten anstelle einer vorgegebenen Teleologie. Wo aber Finalität tatsächlich stattfindet, auf dem Gebiet der Zwecksetzung des menschlichen Verhaltens, waren philosophische Systeme versucht, dieses zum kausalen Weltgeschehen als Plus hinzutretende Produkt menschlicher Gehirntätigkeit in Abrede zu stellen, indem sie diese autonome menschliche Leistung in eine durchgehende kausale Determination des gesamten Weltgeschehens einbanden und damit die so genannte „Willensfreiheit“ verneinten. In einer praktischen Philosophie von heute ist zwischen der im Zeitverlauf erfolgenden realen Kausalität des Ursachen- und Wirkungszusammenhangs und der Finalität als Produkt menschlicher Zwecksetzung für ein auf einen zukünftigen Erfolg gerichtetes Verhalten, welches als kausal geeignetes Mittel hiefür erkannt werden muss, zu unterscheiden. Finalität schließt daher die ontologische Kausalität in sich ein. Das Kausalverhältnis UrsacheWirkung ist das Unabänderliche und muss bei sonstigem Scheitern richtig erkannt werden, um zur Grundlage der menschlichen Zweckbestimmung und Einschätzung der Erfolgsaussichten der Verhaltensplanung dienen zu können. Dass zur allgemeinen Kausaldetermination durch den Menschen ein Plus dazu tritt, hat schon Kant in seinem transzendentalen Freiheitsbegriff erkannt, wenn er von der Fähigkeit des Menschen spricht, autonom eine neue Kausalreihe beginnen zu lassen.
3.4. Wirkung 3.4.1. Übersicht
n
Über den Wirkungsbezug des Verhaltens auf dessen Subjekt S und Objekt O
n
Handeln nur Eigenwirkung auf
im Eigeninteresse nS : nützlich oder schädlich im Eigeninteresse
n
n : Hilfe O : Schädigung : schädlich für n direkt: Konfrontation
auch Fremdeinwirkung für O : nützlich für O
indirekt: Wettbewerb
3.4. Wirkung
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Unterlassen
n
einer situationsgemäß notwendigen Handlung, die für O nützlich wäre Eigenwirkung für Fremdeinwirkung für
nS : nützlich durch Vermeidung von Anstrengung, Gefahr schädlich durch Verweigerung von Hilfe nO : indirekt gegen schädlichen Zustand oder Prozess
3.4.2. Direkte und indirekte Wirkung Aus der Übersicht geht hervor, in welcher Weise und bei wem welche Art eines Verhaltens Wirkung hervorbringt. Das Handeln erzeugt immer Wirkung bei allen Beteiligten. Gleichgültig ob nur eigenwirkendes Individualverhalten oder fremdwirkendes Sozialverhalten wirkt jedes Handeln direkt zu Gunsten oder zu Lasten des handelnden Subjekts. Beim fremdwirkenden Sozialverhalten wirkt jede Handlung darüber hinaus auch zugunsten oder zulasten des davon betroffenen Objekts. Auch beim Unterlassen einer bestimmten dem Objekt hilfreichen Handlung tritt immer eine Wirkung und zwar eine nützliche beim Subjekt der Unterlassung ein. Das Subjekt erspart sich den mit der unterlassenen Handlung verbundenen Aufwand an Energie, vermeidet allfällige Gefahren, in die es durch die Handlung geraten wäre und steht somit günstiger da als beim Erbringen der hilfreichen Handlung. Anders ist es beim Objekt fremder Unterlassung, dort entsteht nur indirekte schädliche Wirkung. Denn die Unterlassung belässt einen bestehenden Zustand oder einen verlaufenden Prozess, ohne ihn zu verändern. Gerade dieser Zustand oder Prozess, der eine Gefährdung oder Schädigung des Objekts mit sich bringt, soll durch die hilfreiche Handlung im Interesse des Objekts geändert oder beendet werden, sodass die Unterlassung dieser Hilfe das Objekt indirekt schädigt. Bei den für das Objekt gefährlichen Zuständen oder Prozessen handelt es sich meist um solche, die sein Leben oder seine Gesundheit bedrohen wie z. B.: • eine Mutter lässt ihr Neugeborenes verhungern, • ein Arzt lässt einen Schwerkranken im Stich, • ein Feuerwehrmann unterlässt Löschaktionen, • ein Unfallverursacher lässt das Unfallopfer unbetreut.
64
3. Das Verhalten der Menschen
In allen diesen Fällen bestehen schädliche Wirkungen auf das hilfebedürftige Objekt, dem nicht geholfen wird. Die Unterlassung der situationsgerechten Hilfe wiegt umso schwerer, je mehr das Subjekt zur Entstehung der Notlage beigetragen hat, je gravierender die Not des Objekts ist und je weniger die Hilfehandlung das Subjekt belastet. 3.4.3. Eigenwirkungsverhalten Eigenwirkendes Verhalten ist ein Handeln oder Unterlassen, das ausschließlich sein Subjekt betrifft und keine Wirkung auf andere entfaltet. Da nur das Individuum, das dieses Verhalten setzt, betroffen wird, kann von Individualverhalten gesprochen werden. Das Hauptgewicht dieser Verhaltensart liegt in der Verneinung der Fremdwirkung. Es darf unter keinen Umständen zu einer Wirkung auf ein Objekt kommen, um die Qualifikation eines nur eigenwirkenden Individualverhaltens zu begründen. Bereits die Möglichkeit einer Wirkung auf andere lässt diese Qualifikation und die an rein eigenwirkendes Verhalten geknüpften Privilegien, das Unterbleiben jeder Einschränkung durch moralische Prinzipien oder Normen, wegfallen. Beim eigenwirkenden Individualverhalten handelt es sich um die Verhaltensweisen des privaten Lebensbereiches: wie jemand lebt, seine persönlichen Lebensverhältnisse regelt, wie er sich kleidet, seine Wohnverhältnisse gestaltet, ob er sich für Sport oder Kultur interessiert, ist Privatsache und unterliegt der Ausübung seiner vollen Verhaltensfreiheit. Dies gilt sowohl für Handlungen als auch für Unterlassungen und ungeachtet der durch dieses Verhalten hervorgerufenen nützlichen oder schädlichen Wirkung – dies immer unter der Voraussetzung, dass keine Wirkung auf andere möglich ist. Selbst extrem gefährliche Sportarten bleiben Individualverhalten, solange sie niemand anderen gefährden. Taucher, Paragleiter oder Extremkletterer gefährden niemand anderen bei einem Unfall. Tourenskifahrer hingegen, die eine Lawine auslösen, gefährden das Leben der Hilfsmannschaften, desgleichen in Seenot geratene Segler, die Rettung anfordern. Hier wird die Grenze zum fremdwirkenden Sozialverhalten überschritten. Überhaupt ist die Grenze zwischen den beiden Verhaltensarten fließend und kann sich, wie im Fall der Segler, durch unvorhergesehene und nicht durch Wetterdienste vorhergesagte Naturereignisse verändern. Allerdings lässt sich die Allgemeinheit Sicherungsmaßnahmen zur Verhütung von Gefahrensituationen des Individualverhaltens viel Geld kosten, das nur zum Teil durch freiwillige Spenden und Kostenverrechnung aufgebracht wird,
3.4. Wirkung
65
meist aber zu Lasten der Steuerzahler geht. Auch wo gesetzliche Anordnungen das handelnde Subjekt vor Gefahren schützen sollen wie z. B. Gurtenpflicht, Helmpflicht, etc. können die dadurch vermiedenen Kosten der Heilung einer Invalidität den Eingriff in die Privatsphäre rechtfertigen. Allerdings bedeutet die Zuordnung zur Privatsphäre der vollen Ausübung der Verhaltensfreiheit auch die Respektierung der Privatsphäre der anderen und Rücksichtnahme auf die herrschenden lokalen Sitten und Gebräuche. Auch jedes Individualverhalten unterliegt im Rahmen dieser Gepflogenheiten den bestehenden Verhaltsnormen. Musikausübung, die niemanden stört, ist Individualverhalten, fällt jedoch, wenn andere gestört werden, unter fremdwirkendes Sozialverhalten. Besonders schwierig erweist sich die Grenzziehung zwischen den beiden Verhaltensarten im Straßenverkehr mit seinen verschiedenen Gefahrensituationen. Wenn jemand von A nach B geht und niemanden gefährdet, liegt Eigenwirkungsverhalten vor. Wenn jedoch für denselben Zweck, von A nach B zu gelangen, ein Kraftfahrzeug verwendet wird, besteht die Möglichkeit, andere zu gefährden. Dann unterliegt dieses Verhalten bestimmten Normen des Straßenverkehrsrechtes, die der Schädigung anderer vorbeugen sollen. Die Ordnungsregeln für Fußgänger (Gehsteige, Übergänge) hingegen dienen vorwiegend dem Schutz dieser gefährdeten Verkehrsteilnehmer. 3.4.4. Fremdwirkendes Sozialverhalten Fremdwirkendes Verhalten nennt man ein Verhalten, das geeignet ist, Wirkung auf andere, auf ein oder mehrere Objekte zu erzeugen. Ob diese Wirkung für das Subjekt nützlich oder schädlich sein kann, ist hiefür nicht erheblich, das Verhalten muss nur geeignet sein, eine dieser beiden gegensätzlichen Wirkungen bei andern hervorzurufen. Es muss also einen vom Verhaltenssubjekt verschiedenen Betroffenen, es muss ein Verhaltensobjekt geben. Im Hinblick auf die beteiligte Personenmehrheit von einem Subjekt und zumindest einem Objekt, zwischen denen durch das Verhalten eine Subjekt-Objekt-Beziehung entsteht, ist dieses auch Fremdwirkung auf das Objekt verursachende Verhalten als Sozialverhalten zu bezeichnen. Damit wird nur auf den Wirkungsbezug zwischen den Beteiligten Bezug genommen, aber kein Werturteil über das Verhalten („soziales“ oder „unsoziales“ Verhalten) abgegeben. Für ein umfassendes System der praktischen Philosophie, die vom Beschreiben des Verhaltens zur Ethik und Moral führt, ist das auch fremdwirkende Sozialverhalten schon im Bereich der Verhaltenstheorie der wesentliche Teil gegenüber dem nur das Subjekt betreffende Individualverhalten, das auf niemand anderen Wirkung entfaltet und daher weder ethischer Un-
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3. Das Verhalten der Menschen
tersuchung noch moralischer Normen bedarf. Nur das Sozialverhalten, das Wirkung auf andere Betroffene hat, die dadurch zum Objekt dieses fremden Verhaltens werden, ist jene Verhaltensart, die im Interesse und zum Schutz der betroffenen Objekte weiter untersucht werden muss. Jedes Verhalten steht in einem örtlichen und zeitlichen Bezug. Es findet in der Umwelt des Verhaltenssubjekts statt. Im Fremdwirkungsverhalten tritt eine Beziehung zu einem Teil dieser Umwelt, zu anderen Lebewesen (anderen Menschen, Tieren oder Pflanzen) hinzu. Es wirkt dadurch auch in die Umwelt des Subjekts hinein. Auch das aus Handlungen oder Unterlassungen bestehende Sozialverhalten erzeugt immer Wirkung für das Verhaltenssubjekt, die ihm zumeist nützlich ist. Anderenfalls würde diese Handlung nicht begangen oder eine Hilfehandlung nicht unterlassen werden. Es gibt jedoch eine nicht zu geringe Gruppe von Verhaltensweisen, bei denen das Subjekt eine Handlung begeht, weil sie dem Objekt nützt, obwohl sie gegen seine eigenen Interessen gerichtet sein kann. Diese Hilfehandlungen im Interesse anderer nennt man altruistisch. Sie sind Ausdruck der aktiven Anteilnahme am Schicksal der Mitmenschen oder zumindest doch bestimmter Menschen, die in einem Naheverhältnis zum Subjekt stehen. Scheidet man die große Gruppe des für das Objekt nützlichen altruistischen Sozialverhaltens aus der weiteren Behandlung aus, bleibt nur mehr das Verhalten übrig, das geeignet ist, eine dem Objekt schädliche Wirkung zu erzeugen. Darunter fallen die das Objekt direkt oder indirekt schädigenden Handlungen (Konfrontativ- oder Wettbewerbshandlungen) und die das Objekt indirekt durch Unterlassung von notwendigen Hilfehandlungen schädigenden Unterlassungen. Beide schaden dem betroffenen Objekt und verursachen Probleme im Zusammenleben von Menschen oder widersprechen der natürlichen Ordnung der Umwelt mit ihren weiteren Lebewesen Tiere und Pflanzen. In weiterer Folge ist nurmehr von diesem Probleme verursachenden Verhalten die Rede.
3.5. Problemverhalten 3.5.1. Spaltungsverhältnis Subjekt – Objekt Jedes problemverursachende Verhalten ist beherrscht von dem Spaltungsverhältnis der einander entgegengesetzten Interessen des Verhaltenssubjekts und der davon betroffenen Objekte. Da das Subjekt sich so verhält, wie es seinen eigenen Interessen entspricht, gerät es in Konflikt mit dem Objekt und dessen anders gelagerten Interessen, sobald eine diesen Interessen schädliche Wirkung droht oder auch nur als möglich erscheint.
3.5. Problemverhalten
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Die Feststellung des Subjekt-Objekt-Spaltungsverhältnisses ist von größter Bedeutung für die Verhaltenstheorie aber auch – wie bereits angedeutet – daran anschließend für Ethik und Moral. Auf ihm beruhen alle praktischen Systeme des Staats- und Rechtswesens, aus ihm wird die Schutzfunktion der Ordnungsmacht zugunsten des Objekts abgeleitet. Keines dieser Systeme könnte ohne Unterscheidung der Interessengegensätze zwischen Täter und Opfer und deren Regelung funktionieren. Selbst das noch in einem frühen Entwicklungsstadium befindliche Völkerrecht hat den indifferenten Begriff Krieg aufgegeben und ist auf die die Subjekt-Objekt-Spaltung ausdrückenden Begriffe Aggression und Notwehr des Angegriffenen übergegangen. Die Philosophie ist jedoch bisher an diesem unaufhebbaren und zur ethischen Behandlung unverzichtbaren Spaltungsverhältnis vorbeigegangen. Das hat etwa im Bereich des Utilitarismus zum Kuriosum des hedonistischen Kalküls geführt, in dem Glück und Leid aller „Betroffenen“, d.h. aller Subjekte und aller Objekte, in einen Topf geworfen und daraus ein Mehr an Glück vieler Menschen – und sei es selbst durch Leiden einer geringeren Zahl anderer erkauft – gerechtfertigt wird. K. Popper hat in seinem Vorschlag eines „Negativen Utilitarismus“ dieser Missachtung des Leidens der Opfer eine deutliche Absage erteilt und vor den Folgen einer solchen Geisteshaltung nachdrücklich gewarnt. Das Spaltungsverhältnis des Problemverhaltens zwischen Subjekt und Objekt ist unaufhebbar, da auch der zugrunde liegende Interessengegensatz ein unüberbrückbarer ist. Es dauert auch über das Ende des Verhaltens hinaus, solange der angerichtete Schaden weiterbesteht, nicht beseitigt und die vor dem Verhalten bestandene Situation nicht wiederhergestellt ist. Wo dies nicht möglich ist (z. B. Mord oder dauernder Gesundheitsschaden), besteht das Spaltungsverhältnis des Interessengegensatzes weiter und geht auch auf die Hinterbliebenen über. Aus der fundamentalen Bedeutung des real bestehenden Subjekt-Objekt-Spaltungsverhältnisses folgt die Notwendigkeit seiner Einführung in die praktische Philosophie nach dem Vorbild der praktischen Rechtssysteme. Die Beachtung des Subjekt-Objekt-Spaltungsverhältnisses bildet nicht nur die Grundlage für den Gedanken eines kompromisslosen Objektschutzes, sondern ermöglicht über den Kreis der Menschen hinaus die Einbeziehung anderer Lebewesen, von Tieren und Pflanzen, in den Objektschutz. Auch hier sind die Systeme des Rechtswesens der Philosophie vorausgegangen und haben zahlreiche Vorschriften zum Tierschutz und zum Schutz ausrottungsgefährdeter Pflanzen erlassen. Der dafür notwendige Begriff des Schutzobjekts wäre ohne Berücksichtigung des Spaltungsverhältnisses zwischen Subjekt und Objekt ohne Grundlage und ließe sich speziell bei der
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3. Das Verhalten der Menschen
herrschenden anthropozentrischen Grundeinstellung der hochtechnisierten Menschheit nicht rechtfertigen. Besondere Bedeutung hat das Subjet-Objekt-Spaltungsverhältnis bei komplizierten Verhaltensweisen, die wegen ihrer Organisation großer Menschenmassen, Materialmengen und Aufbau einer Logistik lange Vorbereitungszeiten benötigen, beim Angriff von Staaten, Staatenbünden oder terroristischen Organisationen auf die Bevölkerung anderer Staaten, deren Organisationen und Einrichtungen, auf Bevölkerungsgruppen oder bestimmte, die Bevölkerung repräsentierende Funktionäre von Organisationen im Hinblick auf die bedeutende Gemeingefahr bis hin zur Existenzbedrohung der Menschheit (ABC-Waffen). 3.5.2. Objekte Der passive Teil der Subjekt-Objekt-Beziehung ist das Objekt, dem fremdes Verhalten geschieht, dessen Wirkung geeignet ist, ihm zu schaden oder zu nützen. Das Verhaltenssubjekt bestimmt sein eigenes Verhalten, das Objekt erfährt dessen Fremdwirkung an sich. Seine Objektrolle entsteht jedoch nicht erst mit dem Eintritt dieser Wirkung, sondern bereits aus der objektiven Möglichkeit, dass eine solche Wirkung eintreten könnte. Dem Objekt fremden Verhaltens kommt eine zentrale Rolle in der an die Verhaltenstheorie anschließenden Ethik zu. Seinetwegen ist es nötig, praktische Philosophie zu betreiben, seinetwegen wird Verhalten beschrieben und systematisiert, seinetwegen werden bei drohender Schädlichkeit Verhaltensregeln aufgestellt. Da diese eine Beschränkung der Ausübung der Verhaltensfreiheit darstellen und den Verhaltensspielraum des Individuums einengen, befasst sich die an die Verhaltenstheorie anschließende Ethik auch mit Fragen ihrer Rechtfertigung. Was ist nun die Eigenschaft des Objekts, die alle Fürsorge begründet? Das Objekt ist immer der passive Teil der Beziehung, dem bei der Handlung ein aktives, für sich und seine eigenen Interessen tätiges Subjekt gegenübersteht oder dem bei der Unterlassung dringend benötigte Hilfe versagt bleibt. Während das Subjekt die Steuerung des Geschehens in seinen Händen hält und jederzeit sein Verhalten ändern kann, ist das Objekt der Willkür des Subjekts und allen Nachteilen, die ihm daraus erwachsen können, mehr oder minder hilflos ausgeliefert. Aus dieser Schwäche seiner Position folgt die Notwendigkeit, ihm mit Verhaltensnormen zu helfen, wenn ihm Schaden droht. Ein dem Objekt nützliches Verhalten bedarf dieser Regeln nicht. Aus der Passivität des Objekts, das selbst nicht Adressat von Verhaltensnormen wird, folgt, dass sich der Kreis der Verhaltensobjekte über Men-
3.5. Problemverhalten
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schen hinaus auch auf andere Lebewesen erweitern lässt. Seit Kopernikus die Erde aus dem Mittelpunkt des Weltalls geholt und seit Darwin in seinem Werk „Origin of Species“ den Menschen seiner Rolle als Krone der Schöpfung entkleidet und ihn als Produkt einer Evolution der Arten erkannt hat, sind metaphysische Systeme mit dem Menschen als Endglied eines auf ihn als Höhepunkt und Endzweck angelegten Weltalls als widerlegt anzusehen. Seit diesen Entdeckungen wurden von den Naturwissenschaften, allen voran der Kosmologie, Astronomie, Astrophysik, Biologie, Genetik und Paläontologie mit ihren Unterfächern zahlreiche Spuren, Hinweise und Funde gesichert, die Zeugnis ablegen von der Evolution des Weltalls und der Entstehung und dem Vergehen kosmischer Gebilde sowie der vielen Arten von Lebewesen auf dieser im Kosmos so überaus unbedeutenden Erde. Dem sich als Endzweck des Universums und Herrscher über alle anderen Lebewesen denkenden Menschen wurde nicht nur seine Abstammung im Baum der Evolution vor Augen geführt, sondern auch seine nahe genetische Verwandtschaft zu Tieren, über die er sich weit erhaben wähnte. Von „Macht euch die Erde untertan!“ führte die Erkenntnis zur biologischen Nische und der Notwendigkeit der Anpassung im Organischen ebenso wie in den Verhaltensweisen, ohne welche die Gefahr der Selektion der unangepassten Arten eintritt. Artenschutz, der sowohl Tiere als auch Pflanzen einschließt, ist daher jenseits aller ethischen Überlegungen einfach eine biologische Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung der natürlichen Lebensgrundlage der Art homo sapiens-sapiens. Bereits aus diesem Gedanken sind auch Tiere und Pflanzen sowohl in deren eigenem als auch im Interesse der Menschen als Objekte der Subjekt-Objekt-Beziehung des menschlichen Verhaltens zu behandeln. Darüber hinaus bestehen persönliche Beziehungen zu Tieren in deren Rolle als unentbehrliche Haustiere, Gebrauchstiere, als Nahrungsmittellieferanten oder selbst als Nahrungsmittel, ohne die eine Evolution der Menschheit undenkbar gewesen wäre. Schon im Hinblick auf diese unentbehrliche Rolle sind Tiere als Objekte unseres Verhaltens in Verhaltensnormen einzubeziehen. Auf diesem Gebiet sind in letzter Zeit aus dem Gedanken der Partnerschaft Mensch-Tier zahlreiche Rechtsvorschriften ergangen, die ein Nachziehen der praktischen Philosophie an die dem täglichen Leben entsprungenen Normen des Schutzes des Verhaltensobjekts Tier vor dem Verhalten des Subjekts Mensch geradezu erzwingen. Im Pflanzenschutz ist es der unbedenkliche Raubbau der vergangen Zeit, der vielerorts noch heute anhält (Regenwald, Tundra, Sahelzone) und der Menschheit weltweit Lebensgrundlagen zu entziehen geeignet ist. Der Objektschutz ist hier auf das Verhalten der Menschen den Pflanzen gegenüber bezogen, ist aber zum Unterschied vom Objekt Tier mangels einer Erkennt-
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3. Das Verhalten der Menschen
nis über die Leidensfähigkeit der Pflanzen vorwiegend auf das Selbstinteresse der Menschen (anthropozentrisch) ausgerichtet. Darüber hinausgehend reicht der Artenschutz vor Ausrottung von Pflanzenarten in den Eigenanspruch dieser Objekte (biozentrisch). Was die Menschen als wichtigste Gruppe der Objekte fremden Verhaltens betrifft, ist damit jeder Mensch gemeint, gleichgültig, ob Kind, Erwachsener oder Greis, gleichgültig ob gesund oder krank, ob stark oder gebrechlich, ob im Anfangs- oder Endstadium seines Lebens, ob reich oder arm, ob altruistischer Helfer seiner Mitmenschen oder Verbrecher, gleichgültig, welcher Rasse, Klasse oder Religion ein Mensch angehört. Die Objektrolle ist nur an das Menschsein an sich gebunden, weiterer Voraussetzungen oder Qualifikationen für die Schutzwürdigkeit des Objekts bedarf es vom Standpunkt der Verhaltenstheorie nicht. Verschiedene Bewertungen z. B. der Priorität von Rettungspflichten finden zwar ihre Grundlage in faktischen Unterschieden der Hilfsbedürftigkeit, Lebenserwartung etc., stellen aber letztlich ethische Betrachtungsweisen dar. Es gibt auch keine Beschränkung des Objektbegriffes auf heute bereits lebende Menschen und sonstige Lebewesen. Auch zukünftige Lebewesen, auf die sich heutiges Verhalten auswirken kann, sind unter den Schutz des Verhaltensobjekts einzubeziehen, und zwar für einen Zeitraum, in dem die Wirkung des gegenwärtigen Verhaltens noch andauert. Bei atomarer Verseuchung gilt dies also für überaus lange Zeiten, in denen nachfolgende Generationen von Menschen und sonstigen Lebewesen zwar keinerlei Vorteile von heutiger Kernspaltung genießen, aber die Nachwirkungen dieser Vorgänge erleiden werden. Diesen bisher unberücksichtigt gebliebenen künftigen Objekten wird die gegenwärtig fehlende Vertretung ihrer Interessen in Form von Kuratoren oder ähnlichen Institutionen einzuräumen sein, damit diese die Schädlichkeit heutigen umweltbelastenden Verhaltens beurteilen und für den Schutz dieser künftigen Objekte eintreten können. Der Kreis der Verhaltensobjekte reicht daher in persönlicher wie auch in zeitlicher Hinsicht über den Kreis der Verhaltenssubjekte weit hinaus. 3.5.3. Nützlichkeit und Schädlichkeit Das vom Verhaltenssubjekt geplante Verhalten wird, soweit nicht in Ausnahmefällen altruistisches Verhalten vorliegt, seinen eigenen Interessen entsprechen und eine ihm nützliche Wirkung erzielen. Diese Interessenlage ist aber ohne jede Bedeutung und zu vernachlässigen. Für die Verhaltenstheorie im Rahmen der praktischen Philosophie kommt es ausschließlich darauf an, ob ein Verhalten schädliche Wirkung auf ein davon betroffenes Objekt erzielen kann, damit es der weiteren Behandlung
3.5. Problemverhalten
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durch Ethik und Moral zu unterziehen ist. Bei dieser möglicherweise schädlichen Wirkung handelt es sich um eine Tatsache, die nach folgender Methode festzustellen ist: Zunächst geht es um die Beurteilung nach objektiven Kriterien, wie sie beispielsweise in Strafgesetzen durch Beschreibung der mit Strafe bedrohten Tatbestände für die einzelnen Verhaltensweisen festgesetzt ist. Diese stellen verschiedene Intensitäten der gegen das Opfer (Objekt) gerichteten Verhaltensweisen dar (z. B. Mord, Tötung, Totschlag, Misshandlung mit Todesfolge) und sind nach Gruppen der bedrohten oder beschädigten Rechtsgüter des Objekts zusammengefasst (gegen Leib und Leben, gegen Gesundheit, gegen Freiheit, gegen Vermögen, gegen Ehre, gegen Rechtspflege etc.). Bei allen diesen mit Strafe bedrohten Deliktstatbeständen wird dem Täter unterstellt, dass er die dem Opfer schädlichen Folgen ohne Weiteres einsehen und vorhersehen konnte, sodass jede Berufung auf Unvorhersehbarkeit für ein nicht zurechnungsunfähiges Verhaltenssubjekt ausgeschlossen ist. Diese Einsichtsfähigkeit in die Schädlichkeit seines zukünftigen Verhaltens gilt uneingeschränkt auch in der Verhaltenstheorie. Der oft gebrauchte Pauschaleinwand, man könne unmöglich sämtliche Folgen des Verhaltens voraussehen, gilt hier umso weniger, als bereits die Möglichkeit schädlicher Folgen und nicht erst die Gewissheit eines Schadenseintrittes maßgeblich für die Anwendung der moralischen Regeln ist. Um aber jeglichem Zweifel vorzubeugen, ist hilfsweise wie folgt vorzugehen, wobei die Entscheidung des Objekts letztlich bindend ist: Ob ein bestimmtes Verhalten nützlich oder schädlich für ein bestimmtes Objekt ist, kann am besten das Objekt selbst beurteilen. Dies hat allerdings zur Voraussetzung, dass das Objekt dazu im Stande ist und seine Ansicht dem Subjekt rechtzeitig mitteilen kann. Die erste Voraussetzung dafür ist die Urteilsfähigkeit des Objekts. Wenn diese fehlt, hat darüber ein gesetzlich zu bestimmender Vertreter zu entscheiden. Die zweite Voraussetzung verlangt eine intakte Kommunikation zwischen Subjekt und Objekt, wobei es keine Rolle spielt, wer diese eröffnet. Wichtig ist darüber hinaus die Rechtzeitigkeit des Kontaktes, da der Vollzug einer für das Objekt schädlichen Handlung vor Erteilung der Zustimmung jedenfalls eine Verletzung der Interessen des Objekts darstellt, selbst wenn im Nachhinein bedingt oder unbedingt Zustimmung erteilt werden sollte. Bei Unterlassung hilfreicher Handlung wird eine Zustimmung von vornherein auszuschließen sein, zumal mit der Unterlassung im Sinne der dargestellten Begriffsdefinition nicht anzunehmen ist, dass vom Objekt der Fortbestand der Notlage gewünscht wird.
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3. Das Verhalten der Menschen
Bei Tieren als Objekten fehlt es an beiden Voraussetzungen, sowohl der Urteilsfähigkeit als auch der Kommunikationsfähigkeit. Daher werden objektive Kriterien, wie sie – allerdings meist in vagen Formulierungen – in Vorschriften enthalten sind (Tierquälerei, Beschreibung von Mindesterfordernissen der artgerechten Haltung, etc.), das Ausmaß der Schädlichkeit eines Verhaltens bestimmen und vom Verhaltenssubjekt in seinem Handeln oder Unterlassen zu berücksichtigen sein. Ebenfalls objektive Kriterien sind maßgebend, wenn Kommunikation zwischen Subjekt und Objekt unmöglich ist. Die beste Richtschnur zur Erkennung von zweifelhafter Schädlichkeit ist für das Subjekt die Anwendung der seit Jahrtausenden bei vielen Hochkulturen nachzuweisenden „Goldenen Regel“ in ihrer negativen Fassung: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu! Was das Subjekt selbst nicht erleiden möchte, wird daher auch für das Objekt schädlich sein. Diese Faustregel stellt eine verlässliche Handhabe für eine aus Gegenseitigkeitserwägungen abgeleitete Beurteilung der Schädlichkeit eines geplanten Verhaltens für das Objekt dar, ausgehend von der Annahme, dass sich das Subjekt so verhält wie die Mehrzahl aller Menschen. Besondere Abweichungen in der Persönlichkeit des Subjekts von allgemeinen Ansichten können hier allerdings zu subjektiv gefärbten Resultaten führen. Der Begriff Nützlichkeit trifft für alle Hilfe zu, die ein Objekt aufgrund von Bedingungen einer bestimmten Situation von einem Subjekt erwarten kann. Soweit diese nicht konkret bereits in speziellen Handlungsnormen enthalten sind, kann zur Bestimmung der Nützlichkeit wieder auf die Goldene Regel in ihrer positiven Formulierung zurückgegriffen werden: Behandle andere so, wie Du selbst behandelt werden willst! Wenn sich das Subjekt solcherart geistig in die Notsituation des Objekts versetzt, wird es zur richtigen Beurteilung des Begriffs der Nützlichkeit der notwendigen Hilfe gelangen. Umgekehrt ergibt sich hieraus für das Subjekt die Schädlichkeit der Unterlassung dieser Hilfe für das Objekt von selbst.
3.6. Absicht und Wirkung 3.6.1. Der beabsichtigte Erfolg Wie bereits in 3.3. ausgeführt, ist jedes Verhalten der Menschen ziel- und zweckgerichtet. Die Zwecksetzung betrifft entweder das Verhalten selbst oder einen Erfolg jenseits des Verhaltens, der durch das Verhalten herbeigeführt werden soll. Häufig sind auch Mischformen und fließende Übergänge dieser Formen der Zwecksetzung vorhanden wie etwa in nachfolgenden Beispielen mit jeweiliger Steigerung der Tendenz des jenseitigen Erfol-
3.6. Absicht und Wirkung
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ges: gehen um des Gehens willen, um die Natur zu genießen, um für einen Wettkampf zu trainieren, um von A nach B zu gelangen, wobei hier das Gehen gegenüber dem Erreichen des Zielorts in den Hintergrund tritt und eine sich bietende Fahrgelegenheit dem langwierigen Gehen vorgezogen wird. Der Zweck wird sprachlich durch den Finalsatz „um . . . zu erreichen“ zum Ausdruck gebracht. Dass ein Erfolg über das Verhalten hinaus angestrebt wird, bildet beim Handeln den Normalfall. Der Handelnde beabsichtigt damit vor allem, seinen eigenen Interessen zu dienen und Vorteile für sich oder ihm nahestehende Personen zu erlagen. Er strebt einen beabsichtigten Erfolg an, für den die betreffende Handlung als hiefür kausal geeignetes Mittel dienen soll. Bei der Unterlassung von Handlungen, mit denen dem Objekt Hilfe in Notsituationen geleistet werden soll, liegt der beabsichtigte Zweck nicht in der Unterlassung, im Passiv-Bleiben selbst, sondern in Vermeiden von Nachteilen, die dem Subjekt aus der Hilfeleistung entstehen können. Das Subjekt der Unterlassung will sich nicht Gefahren oder Mühen aussetzen, will als Unfallverursacher anonym bleiben oder ähnliches. Dabei wird um dieses vermeintlichen oder tatsächlichen Vorteils willen bewusst der Nachteil des Objekts, der diesem durch die Unterlassung der Hilfeleistung erwachsen kann und in der Regel auch erwächst, in Kauf genommen. Der Nachteil für das Objekt ist nicht der primäre Zweck der Unterlassung. Allein die Passivität des Unterlassens an sich bildet keinen Selbstzweck. Das Verhaltenssubjekt strebt sowohl beim Handeln als auch beim Unterlassen einen Erfolg für sich an. Auf ihn ist das Sinnen und Trachten des Subjekts gerichtet, um seinetwegen wird das Verhalten gewählt und unterbleibt die hilfreiche Handlung. 3.6.2. Das andere Resultat Das Verhalten stellt die kausale Ursache für die daraus entstehende Wirkung dar. Das Verhaltenssubjekt setzt den Zweck fest und strebt danach, einen bestimmten Erfolg mit seinem Verhalten zu erreichen. Es prüft vorweg die Eignung des geplanten Verhaltens in seinem kausalen Wirkungsbezug. Bei zutreffendem Prüfungsergebnis entspricht die kausale Wirkung dem finalen Zweck und erstrebtem Erfolg. Aber oft kommt es zu einem anderen als dem geplanten und auf den beabsichtigten Erfolg gerichteten Kausalverlauf. Entweder hat sich das Subjekt von vornherein über die Eignung seines Verhaltens als Mittel zur Erreichung des angestrebten Erfolges getäuscht oder haben sich während des Verhaltens ohne Zutun des Subjekts Änderungen der bestehenden Situation
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3. Das Verhalten der Menschen
ergeben, die die an sich richtige Einschätzung der kausalen Eignung verändert haben, oder der Verhaltensvollzug selbst ist fehlerhaft und führt zu einem nicht beabsichtigten Resultat. Bei der ersten Gruppe bleibt es beim Versuch mit untauglichen Mitteln (z. B. Giftmordversuch mit zu geringer Dosis), bei der zweiten Gruppe bleibt es beim bloßen Versuch wegen Dazwischentretens eines Hindernisses (z. B. eintreffende Polizei verhindert die Vollendung eines Bankraubes). In beiden Fällen unterbleibt der beabsichtigte Erfolg. Bei der dritten Gruppe kann der Erfolg ausbleiben (z. B. dem Einbrecher gelingt es nicht, den Safe zu öffnen), es kann aber auch zu einem nicht beabsichtigten gänzlich anderen Resultat kommen (A schießt auf B, trifft aber C). Bei Fehlern im Vollzug des Verhaltens kann sogar eine Handlung, die als Individualverhalten ohne Fremdwirkung geplant war, in ein fremdwirkendes Verhalten übergehen und von Anfang an nicht geplante Folgen für andere herbeiführen. Der Hauptanwendungsbereich sind die so genannten Fahrlässigkeitsdelikte, bei denen vorgeschriebene Sorgfalt nicht eingehalten und dadurch Gefahr oder Schaden für Objekte herbeigeführt wird (z. B. im Straßenverkehr durch Lenker von Kraftfahrzeugen). Hier hat das Subjekt zwar niemals beabsichtigt, jemanden zu Schaden kommen zu lassen, hat aber durch Rücksichtslosigkeit und mangelnde Vorsicht eine für andere gefährliche Situation geschaffen. Diese Möglichkeit auszuschließen, ist der Zweck der Verkehrsvorschriften, durch deren Übertretung für die unbeabsichtigte Wirkung einzustehen ist. Auch ohne Verletzung von Regeln kann Individualverhalten zu Gefährdung oder Schädigung der Umwelt führen, wenn es viele Menschen in gleicher Weise und zur selben Zeit ausüben. Der Massentourismus, der Massenverkehr, der Massenkonsum mit seinen Mengen von Abfall und seinem massiven Aufbrauchen der natürlichen Ressourcen bilden in ihrer Gesamtheit ein Problemverhalten, das immer bedrohlichere Formen annimmt und eine ernste Gefahr nicht nur für die anderen davon betroffenen Lebewesen, sondern auch für die handelnden Subjekte selbst und schließlich sogar für den Fortbestand der Menschheit bedeutet. Der vom jeweils Handelnden für sich erlangte Vorteil kehrt sich so zum Nachteil für alle um. Ausmaß und Grenzen der ökologischen Belastbarkeit werden durch unverrückbare Naturgesetzlichkeiten bestimmt. Die Erkenntnis und die Warnung vor gefährlichen Tendenzen sind Sache der Naturwissenschaften. Ökologische Ethik kann daran anschließen und auf dieser Tatsachenbeschreibung aufbauend nach Grundlagen zur Vermeidung der entstehenden Probleme suchen. Dabei sind auch die von den technischen Wissenschaften erarbeiteten Alternativen zu schädlichem Verfahren und Produkten heranzuziehen, wenn eine Bewertung von derart schädlichen Verhaltensweisen vorliegt.
3.7. Freiheit und Verhalten
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3.7. Freiheit und Verhalten 3.7.1. Möglichkeit und Wirklichkeit Die Freiheitstheorie beschreibt die Freiheit des Menschen als die von den geistigen Fähigkeiten und körperlichen Kräften des Individuums, vermehrt um Mitwirkung und verringert um Gegenwirkung aus der Umwelt, abhängige Möglichkeit zu selbstbestimmtem Verhalten. Der Freiheitsträger strebt danach, das Lebensziel Selbst- und Arterhaltung und seine von ihm selbst gesetzten Zwecke im Rahmen seines Freiheitsraumes zu erreichen. Nach Prüfung der Möglichkeiten zu selbstbestimmtem Verhalten und der kausalen Eignung als Mittel zum Zweck bestimmt er sein Verhalten und verwirklicht als Verhaltensubjekt durch den Vollzug eine der von ihm erkannten Möglichkeiten. Nicht erkannte Möglichkeiten bleiben ungenutzt, Fehlannahme tatsächlich nicht bestehender Verhaltensmöglichkeiten führt ebenso zum Misserfolg wie die verfehlte Einschätzung der kausalen Eignung des gewählten Verhaltens, ursächlich den erstrebten Erfolg zu bewirken. Meistens stehen mehrere Verhaltensvarianten als Mittel und mehrere Zwecke zur Wahl, fast immer aber die Alternative des Verzichts auf Verwirklichung. Übermächtige Gegenwirkung aus der Umwelt, der sich das Verhaltenssubjekt nicht zu entziehen vermag, kann das zu seiner Erreichung des gewählten Zwecks bestimmte Verhalten verhindern und ihm ein anderes Verhalten aufzwingen. Das Verhaltensubjekt ist dann nicht Freiheitsträger für das fremdbestimmte Verhalten. Als Fremdbestimmung ist nur die von außen kommende Beschränkung der Verhaltensfreiheit anzusehen. Mangels entsprechender Fähigkeiten kann diese Freiheit bei Personen, die ihre Lebensführung nicht selbst besorgen können, nicht entstehen. Die Wahrnehmung ihrer Interessen durch Ersatz der ihnen fehlenden Fähigkeiten und die Einflussnahme auf ihr Verhalten durch Eltern oder Sachwalter stellt daher keine Fremdbestimmung dar, die immer eine Vernichtung bestehender Freiheit durch Verhinderung der Ausübung von bestimmten Verhaltensmöglichkeiten voraussetzt. Es handelt sich dabei vielmehr um Mitwirkung aus der Umwelt, die durch Ergänzung fehlender Fähigkeiten Freiheit aufbaut.
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3. Das Verhalten der Menschen
3.7.2. Selbstbestimmtes Verhalten Bei der Selbstbestimmung handelt es sich um einen vielschichtigen inneren Prozess des Freiheitsträgers und Verhaltenssubjekts, an dem immer mehrere Bereiche des Zentralnervensystems in einander beeinflussenden Schalt- und Regelkreisen beteiligt sind und unbewusst und bewusst, emotional und rational, unter Verwendung und gegenseitiger Verrechnung der in den verschiedenen Teilbereichen gespeicherten Daten aus der Erfahrung der Art und der Person, unter Abwägung der Vor- und Nachteile zu einem Resultat gelangen, das als Verhaltensantrieb die Steuerung der Motorik des Verhaltenssubjekts besorgt und so ein selbstbestimmtes Verhalten bewirkt. Aus dem Routinebetrieb des Unbewussten werden neue, gefährliche und komplizierte Probleme in die Ebene des Bewusstseins gehoben, das vor allem Kontrollfunktionen übernimmt. Die Komplexität der beteiligten Zellen und Verbindungen der Nervenbahnen und die Unzahl der daraus erwachsenden Kombinationsmöglichkeiten lassen im derzeitigen Frühstadium der Gehirnforschung und am Anfang der bildgebenden Verfahren keine verlässlichen Aussagen über das Zusammen- und Widerspiel der einzelnen Faktoren zu, die über beobachtbare Frequenzen wie Durchblutung, Verbrauch von Sauerstoff und Glukose in einzelnen Partien oder Konsequenzen des Ausfalls ganzer Areale hinausgehen. Die derzeit noch anhaltende, weitgehende Undurchsichtigkeit der inneren Vorgänge der Entscheidungsfindung des Verhaltenssubjekt und die Unmöglichkeit einer monistischen Zuordnung der Entscheidungsgewalt an ein einzelnes Organ bedeutet für die Verhaltenstheorie keine gravierende Belastung, da es ihr auf das Resultat dieser komplexen Prozesse der Selbstbestimmung, auf das durch den einheitlichen Verhaltensantrieb gesteuerte Verhalten ankommt. Das Individuum Mensch tritt als unteilbare Einheit durch sein Verhalten in seine Außenwelt und nicht irgendwelche Teile, Organe oder Funktionen und vollends nicht eine hypostasierte Abstraktion „Wille“. Dieses Individuum ist kraft seiner Fähigkeiten im Stande, durch eigene Zwecksetzung, Wahl der kausal als Mittel geeigneten Verhalten und deren Vollzug, autonom neue Kausalketten zu beginnen. Dieses selbstbestimmte Verhalten unterliegt der vollen Verantwortlichkeit des Verhaltenssubjekts. 3.7.3. Fremdbestimmtes Verhalten Anders als beim einheitlichen Vorgang des selbstbestimmten Verhaltens mit seiner Identität von Freiheitsträger und Verhaltenssubjekt ist dem fremdbestimmten Verhalten ein weiterer Prozess vorgeschaltet, in dem eine weitere Person oder Personenmehrheit als Subjekt Zwang auf das fremd-
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bestimmte Verhaltenssubjekt ausübt, um ein anderes als das von diesem selbstbestimmte Verhalten zu erreichen. Diese zwangsausübende Handlung stellt eine übermächtige Gegenwirkung dar und lässt Freiheit zu dem selbstbestimmten Verhalten erst gar nicht entstehen oder unterdrückt sie, wenn der Zwang während des Vollzuges eines selbstbestimmten Verhaltens einsetzt. Der von dieser Handlung zu einem vom Zwang ausübenden Subjekt Gezwungene wird zum Objekt der Zwangshandlung, ist nicht Freiheitsträger, bleibt aber Verhaltenssubjekt des dann fremdbestimmten Verhaltens. Er vollzieht dieses Verhalten gemäß fremder Zwecksetzung und Mittelwahl mit eigenem Antrieb und von ihm gesteuerter Motorik. Er wird dadurch nicht zum ferngesteuerten Roboter, sondern bleibt selbstständiges Vollzugsorgan, jedoch nicht eigener sondern fremder Bestimmung. Der fremdbestimmende Zwang wird immer durch aktives Handeln ausgeübt, passiv bleiben reicht dafür ebenso wenig aus wie das Versprechen von Vorteilen oder Bitten oder Appelle. Es muss sich um die Androhung eines erheblichen Übels handeln, das dem Objekt des Zwanges für den Fall angetan wird, dass es sich widersetzt und das ihm befohlene Verhalten nicht vollzieht. Das erzwungene Verhalten kann dagegen in einem aktiven Handeln oder in Passivität bestehen und zwar im Unterlassen von hilfreicher Handlung, also Unterlassen im engeren Sinn, ebenso wie im Abstehen von schädigender Handlung. In der zeitlichen Abfolge liegt die Zwangshandlung vor dem dadurch erzwungenen Verhalten, da dessen Inhalt vom Zwang umschlossen ist, hält aber in der Wirkung während des gesamten Vollzuges des erzwungenen Verhaltens an. Das Subjekt des Zwanges bestimmt das erzwungene Verhalten und setzt dessen Zweck fest. Auch hier ist diesem Zweck der Zweck der Zwangshandlung vorgeschaltet, der in der Unterwerfung des genannten Objekts durch Vollzug des fremdbestimmten Verhaltens als Verhaltenssubjekt besteht. Die Zwangshandlung stellt einen selbstständigen, in sich geschlossenen Prozess dar, der allen Merkmalen des selbstbestimmten Verhaltens entspricht und als solcher dann der ethischen Bewertung und Moralanwendung unterliegt. Der Erfolg des Zwanges wird maßgeblich durch die Schwere des angedrohten Übels, die Unentrinnbarkeit und die Persönlichkeitsstruktur des unter Zwang gesetzten Objekts beeinflusst. Alle diese Faktoren müssen von dem Zwang ausübenden Subjekt berücksichtigt werden. Ein Misserfolg kann dabei in zweierlei Hinsicht eintreten. Wenn der Gezwungene sich weigert, das ihm aufgetragene Verhalten zu vollziehen und die dafür angedrohten Konsequenzen auf sich nimmt, ist die zweiteilige Aktion bereits im ersten Vorgang gescheitert. Im anderen Fall kann das erzwungene und durchgeführte Verhalten ein ungeeignetes Mittel zur Erfüllung des vom Zwang
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3. Das Verhalten der Menschen
ausübenden Subjekt gesetzten Endzwecks sein. In beiden Fällen ist ihm bei seiner finalen Planung ein Irrtum über die kausale Eignung des Zwangsmittels oder des erzwungenen Verhaltens unterlaufen. Die Zwangshandlung kann in einzelnen Akten zwischen Subjekt und Objekt erfolgen oder in generellen Anordnungen mit Zwangscharakter durch Androhung von Sanktionen enthalten sein. Das erzwungene Verhalten kann sich auf bestimmte konkrete Situationen oder generell auf bestimmte Kategorien von Verhaltensweisen beziehen, Einzelpersonen, Personengruppen oder alle Menschen des faktischen Einflussbereichs betreffen. Das durch Zwang beeinflusste Verhalten umfasst: • Handeln und Unterlassen (im weiteren Sinn jede Inaktivität) • Individualverhalten mit Wirkung allein auf das Verhaltenssubjekt • Sozialverhalten mit Wirkung auch auf ein Objekt • Nützlichkeit oder Schädlichkeit der Wirkung
3.7.4. Das Abgrenzungsproblem Die Abgrenzung des fremdbestimmten vom selbstbestimmten Verhalten stellt ein schwerwiegendes Problem der praktischen Philosophie dar. Erwächst doch aus dem selbstbestimmten Verhalten die Verantwortlichkeit des Verhaltenssubjekts für die daraus entstandenen Folgen im Allgemeinen und für die einem anderen verursachten Schäden im Besonderen. Andererseits wird als Entschuldigung für schädigendes Verhalten häufig Fremdbestimmung durch Zwang eingewendet. Oft sind die Grenzen zwischen beiden Verhaltensarten fließend, undeutlich und schwer zu durchschauen. Es bedarf daher einer eingehenden Analyse der einzelnen Faktoren des fremdbestimmten Verhaltens, die zu einer Abgrenzung von selbstbestimmten Verhalten mit allen ihren Konsequenzen führen kann. Wie weit kann ein Verhaltenssubjekt, auf das Druck von außen ausgeübt wird, sich auf eine ihm befohlene Art zu verhalten, diesem Zwangs widerstehen, welche Folgen hat es in dem einen Fall des Nachgebens, welche in dem anderen Fall des Ungehorsams zu erwarten, welche Nachteile bringt ihm und anderen jede der beiden Varianten, welche Persönlichkeiten sind es, die einander bei der Ausübung des Zwanges als Subjekt und Objekt gegenüber stehen, von welcher Bedeutung ist das angedrohte Übel einerseits und die Wirkung des erzwungenen Verhaltens beim Gezwungenen und bei allfälligen weiteren Objekten dieses Verhaltens, wie das Verhältnis des Zwangsausübenden zum Objekt seines Zwanges und beider zum letztlichen Objekt dieses Verhaltens?
3.7. Freiheit und Verhalten
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Der von Popper festgestellte Dualismus von Fakten und Maßstäben verweist die Untersuchung der Tatsachen in die Kompetenz der deskriptiven Verhaltenstheorie. Hier sind die Antworten auf die vorigen Fragen zu suchen und hier ist das Gewicht und die Bedeutung der einzelnen Faktoren gegen einander abzuwägen, um daraus die notwendige Abgrenzung vorzunehmen. Die ethische Bewertung und Anwendung moralischer Maßstäbe ist erst dann aufgrund der festgestellten Tatsachen vorzunehmen. Sie ist methodisch einwandfrei überhaupt dann erst möglich. Zu untersuchen sind die Einzelheiten des zweigliedrigen fremdbestimmten Verhaltens, beginnend mit der den Zwang ausübenden Handlung ihres Subjekts auf das Objekt, der Art und Schwere des angedrohten Übels, der sich daraus ergebenden Unentrinnbarkeit, über den Zweck der Zwangshandlung und des erzwungenen Verhaltens des hiezu genötigten Verhaltenssubjekt, Art und Wirkung dieses Verhaltens auf das Verhaltenssubjekt und das davon betroffene Objekt bis zur Prüfung der jeweiligen Nützlichkeit oder Schädlichkeit der Auswirkungen auf die vom fremdbestimmten Verhalten Betroffenen. Erst aus der Abstimmung dieser Faktoren und der Abwägung ihrer Bedeutung kann die Erkenntnis gewonnen werden, ob tatsächlich fremdbestimmtes Verhalten erzwungen wird, ob das Subjekt dieses Verhaltens sich dem Zwang entziehen konnte und selbstbestimmtes Verhalten vollzogen hat. Schon einige wenige Beispiele zeigen die große Komplexität dieses Fragenkreises: A. Zwang zu nur eigenwirkendem Individualverhalten: 1. Zwang zu nützlicher Handlung: – Schutzhelm tragen (sonst Entfall von Versicherungsleistung) – an Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen (sonst Streichung von Beihilfezahlungen) – Häftlingsarbeit als Sozialleistung (sonst keine Vergünstigungen) 2. Zwang zu schädlicher Handlung: – Erpressung von Schutzgeldzahlung – Sklaverei – Zwangsarbeit – Kinderarbeit – Zwangsprostitution – von Hitler erzwungene Selbstmorde hoher Generäle (sonst „Sippenhaftung“)
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3. Das Verhalten der Menschen
3. Zwang zu nützlicher Unterlassung: – Zwangseinweisung zu Suchtgiftentzug, Abstinenzerzwingung und – Selbstmordprävention 4. Zwang zu schädlicher Unterlassung: – Zwang, Löschmaßnahmen bei Brand zu unterlassen – Zwang zur Unterlassung gegen diskriminierte Bevölkerungsgruppen wie – Verbot der Benützung von Verkehrsmitteln, Parkbänken, – Studierverbote gegen Abkömmlinge von Klassenfeinden B. Zwang zu fremdwirkendem Sozialverhalten: 1. Zwang zu für das Objekt nützlicher Handlung: – Nothilfezwang bei Naturkatastrophen zugunsten der Opfer, – zu Rettungsmaßnahmen bei Grubenunfällen – Kapitän eines sinkenden Schiffes zwingt Matrosen mit Waffengewalt, die Rettungsboote den Passagieren zu übergeben 2. Zwang zu für das Objekt schädlicher Handlung: – Schießbefehl an der Berliner Mauer zur Freiheitsbeschränkung – Hitlers Kommissarerlass zur Ermordung sowjetischer Politoffiziere – Folter zur Erlangung von Informationen, zu Verrat von Geheimnissen, Organisation oder Komplizen – Bankräuber zwingt Kassier zu Tresoröffnung und Geldausfolgung 3. Zwang zu für das Objekt nützlicher Unterlassung: – Strafverfolgung als generelles Abschreckungsmittel zur Verhinderung der Begehung von Delikten zugunsten der Bevölkerung 4. Zwang zu für das Objekt schädlicher Unterlassung: – Verbot bei Todesstrafe, politisch Verfolgten zu helfen, sie vor Deportation zu verstecken, sie mit Nahrung zu versorgen, – Verbot „Feindsender“ zu hören zwecks Uninformiertheit der Bevölkerung Bei Gegenüberstellung dieser willkürlich ausgewählten Beispiele aus der Praxis des Menschenlebens zeigen sich innerhalb des fremdbeeinflussten Verhaltens bestimmte Gemeinsamkeiten die zunächst eine grobe Einteilung gestatten: Die Beispiele A1 und A3 sowie B1 und B3 stellen sich als Maßnahmen zur Ausübung einer Ordnungsgewalt dar, die weitgehend Fürsorgecharakter
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aufweisen. Teilweise kommen auch ökonomische Gesetze der Ersparnis von sonst auflaufenden Sozialaufwendungen zum Tragen. Erzwungenes Individualverhalten zum Nutzen des Verhaltenssubjekts und erzwungenes Sozialverhalten zum Nutzen seines Objekts benötigen keine weitere Bearbeitung, da der Zwangscharakter dem Nutzeneffekt gegenüber in den Hintergrund tritt. Es handelt sich dabei um Vorgänge, wie sie der Rechtsstaat seinen Bürgern zu ihrem Wohl in Ausübung der ihm von ihnen übertragenen Macht angedeihen lässt. Dagegen bilden die Beispiele A2 und A4 sowie B2 und B4 typische Vorgehensweisen krimineller Individuen oder Organisationen oder totalitärer Unrechtsstaaten. Hier wird Macht über Menschen missbraucht, um das Objekt zur Unterwerfung unter die Nötigkeitshandlung zu zwingen und durch sein Verhalten Vorteile für das zwangsausübende Subjekt zu erpressen. Beim Zwang zu selbstschädigendem Verhalten kommt es bei den Beispielen A2 zu erzwungenen Handlungen des Objekts der Zwangshandlung, wodurch die zweifache Gliederung des Gesamtprozesses deutlich sichtbar wird. Bei den Beispielen A4 findet nur die Zwangshandlung statt, eine Aktivität ihres Objekts, sich selbst zu helfen, wird damit verhindert. Dieses ist gezwungen, seine Hilfsbedürftigkeit unverändert weiter bestehen zu lassen (sein Haus abbrennen zu lassen, Verkehrsmittel oder Parkbänke nicht zu benutzen, seine Kenntnisse nicht durch Studium zu erweitern). Die Beurteilung der Zwangshandlung und des dadurch bewirkten Schadens, der dem Subjekt des Zwanges zuzurechnen ist, reicht in diesen Fällen zu ethischer Bewertung aus. Von besonderer Bedeutung ist die Abwägung der einzelnen Elemente bei der Beurteilung des mit Schädigung eines anderen Objekts verbundenen, erzwungenen Verhaltens. Dessen Verhaltenssubjekt bemüht sich zumeist, die Verantwortung für sein Tun abzulehnen und sich auf unwiderstehlichen Zwang zu berufen. Bei allen Prozessen wegen Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind solche Einwände an der Tagesordnung und bilden den Schwerpunkt des Prozessgeschehens. Hier werden die Intensität des ausgeübten Zwanges, die Schwere des angedrohten Übels und die Unmöglichkeit des Widerstandes oder Sich-Entziehens den Folgen des erzwungenen Verhaltens, dem Schaden, den das Objekt erlitten hat, gegenübergestellt und gegeneinander abgewogen. Je nach dem Ergebnis kann Verantwortlichkeit angenommen oder abgelehnt werden. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es dem Gezwungenen Vorteile bringen kann, wenn er dem Druck nachgibt und durch Vollzug des Auftrages den ihm sonst drohenden Schaden an das Opfer seines erzwungenen Verhaltens weitergibt. Alle diese Überlegungen, die bei solchen Prozessen im Nachhinein vom Gericht angestellt werden, müssen, sobald der Zwang in Erscheinung tritt,
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3. Das Verhalten der Menschen
von dem durch ihn Bedrohten vor seiner Entscheidung, im Bewusstsein seiner Verantwortung, nach bestem Wissensstand berücksichtig und seinem Entschluss zugrunde gelegt werden. Das Ergebnis kann für das persönliche Schicksal des vom Zwang Bedrohten, aber auch des vom erzwungenen Verhalten zu schädigenden Objekts entscheidend sein. Es kann darüber hinaus, wenn von vielen in gleicher Weise entschieden, das Schicksal der Gesellschaft beeinflussen und bestimmen, ob ihr Weg zur offenen Gesellschaft freier Bürger oder zur geschlossenen Gesellschaft des menschenverachtenden Totalitarismus führt.
Die Suche nach den Grundlagen
4. Ethik 4.1. Verantwortlichkeit des Menschen 4.1.1. Selbstbestimmung Die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung seines Verhaltens ist in einem Millionen Jahre dauernden Entwicklungsprozess entstanden. In den angeborenen starren Verhaltensprogrammen der Frühzeit, die exakte Reaktionen auf bestimmte Schlüsselreize auslösten, entstanden vermutlich Leerstellen, die mit durch Lernen und persönliche Erfahrung erworbenen alternativen Verhaltensweisen besetzt werden konnten. Diese Entwicklung erfolgte in wechselseitiger Bedingtheit mit der Ausbildung des Gehirns, des aufrechten Ganges und der für neue Aufgaben frei werdenden Hand, der Verbesserung der innerartlichen Kommunikation und der sozialen Integration der Individuen. Auslösende Faktoren lagen mit großer Wahrscheinlichkeit auch in Änderungen der Lebensbedingungen, die ein Eindringen oder Ausweichen in neue ökologische Nischen ermöglichten oder erzwangen. Mit der Möglichkeit, zwischen verschiedenen Verhaltensweisen wählen zu können, dem angeborenen Auslöser spontan zu folgen (z. B. sich tot stellen, Flucht oder Angriff) oder ein mehr Erfolg versprechendes Verhalten einzuschlagen, war dem Menschen ein entscheidender Vorteil im Überlebenskampf erwachsen, der die Art Homo sapiens in ihrer Evolution über alle anderen Arten hinaus wachsen ließ. Mit dieser verbesserten Ausstattung konnte die in der Evolution so erfolgreiche Art ihren, wie allen Lebewesen vorgegebenen Lebenszielen Selbsterhaltung und Arterhaltung immer effizienter entsprechen, immer neue Lebensräume besetzen und immer mehr Nachkommen hervor- und durchbringen. Während mit den durch Schlüsselreize ausgelösten Verhaltensmechanismen nur die zugehörigen typischen Gefahren bewältigt werden konnten, ließ die selbstbestimmte Auswahl der Verhaltensweisen durch Abschätzen der Erfolgsaussichten auch außergewöhnliche Gefahrensituationen meistern. Mit dem Blick in die Zukunft, der Beurteilung der Zweckmäßigkeit von Verhaltensweisen zur Erreichung eines vorgestellten Erfolges, zunächst nur
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4. Ethik
innerhalb des Lebenszieles, später auch darüber hinaus zur Erreichung von selbst gesetzten Zwecken, und vor allem mit der Zwecksetzung selbst trat eine neue Determinationsform in die Welt – die Finalität. Wo bisher reine Kausalität der Reaktion auf Schlüsselreize das Verhalten bestimmt hatte, konnte nunmehr neben dem vorgegebenen Lebensziel auch ein selbst gesetzter Zweck vorangestellt und das zur Erreichung kausal geeignetste Verhalten ausgewählt und vollzogen werden. Die Menschheit hatte sich damit eine neue Dimension im Weltgeschehen erschlossen und so den Grundstein für eine von ihr geschaffene und mit Nachdruck vorangetriebene Entwicklung gelegt, die so genannte kulturelle Evolution. Diese neue Fähigkeit zur Selbstbestimmung des eigenen Verhaltens hat aber auch eine andere Seite. Die Gabe, sich über den Zwang mechanischen Reagierens auf bestimmte Typen von Situationen hinaus heben und andere Verhaltensweisen anwenden, auf atypische Situationen angemessen antworten und sich letztendlich seine Zwecke selbst auswählen zu können, bringt den Zwang zur Entscheidung samt allen dafür nötigen intellektuellen Vorarbeiten mit sich. Der Zwang, sich entscheiden zu müssen, betrifft den Formalakt des Entscheidens an sich und ist unabhängig vom Inhalt der getroffenen Entscheidung, ist unabhängig davon, welches Verhalten als kausal geeignetes Mittel und welcher Zweck des Verhaltens bestimmt werden. Der Zwang zum Gebrauch dieser Fähigkeiten umfasst alle Entscheidungen des Menschen in jeder Lebenssituation, in der Alternativen möglich sind. Und das ist in beinahe allen denkbaren Situationen der Fall. Dieser Zwang lastet auf allen Menschen und bildet den Preis des Fortschritts, des Fortschreitens des Menschen über die Entwicklungshöhe aller anderen Lebewesen hinaus. Diese Bürde des Entscheidungszwanges nötigt zum Blick vorwärts in die Zukunft, zum ständigen Abschätzen von Möglichkeiten und der Chancen ihrer Realisierung, zur Beurteilung von kausaler Eignung der Mittel zum gewünschten Erfolg, zur Auslotung des eigenen Freiheitsraumes, um nicht verhängnisvolle Fehlentscheidungen zu treffen. Anders als alle anderen Arten, die im Schutz ihrer starren Verhaltensprogramme der Gegenwart verhaftet sind, muss der Mensch immer auch die Zukunft in seine Überlegung einbeziehen. Diese Last des Entscheidungszwanges mag eine Erklärung dafür bieten, dass Menschen immer wieder zögerten und noch immer zögern, sich selbst als unabhängige, ihre Geschicke selbst bestimmende Wesen zu erkennen und statt dessen bereitwillig die Rolle des fremder Bestimmung Unterworfenen übernehmen. Von uralten Mythen aus der Frühgeschichte der Menschheit über Bindung an vorgezeichnete, unwiderrufliche Schicksalsläufe, bestimmende Sternkonstellationen und Zauberei, von abergläubischen Überzeugungen von unentrinnbaren Eingriffen in das Menschenleben rei-
4.1. Verantwortlichkeit des Menschen
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chen die Erklärungsversuche bis hin zu pseudowissenschaftlichen Dogmen einer durchgehenden, auch das menschliche Verhalten einschließenden Kausaldetermination des Weltgeschehens oder aus Experimenten über Reaktionsgeschwindigkeiten und -abläufen gefolgerte Leugnung von Eigenbestimmung durch einzelne Hirnforscher. So unklar und widersprüchlich diese plakativ bekannt gegebenen Ergebnisse und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen auch sind, bestätigen die bisherigen noch am Anfang stehenden Forschungsergebnisse die enorme Komplexität aller Gehirnfunktionen und die unverhältnismäßige Größe des dafür nötigen Energieaufwandes. Daraus folgt, dass es jedenfalls bequemer ist und ein leichteres Leben ermöglicht, sich fremder Bestimmung zu unterwerfen und fremder Order zu gehorchen, als selbst unter Abwägung vieler Faktoren Entscheidungen zu treffen. Dass dies zu einer unheilvollen Entwicklung geführt hat, der weit mehr als hundert Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, dafür legt das zwanzigste Jahrhundert christlicher Zeitrechnung beredtes Zeugnis ab. Neben der jedem Lebewesen innewohnenden Tendenz zur Ersparnis von Energieaufwand, der bei der Selbstbestimmung des Verhaltens durch ständige Informationsbeschaffung, deren Prüfung und Gewichtung zur Erzielung bestmöglicher Entscheidungsinhalte erforderlich ist, gründet die mangelnde Bereitschaft, dem Spezificum humanum durch Selbstbestimmung Rechnung zu tragen, sicherlich auch in der Folge, die sich aus dem selbst gewählten Verhalten ergibt, – in der Last der Verantwortlichkeit für den Inhalt der Entscheidung und die daraus entstehenden Folgen.
4.1.2. Die unentrinnbare Verantwortlichkeit Neben der Last des Entscheiden-Müssens trifft den Menschen auch die Last der Verantwortlichkeit für den Inhalt der Entscheidung, für die Auswahl, welche von mehreren möglichen Verhaltensalternativen zum Vollzug bestimmt wird. Die Verantwortlichkeit betrifft künftiges Verhalten und umfasst von Anfang an den gesamten Entscheidungsprozeß mit seiner Prüfung des Freiheitsraumes auf die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, sich auf eine selbstbestimmte Art verhalten zu können, mit seiner Zielfindung und Zweckfestsetzung und der Untersuchung der Wirkung auf wen immer sowie der Abschätzung der Zweckmäßigkeit des Verhaltens zur Erreichung des angestrebten Erfolges. Verantwortlichkeit dauert auch während des Vollzuges des selbstbestimmten Verhaltens an, ja wird erst durch den Vollzug, der allein Wirkung in die Welt entfalten kann, schlagend. Bloße Planung ohne Verwirklichung ist dagegen ohne jede Bedeutung.
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Die Menschen leben in ihrer Umwelt, in Gemeinschaften verschiedenster Art und in einer natürlichen Umgebung mit anderen Lebewesen. Sie sind arbeitsteilig auf ihre Mitmenschen und die vorgefundene und mitgestaltete Natur angewiesen. Ihr als Individuum selbst bestimmtes und vollzogenes Verhalten muss sich daher nach den Erfordernissen der Ordnungsprinzipien dieser Gemeinschaften und der Natur richten und darf ihnen nicht zuwiderlaufen. Darin besteht das Wesen der Verantwortlichkeit jedes Menschen für jedes von ihm selbst bestimmte Verhalten. Verantwortlichkeit folgt notwendig aus der Fähigkeit des Menschen, bestimmender Urheber seines Verhaltens sein zu können. Sie ist unabänderlich mit jedem Verhalten und der Entscheidung zu diesem verbunden, bedarf keiner besonderen Feststellung, Zuweisung oder Anerkennung. Niemand kann sie leugnen, sich ihr entziehen oder ihr entrinnen – sie ist Bestandteil des Menschseins schlechthin. Diese Verantwortlichkeit des Individuums Mensch aus seiner Beziehung zur Umwelt besteht gegenüber allen Mitgliedern dieser Umwelt, anderen Menschen und sonstigen Lebewesen, die von einer für sie schädlichen Wirkung des Verhaltens betroffen werden können. Sie löst einen Kreis von Pflichten aus, die von der Informationspflicht zur sorgfältigen Prüfung des Sachverhaltes und der Folgen des Verhaltens für andere, von der Suche nach anderen Verhaltensmöglichkeiten innerhalb des Freiheitsrahmens und von schonenderen Verhaltensweisen bis zum Verzicht auf das geplante Verhalten wegen möglicher Schädigungswirkung reichen. Die Verantwortlichkeit des Verhaltenssubjekts sich selbst gegenüber im Fall, dass keine Fremdwirkung erzielt wird (wie etwa in Kants drittem Beispiel der Selbstverwahrlosung seiner Talente), kann im Rahmen einer nach problemlösenden Verhaltensregeln zum Schutz des Objekts suchenden Ethik ebenso unbehandelt bleiben wie das dem betroffenen Objekt günstige Wirkung herbeiführende Sozialverhalten. Durch den Vollzug des Verhaltens und die eingetretene oder unabwendbar bevorstehende schädliche Wirkung für das Objekt tritt von selbst die Verantwortung des Subjekts für den von ihm verursachten Schaden ein. Verantwortung zu tragen ist notwendige Konsequenz der schädlichen Wirkung und bildet den Gegenstand von Erhebungen, Feststellungen und Folgerungen durch rechtliche Instanzen der Gemeinschaften, die Strafe für den Täter und Schadenersatz an das Opfer bewirken, wenn Verhaltensnormen verletzt wurden. Der Unterschied dieser nachträglichen Verantwortung zur Verantwortlichkeit kommt schon sprachlich zum Ausdruck: die Ableitungssilben „-lich“ und „-keit“ weisen auf bestehende Eigenschaften hin, während sich „-ung“ auf eine vollzogene Handlung und deren Resultat bezieht. An dieser Stelle ist dem Hauptargument des positivistischen Dogmas von der Sinnlosigkeit jeglicher Ethik entgegen zu treten, der pauschalen Behauptung, man könne unmöglich alle Konsequenzen des eigenen Handelns im Voraus abschätzen,
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um sich entsprechend verantwortlich zu verhalten. Dieses gefährliche und zur Begründung von Nihilismus und subjektivistischer Beliebigkeit verwendete Vorurteil ist in seiner Totalität von der Erfahrung aller praktischen Systeme widerlegt. Es ist durchaus unnötig, alle Details zu erfassen und geplante Vorgänge bis hin zur Unschärferelation quantentechnisch zu beschreiben. Es genügt vielmehr die makroskopische Prüfung der Grundzüge der Folgen eines Verhaltens, um die Möglichkeit der Schädigung eines anderen zu erkennen, wie dies in der gesamten Strafrechtspflege gehandhabt wird. Jede denkbar mögliche Eventualität der Gefährdung eines anderen reicht aus und wird dem in seinen geistigen Fähigkeiten nicht Behinderten als erkennbar zugemutet und zugerechnet – durchaus im Sinn einer geordneten und erfolgreichen Erfüllung der Aufgaben eines Gemeinwesens. Würden sich die Verkünder des Pauschaldogmas der prinzipiellen Unerkennbarkeit der Folgen die Mühe machen, nach konkreten Beispielen des Alltags zu suchen, würden sie bald die Unhaltbarkeit ihres Dogmas erkennen. 4.1.3. Verantwortlichkeit der Wissenschaft Auf einem einzigen Gebiet kommt dem Einwand der Unvorhersehbarkeit aller Konsequenzen der künftigen Handlung allerdings Berechtigung zu: im Bereich der Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnis. Zumeist werden die Anwendungsmöglichkeiten seiner Theorie dem theoretischen Forscher bei Publikation der Ergebnisse nicht in ihrer gesamten Tragweite bewusst. Ihm geht es vor allem um neue Erkenntnis, um Erarbeitung von Hypothesen, um Widerlegung von Fehlern, um Entdeckung von Neuem. Die Nutzanwendung liegt meistens im Interessensgebiet anderer Institutionen, von Wirtschaft, Politik und nicht zuletzt der Rüstung. Dass hier die Verantwortlichkeit für neue Anwendungen, für die noch keine Erfahrungswerte vorliegen, nicht die erste Priorität genießt, wird durch die Übermacht der als Notwendigkeiten dargestellten Interessen mächtiger Institutionen bewirkt. Hier gilt es, durch breite Öffentlichkeitsarbeit wirksame Kontrollen auf der Basis weitestgehender Erforschung der möglichen Konsequenzen durchzusetzen. Die Verantwortlichkeit aller Wissenschafter in Forschung und Anwendung, aber auch der verantwortlichen Politiker und ihrer Wähler ist hier in besonderem Maß gefragt. Neben diesem Spezialgebiet des Neuen, für das noch keine Erfahrung vorliegt, gibt es auch im Bereich des durch empirisches Wissen gesicherten Geschehens der alltäglichen Praxis einen Wissenschaftszweig, der den in ihm Tätigen eine besondere Verantwortlichkeit auferlegt und zwar jene Richtung der Philosophie, die hilfreiche Ergebnisse in der Praxis des menschlichen Lebens erzielen will – die Ethik. Ein Abweichen von dieser Zielsetzung, die Schaffung von sich in Sprachanalyse erschöpfenden meta-
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ethischen Entwürfen, das Voranstellen metaphysischer Umdeutungen der Realität, das Erstellen philosophischer Konzepte als bloße Vorlage für literarische Werke oder zur Rechtfertigung totalitärer Herrschaftsstrategien entsprechen dieser besonderen Verantwortlichkeit des Wissenschafters in keiner Weise. Die Philosophiegeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt eine erschreckende formalistische Stagnation der Ethik in allen Bereichen und hat im letzten Vierteljahrhundert zu einer Forderung nach einem Neubeginn durch Hinwendung zum inhaltlichen Denken aus der Praxis und für die Praxis und damit auch expressis verbis nach einer praktischen Philosophie geführt (Die Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Manfred Riedel Hrsg., 2 Bände, 1972, Freiburg/B). Dass Bedarf nach solchen praktischen Lösungen besteht, zeigt sich schon an der Tatsache, dass zahlreiche Naturwissenschaftler ethische Themen bearbeiten und durch die Übernahme von Aufgaben der Philosophen deren wissenschaftliche Verantwortlichkeit wahrnehmen. 4.1.4. Die Verantwortlichkeit zur Freiheit Im Dualismus von Fakten und Standards gehört die Freiheit der Menschen ebenso wie ihr Verhalten dem Bereich der Tatsachen an. Nur das tatsächliche Verhalten erzeugt Wirkungen in der Welt und zwar Wirkungen auch auf andere Menschen oder sonstige Lebewesen und unabhängig davon, ob diese Wirkung nützlich oder schädlich für das Objekt ist. Auch die Art dieser Wirkung auf das Objekt, ob ihm nützlich oder schädlich, ist eine Tatsachenfrage und keine ethische Bewertung. Sie erfolgt zunächst nach objektiven Kriterien, wie den im Rechtswesen üblichen Ansichten und fällt im Zweifel in die Kompetenz des von der Wirkung betroffenen oder – noch wichtiger – bedrohten Objekts, bei dessen Unerreichbarkeit oder mangelnder Selbstbestimmungsfähigkeit unter die Gegenseitigkeitsgrundsätze der Goldenen Regel. Aus den Resultaten leitet sich die ethische Frage über die Zulässigkeit dieses Verhaltens ab, welche zu moralischen Prinzipien und Verhaltensregeln führt. Mit dem Auffinden von moralischen Prinzipien und der Formulierung von Normen allein ist jedoch noch nichts gewonnen. Moralische Maßstäbe bedürfen, um Wirksamkeit zu erlangen, ihrer Umsetzung in der Welt der Tatsachen, bedürfen ihrer Einhaltung durch ihre Adressaten, die Verhaltenssubjekte, in Form eines ihnen entsprechenden moralischen Verhaltens. Die Maßstäbe müssen aus ihrer Welt in das faktische Geschehen hineingetragen werden, um so regelnd in das tatsächliche Verhalten einzugreifen. Die moralischen Maßstäbe appellieren an das Verhaltenssubjekt, auf bestimmte, ihm mögliche Verhalten zu verzichten, deren Wirkung dem Objekt
4.1. Verantwortlichkeit des Menschen
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zum Schaden gereichen könnte. Diese Entscheidung setzt aber die Möglichkeit zur Selbstbestimmung des Verhaltens, setzt Freiheit voraus. Nur das freie Individuum kann sich selbst entscheiden, dem moralischen Appell zu folgen und auf das dem Objekt schädliche Verhalten zu verzichten. Das fremdbestimmte Subjekt kann dagegen zu einem Verhalten gezwungen werden, das anderen zum Schaden gereicht. Daraus folgt, dass die Aufrechterhaltung der bestehenden, die Erweiterung einer bereits beschränkten oder die Erringung einer geraubten Freiheit in die Verantwortlichkeit aller Menschen fällt. Diese Verantwortlichkeit als allgemeine Menschenpflicht führt geradewegs zum ersten grundlegenden Prinzip der Moral, der Pflicht zur Freiheit, die dem Individuum erst den Weg zu einem moralischen Leben eröffnet. Es geht bei dieser Verantwortlichkeit zur Freiheit nicht um eine Pflicht sich selbst gegenüber, nicht um einen Vorteil, Freiheit selbst zu genießen, sondern um die Abwehr des Ansinnens, sich zu einem Verhalten zum Schaden anderer herzugeben. Das Problem ist nicht, ob man selbst in Freiheit leben oder Unfreiheit auf sich nehmen will, sondern die Verantwortlichkeit dem anderen gegenüber, dem man zwar persönlich nicht schaden will, dem gegenüber man aber – von wem auch immer – zu schädlichem Verhalten genötigt wird. Deshalb erstreckt sich die Verpflichtung, seine eigene Freiheit zu erhalten, auf die Erhaltung der Möglichkeit zur selbstbestimmten Einhaltung der moralischen Maßstäbe. Jedes totalitäre System beruht auf einem Heer von willfährigen Vollstreckern der von einem Diktator und seinem Stab ausgehenden Befehle zur Unterdrückung von Gegnern. Ohne diese Ja-Sager, Büttel und Helfershelfer könnte kein Gewaltsystem existieren, ja nicht einmal entstehen. Die Unterwürfigkeit gegenüber den Mächtigen, die ihre Macht gerade von den Unterworfenen usurpieren, bildet die Basis für den allgemeinen Untergang der Freiheit, in dem dann jedes Verbrechen gegen Andersdenkende mit dem Befehl „von oben“ gerechtfertigt oder sogar als Heldentat gepriesen wird. Im Zeichen welcher vorgeschützten Ideologie von Glücksverheißung dies geschieht, ist ohne jeden Belang. Wie beliebig austauschbar Symbole und pseudowissenschaftliche Historizismen der behaupteten geschichtlichen Notwendigkeit sind, hat sich beim Zerfall der Sowjetunion hinreichend erwiesen. Die Verantwortlichkeit gegenüber dem anderen, auf die sich jede Ethik und Moral gründet, verlangt nach der Verpflichtung zur Freiheit, zu ihrer Aufrechterhaltung und zur Abwehr ihrer Beeinträchtigung, um selbstbestimmt dem moralischen Appell zur Vermeidung des anderen schädlichen Verhaltens folgen zu können. Damit kehrt die aus der Praxis gewonnene Erkenntnis, bereichert um die moralischen Standards wieder in die Welt der
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4. Ethik
Tatsachen zurück und findet ihren Niederschlag in einem dem moralischen Maßstab entsprechenden Sozialverhalten.
4.2. Zum Wesen der Ethik 4.2.1. Konventionelle Ansätze Auf die Frage „Was ist Ethik?“ erhält man je nach Ausgangspunkt, Inhalt, Ziel und Methode der einzelnen Ansätze stark von einander abweichende Antworten. Zu verschieden sind die ethischen Richtungen und ihre Systeme, dass eine einheitliche Begriffsbestimmung möglich wäre. Und doch liegt ihnen allen eine durchgehende Gemeinsamkeit zu Grunde, die Unzufriedenheit mit dem Geschehen in der Welt, in dem Menschen eine maßgebliche Rolle spielen, sei es durch ihren „bösen“ Charakter, ihren „bösen“ Willen, sei es durch ihre „bösen“ Taten. Es ist die Unzufriedenheit mit der schrankenlosen Willkür, die sich Menschen in ihrem Verhalten herausnehmen, es ist Unzufriedenheit mit dem Mangel an Einsicht und Rücksicht und Unzufriedenheit mit Überheblichkeit bei der Durchsetzung der eigenen Interessen. Und aus dieser gemeinsamen Grundansicht wird Ethik betrieben und nach einer Verbesserung der Unzukömmlichkeiten gesucht. Wäre diese gemeinsame Überzeugung nicht vorhanden, fehlte jeder Anlass, sich mit Ethik zu befassen, und wäre diese Disziplin nie entstanden. In der traditionellen Dreiteilung der konventionellen Spezialgebiete der ethischen Theorien befasst sich Metaethik mit den sprachlichen Elementen, Bedeutungen und Diskursen über formale Aussagen sittlicher Prädikate, ihrer Unterscheidung von einander und ihrer Rechtfertigung. Deskriptive Ethik beschreibt und vergleicht Phänomene der verschiedenen Sitten, Gebräuche und Moralordnungen mit der Tendenz, hieraus Verallgemeinerungen abzuleiten. Präskriptive Ethik übt Kritik an bestehenden moralischen Grundsätzen und sucht Begründung oder Rechtfertigung für von ihr aufgefundene oder von ihr aufgestellte Regeln zu finden. Der Inhalt dieser Theorien kann sich am Fügen in das vorgezeichnete Schicksal, am Befolgen von Geboten höherer Mächte, von Naturordnungen oder überlieferten Sitten und Bräuchen orientieren oder gerade das Gegenteil, nämlich die Umgestaltung in evolutionären oder revolutionären Programmen anstreben, er kann von den Charakteren oder den Taten der handelnden Personen ausgehen oder sich auf die Erfolge dieser Taten beziehen, er kann individualistische oder kollektivistische Tendenzen aufweisen oder überhaupt versuchen, mit subjektivistischen, skeptizistischen oder nihilistischen Argumenten die Unmöglichkeit oder Aussichtslosigkeit ethischer Bemühungen zu beweisen.
4.2. Zum Wesen der Ethik
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4.2.2. Ethik in der praktischen Philosophie Nimmt man den von Karl Popper in seinem Addendum 1 zu „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ hervorgehobenen Dualismus von Tatsachen und moralischen Maßstäben, mit denen Fakten bewertet werden können, ernst, dann muss die bisherige Arbeitsweise ihrer gemeinsamen Behandlung in der herkömmlichen Ethik als Einheitswissenschaft aufgegeben werden. Die Tatsachen Freiheit und das Verhalten der Menschen mit ihrer Auswirkung sind in beschreibenden Theorien gesondert und vorweg zu behandeln. Ihre Resultate bilden dann die Grundlage für bewertende Schlussfolgerungen im Rahmen einer sich voll auf das Kerngebiet der Suche nach problemlösenden moralischen Prinzipien und Regeln konzentrierenden Ethik. Diese braucht sich nicht länger mit sprachlichem Formulieren oder mit dem Vergleichen bestehender Sitten zu befassen, kann auf metaphysische Vorgaben einer finalen Weltentwicklung verzichten und Transzendenz ihrem Zuständigkeitsbereich Religion überlassen. Sie muss sich nicht mit dem Charakter der Akteure oder ihrer sozialen Stellung beschäftigen und sich so in die Fachwissenschaften Anthropologie und Soziologie einmengen und kann die private Lebensgestaltung und jede Hilfstätigkeit für andere respektvoll dem einzelnen Menschen selbst überlassen, der dies aus eigenem Antrieb nach seinen eigenen Ansichten tut. Eine solche, vom Ballast deskriptiver Faktenermittlung befreite Ethik der Problemlösung kann selbständig und allein auf sich gestellt nicht existieren und wird zum Bestand der Freiheitstheorie, Verhaltenstheorie, Ethik und Moral umfassenden Gesamtwissenschaft „Praktische Philosophie“. Der Inbegriff der von ihr erarbeiteten Grundsätze wird im Sinne der von Viktor Kraft geforderten Einteilung als Moral formuliert und bildet das Endergebnis der praktischen Philosophie. Die den dualen Sachgebieten Rechnung tragende Aufteilung in sachgerechte methodische Arbeitsweisen hilft nicht nur die durch bisherige Vermischung und Überschneidung erzeugten Unklarheiten zu beseitigen, sondern gibt der Ethik die Chance einer übersichtlichen Gestaltung ihres eingeschränkten Aufgabengebietes, sodass ihre Arbeitsweise und ihre Resultate von jedem Menschen verstanden werden können. 4.2.3. Das unaufhebbare Spaltungsverhältnis Der Dualismus von Tatsachen und moralischen Maßstäben ermöglicht nicht nur die Methode der getrennten Behandlung der Sachgebiete, er schreibt sie der praktischen Philosophie geradezu vor. Die beschreibende Verhaltenstheorie hat bei dem auch auf andere einwirkenden Sozialverhal-
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4. Ethik
ten das unaufhebbare Spaltungsverhältnis zwischen dem Subjekt des Verhaltens und dem davon betroffenen Objekt untersucht und dargelegt. Das Subjekt verhält sich nach eigener Bestimmung und vollzieht eine bestimmte Handlung oder es unterlässt eine bestimmte Handlung, was in jedem Fall des Sozialverhaltens Wirkung auch für ein Objekt entfaltet oder entfalten kann. Verhaltenssubjekt und betroffenes Objekt stehen einander in einem auf die jeweilige Rolle fixierten Spaltungsverhältnis gegenüber: der das Geschehen kraft eigener Selbstbestimmung auslösende und steuernde Akteur, das Subjekt, und das die Wirkung fremden Verhaltens an sich erfahrende passive Objekt. Der Wirkungsverlauf ist einseitig, seine Richtung geht immer vom Subjekt zum Objekt und kann symbolisch dargestellt werden: S!O wobei der Pfeil dabei den Verhaltensablauf zeigt. Diese neutrale Darstellung lässt offen, ob die Wirkung für das Objekt nützlich oder schädlich ist, das Spaltungsverhältnis besteht aber unaufhebbar in jedem Fall. Ein dem Objekt hilfreiches Handeln scheidet aus praktischen Erwägungen von vornherein aus der Ethik der praktischen Philosophie aus, da erwiesene Hilfe keine Probleme verursacht und keiner moralischen Gebote bedarf. Das Arbeitsgebiet dieser Ethik beschränkt sich vielmehr auf das einem Objekt schädliche Problemverhalten, die schädliche Wirkung für das Objekt erzeugende Handlung oder die dem Objekt die benötigte Hilfe verweigernde Unterlassung. Die symbolische Darstellung ergibt sich hiefür: S # O womit die negative Wirkung auf das Objekt gezeigt wird. Das Subjekt bestimmt sein Verhalten nach seinen eigenen Interessen, ohne auf die Interessen des Objekts Rücksicht zu nehmen. Es strebt nach eigenem Vorteil zum Nachteil des Objekts. Dabei kann die Schädigung des Objekts als alleiniger Zweck beabsichtigt sein oder sie kann zur Erlangung des eigenen Vorteils in Kauf genommen werden. In jedem Fall gewinnt das Subjekt zu Lasten des Objekts etwas für sich, der Vorteil mag materieller oder immaterieller Natur sein. Das Charakteristikum des Sozialverhaltens ist im Gegensatz zum Individualverhalten die Auswirkung auf andere und das auf dem Interessenwiderstreit beruhende Spaltungsverhältnis zwischen dem Fremdwirkung ausübenden Subjekt und dem diese Wirkung erfahrenden Objekt.
4.2. Zum Wesen der Ethik
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Die Erforschung des Wirkungsbezuges in die Subjekt-Objekt-Beziehung und seiner Konsequenzen erweist sich als wichtigste Aufgabe der Verhaltenstheorie, bildet ihr Resultat doch den Grundpfeiler für die weiterführende Ethik der praktischen Philosophie. Der Gedanke der unaufhebbaren Rollenverteilung an sich ist nicht neu und liegt jedem Rechtswesen zu Grunde. Er ist dort derart stark verankert, dass er als selbstverständlich, ja trivial angesehen wird. Kein geordnetes Strafrecht wäre ohne Unterscheidung zwischen Täter und Opfer denkbar, kein Zivilrecht ohne Unterschied zwischen Vertragsverletzer und Geschädigtem. Nur in der Ethik vermochte die SubjektObjekt-Relation noch nicht den ihr zukommenden Platz zu finden und harrt der weiteren Entwicklung. Eine besondere Bedeutung der Subjekt-Objekt-Spaltung zeigt sich beim Thema „Krieg“, der denkbar schwersten Schädigung einer Unzahl von Menschen durch den Einsatz militärischer Mittel von kollektiv agierenden hierarchisch organisierten Armeen mit dem Arsenal der gefährlichsten Waffentechnik. Der herkömmliche amorphe Ausdruck Krieg verschweigt die Rollen des angreifenden Subjekts und des sich gegen den Angriff wehrenden Objekts. Mit dem die unaufhebliche Subjekt-Objekt-Spaltung verschleiernden Gesamtbegriff „Kriegspartei“ wurde eine Gleichsetzung der zu unterscheidenden Rollen herbeigeführt und eine korrekte Feststellung der Verantwortlichkeit unmöglich gemacht. Man diskutierte über Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sah den Krieg als Vater aller Dinge an und bemühte sich in der Lehre vom gerechten Krieg um ethische Abgrenzungen. Völkerrechtlich wurde erst 1928 im Briand-Kellog-Pakt der Krieg geächtet und nur der Verteidigungskrieg als erlaubt erklärt, worin die Subjekt-Objekt-Spaltung bereits implizit angesprochen war. Die völlige Anerkennung der Subjekt-Objekt-Rollenbeziehung erfolgte erst zum Ende des zweiten Weltkrieges unter dem Eindruck der Angriffe Hitler-Deutschlands und Japans mit ihren geschätzten 60 Millionen Toten in aller Welt. In der Satzung der Vereinten Nationen wurde Aggression als kriegerischer Angriff eines Subjekts verboten, die Notwehr des überfallenen Objekts als rechtmäßig erklärt und die anderen Staaten zur Nothilfe für das überfallene Opfer verpflichtet. Ohne Feststellung des Wirkungsverlaufes vom angreifenden Subjekt zum angegriffenen Objekt erscheint eine ethische Bewertung des tatsächlichen Prozesses der militärischen Aggression nicht möglich. Gleiches gilt für terroristische Angriffe, die sich auch gegen Unbeteiligte richten. Auch hier erweist sich eine die Täter-Opfer-Rolle kaschierende Diktion als verfehlt und den Fakten nicht angemessen. Neben diesen weitreichenden Konsequenzen, die sich zwingend aus der Feststellung der Tatsache der Subjekt-Objekt-Spaltung für die Ergebnisse einer darauf aufbauenden Ethik ergeben, bietet das Spaltungsverhältnis die Möglichkeit, den ethischen Anthropozentrismus zu verlassen und neben
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Menschen auch sonstige Lebewesen, nämlich Tiere und Pflanzen, als Objekte einzubeziehen und ihnen aus eigenem Anspruch und nicht nur aus einem von den Interessen der Menschen abgeleiteten Anspruch Schutz zu gewähren. Zu der den Schutz von Menschen als Objekt beinhaltenden Humanethik tritt dann eine Ethik der Beziehungen des Subjekts Mensch zu den Objekten Tiere und Pflanzen, die als Naturethik oder ökologische Ethik bezeichnet werden kann. Auch diese sucht nach Grundlagen für Prinzipien und Regeln, die sich an den Adressaten Mensch als Verhaltenssubjekt wenden, aber anders als die von der Gleichartigkeit der Menschen ausgehenden Grundsätze der Humanethik artspezifisch unterschiedlich gegliedert sind. Bei Tieren kommt es vorwiegend auf die Entwicklungshöhe ihrer Art, aber auch auf das Verhältnis zum Menschen und die Funktion als Arbeitstier, Nahrungsmittel oder Lieferant von Produkten an, bei Pflanzen steht der Artenschutz im Vordergrund. 4.2.4. Objektschutz – die ethische Grundentscheidung Aus der Erkenntnis des unaufhebbaren Spaltungsverhältnisses im menschlichen Sozialverhalten, dessen Wirkung auch ein vom Verhaltenssubjekt verschiedenes Objekt betrifft, ergibt sich die Grundfrage einer auf dieser Tatsache aufbauenden Ethik: Soll sich Ethik nach konventionellen Ansätzen auf jedes Verhalten beziehen und in diesem Umfang tätig werden oder soll sie sich unter Weglassen des nur auf das Subjekt wirkenden Individualverhaltens auf das Sozialverhalten beschränken? Die Antwort darauf fällt nicht schwer, wenn man den tatsächlichen Ablauf des Geschehens untersucht. Das Verhaltenssubjekt tut oder unterlässt etwas, was seinen eigenen Intentionen entspricht, und verhält sich somit nach seiner Selbstbestimmung. Sind die Auswirkungen seines Verhaltens für das Subjekt nützlich, braucht es keine Regeln. Auch wenn sie sich ihm schädlich erweisen, kann es jederzeit sein Verhalten ändern, um diese Folgen zu vermeiden. Wozu sollten dem sein Geschick selbst Steuernden Verhaltensmaßregeln erteilt werden? Woher käme die Berechtigung hiezu? Wenn sich ein Subjekt zu seinem eigenen Schaden verhält, wird man ihm die Schädlichkeit seines Tuns erläutern, vor den Folgen warnen, seine Einsicht anrufen. Aber man kann ihm nicht präskriptiv Verhaltensweisen anordnen, um ihm zu eigenem Vorteil zu verhelfen. Kants drittes Beispiel der Selbstverwahrlosung der eigenen Talente läuft auf das Konzept einer Tugendethik hinaus, deren Ziel der edle Mensch als Verkörperung des Guten darstellt. Die Realität des Weltgeschehens hat gezeigt, dass derartige Ideale aus der Antike unnötig und unbehelflich sind und man versuchen sollte, mit bescheideneren Ansätzen zu besseren Erfolgen zu gelangen.
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Verhalten zum eigenen Nachteil ohne Auswirkungen auf andere schafft keine Probleme, die ethisch untersucht und mit Moralvorschriften gelöst werden könnten. Sozialverhalten, das anderen schädlich sein könnte, gibt es in derart großer Zahl, dass alle Kräfte an die Lösung dieser Verhaltensweise ansetzen sollten. Auch ökonomische Gesichtspunkte fordern daher eine Konzentration ethischer Bemühungen auf das brennende Problem des Sozialverhaltens. Dass dabei dem Objekt ohnehin hilfreiches Verhalten nicht behandelt zu werden braucht, ist selbstevident und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Die Grundsatzentscheidung der Ethik der praktischen Philosophie lautet daher, sich im Arbeitsgebiet auf das Problemverhalten zu beschränken, das einem Objekt schädlich sein kann. Damit ist sowohl Poppers Problemlösungsgedanken als auch dem Dualismus von Fakten und Standards entsprochen. Der Vorschlag einer negativen Formulierung der ethischen Forderung kann bei Konzentration auf das vom Spaltungsverhältnis VerhaltenssubjektObjekt gekennzeichnete Sozialverhalten mit schädlicher Wirkung auf das Objekt ebenfalls verwirklicht werden, da sich das ethische Prinzip damit auf die Forderung der Vermeidung eines solchen Verhaltens im Interesse des Objekts beschränken kann.
4.3. Ethik als Aufgabe 4.3.1. Die Sorge um die Person Seit den Anfängen der Menschheit leben Menschen in ständiger Sorge um die Sicherheit ihrer eigenen Existenz und die Existenz ihrer Angehörigen. Diese Sorgen umfassen sämtliche Lebensbereiche von der Sicherung der Grundbedürfnisse zur Aufrechterhaltung der vorgegebenen Ziele Selbsterhaltung und Arterhaltung bis zu immer weiter entwickelten Detailbereichen im Rahmen selbst gesetzter Zwecke. Welche Gefahren sind es, die den Menschen Sorge bereiten, sie in Angst versetzen und um ihr und ihrer Nächsten Wohl und Gedeihen fürchten lassen? Zu einem Teil sind es Naturkatastrophen, Mangelsituationen, Seuchen und Krankheiten, die unabhängig vom Wirken der Menschen entstehen. Dagegen helfen technische Vorkehrungen nur in beschränktem Maße und die Entwicklung neuer Kenntnisse und Hilfsmittel kann Schäden mildern, aber nie vollständige Sicherheit bieten. Anders ist dies, wenn die Gefahren, die Leben, Freiheit, körperliche Unversehrtheit und persönlichen Besitz, die Frieden und Wohlbefinden der Menschen bedrohen, vom Tun anderer Menschen ausgehen. Diesen Ursachen der Existenzsorgen wird mit Verhaltensregeln entgegenzuwirken versucht.
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4. Ethik
Es ist eine lange, blutige Spur durch die Entwicklung der Menschheit, was Menschen anderen Menschen angetan haben und noch immer antun. Mit Mord und Totschlag, Folter, Verstümmelung und Vergewaltigung, Terror und Erpressung, Ausplünderung und Vertreibung, Freiheitsberaubung, Unterdrückung und Versklavung, Raub, Diebstahl und Betrug, von einzelnen Tätern begangen oder in kollektiver Planung und Vollzug, in Banden oder militärischen Verbänden verübte Aggression, offen deklariert oder unter dem Deckmantel vorgetäuschter Ideale mit ständig wachsenden Opferzahlen geht die „kulturelle“ Evolution bis hin zur größten Barbarei der Geschichte, dem industriell betriebenen Massenmord der Hitlerdiktatur an Millionen unschuldiger Menschen zur Vernichtung einer durch das Religionsbekenntnis der Großeltern definierten „Rasse“. Aber nicht nur durch aktives Handeln wurden Menschen ermordet und geschädigt, auch durch Untätigkeit in Notlagen wurden Millionen Menschen vernichtet, wie durch Verhungernlassen bei der sowjetischen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft vor allem in der Ukraine, in den Arbeitslagern des Gulag oder den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Es ist nur zu verständlich, dass Menschen in ständiger Sorge um ihre und ihrer Angehörigen Existenz lebten und heute noch leben. Und diese Sorge trifft jeden Menschen als Individuum, denn dieses ist es, das jedes Leid an sich erfährt. Es ist die Sorge des Objekts vor dem Verhalten eines anderen oder mehrerer anderer Menschen, die ihn durch seinen Lebenslauf hindurch begleitet. Die Angst der Hilflosen, der Kleinkinder und Greise, schutzlos im Stich gelassen zu werden, die Sorge der Schwachen, ohne Hilfe zu bleiben, wenn sie dringend benötigt wird, die Angst vor Hunger und Elend sind Beispiele für die Sorge vor Unterlassung von Hilfeleistung. Die Furcht vor Gewaltausübung in der ganzen Breite der Palette der vorigen Aufzählung, von der Existenzvernichtung bis zur sonstigen Schädigung bildet die Sorge des Objekts Mensch vor dem Verhalten anderer Menschen als Subjekt im Spaltungsverhältnis Subjekt # Objekt. Vor der Sorge, Objekt fremder Gewalt zu werden, ist kein Mensch gefeit. Selbst und gerade Mächtige der Politik, aber auch Gewalttäter wie Diktatoren, Terroristenanführer und Bandenchefs richten ihren Lebensstil auf ständige Vorsichtsmaßnahmen zur Abwehr von Attentaten aus und geraten häufig immer tiefer in paranoide Bewusstseinszustände. Noch schlimmer ergeht es in der Regel den dieser Gewalt unterworfenen Opfern, die ihre Verhaltensfreiheit weitgehend einbüßen und sich an den ihnen drohenden Gefah-
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ren orientieren müssen. Wo Flucht nicht gelingt, bleiben nur Notwehr ohne Rücksicht auf die Erfolgschancen oder im Fall eines nicht lebensbedrohenden Angriffs völlige Unterwerfung, in extremen Situationen letztendlich Selbstmord die noch offenen Optionen. Wo das Subjekt seine Verhaltensfreiheit rücksichtslos zur Verfolgung eigener Interessen ausnützt und dabei die Interessen des Objekts schädigt, geht es darum, das keinen Einfluss auf das Geschehen ausübende Objekt vor dem Verhalten des Subjekts und seine nachteiligen Wirkungen zu schützen. Der Weg für die Suche nach Grundlagen für Verhaltensregeln, formal als moralischer Appell an das Subjekt, inhaltlich als Verzicht auf das anderen Probleme verursachende Verhalten, ist damit vorgezeichnet. Objektschutz vor Subjektswillkür, Bewahren vor Schädigung durch aktives Handeln oder passives Unterlassen nötiger Hilfe durch an das Verhaltenssubjekt adressierte Prinzipien und Normen erweist sich als Zweck jeder Humanethik.
4.3.2. Die Sorge um die Natur Anders als in der Humanethik, die von der Sorge des Objekts eines schädlichen Verhaltens des Subjekts ausgeht und alle Menschen von dieser Sorge zu befreien sucht, stehen in der Naturethik dem Verhaltenssubjekt Mensch als Objekte Tiere und Pflanzen gegenüber, die einer schädlichen Wirkung des menschlichen Verhaltens ausgesetzt sind. Ihre Interessen können nicht als vorausschauende Sorge vor menschlichem Verhalten geäußert und den Menschen mitgeteilt werden. Dennoch sind die Probleme, die ihnen aus schädigendem Verhalten von Menschen entstehen vom mitfühlenden und denkenden Menschen zu erschließen, nachzuvollziehen, wissenschaftlich zu erforschen und zur Richtschnur der Beziehung des Menschen zur Natur zu machen. Pflanzen als unmittelbare Nutzer des Sonnenlichts bilden im Wege der Photosynthese Biomasse und Sauerstoff und legen so den Grundstein für alle weiteren Lebensvorgänge der Tiere und Menschen. Sie liefern die unterste und unverzichtbare Stufe der Nahrungskette. Ohne Pflanzen gibt es kein anderes Leben auf dem Planeten Erde. Tiere und ihre Produkte dienen dem Menschen zur Deckung des Proteinbedarfes, zunächst als Beute von Jagd und Fischerei, im Lauf der Entwicklung auch als Zuchttiere, dienen vielfältigen den Menschen nützlichen Aufgaben, wie als Nahrungsmittel, Produktlieferant, Arbeitstier und schließlich als Haustier mit engen emotionalen Bindungen des Besitzers gegenüber seinem tierischen Freund. Der Mensch steht daher in Abhängigkeit von der Existenz der sonstigen Lebewesen. Als spätest entstandenes oberstes Glied der Nahrungskette ist
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4. Ethik
er darauf angewiesen, andere Lebewesen zu verzehren und sie auf verschiedene Weise für die Einhaltung der aus seiner Existenz folgenden Vorgaben der Selbst- und Arterhaltung aber auch zur Erreichung der selbst gewählten Zwecke zu benützen. Ihr bestmögliches Gedeihen zu fördern, entspricht daher im Prinzip seinen eigenen rationalen Interessen. Wo diese Interessen des Subjekts Mensch und des Objekts Tier zusammenfallen und das Verhalten des Menschen Hilfe bedeutet, wird keine Ethik benötigt. Wenn aber das Verhalten des Menschen Tieren unnötige Qualen bereitet, Tiere nicht artgerecht gehalten, Transportqualen ausgesetzt oder auf grausame Art getötet oder vernachlässigt werden, bildet dieses Verhalten sehr wohl Gegenstand ethischer Untersuchung, Bewertung und der Suche nach Abhilfe durch Grundsätze für Verhaltensregeln. Gleiches gilt für den Artenschutz von Tieren und Pflanzen, der dem Eingreifen in die natürliche Ordnung durch bedenkenlose Ausrottung bedrohter Arten Einhalt gebieten soll. Diese Sorge um die von der Menschheit im Zuge ihrer Evolution vorgefundene und später von ihr im beschränkten Umfang mitgestaltete Natur ist die Grundlage ethischer Überlegungen, die sich vom Anthropozentrismus eines „Macht euch die Erde untertan!“ zum verantwortlichen Biozentrismus der Gesamtwelt der Lebewesen hinbewegen. Nicht nur den Interessen des Menschen dienend sondern aus eigenem Anspruch erscheinen die anderen Lebewesen schützenswert vor Übergriffen des Menschen, wobei jedoch seine Abhängigkeit von ihnen als seine Lebensgrundlage berücksichtigt werden muss. Seine intellektuelle Ausstattung befähigt den Menschen, obwohl Verhaltenssubjekt, auch die Interessenlage des jeweiligen Objekts nach Möglichkeit zu berücksichtigen und so der Ordnung der Natur Rechnung zu tragen. Dass die Naturethik nach anderen Grundsätzen und Methoden vorgehen muss als die Humanethik, ergibt sich aus der Verschiedenheit der unmittelbar zu schützenden Objekte und der Unmöglichkeit vorheriger Absprachen ebenso wie aus der Unanwendbarkeit des Gleichheitsgrundsatzes und des Reziprozitätsgedankens als gängigen Prinzipien der Humanethik. Gefordert sind vielmehr gänzlich neue Gedankengänge, die der Einzigartigkeit des Menschen in seiner Umwelt und seiner Möglichkeit zur Beherrschung der Natur auf der einen Seite, aber ebenso seiner Abhängigkeit von und seiner Einbettung in die Natur und ihre Gesetzlichkeit voll entsprechen. Neben dem Objektschutz für sonstige Lebewesen in der Auseinandersetzung der Interessen des Subjekts Mensch in direkter Konfrontation mit denen des Objekts Tier oder Pflanze greifen naturethische Grundsätze aber weit über diesen Rahmen hinaus. Wenn das Verhalten von Menschen Existenzgrundlagen künftiger Generationen gefährdet, sind auch diese, ob Menschen oder andere Lebewesen, als Objekt des heutigen Verhaltens anzusehen und in den durch Ethik zu betreibenden Schutz einzubeziehen. Zum
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Kreis dieser Aktivitäten zählen alle Verstöße gegen die natürliche Ordnung des ökologischen Gleichgewichts der Welt, die unmäßige Entnahme von Ressourcen ohne für deren Ersatz durch nachwachsende Substanz zu sorgen, die Vergiftung von Boden, Luft und Wasser, die Belastung mit überflüssigem Abfall, kurz alles was dem Lebensraum Erde mit seinen heutigen und künftigen Lebewesen unwiederherstellbaren Schaden zufügt. Während direkte Schädigung des Objekts durch Handlungen oder Unterlassung von Hilfe für jeden Menschen selbst erkennbar ist, benötigt die Feststellung langfristiger Konsequenzen für den natürlichen Lebensraum, besonders der in Zukunft zu befürchtenden Folgen, der Hilfe der Naturwissenschaften. Da die daraus folgenden ethischen Grundsätze einfach in der Vermeidung dieser Probleme bestehen, kommt der naturwissenschaftlichen Abschätzung der Folgewirkung überragende Bedeutung zu. Ebenso werden Naturwissenschaften unbedenkliche Alternativverhalten zu entwickeln haben. Die Aufgabe der Ethik beschränkt sich hiebei im Dualismus von Fakten und Maßstäben auf die Aufforderung, schädliches Verhalten zu vermeiden und durch wissenschaftlich als unbedenklich erkanntes Verhalten zu ersetzen. 4.3.3. Ethik aus Verantwortlichkeit Die allgemeine Verantwortlichkeit jedes Menschen für jedes von ihm selbst bestimmte Verhalten schließt nicht nur die Pflicht zur Prüfung der Tatsache ein, welche Folgen aus dem Verhalten für andere entstehen können, sondern verpflichtet auch zur ethischen Bewertung der Zulässigkeit des Verhaltens. Diese Aufgabe trifft nicht nur das Verhaltenssubjekt selbst, und zwar in jedem konkreten Anwendungsfall, sondern auch alle Personen, die sich damit beschäftigen, gleichartige Verhaltensweisen nach Gemeinsamkeiten zu untersuchen, in abstrakte Kategorien einzuteilen und diese Verhaltenstypen Bewertungen zu unterziehen. Verhaltenstheoretiker und Ethiker als Wissenschafter gehören zu dieser Gruppe, ebenso Gesetzgeber als Schöpfer von Verhaltensnormen, also Politiker, Abgeordnete gesetzgebender Körperschaften, Legislativbeamte in Regierungen, Ministerien und sonstigen Vorschriften erlassenden Institutionen und schließlich auch Redakteure in Medien, die über diese Regeln schreiben, sie fordern oder kritisieren. Ethik zu betreiben, stellt eine öffentliche Aufgabe dar, die Ordnung in der Gemeinschaft fördert und Verstöße gegen Ordnungsprinzipien des Zusammenlebens der Gemeinschaft von Menschen und weitergehend von Lebewesen überhaupt aufzeigt, kritisiert und Vorschläge zur Problemlösung erarbeitet. Auch diese Aufgabe ergibt sich aus der Verantwortlichkeit, die den Menschen für den Inhalt seiner Entscheidung zu jedem von ihm bestimmten
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4. Ethik
Verhalten trifft. Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge zu erkennen, aber daraus keine Lehren zu ziehen, bedeutet ein Versäumnis der Gemeinschaft gegenüber, deren Ordnung durch Anwendung der erarbeiteten Prinzipien und Regeln gestärkt werden kann. Dass diese Verpflichtung ernst genommen wird, zeigt der allgemeine Ruf nach unter dem Begriff „Angewandte Ethik“ zusammengefassten Spezialdisziplinen aus den verschiedensten Bereichen des wissenschaftlichen Fortschritts aber auch darüber hinaus in der gesamten Lebensgestaltung von heute. Allerorten beraten Ethikkommissionen über Probleme, die aus dem Fortschritt der Medizin, der Molekularbiologie und Gentechnik entstehen, wobei die Fragen der Zulässigkeit des neuerdings Machbaren im Vordergrund stehen. Die einzelnen Problemkreise greifen in das soziale Beziehungsnetz über, münden in Rechts- und Wirtschaftsgebiete und beeinflussen die Politik. Verantwortlichkeit in den betreffenden Einzelfragen wird in Abhängigkeit von persönlichen Einstellungen diskutiert und wohl auch von den Entscheidungsträgern an Ethikgremien ausgelagert. Diese jüngste Entwicklung bedeutet einen beachtlichen Fortschritt gegenüber den Problemen aus der Atomtechnik, derer sich der Militär- und Wirtschaftskomplex von vornherein bemächtigt hat, ohne vorher die sich hieraus ergebenden Entsorgungs- und Gefahrenprobleme gelöst oder auch nur in allen Folgen erörtert zu haben. So sehr sich die Ethikkommissionen um die Lösung der ihr Spezialgebiet betreffenden Einzelfragen bemühen, fehlt es doch bisher an der Erarbeitung von Grundlagen für den Gesamtkomplex der Beziehung des Verhaltenssubjekts Mensch zu seiner Umwelt mit ihren anderen Menschen und sonstigen Lebewesen, die von den Auswirkungen dieses Verhaltens nachteilig betroffen werden können, unter dem Gesichtspunkt der verlässlichen Vorsorge gegen mögliche Probleme. Die Methodik der praktischen Philosophie, von den Tatsachen zu den ethischen Bewertungen und Grundlagen einer universalen Moral zu gelangen, soll versuchen, diese Lücke zu schließen.
4.4. Die Ethik der Praktischen Philosophie 4.4.1. Ausgangspunkt Freiheit Die Freiheitstheorie hat die von jedem Menschen in seinen verschiedenen Lebenssituationen höchst unterschiedlich erfahrene reale Tatsache Freiheit beschrieben und gezeigt, was Freiheit nicht ist: • kein abstraktes Konstrukt eines bloß denkbaren Begriffes, • kein der Erscheinungswelt transzendentales Abstraktum einer intelligiblen Welt, • keine metaphysische Spekulation,
4.4. Die Ethik der Praktischen Philosophie
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• kein von der Person des Freiheitsträgers abgelöstes Absolutum, • keine Eigenschaft oder Funktion einer hypostasierten Abstraktion Wille, • keine zur Begründung von Zurechenbarkeit benötigte Fiktion in einer durchgehend kausal determinierten, unfreien Welt, • keine ideale Wesenheit, • kein selbständiger Wert, • keine ethische Kategorie. Ethische Systeme, die auf Ideen solcher Freiheitsbegriffe aufbauen, verfehlen die Realität des praktischen Lebens und erweisen sich als ungeeignet, Probleme der Praxis zu lösen. Nach den Ergebnissen der Freiheitstheorie ist Freiheit: • die aus der Beziehung des Freiheitsträgers mit seiner jeweiligen Umwelt entstehende reale, beschreibbare und messbare Möglichkeit zu selbstbestimmtem Verhalten, • ist a) b) c)
Antwort auf die untrennbar miteinander verbundenen drei Fragen: wessen Freiheit? Freiheit wovon? Freiheit wozu?
a) Freiheitsträger ist jeder Mensch als Individuum mit seinen einsetzbaren körperlichen Kräften, geistigen Fähigkeiten, Kenntnissen und eigenen Hilfsmitteln und allenfalls Hilfe aus der Umwelt, – er ist Subjekt seiner Fähigkeiten, Erkenntnisse und seines Verhaltens, – er ist Objekt fremder Mit- und Gegenwirkung und fremder Erkenntnis, – er ist als Verhaltenssubjekt Normadressat für moralische Regeln. b) Freiheit von fremder (vorwiegend menschlicher) Gegenwirkung gegen sein Verhalten – ist natürlicher Zustand oder Errungenschaft, durch Überwindung von Gegenwirkung – ist Resultante des Kräfteparallelogramms aus eigenen Kräften, Fähigkeiten und fremder Hilfe gegenüber fremder Gegenwirkung. c) Freiheit zu selbstbestimmtem Verhalten ist Möglichkeit, – unabhängig von ihrer Verwirklichung durch Verhaltensvollzug, – unabhängig von ihrem Erkanntwerden, – jedes Individuum hat nur eine Freiheit unabhängig von ihrem jeweiligen Grad und Inhalt.
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4. Ethik
Diese Freiheit zu selbstbestimmtem Verhalten beruht auf den Gegebenheiten praktischen Lebens, wird aus den Erkenntnissen der Erfahrung beschrieben und bildet gemeinsam mit der Verhaltenstheorie die Grundlage der darauf aufbauenden Ethik. 4.4.2. Ausgangspunkt Verhalten Den weiteren Ausgangspunkt für ethische Untersuchung und Bewertung bildet das in der Verhaltenstheorie beschriebene Verhalten der Menschen. Während das Freiheitsproblem um die dem Menschen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu selbstbestimmten Verhalten kreist, beschreibt die Verhaltenstheorie die Verwirklichung einer dieser Möglichkeiten durch Vollzug eines selbstbestimmten Verhaltens. Verhalten ist der Oberbegriff über die beiden Arten: Handeln: aktiver Vollzug einer bestimmten Handlung Unterlassen: im Allgemeinen passives Unterbleiben einer bestimmten Handlung (ohne Berücksichtigung der Wirkung) Unterlassen im Besonderen: schädliche Verweigerung einer situationsbedingt für das Objekt notwendigen Hilfeleistung. Dieser Unterlassungsbegriff der schädlichen Verweigerung einer situationsbedingt notwendigen Hilfeleistung ist Gegenstand der praktischen Philosophie. Verhalten ist immer auf ein Ziel oder einen Zweck gerichtet: Lebensziel: die allen Lebewesen vorgegebene Selbst- und Arterhaltung Zwecke: vom Menschen selbst gesetzt, beliebigen Inhalts Wirkung: Resultat des dafür ursächlichen Verhaltens Wirkungsbezug: Individualverhalten wirkt nur auf Verhaltenssubjekt Sozialverhalten wirkt auch auf andere (Objekt) Spaltungsverhältnis beim Sozialverhalten zwischen Subjekt und Objekt unaufhebbar: Subjekt verhält sich – Objekt wird davon betroffen Wirkung auf Objekt: positiv – Hilfe S!O negativ – Schaden S # O Verhaltenssubjekt: immer nur Mensch als Individuum
4.4. Die Ethik der Praktischen Philosophie
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Verhaltensobjekt: alle anderen Lebewesen: andere Menschen, Tiere, Pflanzen und Ökosysteme Determination des Verhaltens: final auf Erreichen des Ziels und Zwecks gerichtet Vorgangsweise des Verhaltenssubjekts: • Zielerkennung oder Zwecksetzung • Prüfung der Eignung des geplanten Verhaltens, Mittel zum Zweck zu sein, um angestrebten Erfolg zu bewirken, Prüfung des Freiheitsraumes, ob geplantes Verhalten möglich • Verhaltensantrieb und Vollzug des Verhaltens • Erfolg oder Misserfolg, falls Mittel kausal ungeeignet andere Wirkung verursacht Individualverhalten: mangels Fremdwirkung unproblematisch, benötigt keine Regelung Sozialverhalten: bei positiver Fremdwirkung (Hilfeleistung, keine Schädigung) benötigt keine Regelung Problemverhalten: nur Sozialverhalten mit schädlicher Wirkung auf Objekt bedarf der Regelung und bildet Aufgabengebiet und Gegenstand der Ethik Bewertung der schädlichen Wirkung: • allgemein nach objektiven Merkmalen • dann vorrangig durch Objekt • hilfsweise durch angenommene Gegenseitigkeit im Sinne der Goldenen Regel • Verallgemeinerung im Sinne des kategorischen Imperativs. Schädliche Wirkung beim Objekt: • bei Handeln: unmittelbare Schädigung • bei Unterlassung von Hilfe: mittelbar durch Belassen des das Objekt schädigenden Zustands oder Prozesses
4.4.3. Die andere Fragestellung Kant hat neben seinen transzendentalen Themen (Gott, Unsterblichkeit, Freiheit) die praktische Frage „Was sollen wir tun?“ als das zentrale Pro-
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blem der Menschheit erkannt und zum Ausgangspunkt seiner ethischen Arbeiten • Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, • Kritik der praktischen Vernunft und • Metaphysik der Sitten genommen. Kants Frage umfasst in ihrer weiten positiven Formulierung alles Tun der Menschen. Damit wird jede Handlung, jede nur denkbare Tätigkeit der Menschen zum Gegenstand ethischer Betrachtung und Bewertung erhoben, also auch belanglose Verrichtungen des Alltags, von denen niemand anderer betroffen wird und bei denen sittliche Beurteilung daher überflüssig ist. Neben dieser Überfrachtung des Gegenstandes lässt Kants generelle Fragestellung nur die Auswahl zwischen mehreren Handlungsvarianten offen, aber nicht die Alternative, eine unerwünschte Handlung zu unterlassen und statt ihrer einfach untätig zu bleiben. Erweist sich Kants Frage nach allem Tun als zu weit, ist sie durch die Beschränkung auf das Handeln allein zu eng gefasst und muss durch das Einbeziehen des Unterlassens erweitert werden. Dass auch durch Unterlassung von Hilfe Schaden angerichtet werden kann, wurde in der Verfahrenstheorie eingehend erörtert. Die Frage nach dem „Tun“ ist auf die Frage nach dem „Verhalten“ umzustellen. Der wesentlichste Einwand richtet sich aber gegen die positive Formulierung der Frage durch die das Anwendungsgebiet unnötig ausgeweitet und eine Scheinwelt von Pflichten, das „Gute“ zu tun, errichtet wird, wobei der „gute Wille“ zum Kriterium und die Pflichterfüllung zum einzigen achtbaren Motiv erhoben werden. Wie Karl Popper in Band I Anm. 2 zu Kap. 9 seines Werkes „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ feststellt, trägt es „zur Klarheit auf dem Gebiet der Ethik wesentlich bei, wenn wir unsere Forderungen negativ formulieren, d.h. wenn wir die Beseitigung des Leides, nicht aber die Förderung des Glücks verlangen.“ Popper befindet sich damit in Übereinstimmung mit den praktischen Systemen des Rechtswesens, die für bestimmte verpönte Verhalten Strafenkataloge erlassen, statt den in der Praxis völlig unmöglichen positiven Weg eines unendlichen Katalogs gebotener Verhaltensweisen einzuschlagen. Auch die umfassenden Verhaltensregeln des Dekalogs sehen nur im vierten Gebot positiv formulierte Handlungspflichten gegenüber den negativ gefassten Geboten 5–10 vor. Folgt man Poppers Forderung nach Klarheit der ethischen Forderung durch negative Formulierung und schließt sich der Methodik der praktischen Systeme an, verändert sich die Frage Kants
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von „Was sollen wir tun?“ auf „Was sollen wir nicht tun?“ Erweitert man den handlungstheoretischen Ansatz durch Einbeziehung von Unterlassung zum Konzept der Verhaltenstheorie, hat die Fragestellung in ihrer negativen Formulierung zu lauten: „Wie sollen wir uns nicht verhalten?“ Geht man weiters vom Wirkungsbezug im Individualverhalten und im Sozialverhalten aus und unterscheidet nützliche und schädliche Auswirkungen auf das Objekt, kann das vom Verhaltenssubjekt gesteuerte Individualverhalten ebenso in Wegfall kommen wie das dem Objekt ohnehin nützliche Sozialverhalten, sodass sich das Arbeitsgebiet der Ethik in der praktischen Philosophie auf die Frage beschränken kann: „Wie sollen wir uns anderen gegenüber nicht verhalten?“ Dass eine solche, um mit Popper zu sprechen, wesentlich bescheidenere Aufgabenstellung, beschränkt auf ein überschaubares Gebiet des für andere Probleme schaffenden Verhaltens bessere Chancen einer Realisierung und Durchsetzung der von ihr gefundenen Moralprinzipien und Regeln erwarten kann als die Umwege und Irrwege der konventionellen Ansätze, liegt auf der Hand und wird durch die weitere Darstellung zu erweisen sein. Gegenüber Kants rigorosem Pflichtengebot und seinem kategorischen Imperativ, der jedem die Rolle eines Gesetzgebers über die Maximen seines Handels auferlegt, lässt eine Verhinderung des andere schädigenden Verhaltens alle Möglichkeiten der freien Lebensgestaltung und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit offen und hindert niemanden an dem Gebrauch seiner Freiheit – vorausgesetzt, dass dieses Verhalten niemand anderem schadet oder auch nur schaden kann. Diese Einstellung braucht sich nicht auf den Umgang mit anderen Menschen zu beschränken. Es können auch sonstige Lebewesen, Tiere und Pflanzen als Objekt einbezogen werden. Wenn Menschen Objekt des Verhaltens sind, kann man von Humanethik sprechen. Bilden sonstige Lebewesen das vom Verhalten von Menschen betroffene Objekt, kann dieser Teil der Ethik Naturethik genannt werden. In der Naturethik gelten die Grundsätze der Humanethik nur modifiziert unter Berücksichtigung der Ungleichheit von Subjekt und Objekt, der Entwicklungshöhe des Objekts und seiner Stellung in der Nahrungskette und Abhängigkeit vom Menschen, aber auch umgekehrt der Abhängigkeit der Menschen von der Existenz der sonstigen Lebewesen. Dies lässt sowohl
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eine egoistische anthropozentrische Interpretation als auch die weitergehende Anerkennung selbständiger Existenzberechtigung und von Hege- und Wohlfahrtsansprüchen der sonstigen Lebewesen zu. Jedenfalls erweitert sich das auf Problemvermeidung gerichtete Arbeitsfeld der Ethik durch die Anerkennung sonstiger Lebewesen als ethische Schutzobjekte in wesentlichem Ausmaß und betritt ethisches Neuland.
4.5. Humanethik 4.5.1. Die Grundlagen Das dualistische System der Trennung der Beschreibung der Tatsachen von ihrer Bewertung vereinfacht die Aufgabe der Ethik gegenüber konventionellen Ansätzen. Statt von der Idee der ethischen Theorie her quasi „von oben“ zu den Fakten vorzudringen, geht die praktische Philosophie den umgekehrten Weg „von unten“, von der Feststellung der Tatsachen zu ihrer ethischen Bewertung. Sie folgt damit den Realitäten des menschlichen Lebens, trägt der aus der Wirkung des Verhaltens erwachsenen moralischen Verantwortlichkeit Rechnung und vermeidet damit, was Karl Popper der „wissenschaftlichen Ethik“ zum Vorwurf macht, nämlich durch Diskussionen über die „Definition des Guten oder über die Möglichkeit, es zu definieren“ an den drängenden Problemen des sittlichen Lebens vorbeizugehen (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I, Anm. 18 zu Kap. 15). Selbst der Schöpfer der materiellen Wertethik Nicolai Hartmann hat einbekannt, dass der letztliche Sinn seines Reiches idealer Werte darin gelegen ist, was das menschliche Handeln für den anderen bringt (Ethik, Kapitel 27, IV. Ausgabe, Berlin 1962): „Der Zweck der Wahrhaftigkeit ist gar nicht, selbst wahrhaftig zu sein, sondern dieses, dass derjenige, zu dem er spricht, die Wahrheit erfahre; ebenso der Zweck des Hochherzigen oder Liebevollen ist nicht, hochherzig oder liebevoll zu sein, sondern dieser, dass der Andere, den er beschenkt oder erfreut, das Geschenk oder die Freude habe. . . . Ihm ist es gar nicht um sein eigenes sittliches Sein, sondern um das Sein des Anderen zu tun, und zwar gemeinhin keineswegs um sein sittliches, sondern um sein ganzes menschliches Sein, das leibliche wie das geistige, d.h. um irgendwelche für ihn wertvolle Sachverhalte.“
Anstelle von Diskussionen über zwischengeschaltete Hilfskonstruktionen kann die Ethik der praktischen Philosophie von den verhaltenstheoretisch aufgearbeiteten und festgestellten Tatsachen des Verhaltens und der dadurch verursachten oder möglicherweise entstehenden negativen Wirkung auf andere ausgehen. Die Beziehung zwischen dem bestimmenden Verhaltenssubjekt und dem von der Wirkung betroffenen Objekt bildet die Basis der ethischen Bewertung.
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Eine weitere Vereinfachung der ethischen Aufgabe ergibt sich aus Poppers Vorschlag einer negativen Formulierung der ethischen Forderung. Dadurch reduziert sich der Themenkreis von einer Befassung mit sämtlichen Lebensbereichen und ihren Tätigkeiten auf die relativ seltenen Ausnahmesituationen, in denen anderen Menschen schädliches Problemverhalten geschieht, aber unterbleiben sollte. Mit dieser negativ gefassten Minimalforderung wird nur dort in die Ausübung der persönlichen Freiheit eingegriffen, wo es im Interesse der menschlichen Ordnung unbedingt nötig ist. Alle anderen Verhalten, wie Individualverhalten und dem Objekt nützliches Sozialverhalten bleiben außer Betracht. Damit konzentriert sich Ethik auf die Suche nach der Antwort auf die in 4.4.3. vorgestellte Frage: „Wie sollen wir uns anderen gegenüber nicht verhalten?“ und die Antwort fällt sehr einfach aus: Wir sollen jedes Verhalten vermeiden, das geeignet ist, anderen Schaden zu bereiten. Welches Verhalten für andere schädlich ist, ergibt sich bereits aus der verhaltenstheoretischen Tatsachenfeststellung. Die ethische Bewertung liegt darin, dass Verhalten zum Schaden anderer nicht stattfinden soll. Das Verhaltenssubjekt wird in der Ausübung seiner Freiheit einzig und allein nur in der Weise eingeschränkt, dass es auf ein anderen schädliches Verhalten verzichtet. Die negative Fassung dieser ethischen Grundlage aller weiteren Untersuchungen bedarf bei der Verhaltensart Handeln keiner weiteren Erörterung: Das Verhaltenssubjekt soll keine Handlung begehen, die ein Objekt schädigen könnte, es soll sich vielmehr einer derartigen Handlung enthalten. Bei der Verhaltensart Unterlassen (im engeren Sinn) einer dem Objekt hilfreichen Handlung ergibt sich eine doppelte Negation: Das dem Objekt schädliche Unterlassen einer ihm in einer Situation von Not oder Hilfsbedürftigkeit nützlichen Handlung soll unterbleiben und stattdessen Hilfe geleistet werden. Die doppelte Verneinung führt also beim Unterlassen inhaltlich zu einem positiven Gebot von Hilfe, die einfache Verneinung beim Handeln zu einem Verbot der Schädigung. Das Verbot des ein Objekt schädigenden Handelns ist ein unbedingtes und von ungleich größerer Bedeutung als das aus der doppelten Negation erfließende Hilfegebot. Geht doch von der aktiven Schädigungshandlung weit größere Gefahr für den Einzelnen, die Gesellschaft und die gesamte Menschheit aus als vom Passivbleiben, wenn Hilfe erforderlich ist. Zwischen aktiver Schädigungshandlung und passivem Unterlassen von Hilfe besteht eine moralische Asymmetrie. Diese kommt schon dadurch zum Aus-
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druck, dass jedes Objekt einem Angriff auf seine Person oder seine Interessensphäre den elementarsten menschlichen Anspruch auf Abwehr der drohenden Schädigung durch Notwehr, sogar unter Anspruch auf Nothilfe durch davon nicht Betroffene, entgegensetzen kann, was bei der Unterlassung von Hilfe unmöglich ist. Wie bereits in der Verhaltenstheorie ausgeführt, gibt es folgende Unterarten des Handelns zu Lasten eines davon betroffenen Objekts: • konfrontatives Handeln: direkt gegen das Objekt gerichtet, Zweck ist Schädigung oder es wird Schädigung in Kauf genommen, um Vorteile zu erlangen, Schaden tritt unmittelbar oder über Umwege mittelbar ein • fahrlässiges Handeln: durch Mangel an erforderlicher Sorgfalt entsteht Schaden, der aber nicht beabsichtigt wurde • kompetitives Handeln: mehrere streben nach demselben, nur einmal verfügbaren Gut zum eigenen Nutzen. Beim konfrontativen Handeln gilt das Schädigungsverbot ohne Einschränkung, beim fahrlässigen Handeln beinhaltet das Verbot dieses sorglosen Verhaltens das Gebot, alle Sorgfaltspflichten einzuhalten, um zufälligen Schaden abzuwenden, während für kompetitives Handeln Fairnessregeln anzuwenden sind, die allen Bewerbern gleiche Bedingungen gewähren. Wird die Fairness verletzt, liegt konfrontatives Handeln vor. Beim Unterlassen von Hilfeleistung an ein in einer Situation von Not oder Hilfsbedürftigkeit befindliches Objekt muss die Hilfehandlung dem Verhaltenssubjekt möglich und zumutbar sein. Die generelle Regel des altrömischen Rechts „nemo ultra posse tenetur“ (niemand kann über seine Leistungsmöglichkeit hinaus verpflichtet werden) gilt auch für die Pflicht zur Hilfeleistung. Außerdem muss diese Pflicht zumutbar sein und darf z. B. nicht mit Todesgefahr verbunden sein. Die Hilfspflicht hängt in der Dringlichkeit ihres moralischen Appells auch von der Verursachung der Notlage durch das Verhaltenssubjekt, durch Dritte oder Naturgewalten oder sogar durch das Objekt selbst ab, weiters von der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt oder von der Zugehörigkeit des Subjekts zu Berufsgruppen, die sich der Hilfe an Notleidende verschrieben haben (Feuerwehren, Ärzte, Sanitäter etc.). Je nach den Umständen des Einzelfalles kann die Verwerflichkeit der Verweigerung von Hilfe von leichter Tadelhaftigkeit bis zu schwerster Menschenrechtsverletzung krimineller Natur reichen. 4.5.2. Das Rechtfertigungsproblem Das größte Problem, mit dem konventionelle Ethikansätze zu kämpfen haben, liegt in der Begründung oder der Rechtfertigung ihres präskriptiven
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Konzepts einer Handlungsnorm, mit dem eine Handlung gefordert und eine andere abgelehnt wird. Die Suche nach den Gründen ist Ursachenforschung und weist immer in die Vergangenheit zurück. Sie setzt Unfreiheit voraus und führt im Extremfall der Annahme einer durchgehenden Kausaldetermination des gesamten Weltgeschehens in einen unendlichen Begründungsregress. Die geschlossene Begründungskette wird aber durch jeden Freiheitsakt unterbrochen. Die rückwärts gewandte Methodik widerspricht der das menschliche Leben beherrschenden Finalität mit ihrer Möglichkeit der Zwecksetzung und der Auswahl eines als Mittel kausal geeigneten Verhaltens. Von den zahlreichen Begründungsansätzen kann nur der Naturalismus Plausibilität für den Bereich der Aufrechterhaltung des jedem Lebewesen vorgegebenen, unabänderlichen Lebensziels für sich in Anspruch nehmen. Neben der Selbsterhaltung und Arterhaltung, die ständige Aufrechterhaltung biologischer Sollwerte der Individuen innerhalb eines engen Toleranzbereiches und die Weitergabe des Lebens und Aufzucht der Nachkommen erfordern, ist auch eine ständige Einhaltung arterhaltender friedlicher Verhaltensweisen und ihre Adaptierung an die jeweiligen Lebensbedingungen der ökologischen Nischen erforderlich. Ein Kampf aller gegen alle hätte längst zum Erlöschen der Menschheit geführt. Die Entwicklung der Art auf ihren heutigen Stand ist der Einhaltung von arterhaltenden und artfördernden Verhaltensweisen zu danken, sodass für Verhaltensregeln auf dem biologischen Niveau des Lebensschutzes eine naturalistische Begründung durchaus verwertbar ist. Die gegen den Naturalismus vorgebrachte Missinterpretation von G. E. Moores Lehre vom naturalistischen Fehlschluss, wonach präskriptive Sollensaussagen nicht aus deskriptiven Seinsaussagen abgeleitet werden könnten (G. E. Moore, Principia Ethica), übersieht, dass es sich bei Sollensvorschriften zur Erhaltung des vorgegebenen Lebensziels um Seinsbedingungen aller Lebewesen handelt, ohne die ein Fortbestand der Art unmöglich ist. Wie die Entwicklung von Organen ist auch die Entwicklung arterhaltender Verhaltensweisen eine unverzichtbare Aufgabe der Evolution aller Lebewesen. Auf die Menschheit angewendet bedeutet dies im besonderen Maße die Anpassung der Verhaltensweisen an die durch den technischen Fortschritt rapid anwachsende Gefährlichkeit der Waffentechnik mit ihrer vielfachen Overkillcapacity zu einer vollständigen Auslöschung der gesamten Menschheit. Die Bemühungen um eine Rechtfertigung von Prinzipien und Normen setzen deren Bestand schon voraus und stellen einen nachträglichen Prozess dar, der die Berechtigung des errichteten Systems beweisen soll. Es geht dabei primär um eine Entschuldigung für einen Eingriff in die Sphäre des durch das System Betroffenen, um einen nachträglichen Versuch, die Erlaubtheit des Inhalts der Anordnung unter Beweis zu stellen.
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Das Rechtfertigungsproblem ist tatsächlich eng mit dem Inhalt des Verfügten verknüpft. Geht man, wie in vielen der konventionellen Ethikkonzepte, von einer Einheit allen Handelns – oder allen Verhaltens – aus und will undifferenziert alle diese Akte unter ein Prinzip oder ein Normensystem stellen, gerät man tatsächlich in Verlegenheit, die Berechtigung eines solchen Pausch- und Bogensystems mit seinen Eingriffen in die Ausübung der persönlichen Freiheit nachzuweisen. Woher soll die Befugnis zu solchen Beschränkungen kommen, wenn man Naturalismus als Prinzip der Verhaltensregelung generell ablehnt? Im Gegensatz zu religiösen ethischen Systemen, die sich auf geoffenbarte göttliche Weisung ihres Religionsgründers oder von ihm abgeleitete, vom Glauben umfasste Autorität berufen, stehen philosophischen Konzepten Autoritäten, auf die der Philosoph sich berufen könnte, nicht zur Verfügung. Versuche, Abstraktionen wie z. B. der „Vernunft“ oder dem „guten Willen“ zu hypostasierter Autorität zu verhelfen, vermögen nicht zu überzeugen, desgleichen nicht die Annahme der Überlegenheit von Verstand über Gefühl oder ihrer Funktion Denken über das Fühlen. Nichts kann Eingriffe in die persönliche Lebensgestaltung rechtfertigen, wenn dadurch niemand anderer betroffen wird oder wenn die Wirkung des Verhaltens für andere ohnehin nützlich ist. Von diesen Problemen einer Rechtfertigung bleibt die Ethik der praktischen Philosophie durch die Einschränkung ihres Aufgabengebietes verschont. Wenn nur das andere schädigende Problemverhalten ihren Arbeitsbereich bildet und ihr Bestreben nur auf Vermeidung dieses problematischen Verhaltens gerichtet ist, braucht sie ihre Bemühungen und das aus Vermeidungsprinzipien und -regeln bestehende Resultat ihrer Arbeit nicht zu rechtfertigen. Die Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungspflicht geht vielmehr auf denjenigen über, der diese Regeln zu brechen beabsichtigt oder gebrochen hat. Denn er ist es, der aktiv in fremde Interessen eindringen will, sich auf Kosten anderer Vorteile zu deren Lasten verschaffen will, Bestehendes zu seinen Gunsten ändern oder umgekehrt passiv ihm mögliche und zumutbare Abhilfe gegen schädliche Zustände oder Prozesse zugunsten eines Objekts unterlassen will. Für dieses Fehlverhalten trifft das Subjekt die Beweislast seiner Rechtfertigung oder Entschuldigung in vollem Umfang und entfällt jede Rechtfertigungspflicht für das dieses Fehlverhalten verhindernde System. Aber selbst bei Annahme einer Rechtfertigungsverpflichtung für eine nur die Vermeidung von Problemverhalten anstrebende Ethik genügt eine komparative Rechtfertigung des Systems. Es muss aufgrund seiner Prinzipien und Normen für die Menschheit bessere Resultate erzielen als ein Fehlen dieses Kodex überhaupt oder gar ein System gegenteiligen Inhalts. Es
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müsste auch dem überzeugtesten Skeptizisten, Subjektivisten und generellen Leugner der Notwendigkeit von Verhaltensvorschriften die Unrichtigkeit seiner Ansichten vor Augen führen, wenn er sich Zustände bei völligem Fehlen jeder Regelung oder bei gegenteiligen Anordnungen vor Augen führt. Jeder wäre berechtigt oder sogar aufgefordert, allen kriminellen Instinkten freien Lauf zu lassen, alle Menschen, den Skeptiker inbegriffen, zu berauben, zu quälen, ja zu töten. Allein wenn die individuellen Verbote des Dekalogs in ihr Gegenteil verkehrt wären: Du sollst töten, ehebrechen, stehlen, als falscher Zeuge gegen deinen Nächsten auftreten, Haus, Weib, Knecht und Magd und alles, was deinem Nächsten gehört, begehren!
wäre das Ende der zivilisierten Menschheit angebrochen. Auf die Ethik der praktischen Philosophie bezogen, wären die Grundlagen eines Moralkodex dann, andere nach Möglichkeit zu schädigen und ihnen in keinem Fall zu helfen. Dass eine Umkehrung der im praktischen Leben immer wieder bewährten Grundsätze der Problemvermeidung und -lösung zur totalen Anarchie und zum Kampf jedes gegen jeden führen und die Art Homo sapiens als Spitzenprodukt der Evolution von diesem Planeten vertilgen würde, sollte auch einem zynischen Nihilisten ohne weitere Beweisführung einleuchten. Die komparative Rechtfertigung der ethischen Grundlagen wäre damit in einer jedermann evidenten Weise erbracht.
4.5.3. Die Suche nach der Moral Geht man von Poppers drei Grundsätzen aus: 1. Alles Leben ist Problemlösen 2. Dualismus von Tatsachen und Maßstäben 3. Negative Formulierung der ethischen Forderung behandelt der erste Grundgedanke die Aufgabe, der sich eine dem praktischen Leben dienende Ethik zu unterziehen hat, nämlich nicht nur bereits bestehende Probleme einer Lösung zuzuführen, sondern auch – was die einfachste Form darstellt – Probleme erst gar nicht entstehen zu lassen. Da sich Ethik mit dem Verhalten der Menschen und die Ethik der praktischen Philosophie nur mit dem anderen Probleme bereitenden Verhalten befasst, kommt es in erster Linie darauf an, Handlungen zu vermeiden, die andere schädigen können, und in zweiter Linie, die Unterlassung situationsbedingt notwendiger Hilfe für andere zu vermeiden. Mit dieser negativen Formulierung ist Poppers drittem Grundgedanken entsprochen, der überflüssige Ein-
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griffe in das Privatleben, ausufernde Hilfskonstruktionen metaphysischen Inhalts und Aufblähung des Themenkreises vermeidet und für eine klare Abgrenzung der Arbeitsgebiete sorgt. Dem zweiten Grundgedanken Poppers wird mit der methodischen Trennung der deskriptiven Tatsachenfeststellung in einer vorgeschalteten Verhaltenstheorie entsprochen, auf deren Ergebnis Ethik aufbauen kann. Die als Voraussetzung einleitende Freiheitstheorie ergibt sich aus dem einzigartigen Lehrstück „Fall der Berliner Mauer“. Infolge dieser Gliederung werden die Tatsachen des selbstbestimmten Verhaltens und seiner positiven oder negativen Auswirkungen auf andere exakt erfasst und können dann ethisch bewertet werden. Dass die ethische Bewertung zu dem einfachen Prinzip führt, jedes für das Objekt schädliche Verhalten, also Schädigungshandlung und Unterlassung von Hilfe, zu vermeiden, geht auf Poppers dritten Grundgedanken der negativen Formulierung der Forderung zurück. Bei positiv gefassten Geboten, dieses oder jenes zu tun, wäre eine Unzahl von erwünschten Handlungen anzuführen, die jeden realistischen Kodex in ihrem Umfang sprengen und zu verwirrender Unübersichtlichkeit führen müsste. Wollte man aber Gebote über die Nützlichkeit definieren, müsste klar gestellt werden, worin diese besteht und wem sie zukommen soll. Man käme sonst in die ausweglose Situation des konventionellen Utilitarismus, der ohne Definition des zu mehrenden „Glücks“ und ohne Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt im gemeinsamen Oberbegriff der „Betroffenen“ zu vagen Formulierungen und einem „hedonistischen Kalkül“ Zuflucht nehmen und dabei unter anderem auch das Glück des einen durch das Leid des anderen in Kauf nehmen muss. Die Vorteile der negativen Formulierung „minimize suffering“ gegenüber dem konventionellen „maximize happiness“ hat Karl Popper in seinem Vorschlag eines „Negativen Utilitarismus“ (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I Kap. 5 Anm. 6 und Kap. 9 Anm. 2 und Bd. II Kap. 25 und Anm. 28) dargelegt, wodurch an die Stelle utopischer Glücksverheißung realistische und dringlichere Leidverminderung trifft und das Unrecht des Aufwiegens von Glück und Leid vermieden wird. Infolge der im Aufruf zur Minimierung von Leid implizit enthaltenen Aufforderung, kein Leid zu bereiten, und der weiteren Asymmetrie der Priorität des Schädigungsverbotes vor dem Hilfegebot (E. Kadlec „Popper’s Negative Utilitarianism“ in Karl Popper and the Open Society, Wien 2007) erweist sich der Negative Utilitarismus über den Bereich der Sozialpragmatik hinaus auch als Maßstab für die moralische Richtigkeit des persönlichen zwischenmenschlichen Verhaltens und erfüllt damit die Forderung nach Einheitlichkeit moralischer Grundsätze im privaten wie im öffentlichen Lebensbereich.
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Aus der negativen Formulierung der auf Vermeidung des anderen Probleme verursachenden Verhaltens reduzierten Ethik der praktischen Philosophie ergibt sich das Prinzip: Vermeide ein anderen Menschen schädliches Verhalten! Dies entspricht inhaltlich der eine Grundlage des altrömischen Rechtes bildenden Aufforderung: Neminem laede! (Schade niemandem!) Es reicht aber durch die Einbeziehung der zweiten Verhaltensart, dem Unterlassen von Hilfehandlung, darüber hinaus und entspricht der erweiterten Fassung des römischen Grundsatzes: Primum non nocere, secundum adiuvare! (Erstens nicht schaden, zweitens unterstützen!) Damit war im Praxissystem des alten römischen Rechts die zweiteilige Grundlage des Schädigungsverbotes und des durch Vermeidung der Unterlassung von Hilfeleistung nunmehr negativ formulierten Hilfegebotes ebenso wie die Rangordnung ihrer Dringlichkeit bereits verankert. Das ohne Ausnahmen geltende Prinzip der Humanethik, ein für andere Menschen schädliches Verhalten zu vermeiden, schließt in sich den Gleichheitsgrundsatz ein. Es geht von der Gleichartigkeit aller Menschen als Angehörige derselben Art Homo sapiens aus und anerkennt, dass jedem Menschen als einmaligem und unverwechselbarem Individuum unausweichlich nur ein Leben zusteht, das für jeden daher prinzipiell gleich wertvoll und in Würde zu achten ist. Insbesondere kommt es dem Verhaltenssubjekt nicht zu, durch das von ihm bestimmte Verhalten nachteilig in das Leben und die Interessen anderer Menschen einzugreifen. Solche Eingriffe in die Sphäre anderer Menschen zu verhindern und das davon schädlich betroffene Objekt durch Suche nach moralischen Verhaltensregeln zu schützen, ist Aufgabe der Humanethik. Sie befindet sich damit im Einklang mit den seit altersher in allen Hochkulturen zu findenden praktischen Verhaltensregeln des Gegenseitigkeitsprinzips, der so genannten Goldenen Regel. In ihrer negativen Formulierung: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“ fordert sie, von Handlungen abzulassen, mit denen man selbst nicht behandelt werden möchte. Die positive Formel:
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4. Ethik
„Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das sollt ihr auch ihnen tun!“ verlangt aktive Hilfehandlungen in einer Weise, wie man selbst sie von den anderen erwartet. Beide Formeln entsprechen zusammen inhaltlich dem Prinzip der Humanethik, stellen aber auf das subjektive Empfinden des Subjekts ab, das sich in die Rolle des Objekts hineindenkt und seine eigenen Bewertungen dem Objekt unter der Annahme der Gleichartigkeit der Ansichten unterstellt. Die Humanethik der praktischen Philosophie bezieht sich dagegen auf die als Tatsache objektiv beschreibbare und feststellbare Schädlichkeit, akzeptiert aber eine davon abweichende subjektive Bewertung durch das kontaktierte Objekt als verbindlich und wendet die Gegenseitigkeitsformel nur hilfsweise bei Unmöglichkeit der anderen vom Subjekt unabhängigen Bewertungsmaßstäbe als ultima ratio an. Die weite Verbreitung der Goldenen Regel ist in vielen Kulturkreisen dokumentiert. In der christlichen Religion ist sie in ihrer positiven Formel durch die Bergpredigt als „Das Gesetz und die Propheten“ (Matthäus 7,1 und Lukas 6,21) rezipiert und damit, ergänzt um das Liebesgebot als sittlicher Auftrag, anerkannt. Dagegen ist Kants Verallgemeinerungsprinzip, wonach die Maximen des Handels jederzeit als allgemeines Gesetz anerkannt sein müssten, auf seine Lehre vom kategorischen Imperativ beschränkt geblieben und hat keine darüber hinaus gehende Bedeutung gewonnen. Karl Popper, ein großer Bewunderer Kants, hat dieses Prinzip nicht einmal erwähnt, während er die Goldene Regel als guten Maßstab bezeichnete, der „vielleicht sogar noch verbessert werden kann, indem man andere, wo immer möglich so behandelt, wie sie behandelt werden wollen“ (Addendum 1/13 zu Bd. II, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde). Für die praktische Philosophie hat das Verallgemeinerungsprinzip in der Verhaltenstheorie in abgewandelter Form insofern Bedeutung, als Individualverhalten dann, wenn es Massen betreiben, zu einem auch für andere schädlichen Sozialverhalten mutieren kann. Dies ist etwa bei Tätigkeiten, die in extremer Weise limitierte Ressourcen belasten, oder angesichts der arbeitsteiligen Organisationsform der Gesellschaft bei verbreitetem Unterlassen von Arbeiten, auf die die Allgemeinheit angewiesen ist, der Fall. Das Massenproblem ist hier aber ein faktisches und nicht wie bei Kant ein ethisches Kriterium der Bewertung des eigenen Handelns, dessen Maxime einem gedachten allgemeinen Gesetz entsprechen sollen. Das einheitliche ethische Prinzip der Vermeidung von anderen Menschen schädlichem Verhalten steht in Übereinstimmung mit den wichtigsten praktischen Grundsätzen der Menschheit, wobei die Zusammenfassung der sonst getrennten Verbote und Gebote von Handlungen durch die Neuaufnahme des auch Unterlassungen einschließenden Verhaltensbegriffes ermöglicht wird.
4.6. Naturethik
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Die Suche nach Grundlagen für eine Universalmoral bringt es mit sich, dass Prinzipien und Normen unabhängig von ihrem Anwendungsbereich inhaltlich gleich sein müssen. Gleichgültig, an welche Verhaltenssubjekte sich der moralische Appell richtet, ob an Individuen allein oder in menschlichen Gemeinschaften aller Art, gleichgültig auf welche Örtlichkeiten und welche Situationen er sich bezieht, immer muss der Inhalt Übereinstimmung aufweisen und auf den Schutz des Objekts, ob Individuen oder Menschen in Gemeinschaften, hinzielen. Er muss für die Beziehung von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Gemeinschaft und von Gemeinschaften zum Einzelnen, ob Mitglied oder Außenstehender, aber auch zwischen den Gemeinschaften in gleicher Weise gültig und richtungsweisend sein. Er muss Streitschlichtungskompetenz im Konflikt der Interessen erbringen und geeignet sein, auf seiner Basis eine offene Gesellschaft zu errichten und aufrecht zu erhalten. Er muss Platz lassen für religiösen Glauben mit weitergehenden Liebes- und Hilfegeboten und für politische Ansichten, soweit sie nicht seine Grundsätze verletzen und dazu aufrufen, seinem Prinzip entgegen zu handeln. Die Grundlagen der Universalmoral der zwischenmenschlichen Beziehungen weisen den Charakter einer Minimalmoral auf, deren Verhaltensregeln nicht durchbrochen werden dürfen und jedem Schutz bieten, nicht Objekt fremder Willkür zu werden. Das ethische Prinzip der Vermeidung von Verhalten, das einem Objekt schädlich sein könnte, stellt die geeignete Basis hiefür dar.
4.6. Naturethik 4.6.1. Der andere Zugang In der Zweckformel des kategorischen Imperativs fordert Kant in seiner Grundlage zur Metaphysik der Sitten: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest!“ Dieser Grundsatz der Humanethik kann nach Kants Ansicht auf sonstige Lebewesen keine Anwendung finden, weil ihr Dasein auf der Natur beruht und sie als vernunftlose Wesen nur einen relativen Wert als Mittel besitzen und daher auch Sachen heißen – im Gegensatz zu vernünftigen Wesen, die ihre Natur schon als Zweck an sich auszeichnet. Dieser rigoros anthropozentrische Grundsatz einer auf den Besitz der Vernunft gegründeten prinzipiellen Gegensätzlichkeit geht einerseits auf die cartesianische Denktradition und die damalige Unkenntnis der gemeinsamen Entwicklung der Lebewesen und andererseits auf die Gegebenheiten der Praxis samt ihrer Ausformung im römischen Recht, die Tiere (wie Pflanzen) als Sachen behandelte, die im Eigentum von Menschen standen, von
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denen darüber nach Willkür verfügt werden konnte, zurück. Der Eigentumsanspruch ist heute noch aufrecht, wird aber durch zahlreiche Verhaltensregeln in seiner Schrankenlosigkeit eingeengt. Die vernunftzentrierte Einstellung galt nicht zu allen Zeiten. Bei Naturvölkern und wohl auch in der Frühgeschichte der Menschheit bestand eine Einbindung in die Natur mit ihren Lebewesen, die diesen hohes Ansehen bis hin zur Verehrung als ins Schicksal der Menschen eingreifende Gottheiten einbrachte. Darstellungen von oft chimärischen Tiergöttern in den frühen Hochkulturen der Erde und Überlieferungen des Waltens von Baumgottheiten und Lebensbäumen zeugen von einer tiefen Naturverbundenheit, in der sich der Mensch als Bestandteil einer Gesamtheit Natur fühlte. Die zur Erhaltung der Lebensfunktion dienenden Eingriffe in die Natur durch Jagd, Fischfang, Fällen von Bäumen, Rodung und Ackerbau waren auf absolute Notwendigkeit beschränkt und oft von Sühne- und Entschuldigungsritualen begleitet. Gegenüber dieser Demut vor der Natur mit ihrer Ordnung der Lebewesen, von denen Menschen als letztes Produkt der Evolution biologisch nur einen geringen Teil bilden und den selben Lebenszielen wie alle sonstigen Lebewesen unterliegen, stellt ein sich als Gegensatz begreifender Anthropozentrismus eine intellektualistische Hybris dar, die nach dem Wissenstand von heute nicht mehr zu rechtfertigen ist. Dabei liegt dieser Einstellung eine reale Notwendigkeit zugrunde. Der Mensch braucht die sonstigen Lebewesen zur Aufrechterhaltung seiner Existenz, kann nur von ihnen leben, muss Pflanzen und/oder Tiere verzehren, um seinen Energiebedarf decken zu können. Pflanzen bilden im Weg der Photosynthese Biomasse mit Hilfe des Sonnenlichts und dienen Tieren als Nahrung, Tiere und ihre Produkte sowie Pflanzen sind Nahrung für Menschen und liefern Brenn- und Baustoffe und Kleidung. Der Mensch als oberstes Glied der Nahrungskette und intelligentestes Lebewesen nutzt alle sonstigen Lebewesen für seinen Bedarf. Diese einseitige faktische Überlegenheit des Menschen über die sonstigen Lebewesen rechtfertigt aber keineswegs den ausschließlich anthropozentrischen Standpunkt, sie lediglich als Mittel für seine Zwecke und das ihm vorgegebene Lebensziel anzusehen. Sie haben als Arten bereits lange existiert, bevor die Art Homo sapiens als letztes Glied der Evolution auf diesem Planeten im letzten Tausendstel der Erdgeschichte (gerechnet vom Beginn der Kulturen Mesopotamiens und Ägyptens) in Erscheinung trat. Und viele von ihnen werden, sofern nicht vorher von Menschen ausgerottet, die Menschheit voraussichtlich überdauern. Das bedeutet, dass diese sonstigen Lebewesen des Menschen nicht bedürfen, dass nicht sie von ihm, sondern er von ihnen abhängig ist. Diese einseitige Abhängigkeit in ein schranken-
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loses Herrschaftsverhältnis zu verwandeln, in dem Menschen sich anmaßen, nach Gutdünken anderen Kreaturen jede Eigenberechtigung abzusprechen, zeugt von intellektualistischem Hochmut. Im Verlauf der bisherigen Menschheitsgeschichte mit ihren ständigen Untaten und Verbrechen ist von Vernunft als leitendem Faktor im Verhalten oft wenig zu sehen. „Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, nur tierischer als jedes Tier zu sein“ (Mephistopheles in Goethe’s Faust I, Prolog im Himmel). Im vorigen Jahrhundert setzte durch die Ergebnisse der Evolutionsforschung und vergleichenden Verhaltensforschung mit ihren Nachweisen der engen Verwandtschaft von Tieren und Menschen und der Ähnlichkeit ihrer Verhaltensweisen ein Umdenken ein, das vom Begriff der Sache zur Anerkennung als mitgeschöpfliche Lebewesen mit eigenen Ansprüchen und eigenen Interessen führte. Viel haben zu dieser Entwicklung die biologische Aufklärung der Kinder über Tiere und Pflanzen in Schule und Elternhaus, in Medien und Publikationen beigetragen. Haustiere als Freunde der Menschen ließen an ihrem Schicksal teilhaben und appellierten mit ihrer Zuneigung an die Schutzinstinkte der Menschen. Naturlehrpfade und Aufforstungsaktionen stärkten die Verbundenheit mit der Vegetation als Basis des Lebensraumes der Menschen und Tiere. Über Kaufenthaltungen haben Konsumenten Auswüchse der kommerziellen Massentierhaltung, der Lebendtransporte und grausamen Schlachtungsmethoden beeinflusst. Die öffentliche Meinung erzwang rechtliche Schutzvorschriften und die Abkehr vom rein anthropozentrischen Grundgedanken. Diesem Fortschritt auf dem Gebiet der öffentlichen Meinung, der den Naturschutz und vor allem den Tierschutz in der Gesetzgebung und Rechtssprechung erzwungen hat, steht auf dem Gebiet der Ethik und Moral eine beharrliche Stagnation gegenüber. Während das Rechtswesen den Bedürfnissen der Praxis Rechnung trägt, verharrt die wissenschaftliche Ethik bei ihrem methodologischen Problem, zuerst Theorien aufzustellen und dann nach Begründungen suchen zu müssen, die schon deshalb nicht gefunden werden können, weil die einander ausschließenden theoretischen Gegensätze in der Realität keine Entsprechung finden. Dabei weisen die zitierten Grundsätze Poppers den Weg aus dem Dilemma: Der Dualismus von Tatsachen und Maßstäben erfordert methodisch von der Beschreibung der Probleme verursachenden Tatsachen (und nicht der Theorien!) auszugehen und dann erst nach Maßstäben zu suchen, mit deren Hilfe und durch deren Einhaltung wieder in die Welt der Tatsachen hinein Wirkung entfaltet und eine Lösung offener Probleme erzielt wird. Zum Zweck der größeren Klarheit sind die ethischen Forderungen negativ zu formulieren. Anstelle Glück und
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Wohlbefinden für Tiere zu verlangen, ist möglichste Vermeidung von Leiden und das Unterbleiben unnötiger Qualen zu fordern. Faktum ist, dass die Menschen – wie alle anderen Lebewesen – darauf angewiesen sind, die Natur zu Deckung ihres Existenzbedarfes zu nutzen, ihr Tiere und/oder Pflanzen für ihre Nahrung zu entnehmen und dabei deren Existenz zu vernichten. Faktum ist weiters, dass der „wilden“, d.h. der ohne Mitwirkung der Menschen gewachsenen Biosphäre, eine von Menschen geplante, erarbeitete und kontrollierte lebendige Natur gegenüber steht, deren Bestand vom menschlichen Bedarf oder menschlicher Überwachung abhängig ist. Dazu gehören etwa von Menschen bestellte Ackerflächen, beweidetes oder bearbeitetes Grasland, Forstwälder und Gärten, jagdlich kontrollierter und gehegter Wildbestand, Zuchttiere aller Art und viele andere Tier- und Pflanzenarten, die nur im Ausmaß gesetzlicher Schutzbestimmungen verfügbar sind. Hier richtet sich die belebte Natur nach menschlichen Vorgaben. Art und Ausmaß ihrer Nutzung bestimmen Menschen nach Nutzenmaximierungs- und Nachhaltigkeitserwägungen. Ein weiteres Faktum ist die aus der Evolution hervorgegangene Entwicklungshöhe der Lebewesen und ihre Stufe in der Ernährungspyramide. Daraus folgt eine Stufenleiter des Fressens und Gefressenwerdens, die als Naturkonstante jenseits aller ethischen Gesichtspunkte liegt und durch keine Theorie außer Kraft gesetzt werden kann. Der menschliche Einfluss macht sich dabei nur dadurch bemerkbar, dass Menschen ihre Ernährungsgewohnheiten z. B. durch Mitleidsgefühle gegenüber höheren Tieren freiwillig selbst beeinflussen und auf Fleischnahrung oder überhaupt auf tierisches Eiweiß verzichten und ihren Bedarf auf einer tieferen Stufe der Nahrungskette decken. Bei dieser Sachlage einseitiger Verfügungsmacht der Menschen über weite Bereiche der Biosphäre bei gleichzeitigem Angewiesensein der Menschen auf viele dieser Lebewesen als Nahrung und Lebensgrundlage nach Begründungen für Gleichheitspostulate einer „Gleichwertigkeit“ von Menschen und Tieren suchen zu wollen, widerstreitet nicht nur der Realität der Praxis, sondern auch dem von Popper aufgezeigten Dualismus mit seiner einbahnigen Bewertungsrichtung. Naturethik wird daher realistischerweise vom natürlichen Ungleichgewicht innerhalb der Biosphäre auszugehen und ohne willkürlich in die Ordnung der Natur einzugreifen, Menschen vor Tieren, höhere Tiere vor niedrigeren und Tiere vor Pflanzen zu reihen haben. Dabei wird Leidensminimierung vor Glücks- und Wohltatmaximierung – nicht anders als in der Humanethik – Priorität zukommen.
4.6. Naturethik
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4.6.2. Objekt Tier Der Ethologe Konrad Lorenz pflegte auf Fragen, die sich auf „das Tier“ bezogen, die Gegenfrage zu stellen: Welches Tier meinen Sie, das Paramaecium (Pantoffeltierchen) oder den Schimpansen? Tatsächlich ist der Unterschied zwischen einzelligen Tieren am Beginn der Entwicklungsreihe bis zu den nächsten Verwandten des Menschen zu groß, um über beide gemeinsame Aussagen machen zu können, die über die Feststellung, dass es sich bei beiden um Lebewesen handelt, die Energie und Information verbrauchen und sich vermehren können, weit hinausgehen. Als Gegenstand der Naturethik haben sämtliche Tiere eine Gemeinsamkeit, die mit ihrer genetischen Ausstattung, ihrer Entwicklungshöhe und ihren Lebensgewohnheiten und Verhaltenseigenschaften nichts zu tun hat. Sie können betroffene Objekte der Wirkung menschlichen Verhaltens sein, können diese Wirkung menschlichen Handelns oder Unterlassens als für sie nützlich oder schädlich erfahren. Sie sind in der Subjekt-Objekt-Beziehung des auch sie umfassenden Sozialverhaltens der Menschen der passive, der nicht bestimmende sondern – im Fall der schädlichen Wirkung – erleidende Teil. Während Menschen in der Frühzeit der Entwicklung ihrer Art oft Angriffen von Großtieren ausgesetzt waren, ihnen zum Opfer fielen und in der Subjekt-Objekt-Beziehung die Rolle des Objekts spielen mussten, hat sich dieses Verhältnis durch Waffentechnik, Jagd- und Fangmethoden umgekehrt. Heute sind viele wildlebende Tierarten bereits ausgerottet oder stehen auf der Liste der gefährdeten Arten. Menschen sind in ihre Lebensräume auf der Erde, zu Wasser und in der Luft eingedrungen, verbauen und verschmutzen die Landschaft, die Gewässer und den Luftraum. Sie haben gegenüber den Wildtieren der höheren Entwicklungsstufe eindeutig die Rolle des Subjekts übernommen und schädigen diese Tiere als Objekt durch ihr Handeln. Nur gegenüber den Kleinst- und Kleintieren, von dem Menschen schädlichen Bakterien, Schmarotzern und Insekten bis zu Säugetieren wie Ratten sind Menschen Objekt für deren Angriffe gegen seine Person und seinen Besitz geblieben. Abwehrmaßnahmen gegen diese Angriffe stellen sich als Akt der Notwehr des dem Angriff ausgesetzten Objekts dar. Wo der Mensch als handelndes Subjekt den Wildtieren entgegentritt, haben sich Schutzgesetze zur Regelung von Jagd und Fischfang, durchwegs beschränkender Natur zwecks Artensicherung, als notwendig erwiesen. Gegenüber den limitierenden Bestimmungen treten jagdliche Hegepflichten in den Hintergrund. Allen Regeln zur Erhaltung der Artenvielfalt der heute bestehenden natürlichen Ordnung liegt ein zoozentrisches ethisches Prinzip zugrunde, das den eigenen – und nicht vom Menschen abgeleiteten – An-
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4. Ethik
spruch dieser Wildtiere allerdings nicht auf ihr Leben sondern nur auf den Weiterbestand ihrer Arten anerkennt. Vom Anthropozentrismus des „macht euch die Erde untertan“ losgelöst wird damit die Vielfalt der Natur mit ihren Arten erkannt, von denen die Art Homo sapiens nur eine darstellt, der freilich aufgrund ihrer Ausstattung besondere Verantwortlichkeit für ihre Mitlebewesen zukommt. Hier wird dem Charakter der Nützlichkeit für das Objekt der Art (und nicht für das Individuum) eingeschränkt Rechnung getragen und die Ausübung der Handlungsfreiheit der Menschen in diesem Ausmaß zu Gunsten der Tiere eingeschränkt. Dass mit diesem zoozentrischen Gedanken der Bewahrung vor Ausrottung auch Vorteile für das Subjekt Mensch verbunden sind, steht heute bei Wildtieren nicht im Vordergrund sondern bildet eher eine Begleiterscheinung. Differenzierter zu sehen sind die Verhaltensregeln bei Zuchttieren, deren Existenz auf die Tätigkeit des Menschen zurückgeht, der sie für seine Zwecke als Arbeitstier, Lieferant von Produkten und als sein Nahrungsmittel züchtet. Dort liegt der Schwerpunkt bei der Bestimmung durch den Menschen, ob und welche Tiere gezüchtet, wann sie geschlachtet werden und für welche Zwecke sie zu dienen haben. Zuchttiere bestimmen weder ihre Existenz noch deren Bedingungen, sind der Pflege durch den Züchter vollständig ausgeliefert und auf seine Hilfe angewiesen. Der Züchter hängt wieder von Marktbedingungen ab, die seine Chancen auf Absatz seiner Produkte zu rentablen Verkaufspreisen bestimmen. Nutztiere sind so in einen ökonomischen Kreislauf eingebunden, der letzten Endes über ihr Schicksal bestimmt. Für sie schädliches Verhalten der Menschen kann sowohl in Handlungen (Quälerei) als auch in Unterlassungen (mangelnde Fütterung und Pflege) bestehen. Zoozentrische Verhaltensregeln stellen auf das Wohlergehen der Tiere ab und verbieten sowohl ihnen schädliche Handlungen als auch Unterlassung der nötigen Hilfeleistung (Füttern, Tränken, Hygienemaßnahmen, artgerechte Haltung, Schmerzverhinderung bei Schlachtung). Anders als bei den bloß arterhaltenden Beschränkungen der Abschuss- und Fangquoten bei Wildtieren fördern die Verhaltensregeln bei Zuchttieren die Wohlfahrt der Individuen und entsprechen voll dem ethischen Prinzip. Dass neben dem Nutzen für das Objekt auch Vorteile für das Subjekt damit verbunden sind, weil glückliche Kühe mehr und bessere Milch liefern und nicht gestresste Schweine höhere Fleischqualität erbringen, geht auf Untersuchungen zurück, die vor allem aus ökonomischen Gründen veranlasst wurden. Auch Massenschlachtungen bei Tierseuchen dienen vorrangig dem Schutz von Menschen und Marktanteilen, die andernfalls durch Kaufenthaltungen gefährdet werden können. Ein besonderes Thema stellt die Gruppe der Versuchstiere dar, an denen die Wirksamkeit von Medikamenten und Kosmetika erprobt wird oder mit
4.6. Naturethik
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denen Versuche zur Gewinnung neuer Methoden der Medizin vorgenommen werden. Meist sind diese Experimente mit großen Qualen für die Tiere verbunden und enden mit ihrem Tod. Sie werden mit übergeordneten Interessen der Menschheit zu rechtfertigen versucht. Ob und wie weit vitale Interessen kranker Menschen auf Rettung diese Opferung von Tieren entschuldigen können, muss im konkreten Einzelfall überprüft werden, ist aber im Fall von Kosmetika, die nur der Schönheit, nicht aber der Gesundheit dienen, von vornherein auszuschließen. Neue Methoden der Züchtung menschlicher Organstrukturen dürften Tierversuche in Zukunft weitgehend obsolet machen. Jedenfalls ist die Berechtigung aller derartiger Praktiken äußerst restriktiv zu beurteilen, um der Verantwortlichkeit der Menschen für die anderen Arten zu entsprechen. 4.6.3. Objekt Pflanze Pflanzen sind die ursprüngliche Form der Lebewesen. Als unmittelbare Nutzer der Energiequelle Sonne schaffen sie mit Hilfe der Photosynthese die Bildung von Biomasse, die den folgenden Lebensformen als Grundlage ihrer Existenz dient. Pflanzen sind unverzichtbar für Leben auf diesem Planeten. Trotz dieser überragenden Bedeutung haben Pflanzen als zu schützende Objekte in der Ethik keine Rolle gespielt. Während Naturreligionen höchst entwickelte Arten von Bäumen als Gottheiten betrachteten und sie zum Ort und Gegenstand kultischer Verehrung machten, während die Romantik Pflanzen und ihrer natürlichen Umgebung huldigte und die Park- und Gartenkultur höchstes Ansehen genoss, galten Pflanzen im sonstigen Leben als bloßer Wirtschaftsfaktor. Dass sie von Tieren und Menschen benötigt werden, war die einzige Triebfeder für Schutzmaßnahmen, die sich im Wesentlichen auf Verhinderung negativer Auswirkungen auf den Menschen beschränkten. Ungeachtet aller Lippenbekenntnisse der politisch Verantwortlichen geht der aus Not oder Unverstand betriebene Raubbau an Pflanzenbestand der Erde ungehindert weiter, werden Regenwälder abgeholzt und brandgerodet, wird die Taiga ohne Wiederaufforstung kahl geschlagen, werden die Pflanzenbestände der Sahelzone abgeweidet und verbrannt, fallen selbst im dicht besiedelten Europa Waldbestände durch verbrecherische Brandstiftungen der Bodenspekulation und der kommerziellen Nutzung der Alpengebiete durch Skipisten und Straßenbau zum Opfer. Bodenerosion und Verödung ehemals fruchtbarer Landschaften sind die Folge. Ebenso unvernünftig und kurzsichtig wird dem wichtigsten Sauerstoffproduzenten, dem Phytoplankton, durch bedenkenlose Verschmutzung der Welt-
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meere durch Einleitung ungeklärter Abwässer, durch Ölgewinnung und -transporte und durch Verwendung als Schrottplatz für Rückstände der Atomindustrie zugesetzt. Die Langzeitfolgen sind unabsehbar. Kurzfristiges Kommerzdenken überlagert alle Warnungen der Experten und alle vernünftigen Überlegungen von Wissenschaftern und idealistischen Aktivisten von NGOs. Es fehlt derzeit an einer ethischen Grundlage, auf die sich verantwortungsbewusste Aktivitäten berufen könnten, um ihren Forderungen Berechtigung zu verleihen und sie selbstevident zu machen. Auf einem einzigen Gebiet ist der Anspruch von Pflanzen auf Fortbestand aus Eigenem und nicht nur abgeleitet von den Interessen der Menschen anerkannt. Es ist dies der Artenschutzgedanke, mit dem die in Gang befindliche unwiederbringliche Ausrottung von Pflanzenarten gestoppt werden soll. Ganze Kataloge gefährdeter Arten listen selten gewordene Pflanzen auf, deren Artentod unmittelbar bevorsteht, weshalb jeder Eingriff in ihre Existenz verboten wird. Da es sich dabei meistens um Pflanzen handelt, die für den Menschen nicht unmittelbar Nutzen bringen, anerkennt dieser Gedanke den Schutz des Artenbestandes aus eigenem Anspruch der Pflanzen und stellt also ein ethisches Prinzip dar. Anerkennt man diesen Artenschutzgedanken als selbständiges biozentrisches Prinzip, ergibt sich die Frage, warum es nur auf selten gewordene, in ihrem Artbestand gefährdete Arten angewendet werden sollte. Ab welchem Grad der Seltenheit, ab welchem Ausmaß der Artgefährdung sollte es in Kraft treten? Da auf diese Frage keine Antwort gefunden werden kann, erscheint es nahe liegend, den Gedanken des Schutzes des Objekts Pflanze als generelles biozentrisches ethisches Prinzip anzuerkennen und damit den auf Bewahrung des bestehenden Zustandes gerichteten Aktivitäten eine Basis der praktischen Philosophie zu geben: Der Mensch als Wahrer der natürlichen Ordnung des Bestandes aller Lebewesen! Dieser umfassende Grundsatz bezieht sich, anders als die anthropozentrische Humanethik und die zoozentrische Naturethik für das Objekt Tier, mangels Leidensfähigkeit der Pflanzen nur auf den Schutz ihrer Existenz, nicht aber auf fördernde Pflege, die ausschließlich im Bereich des Nutzenstrebens der Menschen verbleibt. Pflanzenanbau zur Gewinnung von Nahrungsmitteln und Aufforstungen zur Erzielung von Nutzung und Schutz vor Naturgewalten sind durchaus mit kommerzieller Zwecksetzung vereinbar. Ethische Grundsätze können dabei mit materiellen Interessen der Menschen Hand in Hand gehen. Wo Interessengegensätze auftreten, wird sich allerdings zumeist der kurzfristige Vorteil gegen den nur über lange Zeiträume wirksam werdenden Pflanzenschutz durchsetzen. Von umso größerer Bedeutung ist daher der ständige Ausbau und die Schaffung neuer Naturparks, in denen dem Pflanzenschutz erste Priorität
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zukommt. Da diese Gebiete der kommerziellen Nutzung entzogen werden und vielfach Straßen- und Kraftwerkbau verhindern, hat sich hier der Naturschutzgedanke gegen das menschliche Gewinnstreben voll durchgesetzt. Der Schutz der natürlich gewachsenen Landschaft erfasst immer auch den Pflanzenbestand und verhindert das Aussterben der dort heimischen Flora. Die Erhaltung uralter Bäume und das ungehinderte Nachwachsen der Bestände weisen weit in die Zukunft zum Wohl künftiger Generationen sowohl der Menschen als auch der dortigen Pflanzen- und Tierwelt. Die von vielen Menschen unterstütze Idee der Naturparks und Reservate stellt ihnen ein Zeugnis menschlicher Reife und Vernunft aus und leitet auch ein ethisches Umdenken ein, das den Menschen als in die natürliche Ordnung eingebundenen Teil erkennt. 4.6.4. Objekt Ökosystem Neben den beiden vom Verhalten der Menschen direkt als Objekt betroffenen Gruppen von sonstigen Lebewesen, den Tieren und Pflanzen, hat die fortschreitende Erkenntnis vom Zusammenspiel der Wirkung in natürlichen Lebensräumen eine neue Gruppe ethischer Objekte etabliert. Es handelt sich um Ökosysteme gebildet aus unbelebter Natur als Basis und aus der Gesamtheit der in einem Territorium lebenden Organismen einschließlich der Menschen, die miteinander in einer natürlichen oder von Menschen beeinflussten Ordnung wechselwirkende Regelkreise in zumindest zeitweisem Gleichgewicht bilden. Die territorialen Ökosysteme wirken – abgesehen von isolierten Kleinsystemen wie Wüstenoasen oder abflusslosen Gewässern – auf benachbarte Systeme ein und stellen so Teileinheiten größerer Gebilde bis hin zu einem den ganzen Planeten umfassenden Ökosystem Erde dar. Dabei kann sich die Einwirkung des menschlichen Verhaltens auf einzelne Elemente in sachlicher oder örtlicher Hinsicht beschränken, sich gegen die abiotische oder gegen die Biosphäre richten, oder generell alles Lebendige erfassen. Durch die Verzahnung des Wirkungszusammenhanges können positive Rückkoppelungsprozesse die Wirkung aufschaukeln, auf andere Systemteile übertragen und auf Nachbarschaften und übergeordnete Ökosysteme übergreifen. Der massive Kahlschlag des Karstgebietes durch die Venezianer und die Unterlassung einer gleichzeitigen Wiederaufforstung haben zur Erodierung des Bodens und „Verkarstung“ des Gebietes geführt. Wegen der Kleinheit des betroffenen Ökosystems blieb die Umweltkatastrophe lokal beschränkt. Der zur Gewinnung von Holzkohle abgeholzte Schwarzwald hingegen konnte sich durch Aufforstung wieder erholen. Die Abholzung und Brandrodung des südamerikanischen und des indonesischen Regenwaldes führen nicht nur zum Verlust des Bodens sondern wegen ihrer Großflächigkeit auch zur Vernichtung des wichtigen Sauerstoffproduzenten
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und weltweit zur Verschlechterung der Zusammensetzung der Atmosphäre. Gleiches bewirkt die Verseuchung der Ozeane mit Ölrückständen und ungeklärten Abwässern und die Vernichtung des Sauerstoff erzeugenden Phytoplanktons, das gleichzeitig die Ernährungsgrundlage für die nächste Stufe der Nahrungskette, das Zooplankton bildet. Nicht genug damit, verbrennt die Menschheit den Luftsauerstoff mit Erdöl, Erdgas, Kohle und Holz zu Heizzwecken und zur Energieproduktion für Wirtschaft und Verkehr als Transportmittel zur Steigerung der Mobilität von Menschen und Waren. Damit wird die Erdatmosphäre aufgeheizt, ein Glashauseffekt erzielt und die schützende erdferne Ozonschicht geschädigt. Der Mensch wirkt so als Störfaktor im Ökosystem Erde und die Folgen dieses Circulus vitiosus fallen den anderen Arten zur Last und da der Mensch auf deren Gedeih angewiesen ist, letztendlich auf ihn zurück. Nahezu jeder Eingriff des Menschen in die vorgefundene natürliche Ordnung gefährdet die Homöostase des jeweiligen Ökosystems, dessen Bestand die Menschen trotz Entnahmen zur Deckung ihres Lebensbedarfes schonen sollten. Daran ändert nichts, dass im Lauf der Erdgeschichte immer wieder tief greifende Änderungen der Natur vorgekommen sind, die lange vor der Entstehung der Art Homo sapiens durch einen Wechsel der Lebensbedingungen zu einem Artentod der jeweils bestehenden und der Bildung neuer Arten von Tieren und Pflanzen geführt haben. Paläowissenschaften erforschen Funde aus den Zeitaltern der Erdgeschichte und gelangen beinahe täglich zu neuen Erkenntnissen, aus denen Rückschlüsse auf die Ursachen dieser Vorgänge gezogen werden können. Extraterrestrische Ereignisse, ebenso wie die laufende tektonische Umgestaltung der Erdoberfläche, wechselnde Eis- und Wärmeperioden und Wechsel der Zusammensetzung der Atmosphäre haben wiederholt zu einem kompletten Artenwechsel geführt. Die letzten Ausläufer können heute noch in fossilen Funden und vereinzelt noch lebend in isolierten Ökosystemen wie den Galapagos Inseln oder Tasmanien und vor allem in weitgehend unerforschter Tiefsee untersucht werden. Nunmehr sind es aber Menschen, die neben den Naturereignissen, denen sie selbst hilflos ausgeliefert sind, durch ihre Aktivitäten und ihre Unterlassung von korrigierenden Hilfsmaßnahmen für eine Störung der natürlichen Ordnung sorgen. Die Verantwortlichkeit des Menschen für sein gesamtes Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen, aber auch gegenüber seinen sonstigen Mitgeschöpfen, den Tieren und Pflanzen, die in Gemeinschaften einer natürlichen Ordnung teils mit, teils ohne ihn zusammenleben und untereinander und mit der unbelebten Natur in Wechselwirkung stehen, verlangt eine Einbeziehung dieser Ordnungseinheiten als einheitliches Schutzobjekt Ökosystem in die Naturethik.
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In ihrer Doppelfunktion leben Menschen von der Natur, der leblosen wie der lebendigen, sie nutzen sie und beuten sie für ihre Zwecke aus, benutzen sie aber auch zur Entsorgung des von ihnen produzierten Abfalls. Sie sind darauf angewiesen, Natur zu schädigen, können sie aber auch planen und mitgestalten und die verursachten Schäden möglichst gering halten und durch fördernde Maßnahmen teilweise wieder gutmachen. Soweit sich dies nur auf die abiotische Natursphäre bezieht, handelt es sich um anthropozentrisches Vernunftdenken, soweit Lebewesen davon direkt oder indirekt betroffen werden, um ethische Pflichten aus der Verantwortlichkeit für das Verhalten gegenüber Lebewesen, Menschen ebenso wie Tieren und Pflanzen aus deren eigenem Anspruch nach Maßgabe der innerhalb der Lebewesen aus Entwicklungshöhe und Stufe der Ernährungskette bestehenden Rangordnung. Die Bezeichnung „Biozentrismus“, die über diese Stufenordnung nichts aussagt, erweist sich dabei als wenig hilfreich. Das ethische Prinzip der möglichst weitgehenden Schonung der natürlichen Ordnung des Ökosystems weist neben dieser Zweiteilung gegenüber der abiotischen und der Biosphäre der Natur mit ihrer differenzierten ethischen Berechtigung zwei weitere Problembereiche auf. Anders als beim einzelnen Schutzobjekt Tier oder Pflanze tritt das Ökosystem dem Verhaltenssubjekt Mensch nicht als gesondert wahrnehmbares Individuum gegenüber, an dem die jeweilige Wirkung des Verhaltens erkennbar wird. Es tritt weder Mitgefühl noch Mitleid in Erscheinung, noch schränkt ein antizipatives Gewissen die Verhaltensfreiheit ein und verhindert das geplante, dem Ökosystem schädliche Verhalten. Das betroffene Objekt mit seinen Teilen bleibt anonym und muss erst durch einen rationalen Prozess des Nachdenkens und Vergleichens mit ähnlichen Wirkungsmustern erschlossen werden, was einen beträchtlichen Aufwand an Energie und Information, vielfach auch detaillierte Fachkenntnis erfordert. Der zweite Problemkreis besteht in der Zuordnung des betreffenden Einzelverhaltens in die Wirkung, die ein gleichartiges Massenverhalten vieler Verhaltenssubjekte hervorrufen kann. Die Tat eines Einzelnen zerstört zumeist noch kein Ökosystem mit seiner Vielzahl von Lebewesen. Erst das Gesamtresultat der Wirkungen zahlreicher schädigender Taten einer Vielzahl von Menschen ist es, das stört, Veränderungen der Homöostase durch Schädigung der Regelkreise generiert und durch Aufschaukeln der schädlichen Wirkung das Ökosystem zusammenbrechen lässt. Es bedarf also der Vorstellung, was wäre, wenn das viele oder alle machen – eine Annahme, die – vereinfacht dargestellt – Kants Kategorischem Imperativ der Vorstellung der Handlungsmaxime als allgemeines Gesetz nahe kommt. Auch die Bewältigung dieser zweiten Schwierigkeit einer Verallgemeinerung des eigenen Verhaltens und Potenzierung seiner Wirkung auf das Objekt Ökosystem bedarf einer bedeutenden intellektuellen Anstrengung.
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Diese Schwierigkeiten sollten aber nicht dazu führen, Ökosysteme und vor allem das Größte, das Ökosystem des Planeten Erde als Lebensraum der Gesamtheit aller heutigen Arten von Lebewesen nicht als ethisches Schutzobjekt zu erkennen und anzuerkennen. Die Auswirkungen des Verhaltens der derzeit rund 6,5 Milliarden Menschen auf die belebte und unbelebte Natur, die ohne langfristige Planung und Vorsorge ausgeplündert und verunreinigt wird, verlangen heute mehr denn je einen Kurswechsel hin zum Schutz dieses Ökosystems durch Anerkennung der ethischen Verpflichtung zur weitest möglichen Schonung als Grundlage aller moralischen Verhaltensregeln. Der Mensch als Bestandteil der Natur unterliegt unausweichlich ihren Gesetzlichkeiten und versucht, diese zu erkennen und als von ihm „Naturgesetze“ genannte Formulierungen zu fassen. Mit fortschreitendem Erkenntnisstand können sich seine Ansichten als falsch erweisen und nach Falsifizierung seiner Hypothesen neu gefasst werden. Aber niemals kann erwartet werden, Verhaltensanweisungen als „Naturgesetze“ zu finden oder aus den Gesetzlichkeiten der Natur ableiten zu können. Die Natur, die durch die längsten Zeiträume der Erdgeschichte ohne das Schlusslicht der Evolution ausgekommen ist und auch nach dem Verschwinden der Menschheit von diesem Planeten weiter bestehen wird, ist dem Schicksal dieser oder jeder Art von Lebewesen gegenüber indifferent und gibt keine Ratschläge für das Verhalten. Was aber aus der Natur unschwer zu entnehmen ist, sind die Bedingungen, unter denen eine Art durch Entwicklung geeigneter Organe und Verhaltensweisen in der aufgefundenen ökologischen Nische existieren und die von außen kommende oder selbst verursachte Gegenwirkung überleben kann. Es ist eine evidente Einsicht, dass die sich als Homo sapiens-sapiens gleich doppelt als klug bezeichnende Art mit ihrer technischen Errungenschaft einer mehrfachen Overkill-Capacity diese Fähigkeit zur vielfachen Selbstvernichtung nicht ausnützen darf, um zu überleben. Und es ist ebenso einsichtig, dass die ungehemmte Entnahme und Verschwendung nicht nachzubeschaffender Lebensressourcen sowie die Verwüstung und Verseuchung der ökologischen Nische durch den ungezügelten Missbrauch als Unratdeponie über kurz oder lang zur Selektion dieser unangepassten Art führen muss. Eine aus dem Verhalten der Menschen erwachsende Verantwortlichkeit zur möglichsten Schonung des globalen Ökosystems ist als ethische Verpflichtung jedes Menschen ebenso selbstevident, um die Vernichtung der Existenzgrundlage und den daraus drohenden Artentod möglichst lange hinaus zu schieben. Die Vermeidung der über das Nötigste hinaus gehenden Schädigung des Ökosystems Erde und der schädlichen Unterlassung von korrigierenden
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Hilfs- und Pflegemaßnahmen bildet das ethische Prinzip der Naturethik. Das zu schützende Objekt Ökosystem umfasst die im Territorium befindlichen Lebewesen und die abiotische Sphäre. Die Schonung der Biosphäre obliegt dem Menschen aus seinem Eigeninteresse und dem ihrer Organismen, die der unbelebten Natur im Interesse der auf sie angewiesenen Lebewesen. Der Begriff Naturethik wurde gewählt, weil eine Bezeichnung Bioethik sich systemwidrig auch als Oberbegriff über die das höchstentwickelte Lebewesen betreffende Humanethik darstellen würde. Der Name ökologische Ethik wird dem Unterschied zwischen belebter und unbelebter Natur und dem sich daraus ergebenden Unterschied zwischen Eigeninteressen und eigenen Schutzansprüchen der Lebewesen gegenüber dem aus diesen Ansprüchen abgeleiteten indirekten Schonungsprinzip des Abiotischen nicht gerecht. Wenn eine skeptizistisch – positivistische Auffassung die Wahrnehmung der in der Natur vorgegeben Rahmenbedingungen der menschlichen Existenzmöglichkeiten unter Berufung auf Humes Formalargument „We can not go from Is to Ought“ in missverstandener extensiver Interpretation von G. E. Moore als „naturalistischen Fehlschluss“ abtun will, übersieht sie, dass die Leugnung der natürlichen Rahmenbedingungen, die die Voraussetzungen jedes Lebens bilden, die Existenzgrundlage und das vorgegebene Lebensziel der Organismen selbst in Frage stellt. Davon abgesehen geht es bei der Wahrung der natürlichen Ordnung, der Beachtung der existentiellen Rahmenbedingungen und der Anpassung der Verhaltensweisen an sie nicht um die Ableitung von Sollenssätzen aus Seinssätzen, sondern um die Auswahl bestimmter nützlicher und um den Verzicht auf bestimmte schädliche Möglichkeiten eines zukünftigen Verhaltens anhand der Beurteilung der zukünftigen Wirkung jeder der Varianten. Auch für den Bereich der Naturethik gilt das allgemeine ethische Prinzip, dass nicht die Bewahrung der vorgefundenen natürlichen Ordnung begründet oder gerechtfertigt werden muss, sondern umgekehrt jeglicher Eingriff in die Natur als gerechtfertigt zu beweisen ist. Diese Beweislastverteilung ist von größter Bedeutung. Denn der Mensch ist als letzt- und höchstentwickeltes Lebewesen an der Spitze der Nahrungskette auf ständige Entnahme von Organismen der tieferen Stufen und damit auf ständige Schädigung der Natur angewiesen. Nur die Pflicht zur Rechtfertigung jedes seiner Eingriffe in die Existenz der sonstigen Lebewesen zwingt zum möglichst schonenden und sparsamen Umgang mit der Natur und Bewahrung der nicht beliebig erneuerbaren Ressourcen. Jede andere Einstellung führt zwangsweise zum Nihilismus und zur Beschleunigung einer für den Bestand der Arten gefährlichen Entwicklung.
Der Weg zur Lösung
5. Moral 5.1. Zum Wesen der Moral 5.1.1. Gewissen – die innere Stimme Die vergleichende Verhaltungsforschung Ethologie kennt neben den instinktgesteuerten Handlungen der Arterhaltung wie Nestbau und Brutpflege vor allem bei höheren Tierarten auch Hemmungsmechanismen, denen arterhaltende Funktionen zugeschrieben werden. Revierkämpfe, Rangordnungszwistigkeiten und Auseinandersetzungen im sexuellen Ausleseverfahren werden nicht bis zur Tötung des Gegners fortgesetzt, sondern durch Flucht oder Unterwerfungsgesten des Unterlegenen beendet. Diese Signale lösen beim Sieger eine Aggressionshemmung aus, die eine Vernichtung des Gegners zwingend verhindert. Auch die Ritualisierung von Machtkämpfen gehört zum Kreis dieser Verhaltensmechanismen, die auf ökonomische Weise solche Schäden verhindern, die sich vom Standpunkt des Bestandes der Art aus gesehen als kontraproduktiv darstellen. Da in der Evolution bewährte Konstruktionen und Bauprinzipien, die nicht der Selektion zum Opfer gefallen sind, weitergeführt und fortentwickelt werden, erscheint die Annahme nicht unberechtigt, dass derartige verhaltenssteuernde Mechanismen auch bei der jüngsten und höchstentwickelten Art der Lebewesen zu finden sein müssten. Und es gibt tatsächlich solche Phänomene, die Menschen in ihrem Verhalten gegenüber anderen Menschen und in sehr eingeschränktem Maß auch gegenüber bestimmten höheren Tieren entscheidend steuern und beeinflussen. Wir sprechen vom inneren Verhaltensregulativ Gewissen. In seiner stärksten Form verhindert es antizipativ Verhaltensweisen, die zu einer schweren Schädigung des davon betroffenen anderen führen können, und zwar sowohl aktive Schädigungshandlungen als auch passive Unterlassung dringend benötigter Hilfe. In seiner schwächeren Form tritt es während des Verhaltens in Erscheinung und veranlasst das Verhaltenssubjekt zu einer Änderung, zum Abbruch der Schädigungshandlung (mit oder ohne Wiedergutmachung). In seiner schwächsten Form verhindert es Vollzug und Vollendung des schädlichen Verhaltens zwar nicht, tritt aber im Nachhinein als Reue oder als „schlech-
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tes“ Gewissen in Erscheinung und steht so einer zukünftigen Wiederholung dieses oder eines ähnlichen Verhaltens im Weg. Entsprechend den beiden Arten des Verhaltens tritt das antizipative Gewissen als Hemmungsfaktor gegen ein das Objekt schädigendes Handeln oder als Antrieb zur Hilfeleistung in Erscheinung. Inhaltlich stellen alle Erscheinungsformen des Gewissens eine innere Verhaltensnorm dar, die entweder geplantes oder in Vollzug befindliches oder bereits abgeschlossenes Verhalten überprüft und entweder als unzulässig erst gar nicht entstehen oder vollenden lässt oder post festum als ungehörig beurteilt und mit Reue und „Gewissensbissen“ bestraft. Das Gewissen wirkt immer zu Gunsten des vom Verhalten bedrohten oder geschädigten Objekts und bildet ein Gegengewicht gegen schrankenlosen Egoismus des Verhaltenssubjekts. Da intraspezifische Konflikte stets gegen die Interessen der Art gerichtet sind und die Funktion des Gewissens in der Konfliktvermeidung besteht, kann diese innere Stimme als arterhaltend angesehen werden. Es gibt kein „böses“ Gewissen, das dem Verhaltenssubjekt Untaten, also andere schädigendes Handeln oder anderen schädliches Unterlassen notwendiger Hilfe gebietet, sondern nur eine auf den Schutz des Objekts zielende Weisungs- und Kontrollinstanz im Verhaltenssubjekt, die das Verhalten immer zu Gunsten des Objekts beeinflusst. Sie kann stärker oder schwächer ausgeprägt sein oder in Ausnahmefällen gänzlich oder bezüglich einzelner konkreter Verhalten fehlen (gewissenloses Verhalten). Wenn das Gewissen bestimmte, meist besonders schwerwiegende Verhaltensweisen von Vornherein nicht zulässt, schränkt es sogar die Verhaltensfreiheit des Subjekts ein und scheidet solche Verhalten aus den dem Freiheitsträger zur Verfügung stehenden Möglichkeiten aus. Im alten Streit zwischen Intuitionisten und Empiristen um die Natur des Gewissens in der Literatur – angeboren oder erlernt? emotional oder rational? – hat die Ethologie wichtige Erkenntnisse gebracht. Das Aufzeigen von arterhaltenden Hemmungsmechanismen bei höheren Tierarten lässt auf den Übergang derartiger Funktionen auch auf den Menschen schließen. Da diese Funktionen aus dem Bereich des Irrationalen noch aus der Zeit vor Entwicklung des Denkens stammen, dürfte es sich um angeborene Eigenschaften des Individuums handeln. Konrad Lorenz bezeichnet das Gewissen als angeborenen und genetisch tradierten Erfahrungsschatz der Art und spricht von einem a-posteriori der Art, das dem Individuum a-priori zur Verfügung steht. Dieser Erfahrungsschatz stellt in der von Anfang an arbeitsteiligen menschlichen Gemeinschaft einen Selektionsvorteil dar und wird daher im Laufe der Zeit durch darwinistische Prozesse übertragen. Der Psychologe C.G. Jung definiert das Gewissen als psychische Reaktion auf ein Abweichen vom Sittenkodex und leitet es größtenteils aus der
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5. Moral
primitiven Scheu vor dem Ungewohnten, Ungebräuchlichen und deshalb „Nicht-Sittlichen“ ab. Er beschreibt es als Archetypus, ein von je her vorhandenes pattern of behaviour, das als biologisches Phänomen erhebliche Dynamik besitzt, mittels welcher es das menschliche Verhalten aufs Tiefste beeinflussen kann. Er verweist auf die kollektiven Inhalte. Der Ethologe P. Leyhausen führt das Gewissen auf angeborene Auslösungsmechanismen zurück, deren Wertungsfunktion er „das unverrückbar angeborene, rational nicht begründbare und daher auch nicht zersetzbare Fundament unseres Gewissens“ nennt. S. Freud spricht von einem ins Unbewusste abgespaltenen Über-Ich, das das bewusste Ich überwacht. Scheint die Herkunft des menschlichen Gewissens und damit sein emotionaler Charakter sowie seine Funktion im intraspezifischen Geschehen festzustehen, darf doch nicht übersehen werden, dass – zum Unterschied vom Verhalten der Tiere – menschliches Verhalten nicht nur von emotionalen Faktoren, dem Reagieren auf auslösende Reizsituationen, gesteuert wird, sondern auch rationalen Antriebs- und Hemmungsfaktoren unterliegt. Aus diesem Grund können rationale Einflüsse auf das angeborene Gewissen nicht zur Gänze ausgeschlossen werden. Der in eine Richtung weisende, den Schutz des Objekts bewirkende und dem Subjekt genetisch tradierte Erfahrungsschatz der Art kann nicht umgekehrt und in sein Gegenteil verwandelt werden. Aber politische und pseudo-religiöse Indoktrinierung, insbesondere das ständig wiederholte Predigen von Hass gegenüber bestimmten Zielgruppen, denen ihr Menschsein abgesprochen und ihre Ermordung zur selig machenden Heldentat verklärt wird, können die angeborenen Verhaltensnormen des Gewissens einschränken und in Bezug auf bestimmte Untaten gänzlich aufheben, sodass es zu einer partiellen Gewissenlosigkeit des indoktrinierten Individuums kommt. Vergangenheit und Gegenwart zeigen diese Entwicklungen in erschreckender Weise auf. Dabei wird nicht nur die Empfänglichkeit gegenüber der inneren Stimme des Gewissens ausgeschaltet und von der Emotion blinden Hasses übertönt sondern auch jeder rationale Vernunftgebrauch verhindert. Gerade derartige Ereignisse beweisen die Bedeutung der durch das Gewissen vermittelten inneren Orientierung auf ein in der langen Menschheitsgeschichte aus der Erfahrung vieler vorangegangenen Generationen erworbenes und im Weg des Selektionsvorteils der besseren Überlebenschancen tradiertes Verhaltensschema, ohne dessen Einhaltung sich die Art Homo sapiens nicht hätte entwickeln können. Es ist entscheidend, dass viele dem Menschen theoretisch zur Verfügung stehende Verhaltensmöglichkeiten – andere zu schädigen oder sie hilflos ihrer Not zu überlassen – durch die warnende innere Stimme des antizipativen Gewissens von vornherein ausgeschaltet sind und nicht einmal in Betracht gezogen werden können. Der
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Bestand der Menschlichkeit ist vor allem diesem in jedem Menschen angelegten persönlichen Gewissen mit einheitlich gleichem Inhalt – nämlich dem Schutz der Artgenossen, der Bewahrung der Art – zu verdanken. Dieses innere Gefühl eines nirgends aufgezeichneten Maßstabes für Zulässigkeit und Richtigkeit wirkt in seiner stärksten Version wie ein arterhaltender Mechanismus im Verhalten der Tiere und engt den Kreis des möglichen Verhaltens um die verpönten Verhaltensweisen ein. Kein zurechnungsfähiger Mensch würde in seinem normalen Verhalten seine hilfsbedürftigen Kinder verhungern lassen oder Kinder ermorden, wozu er technisch jederzeit in der Lage wäre. Die normalen Verhaltensweisen der Pflege der eigenen Nachkommen oder der Verschonung anderer sind so selbstverständlich, dass gegenteilige Verhaltensweisen für das normale menschliche Verständnis unfassbar sind und als krankhaft gewertet werden.
5.1.2. Moral – die Ergänzung des Gewissens Geht man von der in der Ethologie festgestellten engen Verschränkung der Phänomene des menschlichen Gewissens mit tierischen Mechanismen arterhaltender Funktion aus, müssen diese pattern of behaviour bereits aus den Frühzeiten der Entwicklungsgeschichte der Menschheit stammen und den damaligen Lebensverhältnissen entsprochen haben. Der Modus ihrer genetischen Überlieferung über den Selektionsvorteil von Gemeinschaften ihrer Umwelt besser angepasster Individuen legt auch eine weitgehende Invarianz dieser Eigenschaften nahe. Die rasante und immer mehr beschleunigte kulturelle Evolution läuft mit ihrer technischen Entwicklung und ihren Veränderungen der Lebensbedingungen einer Adaption der auf die Kleingruppe und persönliche Kontakte abstellenden Verhaltensmuster davon. Was für persönliche Kontakte in Aug-in-Aug-Situationen als verlässliche Hemmung einer Tötung mittels Zähnen und Klauen hinreichend war – etwa das bei Hunden beobachtete Unterwerfungssignal des Darbietens des Halses zum Todesbiss – muss bei einem technisierten Aggressionsakt gegen einen unbekannten fernen Feind versagen. Durch die Erfindung von Waffen hat sich der Mensch der schmutzigen Arbeit des Tötens entledigt, überlässt diese dem technischen Gerät und beschränkt sich auf eine emotionsunabhängige Auslöserfunktion. Dem auf die Verhältnisse der Urzeit programmierten Gewissen fehlt oft der Schlüsselreiz, um antizipativ die Tat zu verhindern. K. Lorenz hat das Auseinanderklaffen der beiden Geschwindigkeiten der pattern of behaviour einerseits und der „kulturellen“ Evolution andererseits drastisch dargestellt: der Mensch von heute mit der Mentalität des Cromagnon-Frühmenschen aber mit atomarer Bewaffnung ausgerüstet.
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Das menschliche Gewissen steht aber nicht nur besonders schweren Verbrechen, die auf Distanz und unter Waffeneinsatz begangen werden, hilflos gegenüber. Es sind auch die zahlreichen neuen Lebensformen in hoch technisierten Massengesellschaften mit weltweiter Mobilität von Menschen, Gütern, Dienstleistungen und Kapitalströmen, die zu neuartigen Formen von Kriminalität zur Schädigung anderer und zur Verweigerung nötiger Hilfe verleiten. Diese neuen Gelegenheiten sind von den alten Verhaltensmustern des Gewissens noch nicht erfasst und sind gefühlsmäßig kaum erfassbar. So wie es zur Ausnützung der neuen Möglichkeiten, sich anderen gegenüber schädlich zu verhalten, des Einsatzes intellektueller Fähigkeiten und rationaler Denkprozesse bedarf, benötigt das individuelle menschliche Gewissen eine Ergänzung seines ungeschriebenen emotionalen Programms durch ein verbal zum Ausdruck gebrachtes, rationales, lehrbares und erlernbares, allgemein verbindliches Regelwerk des menschlichen Verhaltens, das Moral genannt wird. Moral stellt sich so als rationale Fortsetzung des im Unbewussten (nach Freud im Überich) wirkenden und nur in seltenen Fällen ins Bewusstsein gelangenden menschlichen Gewissens dar. Allerdings besteht zwischen dem antizipativen Gewissen, also seiner stärksten Form, und dem Verhaltenskodex Moral ein grundlegender Unterschied: Dieses Gewissen lässt das verpönte Verhalten, die Missetat oder die Verweigerung der situationsbedingt notwendigen Hilfe erst gar nicht zu. Es nimmt ein solches Verhalten aus dem Kreis der Möglichkeiten des Verhaltenssubjekts aus und lässt diesbezüglich – mangels entsprechender Fähigkeiten des Individuums – keine Freiheit zum Vollzug dieses Verhaltens entstehen. Die moralische Regel hingegen enthält nur eine Aufforderung an das Verhaltenssubjekt, dem auch das moralisch verpönte Verhalten zu vollziehen möglich ist und das auch für dieses Verhalten Freiheitsträger bleibt, freiwillig auf den Vollzug dieses Verhaltens zu verzichten. Bei seinen schwächeren Versionen lässt das Gewissen das Verhalten zwar zu, bricht es aber vor Vollendung ab oder straft im Nachhinein – nach Vollendung – mit dem Gefühl des „schlechten“ Gewissens, mit Reue über das Begangene und „Gewissensbissen“. Während das antizipative menschliche Gewissen in seiner zwingenden Natur den zwanghaft das tierische Verhalten steuernden Hemmungs- und Antriebsmechanismen mit arterhaltender Funktion ähnelt, kann in den schwächeren Formen des in bereits angelaufenes Verhalten eingreifenden Interventionsgewissens und noch mehr des lediglich im Nachhinein Reue und Gewissensbisse ausbildenden „schlechten“ Gewissens ein gleitender Übergang zur Freiheit der Moralanwendung gesehen werden. Inhaltlich bestehen zwischen allen Versionen des Gewissens, zwischen Moral und den genannten Mechanismen des tierischen Verhaltens weitgehende Parallelen. K. Lorenz ging sogar soweit, diese Zusammenhänge als „moralanaloges
5.1. Zum Wesen der Moral
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Verhalten“ der Tiere zu bezeichnen. Allerdings wird mit diesem anthropomorphen Begriff gegen die Richtung der Entwicklung argumentiert, während bei deren Einhaltung eher von einer Analogie der Inhalte der Moral zu den arterhaltenden Mechanismen des tierischen Verhaltens gesprochen werden könnte, dies freilich mit dem Hinweis auf die den Tieren nicht gegebene, verantwortliche Freiwilligkeit der Befolgung moralischer Regeln. Moral ist das Endprodukt des stufenweisen Vorgehens der praktischen Philosophie von der Darstellung des Freiheitsraumes an über die Beschreibung der verschiedenen Verhaltensarten und -weisen und ihrer möglichen Folgen für andere zur ethischen Bewertung und Prinzipiensuche bis hin zur Formulierung der moralischen Grundsätze. Die gleiche Vorgangsweise gilt auch für das von den Regeln angesprochene Verhaltenssubjekt, wenn die Verhaltensnormen kritisch hinterfragt und geprüft werden sollen. Für die praktische Anwendung genügt die Prüfung der Wirkung des beabsichtigten Verhaltens für ein davon betroffenes Objekt und im Fall der Schädlichkeit die Unterstellung unter die darauf zutreffende Regel. Erst durch die Annahme dieser Norm und ihre Einhaltung wird der Appell an das Verhaltenssubjekt befolgt. Erst dadurch wird dem Zweck der Moral entsprochen und das durch das Verhalten und seine Wirkung drohende Problem vermieden oder gelöst. Erst dann hat der Mensch seiner Verantwortlichkeit für sein Verhalten entsprochen. Das menschliche Verhalten wird von Emotionen und von Denkprozessen gesteuert, und zwar sowohl auf Seiten des Antriebes als auch auf Seiten der Kontrolle. Im Verhältnis des Zusammenwirkens dieser Faktoren wird bald die eine, bald die andere Seite im Spiel der positiven oder negativen Rückkoppelungsprozesse ein Übergewicht erlangen, und den letzten Schritt der Auslösung oder Unterdrückung eines bestimmten Verhaltens setzen. Damit ist freilich nichts über den Inhalt der Entscheidung und über die Auswirkungen auf die Umwelt des Verhaltenssubjekts gesagt. Die früheren naiven Vorstellungen über das „böse“, von Trieben und Begierden hervorgebrachte Handeln und über das „gute“ von immer edlen Gedanken gelenkte rationale Verhalten sind längst durch die Erfahrungen des Alltags widerlegt. Spontanes hilfreiches Handeln ist ebenso häufige Realität wie schwere Verbrechen, die in Planung und Ausführung auf komplizierte Denkprozesse aufgebaut sind. Will man diesen Gegebenheiten Rechnung tragen, ist neben dem angeborenen inneren Wegweiser des Gewissens die Einbeziehung des verbal formulierten rationalen Normenkodex Moral in ein Gesamtsystem der Regelung des menschlichen Problemverhaltens erforderlich. Diese Vorgangsweise entspricht der Entwicklung der Menschheit in allen Punkten und dient der Sicherung des Weiterbestandes der Art.
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5. Moral
5.1.3. Die Grundlagen der Moral von heute Welche Anforderungen stellen sich heute an ein Moralsystem, das bei möglichst geringen Eingriffen in die persönliche Lebensgestaltung der Menschen die Existenz der Menschheit und damit ihrer Mitglieder sowie die der anderen Arten von Lebewesen sicherstellen soll? Man wird gegen diese bescheidene Festlegung des Aufgabenbereiches vielleicht einwenden, dass damit hohe Ziele des Menschseins außer Acht gelassen werden, dem Streben nach Höherem, nach dem Guten, Edlen und Schönen nicht entsprochen, dass Wohlstand und Glück nicht angestrebt und verheißen wird. Man wird möglicherweise den Vorwurf eines ethischen Minimalismus erheben und das Fehlen idealistischer Höhenflüge, den Mangel an metaphysischen Konzepten der Transzendenz und der hypostasierten Abstraktionen bedauern. Die Philosophiegeschichte der vergangenen zweieinhalb Jahrtausende ist voll von derartigen Konzepten, deren hoher Anspruch sich bald als zu hoch herausgestellt und in utopischen Zielsetzungen verloren hat. Schon vom Ansatz her und in seinen inneren Widersprüchen haben sich ehrgeizige Erwartungen als nicht realisierbar erwiesen und sind dann auch ohne praktische Auswirkungen geblieben. Nunmehr am Beginn des dritten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung liegt ein wissenschaftlicher Erkenntnisstand vor, der eine realistischere Betrachtung des Weltgeschehens, des Menschen und seiner Beziehungen zu seiner Umwelt ermöglicht und die Gefahren für den Einzelnen, die Menschheit und anderen Arten aufzeigt, die aus einem Verhalten der Menschen ohne Einhaltung von Regeln erwachsen. Kann in dieser Situation angesichts der erkannten Gefahren ein auf die Sicherung der Existenz der Menschen, der Menschheit und anderer Arten von Lebewesen gerichtetes Konzept überhaupt als zu tief gegriffen angesehen und der Vorwurf eines unangebrachten Minimalismus zu Recht erhoben werden? Ist es nicht besser, sich erreichbaren Zielen zu widmen und solche Programme zu realisieren, die sich auf das unumgänglich Nötige beschränken, als unerfüllbaren Utopien nachzujagen? Und kann das Streben nach Sicherung durch Ausschaltung der von Menschen selbst erzeugten Gefährdung überhaupt als minimalistisch diskreditiert werden, wenn doch auf diesem existenziellen Fundament alles Weitere aufbaut? Poppers Erkenntnisse über die Präzisierung moralischer Forderungen durch negative Formulierung und sein Vorschlag, die utilitaristische Formel der Glücksmaximierung durch die Forderung nach Minimierung von vermeidbarem Leid zu ersetzen, weisen den Weg in Richtung der Anpassung an die Realitäten der Praxis, wie sie deren Systeme des Rechtswesens und
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des Staatswesens nicht ohne Erfolg praktizieren. Zusammen mit der sich aus dem Dualismus von Tatsachen und Maßstäben ergebenden Methode, vom Deskriptiven zum Präskriptiven vorzugehen und sich primär dem Lösen von Problemen zu widmen, ergibt sich daraus im Rahmen einer praktischen Philosophie von heute ein realistischer, auf Vermeidung und Lösung von Problemen aus dem Verhalten der Menschen gerichteter Moralkodex. Neben diesen Grundsätzen des Sich-Bescheidens auf das Wesentliche, des Zurücknehmens der Zielsetzung auf die Rücksichtnahme auf den anderen und der Nicht-Einmischung in die darüber hinaus gehende freie Lebensgestaltung, sollte ein Moralsystem von heute einfach, klar gegliedert und für jedermann verständlich und nachvollziehbar sein. Sein Zweck liegt vorrangig nicht darin, Streitthemen für akademische Diskussionen zu liefern, sondern liegt in einer möglichst weltweiten Verbreitung seiner Verhaltensregeln und ihrer Befolgung durch möglichst viele Menschen. Gefragt ist also eine Universalmoral, die jeder Mensch einhalten kann, indem er die willkürliche Durchsetzung seiner Interessen zwecks Wahrung der Interessen anderer zurücknimmt. Gefragt ist eine Moral, die einerseits Platz lässt, für weitergehende Hilfs- und Liebesgebote der Religionen und anderer Ideengemeinschaften, aber andererseits eine starre Untergrenze für den Bereich des erlaubten Verhaltens bildet, die weder durch politische Ideologien noch durch eine feindselige Auslegung religiöser Vorschriften zu Lasten des betroffenen Objekts durchbrochen werden darf. Ihre Regeln sollen erlernbar sein, in Wort und Schrift gelehrt und vor allem durch das persönliche Beispiel verbreitet werden können. Ihre Grundlage soll Toleranz gegenüber dem anderen Toleranten, seinen Ansichten und Interessen, seiner Lebensführung und der Erfüllung seines Freiheitsraumes sein. Die Regeln eines solchen Moralsystems sollen für den Adressaten in seiner persönlichen Begegnung mit anderen Menschen ebenso gelten wie als Grundsätze einer Sozialpragmatik in den Ordnungssystemen der menschlichen Gemeinschaften, und zwar in beiden Richtungen – von den Institutionen zum Individuum und von diesem zur Gemeinschaft. Gegenüber den Lebewesen anderer Arten sind die unterschiedlichen Positionen von Verhaltenssubjekt und Objekt in der vorgegebenen Ordnung der Natur zu berücksichtigen. Humanmoral wird daher auf anderen Grundlagen aufbauen als die Moral der Natur. Festzuhalten ist, dass Adressat der Moralvorschriften das sein Verhalten selbst bestimmende Verhaltenssubjekt ist. Das von schädlicher Wirkung betroffene Objekt wird in keiner Weise daran gehindert, sich gegen – unmoralische – Schädigungshandlungen zur Wehr zu setzen und Angriffe angemessen abzuwehren. In diesem elementaren Notwehranspruch kann es sogar auf Nothilfe durch andere Menschen zählen, die ihrerseits als Adressaten
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des Moralverbotes, zumutbare Hilfe in Notsituationen anderer zu verweigern, zur Unterstützung des angegriffenen Objekts moralisch verpflichtet sind. In der vom Gleichheitsgrundsatz geprägten Humanmoral soll auch das Verhältnis zwischen Moral und Recht untersucht und dargestellt werden, wie weit Moral als Basis für inner- und überstaatliches Recht und Gerechtigkeit dienen soll. Ungeachtet der inhaltlichen Beschränkung auf problemverursachendes Verhalten ergibt sich daher ein umfangreiches Anforderungsprofil für ein Moralsystem von heute.
5.2. Die Pflicht zur Freiheit 5.2.1. Freiheit als Grundlage Freiheit umreißt die Summe der Möglichkeiten eines Menschen, sich auf selbst bestimmte Weise verhalten zu können. Sie wird durch einen Überhang eigener Kenntnisse und Fähigkeiten ihres Trägers, vermehrt um Hilfe aus der Umwelt, über die ihm entgegenwirkenden Kräfte bestimmt. Das Verhaltenssubjekt wählt aus den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten eine, die seiner Zwecksetzung als kausal geeignetes Mittel tauglich erscheint aus, und verwirklicht sie durch Vollzug dieses Verhaltens. Nicht in den Kreis dieser Möglichkeiten zu selbst bestimmten Verhalten fallen Verhaltensweisen, die das antizipative Gewissen des Freiheitsträgers von vornherein nicht zulässt. Alle anderen Verhaltensmöglichkeiten erfasst der Freiheitsraum des Individuums, und zwar unabhängig davon, ob sie Wirkung nur beim Verhaltenssubjekt selbst oder auch bei anderen hervorrufen und ob diese Wirkung dem betroffenen Objekt (anderen Menschen oder sonstigen Lebewesen) nützlich oder schädlich ist. Das selbst bestimmte Verhalten im Freiheitsraum des Individuums erfolgt in voller Verantwortlichkeit des Verhaltenssubjekts für die dem Objekt erwachsende schädliche Wirkung. Daher hat es die Möglichkeit schädlicher Folgen vorweg festzustellen, wobei objektive allgemeine Kriterien und im Zweifel die Entscheidung des Objekts heranzuziehen sind. In Ermangelung der Entscheidungsfähigkeit des Objekts oder einer Kommunikationsmöglichkeit mit ihm ist nach der Gegenseitigkeitserwägung der Goldenen Regel vorzugehen. Es ist dabei gleichgültig, ob die dem Objekt schädliche Wirkung direkt durch eine aktive Schädigungshandlung entsteht oder indirekt daraus erwächst, dass das Verhaltenssubjekt die situationsbedingt notwendige Hilfe gegen einen dem Objekt schädlichen Zustand oder Prozess unterlässt. Bei Zutreffen möglicher Schädlichkeit für das Objekt wird das Subjekt
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zum Adressaten des moralischen Appells, dieses Verhalten zu vermeiden. Die Befolgung dieser Aufforderung unterliegt wiederum der freien Bestimmung durch das Verhaltenssubjekt. Der Vollzug des von der Moral angeordneten anderen Verhaltens, das beim Handeln im Vollzug einer anderen, unschädlichen Handlung oder bloß im Ablassen von der Schädigungshandlung, beim Unterlassen von Hilfe aber im Vollzug der hilfreichen Handlung bestehen kann, wird ebenso nur innerhalb der bestehenden Verhaltensfreiheit ermöglicht. Moral hat sohin Freiheit in zweifacher Weise zur Voraussetzung, indem sowohl das geplante, dem Objekt schädliche Verhalten, als auch die Erfüllung der moralischen Forderung von der Freiheit zum Vollzug dieser beiden Verhalten, des geplanten verpönten und des geforderten Verhaltens, abhängt. Das Verhaltenssubjekt darf keinem Zwang zum moralisch verbotenen Verhalten unterliegen und muss sich frei zur Einhaltung des Moralkodex durch den Vollzug des moralisch erwünschten Verhaltens entschließen können.
5.2.2. Freiheit als Verpflichtung Freiheit ist nicht nur Voraussetzung für den Bestand eines moralischen Regelsystems, da sie auch die Möglichkeit zu dem einem Objekt schädlichen Verhalten einschließt, für welches Verhaltensnormen aufgestellt werden. Sie ist ebenso Voraussetzung für die Wirksamkeit des moralischen Appells an das Verhaltenssubjekt, von seinem geplanten schädlichen Verhalten abzusehen und sich normgerecht zu verhalten. Auch der Vollzug des moralisch geforderten Verhaltens muss dem Verhaltenssubjekt möglich sein und muss von vornherein innerhalb seines Freiraumes liegen. Daher gilt es für das Verhaltenssubjekt, sich diese Freiheit zu moralischem Verhalten offen zu halten, sie sich von niemand nehmen oder auch nur schmälern zu lassen. Daher wird wie folgt zur Wahrung dieser Freiheit aufgerufen: Lass dir deine Freiheit zu moralischem Verhalten nicht nehmen! Freiheit im Allgemeinen ist ein hochgeschätztes Gut, für das viele sogar ihr Leben einzusetzen bereit sind. Dieses Streben nach Freiheit hat in der Geschichte der Menschheit über kurz oder lang noch jedem Gewaltregime ein Ende bereitet, hat Unterdrückung und Freiheitsberaubung beseitigt und den ursprünglichen Zustand von Freiheit wiederhergestellt. Es ist ein legitimer Anspruch jedes Menschen, sich für seine ihm angeborene Freiheit einzusetzen und die von anderen Menschen erzeugte Unfreiheit, wenn nötig mit Gegenwehr zu beenden. Es steht in seinem ureigensten Interesse, als
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5. Moral
Freiheitsträger seine ihm als Mensch zustehenden Möglichkeiten zu selbst bestimmtem Verhalten zu bewahren, zu mehren und gegen jeden Eingriff zu verteidigen. Aber es ist sein persönliches Interesse, für das er in diesem Freiheitsstreben eintritt. Er kann deshalb auch darauf verzichten und dieser Verzicht wird nur ihn und seine Sphäre berühren. Anders ist es bei jenem Teil der allgemeinen Verhaltensfreiheit, der nur die Freiheit zum moralischen Verhalten gegenüber einem betroffenen Objekt zum Ziel hat. Eine Moral, die keinen anderen Inhalt kennt, als Schaden beim Objekt eines fremden Verhaltens zu verhindern, dient den Interessen des Objekts. Ihre Aufforderung befolgen und sich gemäß ihren Regeln verhalten zu können, greift daher über den Interessensbereich des Verhaltenssubjekts weit hinaus und entspricht den Anforderungen, die an das Zusammenleben von Menschen in Gemeinschaften und an das Leben innerhalb der natürlichen Ordnung des Ökosystems Erde gestellt sind. Es ist also eine über das allgemeine Freiheitsstreben hinausgehende Verpflichtung zu dieser Freiheit des Einhaltens von Moral, die im Leitsatz zum Ausdruck gebracht wird. Sie ist zwar keine direkte moralische Pflicht, da sie nicht aus dem Inhalt der Moral selbst hervorgeht, der auf den Verzicht auf egoistische Durchsetzung eigener Interessen zu Lasten eines davon betroffenen Objekts gerichtet ist. Sie ist vielmehr jeder Moralregel vorangestellt, weil sie für die Voraussetzung der Wirksamkeit der Moral, nämlich der Möglichkeit ihrer Befolgung eintritt. Die Pflicht des Verhaltenssubjekts, sich für jedes geplante Verhalten die Möglichkeit einer Alternative, die dem Moralkodex entspricht, offen zu lassen und vollziehen zu können, macht Moral in ihrer praktischen Auswirkung erst möglich und kann zu den Sachverhalten führen, die durch die Moralregeln gesichert werden sollen. Alle Diktaturen, gleichgültig welche totalitären Ideologien sie benützen, benötigen zu ihrem System der Unfreiheit solche Menschen, die andere im Interesse des Machtanspruchs der Herrschenden veranlassen, von ihnen selbst zuerst gar nicht geplante Verhaltensweisen zu Lasten von verfemten Personen oder Gruppen zu vollziehen. Diese reichen vom passiven Wegschauen, wenn jemand geschädigt, drangsaliert oder getötet wird, über tatenloses Dulden oder sogar Billigen von Untaten hin bis zur aktiven Teilnahme an der Zufügung von Schäden ideeller, materieller oder persönlicher Natur. Die verbrecherischen Gewaltsysteme des Nationalsozialismus oder des Kommunismus wären nie entstanden, hätten sie nicht zahlreiche Untwerfungsbereite gefunden, die sich zu unmoralischem Verhalten gegenüber Menschengruppen, die zu Unpersonen oder Minderwertigen erklärt worden waren, missbrauchen ließen und es nicht wagten, den Weisungen der Moral zu folgen, um sich dem zur Staatsraison erklärten Unrecht zu entziehen. Um solche Gewaltsysteme zu verhindern, gilt es, den Anfängen zu wehren,
5.3. Humanmoral
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sich zu unmoralischem Verhalten nicht verleiten und sich die Anwendung der Moral nicht verbieten zu lassen. Die Pflicht des Verhaltenssubjekts auf Wahrung seiner Freiheit zur Einhaltung der Moral bildet einen unverzichtbaren Anspruch des vom Verhalten betroffenen Objekts und damit die Grundlage der Wirksamkeit der Regeln des Moralkodex. Daraus erklärt sich auch der Unterschied zwischen der Freiheit zur Befolgung des moralischen Appells und der allgemeinen Verhaltensfreiheit des Freiheitsträgers und Verhaltenssubjekts. Zu dem individuellen Anspruch des Verhaltenssubjekts tritt bei der Freiheit zur Einhaltung der Moral noch der Anspruch des von schädlichem Verhalten betroffenen und vom Regelwerk der Moral geschützten Objekts und verändert so den bloß persönlichen Anspruch in eine zusätzliche Verpflichtung gegenüber dem Objekt. Da eine Freiheitspflicht nur gegenüber dem Objekt des Verhaltens besteht, kann sie beim nur eigenwirkenden Individualverhalten mangels eines betroffenen Objekts von vornherein nicht entstehen. Wie verhält es sich nun beim spontanen altruistischen Sozialverhalten, das dem Objekt sogleich Nutzen bringt und bei dem wegen der Spontaneität der Hilfeleistung auf Moralvorschriften erst gar nicht zurückgegriffen werden muss? Dabei sind der altruistische Wunsch des Verhaltenssubjekts zu helfen und der Wunsch nach Hilfe beim Objekt vom selben Inhalt getragen, der in seinem Ausmaß weit über die situationsbezogene moralische Hilfspflicht hinausreichen kann. Ein solches Verhalten kann etwa vom christlichen Liebesgebot der Bergpredigt oder von Gefühlen der Liebe oder Freundschaft getragen sein und unterliegt wegen seines spontanen Vollzugs zwar nicht einer rationalen Abwägung moralischer Anordnungen gegenüber Aufträgen zu schädlichen Verhaltensweisen, wohl aber der Pflicht zur Wahrung der Freiheit als Voraussetzung der Anwendung dieser spontan-altruistischen Verhaltensweisen.
5.3. Humanmoral 5.3.1. Das oberste Prinzip Vermeide Verhalten, das anderen Menschen schädlich sein kann! Diese allgemeine moralische Grundnorm regelt das Verhalten der Menschen in ihren Beziehungen zu anderen Menschen. Aus ihr kann alle Moral der praktischen Philosophie, die das Verhaltensobjekt Mensch betrifft, abgeleitet oder erklärt werden. Sie bildet die Grundlage für moralisches Verhalten in der zwischenmenschlichen Begegnung der Individuen und den Beziehungen in und zu den Gemeinschaften, Institutionen und ihren Systemen.
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5. Moral
Ihr Zweck liegt im Schutz des betroffenen Objekts eines fremden zukünftigen Verhaltens, das sich als schädlich für das Objekt erweisen könnte. Das darin ausgesprochene Verbot gilt für beide Arten des Verhaltens, für aktive Schädigungshandlungen gegen das Objekt ebenso wie für das passive Unterlassen von notwendigen Hilfeleistungen in einer Situation von Not oder Hilflosigkeit. Der einheitliche Schutzzweck findet im obersten Verhaltensprinzip der Humanmoral seine allgemeinste Formulierung, die alle denkbaren Anwendungsfälle umfasst. Gegen seinen Grundgedanken, dass niemand durch das Verhalten eines anderen zu Schaden kommen darf, lässt sich in einer Ordnung, die auf wechselseitigen Austausch von Gütern und Leistungen, von Informationen und Energie und gegenseitiger Unterstützung ausgerichtet ist, kein plausibles Argument einwenden. Mit einem Verbot des für andere schädlichen Verhaltens wird diese, durch lange Zeiten gewachsene und immer wieder von Rückschlägen unterbrochene Ordnung gefördert. Das gegenteilige Verhalten stört sie und damit die Entwicklung der Menschheit. Es geht also bei der Humanmoral darum, schädliche Auswirkungen des menschlichen Verhaltens bei anderen zu verhindern. Was schädlich ist, bestimmt sich nach objektiven Kriterien, wie sie auch in Strafgesetzen in Tatbestandsgruppen zusammengefasst beschrieben sind. Im Zweifel gilt verbindlich die Entscheidung des bedrohten Objekts, im Fall seiner Entscheidungsunfähigkeit oder der Unmöglichkeit der Einholung seiner Meinung die Gegenseitigkeitsbestimmung der Goldenen Regel, nach der sich das Verhaltenssubjekt gedanklich in die Rolle des Objekts versetzt und beurteilt, ob die Wirkung des geplanten Verhaltens ihm als Objekt zumutbar wäre. Der Schaden, vor dem das Objekt zu bewahren ist, kann in seiner Person selbst eintreten, sein Leben, seine Gesundheit und körperliche Unversehrtheit, seine Freiheit und selbst bestimmte Lebensgestaltung treffen oder aber auch andere materielle oder ideelle Güter, wie sein Eigentum oder seine Ehre. All dies betrifft auch alle dem Objekt nahe stehenden Personen. Durch die Beachtung des von Popper aufgezeigten Dualismus von Fakten und Maßstäben und demzufolge der methodischen Trennung in deskriptive Verhaltenstheorie, in Ethik und präskriptive Moral ergibt sich in der praktischen Philosophie die Möglichkeit einer Generalisierung des verbotenen Verhaltens durch das Abstellen auf die schädliche Wirkung beim Objekt. Dadurch bleibt die kasuistische Aufzählung der unter das Verbot fallenden Verhaltensweisen des Handelns und Unterlassens erspart und kann das moralische Verbot generell für jedes Verhalten ausgesprochen werden, das sich als schädlich für das Objekt erweisen kann. Entgegen dem in der skeptizistischen Theorie vertretenen Pauschaleinwand, man könne unmöglich sämtliche Folgen eines geplanten Verhaltens
5.3. Humanmoral
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voraussehen, fällt es in der Praxis nicht schwer, die Konsequenzen eines künftigen Verhaltens, die sich für ein Objekt ergeben können, nach objektiven Kriterien abzuschätzen. Dies wird von jedem Strafgesetz jedem zurechnungsfähigen Menschen zugemutet und ihm als einsichtig unterstellt. Einen schlüssigen Gegenbeweis gegen diese allgemeine Erfahrungstatsache hat niemand erbracht. Dazu kommt, dass bereits die Möglichkeit nachteiliger Auswirkungen auf andere berücksichtigt werden muss und bereits ein möglicherweise schädliches Verhalten dem moralischen Verbot unterliegt. Die als gemeinsames Kriterium geltende schädliche Wirkung ist unabhängig davon, auf welche Weise sie herbeigeführt wird. Maßgeblich ist lediglich, dass das Objekt des Verhaltens davon betroffen wird und vor dieser Auswirkung zu schützen ist. Allerdings besteht zwischen den beiden Arten des Verhaltens, dem aktiven Handeln und dem passiven Unterlassen eine Asymmetrie, die sowohl den faktischen Vorgang als auch die moralische Konsequenz betrifft. Die Schädigungshandlung bildet die direkte und unmittelbare Ursache des Schadens, während bei der Unterlassung von Hilfe ein dem Objekt schädlicher Zustand oder Prozess durch die Verweigerung des Eingreifens nicht zugunsten des Objekts gehindert oder die Schädlichkeit nicht beseitigt oder gemildert wird. Aus diesem Unterschied im Faktischen erwächst ein Unterschied in der Intensität und Dringlichkeit der moralischen Forderung, die es nahe legt, die in ihren Grundzügen gleich bleibende und für alle Fälle des Verhaltens anwendbare generelle Grundnorm dieser Asymmetrie anzupassen und für das Handeln und das Unterlassen von Hilfe differenziert zu formulieren. 5.3.2. Die zweite Asymmetrie Karl Popper hat in Band I seines Werkes „Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde“ seinen Vorschlag eines Negativen Utilitarismus der Minimierung der Leiden statt der Maximierung des Glücks des klassischen Utilitarismus mit der ethischen Asymmetrie zwischen Freuden und Leiden oder zwischen Lust und Schmerz und der daraus folgenden Dringlichkeit des moralischen Appells, Leidenden zu helfen, vor dem Aufruf, Glück zu vermehren, begründet (Anm. 2 zu Kapitel 9). Diese unzweifelhafte Asymmetrie bezieht sich auf den Zustand und die Befindlichkeit des Betroffenen und berücksichtigt nicht, wodurch dieser Status des Leids verursacht wurde und in wessen Verantwortlichkeit er fällt. Wendet man sich aber in einem System der Regelung künftigen Verhaltens der Frage nach der Kausalität der Entstehung des Leidens beim Betroffenen zu, ergibt sich eine zweite Asymmetrie. Sie betrifft das Verhalten
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5. Moral
selbst, das Verhaltenssubjekt und die bei einem anderen Menschen hervorgerufene schädliche Wirkung. Aktives Handeln, das geeignet ist, besonders schädliche Wirkung, nämlich Leiden, bei einem Objekt zu erzeugen, ist in seinem Ablauf, seiner Aggressivität gegen das Objekt etwas anderes als das Unterlassen von Hilfe bei bereits bestehendem Leiden, besonders wenn dieses nicht vom Verhaltenssubjekt selbst herbeigeführt wurde. Gegen einen anderen Menschen so zu handeln, dass man ihm Leiden antut, ihn durch diese Handlung zum Leidenden macht, wiegt ungleich schwerer und ist bedeutend verwerflicher, als sein bereits bestehendes Leiden zu ignorieren und die Hilfe zu verweigern. Die faktische Asymmetrie zwischen Schädigungshandlung und Unterlassung von Hilfe ergibt die zweite ethische Asymmetrie, den Unterschied in der Intensität und Dringlichkeit des moralischen Appells und den Vorrang des moralischen Verbotes der Schädigungshandlung vor dem Verbot der Unterlassung von Hilfeleistung. Die zweite Asymmetrie der Priorität des Handlungsverbotes vor dem Unterlassungsverbot bezieht sich nicht nur auf Poppers Beispiel und sein Resultat, das Leiden des Betroffenen, sondern prinzipiell auf jede Beeinträchtigung der Interessensphäre des Objekts. Es macht einen Unterschied, ob diese schädliche Wirkung durch die schädigende Handlung erst erzeugt oder vom Verhaltenssubjekt beim Objekt bereits vorgefunden und nicht beseitigt oder gemindert wird. Und es macht einen Unterschied beim Inhalt des moralischen Appells, ob nur Untätigbleiben durch Verzicht auf die Schädigungshandlung oder ob aktive Hilfeleistung durch Verzicht auf ihre Unterlassung gefordert wird. So erweist sich die zweite Asymmetrie als ebenso wichtig wie die von Popper beim Vergleich der ethischen Ziele der beiden Utilitarismen aufgezeigte Asymmetrie von Glück und Leid und der daraus resultierenden Dringlichkeit des moralischen Appells zur Minimierung von Leid vor der Maximierung von Glück. In ihren praktischen Konsequenzen reicht die zweite moralische Asymmetrie, die in Poppers Vorschlag implizit bereits enthalten, wenn auch nicht gesondert zur Darstellung gebracht ist, weit in Poppers Vorstellung vom Leben als Problemlösen hinein und spricht die Priorität des Problemvermeidens durch Verzicht auf Probleme schaffende Schädigungshandlungen vor der Problemlösung durch Hilfeleistung zur Minimierung der bereits bestehenden Probleme an. Denn durch den Entfall von Schädigungshandlungen kommt es erst gar nicht zum Entstehen von Problemen. Die Problemlösungskapazität kann sich dann auf die nicht von Menschenhand geschaffenen Probleme natürlichen Ursprungs konzentrieren. Die zweite Asymmetrie wird nicht nur von der Erfahrung über die wesentlich höhere Gefährlichkeit und Schädlichkeit von Handlungen gegenüber den Unterlassungen von Hilfe und der Kenntnis des Ausmaßes von
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Unheil bestätigt, das die Tätigkeit von Menschen in die Welt gebracht hat, sondern ergibt sich auch aus der Verantwortlichkeit für die Folgen jeder Handlung, die dem handelnden Subjekt als Verursacher direkt zukommt, während das Verhaltenssubjekt für Unterlassung von Hilfe nur indirekt für die Nichtbeseitigung oder Nichtverringerung des, von welchem Naturprozess oder welchem Menschen oder sonstigem Lebewesen auch immer verursachten, Schadens haftet. Die Bedeutung der zweiten Asymmetrie seit alters her zeigt sich bereits im Dekalog (2. Moses 20, 2–17 und 5. Moses 5, 6–18). Die Grundlagen zivilisierter Lebensordnung werden dort durch sechs Verbote von Schädigungshandlungen (du sollst nicht töten, nicht Ehe brechen, nicht stehlen, gegen deinen Nächsten nicht falsches Zeugnis ablegen) und bereits deren mentalen Anstößen (du sollst nicht begehren die Frau deines Nächsten, sein Haus, Acker, Knecht, Magd, Ochs, Esel und alles, was ihm gehört) geregelt. Die einzige positive Anordnung, Vater und Mutter zu ehren, die negativ formuliert auch als Verbot der Unterlassung dieser Ehrerweisung gesehen werden kann, fällt gegenüber den Verboten von Schädigungshandlungen kaum ins Gewicht. In gleicher Weise verbieten sämtliche Strafgesetze bestimmte tatbestandsmäßig aufgezählte Schädigungshandlungen generell und ausnahmslos durch Androhung von Strafen, während Unterlassungen nur in bestimmten, gesetzlich geregelten Situationen und unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände strafbar sind. Auch in dieser für Systeme der Praxis unentbehrlichen Unterscheidung kommt die zweite Asymmetrie des moralischen Appells klar zum Ausdruck. 5.3.3. Die Moral der zwischenmenschlichen Begegnung 5.3.3.1. Das Schädigungsverbot Vermeide jede Handlung, die andere Menschen schädigen kann! Die Spezifizierung des für das Verhalten geltenden allgemeinen Grundprinzips für die aktive Art des Verhaltens, das Handeln, zeigt nur zwei Unterschiede in der Formulierung: Das Handlungsverbot bezieht sich erstens auf „jede“ Handlung, die zweitens andere Menschen „schädigen“ kann. Diese Textierung bringt zum Ausdruck, dass es die Handlung selbst betrifft, die den unerwünschten Erfolg, die Schädigung, verursacht. Das Handeln bildet die Ursache für die daraus im Kausalverlauf resultierende Wirkung, den Schaden beim betroffenen Objekt. Demgegenüber erfasst die allgemeine Fassung der auf das Verhalten bezogenen Grundnorm „schädlich“
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auch die dem Objekt zum Schaden gereichende Unterlassung von Abhilfe gegen einen bestehenden Zustand der Not oder Hilflosigkeit in einem dem Objekt bedrohlichen, schädlichen Prozess. Der Hinweis darauf, dass das Verbot „jede“ schädigende Handlung erfasst, zeigt die besondere Stringenz der Moralvorschrift durch allseitige strikte Anwendung auf jeden Fall ohne Ausnahme auf. Jede Schädigungshandlung gegen einen anderen Menschen bedeutet eine Aggression, ein Eindringen in seine Sphäre, eine Verletzung seiner Interessen durch das handelnde Subjekt. Schon die Möglichkeit, dass kausal aus der geplanten Handlung bei einem anderen Menschen Schaden entstehen kann, reicht aus, um das Verbot dieser Handlung in Kraft treten zu lassen. Bereits die Möglichkeit eines Schadenseintritts bildet daher das Kriterium der Unzulässigkeit der Handlung und wird durch die Formulierung „schädigen kann“ zum Ausdruck gebracht. Die Verletzung der Interessensphäre des Objekts kann mittels jeder beliebigen Handlungsweise geplant sein, sei es durch Anwendung von Gewalt, sei es durch List und Täuschung. Der erwünschte Erfolg kann vom Täter selbst, von anderen angestifteten, gezwungenen oder getäuschten Personen oder vom in Irrtum geführten oder gezwungenen Opfer selbst bewirkt werden. Der Schaden kann einziger Zweck der künftigen Handlung sein oder als Resultat anderer Handlung entstehen, die Schädigung des Objekts kann bei Erlangung eigener Vorteile bewusst in Kauf genommen werden oder unbeabsichtigt durch Vernachlässigung der nötigen Sorgfalt bei Ausübung einer gefährlichen Tätigkeit entstehen. Im letztgenannten Fall richtet sich die Planung allerdings nicht auf die Schädigung, sondern auf die unachtsame Tätigkeit, welche den nicht geplanten Schaden nach sich zieht. Absicht oder Fahrlässigkeit hat für die Schwere des möglichen Schadens keine Bedeutung, wirkt sich aber auf den Grad der ethischen Verwerflichkeit der Schädigungshandlung und die Art und Weise aus, in der dem moralischen Appell zum Verzicht Rechnung getragen werden kann. Beim boshaften Handeln und anderer Feindseligkeit legt das moralische Verbot nahe, sich nicht durch Gefühle von Hass und Missgunst bestimmen zu lassen, beim egoistischen Inkaufnehmen von Schädigung des Objekts bei Verfolgung eigener Vorteile appelliert es an Einsicht in das Gleichheitsprinzip, bei Fahrlässigkeit an die Einsicht in die Gefährlichkeit des eigenen Tun für andere und an die Pflicht zur Einhaltung von Vorsichtsmaßnahmen. Da jede Schädigungshandlung direkt und unmittelbar in die persönliche Sphäre des Objekts eingreift und seine Interessen verletzt, bedarf das Verbot dieses Eingriffs keiner wie immer gearteten Rechtfertigung. Vielmehr müsste umgekehrt der Schädiger seine fremde Interessen verletzende Handlung vor Beginn ihres Vollzugs rechtfertigen. Einem derartigen Versuch
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stünde jedoch der allseits anerkannte Gleichheitsgrundsatz über die Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit aller Menschen, der Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit ihrer Persönlichkeit und der Unwiederholbarkeit ihres Lebens entgegen. Das Schädigungsverbot stellt in seiner lückenlosen Erfassung sämtlicher Handlungen aller Menschen den denkbar weitesten Schutz der möglicherweise von schädlichen Folgen betroffenen Menschen in der zwischenmenschlichen Begegnung der Individuen dar.
5.3.3.2. Das Verbot der Verweigerung von Hilfe Vermeide die Verweigerung von situationsbedingt dringend benötigter Hilfe! Die Moralregel für die zweite Art des Verhaltens, das Unterlassen, sieht wesentliche Einschränkungen des Anwendungsbereiches vor. Während das Schädigungsverbot für jedes aktive Handeln mit schädlichen, das Objekt treffenden Folgen gilt, wird vom Unterlassungsverbot nur ein Teil des Passivbleibens zu Lasten eines Objekts erfasst. Nicht jedes Unterlassen von Hilfeleistung fällt unter diese spezielle Ausformung des obersten Verhaltensprinzips des Verbots eines möglicherweise schädlichen Verhaltens. Es muss sich vielmehr um besondere Notlagen handeln, aus denen sich die Betroffenen nicht selbst befreien können und dringend die Hilfe anderer Menschen benötigen, die ihnen verweigert wird. Der Begriff „Verweigerung“ bildet einen Teil der allgemeinen Verhaltensart Unterlassung, die im engeren, für die Ethik anwendbaren Sinn, das Unterbleiben des Vollzugs einer für das Objekt nützlichen Handlung, einer Verbesserung seiner gegenwärtigen Lage, darstellt. Diese Hilfe ist aus der besonderen „Logik der Situation“ (Popper, Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde II Kap. 14 S. 314, 315), in der sich Verhaltenssubjekt und Objekt befinden, vom Verhaltenssubjekt, nicht unbedingt durch das Objekt selbst, gefordert, wird aber von jenem durch ausdrückliche Ablehnung oder konkludent durch Untätigkeit verweigert. Verweigerung setzt also eine bestimmte, aus der jeweiligen Situation entstandene Beziehung zwischen den Beteiligten in persönlicher oder räumlicher Hinsicht voraus, aus der eine situationsgerechte, notwendige Hilfeleistung erst verweigert werden kann. Diese Beziehung muss so intensiv sein, dass die Schädlichkeit des Untätigbleibens annähernd den Folgen einer schädigenden Handlung gleichwertig ist, die vom Verhaltenssubjekt zum Nachteil des Objekts vorgenommen worden wäre. Das Ausbleiben des Nutzens der unterlassenen Hilfe ist etwa einem durch fiktives Handeln dem Objekt zugefügten Schaden vergleichbar.
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Bei diesen Beziehungen zwischen den Beteiligten handelt es sich vorwiegend um natürliche Hilfspflichten aus einer Beschützergarantie, wie etwa Eltern gegenüber ihren hilflosen Kindern oder Erwachsene gegenüber ihren greisen Eltern in deren Hilfsbedürftigkeit, in der die Hilfe dringend erfordert wird. Die Betreuung der Nachkommen ist in der Praxis durch die arterhaltende Funktion des Gewissens zumeist abgesichert, sodass es nur in Ausnahmefällen des moralischen Appells als Unterstützung der natürlichen Hilfsbereitschaft bedarf. Die Versorgung der hilfsbedürftigen Alten wird dagegen weitgehend an Institutionen übertragen, die anstelle der Verpflichteten deren Leistung erbringen. Einen weiteren Anwendungskreis für Hilfspflichten bildet die Beziehung des hilflosen Kranken zu seinen Helfern im Gesundheitswesen, zu Ärzten, Krankenhauspersonal und Rettungssanitätern. Die Hilfs- und Schutzgarantien entstehen hier aus spezifischen Berufspflichten (z. B. Hippokratischer Eid) bezogen auf die Person des Verhaltenssubjekts und aus Gesetz oder Vertrag in der Beziehung der Beteiligten, woraus Ansprüche des Kranken auf Erbringung der Heil- und Pflegeleistung abgeleitet werden und woraus das moralische Verbot der Verweigerung resultiert. Auch Zufälle des Alltagsgeschehens können Hilfepflichten begründen: Ein Mensch bricht auf der Straße zusammen. Der in seiner Nähe Befindliche hat erste Hilfe zu leisten, Reanimierung, Verständigung der Rettung usw. Auch hier gilt das Verbot, sich dieser Hilfe zu verweigern, wobei auch Reziprozitätsgedanken eine Rolle spielen können. Besonders häufig entstehen Pflichten zur Hilfeleistung für Verursacher von Notsituationen beim Betrieb gefährlicher Maschinen, Anlagen oder Fahrzeugen, etwa für den Verursacher eines Verkehrsunfalls, zur Hilfeleistung an Verletzte. Darüber hinaus bestehen Warnpflichten zur Aufstellung von Warnzeichen. Kraftfahrzeughalter, deren Fahrzeuge Öl oder Ladung verlieren, haben für Beseitigung der Gefahrenquelle zu sorgen. Alle Pflichten entstehen bereits aus der Verursachung der Schadensquelle unabhängig vom Verschulden, aber umso mehr bei Vorliegen eines Verschuldens als Auftrag zur Schadensminderung, dessen Verweigerung moralisch verwerflich ist. Das Verbot der Verweigerung von Hilfe reicht aber weit über die Fälle der Verursachung der Notlage durch das Verhaltenssubjekt hinaus. Auch dort, wo kein Mensch als Verursacher in Frage kommt, gelten allgemeine Hilfspflichten, wie bei Naturkatastrophen und Elementarereignissen durch Feuer, Wasser, Orkan, Frost und Hitze zugunsten der betroffenen Opfer, vor allem dann, wenn die Hilfeleistung leicht ohne persönliche Gefährdung erbracht werden kann. Gerade in der Gemeinschaft ist der moralische Appell besonders dringend und die Verweigerung von Hilfe umso verwerflicher.
5.3. Humanmoral
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Auch in Situationen, in denen das Opfer seine Notlage selbst herbeigeführt hat, fällt das Unterlassen von Hilfeleistung unter das moralische Verbot. Dabei ist allerdings die Zumutbarkeit zu prüfen. Die Rettung eines ertrinkenden Kindes aus flachem Wasser wird jedem Erwachsenen zumutbar sein. Die Bergung von Menschen aus einem brennenden Haus wird als Akt persönlicher Risikobereitschaft nicht zu dem unbedingten Pflichtenkreis zählen und ein Unterlassen des Rettungseinsatzes nicht dem Verweigerungsverbot widersprechen, es sei denn, dass es sich um berufliche Feuerwehrmänner handelt, die öffentliche oder vertragliche Hilfspflichten zu erfüllen haben. Ähnliches gilt für die Verhinderung eines Verbrechens. Ein Passant wird Zeuge, wie ein Mädchen einer alten Dame die Handtasche raubt, und könnte dies durch sein Eingreifen risikolos verhindern, unterlässt aber ein Eingreifen und verstößt damit gegen die Moralvorschrift. Wenn ihm aber eine Gruppe von Gewalttätern, die einen Menschen misshandeln, gegenübersteht und er keine Chance gegen die Übermacht hat, besteht seine Pflicht darin, die Polizei zu alarmieren. Durch das Unterlassen des persönlichen Eingreifens, das ihm nicht zumutbar ist, verstößt er nicht gegen die Moralregel. Die Pflicht zur Verhinderung von Verbrechen besteht auch dann, wenn sich diese nicht gegen Leben, Gesundheit oder Freiheit des Opfers richten, sondern gegen andere seiner Güter. Wer Zeuge eines Einbruchs wird, hat die Polizei zu alarmieren, da er sonst gegen das Verbot zur Hilfeverweigerung verstößt. Besonders gelten diese Pflichten bei vertraglicher Übernahme von Schutzfunktionen für Bewachungspersonal, Nachtwächter, Lageraufseher für materielle Güter, für Bodyguards im Personenschutz. Bei personenverursachten Notlagen ist immer das Gleichwertigkeitsprinzip anzuwenden. Dieses stellt den Schaden, den das Verhaltenssubjekt durch seine Verweigerung der Hilfeleistung zwar nicht selbst verursacht, sondern lediglich nicht verhindert hat, etwa einem von ihm durch Schädigungshandlung selbst herbeigeführten Schaden gleich und qualifiziert daraus im Verein mit dem dargestellten, situationsbedingten Beziehungsgeflecht zwischen den Beteiligten die Verwerflichkeit der Verweigerung der dringend benötigten Hilfe. Der Hinweis auf das dringende Benötigen dieser Hilfeleistung beschreibt die Notlage des Objekts, das sich allein und ohne fremde Hilfe nicht aus seiner gefährlichen Situation befreien kann. Es braucht dringend gerade diese bestimmte ihm nützliche Hilfeleistung, die das Verhaltenssubjekt erbringen kann. Wenn dieses die dem Objekt so wichtige und nützliche Leistung zur Abwendung von Schaden verweigert, verletzt es damit die eine solche Unterlassung verbietende Regel. Während die Moralvorschrift für das schädigende Handeln mit einem einfachen Verbot dieses Verhaltens auskommt, verbietet die Regel über die
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5. Moral
Unterlassung mit schädlichen Folgen die Verweigerung der situationsbedingt dringend benötigten Hilfe und bildet so eine doppelte Negation: Vermeide die Verweigerung! Ihrem Inhalt nach führt dies letztendlich zu einem Handlungsgebot. Es erhebt sich die Frage, ob diese Vorgangsweise nötig ist, und weiters, welche Vorteile aus der doppelten Negation gegenüber einer positiven Formulierung eines Hilfegebots gewonnen wurde. Zunächst ist festzuhalten, dass die Unterlassungsregel eine Ableitung aus dem obersten Prinzip des Verhaltens in der zwischenmenschlichen Beziehung darstellt. Schon aus diesem Grund muss sie der dort statuierten Verbotsform folgen und kann ihrem Inhalt nach nicht in entgegengesetzter Richtung als Gebot formulieren. Darüber hinaus müsste jedes positiv formulierte Gebot gewünschter Verhaltensweisen eine Unzahl kasuistisch darzustellender Tatbestände enthalten, eine schier unmögliche Aufgabe. Daher formulieren alle praktischen Systeme negativ in Verbotsform den ungleich geringeren Kreis unerwünschter Verhalten, wodurch sich die erwünschten Verhalten im Umkehrschluss ergeben. Auch die mentale Vorgangsweise des Verhaltenssubjekts folgt dieser Methode bei der Prüfung der Verträglichkeit eines gewünschten und geplanten Verhaltens mit den Regeln der Moral. Das Verhaltenssubjekt stellt seine Absicht dem Moralkodex gegenüber und erkennt daraus eine allfällige Unzulässigkeit des beabsichtigten Verhaltens, in diesem Fall der beabsichtigten Verweigerung der in dieser Situation dringend benötigten Hilfsmaßnahmen. Diese Prozedur ist effizienter und führt rascher zu einem Ergebnis, als die Suche in einem unendlich großen Katalog gebotener Verhalten. Dazu kommt noch, dass das moralische Verbot der Verweigerung von situationsbedingt dringend notwendiger Hilfe eine wichtige zusätzliche Einschränkung des erheblich größeren Bereiches des allgemeinen Unterlassens jeglicher Hilfe ohne Berücksichtigung der Situation und der Beziehung der Beteiligten darstellt. Auch vom psychologischen Standpunkt kommt diesem moralischen Verbot weit größere Stringenz zu, als dem Gebot einer bestimmten Handlung, weshalb dem Verweigerungsverbot vor einem Hilfegebot der Vorzug zu geben ist.
5.3.4. Die gelebte Moral 5.3.4.1. Umfang und Wirksamkeit Wo bleiben in einem Moralkodex, der nur aus dem Verbot der aktiven Schädigung der Mitmenschen und einem Verbot der Verweigerung von in Notsituationen dringend benötigter Hilfeleistung besteht, die sonst verlangten Tugenden und edlen Gesinnungen des moralischen Menschen, wo seine absolut guten Taten und Werke, wo seine Ausrichtung nach Werten, wo
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Freundschaftsdienste und Bekundungen der Liebe zum Nächsten? Nimmt sich der Verbotskatalog dieser Moral nicht dürftig, ja schäbig aus im Vergleich zu dieser Fülle der Inhalte sonstiger Moralvorstellungen? Kann es genügen, sich mit der Einhaltung dieser Verbote zufrieden zu geben und darüber hinaus nichts Weiteres zu verlangen? Kann es richtig sein, in der zwischenmenschlichen Begegnung moralische Regeln auf die Wirkung des Verhaltens auf den anderen zu beschränken, das Individualverhalten des Menschen aber auszuklammern und der persönlichen Freiheit zu überlassen? Reicht es aus, Moral nur als Regelwerk zur Verhinderung von Schaden in der Welt zu sehen? Die Antwort auf diesen Fragenkreis beginnt mit dem Wesen der Moral. Moral als Kodex von Verhaltensregeln ist ein Appell an jeden Menschen, sich in seinem Verhalten nach ihr zu orientieren und ihre Vorschriften einzuhalten. Sie ist eine präskriptive Theorie zum richtigen Verhalten, zunächst ohne praktische Auswirkung in der Welt. Um zu praktischem Leben zu gelangen, muss sie vom Verhaltenssubjekt angenommen und beim Vollzug des Verhaltens befolgt werden. Erst ihre Einhaltung und die dadurch erreichte Änderung des Verhaltens wirkt in die Welt, bewirkt den Schutz des Objekts vor Schäden durch fremdes Verhalten. Dass moralische Verhaltensanordnungen eingehalten werden, geht auf die freiwillige Übernahme dieses Maßstabs durch das Verhaltenssubjekt zurück. Es folgt dann dem an ihn gerichteten Appell und verzichtet freiwillig auf schädigendes Handeln und freiwillig auf die Verweigerung von Hilfeleistung an ein in Not befindliches Objekt, das diese Hilfe dringend benötigt. Die freiwillige Übernahme der Verhaltensregeln setzt aber voraus, dass der Normadressat das Anliegen des moralischen Auftrags überblicken, verstehen und nachvollziehen kann und ihm Zweck und Sinnhaftigkeit einsichtig sind. Für die Durchsetzung dieses Anliegens in der allgemeinen Praxis reicht es nicht aus, wenn kompliziert konstruierte Gedankengebäude in schwer verständlicher Formelsprache nur Gelehrten für Fachdiskussionen zugänglich sind, aber an denjenigen, die im täglichen Geschehen danach leben sollten, mangels Verständlichkeit vorbeigehen. Es kommt also auf Klarheit der Formulierung eines einfachen moralischen Anliegens an, dem Schutz des Menschen vor Schaden, der ihm aus dem Verhalten anderer Menschen entstehen kann, womit auch dem Gleichheitsprinzip voll entsprochen wird. Dieser allgemeine, in bloß zwei Verboten zum Ausdruck gebrachte Schutzgedanke ist für jeden Menschen einleuchtend, bedarf keiner Rechtfertigung, schränkt die Verhaltensfreiheit des Individuums nur bei beabsichtigtem schädlichem Verhalten ein und lässt den Spielraum persönlicher Lebensgestaltung im übrigen offen. Ihm zu folgen, bedeutet beim weitaus
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überwiegenden Anwendungsbereich des Verbotes aktiver Schädigung nur, untätig zu bleiben, beim Verbot der Verweigerung von Hilfe, nur bei Notfällen dringend erforderlicher Hilfeleistung tätig werden zu müssen. Bei seiner allgemeinen Einhaltung wäre bereits der weitaus größte Teil der von Menschen anderen Menschen zugefügten Übel beseitigt. Alle anderen Fälle hilfreichen Handelns sind von der Moralvorschrift nicht erfasst und bleiben der privaten Initiative von Gefühlen der Liebe, Freundschaft, Mitgefühl und Mitleid, aber auch von religiösen Geboten (wie das Gebot der Nächstenliebe der Bergpredigt) oder karitativen Appellen überlassen. Persönliche Tugenden und Vorstellungen vom absolut Guten oder Werten, wie sie von Religionen gefordert und zum Anlass weiterer Hilfe an andere Menschen werden, bleiben von der Einschränkung des moralischen Schutzgedankens unberührt und werden dadurch in keiner Weise behindert. Der moralische Anspruch bildet allerdings die Untergrenze, die keinesfalls durchbrochen werden darf. Mit ihm wird die Grundlage für eine Universalmoral geschaffen. Die Wirksamkeit eines Moralkodex hängt besonders von seinem Umfang ab, mit dem er in die Verhaltensfreiheit des Adressaten eingreift. Ist dieser Bereich zu groß und greift Moral zu weit in die persönliche Lebensgestaltung ein, ist ihr Scheitern bereits vorprogrammiert. Wer sich von Vorschriften – nicht nur von moralischen – zu sehr eingeengt fühlt, neigt dazu, ihre Berechtigung in Abrede zu stellen, sich bevormundet zu fühlen und sich nicht an die Aufforderung zu halten. Beginnend mit dem als unberechtigt Empfundenen werden immer weitergehend moralische Anforderungen über Bord geworfen, bis schließlich der gesamte Kodex in Frage steht. Da Moral nicht auf Gefühle aufbaut, sondern als Imperativ an den Verstand der Normadressaten zur freiwilligen Übernahme und Befolgung appelliert, sollte der Umfang ihrer Regeln nicht überfrachtet und auf das für ein gedeihliches Zusammenleben Notwendige beschränkt werden. Nur so kann allgemeine Annahme und Wirksamkeit des Regelwerkes erreicht werden. 5.3.4.2. Die Goldene Regel Eine allgemein akzeptierte Universalmoral konnte in vielen Hochkulturen der Menschheit nachgewiesen werden: die Goldene Regel. In ihrer negativen Formulierung „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“ stellt sie ein Verbot für Handlungen auf, die der sich an die Stelle des betroffenen Objekts denkende Handelnde nicht selbst erdulden möchte. In ihrer positiven Form „Alles, was du willst, das die Menschen dir tun, das tue auch ihnen!“ fordert sie in gedachter Gegenseitigkeit
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zur Erbringung von Leistungen an andere auf, die der Normadressat selbst von anderen erhalten möchte. Die als sittliche Grundformel der Menschheit bezeichnete Goldene Regel findet sich schon früh in verschiedenen Kulturkreisen, im Konfuzianismus ebenso wie im Brahmanismus, dem Buddhismus, dem Parsismus, dem altgriechischen Kulturkreis (Thalet, Herodot) ebenso im Talmud-Traktat Schab31a, in der altrömischen Kultur (Seneca), sie wird in der Bergpredigt in der positiven Fassung als „Das Gesetz und die Propheten“ bezeichnet und rezipiert (Matthäus 7,12, Lucas 6,31) und einem Spruch Mohammeds als eine zu den fünf Grundpflichten als Sechste hinzutretende zugeschrieben. Unübersehbar ist die zu diesem Thema erschienene Literatur zumeist zustimmenden Inhalts. Bei Kant findet sich allerdings eine ablehnende Haltung, wenn er die zweite Fassung seines kategorischen Imperativs (über den Gebrauch der Menschen jederzeit zugleich als Zweck und niemals bloß als Mittel) scharf von der von ihm nicht geschätzten Goldenen Regel abzugrenzen sucht. Popper bezeichnet die Goldene Regel als guten Maßstab, der vielleicht sogar noch verbessert werden kann, in dem man andere, wo immer möglich, so behandelt, wie sie behandelt werden wollen (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II, Addendum 1/13). Er nimmt damit Bezug auf die Schwäche der Goldenen Regel, die im Gedankenexperiment der Gegenseitigkeit verwendeten Ansichten und Bewertungen des handelnden Subjekts als solche des betroffenen Objekts anzunehmen und als Maßstab des eigenen Handelns anzuwenden, wodurch es zu Unklarheiten und Fehlern in der Behandlung des anderen kommen kann. Popper weicht dieser Schwierigkeit dadurch aus, dass er anstelle der subjektiven Bewertung durch das sich fiktiv in die Rolle des Objekts versetzende Subjekt die reale Beurteilung durch den von der Wirkung Betroffenen setzt. Denn auf diese Wirkung und nicht auf die Handlung selbst kommt es im Ergebnis an. Ob Popper bei seinem Verbesserungsvorschlag die positive Fassung der Goldenen Regel, die vom „Tun“ handelt, im Auge hat, wenn er den Terminus „behandeln“ verwendet, bleibt offen. Er könnte mit diesem Ausdruck auch eine Behandlung mit für das Objekt nützlicheren, vom Objekt gewünschten Folgen, also auch den Verzicht auf schädigendes Handeln gemeint haben. Unabhängig von diesen Überlegungen stellt Poppers Vorschlag jedenfalls eine bedeutende Verbesserung dar, wenn der Betroffene selbst entscheiden kann. Im Verhältnis der beiden Versionen der Goldenen Regel zueinander kommt der negativen Fassung die erheblich größere Bedeutung zu. Da Schädigungshandlungen erfahrungsgemäß weit gefährlicher sind und mehr Schaden anrichten als die Unterlassung von Hilfeleistung, besteht die oben dargestellte Asymmetrie der Priorität des moralischen Verbotes aktiver
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Schädigung vor dem Verbot der Verweigerung von Hilfe (oder in positiver Formulierung vor dem Gebot, Hilfe zu leisten). Diese Asymmetrie ist derart groß, dass die positive Fassung der Goldenen Regel ohne ihren negativen Widerpart kein vollständiges Moralkonzept ergibt. Umgekehrt könnte mit der negativen Version allein der weitaus größte Teil des aus menschlichem Verhalten, aus den Schädigungshandlungen, stammenden Unheils verhindert werden. Mangels entsprechender verhaltenstheoretischer Vorarbeit wurde dieser Unterscheidung zwischen den beiden Verhaltensarten und den sich daraus ergebenden Konsequenzen bisher wenig Rechnung getragen und die fundamentale moralische Asymmetrie dadurch verfehlt. Man fragt sich oft, wieso eine derart verbreitete und weithin anerkannte, einprägsame und nur aus zwei Sätzen bestehende Universalformel so wenig Wirkung entfaltet hat, dass es in den zweieinhalb Jahrtausenden ihrer nachgewiesenen Existenz zu keiner signifikanten Änderung der Verhaltensweise der Menschheit gekommen ist. Eine mögliche Erklärung mag darin gelegen sein, dass ihr Gegenseitigkeitsschema gerade bei den Menschen, bei denen es zur Anwendung kommen sollte, nicht greift. Gerade brutale, rücksichtslose Egoisten, die ihre Ansprüche in Verletzung der Interessen der anderen durchzusetzen pflegen, entwickeln wenig Phantasie und Sensibilität, sich in die Lage des Bedrohten, des Schaden Erleidenden hineinzuversetzen, und selbst wenn sie dies tun, werden sie ihre eigenen robusten Maßstäbe anlegen. Der Schwerpunkt einer Klärung der Ursache für die geringe Wirksamkeit der Goldenen Regel dürfte aber in der Form ihres moralischen Appells liegen. Ihr Imperativ ist kein kategorischer, der strikt objektiv bestimmbares Verhalten verbietet oder gebietet, sondern ein hypothetischer, der ein Gedankenexperiment anordnet, dessen Entscheidung von der Beurteilung durch den Normadressaten selbst abhängt, der von Anfang an seinen eigenen Absichten möglichst wenig widersprechen wird. Das Verhaltenssubjekt hat es damit in der Hand, Kriterien für die Zulässigkeit oder Verwerflichkeit seines Verhaltens selbst festzulegen und sich damit zu entschuldigen, dass er selbst anstelle des Objekts keinen Einwand erhoben hätte. Folgt man diesem Erklärungsversuch, dann scheitert die Wirksamkeit der Goldenen Regel an der Methode, subjektive Ansichten des Verhaltenssubjekts als Zustimmung oder Ablehnung des betroffenen Objekts zu fingieren und zum Kriterium der moralischen Anordnung zu erheben, von der dann der Impuls zum Vollzug des Verhaltens abhängt. Soll ein solcher Fehler vermieden werden, muss der moralische Imperativ ein kategorischer, wie in den Verboten 5–10 des Dekalogs sein. Eine Generalisierung in einem für alle Tatbestände einheitlichen Verbot muss die verschiedenen Hergangsformen nach einer Gemeinsamkeit zusammenfassen –
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nach ihrem Resultat, dem Schaden, den das betroffene Objekt erleiden kann. Beim Schaden oder seiner Vorstufe der Schädlichkeit des Verhaltens, handelt es sich um ein objektiv bestimmbares, von der Qualifizierung durch das Verhaltenssubjekt unabhängiges Merkmal. Falls sich nach objektiven Kriterien Zweifel ergeben sollten, ist analog zu Poppers Verbesserungsvorschlag, die Meinung und bindende Entscheidung des Objekts über die Schädlichkeit einzuholen und erst im Fall ihrer Unmöglichkeit in letzter Hinsicht hilfsweise die Gegenseitigkeitskonstruktion der Goldenen Regel, jedoch nur über die Feststellung der Schädlichkeit maßgebend, während über die Zulässigkeit des Verhaltens der kategorische Imperativ der Moralregel entscheidet. Die imperative Kraft der Humanmoral wird dadurch verstärkt, dass an die Seite des primären Verbots des schädigenden Handelns nicht nur ein affirmativ schwächeres Gebot zur Hilfeleistung sondern sogar ein weiteres Verbot tritt, das Verbot der Unterlassung von dringend benötigter Hilfe an ein in Notlage befindliches Objekt, das sonst schweren Schaden erleidet. Die negative Formulierung des Verbots der Unterlassung von Hilfe im Verein mit der gleichzeitigen Einengung des Anwendungsbereiches auf Notsituationen stärken die Überzeugungskraft dieser Regel der Humanmoral in entscheidender Weise und können so die allgemeine Wirksamkeit des Moralkodex erheblich fördern.
5.3.5. Moral in der Gemeinschaft 5.3.5.1. Moral, Recht und Gerechtigkeit Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Regeln der Humanmoral unabhängig davon gelten, ob eine Begegnung zwischen einzelnen Menschen stattfindet oder ob auf Seite des Verhaltenssubjekts und/oder des Objekts eine Mehrzahl von Menschen, in welchen Organisationsformen und sie repräsentierenden Institutionen auch immer, an der Beziehung beteiligt sind. Auch innerhalb der Gemeinschaften ändert sich nichts an den Prinzipien und Regeln der Moral der zwischenmenschlichen Begegnung, zumal auch die Systeme der menschlichen Gemeinschaften primär dem selben Zweck wie die Moral dienen, dem Schutz des Menschen vor den schädlichen Folgen des Verhaltens anderer Menschen. Freilich reichen die Aufgaben der menschlichen Gemeinschaft über den Bereich der Moral hinaus. Es sind Aufgaben der Organisation, die Regelung technischer Abläufe und der Förderung eines reibungslosen Zusammenwirkens zu bewältigen. Zur Handhabung aller dieser Ordnungsfunktionen werden Systeme und Institutionen geschaffen, die dem allgemeinen Wohl und damit den Interes-
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sen der Mitglieder der Gemeinschaft zu dienen haben. Rechtsordnungen gewähren dem Individuum Schutz vor einem Verhalten anderer, das schädliche Folgen nach sich ziehen kann, schützen sein Leben, seine Freiheit, seine Besitztümer und Ehre, bewahren es aber auch vor Übergriffen der Organe der Gemeinschaft selbst, falls diese der Versuchung unterliegen sollten, entgegen Kants Kategorischem Imperativ, die zu schützenden Mitglieder nicht als Zweck zu behandeln, sondern als Mittel zu eigenen Zwecken zu missbrauchen. Denn alle Systeme und Institutionen der Gemeinschaft sind auf den Schutz des Individuums auch ihnen gegenüber abzustellen. Nur das Individuum ist es, das Freud und Leid an sich erfährt, das Leistungen an andere Menschen erbringt und von diesen Hilfe empfängt. Die Gemeinschaft ist die Summe dieser Individuen und kein Obersystem, das Individuum wird nicht zum unselbständigen Bestandteil eines größeren Ganzen, wird nicht zum unbedeutenden Rädchen im alleine maßgeblichen Räderwerk Kollektiv. Wie die Erfahrung zeigt, dient der Kollektivismus immer nur der Unterdrückung der Freiheit des Einzelnen zugunsten der Anführer des Kollektivs, der Befriedigung der grenzenlosen Machtansprüche und der Raffgier der herrschenden Clique. Niemals kann aber die Unterjochung der Gemeinschaftsmitglieder der Gemeinschaft nützen, da diese keine erlebnisfähige Persönlichkeit darstellt und nur fiktiv als Quasi-Person existiert. Alle kollektivistischen Gewaltsysteme, gleichgültig welcher politischen Ideologie sie sich zur Usurpation des Machtmonopols bedienen, weisen eine Gemeinsamkeit auf. Ihre Rechtsordnung verletzt die den Schutz des Individuums garantierende Moral und baut auf unmoralischen Gedankengängen auf. Statt sämtlichen Normunterworfenen den ihnen aus dem Moralkodex erwachsenen Schutzanspruch vor Schädigungshandlungen und Hilfeverweigerung durch Gemeinschaftsinstitutionen sicher zu stellen, werden diese Menschen oder Gruppen von ihnen ihrer Freiheit beraubt, die auf die Institutionen als Instrument der Machtausübung übertragen wird. Statt Moral in Rechtsform zu fassen, wird durch das Recht Moral verletzt. Es entsteht ein unmoralisches System, das die Bezeichnung „Recht“ nicht verdient – es sei denn, man bedient sich eines positivistischen Rechtsbegriffes, der als Recht unabhängig von seinem Inhalt alles ansieht, was von einem Gesetzgeber erlassen und verkündet wurde. Der dem philosophischen Neopositivismus des Wiener Kreises nahe stehende Rechtspositivismus leugnete einen notwendigen Zusammenhang von Moral und Recht, verneinte ein absolut gültiges Naturrecht (und daher auch das Case-Law des anglo-amerikanischen Rechtskreises) und anerkannte nur das positive von Menschen gesatzte Recht als menschliche Befehle in Gesetzesform ohne Bezug auf natürliche Vorgaben und unter Relativierung des wertneutralen Inhalts auf die gegebene Wirklichkeit. Er leistete damit jedem
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kollektivistischen Gewaltsystem mit seiner Unrechtsgesetzgebung Vorschub – ohne dass freilich der Terrorismus des Nationalsozialismus oder des Kommunismus solche Hilfe nötig gehabt hätte. Die Verbrechen dieser totalitären Systeme wurden teils willkürlich teils in Vollzug von Unrechtsgesetzen oder von Verordnungen der Verwaltung begangen. Repräsentanten des Positivismus wurden dann als vom Nationalsozialismus „rassisch“ Verfolgte selbst Opfer ihrer Lehre, da ihnen typische Unrechtsgesetze, wie die Durchführungsverordnungen zum deutschen Reichsbürgergesetz, die Staatsbürgerschaft aberkannten und sie zum rechtlosen Freiwild für alle Verfolgungsmaßnahmen erklärten. Der fundamentale Fehler des Rechtspositivismus liegt in der Gleichsetzung von Recht mit Gesetz, in der Beliebigkeit des gesetzlichen Inhalts und seiner Entkoppelung vom Hauptzweck des Rechts, der Erlangung und Wahrung von Gerechtigkeit. Der Rechtspositivismus verkennt die Wurzeln des Rechts, die bereits in der sittlichen Ausübung des Verhaltens in den Kleingruppen der Frühzeit der Evolution der Menschheit bestanden und zur Regelung der Pflichten und Rechte praktiziert wurden, woraus Gerechtigkeitselemente in Gewohnheitsrecht (Common-Law) übergingen – lange bevor es überhaupt zur Erlassung von Gesetzen kam. Er übergeht die weiten Anwendungsgebiete des anglo-amerikanischen Case-Law, das sich nach richterlichen Entscheidungen orientiert und neuerdings auch durch rechtsfortbildende Urteile des Europäischen Gerichtshofes in das Recht der Europäischen Gemeinschaft hineinwirkt. Wie schon dargestellt, gibt es im Rechtsstaat auch weite Bereiche von Ordnungsvorschriften, in denen Moral nicht involviert ist (wie etwa eine Rechtsfahrordnung im Straßenverkehr und viele andere). Aber es kann im Rechtsstaat das Recht nicht der Moral widersprechen. Das gilt für alle gesatzten Normen ohne Ausnahme. Wenn dem Gesetzgeber Fehler unterlaufen, müssen im Rechtsstaat Institutionen existieren, die diesen legislativen Rechtsirrtum beseitigen können. Davon abgesehen können nicht alle oft weitergehenden Ansprüche, die Menschen auf Befolgung der Moralregeln durch andere zustehen, durch die Rechtsordnung gesichert werden. Die generelle Anordnung der Humanmoral verbietet Verhalten, das schädliche Folgen für andere nach sich ziehen kann, sei es, dass das Verhaltenssubjekt das betroffene Objekt direkt durch sein Handeln schädigt, sei es, dass es in einer Notsituation des Objekts diesem seine Hilfeleistung verweigert und damit den Schaden nicht vom Objekt abwendet. Die Einhaltung des an das Verhaltenssubjekt gerichteten moralischen Appells erfolgt freiwillig. Ein rechtlicher Zwang, der das moralische Sollen zum Müssen verwandelt, kann nur für besonders schwere und signifikante Sachverhalte angeordnet werden, da im Interesse der Rechtssicherheit eine genaue Tatbestandsdarstellung im Gesetzestext erforderlich ist (nullum crimen sine lege). Viele
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Untaten, die unter das Verbot der Moralregeln fallen, werden daher gesetzlich unberücksichtigt bleiben müssen. Sie sind dann zwar moralisch verboten, rechtlich aber nicht von Strafe bedroht. Umgekehrt reicht das Recht in seinen bloß technischen Ordnungsregeln und Verfahrensvorschriften über den Bereich der Moral hinaus. Beide Regelbereiche sind daher nicht deckungsgleich, überschneiden einander aber weitgehend. Was aber keineswegs angeht, ist, die Behandlung von Problemen, die von der Moral in einer bestimmten Weise geregelt sind, im Rechtsbereich einer anderen als der moralischen Lösung zuzuführen. Das gilt in gleicher Weise sowohl für die Gesetzgebung als auch für den Rechtsvollzug. Was unmoralisch ist, bleibt es auch dann, wenn es ein Unrechtsgesetz anordnet oder wenn es durch einen Akt der Rechtssprechung, sei es in Vollziehung des Unrechtsgesetzes, sei es in rechtswidrigem Vollzug eines nicht rechtswidrigen Gesetzes durchgesetzt wird. Recht wird dort, wo moralische Fragen berührt werden, als solches dadurch qualifiziert, dass seine Lösung von Problemen der der Moral entspricht. Recht ist dadurch kritisierbar und kann stets auf seine Übereinstimmung mit moralischen Regeln überprüft werden. Dieser Standpunkt unterscheidet sich wesentlich von der Rechtsauffassung des Rechtspositivismus, der sich mit der Überprüfung des Zustandekommens von Gesetzen begnügt. Der Rechtspositivismus verbietet, ethische Prinzipien als Grundlage des Rechts heranzuziehen und lehnt jeden Rückgriff auf Naturrecht als metaphysisch und sinnlos ab. Entgegen dieser Meinung soll Recht ebenso wie die Moral die Auswahl des Vollzugs eines bestimmten zukünftigen Verhaltens aus Varianten von Möglichkeiten beeinflussen, wobei die Frage, welche der Möglichkeiten zu schädlichen Folgen beim betroffenen Objekt führen kann, eine Tatsachenfrage darstellt, die sich im Kausalverlauf des Verhaltens als Ursache und den Folgen als Wirkung ergibt. Da dieser Wirkungsverlauf nur ein Teilproblem innerhalb der finalen Determination durch die Zwecksetzung bildet, die das Verhaltenssubjekt bei der Auswahl aus dem ihm zur Verfügung stehenden Verhaltensmöglichkeiten vornimmt, kommt es vor allem auch auf das in der Zukunft liegende Ziel und seine Unschädlichkeit für das betroffene Objekt an. Es geht bei dem Verbot des anderen schädlichen Verhaltens – und nur dieses ist Gegenstand der Ethik und Moral der praktischen Philosophie – nicht um eine Begründung oder Rechtfertigung dieses Verbotes, sondern umgekehrt darum, womit ein Verhaltenssubjekt einem anderen Menschen möglicherweise schädliches zukünftiges Verhalten rechtfertigen könnte – ein aussichtsloses Beginnen. So wie die Existenz jedes Menschen von der Einhaltung der vorgegebenen Werte seiner Lebensfunktion innerhalb gerin-
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ger Toleranzgrenzen abhängt, ist auch der Bestand und die Entwicklung der Art Homo sapiens von der Einhaltung vorgegebener Rahmenbedingungen des Lebens in Gemeinschaften abhängig, wie Leistung aller Aufgaben zur Aufzucht der Nachkommenschaft, Verzicht auf Ausrottung der Artgenossen, Ersatz des Raubes von Gütern durch Waren- und Leistungsaustausch, Verhinderung uneinsichtiger Außenseiter, sich artgefährdend zu verhalten, etc. Ethik und Moral erweisen sich so als Instrumente der Arterhaltung und Artentwicklung und haben nichts mit Metaphysik zu tun. Der Bestand solcher natürlicher Rahmenbedingungen für die Existenz der Art reicht weit in die Vergangenheit der Menschheitsgeschichte zurück, ist mit der Entwicklung der Art in jedem Stadium konstitutiv und untrennbar verbunden und wächst in seiner Bedeutung ständig an. Die medialen, neu entstandenen Schlagworte Bevölkerungsexplosion, Globalisierung des Welthandels, Verkehrsinfarkt, Ausplünderung des Planeten, Treibhauseffekt und Verwüstung der Lebensgrundlagen sind Kennzeichen einer Entwicklung, die heute mehr denn je nach Einhaltung der natürlichen Existenzbedingungen drängt. Einer Leugnung solcher Vorgaben als Voraussetzung für das Überleben der Menschheit ist ein Gedankenexperiment entgegenzuhalten. Allein die Eliminierung des fünften Gebotes des Dekalogs „Du sollst nicht töten!“ und umso mehr die Umkehrung in sein Gegenteil hätte längst den Artentod der Menschheit bedeutet, ja sie überhaupt nicht in ihrer Entwicklung als anderen Arten Überlegene entstehen lassen. Auch Karl Popper anerkennt in seinem lange vor den Erkenntnissen der vergleichenden Verhaltensforschung fertig gestellten Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (Band I, Kapitel 5, Abschnitt V Natur und Konvention, S. 87), dass es „gewisse natürliche Ziele und Zwecke“ gibt, aus denen wir „natürliche Normen deduzieren können“, verweist aber darauf, dass unsere natürlichen Ziele „nicht notwendigerweise auf Gesundheit, Freude, Nahrung, Unterkunft oder Fortpflanzung beschränkt sind“, sondern zumindest einige Menschen nach höheren, nach geistigen Zielen streben, weshalb wir auch diese Ziele aus der eigenen, wahren Natur des Menschen herleiten können, die geistig und sozial ist. Die „natürlichen Normen des Lebens“ lassen sich aus seinen „natürlichen Zielen deduzieren“. Genau darum handelt es sich bei dem bereits vorgestellten Lebensziel jedes Lebewesens, der Selbst- und Arterhaltung, als notwendiger Basis aller darüber hinausgehenden Zwecksetzung und Verhaltensregelung. Gegenüber den sechs Verboten des Dekalogs (Nr. 5–10), die sich nur auf die dort beschriebenen, dem damaligen Entwicklungsstand einer Hirtengesellschaft entsprechenden Tatbestände beschränken und keine Bestimmungen über Hilfeleistung an andere enthalten, stellen die oben dargestellten Moralvorschriften, das Verbot jeder Schädigungshandlung in 5.3.3.1. und
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das Verbot der Verweigerung dringender benötigter Hilfe in Notsituationen in 5.3.3.2. eine beträchtliche Erweiterung der erfassten Problemfälle dar. In ihrem Inhalt kann ihnen die Goldene Regel in der negativen und in der positiven Fassung gleichkommen, vorausgesetzt, dass sich die Ansichten des Verhaltenssubjekt und des betroffenen Objekts über die Wirkung und Duldung des Verhaltens decken. Da die Regeln 5.3.3.1. und 5.3.3.2. bzw. ihr oberstes Prinzip in 5.3.1. der Goldenen Regel voraushaben, dass sie auf das objektive, allseits erkennbare und beschreibbare Merkmal des Schadens abstellen, kann dieses sohin als objektive Richtschnur für die ethische Qualifizierung eines Verhaltens gelten. Mit dem Problem der Gerechtigkeit verhält es sich ähnlich wie mit der Ethik. Wer zu viele Erwartungen in den Begriff hineinreklamiert, wer sie für zu viele Bedeutungen und Aufgaben heranziehen will, wird bald in Widersprüche geraten und versucht sein, diesen durch pauschalen Skeptizismus und Nihilismus zu entkommen und die Existenz von Gerechtigkeit rundweg „prinzipiell“ in Abrede zu stellen. Ein anderer Weg besteht darin, verschiedene Gerechtigkeitsbegriffe zu bilden, die für jeweils fragliche Situationen herangezogen werden können, wobei letzten Endes nur Zweifel übrig bleiben, welche der divergierenden Bedeutung Anwendung zu finden hat. Oder es werden politische Ideologien als Gerechtigkeiten dargestellt, um ihnen mehr Gewicht zu verleihen. Unter dem Begriff der Verteilungsgerechtigkeit verbergen sich meist politische Programme zur Aufteilung von Vorteilen und Nachteilen nach Gesichtspunkten der Gleichheit, Leistungsfähigkeit oder Bedürftigkeit, wobei in der politischen Praxis vor allem die Zuteilung von Vorteilen betont wird, die Belastung mit korrespondierenden Nachteilen aber unerwähnt bleibt. Ausgleichende Gerechtigkeit bezieht sich entweder auf unterschiedliche soziale oder Vermögenssituationen, auf Ausgleich verursachter Schäden, Hilfe in Notlagen, etc. Auch Billigkeitserwägungen in unklaren Fällen, zur Füllung von Lücken im Rechtssystem oder als Schiedssprüche zur Verfahrensvereinfachung können als Gerechtigkeitsanwendung gesehen werden. Stellt man aber Gerechtigkeit auf das menschliche Verhalten ab, bildet Moral sowohl in der zwischenmenschlichen Begegnung als auch in der Gemeinschaft den Maßstab, dessen Sicherung durch Institutionen und das Regelwerk des Rechts und dessen gleicher Anwendung gegenüber jedermann in der gleichen Situation sichergestellt wird. Gerechtigkeit erfordert daher sowohl die Moralität der Rechtsordnung als auch die Gleichheit ihrer Anwendung ohne Unterschied der Person. Die Moral enthält die Verhaltensregel, die Gemeinschaftsinstitutionen vollziehen das die Moral rezipierende Recht in gleicher Weise und erfüllen damit den angestrebten Zweck Gerechtigkeit. In ähnlicher Weise sieht auch Karl Popper den von ihm nicht sonderlich geschätzten Begriff Gerechtigkeit (a. a. O. S. 107) als „gleiche Verteilung der Lasten, der im sozialen Leben notwendi-
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gen Einschränkung der Freiheit (nach Kant KRV) aber auch der Vorteile, die gleiche Behandlung vor dem Gesetz und durch seinen Inhalt, und die Unparteilichkeit der Gerichte“. Wer sich nicht auf den alle Problemfälle abdeckenden Inhalt der Moral, Verbot jeder Schädigungshandlung und Verbot der Verweigerung von Hilfeleistung in Notfällen, begnügen und Gerechtigkeit in darüber hinausgehenden Situationen fordern will, dabei aber bei Aufzählung der zu erfüllenden Wünsche in Schwierigkeiten gerät, kann zur negativen Formulierung greifen und anstelle von mehr Gerechtigkeit weniger Ungerechtigkeit fordern, die sich anhand von konkreten Beispielen beschreiben lässt. In Erweiterung dieses Gedankens kann vom Begriff einer „komparativen Gerechtigkeit“ gesprochen werden, die sich aus dem Vergleich zweier oder mehrerer Alternativsituationen ergibt und zum Ergebnis „gerechter oder ungerechter“ gelangt. Ein Beispiel hiefür ist der Vergleich von Strafausmaßen, die von verschiedenen Gerichten wegen gleichartiger Delikte bei gleichen Schuldausmaßen in verschiedener Höhe verhängt werden und immer wieder zur Kritik herausfordern. Die Forderung solcher Kritik ist der Ruf nach mehr Gerechtigkeit, die sich als Erfolg ständiger Diskussion dann tatsächlich einstellen kann. Gerechtigkeit gibt es also nicht nur, sie ist ein wesentliches Element des auf Moral gegründeten Rechtsstaates. 5.3.5.2. Poppers Konzept Im 1945 erschienenen Hauptwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ stellte Karl Popper sein sozialphilosophisches Konzept vor: Die Anerkennung der Tatsache, dass die sittliche Dringlichkeit ihre Grundlage in der Dringlichkeit von Leiden oder Schmerz hat. Aus diesem Grund würde ich vorschlagen, die utilitaristische Formel ‚Vermehre die Glückseligkeit, sosehr du nur kannst‘ (‚maximize happiness‘) durch die Formel ‚Vermindere das Leiden, sosehr du nur kannst‘ (‚minimize suffering‘) zu ersetzen. Ich halte es für möglich, daß eine so einfache Formel zu einem der Grundprinzipien (zugestandenermaßen nicht dem einzigen) der öffentlichen Politik gemacht werden kann. (Das Prinzip ‚Vermehre die Glückseligkeit, sosehr du nur kannst‘ scheint im Gegensatz dazu die Tendenz zu haben, zu einer sehr gefährlichen Art von wohlwollender Diktatur zu führen.) Wir sollten einsehen, daß Leiden und Glück vom moralischen Standpunkt aus nicht als symmetrisch behandelt werden dürfen; d.h., die Forderung nach Glück ist auf jeden Fall viel weniger dringlich als die Hilfe für die Leidenden und der Versuch, das Leiden zu verhindern. (Die letzte Aufgabe hat wenig mit ‚Geschmacksfragen‘ zu tun, die erste viel.) (Band I Anm. 6 (2) zu Kapitel 5 S. 317)
und:
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Ich glaube, daß vom ethischen Standpunkt aus betrachtet keine Symmetrie zwischen Freuden und Leiden oder zwischen Lust und Schmerz besteht. Sowohl das Prinzip der maximalen Glückseligkeit, das die Utilitarier verwenden, als auch Kants Prinzip ‚fördere das Glück der anderen . . .‘ scheint mir – zumindest in diesen Formulierungen –, was diesen Punkt betrifft, grundfalsch zu sein; ein Umstand, der jedoch kaum rational diskutiert zu werden braucht. . . . Meiner Ansicht nach (. . .) enthält das menschliche Leiden einen direkten moralischen Appell, nämlich den Appell zu helfen, während keine ähnliche Notwendigkeit besteht, das Glück oder die Freuden eines Menschen zu vermehren, dem es ohnehin gut geht. (Eine weitere Kritik der utilitaristischen Formel ‚Schaffe größtmögliche Glückseligkeit‘ geht davon aus, daß die Formel im Prinzip eine Art von kontinuierlicher Glückseligkeitsskala annimmt, die es uns gestattet, den Schmerz als negative Glückseligkeit aufzufassen, die durch positive Glückseligkeit aufgewogen werden kann. Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, lässt sich aber Schmerz nicht durch Freude aufwiegen, insbesondere nicht der Schmerz des einen Menschen durch die Freude eines anderen. Statt der größten Glückseligkeit für die größte Zahl sollte man – etwas bescheidener – das kleinste Maß an vermeidbarem Leid für alle fordern; und man sollte weiterhin verlangen, daß unvermeidbares Leid – wie Hunger in Zeiten eines unvermeidlichen Mangels an Nahrungsmitteln – möglichst gleichmäßig verteilt werde.) Ich finde, daß eine gewisse Analogie besteht zwischen dieser Betrachtungsweise der Ethik und der Auffassung von der wissenschaftlichen Methodologie, die ich in meiner Logik der Forschung befürwortet habe. Es trägt zur Klarheit auf dem Gebiet der Ethik wesentlich bei, wenn wir unsere Forderung negativ formulieren, d.h., wenn wir die Beseitigung des Leides, nicht aber die Förderung des Glücks verlangen. In ähnlicher Weise ist es von Vorteil, die Aufgabe der wissenschaftlichen Methode so zu formulieren, daß ihr Ziel die Elimination der falschen Theorien ist (von den verschiedenen, versuchsweise angebotenen Theorien), nicht aber die Aufstellung voll begründeter Wahrheiten. (Band I Anm. 2 zu Kapitel 9, S. 391, 392)
Poppers Vorschlag, die einfache Formel der Leidensminimierung zu einem der Grundprinzipien der öffentlichen Politik zu machen, wurde von R.N. Smart als „negativer Utilitarismus“ mit dem absurden Argument bekämpft, dass ein wohlwollender Weltzerstörer die Menschen mit einem Schlage ausrotten müsste, um im Sinne Poppers alles Leid zu beenden (Mind, 1958 Vol. 67). Die nachfolgende Diskussion befasste sich im Wesentlichen nicht mit Poppers Idee sondern mit Smarts Argumentation: J.J.C. Smart (An Outline of a System of Utilitarian Ethics, Melbourne 1961), H.B. Acton (Aristotelian Society, 1963 Suppl. Vol. 37, 83–94), J.W.N. Watkins (ibid, 95–114), A.D.M. Walker (Mind, 1974 Vol. 83, 424–428) und der Frage nach moralischen Asymmetrien. Die historisch bewiesene Berechtigung von Poppers Warnung vor gefährlichen Arten von wohlwollender Diktatur blieb ebenso unberücksichtigt, wie die Tatsache, dass die Realität der Politik aller Demokratien ohnehin immer Poppers bescheidener Maxime der Leidensminimierung folgt und öffentliche Mittel für staatliche Glücksmaximierung nirgends zur Verfügung stehen. Statt sich mit der Praxis des All-
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tagslebens zu befassen, versuchten die Kritiker mit weltfremden Vergleichen Poppers realistische Ansichten zu widerlegen, ohne damit die Utopismen öffentlicher Glücksverschaffung, noch dazu im hedonistischen Kalkül auf Kosten und zu Lasten anderer, rechtfertigen zu können. Die Berechtigung von Poppers Ansicht, die negative Formulierung moralischer Forderung könne zur Klarheit auf dem Gebiet der Ethik beitragen, blieb im Wesentlichen unbestritten. Im Jahr 1961 sah sich Popper veranlasst, sein Addendum 1 Facts, Standards and Truth (deutsch 1992, Tatsachen, Maßstäbe und Wahrheit) zu veröffentlichen, in dem er den bereits im Hauptwerk skizzierten Dualismus von Tatsachen und Maßstäben präzisierte und ausführte: Es besteht also eine entscheidende Asymmetrie zwischen Maßstäben und Tatsachen: Mit der Entscheidung, einen Vorschlag (zumindest probeweise) zu akzeptieren, schaffen wir den dazugehörigen Maßstab (zumindest probeweise); durch die Entscheidung, eine Aussage zu akzeptieren, schaffen wir hingegen nicht die dazugehörige Tatsache. Eine andere Asymmetrie liegt darin, dass Maßstäbe immer Tatsachen betreffen und dass Tatsachen von Maßstäben bewertet werden; das sind Beziehungen, die nicht einfach umgekehrt werden können. Jedesmal, wenn wir mit einer Tatsache konfrontiert sind – und besonders mit einer Tatsache, die wir ändern können –, können wir fragen, ob sie mit gewissen Maßstäben vereinbar ist oder nicht. (Band II Anhänge I, 13, S. 348) Trotzdem können wir die Idee der absoluten Wahrheit – die Übereinstimmung mit den Tatsachen – als eine Art Modell für den Bereich der Maßstäbe benutzen. Dadurch können wir uns klarmachen, wie wir im Bereich der Tatsachen nach absolut wahren Aussagen suchen können oder zumindest nach Aussagen, die der Wahrheit näher kommen, können wir ebenso auch auf dem Gebiet der Maßstäbe nach absolut richtigen oder gültigen Vorschlägen suchen – oder zumindest doch nach besseren oder gültigeren Vorschlägen. Das ist wichtig. Ich würde es aber für falsch halten, dieses Modell über die Suche hinaus auch auf das Finden anzuwenden. Denn obwohl wir nach absolut richtigen oder gültigen Vorschlägen suchen sollten, sollten wir uns nie einreden, daß wir sie endgültig gefunden haben, denn klarerweise kann es kein Kriterium für absolute Richtigkeit geben – sogar noch weniger, als es ein Kriterium für absolute Wahrheit geben kann. . . . Aber obwohl wir kein Kriterium für absolute moralische Richtigkeit haben, können wir auf diesem Gebiet doch Fortschritte machen. Ähnlich wie auf dem Gebiet der Tatsachen können wir Entdeckungen machen. Daß Grausamkeit immer ‚schlecht‘ ist; daß sie, wo immer möglich, vermieden werden muß; daß die Goldene Regel ein guter Maßstab ist, der vielleicht sogar noch verbessert werden kann, indem man andere, wo immer möglich, so behandelt, wie sie behandelt werden wollen; und Sokrates’ Einsicht, daß es besser ist, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun: dieses sind elementare und äußerst wichtige Beispiele für Entdeckungen auf dem Gebiet der Maßstäbe. (Band II Anhänge I, 13, S. 350 und 351)
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Popper bekennt sich damit nicht nur zum Dualismus von Tatsachen und Maßstäben sondern auch dazu, dass Maßstäbe Tatsachen bewerten und diese Beziehung nicht umgekehrt werden kann. Er bekennt sich weiters zur Suche nach absolut richtigen oder gültigen Vorschlägen für Maßstäbe oder zumindest doch nach besseren oder gültigeren. Als Entdeckungen für Fortschritte auf dem Gebiet moralischer Richtigkeit erwähnt er neben dem Verbot von Grausamkeit die Goldene Regel mit der möglichen Verbesserung, andere Menschen möglichst so zu behandeln, wie sie behandelt werden wollen. Damit folgt Popper seiner Ablehnung der von oben her, vom Prinzip des Guten ausgehenden und argumentierenden Ethik: Alle Diskussionen über die Definition des Guten oder über die Möglichkeit, es zu definieren, sind deshalb völlig unnütz. Sie zeigen nur, wie wenig die „wissenschaftliche“ Ethik mit den drängenden Problemen des sittlichen Lebens zu tun hat. Und sie zeigen dadurch, dass die „wissenschaftliche“ Ethik eine Form des Ausweichens ist, eine Flucht vor den Realitäten des sittlichen Lebens, d.h. vor unserer moralischen Verantwortlichkeit. (Band I Anm. 18 zu Kap. 5 S. 322) Nur wenn das Wort „gut“ in einem ethischen Sinn verwendet wird, d.h. nur wenn es so verwendet wird, dass es dasselbe bedeutet wie „das, was ich tun soll“, nur dann kann ich aus der Information „x ist gut“ den Schluss ziehen, dass ich x tun soll. Mit anderen Worten: soll das Wort „gut“ überhaupt einen ethischen Sinn haben, dann muss es als „das, was ich tun soll“ definiert werden. (a. a. O.)
Verbindet man diese Grundgedanken Poppers, ergeben sich folgende Konsequenzen: Die Aufgabe der Ethik besteht nicht im Entwickeln oder Definieren des Begriffs des „Guten“ sondern im Suchen nach richtigen oder gültigen Maßstäben für das Tun des Menschen, also nach moralischen Regeln für ihr künftiges Verhalten. Im Zusammenhang mit dem Hinweis auf die Goldene Regel ist der Begriff „behandeln“ in der vorgeschlagenen Verbesserung offenbar im umgangssprachlichen Sinn als „mit jemandem auf eine bestimmte Art verfahren“ oder „mit ihm umgehen“ zu verstehen und beschränkt sich damit nicht auf das Handeln allein sondern schließt auch das Unterlassen und damit auch die negative Fassung der Goldenen Regel mit ein. Die von Popper geforderte Klarheit auf dem Gebiet der Ethik durch negative Formulierung der Forderung legt diese Vermutung nahe. Sie gilt aber darüber hinaus auch für das Formulieren der moralischen Regeln überhaupt, besonders im Hinblick auf die im Negativen Utilitarismus implizit enthaltene weitere Asymmetrie der Dringlichkeit der Forderung, keinem anderen Leid zuzufügen vor dem Verlangen, bereits bestehende Leiden zu beseitigen oder zu lindern. Die notwendige strenge Unterscheidung von Tatsa-
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chen und Maßstäben, ohne die praktische Systeme des Rechtswesens undenkbar wären, erfordert das Herauslösen des Tatsachenbereiches aus der Ethik und gesonderte Behandlung in einer deskriptiven Verhaltenstheorie. Zu den Tatsachen gehören das Verhalten der Menschen, ihr Handeln und Unterlassen, und seine Auswirkungen auf das Verhaltenssubjekt selbst sowie auf davon betroffene Objekte. Da das Verhaltenssubjekt sein Verhalten selbst bestimmt, wird für das nur eigenwirkende Individualverhalten ebenso wenig eine Regelung benötigt, wie für das dem Objekt nützliche Sozialverhalten. Nur das dem Objekt schädliche Problemverhalten wird im Einklang mit Poppers Problemlösungstheorie Gegenstand von Ethik und Moral. Alle diese Teilbereiche bilden, neben der für das selbstbestimmte Verhalten als Voraussetzung vorangestellten Freiheitstheorie, das Gesamtkonzept der praktischen Philosophie. Die Freiheit des Individuums zu selbstbestimmtem Verhalten, aber auch zur Übernahme der ethischen Prinzipien und Einhaltung der Moralregeln und damit zum Verzicht auf ihm zur Verfügung stehende Verhaltensmöglichkeiten, bildet das Fundament einer entwickelten offenen Gesellschaft, wie sie Popper aus dem Gegensatz zur primitiven Form der geschlossenen Gesellschaft entwickelt hat. Verschiedene Kritiken, wonach Poppers philosophische Argumentation nicht voll der geschichtlichen Entwicklung adäquat sei und soziologischen Betrachtungsweisen nicht entsprechend Rechnung trage, gingen an der politischen Realität vorbei. Unter den totalitären Gewaltregimen des späten Faschismus (Salazar – Portugal, Franco – Spanien) ebenso wie denjenigen des Kommunismus (China, UdSSR und den osteuropäischen Satellitenstaaten) konnte das verbotene Werk nur heimlich eingeschmuggelt oder mühsam in Samisdatausgaben handgetippt verbreitet werden und fand so sein Publikum. Die Menschen haben Poppers Gedanken zur offenen Gesellschaft, einer Gesellschaft der Freiheit, der Toleranz und der demokratischen Ordnung wohl verstanden und diese Gedanken haben sie auf ihrem Fortschreiten zur Demokratie begleitet und ihnen Halt gegeben. Am Ende seines Buches hat Popper dies auf den Weg mitgegeben: Denn ‚Fortschritt‘ heißt, sich auf ein bestimmtes Ziel hinzubewegen, auf ein Ziel, das für uns als menschliche Wesen besteht. ‚Die Geschichte‘ kann dies nicht tun; nur wir, die menschlichen Individuen, können es tun. Wir können es tun, indem wir jene demokratischen Institutionen verteidigen und stärken, von denen die Freiheit und mit ihr der Fortschritt abhängt. Und wir werden es viel besser tun, sobald wir einmal die Tatsache besser erkannt haben, daß der Fortschritt bei uns liegt, daß er abhängt von unserer Wachsamkeit, von unseren Anstrengungen, von der Klarheit mit der wir unsere Ziele vorstellen, sowie auch vom Realismus unserer Entscheidungen. (Band II Kap. 25 S. 328)
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5.4. Naturmoral 5.4.1. Objekt Tier Wie bereits im Kapitel 4 Ethik dargestellt, gibt es in der Natur eine Stufenfolge, beginnend mit der unbelebten Natur, von den Pflanzen zu den Tieren und innerhalb der Gruppe der Tiere von den Einzellern der ersten Entwicklungsstufen bis zu den höchstentwickelten Primaten, deren genetischer Code nur erstaunlich geringfügige Abweichungen von dem des Menschen aufweist. Daneben besteht eine natürliche Nahrungskette, in der die Menschen als Omnivoren, die selbst kein Regelnahrungsmittel für andere Arten bilden, an der Spitze stehen. Alle Arten von Lebewesen sind auf den Verzehr anderer Lebewesen angewiesen. Wie lassen sich nun von dieser Sachlage ausgehend und dem generellen ethischen Prinzip größtmöglicher Schonung der Natur folgend moralische Verhaltensregeln finden und zum Ausdruck bringen, die in negativer Formulierung eine für die Existenz der Menschen nicht unbedingt notwendige Schädigung der so weitgehend differenzierten Tierwelt vermeiden helfen? Kann es solche allgemeine Regeln überhaupt geben, ohne sich in einer Kasuistik von einzelartlichen Normendickichten zu verlieren? Wie ist das Schonungsprinzip auf Arten anwendbar, deren Existenzgrundlage auf der Schädigung von Menschen und anderen Lebewesen beruht? In der Folge soll eine Grundlegung einer solchen Moral versucht werden, wobei von vornherein feststeht, dass damit nicht sämtliche Aspekte des Themenkreises erfasst werden können und – wie überall in der Praxis des Lebens – Randbereiche von fließenden Übergängen unbehandelt bleiben müssen. Als allgemeinste moralische Regel für das menschliche Verhalten gegenüber Lebewesen, gleichgültig ob Tiere und Pflanzen, ob Einzelwesen oder Arten oder ob als Gesamtheit eines Ökosystems gilt die Aufforderung: Vermeide Verhalten, das zur Zerstörung der Natur in ihrer Ordnung führen kann! In diesem moralischen Appell ist vor allem das Programm des Artenschutzes enthalten. Die Ausrottung von Tierarten stellt die radikalste Weise einer Zerstörung der Natur in ihrer derzeitigen Ordnung dar. Wie jedes Individuum stellt auch jede Tierart eine einmalige, unverwechselbare und nach ihrer Ausrottung nach heutigem Wissenstand nicht wiederherstellbare Entität dar, deren Fehlen eine dauernde Lücke in der Artenvielfalt der Natur hinterlässt. Der zu ihrer Entwicklung notwendige Evolutionsaufwand
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geht für alle Zeiten verloren. Rückzüchtungsversuche erreichen bestenfalls eine asymptotische Annäherung, aber niemals die Restitution des Originals. Die auf den ersten Blick umständlich wirkende Formulierung der Regel soll bereits alle Einzelschritte erfassen, deren Konsequenzen geeignet sind, möglicherweise in Richtung einer Zerstörung der Natur und ihrer Ordnung, beim Artenschutzprogramm zum Erlöschen einer gefährdeten Tierart zu führen. Darin sind nicht nur Handlungen, wie das Töten des letzten Individuums der gefährdeten Art gemeint, sondern auch das Unterlassen von Hilfsmaßnahmen, wie der Rettung verlassener Jungtiere oder das Unterbleiben von Maßnahmen zum Schutz vor Fressfeinden oder Angriffen anderer Tiere. Internationale Organisationen und staatliche Institutionen stellen Kataloge gefährdeter Tierarten zur Verfügung, an denen sich jedermann verlässlich orientieren und sein Verhalten diesen Objekten gegenüber im Sinne der Moralregel einrichten kann. Während es ohne weiteres einsichtig ist, dass Töten von Tieren einer gefährdeten Art einen Vandalenakt gegen die natürliche Ordnung darstellt und unter das moralische Verbot fällt, liegen die Kausalzusammenhänge zwischen Verbauung weiter Gebiete und dem dadurch verursachten Verlust an Lebensraum und letztlich dem Endstadium des Artentodes nicht so klar auf der Hand. Die Unterlassung von Hilfsmaßnahmen zur Minderung der schädlichen Auswirkungen (wie Tierreservaten, Fischtreppen oder Amphibientunnels) lässt der fatalen Entwicklung freien Lauf, statt zumindest temporär entgegen zu steuern. Die konventionelle Einheit von Ethik und Moral hat Schwierigkeiten, sich von der Cartesianisch-Kantischen Denktradition eines ausschließlichen Anthropozentrismus zu lösen und Tiere in eine geforderte „moralische Gemeinschaft“ zu integrieren. Sie versucht dies einerseits durch Zugeständnis einer eingeschränkten Fähigkeit zu ansatzweisem Denken bei höheren Tieren, die auf diese Weise den von Kant geforderten Voraussetzungen näher gebracht werden, und andererseits über die bei höheren Tierarten erkennbare Leidensfähigkeit, die analoge Moralanwendung in beschränktem Umfang zulassen könnte. Im Wesentlichen scheitern diese Versuche allerdings bereits beim Ansatz, Tiere als menschenähnliche „moralische Subjekte“ mit „Rechten“ und „Pflichten“ ausstatten oder ihnen anthropomorphe Wünsche und Ziele auf Glück und Wohlbefinden unterstellen zu wollen. Es fehlt diesen Bestrebungen die verhaltenstheoretische Grundlage, dass es immer nur um eine schädliche Wirkung eines Verhaltens des Verhaltenssubjekts Mensch auf ein davon betroffenes Objekt geht, das ein anderer Mensch, ein Tier oder eine Pflanze sein kann, und dass dieses Verhaltenssubjekt aus seiner Verantwortlichkeit Moralregeln befolgen und auf sein geplantes, dem Objekt unnötige Probleme verursachendes Verhalten verzichten soll. Dafür
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bedarf es keiner der natürlichen Ordnung widersprechenden „Erhöhung“ von Tieren zu den Menschen gleichartigen Wesen, keiner „Subjektivität“ von Tieren oder auch keiner analogen Anwendung menschlicher „Rechtsbegriffe“. Es ist auch unnötig, Tiere in utilitaristische Systeme einzubauen und ihnen Gleichstellung als „Personen“ zu gewähren, zumal das Ziel des klassischen Utilitarismus, des größten Glücks der größten Zahl hier ohnehin unanwendbar ist und überdies Tieren im hedonistischen Kalkül kein Schutz zukommt. Die bereits von Bentham aufgeworfene Frage nach der Leidensfähigkeit von Tieren würde eher in die Richtung eines Negativen Utilitarismus der Leidensverhinderung und -minderung im Sinne Poppers hinweisen. Geht man von den Ergebnissen der die Subjekt-Objekt-Beziehung beschreibenden Verhaltenstheorie des Kapitels 3 aus und anerkennt die in Jahrmillionen der Evolution gewachsene natürliche Ordnung der Lebewesen mit ihrer jeweiligen Entwicklungshöhe und Stufe der Nahrungskette als bereits vor der Entwicklung der letzten Art Homo sapien-sapiens bestehende Tatsache, in die schädigend einzugreifen einer Rechtfertigung jedes einzelnen Aktes bedarf, besteht keine Schwierigkeit, für das Verhalten der Menschen gegenüber Tieren das weitere moralische Verbot auszusprechen: Vermeide Verhalten, das Tieren unnötig Qualen und Schäden zufügt, und unterlass nicht, ihnen in Notsituationen zu helfen! Dieses Verbot umfasst in seiner allgemeinen Formulierung das der Naturordnung entsprechende verantwortliche Verhalten des Verhaltenssubjekts Mensch gegenüber dem vom schädlichen Verhalten betroffenen Objekt Tier. Der Mensch ist seit altersher darauf angewiesen, Tiere zur Erhaltung seiner Existenz zu nutzen, sie und ihre Produkte zu verzehren und ihre Arbeitskraft zu eigenen Zwecken zu gebrauchen. Er muss zu diesen Zwecken töten, schlachten, ausweiden oder zu Hilfsdiensten zwingen und fügt ihnen damit Schäden und Qualen zu. Diese Grundbedürfnisse zu leugnen und jede dieser Nutzungen und Ausbeutung zu verbieten, würde die Naturmoral auf einem naturordnungswidrigen Konzept aufbauen und ihr von vornherein jede Chance auf Durchsetzbarkeit nehmen. Es erweist sich daher als notwendig, das moralische Verbot der Tierquälerei und Zufügung von Schäden auf „unnötige“ Akte zu beschränken. Zuchttiere werden ausschließlich zum Zweck ihrer Nutzung gezüchtet. Angenommen, Tierliebe würde sich überall durchsetzen und sämtliche Menschen würden auf den Verzehr von Fleisch und sonstigen tierischem Eiweiß verzichten, wäre dies das Ende der Tierzucht und kein heute als Fleischlieferant dienendes Tier hätte das Licht der Welt erblickt. Bei artgerechter Haltung der Zuchttiere erscheint ihre vom Menschen bemessene Le-
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bensspanne jedenfalls ein größerer Vorteil als ein durch Vegetarismus verursachtes Nicht-Existent-Werden dieser letztlich zum Nahrungsmittel bestimmten Zuchttiere. Ungeachtet der von Menschen gesetzten Bestimmung, als Nahrungsmittel für Menschen zu dienen, der Zuchttiere ihre Existenz verdanken, besteht ihnen gegenüber die Pflicht zur Einhaltung der moralischen Regel, Qualen und Schäden – bis auf den unausweichlichen Tötungsvorgang – zu vermeiden und die nötige Hilfe nicht zu unterlassen. Auf diesem Gebiet hat sich in letzter Zeit ein beträchtlicher Gesinnungswandel vollzogen. Bisherige Praktiken qualvoller Tierhaltung in Legebatterien, zu engen Käfigen und Bewegung unterdrückenden Engpferchen, Ankettung in Stallboxen, Verfütterung von aus Abfällen hergestellten Tiermehlen an Pflanzenfresser, Lebendtransporte über lange Distanzen ohne ausreichende Pflege, quälende Schlachtmethoden, etc. wurden als moralisch verwerflich erkannt und weitgehend auch als Delikt der Tierquälerei gesetzlich verboten. Neben moralischen Appellen von Tierschutzorganisationen, die Rücksichtnahme den Tieren gegenüber aus deren Eigenanspruch forderten, traten auch durch Kaufboykotte geförderte kommerzielle Nützlichkeitserwägungen bei dem Sinneswandel der Produzenten in Erscheinung. Auch die von der Moralregel verbotene Unterlassung nötiger Hilfsmaßnahmen fand Unterstützung durch wirtschaftliche Nutzenrechnungen, vor allem bei prophylaktischen Schutzmaßnahmen gegen Tierseuchen. Wo dies vernachlässigt wurde, rächte sich dies in erschreckender Weise, ganze Herden mussten getötet und verbrannt werden, Ernährungsgewohnheiten änderten sich aus Angst vor Ansteckung von Menschen und führten zu finanziellen Verlusten. Der durch Massenmedien verbreitete Anblick leidender Tiere und ihrer brennenden Kadaver führte vielen Menschen vor Augen, dass ein lediglich als Fleisch wahrgenommenes Lebensmittel vordem eine Existenz als Lebewesen geführt und in dieser, wie der Mensch, Freud und Leid und ein individuelles Schicksal erfahren hatte. Weitere Anerkennung als Mitgeschöpfe mit eigenem Anspruch auf moralische Behandlung in dem dargestellten, der Humanmoral gegenüber eingeengten Ausmaß, wird sich durch das Heranwachsen einer aufgeklärten und verständnisvollen Kinderund Jugendgeneration ergeben. Bei Wildtieren steht der Artenschutz im Vordergrund. Jagd und Fischerei haben sich nach der natürlichen Ordnung zu richten, die ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Tier- und Pflanzenarten vorsieht, das vom Menschen zu achten ist. Durch übermäßige Jagd oder Überfischen der Gewässer kann es zu Störungen der Regelkreise und zur Ausrottung ganzer Arten in ihren Ökosystemen kommen. Derartige Eingriffe in den vorhandenen Artenbestand stellen eine durch nichts zu rechtfertigende Verletzung der moralischen Regeln dar, die den Eigenanspruch der Tiere auf Existenz
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und Bewahrung ihrer Art wahren sollen. Listen der gefährdeten Tierarten warnen vor solcher Vernichtung der Artenvielfalt und werden durch gesetzliche Schutzbestimmungen und im Fall der Übertretung der Strafandrohungen unterstützt. Naturreservate und Tierparks wirken dem Artentod als notwendige Hilfsmaßnahmen entgegen. Jagd erscheint moralisch nur dort zulässig, wo mangels natürlicher Feinde der Wildbestand überhand nehmen und die Naturordnung der Pflanzen vernichten würde, also nur zur Aufrechterhaltung der Balance zwischen Pflanzenbestand und tierischen Bewohnern des Reviers. Dabei ist aber möglichst schonend vorzugehen und Quälerei des Wildes ebenso zu vermeiden wie die Unterlassung von notwendigen Hegemaßnahmen, wie z. B. Wildfütterung im Winter. Bei der Fischerei in Binnengewässern ist der Naturschutz durch gezüchteten Nachbesatz für mehrere Arten gewährleistet. Bei manchen Arten, wie Stören, wird noch immer gegen das Artenschutz anstrebende moralische Verbot rücksichtslos verstoßen, womit die Raubfischer ihre vom Fischfang abhängige Existenzgrundlage vernichten. Ähnliches gilt für den Hochseefischfang durch hochtechnisierte Fangflotten mit immer engermaschigen Netzen unter Zuhilfenahme von Radar und Echolot und schonungsloser Vernichtung des kommerziell wertlosen, aber für die Arterhaltung notwendigen Beifangs. Auch hier muss die dem Artenschutz dienende Moralregel durch gesetzliche Anordnungen unterstützt und gegebenenfalls erzwungen werden. Ein besonderes Problem bilden Tiere, die ausschließlich gezüchtet werden, um zu Versuchszwecken in Laboratorien zur Erprobung neuer Medikamente und Heilmethoden, aber auch zur Entwicklung von Kosmetika zu dienen. Meistens werden den Versuchstieren Qualen und Schmerzen zugefügt, die eindeutig dem moralischen Verbot der Tierquälerei und Schädigung zuwiderlaufen. Soweit diese Experimente unbedingt nötig sind, um Menschenleben zu retten oder sonst unheilbar Kranken Heilung oder Linderung zu bringen und soweit dabei Quälen der Tiere weitgehend unterbleibt, kann die Verletzung der Moralregel je nach Beurteilung des Einzelfalles allenfalls als gerechtfertigt angesehen werden. In allen anderen Fällen, also dort, wo der Versuch nicht unbedingt erforderlicht ist, wo Quälerei nicht vermieden wird und besonders dort, wo es nicht um medizinische Zwecke, sondern um Schönheitspflege und das damit zusammenhängende Gewinnstreben geht, ist das Verbot der Tierquälerei mit Priorität einzuhalten. Die neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiet der Züchtung menschlicher Organteile berechtigen zu Hoffnungen, dass Tierversuche in Zukunft nicht mehr benötigt werden, um Menschen Heilung zu bringen. In allen angeführten und sonstigen Fällen stehen Menschen als Verhaltenssubjekt Tieren als von ihrem Verhalten Betroffenen als individuellen
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Objekten gegenüber. Dieses Verhalten wird durch das moralische Verbot der Zerstörung der Natur in ihrer Ordnung und das Verbot unnötiger Quälerei und Schadenszufügung sowie der Unterlassung von Hilfe in Notsituationen vollständig und für jede nur denkbare Problemlage ohne Ausnahme geregelt, wobei die Leidensfähigkeit von Tierarten Voraussetzung des Begriffs von Qualen bildet. Diese bei höher entwickelten Arten ohne weiteres beobachtbare Leidensfähigkeit lässt sich aber auch bis hinunter zur Evolutionsstufe von Wirbellosen, wie z. B. Würmern oder auch bei Insekten feststellen und unterstellt damit auch diese Objekte dem Verbot der Quälerei. Nicht vom moralischen Verbot betroffen ist die Abwehr von Angriffen, die von Tieren jeder Art und Entwicklungshöhe, von Einzellern bis zu höchstentwickelten Tieren gegen Menschen unternommen werden. Ebenso wie jeder Mensch einen Angriff eines anderen Menschen mit angemessener Gewalt abwehren kann und sogar moralisch verpflichtet ist, einem angegriffenen anderen Nothilfe bei der Abwehr zu leisten, steht jedem Menschen frei, sich bei Angriffen von Tieren zur Wehr zu setzen und auch anderen Angegriffenen bei der Abwehr beizustehen. Bei dieser Notwehraktion stellt der angegriffene Mensch das betroffene Objekt dar, das sich gegen die Schädigung seiner Person oder anderer Menschen, aber auch gegen die Schädigung seiner Existenzmittel, seiner Nahrungsvorräte oder seiner Behausung durch Tiere zur Wehr setzt. Der Angriff von außen erfolgt aber auch durch Organismen, die ins Körperinnere eingedrungen sind, gleichgültig, ob es sich um Viren, Bakterien oder schmarotzende Parasiten handelt. Entscheidend für die Nichtanwendbarkeit des Schädigungsverbotes gegen solche Angriffe ist die hier umgekehrte Subjekt-Objekt-Relation, in der das angreifende Tier Subjekt und der angegriffene Mensch Objekt ist. Wohl aber fallen unter das Verbot der Tierquälerei alle Arten von Tierhatz, in denen Menschen Tiere dazu züchten und abrichten, gegeneinander zu kämpfen und einander zu töten. Menschen lassen dabei ihrer Grausamkeit mit Hilfe tierischer Aggressionsinstikte freien Lauf, veranstalten Wetten und setzen Tiere als Vollstrecker eigener Aggressivität ein. Das Verbot der Tierquälerei gilt hier uneingeschränkt für den Tatbestand des Quälen-Lassens durch Tiere als Stellvertreter des Menschen. Für Tierquälerei, die Menschen selbst verüben, indem sie Stieren als Banderilleros oder Piccadores schwere Verwundungen zufügen und sie als Matadores am Ende der Qualen unter Beifall der Zuseher töten, ist das Verbot der Quälerei umso dringender anwendbar, als Menschen hier selbst die Akteure der Grausamkeiten sind.
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5.4.2. Objekt Pflanze Pflanzen genießen als Lebewesen, auf deren Existenz alle anderen Lebensformen aufbauen, ebenfalls einen eigenen Schutzanspruch durch die Regeln der Moral. Da sie – nach heutigem Wissen – nicht leidensfähig sein dürften, entfällt für sie das Verbot der Zufügung von Qualen. Die anderen, für Tiere geltenden Moralregeln sind jedoch auch für Pflanzen anwendbar: Vermeide Verhalten, das zur Zerstörung der Natur in ihrer Ordnung führen kann oder Pflanzen unnötig Schäden zufügt, und unterlass nicht, ihnen in Notsituationen zu helfen! Auch hier steht der Artenschutz als wesentlichste Forderung im Vordergrund. Die Zerstörung der Vielfalt der heute noch bestehenden Pflanzenarten bildet den ärgsten Verstoß gegen die auch gegenüber den Individuen Pflanzen geltenden moralischen Vorschriften. Vor allem Bäume mit ihren Jahrzehnte, oft Jahrhunderte dauernden Wuchs- und Reifezeiten sind durch gewinnorientiertes Schlägern oder Brandrodungen des Regenwaldes, aber auch durch Brandstiftung zum Zweck der Bodenspekulation unnötiger Schädigung und Ausrottung ihrer wertvollen Arten ausgesetzt. Hier hat das Naturzerstörungs- und Schädigungsverbot vorrangige Bedeutung vor dem hilfsweisen Verbot der Unterlassung von Wiederaufforstungsmaßnahmen, deren Wirkung zum Schutz der errosionsgefährdeten Humusschicht, als Feuchtigkeitsspeicher und Sauerstoffproduzent erst nach vielen Jahren die Effizienz der gefällten Bäume ersetzen kann. (Bei Waldbränden, die durch Blitzschlag, also ohne Mitwirkung von Menschen verursacht sind, kommt allerdings Hilfsmaßnahmen durch Löschaktionen erste Priorität zu.) Schäden werden der natürlichen Ordnung auch durch die Bewirtschaftung mit Monokulturen anstelle der gewachsenen Mischformationen zugefügt. Dies gilt für die Forstwirtschaft mit ihren schädlingsanfälligen Baumplantagen, die großflächig Schadinsekten zum Opfer fallen, ebenso wie für monokulturelle Großfarmen, die nur mittels massivem Einsatz von Pestiziden vor tierischen und pflanzlichen Schädlingen bewahrt werden können. Im bäuerlich bewirtschafteten Grasland weicht die Blumenvielfalt dem oftmaligen Grasschnitt ebenso wie der ständigen Beweidung. Alte Sorten von Nutzpflanzen werden ausgerottet und durch genmanipulierte Hybridsorten ersetzt, deren patentgeschütztes Saatgut beim Großproduzenten bezogen werden muss. Diese Vorgänge verstoßen eindeutig gegen die moralische Vorschrift des Pflanzenschutzes aus eigenem Anspruch der Lebewesen auf Bewahrung der Artenvielfalt in der Ordnung der Natur. Neben diesen großflächigen Vorgängen mit ihrer weite Pflanzenbestände vernichtenden Auswirkung führen gerade einzelne Aktionen den Menschen
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vor Augen, dass sie gegen die Naturmoral verstoßen, so z. B. wenn geschützte Pflanzen gepflückt oder ausgegraben werden. Jede der gefährdeten Pflanzenarten wird mit jeder Übertretung des Verbots dem Artentod näher gebracht. So sehr dieser Untergang ganzer Pflanzenarten auch die Freude der Menschen an der Natur schädigt, ist es doch primär der eigene Anspruch dieser Lebewesen, dem die Verbote des Moralkodex zu dienen haben. 5.4.3. Objekt Ökosystem Das in 4.6.4. beschriebene Gesamtgebilde Ökosystem mit seinen Lebewesen und der ihnen als Lebensgrundlage dienenden unbelebten Natur, dessen Organismen miteinander und mit der abiotischen Sphäre in Wechselwirkung stehen, kann wegen der durchgehenden Vernetzung seiner Regelkreise einem Lebewesen gleichgehalten und als von der Wirkung menschlichen Verhaltens betroffenes Objekt unter den Schutz der moralischen Regeln gestellt werden. Voraussetzung dieser analogen Anwendung der Naturmoral ist, dass die Wirkung des Verhaltens von Menschen auch dann, wenn sich dieses nur gegen einzelne Teilbereiche des Ökosystems richtet, infolge Aufschaukelung der Regelprozesse die bisherige Homöostase des Gesamtsystems stört und zumindest teilweise zusammenbrechen lässt. Die durch das Verhalten des Menschen als Subjekt verursachte Einwirkung kann sich gegen Organismen direkt wenden, sie kann aber auch die unbelebte Sphäre betreffen, kann Erde, Wasser oder Luft schädigen und dadurch indirekt den davon abhängigen Lebewesen schaden. Sie kann beabsichtigt sein, durch Unterlassen von Sorgfalt, z. B. bei der Filterung von Schadstoffen entstehen oder wegen der zur Vermeidung von Schäden nötigen Kosten der Hilfsmaßnahmen, z. B. Abwasserkläranlagen, einfach in Kauf genommen werden. Wesentlich ist nur die negative Auswirkung auf den organischen Teil des Ökosystems, die das moralische Verbot in Kraft setzt, das wie folgt lautet: Vermeide Verhalten, das zur Zerstörung der Natur in ihrer Ordnung führen und ihren Lebewesen unnötigen Schaden zufügen kann, und unterlass nicht, dagegen Hilfe zu leisten! Als zu schützendes Objekt kommen Ökosysteme als Gesamtheiten mit den eingangs dargestellten Merkmalen in einem bestimmten Territorium in Frage. Dabei kann es sich um kleinräumige, von einander isolierte oder um miteinander in Wechselwirkung stehende weitläufige Territorialsysteme bis hin zu dem den gesamten Planeten umfassenden Makrosystem Erde handeln. Die einzelnen, diesen Großsystemen angehörigen Individuen sind auf den ersten Blick nicht immer erkennbar, treten aber jedenfalls dann in Erscheinung, wenn sie in großer Zahl schädlicher Massenwirkung zum Opfer fallen.
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5. Moral
Die Einwirkung auf die einzelnen Organismen muss intellektuell erschlossen werden, desgleichen die Potenzierung des von der Moral angesprochenen Einzelverhaltens zum Massenverhalten vieler Verhaltenssubjekte. Während das Objekt Ökosystem immer eine Vielzahl von Individuen verschiedener Arten von Organismen umfasst, sind Normadressaten stets nur einzelne Menschen, die als Verhaltenssubjekt durch ihr Einzelverhalten, ihre Aktivitäten oder ihr Passivbleiben, zur Zerstörung der Natur in ihrer Ordnung und zu unnötigen Schäden beitragen oder Abhilfe dagegen unterlassen. Der moralische Appell richtet sich an jeden Menschen, da jeder auf seine Weise und im Rahmen seiner Möglichkeiten einer schädlichen Entwicklung Widerstand leisten kann. Den größten Einfluss auf allenfalls schädliche Prozesse besitzen die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft, deren Votum direkt den Ausschlag über Vollzug oder Unterbleiben eines Projekts gibt. Vorweg entscheiden Wissenschafter durch ihre Gutachten über das Ausmaß und die Schädlichkeit der Folgen. In weiterer Folge können Bürger über Initiativgemeinschaften, in der Demokratie über ihre Wahlentscheidung und als Konsumenten über ihre Kaufgewohnheiten mitentscheiden, ob Schäden am Ökosystem verursacht und durch welche Hilfsmaßnahmen sie abgewehrt oder gemindert werden können. Wenn diese Einflussmöglichkeiten auch nur indirekt zur Verfügung stehen und langwieriger Anstrengung bedürfen, so ist ihre Bedeutung keineswegs zu unterschätzen und bestätigt überzeugend, jeden Menschen als Normadressaten und als angesprochenes Verhaltenssubjekt anzusehen. Wenn Konsumenten Waren ablehnen, die über lange Transportwege angeliefert werden, wenn sie Lebensmittel aus Bioproduktion ohne Kunstdünger und Pestiziden, aus artgerechter Tierhaltung und Produkte zu Fair-trade-Bedingungen bevorzugen, wenn sie auf überflüssige Mobilität verzichten, um Verunreinigung der Atmosphäre zu vermeiden, wenn Investoren ihr Geld in Ethikfonds anlegen, die nicht ausschließlich ShareholderValues zur Direktive ihrer Anlagepolitik machen, dann befolgen diese Verhaltenssubjekte den moralischen Appell, sich nicht an der Zerstörung der Natur zu beteiligen. Zugunsten langfristiger Erhaltung des Ökosystems nehmen diese Menschen finanzielle Nachteile auf sich, die mit naturnaher Wirtschaft nun einmal verbunden sind, und beweisen ihre Einsicht in die Ordnung der Natur.
5.5. Frieden – Der gegenseitige Gewaltverzicht Die in 2.7 vorgestellte Freiheit von fremder Gewalt auf Gegenseitigkeit, die Frieden genannt wird, bildet ein besonderes Problem der Humanmoral. Diese Problematik hängt nicht mit dem Inhalt der Moralregel zusammen.
5.5. Frieden – Der gegenseitige Gewaltverzicht
173
Das Verbot aktiver Schädigung anderer Menschen gilt ohne Unterschied auch für das Verhalten eines Staates gegen andere, auch im Fall einer kollektiven Aggression für jeden am Angriff beteiligten Soldaten und in besonderem Maße für die für den Angriff verantwortlichen Entscheidungsträger. Wer auch immer störend in die wechselseitige Gewaltfreiheit eingreift und sich die Freiheit herausnimmt, die Freiheit des anderen, frei von fremder Gewalt zu bleiben, durch Aggression zu vernichten, handelt klar gegen das moralische Schädigungsverbot. Es unterliegt ebenso keinem Zweifel, dass der angegriffene Staat und seine Bürger, sich gegen die Aggression zur Wehr setzen und den mit militärischen Mitteln geführten Angriff ebenso zurückschlagen dürfen. Dieses Notwehrrecht der Gemeinschaften existiert, ebenso wie das individuelle Notwehrrecht seit altersher und bildet die Basis und den Urbestand von Verhaltensregeln der Menschheit. Je nachdem auf welcher Seite ein Mensch am Kampf teilnimmt, als Subjekt der Schädigungshandlung auf Seiten des Angreifers oder als Objekt auf Seite des Angegriffenen, ist seine moralische Position zu bewerten. Der Aggressor fällt voll unter das Schädigungsverbot, das jedoch nur für das Handlungssubjekt und nicht für das angegriffene Objekt gilt. Diese Unterscheidung hat das Völkerrecht aus den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges in die Charta der Vereinten Nationen übernommen und den bis dahin gebräuchlichen, die Subjekt-Objekt-Spaltung verschleiernden Begriff „Krieg“ durch die Bezeichnung „Aggression“ ersetzt, diese verboten, und Notwehr dagegen und Nothilfe durch andere Staaten gerechtfertigt. Es besteht daher völkerrechtlich Übereinstimmung mit dem moralischen Schädigungsverbot. Der Überfall Japans auf Pearl Harbour (1941) oder Hitlers Angriff auf Polen (1939) waren derartige typische Aggressionsakte. Die Geschützbesatzungen des deutschen Kreuzers, der mit der Beschießung der polnischen Festung Westerplatte am 1.9.1939 den zweiten Weltkrieg lostrat, waren als Aggressoren tätig, die Mannschaften der Küstenbatterien, die das Feuer erwiderten, als Verteidiger in verschiedener moralischer Position, auch wenn sie in der der Bedienung ihrer Geschütze äußerlich das gleiche taten und jeder von ihnen seinen Befehlen gehorchen musste und nicht eigenbestimmt handeln konnte. Die Schwierigkeiten des Friedensproblems liegen in der Struktur der militärischen Organisation mit ihren Befehlsstrukturen absoluter Unterordnung, die den einzelnen Soldaten zum unfreien Befehlsempfänger herabstufen und durch Androhung der Todesstrafe bei Befehlsverweigerung jeden Widerspruch unterdrücken. Im Kampf kommt es dann oft zu Situationen des „Er oder ich“, in denen der moralische Unterschied in einer beiderseitigen gleichartigen Überlebensstrategie untergeht. Der moralische Appell
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5. Moral
wird in solchen Situationen unterdrückt und der Angreifer mit dem Verteidiger gleichgestellt, von denen jeder einfach nur überleben will. Wie kann sich der einzelne Mensch als Adressat der an ihn persönlich gerichteten Moralvorschrift seine persönliche Entscheidungsfreiheit bewahren? Wenn sich aggressive Strukturen eines totalitären Regimes einmal etabliert haben, ist dies nur mehr durch aktiven organisierten Widerstand oder durch den Zufall eines geglückten Tyrannenmordes möglich. Umso wichtiger ist es daher, frühzeitig den Anfängen zu wehren und totalitäre Strukturen nicht nur nicht zu unterstützen, sondern, solange dies noch möglich ist, zu bekämpfen. Der wegen Talentlosigkeit bei der Aufnahmeprüfung an der Wiener Kunstakademie gescheiterte Unterstandslose Hitler, der als ehemaliger Gefreiter im deutschen Heer nach Ende des ersten Weltkrieges gemeinsam mit dem Generalquartiermeister Ludendorff 1923 bei einem Putschversuch in München gescheitert war, hatte bereits 1924 in der Festungshaft in seinem Buch „Mein Kampf“ seine unausweichlich zum Krieg führenden Expansions- und Vernichtungspläne und seine von Rassenwahn geprägten Hasstiraden veröffentlicht. Ungeachtet dieser Warnsignale erhielt er mit seiner Partei starken Zulauf und konnte die letzten freien Wahlen 1933 als stimmenstärkste Partei gewinnen und deutscher Bundeskanzler werden. Alle seine weiteren Schritte zur Ausschaltung der Demokratie, zu dem folgenden Inferno von Aggression und Vernichtung waren in seinem Buch bereits angekündigt worden und stellten keine Überraschung dar. Wie konnte es geschehen, dass ihn so viele Menschen unterstützt und gewählt hatten, dass Gewissen und Vernunft geschwiegen und nicht gewarnt hatten, wenn Moral so offenkundig und barbarisch verletzt wurde? Eine allgemein befolgte Minimalmoral eines Verbots der Schädigung anderer wäre hier am Platz gewesen, um die von diesem – jedem erkennbaren – Psychopathen angerichtete Gräuel frühzeitig zu verhindern. Dieser Grundsatz gilt aber nicht nur für die Wähler und Unterstützer, sondern auch für die damaligen Appeasement-Politiker, die es versäumt hatten, Hitler rechtzeitig in seine Schranken zu weisen, und ihm statt dessen auf Kosten anderer Staaten in seiner Eroberungspolitik halfen. Angesichts seiner offen verkündeten Eroberungs- und Vernichtungspläne und angesichts seiner exzessiven Aufrüstungspolitik wäre es nicht nur staatsmännische Klugheit, sondern auch moralische Pflicht gewesen, ihm noch vor Erreichen seines Hochrüstungsniveaus militärisch Einhalt zu gebieten. Friedenpolitik hat immer auch eine moralische Komponente, die auf den nötigen gegenseitigen Verzicht auf Gewalt Rücksicht zu nehmen hat. Wenn von einer Seite zu Aggression gerüstet, wenn Drohungen ausgesprochen werden, die andere Seite zu vernichten, gebietet die Moral, rechtzeitig ein-
5.6. Zur Universalmoral
175
zugreifen, bevor der Aggressor in der Lage ist, seine Pläne und Drohungen zu verwirklichen. Dies gilt heute umso mehr, als die Menschheit eine vielfache OverkillCapacity an ABC-Waffen angesammelt hat und erstmals in ihrer Geschichte in der Lage ist, durch einen wie auch immer ausgelösten Einsatz dieses Vernichtungspotentials sich als ihr eigener Selektionsmechanismus zu betätigen und vollständig auszulöschen. Die Einhaltung der Moral wird damit zur sanktionierten globalen Notwendigkeit.
5.6. Zur Universalmoral Das vorgestellte System Praktische Philosophie ist ein dualistisches und unterscheidet Tatsachen und Maßstäbe: • Beschreibung der Freiheit als Voraussetzung der Möglichkeit zu selbstbestimmtem Verhalten • Beschreibung des Verhaltens' – als Verwirklichung einer der Möglichkeiten des Freiheitsraumes – und seiner Wirkungen • Bewertung des Verhaltens und Suche nach ethischen Prinzipien der Zulässigkeit des Wirkung auf ein Objekt verursachenden Sozialverhaltens • Formulierung von moralischen Verhaltensregeln zur Verhinderung des einem anderen schädlichen Sozialverhaltens • Verhalten der Menschen ist: – aktives Handeln, Vollzug einer bestimmten Handlung – passives Unterlassen einer bestimmten Handlung • Vorgegebenes Lebensziel aller Lebewesen: – Selbsterhaltung und Arterhaltung • Von Menschen selbst gesetzter Zweck beliebigen Inhalts • Wirkung als kausale Folge des Verhaltens – nur beim Subjekt: Individualverhalten – auch beim Objekt: Sozialverhalten – nützlich oder schädlich • Praktische Philosophie befasst sich nur mit dem für das Objekt schädlichen Sozialverhalten.
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5. Moral
• Grundlage ist das unaufhebbare Subjekt-Objekt-Spaltungsverhältnis der Beteiligten und ihrer kollidierenden Interessen. • Subjekt und Normadressat ist immer der einzelne Mensch. • Objekt der Wirkung des fremden Verhaltens können sein: – andere Menschen – Tiere oder Pflanzen – oder Ökosysteme als Gesamtheiten von belebter und unbelebter Natur • Schutz der Interessen des schädliche Wirkung eines fremden Verhaltens Erleidenden, selbst aber nichts bestimmenden Objekts. • Schädlichkeit eines Verhaltens feststellbar nach: – objektiven Merkmalen (wie in Strafgesetzen) – im Zweifel verbindlich durch das Objekt – bei dessen Unmündigkeit oder bei Kommunikationsunmöglichkeit nach der Goldenen Regel – letztlich nach Verallgemeinerungsregeln • Ethische Fragen: – Welches schädliche Verhalten ist zu vermeiden? – Welche Handlung hat zu unterbleiben? – Welche Unterlassung von situationsbedingt nötiger Hilfe an ein Objekt in Not ist zu vermeiden? – Nach welchen Regeln für das Verhalten ist zu suchen? • Moralische Pflicht zur Freiheit der Selbstbestimmung Lass dir deine Freiheit zu moralischem Verhalten nicht nehmen! • Das Oberste Prinzip der Humanmoral: Vermeide Verhalten, das anderen Menschen schädlich sein kann! • Das Schädigungsverbot: Vermeide jede Handlung, die andere Menschen schädigen kann! • Das Verbot der Verweigerung von Hilfe: Vermeide die Verweigerung von situationsbedingt dringend benötigter Hilfe! • Naturmoral Objekt Tier: – Vermeide Verhalten, das zur Zerstörung der Natur in ihrer Ordnung führen kann!
5.6. Zur Universalmoral
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– Vermeide Verhalten, das Tieren unnötig Qualen und Schäden zufügt, und unterlass nicht, ihnen in Notsituationen zu helfen! • Naturmoral Objekt Pflanze: Vermeide Verhalten, das zur Zerstörung der Natur in ihrer Ordnung führen kann oder Pflanzen unnötig Schäden zufügt, und unterlass nicht, ihnen in Notsituationen zu helfen! • Naturmoral Objekt Ökosystem: Vermeide Verhalten, das zur Zerstörung der Natur in ihrer Ordnung führen und ihren Lebewesen unnötigen Schaden zufügen kann, und unterlass nicht, dagegen Hilfe zu leisten! Ein derart einfaches, den Dualismus von Tatsachen und Maßstäben berücksichtigendes System kann mit seinen wie vorstehend oder ähnlich formulierten Moralregeln alle wesentlichen Erfordernisse des praktischen Lebens abdecken. Seine allgemeine Akzeptanz und Einhaltung kann die Sicherheit der Menschen als Individuum und den Fortbestand der Art homo sapiens und der anderen Arten von Lebewesen gewährleisten. Es berücksichtigt weitestgehend die Gemeinsamkeiten aller Menschen, ihre Gleichartigkeit, Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit ihrer Persönlichkeit sowie Gleichwertigkeit ihres Lebens und eignet sich so als grundlegende Universalmoral. Es abzulehnen oder nicht befolgen zu wollen heißt gegen die von der Natur vorgegebenen Rahmenbedingungen der Existenz von anderen zu verstoßen und sich zur Schädigung dieser anderen zu bekennen. Es lässt Raum für persönliche Freiheit der Lebensgestaltung, für weitergehende Hilfsgebote der Nächstenliebe und Freundschaftsdienste und greift nicht in die Ansichten, Weltbilder und Überzeugungen der Menschen ein. Das allgemeine Schädigungsverbot und Verbot der Verweigerung unbedingt nötiger Hilfe in Notsituationen darf aber weder durch politische Ideologien noch durch Missinterpretationen religiöser Glaubenssätze durchbrochen werden. Niemand darf entgegen dem Moralkodex zu Hass und Schädigung anderer aufrufen. Die einen absoluten Mindeststandard garantierende Universalmoral kann von jedem Menschen befolgt werden und kommt so im Weg der Gegenseitigkeit allen Menschen und sonstigen Lebewesen zugute. Wer sich gegen sie stellt und zur Schädigung anderer aufruft oder sich selbst moralwidrig verhält, verkennt die Zeichen der Zeit. Erstmals hat es die Menschheit in der Hand, selbst für ihren Untergang zu sorgen oder moralische Minimalforderungen allgemein einzuhalten und der sonst drohenden Selektion der Spezies zu entgehen.
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Sachwortverzeichnis Abgrenzung 17, 78 f., 112 abiotische Natur 123 f. Absicht 19, 57, 72 f., 144, 148 Abstraktion 15, 22, 28, 29, 76, 101 Addendum 5, 6, 91, 114, 151, 161 Aggression 25 f., 49 f., 67, 93, 96, 144, 173 f. altruistisch 66 anthropozentrisch 70, 93 antizipatives Gewissen 128, 131 Antrieb 55 f., 77, 91 129 Appell 89, 97, 115, 133, 144, 146, 149, 160, 164, 172 f. Art homo sapiens 12, 25, 32, 36, 59, 61, 69, 83 f., 94 f., 128 f., 157, 166 f., 177 Arten des Verhaltens 55 ff., 76 f., 79 f. Arterhaltung 11, 23, 54, 59, 61, 75, 83, 95, 98, 102, 109, 128, 157, 168, 175 Asymmetrie 6, 107, 112, 141 f., 151 f., 161 f. Bergpredigt 23, 25, 114, 139, 150 f. Berliner Mauer 6, 22, 26 f., 31 f., 36, 39 f., 44, 47, 59, 80, 112 Beschreibung 13, 20, 22, 52, 71 f., 106, 117, 133, 175 Betroffene 54, 57, 59, 66, 79, 105, 108, 113, 119, 125, 135, 151, 153, 155 f., 163, 169 Beweislast 23, 110 Bewertung 5, 6, 15, 17, 22, 58, 74, 77, 79, 81, 88, 93, 98 f., 102 f., 112, 114, 133, 151, 175 Bewusstsein 82, 132 Bezugssystem 29, 33 Briand-Kellog-Pakt 93
Charta der Vereinten Nationen 93, 173 Dekalog 143 Determination 28, 42, 62, 103, 156 Dualismus 5, 6, 17, 53, 79, 88, 91, 95, 99, 111, 117 f., 135, 140, 161 f., 177 Eigenwirkung 54 f., 62 f. Emotionen 130, 133 Entelechie 16, 52, 61 Erfahrungsschatz 21, 36, 55, 129 f. Erfolg 8, 21, 54 f., 60 f., 72 f., 77, 83, 103, 135, 143 f, 159 Erkenntnis 15, 18, 31, 43 f., 61, 69, 74, 79, 87 f., 94, 101, 123 Errungenschaft 31, 39, 44, 48, 61, 101, 126 Ethik 5, 6, 14 f., 21 f., 83 ff., 176 f. Evolution 13, 21, 23, 38, 61, 69, 83 f., 90, 96, 98, 109, 111, 116 f., 126, 128, 131, 155, 166 Fairness 108 Fiktion 28, 47, 101 Freiheit 6, 18, 22, 26 ff., 31 f., 37 f., 41 f., 47 f., 75 f., 88 f., 100, 136 f., 172, 175 f. Freiheitsantinomien 30, 42 Freiheit des praktischen Lebens 28 ff. Freiheitspflicht 139 f. Freiheitsraum 35, 45, 48, 75, 84 f., 103, 133 f., 175 Freiheitsrechte 46 Freiheitsträger 32 ff. Freiheit, wessen 22, 26 ff., 32 f. Freiheit, wovon 37 ff.
Sachwortverzeichnis Freiheit, wozu 41 ff. fremdbestimmtes Verhalten 55, 58, 59, 75, 77 f. Fremdwirkung 38, 54, 57, 64 f., 74, 86, 92, 103 Frieden 48 f., 95, 172 f. Gegenseitigkeit 23, 49 f., 72, 88, 103, 113 f., 136, 140, 150 f., 172, 177 Gegenwirkung 31, 35 ff., 43 f, 75, 77, 101, 126 Gemeinschaft 13, 21, 24, 34, 86, 99 f., 115, 124, 129, 131, 135, 138 f. 146, 153 f., 165, 172 f. Generation 13, 36, 70, 98, 123, 130, 167 Gerechtigkeit 21, 24, 47, 136, 153, 155, 158 f. Gesellschaft geschlossene 30, 82, 163 Gesellschaft offene 5, 60, 91, 104, 106, 112 f., 141, 145, 151, 157, 159, 163 Gesetz 16 f., 34, 46, 48, 81, 114, 125, 146, 151, 155 f., 159 Gewalt 22, 24, 29, 31, 34, 38, 40, 48 f., 58, 96, 144, 169, 172 f. Gewissen 21, 36, 55, 125, 128 f., 136, 174 Glaube 24, 61, 110, 115 Glücksmaximierung 6, 134, 141 f., 160 Goldene Regel 5, 23, 72, 88, 103, 113 f., 136, 140, 150 f., 158, 161 f., 176 Grund- und Freiheitsrechte 46, 48 Handeln 18, 36 f., 51 f., 55 f., 62 f., 102 f., 107 f., 143 Hilfe 58 f., 62 f., 91 f., 102 f., 108 f., 112, 136, 145 f., 166, 170, 171 Hilfeverweigerungsverbot 145 f., 166, 170, 171 Hirn 32, 61 f., 76, 83 f. Holocaust 32
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Homo sapiens 12, 59, 69, 83, 111, 113, 117, 120, 126, 130, 157, 166, 177 Humanethik 21, 94, 97 f., 105, 106 ff., 118, 122, 127 Humanmoral 135 f., 139 ff., 167, 172, 176 Hypothesen 29, 87, 126 Imperativ 15 f., 21, 23, 103, 105, 114 f., 125, 150 f. Individualverhalten 18, 22 f., 53, 59, 63 f., 74, 78 f., 81, 91, 92, 94, 102 f., , 114, 139, 149, 163, 175 Individuum 12 f., 29, 32 f., 45, 47, 55 f., 59, 64, 68, 75 f., 86, 89, 96, 101 f., 113, 120, 125, 129 f., 149, 154, 163 f., 177 Instrumentarium 13 Interessengegensatz 67 Kausalität 22, 28, 42 f., 54, 56, 60 f, 73, 76, 84 f., 109, 141, 143, 156, 165 Kodex 15, 21, 110 f., 129 f., 135, 137 f., 148 f., 153 f., 171, 177 Kollektivismus 34 f., 154 kompetitiv 108 Konfliktvermeidung 129 Konfrontation 54, 62, 98 Konzept des Aristoteles 6, 13 f., 16, 20, 52, 61 Konzept Poppers 5, 159 f. Kräfteparallelogramm 31, 35, 44, 101 Kreislauf 120 Krieg 49, 67, 81, 93, 173 f. Kritik 24, 90, 104, 159 f. Kultur 23, 46, 59, 61, 64, 72, 84, 96, 113 f., 116, 121, 131, 150 f., 170 Lebensgestaltung 16, 46, 91, 100, 105, 110, 134 f., 140, 149 f., 177 Lebensziel 12, 23, 55, 59, 60 f., 75, 83 f., 102, 109, 116, 127, 157, 175
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Sachwortverzeichnis
Lebewesen 11 f., 20 f., 54 f., 66 f., 88 f., 102 f., 115 f., 164 f., 170 f., 175 f. Leidensminimierung 5, 118, 160 Liebesgebot 114, 135, 139 Massen 12, 26, 28, 34, 45, 56, 68, 74, 96, 114, 117, 120, 125, 132, 167, 171 Menschenrechtsverletzung 108 Metaethik 15, 90 Metaphysik 16 f., 22, 52, 61, 104, 115, 157, 179 Minimalmoral 115, 174 Mitleid 60, 118, 125, 150 Mitwirkung 19, 31, 38 f., 45, 48, 75, 118, 170 Möglichkeit 12 f., 20, 22, 29 f., 37, 39 f., 46, 48, 53, 61, 64 f., 68, 71, 74 f., 81, 83 f., 89 f., 93, 98, 101 f., 105 f., 108 f., 127, 139 f., 136 f., 140 f., 144, 156, 162 f., 172, 175 f. Moral 6, 18, 21 f., 128 ff., 175 f. Moralkodex 111, 135, 137 f., 148, 150, 153 f., 171, 177 Nachkommen 11, 59, 60, 83, 109, 131, 146 Nächstenliebe 25, 150, 177 Natur 21 f., 86, 97 f., 115 ff., 164 ff., 176 Naturalismus 109 ff. naturalistischer Fehlschluss 109, 127 Naturethik 21, 94, 97 f., 105, 115 ff. Naturmoral 164 ff., 176 f. Negation doppelte 107, 148 Neopositivismus 154 Normadressat 32, 101. 149, 151, 176 Normen 13, 15, 64 f., 69, 88, 97, 109 f., 115, 155, 157 Nothilfe 93, 108, 135, 169, 173 Notwehr 49 f., 67, 93, 97, 108, 119, 173
Objekt 68 f., 91 f., 94 f., 102 f., 105 f., 134 f., Objekt Ökosystem 123, 125, 127, 171 f., 177 Objekt Pflanze 121 f., 170, 177 Objekt Tier 69, 98, 119, 122, 125, 164, 166, 176 Objektschutz 55, 67, 69, 94, 97 f. Ökosystem 54, 123 f., 171 f. Ordnung 21, 25, 66, 98 f., 107, 116, 118 f., 122 f., 135, 138, 140, 163 ff., 176, 177 Passivität 11, 22, 51, 68, 73, 77 Pattern of Behaviour 130 f. Person 29, 76, 95, 101, 108, 115, 120, 140, 146, 154, 158, 169 Persönlichkeit 33 f., 60, 72, 105, 145, 154, 177 Positivismus 155 Privatleben 112 Privileg 46 Problemlösen 6, 11, 13, 16 f., 20, 53, 86, 91, 95, 99, 111, 142, 163 Problemverhalten 18 f., 21, 25, 55, 57, 66, 67 ff., 74, 92, 95, 103, 107, 110, 163 Rahmenbedingungen 23, 127, 157, 177 Rangordnung 16, 113, 125 Recht 21, 115, 134, 136, 153 f., 158 Rechtfertigung 15, 23, 68, 88, 90, 108 f., 127, 144, 149, 156, 166 Rechtspositivismus 154 f. Regress 33 Rehabilitierung 6, 88 Religion 70, 91, 114 Resultante 31, 35, 44, 48, 101 Resultat 5, 15, 33, 44, 55, 73 f., 86, 93, 102, 110, 142, 144, 153 Reziprozität 98, 146
Sachwortverzeichnis Schädigungsverbot 108, 143, 145, 170, 173, 176 f. Scheinfreiheit 43 selbstbestimmtes Verhalten 55, 76, 79 Selbstbestimmung 13, 43, 76, 83 f., 89, 92, 94, 176 Selektion 62, 69, 126, 128, 177 Selektionsvorteil 129, 131 Skeptizismus 158 Sollen 15, 17, 23, 27, 65, 103, 105, 107, 114, 133, 135, 138, 155, 168 Sollwerte 109 Sozialpragmatik 112, 135 Sozialverhalten 18, 22, 53, 59, 63 f., 78, 80 f., 86, 90, 94 f., 102 f., 107, 114, 139, 163, 175 Spaltungsverhältnis 18, 20, 22, 66 f., 91 f., 102, 176 Steuerung 13, 68, 76 Subjekt 12 f., 20 f., 37, 39, 48, 51 f., 54 f., 62 f., 66 f., 73 f., 78 f., 92 f., 96 f., 101, 173, 175 f. Subjekt-Objekt-Beziehung 21, 53, 65 f., 78, 92 f., 96, 102, 105, 108, 112, 119, 166, 169, 173, 176 Tatbestand 169 Tätigkeit 12, 19, 51, 54 f., 61 f., 91, 104, 120, 143 f. Tatsache 22, 29, 31, 41 f., 47, 71, 88, 93 f., 99 f., 113, 159 f., 163, 166 Tatsachenfeststellung 6, 15, 17, 107, 112 Teleologie 62 Toleranz 135, 163 Tötungshemmung 36, 131 Transzendenz 91, 134 Tun 13, 15, 17, 29, 37, 46, 51 f., 55, 81, 95, 103 f., 114, 144, 150 f., 162 Typisierung 52
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Überich 132 Umwelt 11 f., 15, 18 f., 22, 24, 29, 31 f., 45, 47, 51, 55 f., 59, 66, 74 f., 86, 98, 100 f., 131, 133 f. Unbestimmtheit 22 Unbewusstes 130 Unfreiheit 30, 38, 40, 44 f., 55, 89, 109, 137 f. Universalisierung 21 Universalmoral 24 f., 115, 135, 150, 175 ff. Unmöglichkeit 42, 76, 81, 90, 98, 114, 140, 153, 176 Unrechtsgesetz 156 Untätigkeit 39, 51 f., 54, 59, 96, 104, 142, 145, 150 Untergrenze 25, 33, 135, 150 Unterlassen 12, 18 f., 39, 43, 51 f., 54, 57 ff., 72 f., 97, 102 f., 145 f., 175 f. Utilitarismus 5, 6, 67, 112, 141, 160, 162, 166 Verantwortlichkeit 13, 43, 76, 78, 81, 83, 85 ff., 93, 99 f., 106, 120 f., 124 f., 133, 136, 141, 143, 162, 165 Verantwortlichkeit zur Freiheit 88 f. Verbesserung 11, 47, 83, 90, 145, 151, 162 Verbot 6, 24, 80, 107 f., 140 f., 150, 156, 153, 156 f., 162, 165 f., 168 f., 173, 176 f. Verhalten 11 f., 18, 20 f., 32 f., 41 f., 51 ff., 55 f., 63 f., 66 f., 75 f., 79 f., 102 f., 134 f., 139, 164, 166, 170, 171, 175 f. Verhalten fremdbestimmtes 55, 76, 79 Verhalten selbstbestimmtes 55, 76, 79 Verhaltensantrieb 33, 61, 76, 103 Verhaltensfreiheit 25, 49, 64 f., 68, 75, 96 f., 125, 129, 137 f., 149 f Verhaltenstheorie 5, 6, 23, 41, 51 ff., 56 f., 65, 67 f., 70 f., 76, 79, 91, 93, 102, 105, 108, 112, 114, 140, 163, 166
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Sachwortverzeichnis
Vermeiden 139, 143, 145, 164, 166, 170, 171, 176 Verschulden 146 Versuch 13, 40 f., 46, 56 f., 74, 109, 144, 159, 168 Verteilungsgerechtigkeit 158 Verursacher 143, 146 Verweigerungsverbot 147 f. Verwirklichung 20, 22, 48, 75, 85, 101 f., 175 Wert 30, 47, 101, 115 Wertethik 15 f., 106 Wettbewerb 54, 62 Wiener Kreis 154 Willensfreiheit 29, 42, 47, 62 Wirklichkeit 28, 40, 75, 154 Wirkung direkte 54, 62, 66, 99
Wirkung indirekte 54, 62, 63, 66 Wissenschaft 15, 52, 87 ff. Ziel 16, 21, 24, 51, 59 f., 61, 72, 90, 94, 102, 138, 156, 160, 163, 166 Zumutbarkeit 58, 147 Zurechnungsfähigkeit 131, 141 Zweck 11, 13, 16, 19 f., 33, 39, 41 f., 49, 54 f., 59 f., 65, 73 f., 79, 84, 92, 97, 102 f., 106 f., 115 f., 133, 135, 140, 144, 149 f., 158, 166, 170, 175 Zweckmäßigkeit 44, 53 f., 83, 85 Zwecksetzung 13, 17, 54, 59 f., 72, 76 f., 84, 103, 109, 122, 136, 156 f. Zwischenmenschliches Verhalten 38, 112, 115, 139, 143, 145, 148 f., 153, 158