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German Pages 315 [316] Year 1998
y/íeatron
Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele Band 26
Polnisch-deutsche Theaterbeziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer in Verbindung mit Malgorzata Leyko und Malgorzata Sugiera
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Polnisch-deutsche Theaterbeziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg / hrsg. von Hans-Peter Bayerdörfer in Verbindung mit Malgorzata Leyko und Malgorzata Sugiera. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Theatron ; Bd. 26) ISBN 3-484-66026-0
ISSN 0934-6252
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Einband: Siegfried Geiger, Ammerbuch.
In memoriam Götz Hübner 1939-1998
Inhalt
Vorwort
XI
TEILI
1
Malgorzata Leyko / Malgorzata Sugiera Die Rezeption des deutschsprachigen Dramas und Theaters in Polen nach 1945. Ein Abriß
3
Hans-Peter Bayerdörfer Prinzen, Prinzessinnen, Mannequins - Polnisches Theater in der Bundesrepublik Deutschland seit Beginn der siebziger Jahre
13
Anna Milanowski Polnisch-österreichische Theaterwechselwirkungen nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1989. Eine Mentalitäts- und Wirkungsgeschichte
46
TEH
II
59
Malgorzata Leyko Der gewollte und der ungewollte Brecht
61
Slawomir Tryc Friedrich Dürrenmatt auf den polnischen Bühnen. Mit allgemeinen Bemerkungen zur Rezeption fremdsprachiger Theaterwerke in Polen 1945-1989
77
Malgorzata Sugiera Dialektische Verfahren in Dramen von Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch - Wirkungen in der polnischen Dramatik nach 1956
98
Vili Dobrochna Ratajczakowa Zwei Dramen von Tadeusz Rózewicz, Die Kartothek und In die Grube, als Beispiel von Erfolg und Mißerfolg
113
TEIL III
127
Wojciech Dudzik Das Bild des polnischen Theaters in der deutschen wissenschaftlichen Theaterliteratur der Nachkriegszeit
129
Brigitte Schultze Rezeptionsblockaden des deutschsprachigen Theaters für Mickiewicz, Krasmski, Slowacki und Wyspiañski
146
Claudia Balk Jarockis Münchener Inszenierung von Stanislaw Ignacy Witkiewicz' Die Mutter (1975) und ihre Rezeption
169
Herta Schmid Mrozek auf deutschsprachigen Bühnen - Schwierigkeiten im deutsch-polnischen Dialog
181
Dietrich Scholze Mrozek und Rózewicz in der Deutschen Demokratischen Republik
204
Harald Xander Die Geschlossenheit des polnischen Theaterweltbilds'. Freie Theater aus Polen zu Gast in Deutschland
216
Claudia Jeschke Befremdung und Faszination. Anmerkungen zur Raum-, Körper- und Bewegungsästhetik im Theater Tadeusz Kantors
231
Christopher Β. Balme „Das lebende Bild einer Methode": Zur Funktion der Theaterfotografie in der Rezeption der Theaterästhetik Jerzy Grotowskis
243
Inhalt
IX
Theo Girshausen Hamlet-Bilder im polnischen und deutschen Theater
259
TEIL I V
273
Barbara Surowska Deutsche Dramatiker für die polnische Bühne. Theaterübersetzungen - Gerhart Hauptmann, Ivan Göll, Thomas Bernhard
275
Olgierd Lukaszewicz „Diesen Vorhang heben!" Eindrücke eines polnischen Schauspielers von deutschen und österreichischen Bühnen
283
Abstracts
293
Vorwort
Ausgetheilet erfreut solch Gut und getauschet, mit Fremden, Wirds ein Jubel. Friedrich Hölderlin, Brod und Wein
Dieses Buch ist Dr. Götz Hübner gewidmet. Es geht aus dem Symposium in Thurnau hervor, an dem er im Juni 1996 teilgenommen hat. Wenig später gründete er die Stiftung ADAMAS, in die er den materiellen Ertrag seines Lebens als Grundkapital einbrachte. Sie trägt auch seine geistige Handschrift, denn sie fördert wissenschaftliche Vorhaben, die sich den kulturellen und literarischen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland, sowie zwischen Griechenland und Deutschland widmen, wie sich diese seit der Französischen Revolution entwickelt haben. Sie Stiftung soll so, nach dem Wunsch des Stifters - „vor dem Hintergrund des von Deutschen an Polen und an Griechen begangenen Unrechts während der Zeit des Nationalsozialismus" - zur „Völkerversöhnung" beitragen. Für das jetzt vorliegende Buch schlug Götz Hübner wenige Tage vor seinem Tod ein Motto vor, das, wie der Titel der Stiftung, Friedrich Hölderlin entspringt. Lebenslang galt diesem Hübners leidenschaftliche Bewunderung als Literarhistoriker, auf ihn setzte er seinen ganzen wissenschaftlichen Scharfsinn als Philologe an. Mit den Versen aus Brod und Wein wird eine universale Blickrichtung auf alle Kontakte zwischen Ländern und Kulturen freigegeben, auf eine Bresche in den Mauern, die die Geschichte errichtet hat. Der Versuch des Tauschs des - im Gegensinn zu Besitz begriffenen Eigenen mit dem Fremden, eröffnet einen Freiraum von Teilhabe, in dem sich - dennoch unverfugbar - die erhoffte Epiphanie von Gemeinsamkeit ereignen könnte. Der Plan zu dem Symposium war zwei Jahre zuvor entstanden. Die erste Anregung hat Malgorzata Leyko auf der Warschauer Tagung über Jüdisches Theater in Polen, 1993, gegeben. Nach der am Ende des letzten Jahrzehnts in großem Maßstab vollzogenen Veränderung der politischen Landkarte Mitteleuropas schien es an der Zeit, die kulturgeschichtliche Vergangenheit der Länder unter den neuen Voraussetzungen zu sichten und die mitteleuropäischen Kulturlandschaften sozusagen neu auszuschreiten. Dies konnte gemessen an der poetischen Vision Hölderlins - natürlich nur auf einer be-
XII grenzten Route, pragmatisch und historisch, geschehen. Ziel des Symposiums, das dann im Mai 1996 im Tagungszentrum von Schloß Thurnau stattfand, war eine gemeinsam - übernational und interdisziplinär - verantwortete erste Bestandsaufnahme der Theaterbeziehungen zwischen Polen und den deutschsprachigen Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg. Mit anderen Worten, es sollte im theatergeschichtlichen Bereich das versucht werden, was Ende des vorausgehenden Jahrzehnts literaturgeschichtlich bereits unternommen und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgelegt worden war.1 Schwierigkeiten stellten sich auf verschiedenen Ebenen ein, überwiegend aus historischen Gründen, aber auch durch den Gegenstand als solchen bedingt. Aufgrund der unaufhebbaren Transitorik der theatralen Ereignisse ist Theater weit weniger schlüssig dokumentierbar und daher bündig historisch zu beschreiben, als dies für die Literatur, auch die dramatische, der Fall ist. Besonders spürbar ist weiterhin der Mangel an gut erschlossenen Theatersammlungen und Theaterarchiven, die bislang kaum den Status der vielfach als national geführten Literaturarchive erreichen. Des weiteren fehlte es nicht nur an einschlägigen wissenschaftlichen Vorarbeiten, die fachübergreifend rezipiert worden wären. Vielmehr haben die beteiligten Fächer, in erster Linie Polonistik, Germanistik und Theaterwissenschaft, in Bezug auf die Bühnen- und Theatergeschichte bisher noch wenig gemeinsames Terrain erarbeitet. Historisch gesehen spielten die unterschiedlichen politischen und kulturellen Relationen eine Rolle, die das Verhältnis der beiden deutschen Staaten und Österreichs bis 1991 zu der polnischen Nachbarkultur nachhaltig geprägt hatten. Immerhin ergab sich - im Vergleich zur Literatur - auch ein Vorzug, denn, allen Nationaltheaterprogrammen des 18. und 19. Jahrhunderts zum Trotz, ist Theater nie wirklich nationalkulturell zu beschränken gewesen, sondern hat immer grenzüberschreitend, bezogen auf politische wie auf kulturelle Demarkationslinien, seine unreglementierbaren Wirkungen gezeitigt. Dies gilt sogar, mutatis mutandis, fìir den 'Eisernen Vorhang', der sich als weniger undurchlässig erwies als seine politischen Architekten sich wünschen mochten. Aus dieser Sicht verstärkten sich die motivierenden Impulse, trotz der negativen Erfahrungen, die in Teilen Europas in den letzten Jahren mit der neo-nationalistischen Errichtung von Grenzen zu machen waren. Die Notwendigkeit einer verstehenden Annäherung - wiewohl im Bewußtsein mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Differenzen, die prinzipiell gesehen historisch langlebiger sind als politische Demarkationslinien - ist auch als wissenschaftliche und geschichtliche Aufgabe der Gegenwart unabweisbar. Sie ist es Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945-85. Hrsg. von H. Kneip und H. Ortowski. Darmstadt 1988.
Vorwort
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um so mehr, als es auch zur wissenschaftlichen Reflexion gehört, die Fragwürdigkeit jeder vermeintlich raschen Überwindung von Unterschieden oder gar die vorschnelle Umarmungstaktik zu durchschauen und im Hinblick auf die Nivellierungserscheinungen, wie sie heutigen globalen Transferprozessen eigen sind, zu thematisieren. Es war schon in der Planungsphase deutlich, daß das Symposium den Charakter einer 'Anbahnungsveranstaltung', nicht aber einer Ergebnisse resümierenden Zusammenfuhrung haben würde. Dies besagt, daß alles von vornherein auf Fortsetzung hin zu bedenken war. Dennoch blieb das Erreichte hinter dem Erhofften in manchen Punkten zurück. So zeigt ein kurzer Blick auf das Inhaltsverzeichnis der Einzelbeiträge, wie sie aus den damaligen Referaten - angeregt durch die Debatten und überarbeitet - hervorgegangenen sind, daß Asymmetrien bestehen. So fehlt etwa ein einführender Überblicksartikel über die Beziehungen zwischen der ehemaligen DDR und Polen, und im Hinblick auf die Bundesrepublik sind die ersten zwei Jahrzehnte nach Kriegsende nicht in die Darstellung einbezogen. Im Falle Österreichs kann hingegen ein umfassender Überblick geboten werden, aber weitere Einzelabhandlungen zu geschichtlichen Zusammenhängen und theatergeschichtlichen Spezialfragen bleiben wünschenswert. Insgesamt treten Österreich, aber auch die DDR bis zum Jahre 1991 quantitativ weniger in Erscheinung als ihrer historischen Rolle entsprochen hätte. Die Wiederaufnahme von Themen und Problemen in einer Folgeveranstaltung, wie sie im Moment in Polen geplant wird, ist daher unabdingbar. Sie wird hoffentlich Lücken schließen, die sich jetzt allzu deutlich abzeichnen und neue Gesichtspunkte zur Geltung bringen, die bis jetzt nicht zum Tragen gekommen sind. Auch das Stückwerk des Erreichten wäre nicht möglich gewesen ohne vielseitige Hilfe. Für fachliche und persönliche Unterstützung in jeder Phase, von der Planung bis zur Drucklegung der Tagungsergebnisse habe ich den Kolleginnen der Theaterwissenschaft an den Universitäten von Lodz und Krakau, Malgorzata Leyko und Malgorzata Sugiera, sehr zu danken. Für dieselbe Hilfsbereitschaft, viele souveräne Ratschläge und tatkräftige Impulse bin ich der Kollegin vom Mainzer Polonicum, Brigitte Schultze, zu großem Dank verpflichtet. Die sorgfältige Durcharbeitung der Texte, mit besonderem Augenmerk auf Sprach- und Übersetzungsprobleme, hat mit großer Energie und ebenso großer Geduld Magdalena Meyerweissflog übernommen. Ihr sei ebenso gedankt wie Stephan Reinhardt, der die letzte stilistische und formale Korrektur aller Texte sich angelegen sein ließ, sowie - im Rückblick auf das Symposium - Ryszard Ziobro für die zeitweilig erforderliche Simultanübersetzung in beiden Sprachrichtungen.
XIV Die Thurnauer Tagung ist durch freundliche Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Robert-Bosch-Stiftung ermöglicht worden. Letztere hat weiterhin in großzügiger Weise die Vorbereitung der Drucklegung unterstützt. Beiden Organisationen gilt der Dank, den ich im Namen auch aller mitwirkenden Kolleginnen und Kollegen ausspreche. Hans-Peter Bayerdörfer
TEIL I
Malgorzata Leyko / Malgorzata Sugiera
Die Rezeption des deutschsprachigen Dramas und Theaters in Polen nach 1945. Ein Abriß
Den relativ neuen Forschungen und Schätzungen von Hubert Ortowski kann man entnehmen, daß die deutschsprachige Literatur im Polen der Nachkriegsjahre besser zugänglich war und ist als je zuvor. Nichtsdestoweniger war ihre Rezeption wegen verschiedenartiger Rezeptionsblockaden viel schwieriger und komplizierter als z.B. die Rezeption der französischen oder auch der russischen Literatur, die traditionell einen kohärenten Bestandteil der polnischen Kultur bilden und fest zum Lesekanon gehören. „Man hat zwar als polnischer Durchschnittsleser ohne Deutschkenntnisse durchaus die Möglichkeit, sich ein anschauliches Bild von der Literatur der deutschsprachigen Länder zu machen - jedoch nicht ohne Lücken", schrieb Mitte der 80er Jahre Orfowski.1 Die von ihm genannten Lücken werden noch auffallender, wenn man sich mit Hilfe der dramatischen Texte, die in Polen nach 1945 übersetzt, veröffentlicht und gespielt wurden, ein anschauliches Bild von dem deutschsprachigen Drama und Theater zu machen versucht. Es muß dabei hinzugefugt und zugleich betont werden, daß die Rezeption des deutschsprachigen Dramas und Theaters bis jetzt kaum das Interesse der Forschung gefunden hat. Dabei scheint eine eingehende Untersuchung durchaus geboten. In diesem kurzen Beitrag, der als Einleitung in den Problemkreis dienen soll und der aufgrund fehlender gründlicher Recherchen nur die Form eines ersten Abrisses wird annehmen können, läßt sich eine sehr begrenzte Auswahl aus einem großen Fragenkreis berücksichtigten. Es gibt außerordentlich viele, die polnisch-deutsche Theaterbeziehungen betreffende Momente, die man ausfuhrlich behandeln sollte. Im Hinblick auf das Theaterrepertoire lassen sich ohne weiteres viele wichtige Inszenierungen deutschsprachiger Dramen durch berühmte Regisseure nennen, Inszenierungen, die eindeutig in die Geschichte des polnischen Nachkriegstheaters eingegangen sind. Konrad Swinarski, der 1955-57 im 1
H. Ortowski: Distributive Rezeption. Deutschsprachige Literatur in Polen 1945-85. In: Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945-85. Hrsg. von H. Kneip und H. Ortowski. Darmstadt 1988, S. 285.
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Malgorzata Leyko /Malgorzata Sugiera
Berliner Ensemble mitgearbeitet und danach oft Regie in der Schaubühne am Halleschen Ufer und im Berliner Schiller-Theater (Uraufführung von Marat/ Sade, 1964) gefuhrt hat, inszenierte in Krakau und Warschau vor allem Dramen von Bertolt Brecht und Friedrich Dürrenmatt. Ebenso oft war Erwin Axer als Regisseur auf deutschsprachigen Bühnen tätig; in Polen hat er z.B. Biedermann und Brandstifter von Max Frisch, Stücke von Peter Weiss und auf eine nicht kanonische Weise - Brechts Arturo Ui inszeniert. Weitere Beispiele, darunter auch bekannte Inszenierungen von Jerzy Jarocki (u.a. Kafka, Dürrenmatt) und Krystian Lupa (Kubin, Musil, Bernhard und Broch) ließen sich nennen. Der Spielplan gab jedoch wiederum die Vielfältigkeit und Verschiedenartigkeit der übersetzten und veröffentlichten Dramen nicht wieder.2 Es liegen seit Jahren Buchausgaben ausgewählter Stücke vor, sowohl von Gotthold Ephraim Lessing (1959), Friedrich Schiller (1955, 1975), Johann Wolfgang Goethe (1954, 1983, 1984), Heinrich von Kleist (1969, 1970), Georg Büchner (1956) und Frank Wedekind (1981), als auch von Bertolt Brecht (1962, 1976) und Friedrich Dürrenmatt (1972). 1980 wurde auch eine zweibändige Anthologie der DDR-Dramen veröffentlicht. Weitere Theatertexte von Gegenwartsautoren wurden regelmäßig in der seit 1956 monatlich erscheinenden Theaterzeitschrift Dialog publiziert, die sich auf das Gebiet der modernen Dramaturgie, des Hörspiels, auch auf Film- und Fernsehszenarien spezialisiert hat. D/a/og-Redakteure versuchten dabei nicht nur, zeitgenössische Dramentexte zu besprechen und zu veröffentlichen, sondern sie bemühten sich auch darum, die auffallendsten Lücken in der Dramaturgie der Vorkriegsjahre zu schließen (hier wurde z.B. Tollers Hoppla, wir leben! und Sternheims Der Snob veröffentlicht). Nur wenigen von den auf diese Weise zugänglichen Texten - was leider keinesfalls gleichbedeutend mit den auf dem höchsten künstlerischen Niveau befindlichen oder für das polnische Publikum interessantesten Stücken war - wurde die Aufmerksamkeit der Theatermacher geschenkt. Und eben diese einmal eingeführten Dramen kehrten und kehren immer wieder auf die polnischen Bühnen zurück. Die anderen sind meistens nach dem Erstdruck in Vergessenheit geraten. Hier kann Heiner Müller als Musterbeispiel dienen. Schon Ende der 70er Jahre hat Jacek St. Buras damit begonnen, Müller-Dramen zu übersetzen, darunter Philoktet, Der Auftrag, Bildbeschreibung und Quartett. Seine hervorragenden Übersetzungen sind zwar fast alle in Dialog veröffentlicht worden, wurden aber bis heute nicht aufgeführt. Nur Philoktet und Verkommenes Ufer 2
In diesem Beitrag werden nur Auffiihrungen auf Bühnen des professionellen Theaters berücksichtigt. Als wichtigste Informationsquelle für die Spielzeiten von 1959/60 bis 1989/90 dienten den Autorinnen die jährlich publizierten Bände des Almanach Sceny Polskiej.
Die Rezeption des deutschsprachigen Dramas und Theaters
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Medeamaterial Landschaft mit Argonauten hat man einmal im Warschauer Studio-Theater inszeniert, wobei beide Aufführungen sehr negativ aufgenommen wurden, sowohl von der Theaterkritik als auch von den wenigen Zuschauern, welche die Vorstellungen besucht haben. Auch die jüngsten Vorschläge junger Regisseure, ein Drama von Müller oder Schwab zu inszenieren, stoßen ständig auf heftigen Widerstand von Theaterdirektoren und Schauspielern. Vieles spricht dafür, daß dieser starke Widerstand und die auffallende Ungleichheit zwischen der Zahl der veröffentlichten und der Menge der gespielten Dramen durch einen Mangel sowohl an informativen wie auch interpretativen Materialien verursacht wurde und wird. In Polen ist bis jetzt kaum eine vollständige und zuverlässige Monographie über die neueste Geschichte des Dramas und des Theaters in den deutschsprachigen Ländern vorhanden. Die einzige Informationsquelle zum modernen Theater bis 1925 bleibt das 1926 verfaßte und dann 1959 ins Polnische übersetzte Buch von Julius Bab, Das Theater der Gegenwart. Deswegen sind auch alle Studenten und Interessierten, die nicht über gute Deutschkenntnisse verfugen, vor allem auf die Sekundärliteratur der Vorkriegsjahre angewiesen, was besonders etwa im Fall des Theaters von Richard Wagner und seiner Konzeption des Wort-Ton-Dramas von Nachteil ist. Auch das Theater von Max Reinhardt wurde erst vor zwei Jahren in einem Zeitschriftenaufsatz vollständig besprochen.3 Außerordentlich lückenhaft war und ist das Bild des deutschsprachigen Theaters, wie es dem polnischen Publikum in Berichten, Besprechungen und Kritiken dargeboten wurde und wird. Man sollte hier eigentlich nicht mehr über Lücken sprechen, sondern das, was überliefert wurde, eher als lauter Einzelfälle ohne alle Zusammenhänge und ohne klare Auswahlkriterien bezeichnen. Viel Gutes hat in dieser Hinsicht dennoch die schon erwähnte Monatsschrift Dialog mit ihrer Rubrik Kronika geleistet, in der über wichtigere Ereignisse auf den Weltbühnen berichtet wird. Weniger informativ war bis jetzt zu diesem Thema die zweite, 1946 gegründete Theaterzeitschrift Teatr, die den polnischen Bühnen mehr Aufmerksamkeit schenkte. Seit kurzem berichten über internationale Theatergeschehnisse, Festivals, alternative Bewegungen etc. - unter spezieller Berücksichtigung der Nachbarländer und immer eingehender - zwei neue Zeitschriften, die Breslauer Vierteljahresschrift Notatnik teatralny und die Krakauer Monatsschrift der Theaterwissenschaftsstudenten, Didaskalia. In Dialog konnte man von Anfang an auch ausfuhrlichere Aufsätze zu deutschsprachigen Autoren und Regisseuren finden. In den 50er und 60er Jahren haben sich jedoch die D/a/og-Redakteure mehr darum bemüht, 3
Vgl. Roman Taborski: Max Reinhardt - wielki 'eklektyk' teatralnej reformy. In: Pamiçtnik Teatralny 1995, H.
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Maigorzata Leyko /Maigorzata Sugiera
jedes veröffentlichte Drama sowohl mit wichtigen Informationen zum Autor und dessen künstlerischem Hintergrund als auch mit kritischen Analysen und Interpretationsvorschlägen von polnischen Kritikern zu versehen. Die begleitenden Aufsätze waren deswegen gewöhnlich nicht nur erkenntnisstiftend, sondern sie erleichterten dem polnischen Leser auch den Zugang zum fremden Drama durch Vergleiche mit der eigenen Literatur und der eigenen Theatertradition. Später aber wurden solche Aufsätze immer seltener, zudem sie meist auch nicht von polnischen Theaterwissenschaftlern und -kritikern verfaßt wurden. Sehr oft wurde z.B. nur Vor- oder Nachwort zur Originalausgabe des publizierten Dramas übersetzt, was gleichzeitig bedeutete, daß in diesem Fall dem polnischen Leser bzw. Theatermacher kein Versuch einer Überbrückung der Kluft zwischen zwei Kulturen geboten wurde, und das Fremde wurde dann meistens nicht akzeptiert, da es unverständlich war, und eben deswegen wurde es auch nicht rezipiert. Sehr selten waren in der besprochenen Periode Gastspiele der bedeutenden Ensembles aus den deutschsprachigen Ländern, die dem polnischen Durchschnittszuschauer die charakteristischen Merkmale der fremden Schauspiel- und Regiekunst näher bringen konnten. In Polen haben vorwiegend Theatergruppen aus der DDR gastiert, entweder so berühmte Berliner Bühnen wie das Berliner Ensemble und das Deutsche Theater oder eher durchschnittliche Truppen, die im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Grenzgebieten oder Partner-Städten auftraten. In den 60er Jahren lassen sich, neben den ca. 15 Gastspielen aus der ehemaligen DDR, nur drei Gastspiele aus den übrigen deutschsprachigen Ländern nennen: 1964 hat in Krakau und 1967 in Warschau das Wiener Burgtheater, 1968 in Warschau das Schauspielhaus aus Essen gastiert. Ende der 70er Jahre sah die Situation einigermaßen besser aus, aber immer noch konnte man in Polen kaum die berühmten und weltbekannten Inszenierungen des deutschsprachigen Theaters sehen. Sie waren normalerweise auch nur für eine sehr geringe Zahl von Zuschauern zugänglich. Zu den wichtigeren Ereignissen darf man vor allem das Gastspiel der Schaubühne am Halleschen Ufer zählen, mit Marieluise Fleißers Pioniere in Ingolstadt in der Regie von Peter Stein, und zwar im Rahmen des Festivals der Nationen in Warschau (1975), sowie das Gastspiel des Württembergischen Staatstheaters aus Stuttgart mit Kleists Käthchen von Heilbronn und Goethes Iphigenie auf Tauris (1979), beide in der Inszenierung von Claus Peymann. Die zuletzt genannten Aufführungen fanden im Rahmen der Tage des BRD-Theaters und -Films in Warschau statt. Ende der 70er Jahre sind auch die Kontakte zwischen den deutschen und den polnischen studentischen und alternativen Theatergruppen zahlreicher und enger geworden. Es gastierten in Polen immer öfter Opern- und Ballettheater, es
Die Rezeption des deutschsprachigen Dramas und Theaters
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wurden auch mehr Regisseure, Bühnenbildner und Dirigenten für eine Zusammenarbeit an polnische Bühnen eingeladen, was sich sehr gut durch die damalige politische Entspannung erklären läßt. In der Vergangenheit waren die Verhältnisse zwischen der polnischen und der deutschen Kultur immer von der jeweiligen politischen Situation abhängig. Auch im Felde der Theatergeschichte sind viele Beispiele der Faszination und der Akzeptanz einerseits, der Ablehnung und des Widerstands anderseits, zu nennen. Als man 1877 in Lodz, in der damals polnisch-deutsch-jüdischen Stadt, die Eröffnung des ersten Theaterhauses für polnische Truppen feierte, wurden auf dem Vorhang 'im Wiener Stil' neben dem Porträt des Vaters der polnischen Nationaloper, Stanislaw Moniuszko, auch Büsten von Mozart, Schiller und Goethe gezeigt, die als Zeichen einer übernationalen Funktion des Theaters fungierten. Als aber 1912 Max Reinhardt mit seiner weltberühmten König ÖcÄpz/s-Inszenierung nach Warschau kam, versuchte die polnische Presse, das „preussische Theater" mit einem Boykott zu belegen - als einer Art Protest gegen die jüngsten Kolonisationsaktionen in Großpolen. Ungeachtet der Politik blieb die deutsche und die österreichische Avantgarde der Jahrhundertwende und der Vorkriegsjahre für polnische Theatermacher immer im Zentrum des Interesses. Dies gilt sowohl in bezug auf die radikalen Pläne der Theaterreform von Stanislaw Wyspianski oder die modernistischen Dramen von Stanislaw Przybyszewski, wie auch für die symbolistischen Dramen von Tadeusz Micinski und die Inszenierungen des ehemaligen Regieassistenten von Max Reinhardt, Ryszard Ordynski. Niemand hat aber während der Vorkriegsjahre so viel für die Rezeption des deutschsprachigen Dramas in Polen getan wie Leon Schiller,4 der z.B. als erster Die Dreigroschenoper (1929) auf die Bühne gebracht hat. Man wird auch ohne größere Schwierigkeiten vielfaltige Spuren der theatralen Aus- und Weiterbildung an Bühnen Berlins, Münchens oder Wiens nachweisen können. Hier sind so bedeutende Theaterleute wie Wilam Horzyca, Ivo Gall, Edmund Wiercmski, Juliusz Osterwa oder Franciszek Siedlecki zu nennen. Die Jahre des Zweiten Weltkriegs haben die Situation selbstverständlich verändert, da nicht nur im Theater die deutschsprachige Kultur und Literatur eher ein Tabu war. Obwohl kein eindeutiges Verbot gegen Inszenierungen deutschsprachiger Texte erlassen wurde, erhielten alle Theaterintendanten strenge Anweisung, alle Dramen zu vermeiden, deren Inhalt oder Autoren schmerzliche Erinnerungen bei Zuschauern erwecken könnten. Erst 1949 hat 4
Vgl. J. Timoszewicz: Leon Schiller und die deutschsprachige Kultur. In: Theatrum Europaeum. Festschrifl fttr Elida Maria Szarota. Hrsg. von Richard Brinkmann. München 1982, S. 537-547.
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Maigorzata Leyko /Maigorzata Sugiera
Leon Schiller in Lodz in seinem Theater der Polnischen Armee den Zerbrochenen Krug von Heinrich von Kleist aufgeführt. Ein Jahr später hat einer seiner Studenten in der Schauspielschule Clavigo von Goethe für seine Diplom· Aufführung gewählt. Auf diese Art und Weise, durch Inszenierungen romantischer Dramen und solche aus der Sturm-und-Drang-Periode, wurde das deutschsprachige Drama schrittweise wieder in das Repertoire des polnischen Theaters aufgenommen. Am Anfang hat man vor allem Stücke von Friedrich Schiller inszeniert. Seine beiden Dramen Kabale und Liebe und Don Carlos gehörten in der ersten Hälfte der 50er Jahre zum Spielkanon fast jeden Theaters. Erst Anfang der 60er Jahre wurde auch Maria Stuart verhältnismäßig viel gespielt. Während viele Inszenierungen der Stücke von Schiller von Theaterkritikern als Meisterwerke der schauspielerischen Kunst gefeiert wurden, boten die Dramen von Goethe eher eine Herausforderung für berühmte polnische Regisseure. Goethes Faust wurde u.a. von Jerzy Grotowski (I960),5 Mieczyslaw Kotlarczyk (1965) und Józef Szajna (1971) inszeniert, und dank der hervorragenden Iphigenie auf Faum-Inszenierung von Erwin Axer (1961) wurde dieses Drama für ein ganzes Jahrzehnt in den Spielkanon aufgenommen. Es läßt sich dagegen im Repertoire der Nachkriegsjahre kaum eine Spur von Kleist- und Lessing-Stücken finden. Ungeachtet dessen muß aber bestätigt werden, daß das sog. Drama der deutschen Klassik eine wichtige Rolle bei der Überwindung von Rezeptionsblockaden während des ersten Jahrzehnts nach dem Krieg gespielt hat. Erst in den 70er und 80er Jahren wurde es seltener aufgeführt, was sich sehr gut durch ein besseres Angebot an modernen Texten erklären läßt. Die allerletzte Dekade zeigt aber alle Anzeichen einer Renaissance der deutschen Klassik, vor allem wegen neuer Übersetzungen, die - jenseits traditioneller und kanonischer Lesarten - neue Bühneninterpretationen ermöglichen, die besser zu den Wahrnehmungsgewohnheiten des jüngeren Publikums passen. Dies bezeugen am besten die neusten Kleist-Inszenierungen von Jerzy Jarocki und Henryk Baranowski, welche die Dramen - die in älteren Versübersetzungen kaum mehr verständlich waren - in einer neuen polnischen Version von Jacek St. Buras auf die Bühne brachten. Beide Regisseure hatten damit großen Erfolg. Der sozialistische Realismus, der in den Jahren 1949-1956 auf den Bühnen herrschte, bevorzugte natürlich die propagandistischen Stücke. Von den deutschsprachigen Autoren eignete sich für Propaganda-Zwecke eigentlich nur das Schaffen von Friedrich Wolf, dessen Dramen in Polen schon vor dem Krieg gespielt wurden. Friedrich Wolf war in den Jahren 1950-51 als erster 5
Die Premiere fand am 13.04.1960 in Teatr Polski in Poznañ statt. Grotowski inszenierte in seinem Theater Laboratorium 13 Rzçdôw am 23.04.1963 darüber hinaus das Faust-Thema nach Christopher Marlowes' The Tragical History of Dr. Faustus.
Die Rezeption des deutschsprachigen Dramas und Theaters
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Botschafter der DDR in Polen tätig und feierte gleichzeitig große Erfolge als Bühnenautor - mit Stücken wie Tai-Yang erwacht, Bürgermeister Anna und Die Matrosen von Cattaro. Diese Dramen wurden auf den Bühnen mehrerer Theater gespielt. Naturgemäß verschwanden sie nach 1956 völlig aus dem Repertoire. Das DDR-Drama hat seitdem (mit Ausnahme Brechts) niemals wieder so viel Platz auf den polnischen Bühnen erobern können wie in den Jahren 1950-51. In den Jahren 1960-1990 machte es im Spielplan des professionellen Theaters nur 10% aller deutschsprachigen Stücke aus. Außer den populärsten Dramen der 70er Jahre, Stücken von Peter Hacks {Polly oder
die Bataille am Bluewater Creek, Adam und Eva, Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe) wurden vereinzelt Stücke von Rolf Schneider, Rudi Strahl und Ulrich Plenzdorf aufgeführt. Es ist dabei sehr unwahrscheinlich, daß nach 1956 in dieser Hinsicht Theaterdirektoren oder Regisseure irgendwelchen politischen Forderungen nachgeben mußten. Zwar wurden jährlich sog. Wochen der DDR-Kultur unter Teilnahme des Theaters veranstaltet, doch waren die Vorschriften zum prozentualen Anteil von DDR-Dramen im Repertoire jeder Bühne niemals so zwingend wie im Fall der russischen bzw. sowjetischen Literatur. Den wahren Durchbruch in den 50er Jahren verdankt das polnische Theater zwei deutschsprachigen Autoren: Bertolt Brecht und Friedrich Dürrenmatt. Sie haben nicht nur eine weitere, anhaltende Rezeption deutschsprachiger Dramen ermöglicht, sondern auch bei der Transformation der polnischen Bühnen vom sozialistischen Realismus der ersten Nachkriegsjahre zu einem modernen Inszenierungstheater so entscheidend mitgeholfen, daß es gerecht wäre, über einen 'polnischen Brecht' und einen 'polnischen Dürrenmatt' zu sprechen.6 Die ersten Übersetzungen von Brecht-Dramen wurden schon 1948 veröffentlicht, jedoch auf keiner Bühne gespielt. Obwohl deren Autor zu den ideologischen Mitdenkern zählte, wurde sein Schaffen seitens der Theaterkritik als zu kleinbürgerlich und formalistisch angesehen. Dies bezeugt am besten eine heftige Pressedebatte des Jahres 1952, anläßlich von Gastspielen des Berliner Ensembles in Warschau. Es ging damals nicht nur darum, Brechts Oeuvre neu interpretieren und inszenieren zu dürfen, sondern auch darum, mehr künstlerische Freiheit bei der Gestaltung des Repertoires und mehr Unabhängigkeit von den politischen und propagandistischen Zwecken der regierenden kommunistischen Partei zu erkämpfen. Kurz danach, 1954, wurden die ersten Dramen von Brecht inszeniert, die sowohl den 6
Vgl. hierzu die Beiträge von M. Leyko: Der gewollte und der ungewollte Brecht. S. 6176 und von S. Tryc: Friedrich Dürrenmatt auf den polnischen Bühnen. Mit allgemeinen Bemerkungen zur Rezeption fremdsprachiger Theaterwerke in Polen 1945-1989. S. 77-97.
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Matgorzata Leyko /Matgorzata Sugiera
Weg für das Drama der polnischen Romantik, der Pariser Avantgarde und für das Schaffen von Gombrowicz und Witkiewicz unmittelbar vorbereitet, als auch verschiedenartige Experimente im Bereich der Schauspielkunst und des Bühnenbildes ermöglicht haben. Man darf sich also nicht wundern, daß in den 60er Jahren Brechts Stücke zu den meistgespielten und populärsten zählten. Der von Brecht gebahnte Weg wurde danach von Regisseuren dazu benutzt, dem polnischen Publikum Dürrenmatts Stücke näherzubringen. Die Dramen von Dürrenmatt haben aber insofern eine besondere Stelle im Repertoire gefunden, als sie die Welt und die Geschichte aus einer mehr neutralen Perspektive darzustellen wußten, als dies bei Brecht geschah. Nach der polnischen Uraufführung des Besuchs der alten Dame (1958 in Lodz) hat der schweizerische Autor so rasch Karriere gemacht, daß er nicht nur häufiger als Brecht gespielt wurde, sondern er wurde den polnischen Schriftstellern in den damaligen Kritiken - auch als Vorbild vorgeführt. Das geschah eben deswegen, weil sein Schaffen ein hochwillkommenes Gleichgewicht zwischen der Tradition und der Avantgarde gefunden hatte. Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, daß Max Frisch, dessen Dramen nahezu zeitgleich mit denjenigen Dürrenmatts aufgeführt wurden, niemals so viel Erfolg erreicht hatte wie sein Landsmann. Als wir in Polen Friedrich Dünenmatt gespielt haben, wurden auch Dramen von Sartre, Frisch, Behan und Giraudoux inszeniert [...]. Dürrenmatt hat damals seine zweite Theaterheimat eben in Polen gefunden. Er wurde hier öfters und auch besser inszeniert als woanders in Europa. [...] Das war damals auch ein ausgezeichnetes Publikum, das an Dürrenmatts Stücken erzogen worden war.
So erinnerte sich noch vor ein paar Jahren - nicht ohne eine gewisse Nostalgie - einer der bedeutendsten Theaterkritiker Polens, Jerzy Koenig.7 Dem großen Erfolg von Brecht und Dürrenmatt folgend, wurde dem deutschsprachigen Drama immer mehr Platz im Repertoire der 60er Jahre geschenkt. Insgesamt hat man in den Jahren 1960-90 auf den polnischen Bühnen Stücke von über 80 Autoren (ca. 180 Dramen und Prosabearbeitungen) aus beiden Teilen Deutschlands, aus Österreich und der Schweiz aufgeführt. Am Anfang wurden, neben Brechts und Dürrenmatts Dramen, diejenigen Texte bevorzugt, die im vorigen Jahrhundert und um die Jahrhundertwende geschrieben worden sind, vor allem Stücke von Georg Büchner, Frank Wedekind und Gerhart Hauptmann. Dem Publikum haben jedoch die unterhaltsamen Komödien von Johann Nestroy und der in jeder Spielzeit 7
J. Koenig in: Gazeta Wyborcza 1990, Nr. 293.
Die Rezeption des deutschsprachigen Dramas und Theaters
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anwesende Raub der Sabinerinnen von Franz Schönthan viel besser gefallen. Sehr selten wurde dagegen das expressionistische Drama gespielt (Carl Sternheim, Ernst Toller, Georg Kaiser) und eben deswegen ist es bis heute dem breiten Publikum völlig unbekannt geblieben. Die neueste westdeutsche Dramatik wurde eher schrittweise auf die polnischen Bühnen gebracht, vor allem deswegen, weil es hier an bedeutenden, Brecht oder Dürrenmatt ranggleichen Stücken, mangelte. Man hat zwar sowohl Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür, Rolf Hochhuths Der Stellvertreter, Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer, Wolfgang Hildesheimers Mary Stuart, wie auch Die Ermittlung und Marat/Sade von Peter Weiss und die Publikumsbeschimpfung und Kaspar von Peter Handke einmal oder zweimal aufgeführt, die Aufführungen sind jedoch ohne jegliche Wirkung und Bedeutung geblieben. Wie schon angedeutet, war in den meisten Fällen die szenische Laufbahn eines deutschsprachigen Autors oder eines deutschsprachigen Textes nicht von seinem Rang in Deutschland, Österreich oder in der Schweiz abhängig, sondern eher vom Erfolg seiner polnischen Erstaufführung. In den letzten Jahren bestätigt dies am besten die enorme Popularität des Schaffens von Tankred Dorst, das dem breiteren Publikum vor allem dank des hervorragenden Tadeusz Lomnicki in der Titelrolle der Inszenierung von Ich, Feuerbach bekannt wurde. Ein weiteres Beispiel läßt sich nennen, diesmal aber von einem Autor, der sehr lange auf seine Bühnenkarriere in Polen warten mußte, obwohl Übersetzungen seiner Stücke und Prosawerke längst veröffentlicht und auch ziemlich gut bekannt waren. Es geht um Thomas Bernhard, dessen zwei von Erwin Axer in Warschau inszenierten Dramen (Ein Fest für Boris, 1976 und Der Theatermacher, 1980)8 völlig unbemerkt im Repertoire erschienen und bald wieder verschwunden waren, und dem erst in den 90er Jahren die Krakauer Inszenierungen von Krystian Lupa zum Durchbruch verholfen haben. In diesem Zusammenhang muß auch darauf hingewiesen werden, daß polnische Theatermacher mit einer gewissen Vorliebe deutschsprachige Erzählungen und Romane fürs Theater adaptiert haben. Vielleicht konnten sie für das polnische Publikum mehr interessante Materialien und Problemstellungen in dieser Art von Literatur finden als in Dramen. Nahezu zeitgleich mit dem französischen Theater des Absurden wurden zahlreiche Bearbeitungen von Prosawerken von Franz Kafka inszeniert (vor allem Der Prozeß, Das Schloß, aber auch Bericht für eine Akademie, Strafkolonie und Hungerkünstler). Immer wieder waren und sind 8
Zu Ein Fest fiir Boris vgl. den Beitrag von Barbara Surowska: Deutsche Dramatiker fur die polnische Bühne. Theaterübersetzungen - Gerhart Hauptmann, Ivan Göll, Thomas Bernhard. S. 275-282.
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Malgorzata Leyko /Matgorzata Sugiera
auch Texte von Thomas Mann, Heinrich Boll und Robert Musil für polnische Bühnen bearbeitet worden. In den letzten Jahren ist vor allem Krystian Lupa mit großem Erfolg zu Musils Romanen zurückgekehrt. Ähnlich viel Erfolg haben ihm seine Bearbeitungen von Hermann Brochs Prosa eingebracht. Die in diesem Band veröffentlichten Beiträge setzen sich nur mit einigen der oben angesprochenen Probleme und Fragestellungen auseinander. Es mag deutlich geworden sein, daß über die Rezeption des deutschsprachigen Dramas und Theaters nach 1945 in Polen, wie über die polnisch-deutschen Theaterverhältnisse überhaupt, in diesem Zeitraum viel weniger recherchiert worden ist als nötig gewesen wäre. Hier ging es vorrangig darum aufzuzeigen, welche Rolle polnische Übersetzer und Regisseure, Gastspiele und Theaterzeitschriften, wie etwa Dialog, für die Rezeption des deutschsprachigen Dramas gespielt haben bzw. gespielt haben dürften. Es wurde auch nach der auffallenden Kluft zwischen der Zahl und Vielfalt der veröffentlichten Dramen und der Armut des Spielkanons sowie dem Widerstand der Regisseure gegen alle Neuheiten gefragt. Alle Anworten haben einstweilen vorläufigen Charakter, sie müssen erst durch weitere Forschungen bestätigt werden. Sie sind, das sei nochmals betont, nur auf dem Gebiet des professionellen Schauspieltheaters relevant. Es fehlen nicht nur Informationen und Angaben bezüglich der alternativen und studentischen Theatergruppen. Es wurde auch kaum ein Wort zum Thema der Rezeption des deutschsprachigen Dramas im Felde von Opern-, Musik-, Puppen- und Tanztheater gesagt. Erst wenn diese Bühnen- bzw. Spielgenres gründlich untersucht werden, wird man gerecht über verschiedenartige Rezeptionsblockaden und deren mögliche Ursachen sprechen dürfen. Und eben diese Problemstellungen sollen und werden in näherer Zukunft, bei dem geplanten nächsten deutsch-polnischen Theaterkolloquium, ein zentrales Thema sein.
Hans-Peter Bayerdörfer
Prinzen, Prinzessinnen, Mannequins1 Polnisches Theater in der Bundesrepublik Deutschland seit Beginn der siebziger Jahre
1. Rezeption ist bekanntlich nicht gleich Rezeption. Gilt dies in einem vage-allgemeinen Sinne für alle Arten von kulturellem Transfer, so besonders für das vielfältige, vielfarbige und vielschichtige Gebilde Theater. Wie man weiß, haben die verschiedenen Regelkreise der Rezeption, die sich dabei herausbilden, oft kaum noch miteinander zu tun. Nur bedingt lassen sich übergeordnete Gesichtspunkte finden, wenn man etwa daran denkt, in welch unterschiedlichen Zusammenhängen sich internationale Tanztheater- und Musiktheaterrezeption bewegt, wobei die erstere wieder unterschiedliche Stränge vom klassischem Ballett bis zum neustem Bewegungstheater aufweist und die letztere sich in mehrere Zweige, von der Oper bis zum Musical, unterteilt. Eine solche Binnendifferenzierung hat sich in den letzten Jahrzehnten auch in demjenigen Bereich vollzogen, den man global als 'Schauspieltheater' bezeichnet. Das Theater, das sich weiterhin am literarischen Drama als Vorgabe orientiert, bildet dabei andere Einfluß- und Übernahmesphären aus als dasjenige, das auf die literarische Bindung verzichtet und entweder ein gleichsam 'autonomes' Bühnenwerk zum Ziele hat oder die innovativen Leistungen von Regie und Bühnengestaltung zum Kriterium seines künstlerischen Anspruchs erhebt, und zwar gleichgültig ob dies auf der Basis traditioneller oder neuerer Textvorgaben geschieht. Nahezu völlig ausgegliedert ist die Eigenwelt von Performance und Happening, die freilich ihrerseits weitgehend festen Status in der Theaterkultur gefunden hat. 1
Die im Titel genannten Rollen des modernen polnischen Theaters dürften in der Rezeption in der Bundesrepublik gleichsam emblematische Bedeutung für das Verständnis von dessen Ästhetik gewonnen haben: Jerzy Grotowskis Inszenierung des Standhaften Prinzen von Calderon/Slowacki, Witold Gombrowicz's Ivonne, Prinzessin von Burgund, sowie die Figuren aus Bruno Schulz' Traktat über die Mannequins oder das Zweite Buch Genesis, die seit vielen Jahren auf den Bühnen ihr vielgestaltiges und provokatives Wesen getrieben haben, ehe sie in Zbigniew Rudzinskis Kammeroper Manekiny direkt unter ihrem Schulz'schen Namen auftraten
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Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist, daß sich in den verschiedenen 'Regelkreisen' die internationalen Vergleichs- und Wertungsgesichtspunkte intern ergeben: so wird etwa Robert Wilson mit Robert Lepage in Verbindung gebracht, oder Ariane Mnouchkine mit Peter Brook, auf anderer Ebene etwa David Mammet mit Yasmina Reza, Slawomir Mrozek mit Eugène Ionesco. Nur selten aber kommt es zu Vergleichen quer über die 'Regelkreise' hinweg, etwa unter dem Gesichtspunkt, daß die in Erwägung stehenden Theaterkünstler und Dramatiker demselben Sprach- und Kulturkreis entstammen, aus dem die Werke des einen wie des anderen transferiert worden sind. Der Gesichtspunkt einer nationalkulturellen Zusammengehörigkeit tritt völlig zurück gegenüber der auf allen Ebenen sich vollziehenden Internationalisierung der Theaterbeziehungen. Diese Differenzierung der Rezeptionssphären ist auch im Verhältnis zwischen Polen und den deutschsprachigen Ländern zu beobachten. Kaum findet man Namen wie Ireneusz Iredynski oder Stanislaw Grochowiak in ein und demselben Artikel zusammen mit Józef Szajna oder Tadeusz Kantor genannt, so getrennt scheinen die Rezeptionsbahnen zu verlaufen, auf welchen die literarisch-dramatische und die rein theatrale Bühnenkunst ihren Weg in die benachbarten Länder nehmen. Daß hierbei auch die jeweils angelagerten Bereiche künstlerischen Schaffens, die über das Theater hinausfuhren, ihren eigenen Regeln der Rezeption folgen, liegt auf der Hand: auf der einen Seite stehen die literarische Lesekultur und der Buchmarkt, auf der anderen die bildende Kunst und der Film, die auf eigenen Wegen die Länderund Sprachgrenzen überschreiten. Was im polnisch-deutschen Verhältnis freilich noch hinzukommt, sind unterschiedliche Gewichte, die aus politischen und historischen Gründen die differente Rezeption noch stärker akzentuieren. So ist in der DDR die Dominanz der literarisch-dramatischen Seite ganz offensichtlich, während in der Bundesrepublik und Österreich die a-literarischen Bühnen eine größere Rolle spielen. Hier wirkt sich die Westeinbindung unmittelbar aus, da sich Theaterinteressen artikulieren und durchsetzen, wie sie gleichzeitig in Frankreich oder Italien, sowie in den Vereinigten Staaten zutage treten. Im Osten hingegen sind die grenzüberschreitenden Wirkungen in anderer Weise bestimmt, weil das literarische Substrat überwiegend in Gestalt der dramatischen Texte die Maß-Regel für die Bühnen bleibt. Zeichnen sich unter diesem Gesichtspunkt zwar unterschiedliche Entwicklungen zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands ab, so gibt es dennoch natürlich auch in der Bundesrepublik wie in Österreich die Auseinandersetzung der Bühnen mit dem dramatischen Schaffen polnischer Autoren, die in unterschiedlichem Maße rezipiert und inszeniert werden. Auf der
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Ebene der literarisch-dramatischen Rezeption sind daher direkte Vergleiche zwischen West und Ost durchaus möglich und aufschlußreich. Einschlägige Forschungsbefunde liegen denn auch seit geraumer Zeit vor, die im folgenden in Erinnerung zu rufen und zu präzisieren sind, ehe die Fragen gestellt werden, wie sich die literarische Buch- zur Bühnenrezeption der Stücke verhält. Es ist offenkundig, daß im letzten Bereich die Forschung weniger Vorleistungen erbracht hat, und dies gilt noch mehr, wenn man der Frage nach der Rezeption des a-literarischen Theaters der Polen in Deutschland weiter nachgehen will.
2.1. In ihrem Bericht über die „Aufnahme der polnischen Literatur in Deutschland", den sie aus Anlaß der Leipziger Buchmesse des Jahres 1996 schrieb, erinnert Marta Kijowska unter der Leitfrage „Fremder Nachbar?"2 an ein Programm von Otto Forst de Battaglia von 1930, das vorsah, durch systematische Übersetzungsarbeit die polnische Literatur in den deutschsprachigen Ländern und in ganz Europa zugänglich zu machen. Dieses Programm ist in der Nachkriegszeit weitgehend realisiert - wie nicht nur Kijowska feststellt, sondern eine Reihe von weiteren Gewährsleuten,3 allen voran Karl Dedecius4 und Heinz Kneip, sowie Doris Lemmermeier und Brigitte Schultze, die die Geschichte der „polnisch-deutsche(n) Dramenübersetzung" seit 1830 nachgezeichnet haben.3 Qualitätvolle Anthologien liegen vor, die polnische Literatur ist nach Quantität und ästhetischem Rang gut vertreten,6 die Lesebücher 2 3
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Süddeutsche Zeitung, 27.03.1996. Ich orientiere mich im folgenden an den einschlägigen Artikeln des 1988 vom Deutschen Polen-Institut Darmstadt verantworteten Berichts: Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945¡985, hrsg. von Heinz Kneip und Hubert Orlowski. Vgl. die resümierende Beurteilung von Karl Dedecius: „Polen ist literarisch in der Bundesrepublik zugegen", zit. nach H. Kneip: „Bollwerke gegen die Barbarei der Geschichte...". Polnische Literatur in der Bundesrepublik. In: Die Rezeption der polnischen Literatur (Anm. 3), S. 16. Doris Lemmermeier/Brigitte Schultze (Hrsg.): Polnisch-deutsche Dramenübersetzung 1830-1988 (=Mainzer Slavistische Veröffentlichungen. Bd. 14). Mainz 1990. „In Anbetracht der in der bundesdeutschen Liste der meist übersetzten Autoren erscheinenden Namen ist man versucht festzustellen, daß die polnische Gegenwartsliteratur hier nicht nur präsent, sondern auch angemessen vertreten ist", zit. nach H. Kneip: „Bollwerke gegen die Barbarei..." (Anm. 4), S. 32.
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der Schulen bieten entsprechende Textvielfalt an,7 die „translatorische und verlegerische Leistung" hat „eine breite Schneise durch ein Dickicht von Vorurteilen und Ressentiments geschlagen, um durch die Botschaft der Bücher einem authentischen Nachrichtenfluß über das Leben der Menschen im Westen des Ostens [...] den Weg zu bahnen", und diesen nicht nur in die Buchhandlungen Deutschlands und Österreichs, sondern auch weiter nach Westeuropa.8 Diesem Resümee wäre im Grunde nichts hinzuzufügen, außer der Frage, ob es sich, wie im Buch und der literarischen Übersetzung, auch auf den deutschen Bühnen mit der Kultur des „fremden Nachbarn" so verhält. Doch fugt die Berichterstatterin von 1996 selbst eine Bemerkung hinzu, die das Verhältnis von Angebot und tatsächlicher Nachfrage betrifft: von einem „durchschlagenden Erfolg" beim Leser könne wohl nicht die Rede sein,9 und - wie mit Seitenblick auf die Salzburger Aufführung von Stanislaw Wyspiañskis Wesele von 1993 ergänzt wird - wohl auch nicht beim Zuschauer und auf der Bühne. Zur Erklärung dieser Diskrepanz zwischen quantitativ vielseitigem, sowie qualitativ überzeugendem Angebot und eingeschränkter Resonanz bietet die Rezensentin dann eine Reihe von Gesichtspunkten an. Ist diese Literatur „wegen ihres Themenkreises und Symbolgehaltes, wegen ihrer Vorliebe für verschlüsselte Wortspiele und ihrer spezifischen Art von Humor" für den deutschen Rezipienten so schwer zugänglich?10 Was damit in Betracht gezogen wird, enthüllt sich bei genauem Zusehen als ein Ensemble von geradezu klassisch zu nennenden Rezeptionsblockaden: historischsoziale Bedingungen, die dem Fremden nicht bekannt sind, symbolische Ausdrucksebenen, die jenseits des originären Kulturkreises nicht verständlich sind, ein kulturell geprägtes Verhältnis zur Sprache, das seinerseits Befremden hervorruft, schließlich eine andere Art von Komik und Humor, die sich als nicht kommunizierbar erweisen. Insgesamt reichen die Gesichtspunkte vom Pol der politischen Geschichte zu dem der langfristig wirkenden religions· und geistesgeschichtlichen Mentalitätsentwicklung, in denen scharfe Differenzen zum deutschsprachigen Bereich zutage treten. Es liegt auf der Hand, daß im Rahmen dieser historischen Bedingungen gerade die Unter-
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„Im ganzen gesehen, kann sich die Liste der polnischen Autoren und der ausgewählten Gattungen in den populärsten bundesdeutschen Lesebüchern durchaus sehen lassen", urteilt Rrystyna Götz in ihrer Studie: Interkulturelle Erziehung. Polnische Literatur in den Schulen der Bundesrepublik. In: Die Rezeption der polnischen Literatur (Anm. 3), S. 230. H. Kneip: „Bollwerke gegen die Baibarei..." (Anm. 4), S. 33. M. Kijowska. In: Süddeutsche Zeitung, 27.03.1996. Ebd.
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schiede in der geistigen und religiösen Prägung der Kulturen ausschlaggebend geworden sind, die zentrale Rolle der katholischen Kirche Polens, von der Zeit der Teilung an bis zur Phase des Kriegsrechts ist dabei immer erneut zu bedenken. Unter mentalitätsgeschichtlichen Aspekten ist des weiteren zu überprüfen, daß sich, von Polen aus gesehen, zu den ehemaligen Teilungsmächten Preußen bzw. Österreich unterschiedliche Verhältnisse ergeben haben, deren Nachwirkung auch in den heutigen Nachfolgestaaten in Rechnung zu stellen ist. Nimmt man, im Blick auf die Nachkriegsjahrzehnte den Gesichtspunkt hinzu, welch unterschiedliches Verhältnis die jeweiligen zentralen religiösen Instanzen zu den Fragen und den Möglichkeiten nationaler Formation und politischer Selbstbestimmung - in Polen, in Österreich, in den beiden Teilen Deutschlands - eingenommen haben, so ergeben sich weitere rezeptions- und transferbestimmende Differenzen. Die unterschiedliche Situierung des Religiösen im kulturellen wie im politischen Diskurs schlägt dabei ebenso zu Buche wie die verschiedenen Wege, auf denen die intellektuellen Eliten ihre Beziehung zu den religiösen Traditionen, wie auch zu den Alternativreligionen der philosophischen und ideologisch-politischen Konzepte bestimmen. Das Blickfeld erstreckt sich also von kurzfristigen Veränderungen und Entwicklungen, die sich im politisch-sozialen Bereich, einschließlich der Programme und Ideologien abspielen, zur Langzeitwirkung vorbewußter Habitus und mentaler Prägungen, zwischen denen sich Kulturgeschichte formiert. Zwischen courte und longue durée ist auch der Rahmen abgesteckt, in dem sich Kulturtransfer ereignet. Mit diesen in eine historische Perspektive und eine korrespondierende methodische Fragestellung umformulierten Blockade-Gründen ist aber zugleich gesagt, daß man sich beim Versuch, die heutige Lage der Theaterbeziehungen zu kennzeichnen, einer einfachen alternativen Gesamtcharakterisierung von Vergangenheit und Gegenwart der Rezeption nicht zufrieden geben darf, wie sie mit Blick auf die Wende von 1989 vorgeschlagen wurde. Fast 45 Jahre lang - so bemerkt Kijowska - habe die politische Realität allenfalls eine durch „befremdende Exotik" motivierte Rezeption zugelassen. Nun aber sei „Normalität angesagt", und diese sei auch seit geraumer Zeit bereits wahrzunehmen, sofern man „falsche Maßstäbe" und d.h. „unrealistisch hohe Erwartungen" hinter sich lasse.11 Es ist unerläßlich nachzuprüfen, worin genau die Befremdung gelegen haben mag - zumal sich für einige Jahrzehnte die Rezeption polnischer Dramatik und polnischen Theaters im Osten und im Westen Deutschlands zeitweilig im Gegensinn, und das heißt, distributiv vollzogen hat. Und des weite11
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ren wäre zu erörtern, was „Normalität" besagt und ob sie - nach weniger als einem Jahrzehnt neuer historischer Gesamtzusammenhänge - bereits einen qualitativ neuen Status der kulturellen Beziehungen zu kennzeichnen vermag. Nach allen Mühen und Mißverhältnissen in den Annäherungsversuchen, die sich kulturell innerhalb des wiedervereinigten Deutschlands selbst immer wieder abzeichnen - von anderen Bereichen des Lebens in der Öffentlichkeit zu schweigen - besteht Anlaß, an einer bereinigten Normalität im kulturellen Verhältnis zum polnischen Nachbarn zu zweifeln, zumal auf deutscher Seite die östliche und die westliche Rezeption lange Zeit unterschiedliche Akzente gesetzt hat, deren Nachwirkung in Rechnung zu stellen ist. Eine Art 'Gegenprobe' läßt sich dann im Falle Österreich durchführen, das in seinem Verhältnis zu Polen zwar von der europäischen Wende, nicht aber direkt von der deutschen Teilung und Wiedervereinigung betroffen war. Letztlich läuft es auf die Frage hinaus, ob sich zwischen Österreich und Polen bereits in den Jahren zuvor 'Normalität' eingestellt und damit Kontinuität über die Jahre der Wende hinweg bewirkt hat.12
2.2.
Hinsichtlich der Dramen-Rezeption mag es an dieser Stelle genügen, die wichtigsten Befunde der bisherigen Forschung zu rekapitulieren, um den Problemhorizont zu umreißen, der in den neuen Beiträgen,13 zumal zur DDR-Rezeption, dann aus heutiger Sicht präzisiert wird. Ein dreiphasiger Rezeptionsverlauf in Nachkriegsdeutschland ist von D. Lemmermeier im Anschluß an die Studien von H. Kneip, D. Scholze und S. Bauer beschrieben worden.14 Mit den einzelnen Abschnitten deutsch-polnischer Nachkriegsgeschichte verbindet sich dabei eine Rezeptionsauswahl, die von der DDR einerseits und der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz andererseits, gemäß der politischen Polarisierung jeweils gegenteilig getroffen wird - ein Vorgang, der sich erst seit Mitte der 70er Jahre abschwächt, um langsam auflockernden und dann angleichenden Tendenzen Raum zu geben. 12
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Vgl. dazu auch den Beitrag von Anna Milanowski: Polnisch-österreichische Theaterwechselwirkungen nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1989. Eine Mentalitäts- und Wirkungsgeschichte. S.u. S. 46-57. Vgl. dazu Dietrich Scholze: Mrozek und Rózewicz in der Deutschen Demokratischen Republik. S.u. S. 204-215. Vgl. das Kap. von Doris Lemmermeier: Polnisch-deutsche Dramenübersetzung 19451988. In: Doris Lemmermeier/Brigitte Schultze (Hrsg.): Polnisch-deutsche Dramenübersetzung 1830-1988 (Anm. 5), S. 18-43.
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Die erste Phase von 1945 bzw. 1949 bis etwa 1956/57 ist durch eine gewisse Synchronie zwischen DDR und Polen im Zeichen des sowjetischen Realismus-Diktats15 gekennzeichnet, die zur Übersetzung und Aufführung einschlägiger dramatischer Œuvres in der DDR führte, desgleichen zur Rezeption älterer Dramatik,16 die mit dem Erbe-Begriff des Realismus in Einklang zu bringen war. In der Bundesrepublik werden in diesem Zeitraum so gut wie keine Dramen aus Polen rezipiert. Darunter fällt auch das gattungsgeschichtlich noch aus Vorkriegstraditionen sich speisende Zeitstück von Leon Kruczkowski, das in der DDR, auch aus ideologischen Gründen, hohe Konjunktur hat, im Westen aber unter das Verdikt des ideologischen Ausschlusses fällt. Für die Bundesrepublik bedeutet dies nicht nur, daß die Chance der aktuellen Außensicht Deutschlands aus Polen entfällt,17 sondern auch die Möglichkeit einer nuancierten Rezeption Kruczkowskis, die sich von der sozialistisch-realistischen Schematik der DDR abgehoben hätte. Mit dem Beginn der Entstalinisierung seit dem sog. 'polnischen Oktober' 1956 verkehren sich dann Nähe und Ferne. In der DDR kommt die Rezeption aufgrund der ideologischen Divergenzen nun fast zum Erliegen. Das Programm der Ausformulierung einer sozialistischen Nationalkultur der DDR fuhrt nun nach Westen wie nach dem polnischen Osten zu einer Abkapselung - wie alle forcierten Nationalprogramme. Und während hier etwa die Übersetzungstätigkeit bis 1970 - trotz der verdienstvollen dramatischen Anthologie von Jutta Janke (1966)18 - auf einen Nullpunkt zuläuft,19 entwickelt sich die Rezeption in der Bundesrepublik gegenläufig. Wie im europäischen Westen insgesamt, so wird auch in Westdeutschland durch die polnischen Ereignisse ein neues Interesse freigesetzt, das sich über die zeitgleiche polnische 'Exildramatik' auf deren innerpolnische Rezeption ausdehnt und das die antistalinistische Bedeutung dieser Aufnahme auf den Bühnen mitverfolgt. Dieses neue Interesse leitet zu einer Phase intensiver Übersetzung und Rezeption über. Dabei ist es für diese Rezeption relativ unerheblich, in welchem Maße Slawomir Mrozek, wiewohl im Ausland lebend, in Polen selbst als 'zugehörig' verstanden wurde und auf den Bühnen relativ ungehindert gespielt werden konnte. Die deutliche antikommunistische Position von Witold Gombrowicz und die ebenso deutliche Anlehnung Mrozeks an westliche, von der 15
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Die maßgeblichen Regelungen wurden auf dem Stettiner Schriftstellerkongreß von 1949 durchgesetzt. In erster Linie sind Werke von Gabriela Zapolska und Aleksander Fredro zu nennen. U.a. hätte sich, wenig später, Der erste Tag der Freiheit von L. Kruczkowski angeboten. Jutta Janke (Hrsg.): Polnische Dramen. Verlag Volk und Welt, Berlin 1966. D. Lemmermeier: Polnisch-deutsche Dramenübersetzung (Anm. 5), S. 25.
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Ideologie der sozialistischen Staaten diskreditierte ästhetische und dramaturgische Muster der Neoavantgarde, bestimmt die westliche Sicht. Die Autoren werden in einer Exilsposition gesehen, deren politische Bedeutung sich dann, zehn Jahre später, mit dem militärischen Schlag des Warschauer Paktes gegen den Prager Reformsozialismus 1968 noch einmal potenziert.20 Mit Mrozek und Gombrowicz sind jedenfalls die Leitgrößen dieses Rezeptionsverlaufs namhaft gemacht, die freilich eine gewisse Bresche auch für die ältere polnische Avantgarde-Dramatik, in erster Linie für Stanislaw Ignacy Witkiewicz schlagen. Dieser Trend wird in der Bundesrepublik politisch Ende der 70er Jahre weiter gestützt. „Das intensive Bemühen, über die Verstärkung des kulturellen Austauschs eine politische Entspannung einzuleiten, was schließlich 1970 zum deutsch-polnischen Vertrag führte, weckte auch ein verstärktes Interesse für die Kulturleistungen Polens und schuf damit günstige Rezeptionsbedingungen für die polnische Literatur."21 Für die dritte Phase, seit etwa 1970, konstatiert die Forschung in der Bundesrepublik zunächst eine Stabilisierung, die - wenn man quantitativ urteilt - , sich nach der Zahl der Übersetzungen und Auflührungen auf etwas niedrigerem Niveau einpendelt, als es in den Jahren zuvor gegeben war.22 Für die DDR ist eine qualitative Veränderung festzustellen. Im Maße der beginnenden Entstalinisierung, und stark inspiriert durch die Polen gewidmeten „Tage der Theaterkunst" des Jahres 1975, die einen „repräsentativen Querschnitt polnischer Gegenwartsdramatik"23 auf die Bühnen brachten, kommt es zu einem Aufholprozeß. In den folgenden Jahren werden die ältere avantgardistische Dramatik, mit dem Markstein der Witkiewicz-Übersetzungen von Henryk Bereska (1982), sowie die Exilsdramatik verfugbar. So kann nach und nach eine Annäherung an die vielseitigere Rezeption im Westen erreicht
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Im Falle von Gombrowicz ist die ostdeutsche Kenntnisnahme daher marginal. Dietrich Scholze hat in der Zeitschrift fur Slavistik (1988) sozusagen eine fachgebundene Rehabilitierung vorgenommen, um der realen Bühnenrezeption neue Impulse zu geben. Bei Mrozek war die ideologische Sperre entsprechend niedriger, so daß er nach der Wiederzulassung in Polen, in deutlichem Abstand nach 1968, d.h. Mitte der 70er Jahre, auch in der DDR biihneniahig wurde. Eine breitere Bühnenrezeption wurde dann aber gebremst durch die Tatsache der für die Mrozek aufzubringenden Westtantiemen. Sybille Bauer: „Gespenster und Propheten." Das moderne polnische Drama auf den Bühnen der Bundesrepublik, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz. In: Die Rezeption der polnischen Literatur (Anm.3), S. 126. Dies hat u.a. auch mit dem Interesse zu tun, welches nun andere Bereiche des östlichen Mitteleuropa zunehmend beanspruchen, vor allem die Tschechoslowakei seit 1968. Vgl. H. Kneip: „Bollwerke gegen die Barbarei..." (Anm. 4), S. 26ff. D. Scholze: Herausforderung durch 'Exotik'. Polnische Dramatik in der DDR. In: Die Rezeption der polnischen Literatur (Anm. 3), S. 111.
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werden, wenngleich im Falle von Mrozek, Iredynski oder Gombrowicz mit einer Verspätung, die auch gegenüber Polen ins Gewicht fällt. Ein zusätzlicher, neuer Impuls versetzt die Bühnengeschichte polnischer Dramatik in der Bundesrepublik, in der sich bestimmte Selektionsentscheidungen der früheren Periode weiter auswirken, in einen neuen RezeptionsZusammenhang. Wie in den westeuropäischen Ländern ist es seit Anfang der 70er Jahre das lebhafte Interesse an den neo-avantgardistischen Theatermachern Polens, die mit einer bislang unbekannten Kreativität des Szenischen nun die Dramatiker überrunden. Damit ergeben sich theatergeschichtlich zwei unterschiedliche Rezeptionsstränge, die nur bedingt vermittelt sind und die daher im folgenden getrennt nachgezeichnet werden.24
2.3. Ungeachtet der Tatsache, daß es in der Geschichte kulturellen Transfers so wenig einfache Kausalität oder Prognostizierbarkeit geben kann wie in der Geschichte überhaupt, lassen sich Erfahrungen und Befunde bisweilen bündeln. Einer solchen Datenbündelung entspringt, was man die Trägheitsregel der Rezeption nennen könnte. Sie besagt, daß häufig die Sterne der ersten Stunde, zu der sich ein Werk in der Fremdkultur als rezipierbar erweist, auf Jahre hin die weitere Aufnahme bestimmen - und zwar positiv wie negativ. Im folgenden versuche ich, ausgehend von der neuen Situation nach dem 'polnischen Oktober', die Bühnenrezeption von je zwei Autoren mit charakteristischer Erfolgs- und Mißerfolgskurve zu skizzieren. Im einen Falle stehen zeitgenössische Dramen zur Debatte - von Slawomir Mrozek und Tadeusz Rózewicz - , im anderen Falle profilierte Werke der Vorkriegs-Avantgarde von Stanislaw I. Witkiewicz und Witold Gombrowicz. Um die kulturgeschichtlichen und mentalen Ausgangsbedingungen zu erhellen, bietet sich zunächst die Frage an, unter welchen Gesichtspunkten diese Werke und ihre Autoren rezeptionsstrategisch von den kundigen Vermittlern angeboten, d.h. den möglichen Rezipienten nahegebracht werden. In einem zweiten Schritt ist dann weiter zu verfolgen, ob und wie sich diese Orientierungsgebenden Hinweise als historisch zutreffend oder als Fehleinschätzung erwiesen haben. Ich gehe aus von dem erläuternden Nachwort, das Andrzej Wirth 1967 seiner zweibändigen Dramenanthologie beigegeben hat, um die Stücke, die er „als repräsentativ für die moderne polnische Dramatik" ansah, dem Leser
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Kap. 2.3 bis 2.6 sind der Rezeption der polnischen Dramatik gewidmet, Kap. 3 den TheaterkünsÜern.
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vorzustellen.25 Seine Empfehlungen spiegeln die Erfahrungen der 60er Jahre wieder, und umfassen die politischen und ästhetischen Prozesse, wie sie sich, knapp zehn Jahre nach dem 'polnischen Oktober', im Rückblick niedergeschlagen haben. Dieses Datum, 1958, bildet denn auch fiir A. Wirth den Angelpunkt der Anbindung der polnischen Theaterentwicklung an die international-westliche Avantgarde, etwa wenn die Aufführung von Warten auf Godot am Teatr Wspólczesny zum „größten Theaterereignis" des 'Oktober' erklärt wird. Bezeichnenderweise erläutert er aber mit Hilfe von Zitaten Jan Kotts eine doppelte Lesart fur dieses Ereignis. Laut Kott ist Didi der „Ideologe", der von der Ankunft Godots Orientierung und Lebenssinn erwartet und den widerstrebenden Gogo zwingt, diese Zuversicht sich auch zu eigen zu machen. Zu diesem Ansatz der Rollendeutung, der politisch erweiterbar ist, bildet der Verlauf des Stückes ein Gegengewicht, da die Erfüllung ausbleibt. Eine politische Zukunft, die neue Sinnorientierung gestattet, ist im sozialistischen Osten nicht in Sicht. Daher tritt eine zweite Lesart in den Vordergrund: "Gogo und Didi haben die metaphysische Komödie des menschlichen Schicksals gespielt" (Kott).26 Es liegt auf der Hand, daß damit von Wirth eine doppelte, kulturübergreifende Rezeptionsmöglichkeit anvisiert ist. Die politische Gegenwartssituation Polens verdient Interesse aus westlicher Sicht; zugleich aber läßt sich aus der Aufführung die allgemeine condition humaine als metaphysische oder existenziale auf den 'polnischen Oktober' überblenden, ohne daß sich beide Sichtweisen ausschließen würden.27 Das absurde Theater des Westens und dessen Wiederhall auf den polnischen Bühnen des Jahres 1958 bildet den übergeordneten Verständnisrahmen, und in ihn wird nun Slawomir Mrozek eingeordnet, nachdem ihm „paradoxerweise" bereits die Rolle eines polnischen Nationaldichters zuerkannt worden ist, der u.a. mit Tango „direkt an das große Ideendrama der polnischen Romantik" anknüpfe. Dieser intertextuelle Zusammenhang mit der polnischen Nationalromantik ist als strategischer Hinweis für den bereits polenkundigen Leser zu verstehen. Größere, nahezu plakative Bedeutung hat es, wenn die Auffuhrung von Mrozeks Polizei als weitere „Theatersensation" der Gorfo/-Auffuhrung rangmä25
26 27
Andrzej Wirth (Hrsg.): Modernes polnisches Theater. Zwei Bände. Neuwied, Berlin 1967. Hier Bd. 1, S. 311. Ebd. Bd. 2, S. 236. Der Verdeutlichung dieses Aspekts dienen die weiteren Ausführungen Wirths über Leszek Kolakowskis Gorfoi-Kontrafaktur Das System des Priesters Jensen oder Eingang und Ausgang, das in die Anthologie nicht aufgenommen ist, das aber die „Aufnahme der angelsächsischen und französischen Avantgarde in Polen nach 1956" illustriert. Ebd., S. 237.
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ßig gleichgeordnet wird. Die politische Lesart der Gegenwartsdramatik wird betont und zugleich das avantgardistische Konstruktionsprinzip des Mrozekschen Theaters hervorgehoben.28 Im Vergleich zu diesem voll instrumentierten 'Inserat' von Mrozeks Stücken nimmt sich die Vorstellung von Rózewicz eher verhalten aus. Er gilt „als der begabteste Lyriker der mittleren Generation" und sein verspätetes dramatisches Debüt (Kartoteka) setzt fort, was in Polen bekannt ist: der Held des Stücks erweist sich als das „dramatisierte lyrische 'Ich' des Autors"29. Inhaltlich ordnet Wirth das Stück - unter dem Transfer-Aspekt - dem deutschen Heimkehrerdrama von 1945/46, Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür, mithin einer Stunde Null zu, die 20 Jahre zurückliegt, erläutert dies inhaltlich dann aber ganz aus der polnischen Erfahrung: der Umwandlung eines patriotischen Partisanen in einen outsider, der sich von dem neuen Staat, der ihm fremd bleibt, ausgestoßen sieht. Eine griffige Formel zu der Entsprechung, wie sie zwischen Warten auf Godot und Die Polizei hergestellt wurde, findet sich für Rózewicz nicht. Es muß für den deutschen Leser eine zurückliegende Periode zum Vergleich herangezogen werden, die aber lediglich für die ältere Generation der Rezipienten eine erinnerbare Lebenserfahrung bedeuten kann, nicht jedoch für die jüngeren Zeitgenossen. Wendet sich Wirth nun den Avantgardisten der Zwischenkriegszeit zu, so wird deren innovative Bedeutung gebührend hervorgehoben und der Bezug zu Surrealismus und Existenzialismus umrissen. Bei Witkiewicz wird des weiteren eine inhaltliche Brücke zur Gegenwart geschlagen: er führe den „Klassenkampf' in grotesker Hyperbolisierung „ad absurdum" und demonstriere, wie die Revolutionäre, die einmal an die Macht gelangt sind, „ihre soziale Mission" vergäßen.30 Indessen räumt der Herausgeber bereits ein, daß dem Autor eher ein akademisch-historisches Interesse als ein aktuelles erwachsen könnte, wenn er auf die Rezeptions-Verspätung zu sprechen kommt: „Seine Rolle als Vorläufer erkennt heutigentags der Kulturhistoriker, nicht aber das von Sartre und Ionesco erzogene Publikum."31 Erneut taucht in der Argumentation ein Generationenproblem auf. Die Avantgarde-Erfahrung des zeitgenössischen jüngeren Publikums ist nur bedingt nach rückwärts anzubinden, wenn Wirth auf das formale Vorbild des Surrealismus und insbe28 29 30
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Ebd., S. 241. Ebd., S. 237. A. Wirth nennt Witkacys Die Schuster und gibt einen literatur- und kulturhistorischen Verweis auf S. Wyspianski. Vgl. A. Wirth (Hrsg.): Modernes polnisches Theater (Anm. 25). Bd. 1, S. 314. Ebd., S. 313.
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sondere Alfred Jarrys hinweist - denn beide sind im Deutschland der 60er Jahre allenfalls akademische, nicht aber allgemein gängige Begriffe. 32 Im Vergleich zu Witkiewicz wird Gombrowicz - vertreten in der Anthologie mit der Trauung - zunächst eher abstrakt vorgestellt, wenn auf die Abhängigkeit des Individuums von der Situation und deren immanenter Theatralität als dramaturgisches Konstruktionsprinzip der Stücke verwiesen wird. Von anderem Gewicht ist hingegen die Kennzeichnung des Verfassers als des „bedeutendste(n) Vertreter(s) der polnischen Exilliteratur". Im Gesamtpanorama der polnisch-westeuropäischen Kulturbeziehungen wird ihm implizit der Status eines Kritikers des derzeitigen Regimes in Polen zuerkannt und eine entsprechend tragende Rolle für die Gegenwart attestiert. Sie wird theatergeschichtlich durch die Bemerkung weiter beglaubigt, seiner Poetik käme „für die Entwicklung des modernen Avantgarde-Theaters eine nicht minder große Bedeutung" zu wie dem „Neuerertum Becketts und des frühen Ionesco". 33
2.4. Vergleicht man die ebenso sachlich wie rezeptionsstrategisch verstehbaren Kennzeichnungen der Anthologie von 1967 34 mit dem Rezeptionsverlauf bis 32
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Die deutsche Erstaufführung von Ubu roi findet erst 1959 statt (Kammerspiele München, Regie: H. D. Schwarzer), bezeichnender Weise in einer an Jean Vilar angelehnten Version, welche Ubu roi und Ubu enchaîné zusammenzieht. In dasselbe Jahr fällt die erste Buchausgabe (Arche), sowie eine den Autor vorstellende Veranstaltung eines Collège de Pataphysique an der Frankfurter Universität (vgl. Erläuterungen von Klaus Völker in seiner Ausgabe von Alfred Jany: Gesammelte Werke. Frankfurt/M. 1987). A. Wirth: Modernes polnisches Theater (Anm. 25). Bd. 1, S. 322. Entgegen der allgemeinen Tendenz wäre in der DDR der 1966 erschienene Band Polnische Dramen (Anm. 18), zu würdigen, der offensichtlich eine - längere Zeit vorbereitete? - Gegentendenz zu realisieren versucht. Die im Nachwort der Herausgeberin Jutta Janke erkennbare Strategie der Rezeptionsanleitung ist die der 'historischen Verpflichtung'. Unter diesem Banner läßt sich ideologische wie formale Vielfalt rechtfertigen, so „der vom Symbolismus herkommende" Jerzy Szaniawski, die 'Lyriker' Zbigniew Herbert und Stanislaw Grochowiak, die poetische Konzepte von Dramaturgie vertreten; sie werden historisch unmittelbar piaziert neben den ideologisch-realistischen Paradeautor Kruczkowski. Mit Jerzy Broszkiewicz' Skandal in Hellberg wird es im Nachwort möglich, die antiwestliche Polemik anthologisch einzubinden, und Mrozek, dessen Stück Karol mit Arthur Millers Hexenjagd in Verbindung gebracht wird, wird sozusagen ideologisch entschärft, indem ihm das Bekenntnis des als Kenner polnischer Dramatik bemühten Kritikers Edward Csató zugeordnet wird: „Ich glaube, es ist die leidenschaftliche Sorge, die Republik (und die Welt) zu verbessern, durch die
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Mitte der 80er Jahre,35 so ergeben sich unterschiedliche Werte, wenn man diese vaticinia nun in der Tat ex eventu betrachtet. Für Mrozek hat sich eine unangefochtene Dauerrezeption ergeben, die, so weit man sie inhaltlich verfolgen kann, dem doppelten Rezeptionsschema, wie es Wirth umreißt, im wesentlichen verpflichtet bleibt.36 Der jederzeit mögliche Wechsel von einer politischen zu einer allgemein-existenzialen oder historisch universalen Betrachtung verbürgt offensichtlich Erfolg, gerade gegen Ende eines Jahrhunderts, zu dem die im Modell von Mrozeks postabsurder Dramaturgie formulierten Probleme zugleich global und real zutage treten. Die initiale Rezeptionssituation, unter der Mrozek angetreten ist, prägt offensichtlich die Erwartungen an seine Stücke wie auch die Vorinformation der über die Spielpläne entscheidenden Dramaturgen und läßt ihn zum festen Posten des Repertoires werden. Mrozek wird hinsichtlich der Publikumsresonanz kalkulierbar. Dabei ist auch das politische Reizmoment des Ostens bis heute - ein knappes Jahrzehnt nach den grundlegenden politischen Veränderungen - keineswegs ausgereizt. Im Falle von Porträt wirkt das Stichwort 'Stalin' weiterhin polarisierend; auf westlicher Seite wird es als politisch irrelevant erachtet und in dieser Bedeutung dem (deutschen) Osten zugewiesen - wie ein Vergleich von Aufluhrungsbesprechungen in West und Ost ergibt.37 Die rezeptionssteuernde Ambivalenz zwischen 'politisch' und 'existen-
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sich unsere dramatische Avantgarde von jenen avantgardistischen Kreisen unterscheidet, deren Werke das sog. absurde Theater, das Theater der Hoffnungslosigkeit, repräsentieren. Mir scheint, daß in vielen Stücken unserer Avantgarde (in denen Mrozeks, Rózewiczs und anderer junger Dramatiker) jene aggressive Verfolgung des Absurden das Ziel hat, das Absurde zu bekämpfen, sich ihm im Namen einer vorausgeahnten oder doch erstrebten Harmonie, im Namen von Sinn und Ordnung entgegenzustellen." (Nachwort, S. 337) Es ist offensichtlich, wie diese direkte ideologische Verzeichnung der Absichten der polnischen Autoren ihrer Rechtfertigung im anthologischen Rahmen, damit der Möglichkeit ihres Erscheinens im Buch dienstbar gemacht wird. Insofern ist das anthologische Unternehmen durchaus als Versuch, die Rezeptionsbindungen zwischen Polen und der DDR zu verstärken, zu würdigen, und es bliebe zu bedenken, inwieweit die politische und ideologische Reaktion, die mit der Strafexpedition gegen Prag 1968 verbunden ist, die Wirkungsmöglichkeiten dieser Anthologie in entscheidender Weise unterband. S. Bauer: „Gespenster und Propheten" (Anm. 21), S. 125-138. Vgl. dazu den Beitrag von Herta Schmid: Mrozek auf deutschsprachigen Bühnen Schwierigkeiten im deutsch-polnischen Dialog. S.u. S. 181-203. Siehe in diesem Band: Malgorzata Sugiera: Dialektische Verfahren in Dramen von Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch - Wirkungen in der polnischen Dramatik nach 1956. S. 98-112, sowie Dietrich Scholze: Mrozek und Rózewicz in der Deutschen Demokratischen Republik. S. 204-215.
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zial-universal' bringt es dabei mit sich, daß entlang der zweiten Linie die polnische Identität des Autors verblaßt. Dies ist der Preis für die allgemeine Repertoirefähigkeit, die ihn den Klassikern des absurden Theaters an die Seite stellt und ihm europäisches Format zuspricht. Im Falle von Rózewicz scheint sich die von Wirth stammende Formulierung der initialen Konstellation insoweit zu bestätigen, als die lyrisch und literarisch ausgewiesenen 'Kammerspiele von polnischer Seele' in der Tat überwiegend von Kleinbühnen, Intimtheatern und Studios aufgeführt worden sind. Indessen fallt die Erklärung des Sachverhalts schwer, 38 daß und warum die Stücke nicht in die Repertoires übernommen worden sind, denn eine Vielzahl von Dramen absurder oder postabsurder Provenienz - einschließlich der Einakter und Dramolette Becketts und Ionescos selbst - weisen nach einer Phase der Kleinbühnen-Auflührungen dann die Übernahme ins Repertoire, ungeachtet der jeweiligen Bühnenform auf. Bei Rózewicz ist nach 1970 die Aufführungszahl rückläufig. 39 Fragt man nach dramaturgischen und sprachlichen Gründen, so mag man - im Vergleich etwa zu der Robustheit von Mrozeks Invers-Plots - die Fragilität der Geschehensfolgen anführen, 40 die Subtilität der sprachlichen und symbolischen Strukturen oder das intertextuelle und sprachspielerische Potential, sowie das Problem von dessen Übertragbarkeit ins Deutsche. Jedenfalls fällt auf, wie häufig - gemessen an der Gesamtzahl der Aufführungen - die deutschen Bühnenleiter polnische Regisseure für Rózewicz-Inszenierungen herangezohen haben - möglicherweise ein Indiz dafür, daß man sich bei diesem Autor besonders unsicher hinsichtlich einer adäquaten theatralen Umsetzung fühlte. Mrozek wird europäisches Gemeingut, Rózewicz bleibt für den Westen befremdlich, bleibt polnisch. Dasselbe gilt, in noch höherem Maße, fur westdeutsche WitkiewiczInszenierungen. Wirths Bedenken wegen der Nachhol-Situation und seine Betonung des grotesken und surrealistischen Charakters der Werke finden ein gewisses Pendant in der Zurückhaltung der deutschen Bühnenleiter, die hier besonders gravierende Defizite befürchteten, falls man sich nicht der Kooperation polnischer Regisseure versichern konnte. Die deutsche Erstaufführung von Die Mutter fand dann 1966 in Saarbrücken in der Regie von
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Schon in Polen ergibt sich eine wenig balancierte Rezeption zwischen stürmischem Erfolg und deuüichem Mißerfolg, wenn man die Bühnengeschichte von Rózewiczs Dramen betrachtet - ein Problem, dem die detaillierte Einzelanalyse von Dobrochna Ratajczakowa (Zwei Dramen von Tadeusz Rózewicz, Die Kartothek und In die Grube, als Beispiel von Erfolg und Mißerfolg) gewidmet ist. S.u. S. 113-126. Vgl. S. Bauer: „Gespenster und Propheten" (Anm. 21), S. 126: „[...] seine Werke [sind] in den letzten Jahren kaum noch auf bundesdeutschen Bühnen vertreten." A. Wirth: Modernes polnisches Theater (Anm. 25). Bd. 2, S. 241.
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Zbigniew Stock statt, die Düsseldorfer Inszenierung von 1971 übernahm Erwin Axer. Weitere Witkiewicz-Inszenierungen sind Jan Biczycki, Jerzy Jarocki und Tadeusz Kantor zu verdanken.41 Wenn in solchen Fällen dann von deutschen Rezensenten hervorgehoben wird, wie genau die Krise des polnischen Bürgertums und der Intellektuellen der Zwischenkriegszeit dargestellt worden sei, so bekundet dies Sorgfalt und Horizont von Regie und Kritik; aber zugleich besagt es möglicherweise auch, daß keine direkten Brücken zur Gegenwart des deutschen Publikums hergestellt und keine universalen Deutungsebenen angesprochen werden. Es scheint sich jedenfalls abzuzeichnen, daß Interesse für eine spezielle Phase der polnischen Kulturgeschichte - etwa der künstlerischen Avantgarde während der 20er Jahre nicht ausreicht, um auch breitere Rezeption in Deutschland zu motivieren. Insgesamt bleiben Witkiewicz-Inszenierungen Spezialartikel aus besonderem Anlaß und auf eine elitäre oder spezialistische Aufnahme bezogen.42 Diese Sachlage läßt sich form- und mentalitätsgeschichtlich weiter dadurch erläutern, daß es im deutschen Theater des 20. Jahrhunderts kaum eine Integration grotesker und surrealer Ästhetik gibt, die Witkiewicz entgegenkommen könnte. Trifft es zu, daß Witkiewicz im europäischen Maßstab zu den Gründungsvätern der neoavantgardistischen Kunst der zweiten Jahrhunderthälfte gehört, so kommt er zumindest im deutschen Theaterbereich nur verdeckt, d.h. bei den Künstlern, die er beeinflußt hat, zur Geltung. Wirths Ankündigung von 1967 setzte hier eine Bereitschaft des deutschen Lesers oder Publikums voraus, sich für die gesamteuropäischen Grundlagen des modernen Theaters und der modernen Kunst zu interessieren; offenkundig war sie kaum im erwarteten Maße gegeben - möglicherweise weil aus deutscher Sicht die europäische Avantgarde primär in Frankreich, Italien und England situiert wird, allenfalls noch im Rußland der Jahrhundertwende und in der Sowjetunion der 20er Jahre. Eine dauerhafte Repertoirestellung hat hingegen Gombrowicz erreicht. Seine Überbrückungsfunktion, zwischen der Vorkriegs- und der Neoavantgarde, sowie seine Bedeutung als Exilliterat findet darin seine deutsche wie europäische Würdigung. Er kann in den 60er Jahren in diesem Sinne als Zeitgenosse eingeführt werden, ohne daß eine Nachhol-Leistung der Bühnen einzufordern wäre. Für die weitere Festigung im Repertoire der folgenden Jahre sprechen mehrere Indizien, u.a. der Versuch, zusätzliche Textfunde auf die Bühne zu bringen, wie die zunächst als eine Vorform zu Operette aufgefaßten szenischen Entwürfe Geschichte, die 1977 in München erstaufgeführt 41 42
Vgl. S. Bauer: „Gespenster und Propheten" (Anm. 21), S. 129. Siehe in diesem Band die Darstellung von Claudia Balk: Jarockis Münchner Inszenierung von Stanislaw Ignacy Witkiewicz' Die Mutter und ihre Rezeption. S. 169-180.
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werden, oder die Tatsache, daß Yvonne inzwischen auch auf die Schulbühne übernommen worden ist,43 sowie die inszenierungsmäßige Fusion mit Georg Büchners Leonce und Lena,u die in der Spielzeit 1996/1997 am MaximGorki Theater in Berlin vorgestellt wurde. Schließlich ist Repertoirekontinuität daraus ersichtlich, daß die professionelle Theaterkritik Veränderungen der Auffiihrungsstilistik zwischen verschiedenen Inszenierungen ein und desselben Stückes im Falle von Gombrowiczs Ivonne sorgfältig registriert und beschreibt. Der Autor ist damit auf Bühnen und in der Theaterpublizistik als eine Größe präsent, der man auch en détail kontinuierlich auf der Spur bleiben kann. Mit der Konstellation der Prinzessinnen Lena und Ivonne zeichnet sich ein gemeinsamer Grund ab für deren Reiche „Pipi" und „Burgund", und man könnte geneigt sein, darin ein Angeld auf ein größeres Feld gemeinsamer polnisch-deutscher Szenenkunst zu sehen. Es ist indessen deutlich, daß der Bühnenrezeption polnischer Dramatik in der Bundesrepublik enge Grenzen gesetzt sind.45 Der initiale Zeitraum der 60er Jahre bestimmt sie nach damaliger Aktualität und zeichnet damit für die Autoren Rezeptionsbahnen vor, die sich verlängern und in Einzelfallen repertoiremäßig festigen lassen. Eine dramen- und kulturgeschichtlich rückgreifende Einholung früherer Dramatik erweist sich weitgehend als unmöglich. Dies ist im Falle der nationalromantischen Dramatik Polens schon häufig festgestellt worden; und der Hauptgrund, das Fehlen eines angemessenen Bewußtseins von polnischer Kulturgeschichte bei den Deutschen, wurde oft erörtert. Zu diskutieren bliebe aber des weiteren die kultur- und mentalitätsgeschichtliche Prägung des Verhältnisses zur Romantik; während sie in Frankreich und Polen mit der Wertung 'politisch progressiv' besetzt ist, wird sie in der deutschen Überlieferung entpolitisiert oder, wenn politisch, dann als 'konservativ' bis 'reaktionär' eingestuft.46 Die Blockade reicht aber über
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München 1995 Franz Wille: Ganz vorbei und voll ins Schwarze. In: Theater heute 1997, H. 1, S. 11. R: Günther Gerstner, Maxim-Gorki Theater Berlin. Vereinzelte Inszenierungen von Werken weiterer, bislang nicht genannter Autoren bedürften eines speziellen Kommentars, so zwei Titel von Gabriela Zapolska, die wohl über Anregungen aus der DDR Aufnahme gefunden haben, oder Kazimierz Moczarskis Gespräche mit dem Henker, die wohl aus thematischen Gründen, als Erweiterung des Angebots an Dokumentardramen, den Weg auf die Bühne gefunden haben (Düsseldorf 1979, R: Michael Degen) und erneut finden (Polnisches Theater Kiel, 1991). Unbeschadet reaktionärer Schlagseiten in der Entwicklung der polnischen Romantik, hat die generelle Eiinschätzung der Romantik in diesem Sinne, wie sie u.a. G. Lukács vertreten hat, nicht nur im östlichen, sondern seit der 60er Jahren auch in westlichen Teil Deutschlands starken Nachhall gefunden.
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Romantik und Jahrhundertwende hinaus weit ins 20. Jahrhundert.47 Denn auch für die polnische Zwischenkriegsavantgarde läßt sich auf dem Wege der historischen Motivation kein nachhaltiges Interesse erwecken - und sei die nationalkulturelle Bedeutung der Autoren oder Werke im Kanon der polnischen Tradition oder der Avantgarde auch noch so hoch. Kanonisierungen und entsprechende Wertungen sind kulturspezifisch vorgenommen und nur unter besonderen historischen Bedingungen übertragbar. In diesem Sinne wirkt sich der Mangel am Bewußtsein von der polnischen Kulturgeschichte in Deutschland bislang als kaum übersteigbare Grenze aus.48
2.5. Eine überschlägige Sichtung der Spielplanstatistik seit Beginn der 80er Jahre49 erbringt für die Zeit bis 1989 wenig Neues. Die Bühnenrezeption polnischer Dramatik tritt auf der Stelle. Slawomir Mrozek und - in größerem quantitativem Abstand - Witold Gombrowicz sind ständig präsent, ergänzt durch punktuelle Inszenierungen von Stanislaw I. Witkiewicz und Tadeusz Rózewicz, weiterhin von Ireneusz Iredynski und Janusz Glowacki. Die Rezeptionslinien in den beiden deutschen Staaten haben sich außerdem bis Ende der 80er Jahre in vielem angeglichen, so daß vom Bestand her nur noch wenige Unterschiede auszumachen sind. Eine neue Sachlage ergibt sich mit der Wende des Jahres 1989. In der Spielzeit 1990/91 erreicht die Rezeption - auch wenn man die Inszenierungen des Vorjahrs in der DDR und der Bundesrepublik addiert - nahezu doppelte Größenordnung wie vorher. Da ein größerer Teil der Theater die Spielzeiten auf längere Sicht disponiert, kann dieser Anstieg nicht lediglich mit der Neuorientierung im Verlauf des ersten Halbjahres 1990 erklärt werden; schon im Voijahr dürften dispositorische Weichen gestellt worden sein, zunächst wohl unter dem Eindruck der Veränderungen in Polen, dann verstärkt durch die deutschen Ereignisse des Spätjahres 1989. Das erneute Ansteigen des Interesses demonstriert die unmittelbare Reaktionsfähigkeit der Theater, wobei sich kaum Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands ausfindig machen lassen. „Die Vereinigung Deutschlands stellt 47
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S.u. Brigitte Schultze: Rezeptionsblockaden des deutschsprachigen Theaters für Mickiewicz, Krasiñski, Slowacki und Wyspiañski. S. 146-168. S.u. Wojciech Dudzik: Das Bild des polnischen Theaters in der deutschen wissenschaftlichen Theaterliteratur der Nachkriegszeit, S. 129-145. Nach der unvollständigen Übersicht des Deutschen Bühnenjahrbuchs, ergänzt um die Listen aus Theater heute.
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die Rezeption polnischer Dramatik vor neue Bedingungen. Sie eröffnet Chancen, die von den ostdeutschen Theatern bereitwillig angenommen werden. Aber auch im Westen der Republik wagte man sich mit neuen oder wenig gespielten polnischen Stücken auf unwegsames Terrain."50 Dafür gibt es Indizien. So wird im Osten dem Nachholbedürfnis bezüglich Gombrowicz und Mrozek Rechnung getragen, während sich im Westen erneutes Interesse an Rózewicz andeutet,51 doch kommt auch Iredyñski mit Stücken, deren Entstehung oft mehrere Jahrzehnte zurückliegt, auf die Bühnen. Insgesamt verstärkt sich in den 90er Jahren die Tendenz, Stücke des polnischen Theaters - und dies gilt auch für das Musiktheater, soweit es überhaupt rezipiert wird - mit Vorliebe polnischen Regisseuren anzuvertrauen, oder auf dem Wege von Gastspielen in den deutschen Kulturraum zu übertragen.52 Doch gibt es weitere Indizien eines Wandels, der sich interessanterweise an dem Problemfall Witkiewicz illustrieren läßt. Daß etwa in der Spielzeit 1993/94 in Berlin östliches wie westliches Problembewußtsein den Weg zur szenischen Artikulation über Witkiewicz-Versuche findet, mit Die Mutter und Verrückte Lokomotive, ist eine neue Konstellation, die auf eine Aufwertung des dramatischen Œuvres des Autors hoffen läßt.53 Es ist weiterhin ein Novum in der deutschen Rezeptionsgeschichte, daß ein Witkiewicz-Text wie Mutter zum Spielmaterial wird, das sich mit anderen Texten zu einer neuen Spielkonstellation formiert: dem ambitionierten Versuch, die polnische mit der russischen Avantgarde zu verbinden, liegt Wladimir Majakowskis Wladimir Majakowski Tragödie in Heiner Müllers Bearbeitung zugrunde. Dieser experimentellen Auseinandersetzung mit Witkiewicz wäre Signalstatus zu wünschen, damit dem europäischen Rang des Dramatikers in der deutschen Bühnengeschichte nun Geltung verschafft würde. 50
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Peter Langemeyer: Auf Leben und Tod. Polnisches Theater in Deutschland. In: Deutsch-polnische Ansichten zur Literatur und Kultur. Jb. 1991. Hrsg. vom Deutschen Polen-Institut. Darmstadt 1992, S. 252. U.a. wäre die Inszenierung von Weiße Ehe in Münchner Residenztheater (Premiere 27.06.1997) zu nennen. „Die Aufführungen polnischer Theaterstücke durch deutsche Regisseure" oder die „Inszenierungen nicht polnischer Dramen durch polnische Regisseure" treten im Vergleich dazu zurück, wie Peter Langemeyer zusammenfassend über die Spielzeit 1988/89 ausführt: Demonstrative Sinnlichkeit. Polnische Theaterarbeit und polnische Theaterstücke in der Bundesrepublik. In: Deutsch-polnische Ansichten zur Literatur und Kultur, Jb. 1989, S. 201. Die Mutter, Volksbühne, Sept. 1993, R: Peter Staatsmann, mit einem Nachspiel: Wladimir Majakowski Tragödie (1913) in Heiner Müllers Bearbeitung; Verrückte Lokomotive, Zan Polio Theater am Halleschen Ufer, Februar 1994. - Vgl. dazu P. Langemeyer: Verlorene Illusionen. Polnisches Theater in Deutschland. In: Deutsch-polnische Ansichten, Jb. 1993, S. 196-197.
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2.6. Der Rückgriff auf die Avantgarde von vorgestern weist freilich noch einen weiteren Aspekt auf, der die Situation des Schauspieltheaters grenzübergreifend kennzeichnet. Insgesamt herrscht in Polen offensichtlich wie in den deutschsprachigen Ländern, wo immer über die zeitgenössische Dramatik diskutiert wird, Pessimismus vor. Die Klage über den Mangel an guter Gegenwartsdramatik ist allgemein und wiederholt sich - geschichtlich gesehen in periodischen Abständen. In den Jahren nach 1989/90 erhält sie freilich zusätzliche Akzente. So gipfelte beim 30. Breslauer Festival des Gegenwartsstückes, mit einem Kolloquium Das polnische Drama nach 1989: Aufschwung, Niedergang oder was noch? die allgemeine Enttäuschung in dem Stoßseufzer: „Die Freiheit brachte kein Meisterwerk." Ähnliche Stimmen, die die Situation von Dramatik und Theater nach der Wiedervereinigung kommentieren, sind auch in Deutschland nach 1989 geläufig. Interessanter wegen der Allgemeinheit der Folgerung ist jedoch eine spätere Stellungnahme, die sich auf Breslau beruft. Der Eindruck, daß die Autoren der Gegenwart sich aus dem Vorrat des Vorhandenen bedienen, im Falle Polens „überwiegend [in] der tradierten Poetik des Grotesken als eines Sackes, in den man nahezu alles schütten könne"54, fuhrt ein Jahr später zu einem pointierten Kommentar von Jerzy Koenig im Warschauer Dialog, der zur Situation der Dramatik bemerkt: Ich würde niemanden darum beneiden, heute in Polen Dramatiker zu sein. Das polnische Theater ist meist Regietheater, manchmal Schauspieltheater, oft ein Theater des Bühnenbildners, aber bestimmt kein Theater der zeitgenössischen Autoren. Die Gegenwart sucht man in Shakespeare oder Witkiewicz.55
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Ingeborg Knauth: Abschied von alten Konventionen. Das polnische Drama nach 1989: Aufschwung, Niedergang oder was noch? In: Theater der Zeit 1993, H. 3, S. 62. Theater heute 1990, H. 12, S. 10. - In Polen hat diese Sachlage darin einen bizarren Ausdruck gefunden, daß der zum Nationaldramatiker erklärte Slawomir Mrozek für die Aufführung seines jüngsten Stückes Liebe auf der Krim, zugleich 10 Gebote für die Bühnenrealisierung in Warschau formuliert hat: Eine Gesetzesverfügung des Dramatikers über das Theater, indem er dieses per Dekret auf seine eigenen szenischen Anweisungen einschwört und jeglichen Spielraum der Bühne gegenüber dem Text zu eliminieren sucht - „Überlebensstrategien in bedrängter Lage". Vgl. Jacek Sieradzki: Die zehn Gebote Slawomir Mrozeks. Zur Situation des Theaters in Polen. In: Deutsch-polnische Ansichten (Anm. 50), Jb. 1994, S. 212-213.
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3.1. Es ist in diesem Zusammenhang nicht weiter zu erörtern, inwieweit es mit diesem überpointierten Resümee für die Theatersituation Polens seine Richtigkeit hat. Indessen verweist es zu Recht auf Rang und weltweite Wirkung der Schrittmacher der Regie und freien Bühnenkunst, die zu einem Inbegriff polnischen Theaters geworden ist. In den Blick kommt damit diese zweite Formation, das Theater des freien Spiels und Bilds, dessen Rezeption in der Bundesrepublik und dann in Deutschland in ihrem historischen Gefalle noch zu betrachten bleibt. Der einschlägige Jahresbericht56 in der Publikation des Deutschen Polen-Instituts von 1990 trägt den Titel: „Unter dem Einfluß Tadeusz Kantors. Polnisches Theater in Deutschland." Der unmittelbare Bezug ist die Präsentation von Kantors Krakauer Bühnenwerk Ich kehre hierher nie mehr zurück (1988) in der Nürnberger Tafelhalle (1989). Doch wird indirekt auf die zurückliegenden Jahrzehnte verwiesen, denn bei allem Interesse, das dem polnischen Drama zeitweise entgegen gebracht wurde, stand dieses im Schatten der Theatermacher und Regisseure, die den Weltruf der polnischen Bühnen in den Jahrzenten nach 1960 begründeten und auf lange Zeit rechtfertigten. Außer Jerzy Grotowski und Tadeusz Kantor sind in erster Linie Konrad Swinarski und Józef Szajna, sowie Jerzy Jarocki und Jerzy Grzegorzewski zu nennen. Die Aufmerksamkeit richtet sich hier auf Konzepte und Stile, die nicht auf einzelne Titel zu fixieren, sondern eher auf programmatische Leitworte zu bringen sind, wie das 'arme Theater', das 'Theater der Bilder', das 'autonome Theater' etc., oder - was zugleich die Rezeption in Westeuropa insgesamt dokumentiert - das „théâtre à l'image et à la ressemblance du mannequin" 57 , wie Denis Bablet mit einer berühmten Formel aus Bruno Schulz' Zweitem Buch Genesis das Theater Kantors charakterisiert. Im Mittelpunkt dieser Rezeption polnischen Theaters steht in Deutschland wie in Frankreich und Italien das Interesse an dem, was im eigenen Entwicklungsbereich gar nicht, oder wenn überhaupt, so auf ganz andere Weise gegeben ist, das nonliterarische Theater der Räume, Bewegungen, Bilder und der neuen ekstatischen oder formalisierten Körperlichkeit.58
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P. Langemeyer, in: Deutsch-polnische Ansichten, Jb. 1990, S. 205ff. Denis Bablet: Présences de Tadeusz Kantor. In: D. Bablet (Hrsg.): Les voies de la création théâtrale. Bd. XI: T. Kantor. Paris 1983, S. 183, mit Bezug auf die französische Ausgabe von Bruno Schulz: Traité des mannequins. In: Les Lettres Nouvelles. Nr. 15. Paris 1961, S. 77. S.u. die Beiträge von Harald Xander: Die Geschlossenheit des polnischen 'Theaterweltbilds'. Freie Theater aus Polen zu Gast in Deutschland. S. 216-230, sowie von
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In Deutschland zeichnet sich dieser Rezeptionsstrang zur gleichen Zeit ab wie die Abkehr der Bühnen vom politisch-agitatorischen Theater des vorausgehenden Jahrzehnts in der ersten Hälfte der 70er Jahre. Er verläuft parallel zu der Entwicklung des sog. Regietheaters, das eine grundsätzliche Distanz zur Verbindlichkeit der literarischen Tradition herstellt, auch da, wo es sich aus vielerlei Gründen auf literarische Überlieferung stützt. Das Interesse an neuen Theatermodellen, welche als Rückgrat der Aufführung den literarisch formulierten Text verabschiedet haben, wird durch die Fama der amerikanischen avantgardistischen Truppen geweckt, danach durch die Wirkung des Frühwerkes von Ariane Mnouchkine und Robert Wilson geschärft, und sieht sich dann einer weiteren „internationalen" Facette, dem polnischen 'autonomen' Theater als einer ästhetisch wie inhaltlich eigenständigen Größe gegenüber.59 Im Verhältnis zu dieser neuen Theaterästhetik treten inhaltliche Fragen zunächst zurück, so sehr in einzelnen Fällen gehaltliche Momente eine Rolle spielen mögen. Die neuen Spielorte und das neue Publikumsverhältnis, das auf seine Art auch das Regietheater in Deutschland sucht, stehen ebenso im Zentrum der Aufmerksamkeit antiliterarisch oder antisprachlich akzentuierte Ästhetik der jeweiligen Theaterreform. Welche Bedeutung für diese Reformdebatte auch die historisch und theoretisch orientierte Theaterkritik gewinnt, zeigt das Beispiel Jan Kotts, in dessen Schrifttum die polnischen Avantgarde-Bühnen mit dem innovativen Regietheater in einem übergreifenden Zusammenhang in Erscheinung treten.60 Mentalitäts- und geschmacksgeschichtlich ist mit Blick auf die Rezeption des polnischen Theaters bemerkenswert, daß die Ästhetik der Deformation, der Mannequins, der symbolistischen und der surrealistischen Groteske in Deutschland offensichtlich erst dann akzeptabel ist, wenn sie nicht mehr literarisch-sprachlich gebunden ist, genauer gesagt, wenn die sprachliche Artikulationsebene als ständiges Vergleichs- und maßstabssetzendes Korrelat in den Hintergrund tritt. Die Gründe, die einer nachhaltigen Witkiewicz-Aufnahme entgegenstehen, entfallen bei den Theatermachern mit non-literarischer
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Claudia Jeschke: Befremdung und Faszination. Anmerkungen zur Raum-, Körper- und Bewegungsästhetik im Theater Tadeusz Kantors. S. 231-242. Die in Deutschland sich abzeichnenden Innovationsimpulse in analoger Richtung gehen - sieht man von dem Regietheater der 70er Jahre ab - von den anderen Theatersparten aus, u.a. vom Bewegungs- und Tanztheater, wo sich der 'antiliterarische' Impuls in der Verabschiedung des Handlungsballetts (einschließlich seiner Erneuerung durch Cranko und andere) und in der Wiederanknüpfimg an die Alternativen vom Ausdruckstanz bis zum Modern Dance artikuliert. Vgl. den Beitrag von Theo Girshausen zur vergleichenden Wirkungsgeschichte: Ham/ei-Bilder im polnischen und deutschen Theater. S.u. S. 259-271.
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Theaterästhetik.61 Damit besteht die Möglichkeit, an die Jahrhundertwirkung anzuschließen, die der Theatersymbolismus außerhalb Deutschlands entfaltet, und der in Kantors Manifest Theater des Todes die programmatische Neuformulierung und in seinem Schaffen - bis hin zu seiner Maeterlinckiade Die Liebes- und Todesmaschine (Kassel 1988) nach La mort de Tintagiles - seinen imposanten Ausdruck findet. Es ist deutlich, daß diese Rezeption in ihren Anfängen - und zwar auf mehr als ein Jahrzehnt - primär professionell motiviert ist, d.h. durch das Interesse der Theatermacher selbst, erst in zweiter Linie von dem des Publikums getragen wird. Der eklatante Fall ist die internationale Wirkung von Jerzy Grotowski, deren anfängliche Vermittlung auf dieser Ebene leicht nachzuzeichnen ist. Die Öffiiung des Landes nach dem 'polnischen Oktober' ermöglicht den professionellen Kontakt, den u.a. Eugenio Barba vermittelt, auf den aber auch das Internationale Theaterinstitut mit seinem 8. Kongreß in Warschau (1963) dezidiert eingeht, wenn es die Gelegenheit wahrnimmt, das Laboratorium von Grotowski mit seiner Fawito-Produktion im benachbarten Lodz sozusagen international zu lancieren. Dieses gelangt so, zu einer Zeit, als es in Polen noch so gut wie unbekannt ist, in die westliche Theaterdebatte.62 Dies besagt, daß fur Grotowski - und in ähnlicher Weise für Kantor - die professionelle Kenntnisnahme von der Innovation und der neuen theatralen Programmatik Schlüsselfunktion gewinnt. Das Theater von Grotowski ist 'ein Begriff, bevor es im Westen zu sehen ist - wo im übrigen die extreme Limitierung der Zuschauerzahlen sowie die Ritualisierung des Zugangs zu der Aufführung eine breitere Rezeption mit unmittelbarer Publikumserfahrung ausschließt. Grotowskis internationale westliche 'Karriere' ist die der Propagierung seiner Maximen, weniger die der realen Begegnung mit seinem theatralen Werk. Es dürfte an dieser Konstellation liegen, daß sein Theater in Deutschland primär unter der Chiffre des 'Non-Literarischen' rezipiert worden ist, unbeschadet der Tatsache, daß es, bis auf Apocalypsis cum figuris auf hochliterarsiche Texte zurückgreift, die im nationalliterarisch polnischen wie im weltliterarischen Sinn in festen Traditionslinien stehen
(Kordian, Akropolis, Dr. Faustus, Der standhafte Prinz). Die Sprachbarriere fuhrt außerhalb Polens zu einer Aufnahme, die den zunächst für das Heimatland vorgesehenen Wirkungsmöglichkeiten offensichtlich entgegengesetzt ist, zumindest aber andere Prioritäten aufweist. Denn die Unbekanntheit der Werke der polnischen dramatischen Nationalliteratur - von Stanislaw Wys61
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Ähnliche Blockaden bestehen im deutschen Bereich etwa gegenüber dem Grotesktheater der Flamen, vor allem Michel de Ghelderodes. Jan Kott: Was tanzen wir noch vor den Göttern? In: Spektakel - Spektakel. Tendenzen des modernen Welttheaters. München 1972, S. 137.
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piañski bis zu Juliusz Stowacki, unter Einschluß von dessen Calderon-Übertragung - blendet den literarischen Aspekt dieses Theaters in Westeuropa und Amerika aus. Dennoch - oder gerade deshalb - wird Calderone Prinz, in der Verkörperung von Ryszard Cieslak, zum Inbegriff des Bühnenschaffens von Grotowski und zur Ikone des neuen polnischen Theaters.63 Außerhalb Polens gilt für Grotowskis Wirkung daher der Primat der Insider-Multiplikatoren, der internationalen Theateravantgarde-Festivals, mit ihrem reisenden Insider-Publikum, der Theater-Fachpresse und der von den professionellen Vereinigungen getragenen Veranstaltungen. Im Vergleich dazu bleibt die Rezeption seitens eines nicht-professionellen Publikums marginal. Für den deutschen Theaterzuschauer ist Grotowski Programm oder Legende, wie Peter v. Becker schon 1975 - anläßlich der im siebenten Jahr gezeigten Apocalypsis cum figuris auf der Biennale in Venedig - festgestellt hat: „Wohl kein weltberühmtes, seit Ende der 60er Jahre immer wieder gegen die bürgerlich-protzige Repertoirebühnen-Wirtschaft zitiertes Theater lebt heute so sehr nur noch vom legendären Hörensagen wie das 'arme Theater'" 64 Der Bericht illustriert die weiteren Sonderbedingungen für die Rezeption, auf denen der Autor besteht und die - als Verfahren gewertet durchaus Methode erkennen lassen. Selbst wenn Grotowski, wie bei der Münchner Olympiade 1972, seine Produktionen auf Großfestivals zeigt, sind sie dank Veranstaltungsstrategie und geheimgehaltenen Aufiührungsorten so ausgegrenzt, daß der Nimbus des Pseudosakralen entsteht bzw. erhalten bleibt und das Publikum in ein Arcanum eingeführt wird. Es handelt sich um eine Kipplage zwischen religiösen Prämissen und säkular-ästhetischer Umwertung, d.h. einer Rezeptionsleitung, die eine religiöse Aura für ästhetische Erfahrung zur Verfugung stellt. In ihr wiederholt sich eine Konstellation, die schon für wesentliche Bereiche der klassischen Avantgarde bezeichnend war. Der Nimbus verleiht der ästhetischen Rezeption mentale Emphase, ohne daß damit die Verbindlichkeit der entsprechenden Inhalte gefordert wäre. Eric Bentley hat dafür in seinem vielzitierten offenen Brief an Grotowski65 die prägnante Formel gefunden: „The church exists for you, whether God does or not, and the church has reality for you whether God does or not" - und er charakterisiert die Kontinuität der Avantgarde, d.h. auch der auf das Arca63
64 65
S.u. Ch. Β. Balme: „Das lebende Bild einer Methode": Zur Funktion der Theaterfotografie in der Rezeption der Theaterästhetik Jerzy Grotowskis, S. 244ff. Süddeutsche Zeitung, 15/16.11.1975. Dear Grotowski: an open letter from Eric Bentley. In: New York Times, 30.11.1969. - Eine ähnliche Kennzeichnung wählt Andizej Wirth in: Grotowski nach 20 Jahren. In: Theater heute, Jb. 1980, S. 144: Grotowski ist „ein Katholik, der η i c h t glaubt, aber praktiziert".
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num sich einlassenden Elite als Publikum, mit der berechtigten, ebenso historisch wie kritisch verstehbaren Bemerkung: „Christianity without belief has a tradition." Emphase wie Tragweite der Grotowski-Rezeption erklärt sich aus dieser Kipplage. Sie ist im Westen in erster Linie formal und ästhetisch, in zweiter Linie ideologisch im Hinblick auf das Verhältnis von Kunst bzw. Avantgarde und politischen Systemen, und erst in dritter, wenn überhaupt, inhaltlich im Sinne einer diffusen Anlagerung religiöser Momente. Andrzej Wirth hat in der Rückschau diese Wirkungsfaktoren prägnant umrissen und gewichtet. Primär ist die Auffassung des Raums als Funktion der Dramaturgie, in der Weise, daß jede Inszenierung über den Raum das Verhältnis von Spiel und Zuschauer programmiert. Das Publikum ist dem Geschehen etwa als mitfeierndes im Falle von Christopher Marlowes Faust zugeordnet oder als beobachtendes bei einer Vivisektion im theatrum anatomicum des Standhaften Prinzen einbezogen. Hinzu kommt das 'Exponieren des Spielers', close up zum Zuschauer, so daß dieser die kleinsten Veränderungen des körperlichen Ausdrucks direkt wahrnehmen kann. Die schauspielerische Überwältigung ist total, u.a. dank der Erzeugung eines Klang- und Resonanzraumes mit Hilfe des gesamten Körpers. In Verbindung mit der extremen Begrenzung der Zuschauerzahl fuhrt dies dazu, daß außer dem Gefühl der Erwähltheit das Empfinden der unmittelbaren Zeugenschaft körperlicher Ekstase entsteht.66 Diese formalen Innovationsgesichtspunkte sind im Theaterdiskurs, der sich mit Grotowski beschäftigt, überall gegeben, die metaphysischen Prämissen sind es nur bedingt. Es ist insofern nicht verwunderlich, als sich bei der Übernahme etwa durch amerikanische Gruppen, inhaltliche Verschiebungen ergeben. Bereits 1970 hat Kott unter der Fragestellung „Läßt sich [bei Grotowski] Methode und Metaphysik trennen?" konstatiert, daß die amerikanische Bühnenrezeption unter Ausschluß der religiösen Basis verläuft, so daß sich das Theatermodell politisch auflädt: „für diese Theater [der studentischen 'Neuen Linken'] war Grotowski der große Guru. Er lehrte die Mittel der Gewalt. Bei ihm mischen sich die Sprachen der gesellschaftlichen und sexuellen Revolution."67 Die Wirkungsgeschichte Grotowskis, die u.a. auf diesem Umweg - seit dem Gastspiel in New York 1969 - Westeuropa erreicht, ist dadurch mit so vielen Impulsen der amerikanischen Szene vermittelt,68 daß sie - cum grano salis - in einer allgemeinen Wirkungsgeschichte 66
A. Wirth: ebd.
61
Jan Kott: Was tanzen wir... (Anm. 62), S. 143. Zur Wirkung auf die einzelnen amerikanischen Gruppen - vgl. A. Wirth: Grotowski nach 20 Jahren (Anm. 65), S. 145f. In diesem Zusammenhang wäre auch die erweiterte Frage der internationalen Wirkung A. Artauds mitzuerörtern.
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des amerikanischen Theaters der 60er Jahre dargestellt werden müßte. Für die europäische Rezeption ist indessen die Wirkung der Programme und Interviews samt den Illustrationen und Abbildungen, sowie der Berichte und Erläuterungen der Mitarbeiter stärker richtungweisend, als es die Produktionen selbst sind. Dominant ist also die ästhetisch formale und theoretische Ebene, auf der Grotowskis Postulate mit großer Eindringlichkeit die Grundfragen von Theater und Darstellung aufwerfen und dabei Lösungen avisieren, die selbst als Grenzwerte zu bestimmen sind, bzw. zur Bestimmung herausfordern.69 Die Wirkung seiner Bühne bleibt demgegenüber 'legendär', in dem doppelten Sinn, daß sie zugleich durch ihren Ruf beglaubigt wird, realiter aber ungreifbar bleibt.
3.2.
Das Interesse an der Theaterreform bestimmt auch die Anfangsphase der Rezeption Tadeusz Kantors, der ab 1966, zunächst mit einer fünf Jahre zuvor entstandenen Witkiewicz-Adaptation von Das Wasserhuhn in der Bundesrepublik bekannt wird, danach über die internationalen Festivals in Rom und Nancy, sowie über das Atelier des recherches théâtrales des ITI in Dourdan seine Zugehörigkeit zur europäischen Avantgarde unter Beweis stellt. Weitere Multiplikatoren, vor allem französischer Provenienz - die Zeitschrift Travaille théâtral sowie die entsprechenden Dokumentations- und Interpretationsbände von Denis Bablet in der Serie Les voies de la création théâtrale ebnen die Wege zum professionell-artistischen Renommee. Erst danach setzte eine breitere Rezeption ein, die mit der späteren Werkphase Kantors, ab Tote Klasse, parallel geht70 und die sich dann, im Gegensatz zu Grotowski, jahrelang kontinuierlich und europaweit vollzieht. Die Spezifik der Rezeptions Kantors verdankt sich außerdem der Tatsache, daß der Künstler sein Schaffen Schritt für Schritt - und im höheren Maße als selbst Grotowski mit entsprechenden Manifesten begleitet. Aufgrund ihres theoretischen Niveaus wie ihres programmatischen Anspruches kommen sie der Innovationserwartung der professionellen Rezipienten ebenso entgegen, wie sie die Kontinuität der avantgardistischen Theaterkunst des Jahrhunderts vor Augen treten lassen und selbst direkt materialisieren.71 Ihr Genre ist sozusagen das69
70 71
S.u. Christopher Balme: „Das lebende Bild einer Methode." Zur Funktion der Theaterfotografie in der Rezeption der Theaterästhetik Jerzy Grotowskis. S. 243-258. August Grodzicki: Regisseure des polnischen Theaters. Warschau 1979, S. 115ff. Auch im Falle von Józef Szajna läuft die europäische Rezeption über die internationalen Festivals, mit Präsentationen der verschiedenen Fassungen von Replika seit 1971,
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jenige von Stéphane Mallarmés poème critique. Tadeusz Kantors Theater vermittelt sich dergestalt im Rückgriff auf den Symbolismus, auf Bauhaus und Abstrakt-Ästhetik der Vorkriegszeit mit den Bewegungen von Pop- und Op-Art, von Happening und Performance seit den 50er Jahren. Daß sein Theater des Todes mit den Elementen der Marionetten- und Puppenästhetik den direkten Anschluß an die Bühnenreform von Edward Gordon Craig und Maurice Maeterlinck herstellt, fuhrt zudem zu einer kulturgeschichtlichen Pointe, die sich freilich dem westlichen Betrachter erst im Nachhinein erschließt. Kantor überfuhrt die Ästhetik der von Maeterlinck als Androiden bezeichneten Kunstfiguren in die der 'Mannequins' - in der fundamentalen Weise von Bruno Schulz. Diese radikale Modernisierung der Androiden hat - wie auf anderer Ebene die surreal-abstrakte Ästhetik Witkacys - die überzeugende Gestalt von Kantors Werk in einer Weise bestimmt, wie sie westlichen Experimenten mit der Theatralik der Kunstfigur bis dahin nicht erreichbar war. Mit Kantors Schaffen wird daher nicht nur Eigenart und Leistung der dezidiert polnischen ästhetischen Entwicklung des ganzen Jahrhunderts ansichtig, sondern auch deren Profil im gesamteuropäischen Zusammenhang. Besonders in Deutschland, wo, theatergeschichtlich gesehen, die symbolistische und surrealistische Ästhetik nie wirklich Fuß fassen konnte, ist das polnische 'Androidentheater' - in seiner lückenlosen Tradition seit der Jahrhundertwende, und mit allen Varianten, wie sie bei Józef Szajna, später bei Kantors Schülern, aber auch etwa in den Produktionen der Seena Plastyczna auftreten - von größter Brisanz.72 Zumal in Kantors Version, in der sich die Modernität der Androiden, gemäß Bruno Schulz, mit der Ästhetik des objet trouvé und der modernen Bricolage-Kunst vereint, ergibt sich eine Konstellation, die für die deutsche Theatergeschichte neu ist. Sie macht außerdem sichtbar, was in der deutschen Theaterentwicklung versäumt und durch die
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wozu dann die späteren Produktionen seines 'szenographischen Theaters', vor allem die Arbeit nach Dantes Göttlicher Komödie und nach Cervantes' Don Quijote kommen. Macht man sich die Grundlinien des Rezeptionsvorgangs klar, so ergibt sich eine mehrfache Schichtung. Das Rezeptionsmuster, das von der einfachen Gleichung zwischen 'Systemlücken', etwa im deutschen Theater, und den entsprechenden Kompensationsimporten, etwa aus Polen, ausgeht, erklärt die Zusammenhänge nur bedingt. Zwischen geschaltet ist eine doppelte Schicht: die Ebene der programmatischen und theoretisch-ästhetischen Vorankündigung oder Propagierung, sodann, auf internationaler Ebene, ein im engeren Sinne westeuropäischer Rezeptionszusammenhang, der sich über das Netz weit gestreuter Avantgardismus-Zentren mit ihren Ansprüchen und normsetzenden Bewertungen als Instanz etabliert hat.
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politischen Gegebenheiten nach 1933 dann auf lange Zeit unmöglich geworden ist.73 3.3. Trotz des vorrangigen Interesses an der innovativen Ästhetik ist die Rezeption der polnischen Theaterwelt aber auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten historisch aufschlußreich. Eine Reihe von rezeptionsleitenden Motiven verdienen Beachtung, da sie im deutschsprachigen Bereich spezielle Resonanz finden. An erster Stelle ist das geschichtliche 'Bewältigungsmotiv' zu nennen, das in Deutschland an die Debatten der Jahre 1950-70 anschließt und das erneut Nationalsozialismus, NS-Verbrechen, Zerstörung in Osteuropa und den Genozid am jüdischen Volk vor Augen fuhrt. Gleichsam in der Umkehrung entspricht dem ein kultur- und religionsgeschichtliches 'Nostalgie'Motiv; es findet seine inhaltliche Grundlage in der Geschichte der multikulturellen Gebiete Mittelosteuropas vor der nazistischen Zerstörung und weist die ideelle Komponente eines religiösen, ethnischen und sozialen Miteinander auf, welches jeder Art von ideologischer Abgrenzung oder aber Gleichschaltung entgegengesetzt ist. Im Falle Kantors tritt es ab Wielopole, Wielopole deutlich in Erscheinung. Gleichwertigkeit und Kompatibilität eines christlich-polnischen und eines jüdisch-polnischen Lebens- und Religionsbereiches stehen quasi symbolisch für eine Konstellation von Mentalitäten, die gegenüber nationalgeschichtlicher Einlinigkeit zugleich die Funktion der rückwärtigen Utopie annehmen kann. Von vergleichbarer Tragweite dürfte aber auch - außer in der Ausprägung Kantors und auch in den Varianten seiner Nachfolger - das generelle metaphysische Motiv sein, das im Tod und in der Erinnerung des Todes den Zugang zur Welt transzendierender Erfahrungen erkennt und in neo-symbolistischer Weise theatral gestaltet. Der undogmatische, aber ebenso überraschende wie kreative Zugang zu dieser Sphäre stellt ein Novum fur die westdeutsche Theatererfahrung dar. Der religions- und mentalitätsgeschichtliche Fundus Polens stellt hier Symbole und Bilder bereit, die im deutschen Theater der Nachkriegszeit überwiegend in negativer, satirischer oder unmittelbar ideologiekritischer Umwertung aufgetreten sind. Das in Deutschland verschüttete Zutrauen sieht sich mit der Tragfähigkeit einer aus religiösen Populartraditionen von Jahrhunderten geprägten Symbolwelt gegenüber, die 73
Zu denken ist hier vor allem an Ansätze der Theaterästhetik des Bauhauses, die durch die nationalsozialistische Kulturpolitik radikal unterbunden wurden und in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende nicht wieder zu Geltung gebracht werden konnten.
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dank der avantgardistischen Ästhetik Tadeusz Kantors über die Bindung an die positive Religion hinausgeführt wird und eine universale menschliche Bedeutung gewinnt, die selbst der Kreuz- und Mahlsymbolik neue Relevanz sichert. Es liegt auf der Hand, daß diese inhaltlichen Schwerefelder über die rein formalen Innovationselemente hinaus die Rezeption polnischen Theaters in Deutschland der 70er und 80er Jahre mitbestimmen. Sie bilden ein Gegengewicht zu dem in Deutschland nach wie vor dominierenden Rationalismus des politischen, des dokumentarischen und des dialektischen Theaters, welches religóse Symbolik überwiegend einsetzt, um geschichtlich überholte Haltungen und menschlich wie sozial zweifelhafte Verhältnisse zu charakterisieren. Demgegenüber bieten Kantor und Szajna in diesem Zusammenhang - um auf eine Äußerung George Taboris zu sprechen zu kommen - ein Theater, das sich nicht, wie das Brechtsche, damit begnügt, die beantwortbaren Fragen zu stellen. Beide stellen sich - und darin ist eine auf zwei Jahrzehnte anhaltende Rezeptionsparallele zu erkennen - auch den unbeantwortbaren Fragen, ohne damit metaphysische und religiöse Antworten zu präjudizieren oder gar normativ zu setzen. Der innovative Impuls liegt vielmehr darin, daß die metaphysischen Grundfragen des menschlichen Daseins offengehalten, statt wie in der westlichen Dramatik als erledigt abgeschoben werden. Daß diese Fragen in Verbindung mit den historischen Erfahrungen von Nationalsozialismus, Vernichtung und Holocaust gestellt werden - in Akropolis, Replika, Wielopole74 - enthebt sie aller engen religiösen Verhaftung, läßt aber umgekehrt alle gängigen sozialgeschichtlichen oder psychologischen Erklärungsmodelle und Antworten als begrenzt erscheinen, wie sie vom dokumentarischen und politischen Theater angeboten worden sind. Besonders klar tritt dies im Falle von Szajna vor Augen. Nach Akropolis75 entwickelt er das Holocaust-Thema in den verschiedenen Varianten von Replika weiter. Die Vermittlung zwischen dem Holocaust-Thema und der Ästhetik der verbrauchten Materialien sowie der zerschundenen Puppenkörper verbindet die Objektgestaltung der Avantgarde mit der rassistischen Dehumanisierung der menschlichen Gestalt. Wie „in vielen europäischen Ländern" bringt Szajna mit seinen Variationen des „szenischen Environments und Requiems Replika" eine neue Version von Holocaust-Theater ins Spiel, die in Deutschland, als Gegenentwurf zum Dokumentartheater, auf höchstes ,4 75
Im Falle George Taboris wären zahlreiche Stücke seit Kannibalen zu nennen. In der Diskussion um Akropolis scheint mir vielfach die spezielle ästhetische Leistung von Szajna, der offenkundig für die szenische Gestaltung insgesamt, einschließlich der Kostüme, Requisiten etc. zuständig war, unterbewertet, so daß ein gewisses Ungleichgewicht im Verhältnis zu Grotowski entsteht.
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Interesse stößt. Dabei sind Elemente enthalten, die auch in der literarischen Holocaust-Dramatik der Bundesrepublik verbal benannt werden, Körperreste, der Berg der Schuhe etc.; sie erscheinen bei Szajna aber im Rahmen einer Ästhetik, die sich der theatralen Nutzung des Objet trouvé' verschrieben hat.76 Szajnas Schauspieler, die „inmitten von Schuhbergen, Lumpen, Erde, Körperresten"77 agieren, realisieren ein „Erinnerungsritual", das Wahrnehmung und Reflexion, Vorwissen und Rekapitulation in neuer Weise in Anspruch nimmt. Die Ästhetik des Schauspieltheaters, die der menschlichen Gestalt deren mannequinhafte Alternative hinzugesellt und aus dem Spannungsverhältnis zwischen beiden unterschiedlichste inhaltliche Akzentuierung entwickelt, läßt wiederum alternative Rezeption zu: das metaphysische 'Theater des Todes', als univesales Leidens- und Schuldspiel ebenso wie das historische 'Theater der Erinnerung' an die reale Zerstörungsgeschichte. Auf beiden Ebenen aber wirkt es als Alternative zu den textgeleiteten Formen der deutschen Holocaust-Dramatik. Abgesehen von diesen speziellen inhaltlichen Faktoren, welche die deutsche Rezeption mitprägen, teilt diese des weiteren mit der international-westeuropäischen ein allgemein-politisches und 'kultur'-politisches Grundmotiv. Auf Jahrzehnte verbürgt das neoavantgardistische Theater der Regisseure, wie es mit der Generation von Grotowski, Kantor, Swinarski und anderen in Polen in Erscheinung tritt, für Frankreich, Deutschland oder Italien die internationale Einheit der Avantgarde. Diese übergreift West und Ost, die ideologischen und politischen Systeme, und dokumentiert einen ästhetischen und theatralen Aufbruch, der die Freiheit des künstlerischen Intellekts gegenüber der politischen Systembildung wie auch allen philosophisch-ideologischen Systemansprüchen unter Beweis stellt. Wie zu Beginn des Jahrhunderts bildet die Theateravantgarde einen Zusammenhang jenseits der politischen Blöcke. In dem Moment, in dem das polnische mit dem amerikanischen und dem französischen Reformtheater zusammen gesehen wird, bildet die Avantgarde mit ihrem Kunstbewußtsein die solidarische Alternative, die sich gegen alle Systeme und allen Ideologie-Verschleiß ins Feld fuhren läßt. Kunst verbürgt nach wie vor die Möglichkeit des Überlebens, ein 'Jenseits' in der gespaltenen Welt. Daß die polnische Neoavantgarde in dieser Funktion fundamentalkritisch ist gegenüber den politisch-ideologischen Formationen in ihrem Heimatland - und nicht peripher kritisierend bei gleichzeitiger Affirmation
76
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Erneut ergibt sich eine unmittelbare Entsprechung zu George Tabori, insbesondere zu dessen Verfahrensweisen in seinen 'Shylock-Improvisationen' (1978), Ich wollte meine Tochter läge tot zu meinen Füßen und hätte die Juwelen in den Ohren. Peter von Becker: Polen, Theater- und Kulturpolitik 4 Jahre nach dem Kriegsrecht. In: Theater heute 1986, H. 2, S. 2.
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wie in anderen Ländern des Ostblocks - weist die Prominenz des polnischen Regietheaters schon zu Beginn der 60er Jahre aus. Es ist dieser historische Vorsprung der polnischen Theatermacher gegenüber der in anderen Ostblockländern erst später auftretenden avantgardistischen Opposition, der zumal nach 1968, d.h. nach der Erstickung des Prager Aufatmens - die paradigmatische Rolle des polnischen Theaters immer erneut bestätigt.
3.4.
Die genannten historischen und ästhetischen Prämissen der Rezeption treten auch in Erscheinung, wenn es um die Nachfolgegeneration der polnischen Avantgarde geht und die überregionale Aufmerksamkeit, die diese in der Bundesrepublik bzw. in Deutschland findet. Dabei treten bestimmte Prämissen sogar noch schärfer hervor als vorher. Dies sei an drei Theaterereignissen der letzten Jahre noch andeutungsweise erläutert. Eine bezeichnende Rolle spielt Janusz Wisniewski, für dessen Bühnenkreationen Der schwarze Zug oder Ankunft Quai Vier die vom Autor in Interviews expressis verbis bekannte christliche Bindung zum Schlüssel der Erörterung der Stücke seitens der Rezensenten wird. Die Verwunderung darüber, daß eine Aufführung in so deutlicher Weise die Anlehnung an christliche Themen und Glaubensinhalte erkennen läßt oder diese sogar mit dem Gestus der propaganda fidei ausstellt, ist vielfach in den Rezensionen zum Ausdruck gekommen.78 Sie ist an sich aufschlußreich genug. Noch bezeichnender sind aber die daran anschließenden Erklärungsversuche mit apologetischer Tonlage. In Wisniewskis Theater, so heißt es dann, könne man die religiöse Tendenz immer wieder vergessen oder übersehen, und zwar dank der phantasievoll vielseitigen Theatralik, die mit allen Raffinessen eines an Zirkus, populärer Schaustellerei und Figurentheater orientierten Ästhetik arbeite. Verwunderung wie Apologie spiegeln in diesem Falle aber zugleich Grundzüge der Rezeption des polnischen Regietheaters, die jahrzehntelang ständig gegeben waren und jetzt aufgrund von Verstärkung auffallig werden. Dadurch kommt zum Bewußtsein, was seit Beginn der 70er Jahre diese Rezeptionsgeschichte gekennzeichnet hat, nämlich eine Doppelperspektive, die es erlaubt, die ästhetische Innovation anstelle der Inhalte religiöser Herkunft zu setzen oder diese selbst zu ästhetisieren. Als weiterer Zugang bleibt eine grundliegende Historisierung möglich, die zwischen geschichtlicher und me-
78
P. Langemeyer: Engel, Skins und Gottesmörder. Polnisches Theater in Deutschland. In: Deutsch-polnische Ansichten, Jb. 1992, S. 198.
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taphysischer Deutung unterscheidet, um dann aufgrund der vielstimmigen Interpretationsangebote, die die Bühne bietet, erneut zu wählen. Ein ähnlicher Vergrößerungseffekt im Hinblick auf die zurückliegenden Rezeptionsmotive charakterisiert auch die Reaktion auf das Teatr Kreatur von Andrzej Woron in Berlin. Der kultur- und religionsgeschichtlich nostalgische Zug, wie er u.a. schon im Falle von Kantor in Erscheinung getreten ist, tritt nun in den Vordergrund. Er sichert den Produktionen das inhaltlich tragende Interesse: an der Kultur des Traditionsjudentums im russischen Odessa in dem nach Isaak Babels Erzählung gestalteten Armenhaus, an der ostjüdischen Erzählliteratur im Falle des von Itzig Manger szenisch nacherzählten Buches vom Gan Eden. Ähnliches gilt fur die Rolle der Orthodoxie in Ost-Polen und ihre Splittersekten im Falle des Propheten Ilia, einer Inszenierung von Tadeusz Siobodzianeks Drama, das ursprünglich fiir das ostpolnische Teatr Wierszalin geschrieben worden war. Auch bei Woron begleitet die programmatische Erklärung das theatrale Vorgehen und die Produktionen, wenn er von der „Sehnsucht nach Vergangenheit" als Basis seines Schaffens spricht: „Fast in jedem Stück baue ich den Beginn wie ein Foto. Entweder schaffe ich es, die Leute in ein Album einzuladen oder nicht. Warum Vergangenheit? Ohne Geschichte gibt es keine Zukunft."79 Dies gilt im übrigen auch im Hinblick auf die kunst- und literaturgeschichtlichen Vorgaben, auf denen seine Bühnenästhetik basiert, wie vor allem Worons grand œuvre zeigt. Mit diesem bringt er die geistige und ästhetische Prämisse der polnischen Neoavantgarde, das Hauptwerk von Bruno Schulz, Die Zimtläden, direkt auf die Szene. Das théâtre à l'image du mannequin, in dem die symbolistische Figurenästhetik mit dem objet trouvé und der westlichen popart vermittelt ist, feiert seine eigene theatergeschichtliche Genese. Es ist offensichtlich, daß auch das nach-Kantorsche polnische Regietheater weiterhin inhaltliche und formale Strukturen verwirklicht, die im Gesamtbereich des deutschen Theaters nirgendwo anderweitig auffindbar wären. In einem freilich muß sich die Generation der Kantor-Schüler umorientieren, wie u.a. auch der Leiter der Nachfolgetruppe des Theaters Cricot 2, Andrzej Welmmski, mit seiner jüngsten Produktion nach Franz Kafkas AmerikaRoman zu erkennen gibt. Die Lücke muß aufgefüllt werden, die Tadeusz Kantor, seit er auf der Bühne als Gestalt nicht mehr auftreten kann, hinterlassen hat. Man schließt sie durch Wiedereinführung von Literatur, nicht nur als inhaltliche Quelle des gesamten Spiels, sondern auch in Gestalt eines Autors oder Erzählers, der auf der Bühne auftritt und die schweigende Imagination Kantors durch die beredte ersetzt, in der er als Erzähler die Vorgänge auf der 79
Andr(z)ej Woron in dem Gespräch mi Friedhelm Teicke: Wir spielen nur Theater. In: Theater der Zeit 1994, H. 5, S. 14.
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Bühne strukturiert. Bei Woron ging es um die Zimtläden, und der Autor, Bruno Schulz, dem der Meistertext des polnischen Theaters dieses Jahrhunderts, der Traktat über die Mannequins oder das Zweite Buch Genesis zu verdanken ist, beobachtete in persona das Geschehen; bei Wdmmski ist der Kafka'sehe Erzähler des Amerika-Komanes im Spiel. Und auch in den anderen Produktionen, gleichgültig ob es sich um die Erzählung Babels oder wie bei Wisniewski - um das Evangelium nach Lukas handelt - nimmt das Buch wiederum Ansprüche auf der Bühne wahr und entsendet Erzählerfiguren, die der Szene zu Hilfe eilen.80 Jerzy Grotowski hat, soweit ich sehe, in Deutschland viel vermittelte, aber wenig unmittelbare Bühnennachfolge gefunden; auch Übernahmen aus Amerika lassen ihn eher als Theoretiker in Verbindung mit anderen Konzepten in Erscheinung treten. Seine Präsenz ist die der Theorie, sie beschränkt sich auf einen professionellen Innenraum. Anders liegen die Dinge bei Kantor und dessen Brückenschlag von der klassischen Avantgarde zur Neoavantgarde. Seine direkten oder indirekten Schüler halten auch in Deutschland nach der Wende polnisches Theater präsent, und das möglicherweise in höherem Maße als die Vertreter des polnischen Dramas. Dieses Theater der jüngeren Generation versteht sich ausdrücklich - gegen Grotowski gewendet - als „reiches Theater" (Wisniewski). Und so wird es in Deutschland rezipiert: als Fundus von Spielformen aus allen Bereichen der Theater- und 80
Es bestätigt die bisherigen Erfahrungen, daß sich Wisniewski in seiner jüngsten Düsseldorfer Inszenierung mit Shalomo An-Skis Dibbuk einem Schwellenwerk des östlichen Judentums zugewandt hat. Auch im einzelnen werden tragende Motive, die die Rezeption der polnischen Theatermacher bestimmt haben, ausdrücklich benannt. Wiániewskis Dibbuk-Version (Premiere 13.12.1996) reichert Passagen des ursprünglichen Dramas mit Zitaten an, die aus der Bibel und der europäischen Dichtung von Hölderlin und A. Mickiewicz bis zu T. S. Eliot genommen sind. Dem Programmheft liegt bezeichnenderweise dann ein Text zu 'Der Dibbuk' bei: es handelt sich um den genannten Gewes/s-Traktat aus Bruno Schulz' Zimtläden. Als eigenen Text fugt Wiániewski einen Brief an die Schauspieler (und dann an das Publikum) hinzu, in dem er auf Wachtangows legendäre jDiiétó-Inszeniening für die Habima von 1920 verweist, sowie auf Fotografien dieser Aufführung, von denen seine neue Inszenierung ihren Ausgang nehmen soll. Des weiteren verspricht der Regisseur, daß auf der Bühne ein Doppelgänger statt seiner, ein Direktor eines „Lumpentheaters", die Verantwortung übernehmen wird und daß man bei den Schmierenkomödianten, die die Aufführung agieren, nicht sicher sein kann, ob die, „die nebeneinander stehen, tatsächlich alle noch am Leben und nicht längst schon gestorben sind". Schließlich beruft er sich dann insgesamt auf den Vorgänger-Regisseur des Stücks, den 'alten Meister' und dessen Theaterbegriff: „Einige Lumpen, eine alte Perücke, künstliches Licht, etwas Schminke, Figuren zu hölzernen Puppen erstarrt. Wachtangow sagt, daß dies ausreicht für den eigenen Ruf zu Gott."
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Kulturgeschichte, neoavantgardistisch erneuert, und mit einem vielseitigen inhaltlichen Angebot versehen, welches historische und zugleich universale Deutungshorizonte erschließt. Nach wie vor dürfte es eines seiner provokativen Kennzeichen sein, daß es auch die unbeantwortbaren Fragen stellt, die früher einmal ausschließlich religiös, danach viele Jahrzehnte lang politisch und ideologisch beantwortet wurden. Die Überzeugungskraft solcher Antworten hat sich ebenso verloren wie die Systeme, die sie erzeugten. Das Theater läßt es sich aber nicht nehmen, solche Fragen dennoch immer erneut ins Spiel zu bringen.
Anna Milanowski
Polnisch-österreichische Theaterwechselwirkungen nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1989. Eine Mentalitäts- und Wirkungsgeschichte1
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Regierungen der Volksrepublik Polen und die Österreichische Bundesregierung ein Abkommen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kultur und Wissenschaft erst am 14.06.1972 in Wien geschlossen. Die in tnehijährigen Abständen folgenden Übereinkommen zwischen den beiden Staaten festigten die Ergebnisse der Zusammenarbeit und bestimmten ihre weitere Entwicklung. 2 In dem auf Polnisch und Deutsch verfaßten Kapitel „Kultur und Kunst" finden sich entsprechende Artikel, die den Repertoireaustausch zwischen Theatern befürworten. Dieser Beitrag stützt sich auf die Ergebnisse von Untersuchungen, die im Rahmen des Forschungsprojektes „Polnisch-österreichische Theaterbeziehungen 1918-1939 und 1945-1989" durchgeführt wurden. Unter Leitung Wolfgang Greiseneggers (Wien) wurde von der Verfasserin „eine Mentalitäts- und Wirkungsgeschichte" erarbeitet. Die Forschungsarbeit beschränkte sich auf ausgewählte Theaterzentren und Sprechtheater mit festem Sitz. Für den Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg umfaßten die Untersuchungen (Wechselwirkung des Repertoires, Gastspiele, Gastauftritte) in Polen die Sprechtheater in Danzig, Krakau, Lódz, Posen, Warschau, und in Österreich jene in Graz, Innsbruck, Linz, Salzburg und Wien. Es sei zugleich betont, daß das vorgestellte Bild nicht das volle Spektrum der wichtigen Theaterzentren ausschöpft und sicherlich noch mehrere Lücken aufweist. Im zeitlich begrenzten Rahmen der Forschungsarbeit konnten vor allem wichtige polnische Theaterzentren wie Breslau, Thorn und mehrere andere, auch kleinere Orte mit bedeutenden Theaterhäusern nicht in die Untersuchungen einbezogen werden. In den Jahren 1992-1995 wurde das Projekt vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Wien) finanziert. 2
Ein letztes dieser Übereinkommen, von der polnischen Seite am 13.07.1994 in Wien vom damaligen Botschafter Wladyslaw Bartoszewski unterschrieben, gilt, „sofern dieses Übereinkommen nicht 60 Tage vor Ablauf seiner Geltung schriftlich auf diplomatischem Wege gekündigt wird, darüber hinaus bis zum Inkrafttreten eines zukünftigen Übereinkommens, aber nicht länger als bis zum 31. Dezember 1999 (Artikel 59)". Dieses und die weiteren Zitate der Übereinkommen nach den Unterlagen des polnischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten. Die Texte der Übereinkommen wurden in den entsprechenden Jahrgängen in Polen in Dzienniki Ustaw Polskiej lizeczypospolitej Ludowej (nach der Wende Dzienniki Ustaw Polskiej Rzeczypospolitef) und in Österreich in den Bundesgesetzblättern ßir die Republik Österreich veröffentlicht.
Polnisch-österreichische
Theaterwechselwirkungen
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Einen besonderen Wert legten die beiden Staaten auf direkte Kontakte ganzer Ensembles und einzelner Künstler. Dieser gute Wille, ähnlich wie der Wille zur Anregung des Repertoireaustausches, findet einen Ausdruck in allen Übereinkommen, vor allem in dem letzten, siebenten. Längst jedoch vor dieser offiziellen Bestätigung der zwischenstaatlichen Kulturkontakte, die freilich nicht zu unterschätzen ist, zeichneten sich die Theaterbeziehungen beider Länder durch eine quantitativ intensive, obwohl nicht immer linear verlaufende Entwicklung aus. Die traditionell guten Beziehungen beider Staaten, durch die Neutralität Österreichs erleichtert und ohne historische Belastung im polnischen kollektiven Bewußtsein, haben eine rege Kontaktaufnahme auf dem Gebiet der Gastspiele und der Gastauftritte, freilich erst ab Anfang 1956, ermöglicht. Die Besatzungstruppen der vier Alliierten hatten 1955 die bisher geteilte Stadt Wien verlassen, die nunmehr die Hauptstadt eines neutralen Staates sein sollte. In Polen kündigte sich die Zeit des Tauwetters an. Sobald es also möglich war, kam es zu einem ersten Theateraustausch beider Länder. Die Gastspiele von ganzen Ensembles, zumeist aus den bedeutendsten Häusern beider Länder wie z.B. dem Wiener Burgtheater, dem Stary Teatr in Krakau sowie dem Warschauer Teatr Narodowy und Teatr Studio, bezeugen einen lebhaften Kontakt, der sich allerdings mit der Zeit durch eine immer größere Einseitigkeit auszeichnete, bis es ab den 60er Jahren nur mehr zu Gastspielen polnischer Theater in Österreich kam. Nachdem in den Jahren 1956 und 1967 das Burgtheater in Krakau und in Warschau gastiert hatte, fand nur noch ein Gastspiel des Kleines Theaters Salzburg im Jahre 1980 in Warschau statt. Diese Tendenz zu einem intensiven, wenngleich auch einseitigen Theateraustausch nahm Anfang der 90er Jahre rapid zu, um in der Mitte der 90er deutlich nachzulassen. Nicht anders gestaltete sich der Austausch von Regisseuren und Bühnenbildnern, der sich fast ganz auf die Gastaufenthalte polnischer Theaterkünstler in Österreich beschränkte. In Polen war lediglich ein österreichischer Regisseur, nämlich Willibald Bernhart aus Graz tätig, der zweimal, einmal im Teatr Adekwatny in Warschau (1980) und einmal im Stefan Jaracz-Theater in Lodz (1984) Regie führte. Der von Bernhart im Stefan Jaracz-Theater in Lodz inszenierte Anatol-Zyklus von Arthur Schnitzler war zugleich die polnische Erstaufführung dieser Einakter, auf die die Theaterkritik mit angemessenem Lob reagierte. Die Kritiker sahen in Anatol „nicht allzu gefährliche Konflikte", „ein paar stimmungsvolle Bilder aus der Gegend des Praters", obwohl mit der Vorahnung verbunden, daß „diese
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Konflikte schon außerhalb der Bühne, und den Zuschauern unzugänglich, schwere Folgen haben könnten".3 Die Barrieren, welche eine Sprache stellt, die keine Weltsprache ist, die mangelnde finanzielle Attraktivität solcher Transaktionen und die wahrscheinlich mehr oder weniger latente Überzeugung des Westens, daß das Theater seinen Schwerpunkt nicht im Osten Europas habe, können als mögliche Gründe für diese Entwicklung erkannt werden. Jedoch auch diese nach Österreich führende Einbahnstraße mündete teilweise in eine Sackgasse. Waren in den 70er und bis Mitte der 80er Jahre auf der ersten österreichischen Bühne, im Burgtheater, renommierte polnische Regisseure wie Erwin Axer, Konrad Swinarski, Kazimierz Dejmek, und Bühnenbildner wie Ewa Starowieyska oder Andrzej Majewski präsent - das Team Axer-Starowieyska gestaltete in jahrelanger Zusammenarbeit Aufführungen von neun Stücken, darunter der Schwärmer von Robert Musil, die diesem bisher als Lesedrama geltenden Stück zum Durchbruch verhalf - so hat seit 1986 kein Theaterkünstler aus Polen mehr das Burgtheater oder eine seiner sonstigen Bühnen betreten. Diese Tendenz läßt sich auf die anderen Wiener Bühnen und auf die Theater der Bundesländer ausweiten. Ein Stück Vergangenheit ist nunmehr die Zeit der 70er und 80er Jahre, da die Regisseurin und Schauspielerin Romana Próchnicka in Wien, Graz und Salzburg mit größtem Erfolg Regie führte und mit diversen österreichischen Preisen ausgezeichnet wurde.4 Zu den polnischen Regisseuren, die mehrere Jahre erfolgreich auf österreichischen Bühnen in Wien, Graz und Salzburg arbeiteten, gehört der verstorbene Regisseur und Schauspieler Jan Biczycki. Völlig aus dagegen blieb der Erfolg bei der vorzeitig unterbrochenen Gastregie Konrad Swinarskis am Burgtheater, dessen Inszenierung Eduard II von Marlowe im Jahre 1972 von Presse und Publikum vernichtend kritisiert wurde. Ein positives Bild läßt sich anhand des Repertoireaustausches, mit etwa 60 Premieren von Werken österreichischer Autoren in den fünf untersuchten polnischen Städten und etwa 60 polnischer Stücke in Österreich zeichnen. Zielte die vorliegende Arbeit nur auf eine bloße Zusammenstellung von Fakten aus dem Gebiet des Austausches und der Wechselwirkung im Theaterleben beider Staaten, so könnte sie sich mit quantitativen Feststellungen in bezug auf Gastspiele ganzer Ensembles, auf die Kontakte einzelner Theaterleute, wie auch auf den Austausch des Repertoires zufrieden geben. Aufgrund jedoch von wechselseitigen Fehlinterpretationen hat es sich als unent3 4
J. M. Fiedosiejew: Kilka obrazków ζ okolic Prateru. In: Gtos Robotniczy, 19.09.1984. 1975 erhielt er den Preis der Stadt Wien für die Regie der Aufgabe von Hans Krendlesberger im Theater 'Die Tribüne' in Wien (1974); 1984 Girardi-Medaille der Stadt Graz.
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behrlich erwiesen, den Gründen für diese Tatsachen nachzugehen. Die Ursachen für die nicht nur spezifisch polnischen „Schwierigkeiten mit dem Österreichischen" und die qualitativen Hindernisse bei der Rezeption von Werken polnischer Autoren auf österreichischen Bühnen sind auf die gegenseitige mangelnde Kenntnis der unterschiedlichen literarischen Codes der beiden Völker zurückzufuhren, die sich, trotz aller Gemeinsamkeiten, im Laufe der Geschichte unter bestimmten politisch- und soziokulturellen Bedingungen entwickelt haben. So wurde das Bestehen eines „mythologischen Hintergrunds" in der österreichischen Literatur oder „die Verfahrensweise, die eine realistische Wirklichkeit in einen stark mythologischen Text verwandelt"5 von den polnischen Theaterschaffenden vorwiegend nicht erkannt. Ähnlich wurde das „aphoristische Denken" in der österreichischen Literatur auf den polnischen Bühnen oft nicht entziffert und daher banalisiert. Die „literarisierte psychoanalytische Methode" Schnitzlers wurde ebenfalls nicht selten fehlinterpretiert, wie z.B. im Fall der Aufführung des Reigens, eines Kassenschlagers, als Pornofarce in Krakau im Jahre 1986. Für Polen steht der romantische Code, der aufgrund der herausragenden Stellung der Literatur Eingang in die Mentalität jedes Einzelnen gefunden hat. Die romantische Literatur in Polen entwickelte eine hermetische symbolreiche Sprache, die ihre Rezeption im Ausland erschwert. Die polnische Literatur, die nach den Teilungen Polens „den Dienst an der unglücklichen Heimat aufgenommen hat" (Zeromski), hatte scheinbar andere Sorgen als sich ausschließlich mit den inneren Vorgängen ihrer Protagonisten zu befassen. Sie wollte den fehlenden Staat ersetzen, Herzen ermutigen, damit sie „Gemeinheit nicht verdirbt", für die bedrohte Identität der Nation sorgen.6 Sie hatte doch die Aufgaben eines Staates übernommen, wenn sie die Fragen nach der Stellung des Nationalen im Rahmen des Universellen thematisierte. Sie tat das aber in einem literarischen Code, der nur im Kontext von „polnischen Engeln, polnischen Helden, des polnischen Duells mit dem Schicksal und des polnischen Gottes" verstanden werden konnte.7 Hat 5 6
7
Stefan H. Kaszyñski: Identität, Mythisierung, Poetik. Poznan (Posen) 1991, S. 8. „Dies ist der polnischen Dichtung auch in bewundernswürdigem Maße gelungen, obwohl die Umstände, besonders im russischen und im preußischen Teil Polens (Unterdrückung des polnischen Schul-, völlige Vernichtung des Hochschulwesens zum Beispiel), alles andere denn günstig für ein solches Unterfangen waren. In diesem ihrem Ringen um die Nation hat die polnische Dichtung mit ihren größten Gestalten, allen voran Adam Mickiewicz, Weltrang gewonnen"; zitiert nach Günther Wytrzens: Polnische Literatur zwischen den beiden Weltkriegen. In: Hefte für Literatur und Kritik 1961, H. 1/3, S. 21. Marcin Król: Polska mysl polityczna XIX wieku. In: Jerzy Kloczowski (Hrsg.), Uniwersalizm i swoistosé kultury polskiej. Bd. 2. Lublin 1990, S. 167.
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sie sich nicht selbst für einen bestgesinnten Europäer als unverständlich erklärt und zu einer ewigen Verbannung aus dem gemeinsamen europäischen Erbe verurteilt? Auf ewig unverständlich für den bestgesinnten Europäer, so die Selbsterkenntnis und das bittere Urteil. Freilich nicht ohne eine Hoffnung, die sich dahinter verbarg, daß es doch einmal anders kommen würde. Die Fragestellungen, mit denen sich eine bürgerliche Kultur auseinandersetzte, die psychologische Vorgänge schon ab Grillparzer und die moderne Zerrissenheit ab Nestroy bis zum Mach'schen „unrettbaren Ich" und dem damit verbundenem Bewußtseinsdrama der Wiener Moderne waren dieser Literatur scheinbar nicht eigen. Und den auf ihre Leistungen geschulten Rezipienten, sei es Theaterregisseuren, Schauspielern und den der Augenblickskunst beiwohnenden „sekundären Schauspielern", dem Publikum, erst recht nicht. Die „Täuschungen und Erdichtungen" österreichischer Literatur als ein Versuch, „dem unerträglichen Skandal des Schmerzes auszuweichen und weiterzumachen"8, die „Kunst der Flucht" und der Suche nach der geahnten und nicht gekannten Heimat, die fortdauernde Suche „nach der eigenen, österreichischen Identität", und „die Weigerung sich mit dem deutschen Element zu identifizieren",9 wurden meistens mißverstanden und im besten Fall als „ein Schwindel im dreiviertel Takt", wenn nicht als eine Fröhlichkeit ohne Apokalypse auf den polnischen Bühnen umgesetzt. Die Tatsache blieb unbemerkt, daß unter der Einwirkung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in dem „staatgewordenen Paradoxon" von Universalismus und Pluralität der nebeneinander lebenden Kulturen, wo man trotzdem gerne lebte und die anderen meistens leben lassen wollte, in der Jahrhundertealten österreichischen Kultur" mit ihrem Sinn für den Zauber und die Theatralisierung des Alltags, ein Prototyp des postmodernen Menschen, „eines Darüber-hinaus-Menschen, eine neue Form des Ich, nicht mehr kompakt und einheitlich"10, entstanden ist. Eine Entwicklung, die in den Spitzenleistungen der Wiener Moderne kulminierte und die für Moriz Csáky mit den um ein Jahrhundert späteren neuesten Theorien in den USA zu vergleichen ist, mit jenen Theorien, welche die amerikanische Multikulturalität, den Begriff Amerikas, auf eine in8 9
10
Claudio Magris: Donau. München 1994, 2. Auflage, S. 289. Ebd., S. 239, 32. Vgl. dazu auch die Worte von Konrad Paul Liessmann: „Wann immer das Österreichische in Abgrenzung zum Deutschen als Tugend formuliert wird, ist es die Tugend vergangener Multikulturalität. [...] der Verweis aufjene Wurzeln, die zu einem Konglomerat der Ethnien, Religionen und Kulturen geführt hatten und die angesichts neuer Migrationsbewegungen beschworen werden"; zitiert nach Konrad Paul Liessmann: Kakanien. In: Das Millennium. Essays zu tausend Jahren Österreich. Hrsg. von Gernot Heiss, Konrad Patii Liessmann. Wien 1996, 2. Auflage, S. 176. Claudio Magris: Utopie und Entzauberung. Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1996. Salzburg, Wien 1996, S. 9.
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terdisziplinäre Art zu definieren versuchen.11 Es war der Anfang einer Entwicklung, die der österreichischen Literatur ein Zeugnis der Modernität ausgestellt hat, und die aus unserer Gegenwart nicht mehr wegzudenken ist und die man nicht einfach als „Horror der Postmoderne" abtun kann. 12 Die spezifischen literarischen Codes beider Länder riefen also, fortgeführt, immer wieder aufs Neue umkämpft oder auch als „Bruchlinien"13 verbleibend, nicht immer aber erkannt oder nur oberflächlich und klischeehaft betrachtet, die erwähnten Mißverständnisse und Fehlinterpretationen hervor. Die Gefahr der Konfrontation mit einem falschen Bewußtsein und „einer klischeehaften Identifikation mit einer 'erfundenen' kulturellen Vergangenheit"14, mit den Vorstellungen einer Nation über sich selbst, hat sich ebenfalls als sehr real erwiesen. Im Gegensatz zur Theaterpraxis, die eine solche Gefahr nur selten erkannte und sich - mit Ausnahme von Rrystian Lupa in Polen - meistens täuschen ließ, verweisen einige neuere Forschungsarbeiten beider Ländern indirekt auf die möglichen Ursachen der Mißverständnisse.15 11
12
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14 15
Moritz Csáky: Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität. Wien, Köln, Weimar 1996, S. 260f. Vgl. dazu Józef Zyciñski: Postmodernizm w Kusiçtach Duzych. In: Tygodnik Powszechny, 20.04.1997; Ryszard Legutko: Horror postmodernistyczny. In: Znak, Nr. 493, S. 128-135. Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg, Wien 1995. Moritz Csáky: Ideologie der Operette (Anm. 11), S. 104. So findet Miloslawa Bukowska-Schielmann selbst in der Hochzeit von Stanislaw Wyspiariski keinesfalls mehr eine Anklage der Vergangenheit, sondern die Unfähigkeit die „eigene Vergangenheit zu erkennen, wo die falschen Voraussetzungen zur Tat gesehen werden"; zitiert nach Miloslawa Bukowska-Schielmann: Wyspianski. Warianty odbioru. In: Studia o dramacie i teatrze Stanislawa Wyspiañskiego. Kraków 1994, S. 27f. In diesem Sinn spricht auch Dobrochna Ratajczakowa vom historisch-mentalen Erbe der Polen als einem Erbe der Fixierung auf die eigenen heroisch-romantischen Mythen einerseits, auf den in der Epoche zwischen den Aufständen 1830 und 1863 entstandenen Mythos vom ruhigen, idyllischen Gutshof auf dem Land und seiner biedermeierlichen Lebensweise anderseits, als ein Ergebnis der Zwangssituation und des Interesses für das eigene Milieu und dessen Überdauern. Vgl. Dobrochna Ratajczakowa: Obrazy narodowe. Wroclaw (Breslau) 1994, S. 86. Hier kommt es zu einem Aufeinandertreffen des einsamen, extrem individuellen Protagonisten byronistischer Herkunft aus dem polnischen romantischen Drama und dem damit scheinbar kaum zu vereinbarenden „sogenannten vernünftigen Sentimentalismus, der nahe mit einer anderen Strömung der damaligen Kunst, dem Biedermeier verwandt war" und den bürgerlichen Tugenden. - Vgl. Ratajczakowa, S. 85. Hier tritt, ähnlich wie so oft in der österreichischen Literatur, auch ein gewöhnlicher Mensch mit seinen Alltagsproblemen auf, die „bei dem familiären Tisch oder im gemütlichen Garten mühelos gelöst werden". Eine solche Praxis, die in den beiden Ländern aus der historischen Situation resultierte, er-
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Von den zehn polnischen Autoren, die nach dem Krieg auf den österreichischen Bühnen präsent waren, steht Slawomir Mrozek mit etwa 33 Premieren an der Spitze. Zwischen 1967 und 1968 wurde allein sein Tango in Wien (Theater in der Josefstadt), Salzburg (Landestheater), Linz (Landestheater), Graz (Schauspielhaus) und Innsbruck (Landestheater/Kammerspiele) gespielt. In Wien haben etwa 19 Premieren von Mrozek-Stücken stattgefunden, und von der österreichischen Erstaufführung der Polizei im Kleinem Theater in der Josefstadt 1960 bis zur Aufführung von Tango im Theater Brett 1988 wurden seine Stücke auf den Wiener Bühnen die ganze Zeit über mit einer ziemlich gleichen Intensität gespielt. An Grazer und Innsbrucker Theatern wurde Mrozek je drei Mal, in Linz und Salzburg je vier Mal aufgeführt. Einige dieser Inszenierungen wurden zu einem großen Erfolg, wie etwa der Tango in der Regie von Jan Biczycki in Graz, oder dasselbe Stück, das im Theater in der Josefstadt als Farce wohl fehlinterpretiet worden war. Nach Slawomir Mrozek gehört Witold Gombrowicz mit etwa neun Premieren auf österreichischen Bühnen zu den meistgespielten polnischen Autoren. In Wien werden seine Stücke zwischen 1965 (Die Trauung, Studententheater) und 1988 sechs Mal, in Graz, Linz und Innsbruck je einmal aufgeführt. Als erstes polnisches Stück wurden nach dem Krieg in Österreich Die Sonnenbrucks von Leon Kruczkowski im Neuen Theater in der Scala 1950 in Wien und als letztes das Frühstück bei Desdemona von Janusz Krasmski im Linzer Theaterkeller im Ursulinenhof 1987 inszeniert. Außer Roman Brandstaetter mit drei, Jerzy Broszkiewicz, Jacek Bochenski und Ireneusz Iredynski mit je zwei Premieren, kamen auch zwei Stücke von Stanislaw Ignacy Witkiewicz zur Aufführung: Narr und Nonne im Ateliertheater am Naschmarkt in Wien (Deutsche Erstaufführung am 15.09.1966) und Die Pragmatiker im Experimenttheater in Wien 1968 (Österreichische Erstaufführung). Die deutschsprachige Erstaufführung von Er ging aus dem Hause von Tadeusz Rózewicz am 25.05.1968 im Experimenttheater war zugleich die einzige Aufführung von Werken dieses Dichters in Österreich. Verdienste um die Aufführungen von Stücken polnischer Autoren hat sich das Wiener Ateliertheater am Naschmarkt erworben. Unter den sieben in diesem Theater weckte „die Welt im Lichte der Resignation", „eine wirklichkeitsfremde Realität" zum Leben. (Ebd., S. 86) Das Recht auf eine solche Art des nationalen Gedächtnisses, in dem sich ein Platz für die Bilder aus einem Leben zwischen Sein und Schein findet, wird von Ratajczakowa betont und gefordert: ein Recht und eine Fähigkeit zum Träumen, dabei aber zu wissen, daß man träumt, wie dies auch Claudio Magris, mit Nietzsche sprechend, verlangte. Vgl. Claudio Magris: Utopie und Entzauberung (Anm.10), S. 28.
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aufgeführten polnischen Stücken befinden sich vier von Slawomir Mrozek, zwei von Witold Gombrowicz und eines von Stanislaw Ignacy Witkiewicz. In den untersuchten Städten in Polen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Werke von etwa 17 österreichischen Autoren aufgeführt, von Johann Nestroy, Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal (Jedermann), Alfred Kubin, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Ferdinand Bruckner, Robert Musil, Elias Canetti, Ödön von Horváth, Peter Handke, Franz Werfel, Ernst Jandl, Thomas Bernhard u.a., mit je 19 Premieren in Krakau und Warschau, 14 in Lodz, 7 in Posen und 2 in Danzig. Von Interesse ist, daß die polnische Erstaufführung der Schwärmer von Robert Musil 1977 im Teatr Polski in Posen noch vor der österreichischen Inszenierung dieses Dramas im Akademietheater 1980 (Regie: Erwin Axer) stattfand. Das zweite Mal inszenierte Krystian Lupa 1988 die Schwärmer im Stary Teatr in Krakau und bekam für diese Inszenierung den Konrad Swinarski-Preis. In der ersten Periode, der des Aufbaus zwischen 1945 und 1949, war im polnischen Theater nur ein österreichisches Bühnenwerk präsent, der Schwank Der Raub der Sabinerinnen der Brüder Franz und Paul Schönthan in einer Fassung von Julian Tuwim, der schon in der Zwischenkriegszeit erfolgreich aufgeführt wurde. Nach dem Krieg 1948 im Teatr Nowy in Warschau und im Teatr Osa in Lodz aufgeführt, wurde dieser Kassenschlager bis 1985 in allen untersuchten Städten gespielt und war die meistbesuchte Produktion des Stefan Jaracz-Theaters in Lodz in der Spielzeit 1964/65. Im Jahre 1950 brachte das Stary Teatr in Krakau Johann Nestroy auf die Bühne. Aber erst ab den Jahren 1957 und 1958 sind Werke österreichischer Autoren auf polnischen Bühnen häufiger und mit steigender Tendenz festzustellen. Einen wahren Rekord an Aufführungen konnte Franz Kafka mit 18 szenischen Realisationen bis einschließlichu 1989, von Warschau (10 Aufführungen), Krakau (5) und Lodz (2) bis Posen (1) verbuchen. Schon im Dezember 1958 führte das Theater Ateneum in Warschau Kafkas Prozeß in einer Übersetzung von Bruno Schulz auf. Im Oktober 1965 konnte man an diesem Theater Das Schloß in einer Übersetzung von Andrzej Wirth und Marcel Reich-Ranicki sehen. Es folgten Aufführungen von Bericht für eine Akade-
mie, Amerika, der Verwandlung und Beschreibung eines Kampfes. Kafkas Prozeß am Stary Teatr in Krakau im Jahre 1973 unter der Regie von Jerzy Jarocki wurde zum Theaterereignis. Dabei ist auch von Interesse, daß die Rezensenten die Aufführungen aus der Sicht der Vieldeutigkeit des Kafka'sehen Werkes besprachen. Der Topos von der unmenschlichen bürokratischen Welt, die den einzelnen vernichtet, welcher zu einer aktualisierten Analogie mit dem damaligen System in Polen verführen konnte, wurde sowohl von den Regisseuren als auch von der Kritik zwar als eine, jedoch nicht
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die einzige und wichtigste Möglichkeit der Interpretation empfunden. Viel wichtiger erschien der Kritik die innere Welt des Protagonisten Kafka, sein mit sich selbst prozessierendes Gewissen, die existentielle und biologische Falle, in der sich der Mensch in seinen Werken befindet. In den etwa 70 Rezensionen, in denen die Aufführungen in bezug auf die Pariser und Präger Premieren Kafkas und im Licht seiner Tagebücher und Briefe besprochen wurden, wurde Kafka als Prager, vor allem aber als eine durch bestimmte soziokulturelle und historische Bedingungen gestaltete Persönlichkeit geschildert. Zu den nach 1945 meistgespielten zeitgenössischen österreichischen Autoren in Polen zählt mit sechs Premieren Fritz Hochwälder. 1957 wurde in Lodz im Stefan Jaracz-Theater Hotel du Commerce aufgeführt, 1967 im Teatr Rozmaitosci in Warschau Der Himbeerpflücker, 1968 im Stary Teatr in Krakau Donadieu, 1971 in Lodz im Stefan Jaracz-Theater Der öffentliche Ankläger, anläßlich dieser polnischen Erstaufführung erinnerte die Kritik an das um über 20 Jahre zurückliegende Datum der Entstehung sowie an die in der Zeitschrift Dialog 1959 publizierte polnische Übersetzung dieses Werkes. Hochwälders Drama wurde als zeitgenössische, mit größter Präzision gestaltete Moralität und als ein „historischer Krimi mit Moral" bezeichnet. Sein Autor wurde als ein Moralist, und die Aufführungen seiner Werke positiv bis enthusiastisch aufgenommen. Am Anfang der 70er Jahre begann auf den polnischen Bühnen der bis die jüngste Zeit andauernde Triumphzug Ödön von Horváths, eines Autors, der mit acht Premieren gemeinsam mit den Brüdern Schönthan nach Franz Kafka den zweiten Platz unter den meistgespielten österreichischen Autoren in Polen einnimmt. Seine Geschichten aus dem Wienerwald wurden 1971 im Teatr Nowy in Lodz erstaufgeführt und 1973 in Posen am Teatr Polski gespielt, das noch im gleichen Jahr Die Unbekannte aus der Seine aufführte. Horváths Geschichten aus dem Wienerwald wurden außerdem 1973 vom Teatr Polski in Warschau und 1979 vom Juliusz Slowacki-Theater in Krakau gespielt. Das Warschauer Teatr Ateneum führte Kasimir und Karoline und die Italienische Nacht (1976) auf, das Teatr Rozmaitosci Don Juan kommt aus dem Krieg (1983). 1989 kam es zur ersten polnischen Aufführung von Figaro läßt sich scheiden am Stefan Jaracz-Theater in Lodz. Die Erstaufführung von Horváths Geschichten aus dem Wienerwald 1971 in Lodz wurde von der Kritik als ein Mißverständnis bewertet. Wieder einmal hat das Theater lediglich die Oberfläche eines Werkes aufgeführt. Aus einem Vorwand des Autors ist ein echtes Melodram geworden, welches das Klischee vom alten, lieben Wien zur Genugtuung des an solche Bilder seit
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Jahrzehnten gewöhnten polnischen Publikums vervielfältigte. Eine tiefere Struktur des Werkes, ein Kampf zwischen den bewußten und den unbewußten Kräften der Protagonisten Horváths blieb unbemerkt, wie auch die Tatsache, daß der Autor selbst die naturalistische Interpretation seiner Stücke ablehnte. Unbemerkt blieb, daß sein in einer Poetik des Volksstückes abgefaßtes Drama, das aus den „erzösterreichischen" Quellen schöpft, mit einer umgekehrten Logik der Dissonanz ein falsches, unreflektiertes Bewußtsein, eine bestialische Dummheit demaskieren und, wie dies bei den meisten Vertretern der Wiener Moderne auch der Fall war, die Diagnose als Prognose gelten lassen wollte. Zur acht Jahre späteren Krakauer Auffiihrung der Geschichten aus dem Wienerwald meldete die Kritik ebenfalls Einwände an und beschuldigte den Regisseur Wlodzimierz Nurkowski der „Gewalt an Horváth". Horváths Tragifarce sei einem Regisseur „in die Hände geraten", der die „lähmenden Reflexionen des Autors in einer Lawine billiger operettenhaften Einfalle ertrinken ließ".16 Das ist nicht das erste und nicht das letzte Urteil über szenische Realisationen österreichischer Autoren, bei denen die Vielschichtigkeit des Textes auf der Strecke blieb und durch oberflächliche, klischeehafte Vorstellungen des Regisseurs ersetzt wurde. Mit einer Mischung von tragischen und komischen Elementen, mit einem gutmütig-sadistischen Kleinbürger, der in einer lockeren Atmosphäre die Ursachen seines Handelns vor sich selbst verdrängt, einer literarischen Offenheit ohne konkrete Lösungen, aber nicht ohne Hoffnung, war die polnische Bühne wenig vertraut. „Die schrecklichen Bürger im Wienerwald" wurden ihrer ungestörten Idylle überlassen, die „Töne, die aus Berlin erklangen", die Anzeichen des aufkommenden Faschismus, übersehen. Bei der Posener Aufluhrung der Geschichten aus dem Wienerwald von 1973 bemerkte jedoch die Kritik den heiter-bitteren und demaskierenden Charakter dieses Stückes. Aber schon bei der Aufluhrung der Unbekannten aus der Seine im selben Jahr auch in Posen kritisierte Karol Sauerland einmal mehr die Überbetonung der Leichtigkeit, des komischen Elements und die naturalistische Darstellung der Sentimentalität des Epiloges, was alles auf Kosten der versteckten Tiefe von Horváths Werks ging.17 Neue Wege zeigt Krystian Lupa auf, ein Regisseur, der seit einigen Jahren fast ausschließlich Werke der österreichischen Autoren (bisher neun) auffuhrt. Die polnische Theaterwissenschaft und die Theaterkritik haben schon längst bemerkt, daß Lupas Theater so zu sein scheint, wie die von ihm gewählte Literatur: von den Dramen des Polen Stanislaw Ignacy Witkiewicz bis zu so großen österreichischen epischen Werken wie Der Mann ohne Eigen16 n
A-Z.: Slawo Polskie, 19.02.1979. Karol Sauerland: Horváth w Poznaniu. In: Literatura, 8.03.1973.
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schaften von Robert Musil,18 Malte von Rainer Maria Rilke, die Schlafwandler von Hermann Broch oder auch Das Kalkwerk von Thomas Bernhard. Lupas Theater wird von den Kritikern als anders und seltsam gesehen, als eine elitäre und fast exklusive Kunst, die fiir viele Zuschauer - auch für die Könner, insbesondere der älteren Generation - nicht akzeptabel erscheint. [...] Selbst sein ontologischer Status erweckt Verwunderung und Unruhe, weil wir manchmal nicht wissen, womit wir es eigentlich zu tun haben. Ob es sich um eine neue theatralische Gattung handelt oder um eine neue Art der Kunst. [... ] Diese kreierte, verwundernde Welt, zugleich realistisch und illusorisch, überrascht uns und verwundert mit ihrer Existenz und wir erkennen in dieser Phantasmagorie etwas bekanntes, obwohl tief in der Seele verstecktes. Der magische Realismus Lupas beschwört die Phänomene der Dinge.19
Es wird daraufhingewiesen, daß dieses Theater komplizierte Inhalte mit sich bringt, die der polnischen Kultur in diesem Ausmaß nicht eigen sind, sowie auf die ganz neue theatralische Sprache dieser Aufführungen, die zusätzlich noch einer sukzessiven Modifizierung unterliegt. So fand auch Lupas absolut innovatorische Inszenierung der Skizzen aus dem Mann ohne Eigenschaften (1990) dank der polyphonen Struktur Eingang in die Theatergeschichte. Der Bruch zwischen dem Menschen und seiner Welt, und die Hilflosigkeit des Menschen, seine Unfähigkeit zum Leben und Sterben hat Lupa in seinem elf Stunden dauernden Tryptychon des verlorenes Sohnes, Malte (1991) von Rainer Maria Rilke als eine Erzählung über eine menschliche Wanderung gegen den Strom der Zeit und als eine Geschichte seelischer Zustände dargestellt. Aus dem Kalkwerk Thomas Bernhards (1992), das „einen Versuch des Vordringens zum absoluten Wesen der Welt darstellt und mit Autodestruktion endet"20, hat Lupa einen metaphysischen Traktat für die Bühne gemacht. Für die Kritik war dies eine „gefährliche und eine extreme Theaterauffiihrung, die sich tatsächlich mit dem Transzendentalen zu messen versuchte".21 Die Durchschnittsmenschen dagegen, die „Schlafwandler der neuen Wirklichkeit" aus Lupas Adaption des Romans von Broch (1995), versuchen gewöhnliche Probleme zu bewältigen und eine Richtung in einer richtungslos und chaotisch gewordenen Welt zu finden. 18
19 20 21
Maria Was: Glosa o teatrze Krystiana Lupy. Magisterarbeit an der Philologischen Fakultät der Jagiellonen-Universität. Krakau 1992, S. 3. Siehe auch Maria WqsKlotzer: Glosa o teatrze Krystiana Lupy. In: Krystian Lupa, Utopia i jej mieszkañcy. Krakow (Krakau) 1993, S. 9, sowie derselben Verfasserin: O teatrze Krystiana Lupy. In: Teatr 1993, H. 1, S. 14. Beata Guczalska: Realistyczna fantasmagoria. In: Didaskalia 1995, H. 5. Janusz Majcherek: Kamieñ filozoficzny. In: Teatr 1993, H. 1. Ebd.
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Lupa findet unter der realistischen Oberfläche der österreichischen Literatur, in ihren tieferen Strukturen, die „Wahrheit der Verlorenheit", die für ihn in den Werken österreichischer Autoren im Spannungsfeld zwischen der Metaphysik als der Triebkraft und der Ethik als der Gegenkraft entsteht und eine Widerspiegelung der Entwicklung des modernen Bewußtseins bildet. Die Unsicherheit und Unfertigkeit der Welt, ihre und des Menschen Rätselhaftigkeit stellt er als eine Welt der Schwärmer dem selbstsicheren und perfekten Denken gegenüber. Lupa, der die Quelle seiner Inspiration in der Mitte einer an sich zweifelnden europäischen Kultur sucht und sie vornehmlich in der Wiener Moderne und in ihrer Postmodernität findet, wurde entweder des „intellektuellen Betrugs" verdächtigt, oder aber fur eine „Revolution im polnischen Theater"22 verantwortlich gemacht.
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Beata Guczalska: Realistyczna fantasmagoría (Anm. 19).
TEIL II
Malgorzata Leyko
Der gewollte und der ungewollte Brecht
Verfolgen wir Brechts Rezeption in Polen nach 1945, so stoßen wir auf eine Reihe von Forschungsaspekten, die sich vor allem auf solche Fragen beziehen wie: ideologische Diskussionen über die in Brechts Bühnenwerken präsentierte Weltanschauung, Einstellung zur Brechtschen Form des Dramas, seiner Theorie des Theaters und der Schauspielkunst wie auch die sog. 'szenische Lebensdauer' seiner Stücke. Es ist höchst verlockend, gerade auf obengenannten Ebenen den Rezeptionsprozess Brechts in unserer Theatergeschichte zu betrachten. Dabei wird nämlich deutlich, inwieweit der polnische 'Streit um Brecht' zur Überwindung der beinahe bis zur Hälfte der 50er Jahre geltenden Gebote des sozialistischen Realismus beitragen sollte. Brechts Schaffen, zu Anfang allein aufgrund dessen abgelehnt, daß es von den Richtlinien der offiziell geförderten Kunst abwich, wurde unerwartet zum Katalysator, der die Sprengung jener Grundsätze zu beschleunigen vermochte. Außerdem „rettete Brecht unser Theater vor Inhaltsleere" - nicht nur machte er möglich, daß bisher unbekannte moderne Theaterstücke der westlichen Autoren sowie der polnischen Klassik gespielt werden durften, sondern er ebnete auch den Weg für neue Formen des Bühnenausdrucks und experimentelle Inszenierungen. Daher darf man sich nicht wundern, daß nach der Wende, die sich dank dem Verfasser von Mutter Courage vollzogen hat, Brecht in der ersten Phase zu einem Modeautor wurde - die anfangliche Faszination seines Werkes sollte dann mit der Zeit in Respekt für den Klassiker übergehen. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags werden wir versuchen, kurz auf einzelne Phasen dieses komplizierten Prozesses einzugehen und ihre Spezifik darzustellen.
1. Der „Sündenbock"1 des sozialistischen Realismus Theaterkritiker der Nachkriegszeit begannen sich für Brecht erst dann zu interessieren, als er die spektakuläre politische Entscheidung getroffen und sich in Berlin-Ost niedergelassen hatte. Seit dieser Zeit berichtete man auch 1
Vgl. Meinungen zu den totalitären Systemen bei R. Girard: Koziof oftarny. Lodz 1991.
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in Polen immer häufiger über neue Theaterauffiihrungen des Regisseurs, den man noch aus der Vorkriegszeit als einen vielversprechenden Vertreter der Linksgerichteten in Erinnerung hatte. Sicherlich sorgte jene zunehmende Resonanz dafür, daß Brecht nun als einer der ersten deutschsprachigen Autoren recht früh popularisiert wurde. Als Bestätigung der unbeugsamen marxistischen Position Brechts galten die nach 1948 in Polen herausgegebenen Übersetzungen seiner Prosa, vor allem aber seiner Lyrik. PropagandaGedichte wie etwa Die Erziehung der Hirse, Kinderkreuzzug oder Lob des Kommunismus, bis in die späten 70er Jahre feste Bestandteile zahlreicher Anthologien revolutionärer Dichtung, unabänderlich auch während der Parteiveranstaltungen vorgetragen, drückten ihrem Verfasser den Stempel politischer Glaubwürdigkeit auf. Es war nicht selten der Fall, daß Brechts Befürworter sich gerade auf jene Texte beriefen, um ideologische Attacken während der heftigen Diskussionen über Brechts Dramaturgie abzuschwächen. Der neuaufgelegte Dreigroschenroman galt 1949 als eines der besten Werke, die „den Kapitalismus und dessen Mechanismus der Massenmanipulation demaskieren". In der ersten Phase wurde allerdings weder der Dreigroschenoper noch irgend einem anderen Bühnenwerk Brechts derartige Akzeptanz zuteil. Schon in den frühesten, 1947 und 1948 erschienenen Berichten über Brechts Aufführungen in Basel und Zürich, 1950 in Berlin, bewahrten die Rezensenten2 eine abwartende Haltung und drückten sich nur vorsichtig aus: einerseits wurde Brechts Bedeutung unter den deutschsprachigen Dramenautoren nachdrücklich betont, andererseits meldete man Bedenken wegen „anarchistisch-intellektueller" Neigung des Verfassers an, vermißte das fehlende positive Programm und bemängelte den weitgehenden Formalismus seiner Theatertechnik. In bezug auf einzelne Werke wurden die Einwände konkreter. Ins Zentrum der Diskussion rückte Mutter Courage. Allein die Art und Weise, wie hier vom Standpunkt des Pazifismus der Krieg verdammt wurde,3 wurde als Widerspruch zu der damals propagierten Ideologie des Proletariats gewertet. Die Tendenz, Brechts Dramen gerade so zu interpretieren, ergab sich daraus, daß die Theater insgesamt unter strenge ideologische Bevormundung gerieten und seit 1949 sich an eindeutig bestimmte Repertoire-Vorschriften zu halten hatten. Die dem Kulturmilieu aufgezwungene Auffassung, „der sozialistische Realismus" sei „das einzige Wertkriterium, seit das Proletariat die dramatische Bühne der Geschichte betreten hat"4, sollte tatsächlich als 2
3 4
Vgl. J. Frühling in: Odrodzenie 1947, H. 10; 1948, H. 27; R. Matuszewski in: Kuznica 1950, H. 1; J. A. Szczepanski in: Dziennik Literacki 1950, Nr. 6. J. A. Szczepañski in: Teatr 1950, H. 7. W. Sokorski: Nowa literatura w procesie powstawania. In: Odrodzenie 1949, H. 5.
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Bestimmung verstanden werden; die Kulturschaffenden hatten nicht allein politisch loyal zu sein, sondern mit ihrer Tätigkeit die neue Ideologie zu unterstützen, „neue Konflikte unserer Wirklichkeit zu offenbaren sowie das Wesen der Verstrickung des Menschen von heute, der ja selbst Erzeugnis ununterbrochenen Ringens des Alten und des Neuen"5 sei darzustellen. Das Programm in der Praxis zu realisieren bedeutete, „auch weniger wertvolle, dafür aber aktuelle Stücke" in die Spielpläne der Theater aufzunehmen. Die darin formulierten Postulate sollten sich ebenfalls auf die Form der Inszenierung beziehen. Der damalige Kultusminister wollte glaubhaft machen, daß „die neuen Kunstinhalte die eigentliche Reform durchführen und neue Elemente in die Theaterkonvention einfuhren"6 lassen. Theaterkritiker wurden mit der Aufgabe beauftragt, Bühnenaufführungen unter dem Aspekt ihrer ideologischen Korrektheit zu überprüfen, wobei politisches Engagement von weit größerer Bedeutung als künstlerische Kompetenz sein sollte. Derartige Restriktionen erwiesen sich for wenig originelle Regisseure als vorteilhaft; Künstler von großem Format (wie etwa Leon Schiller), die nicht freiwillig auf ihre theatralische Aktivität verzichten wollten, wurden hingegen gezwungen, die eigenen 'Fehler' kritisch zu bekennen, wodurch sie ihre Autorität aufs Spiel setzten und ihre großen Leistungen der Nachkriegszeit in Zweifel zogen. Im Angesicht der aufgezwungenen Inhalte und Theaterpraxis mußten in den Jahren 1949-1953 jegliche Polemik und befruchtende Diskussionen ausbleiben. Da konnte man sich allein darüber ereifern, wer genauer und konsequenter die programmatischen Forderungen realisiert, sich selbst gegenüber beispiellos kritisch ist, welches Theater mehr sowjetische bzw. sog. 'Produktionsstücke' aufgeführt oder welcher Theaterschneider Kostüme für die neuen Stücke schneller fertig gemacht hat. Die Atmosphäre jener Jahre begünstigte daher keineswegs die von manchen Theaterleitern postulierte Auffuhrung der Brechtschen Stücke. Eine einmütige Bewertung von Brechts Werken war noch nicht möglich: für die einen war er ein revolutionärer Autor, der sich die Grundsätze des sozialistischen Realismus zu eigen machte; andere fanden sein Theater allzu sehr philisterhaft und formalistisch. Die meisten Einwände richteten sich gegen die Brechtsche Theorie des Theaters, soweit jedoch vorläufig Zugang zu Texten des deutschen Autors praktisch unmöglich war, konnten nur ganz allgemeine Vorwürfe formuliert werden. Manche Kritiker (wie z.B. M. Ranicki7) hegten die Hoffnung, Brechts Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus und seine Berührung mit der Arbeiterbewegung würden den Dichter eines 5 6 7
W. Sokorski: Ζ problemów wspólczesnej dramaturgii. In: Odrodzenie 1949, H. 26. Ebd. M. Ranicki in: Zycie Warszawy 1952, Nr. 48.
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Tages den richtigen Weg finden lassen. Dies bedeutete bestenfalls die zeitliche Aufschiebung der polnischen Brecht-Auffuhrungen. Die erste Gelegenheit, mit Brechts Bühnenwerken konfrontiert zu werden, ergab sich für die polnischen Theaterbesucher erst im Dezember 1952, als das Berliner Ensemble mit Gorkis Mutter, Mutter Courage und Kleists Zerbrochenem Krug in Krakow, Lodz und Warszawa gastierte. Die deutschen Schauspieler pflegten sonst nach der Auffuhrung Arbeiter in ihren Betrieben zu besuchen. Offiziell wurde verkündet, der Besuch des Theaters an Festtagen der „fortschrittlichen deutschen Kultur" solle dem Zweck dienen, kulturelle Kontakte zum, jungen" deutschen Staat aufzunehmen, das Kulturmilieu der beiden Ländern einander näherzubringen und dem polnischen Theaterpublikum die Leistungen einer der fortschrittlichsten deutschen Bühnen zu präsentieren. Zahlreiche Presseberichte und Interviews mit deutschen Schauspielern schlugen den Ton der freundschaftlichen Solidarität an und sprachen von dem „fortschrittlichen Dienst für die Menschheit und den Frieden". Sogar wenn über die künstlerischen bzw. ideologischen Aspekte Kritisches geäußert wurde, dann nahm es sich nicht etwa wie ein Parteimahnbrief aus, sondern galt vielmehr als Wink fur die Suche nach dem vorausgesetzten Theatermodell. Trotz ihrer formalen Andersartigkeit und nicht immer klaren Inhalts spendete das beinahe intuitiv auf jenes neue künstlerische Angebot reagierende Publikum dem Berliner Theater enthusiastischen Beifall. Sollte mit dem Gastspiel irgendein Ziel tatsächlich erreicht worden sein, dann sicherlich dies, daß kriegsbedingte Voreingenommenheit und Abneigung abgebaut werden konnten. Einer der damaligen Zuschauer hat es folgendermaßen formuliert: Der künstlerische Schock, den die polnischen Theaterbesucher erleben mußten, als sie Mutter Courage sahen, ließ bei vielen von uns das freudige Gefühl aufkommen, sich von dem Joch des hartnäckigen, betrügerischen Gedächtnisses befreit zu haben.8
Auch Theaterleute - bisher durch die Gebote des sozialistischen Realismus eingeschränkt - begrüßten das Berliner Ensemble als ein innovatorisches Model des sozialistischen Theaters. So konnte Zbigniew Krawczykowski nach vielen Jahren schreiben: Dieses Theater war so total anders als wir es gewohnt waren, mit der Vielfältigkeit seiner Ausdrucksmittel für uns so überraschend, mit der Idee, dem tiefen Humanismus
8
I. Czermakowa in: Teatr 1955, H. 2.
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und seiner Volkstümlichkeit so faszinierend - aber vor allem durch und durch ein Kunsttheater.9
Indessen sollte offiziell noch sehr zurückhaltend und ausgewogen geurteilt werden. Eingeweihte Theaterkritiker wußten sehr wohl um das faktische Ziel des Besuches: die DDR-Regierung hatte das Brechtsche Theater nach Polen geschickt, nicht damit es hier Akzeptanz finden und Lob ernten würde, sondern um prinzipielle Kritik zu veranlassen und dem Theater seine eigenen Fehler klar zu machen. Ein heftiger Sturm brach erst dann los, als der Chefredakteur von Nowa Kultura, der die wahren Absichten der Politiker mißverstand, in seiner Zeitschrift einen Beitrag veröffentlichen ließ, dessen Verfasser die Vorstellungen des Berliner Ensembles vorbehaltlos akzeptierte und sie als ein Vorbild für die Kunst des sozialistischen Realismus guthieß.10 Mit einer Reihe von scharf-polemischen Artikeln,11 in denen dagegen protestiert wurde, Brecht zum fuhrenden Vertreter des Theaters des sozialistischen Realismus zu ernennen, setzte man eine Lawine in Gang. Brecht stünde fìir Formalismus, Symbolismus, Naturalismus und Expressionismus. An Mutter Courage haben sich die Geister am deutlichsten geschieden: auch wenn man den „antimilitäristischen, entlarvenden, den Krieg verdammenden Inhalt" zu würdigen wußte, so geizte man doch andererseits nicht mit Vorwürfen, Brecht wäre ein Pazifist, Pessimist und Fatalist, der nicht nur kein positives Programm zu bieten habe, sondern darüber hinaus noch an der Menschlichkeit12 zweifeln würde. Nähere Einzelheiten des Streites um Brecht erfahren wir aus dem 1984 im Dialog13 veröffentlichten Protokoll einer Diskussion, an der sich im Februar 1953 Mitglieder des Verbandes Polnischer Film- und Theaterkünstler beteiligt haben. Außer Jerzy Pañski, dem Vorsitzenden des Zentralen Theateramtes und Maria Czanerle, Vertreterin des Zentralkomitees der Partei, waren Regisseure, Schauspieler und Theaterkritiker dabei. In Anbetracht der sich häufenden Mißverständnisse sollte die Frage entschieden werden, ob „das Brechtsche Theater, insbesondere jedoch Mutter Courage, die Kunst des sozialistischen Realismus repräsentiere oder auch nicht". Erneut wurden alle bisher erhobenen ideologischen und formalen Einwände aufgegriffen, die die Diskutanten zu zwei oppositionellen Parteien werden ließen. Eine radikal 9 10 11
12 13
Z. Krawczykowski: Spojrzenie wsteez. In: Teatr 1956, H. 22. J. Pomianowski: Teatr Brechta. In: Nowa Kultura 1953, H. 1. Vgl. Z. Kahiáyñski in: Nowa Kultura 1953, H. 5; R. Karst in: Nowa Kultura 1953, H. 7; J. Frühling: ebd. Vgl. R. Szydlowski in: Trybuna Ludu 1953, Nr. 358. Rok 1953: Co poez^é ζ Brechtem? In: Dialog 1984, H. 8.
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neue Einstellung konnte überhaupt nicht erarbeitet werden, weil die Diskussion sich immer wieder um den ideologischen Aspekt drehte und allein die drei in Polen präsentierten Auffiihningen des Berliner Ensembles mit berücksichtigte. Darüber hinaus zu gehen war schon aus dem Grunde unmöglich, daß Brecht einfach unbekannt blieb, was übrigens einige Diskutierende offen zugeben mußten. Die wenigen unter den Anwesenden (wie Erwin Axer), die mit Brechts Werk und der Tätigkeit des Berliner Ensembles vertraut waren, konnten daher kaum darauf hoffen, einen Partner für sachliche Polemik zu finden. Aus der heutigen Perspektive gesehen, scheint Brecht als Objekt jener Diskussion allein ein Ersatzthema gewesen zu sein, in das unterschiedliche und widerspruchsvolle Absichten hineinprojiziert wurden. Einerseits versuchten Vertreter der politischen Macht das Brechtsche Theater zu diskreditieren, weil es die bisherige Einheitlichkeit des sozialistisch-realistischen Modells zu sprengen drohte; mit der Kritik glaubte man auch sonst restriktive Kunstforderungen verschärfen zu können, weil Symptome der Müdigkeit sowohl unter dem Publikum als auch bei den Künstlern nicht zu übersehen waren. Diese Position bezogen politisch loyale Kunstschaffende; sie erblickten in der Kritik an Brecht die Möglichkeit, sich mit den Parteirichtlinien, die eine gewisse Sicherheit garantiereten, zu identifizieren. Ohne sich selbst von den streng bestimmten Maßstäben befreien zu können, wollten sie den anderen das Recht darauf verweigert wissen. Beabsichtigte jene Gruppe die BrechtKritik fur den Zweck auszunutzen, „die Reihen des sozialistischen Realismus zu festigen", so bezweckten ihre Gegner, mit ihrer Entscheidung, Brecht als einen originellen Dramenautor und souveränen Theaterleiter zu verteidigen, d.h. auf ihre Rechte zu pochen, anders sein, Experimente durchführen, eigene Anschauungen und persönlichen Geschmack präsentieren zu dürfen: „Jedes künstlerische Phänomen bringt unterschiedliche Auffassungen mit sich und gerade d a r a u f [M. L ] müssen sich die Leute einigen" - mit diesen Worten protestierte Erwin Axer gegen die Forderung des delegierten Vertreters der politischen Macht, man müsse in der Auseinandersetzung um Brecht „zur Verständigung gelangen".14 Indem man sich bei der Verteidigung Brechts auf jene Elemente seines dramatischen Schaffens berief, die ebenfalls im polnischen Theater eine lange Tradition aufzuweisen hatten, plädierte man gleichzeitig für das polnische, zur Zeit von der Bühne verbannte romantische Repertoire. Leon Kruczkowski, Vorsitzender des Verbandes Polnischer Schriftsteller meinte, daß der Streit um das Brechtsche Theater mindestens teilweise dazu beiträgt, all die Fragen im neuen Licht zu erblicken, die im Zusammenhang mit eventuellen Versuchen ent14
Ebd., S. 128, 130.
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schieden werden sollten, die polnische Romantik, unser Monumentalrepertoire heute neu aufzuführen. Selbstverständlich haben wir es hier mit zwei grundverschiedenen Phänomenen zu tun, aber meines Erachtens ist Brechts Bühne ein Monumentaltheater, wenn auch ganz anderer Art als Die Totenfeier oder sonstige Stücke in unserem Repertoire. Ich persönlich glaube, in Mutter Courage manche Elemente finden zu können, die sich als Monumentalmomente im poetischen Theater bezeichnen lassen.15 Zenobiusz Strzelecki, der „die Logik der Gestaltung des Ganzen" an den Berliner Aufführungen unterstrich, äußerte dagegen den Wunsch, daß auch unser Theater zur Stätte der kreativen künstlerischen Zusammenarbeit werden und die Brechtsche Methode übernehmen möge, dank der „alle Elemente sich aus dem Inhalt selbst ergeben"16. Die Reaktion der politischen Macht, die wohl befürchten mußte, daß der Fall Brechts die durch das Theatermilieu signalisierten Probleme in neues Licht rücken würde, blieb nicht aus. Als zwei Wochen später die Richtlinien für den Theaterbetrieb 1953 bereits vorlagen, hat Jerzy Pañski das Urteil gesprochen: Mutter Courage ist kein Antikriegsstück, weil es weder den wirklichen Kriegsmechanismus entlarvt noch einen gerechten Krieg von einem ungerechten zu unterscheiden weiß [...]. Das Mißverständnis beruht darauf, es als Theaterstück des begrenzten Realismus zu bezeichnen - es ist einfach unrealistisch, und dies nicht in erster Linie in bezug auf die Form als vielmehr auf den Inhalt.17 Genauso reagierte der damalige Kultusminister, als er in seinem Brief an die Redaktion von Pamiçtnik Teatralny den Druck eines Brecht-Heftes verboten hat: Zweifellos wird Brechts Werk das Theater des sozialistischen Realismus in einer gewissen Weise bereichern können, Brecht selbst dagegen, insbesondere Brecht als Theatelkünstler, repräsentiert weder die Kunst des sozialistischen Realismus noch seinen eigenen Weg dorthin [...]. Brecht in diesem Kontext zu nennen steht in unserer, immer noch von allerlei 'Ismen' der bürgerlichen Ästhetik durchdrungenen Volksrepublik im Widersprach zur Politik der Partei."18 Es geht dabei nicht unbedingt darum, daß man in Brechts Dramen keine Merkmale der Kunst des sozialistischen Realismus zu erblicken glaubte, son-
15 16 17
18
Ebd., S. 118. Ebd., S. 133. J. Pañski: Zagadnienia pracy artystycznej teatrów na rok 1953. In: Przeglqd Kulturalny 1953, H. 7-8. Zit. nach: Dialog 1984, H. 8, S. 113.
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dem darum, daß gerade jener Mangel ihnen den Zugang zu den polnischen Bühnen versperrte. Die obengenannten Umstände lassen Brecht als den Sündenbock des langsam zum Relikt werdenden politischen Systems betrachten, eines Systems, das nach drei Jahren der Diktatur in eine Krise geriet. Brecht, der künstlerisch verwandt und gleichgesinnt zu sein schien, war im Grunde genommen jemand, der kein Eingeweihter sein konnte, der die bestehende Konstellation bedrohte, und daher im gleichen Sinne wie die polnische Romantik unerwünscht blieb: quasi der Unsrige, aber dennoch ein Fremder. Die Aufnahme des Berliner Ensembles in Polen ist wohl der am meisten beschämende Aspekt des 'Falls Brecht' auf unserem Boden - meinte Krawczykovvski schon 1956. Dabei mußte uns nämlich sowohl unsere Verlogenheit mit erschütternder Klarheit vor Augen geführt werden, wie auch unsere krankhafte Angst davor, auch nur im geringsten Grad der Abweichung von der Programmatik des offiziell geltenden sozialistischen Realismus bezichtigt zu werden.19
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2. „Mit Denkmal gesteinigt"
Konrad Swinarski inszenierte (zusammen mit Przemystaw Zielinski) die erste Auffuhrung Brechts in Nachkriegspolen. Die Gewehre der Frau Carrar wurde am 30.09.1954 erst als eine Workshop-Präsentation in der Warschauer Theaterschule und kurz danach als eine Fernsehsendung gezeigt. Schon mehr Interesse schenkte man daraufhin der Krakauer Uraufführung des Kaukasischen Kreidekreises in der Regie von Irena Babel (Teatr im. J. Slowackiego, Dezember 1954). Gerade an dieser Inszenierung konnte die neue Einstellung zu Brecht deutlich werden. Dies erwies sich überhaupt als möglich, weil einerseits die Forderungen des sozialistischen Realismus nicht mehr so restriktiv galten, und weil andererseits Brechts positive Auslandsrezeption sich nicht länger übersehen ließ. Das Berliner Ensemble feierte große Erfolge nicht nur in der DDR - es wurde während des Pariser Festivals „Theater der Nationen" mit dem ersten Preis ausgezeichnet und 1955 - als es nicht mehr aufzuschieben ging - mit dem stalinistischen Friedenspreis geehrt. Daß Brecht auf den polnischen Bühnen gespielt werden durfte, zog als Folge nach sich, daß allmählich die bisher ausgebliebenen Positionen der Weltklassik sowie polnische Dramen der Romantik sich im Theaterspielplan durchsetzen 19 20
Z. Rrawczykowski: Spojrzenie wstecz (Anm. 9). Nach einem Aphorismus von J. S. Lee.
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konnten. Wenig später sollten das moderne Drama der Avantgarde und die neuen Inszenierungstechniken hinzu kommen, wobei das dramatische Werk Ionescos sich als das Modell des Anti-Brechtschen Theaters etablierte. Die zwei folgenden Jahre brachten weitere Auffuhrungen mit sich, die allerdings vorläufig einen „erkundenden" Charakter hatten. Erst die Spielzeit 1957/58 dokumentiert eine wahre Brecht-Mode, die bis 1962/63 konsequent andauert. Brecht gehörte damals zu jenen Auslandsdramatikern, deren Stücke auf den polnischen Bühnen am häufigsten gespielt werden sollten. Zu jeder Spielzeit waren es an die zehn Theater, die seine Werke neu inszenierten. Doch dieses rege Interesse war keineswegs mit voller Anerkennung und Akzeptanz des Leiters des Berliner Ensembles gleichbedeutend. Die BrechtMode bewirkte, daß man dem Dramatiker ein Denkmal errichtet hat noch bevor seine Einmaligkeit und Größe tatsächlich bewußt werden konnten; es hatte den Anschein, als ob Brecht, der 'Märtyrer' des sozialistischen Realismus sich dieses Denkmal verdient hätte. Tatsächlich blieb er jedoch nach wie vor unbekannt; die erste Nachkriegsausgabe von 1953 umfaßte nur drei
Stücke (Mutter Courage und ihre Kinder, Herr Puntila und sein Knecht Matti, Der kaukasische Kreidekreis) und die Kalendergeschichten. 1954 erschien Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise. 1955 brachte
Pamiçtnik Teatralny ein Brecht-Heft mit dem Kleinen Organon für das Theater, 1959 druckte der Dialog den Text Neue Technik der Schauspielkunst. Der spärliche Zugang zu Brechts Texten verursachte jedoch, daß sein Werk weiterhin mißverstanden wurde; Regisseure und Schauspieler, die sich fragmentarisch in theoretische Schriften des Dramatikers Einsicht verschafft hatten, konnten daraus ebenfalls nicht schlußfolgern, wie Brecht denn überhaupt zu spielen sei. Selbst Konrad Swinarski, der im Berliner Ensemble eine Art Praktikum absolvierte und sich somit als bester polnischer Brecht-Kenner etablieren konnte, vermochte diese Mißverständnisse nicht zu klären. Swinarskis erste Amfr/a-Inszenierung im Warschauer Teatr Dramatyczny erwies sich sogar für ihn selbst als eine Enttäuschung: Er versuchte blindlings in die Fußstapfen seines Meisters zu treten und alles in dessen Sinne zu packen: Idee und Ästhetik, Albeit mit Schauspielern und Lektüre des Textes. Schnell mußte er allerdings einsehen, daß diese Methode nicht nur künstlerisch ziemlich unfruchtbar ist, sondern sich darüber hinaus sowohl gegen den Eifer des Jüngers wie auch gegen das Werk des Meisters richtet.21
Das Publikum war müde und blieb kalt.
21
J. Walaszek: Konrad Swinarski ijego krakowskie inscenizacje. Warszawa 1991, S. 21.
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Unter den zahlreichen Veröffentlichungen, in denen man Brecht immer noch ideologischen Dienst22 aufzubürden versuchte, lassen sich nur wenige aufzählen, die Brechts Theorie sachlich erörtern. Dieser Aufgabe stellten sich vor allem die ersten Brecht-Verbreiter: Erwin Axer23 und Konstanty Puzyna.24 Im publizierten Stenogramm der Diskussion bemühte sich die DialogRedaktion näher zu bestimmen, in welchem Sinne das polnische Theater von Brechts Theorie Gebrauch machen könnte; man setzte diese in Opposition zu Stanislavskijs 'Methode' und deutete auf die Andersartigkeit der Brechtschen Technik im Vergleich zu der polnischen, auf „Erleben", nicht auf „Intellekt" fußenden Schauspieltradition hin.25 Trotz der bestehenden Uneinigkeit in der Frage Brecht ist Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre eine Reihe von hervorragenden Aufführungen zu verzeichnen: 1955 präsentierte das Warschauer Teatr Dramatyczny den Guten Menschen von Sezuan mit einer ausgezeichneten Darstellung der Hauptrolle durch Haiina Mikotajska. Zum großen Erfolg wurde die von Jakub Rotbaum (Teatr Dramatyczny, Wroclaw 1957) und Konrad Swinarski (Teatr Wspóiczesny, Warszawa 1958) inszenierte Dreigroschenoper, die bis 1965 auf insgesamt 15 Bühnen lief. Die einst so umstrittene Mutter Courage mit Ida Kamiñska (Teatr Zydowski, Warszawa 1957, Regie: I. Kammska), Irena Eichlerówna (Teatr Narodowy, Warszawa 1962, Regie: Z. Sawan) und Lidia Zamkow (Teatr Sl^ski, Katowice 1963, Regie: L. Zamkow) in der Titelrolle erntete stürmischen Beifall. Die im Grunde genommen letzte Brecht-Auffuhrung, die „einen lebhaften Widerhall fand"26, war Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (Teatr Wspóiczesny, Warszawa 1962, Regie: E. Axer, Bühnenbild: K. Swinarski) mit der unvergeßlichen Rolle von Tadeusz Lomnicki. Diese Inszenierung konnte von einem Erfolg gekrönt werden, weil es Axer gelungen war (anders als es 1962 bei der zweiten polnischen Tournée des Berliner Ensembles der Fall war), sich über den agitatorischen Charakter des Dramas hinwegzusetzen und dessen Lehrhaftigkeit nicht in den Vordergrund zu schieben. Axer inszenierte das Drama noch einmal für das Dramatische Gorki-Theater im damaligen Leningrad und konnte somit entscheidend zur Brecht-Rezeption in der Sowjetunion beitragen. In der landläufigen Theaterpraxis mußte allerdings der bedenkenlose Umgang mit falsch verstandenen Begriffen wie etwa 'episches Theater' oder 22
23 24 25 26
Vgl. z.B. die Polemik zwischen Z. Kahizyñski (Polityka 1959, Nr. 14) und R. Szydlowski (Polityka 1959, Nr. 17) sowie in: Trybuna Literacka 1959, Nr. 10. E. Axer in: Teatr 1957, H. 3; 1960, H. 23; 1961, H. 9; 1961, H. 12. K. Puzyna: Utopia i nauka. In: Dialog 1957, H. 2. Teorie aktorskie Brechta. In: Dialog 1959, H. 7, S. 128-139. M. Fik: Trzydziesci piçé sezonów. Warszawa 1981, S. 147.
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'Verfremdungseffekt' bald zur Folge haben, daß sich eine 'Brechtsche Manier' durchsetzte, die von Jan Kreczmar als „teilnahmsloses Herplappern des Textes" bezeichnet wurde. Die Spieltechnik und die 'intellektuelle' Inszenierung wollte man quasi automatisch als Flucht vor der mit Stanislavskijs 'Methode' gleichgesetzten realistischen Konvention verstanden wissen (Stanislavskijs Schriften wurden in Polen übrigens erst 1956 herausgegeben). Man war geneigt, in Brechts Theorie das Modell des Theaters im Zeitalter der Wissenschaft zu erblicken und versuchte seine Inszenierungstechnik ebenfalls auf Stücke anderer Dramenautoren zu übertragen. Beispielsweise bediente sich Lidia Zamkow 1956 bei ihrer Romeo und Julia- Aufführung des Brechtschen Modells, um Shakespeares Drama modern zu interpretieren: So inszeniert sollte das Stück die Verlorenheit der jungen Leute, ihre Suche nach eigenem Wert, manchmal dessen bedingungsloses Abschwören zeigen und im Sinne Brechts nicht 'rühren', sondern zum Nachdenken zwingen. Die Charaktere der Helden wurden im Einklang mit aktueller Tendenz dramatisiert, die einzelnen Akte klangen mit Songs aus. Das Ganze unterzog man „als zwecklose Trivialisierung des Dramas scharfer Kritik".27
Mit ähnlichem Ergebnis versuchten auch andere Theater Brechts Universalität zu überprüfen. Andrzej Wirth erblickte darin eine vorübergehende Mode, die er während des Besuchs des Berliner Ensembles folgendermaßen kommentierte: Die Gegner von gestern hatten nicht genug Kraft, um das Publikum und die Theater vor ihm [sei. Brecht] zu warnen; die Enthusiasten von heute bringen nicht genügend Energie auf, um Brecht verleidet zu machen [...]. A l s K l a s s i k e r [Hervorhebung M. L.] wurde er unverwüstlich, und alle Bedenken der Orthodoxen, die seine Doktrin buchstäblich verstehen, scheinen hinfällig. Kein Regisseur und kein Schauspieler vermag heute noch Brecht zu schaden, so wenig er Shakespeare schaden könnte.???28
Allmählich begann man Brecht als einen Klassiker zu betrachten, also als einen Autor, dem nicht unbedingt zugestimmt werden muß, der jedoch nicht übersehen werden darf. Schon 1958 urteilte Maria Czanerle nach Swinarskis Inszenierung der polnischen Erstaufführung von Puntila: Brecht gilt heute - ähnlich wie Majakowski und Picasso - als Klassiker; seine Abtrünnigkeit wird nicht mehr als Ketzerei angeprangert - ganz im Gegenteil: eines sei-
27 28
Ebd., S. 196. A. Wirth: Konfrontacje czyli: ilu jest Brechtów? Berliner Ensemble po latach. In: Nowa Kultura 1962, H. 28.
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Maigorzata Leyko ner Stücke, seinerzeit für unorthodox gehalten, scheint nun vielen in der Darstellung sozialer und philosophischer Probleme unserer Zeit allzu simpel und traditionell.29
Es sieht aus, als ob das Ausbleiben des bisherigen Gegners, des sozialistischen Realismus, ebenfalls die Auswirkung der Brechtschen Kunst in der ersten Hälfte der 60er Jahre geschwächt hätte: sie wurde für Intellektuelle zu naiv, für die breiten Massen dagegen sehr unverständlich (Axer). In einer Reihe von Publikationen30 wollten ihre Verfasser allen anderen zum Trotz davon überzeugen, daß Brechts Werk geradezu klassisch wird. Dieses 'Klassisch-Werden', verstanden als distanzierte Einstellung zu Brecht, war insoweit unvermeidlich, als das polnische Theater der 60er Jahre seinen eigenen 'Brechtschen Stil' immer noch nicht gefunden hatte. Man versuchte Brecht vor allem das abzugewinnen, was mit dem Sozialbewußtsein des polnischen Zuschauers und der polnischen Theatertradition zusammenfiel. Als dessen Ergebnis lag experimentellen Inszenierungen das Schema zugrunde: „Brecht à la polnisch. Schier zum weinen" (Flaszen), das sich genau so wie die realistische Methode als trügerisch erweisen mußte. Andererseits schien jedoch eine direkte Fortsetzung auch nicht möglich zu sein; davon zeugte am besten Swinarskis Entscheidung, nach den früheren, vor 1962 liegenden Erfahrungen, Brecht nimmer wieder zu inszenieren. Ende der 60er Jahre wurde noch ein Versuch unternommen, Brechts Gültigkeit hinüberzuretten, indem man sein Theater vor seiner Theorie und letztendlich vor Brecht selbst in Schutz nahm: Die lebendige Substanz der Brechtschen Dramen mit dem stumpfen Werkzeug seiner Theorie aufzuschneiden, seine Werke unter dem Aspekt ihrer Übereinstimmung mit der Theorie zu überprüfen - dies ist ein sinnloses und klägliches Unterfangen - schrieb Kazimierz Braun. Brecht wird oft durch das Prisma seiner Theorien betrachtet, aber dies verdunkelt nur das Bild [...]. Den neu inszenierten Aufiahrungen steht also nichts anderes bevor, als nur an der Theorie und den abgewetzten, leeren und bedeutungslosen Begriffen gemessen zu werden.31
Aber nicht allein die Brechtsche Theorie machte potentielle Regisseure mutlos. Es waren auch der neue politische Kontext und andere Erwartungen der Zuschauer. Anstelle der offenbar ideologisch engagierten Bühne trat das 29
30
31
M. Czanerle: Bertolta Brechta tragedii ci^g dalszy. In: Czanerle: Twarze i maski. Krakow 1970, S. 150-151. Vgl. dazu: H. Vogler in: 2ycie Literackie 1966, Nr. 33; K. Wolicki in: Polityka 1966, Nr. 33; A. Drawicz in: Sztandar Mlodych 1966, Nr. 192; A. Hamerliñski in: Zielony Sztandar 1966, Nr. 68. K. Braun: O nieporozumieniach wokól Brechta. In: Spojrzenia 1966, Nr. 13.
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Theater der politischen Anspielung; es umfaßte Brecht genauso wie Aischylos und Shakespeare in dem Maß, in dem die Stücke dazu taugten, dem intellektuellen Spiel mit dem Publikum zu dienen. Nach den größten Erfolgen in den Jahren 1957-63 dauert reges Interesse an Brechts Kunst fast bis zum Ende der 60er Jahre an - jede Spielzeit bringt ca. sieben neue Aufführungen mit sich. Dargestellt wurden in erster Linie solche bewährten Dramen wie Mutter Courage, Der Kaukasiche Kreidekreis oder Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, vor allem aber Die Dreigroschenoper, zweifelsohne das am häufigsten gezeigte Bühnenstück Brechts. Die Popularität des letzteren ergab sich nach Czanerle aus der malerischen Komposition, insbesondere von Massenszenen und den Songs: Gerade darauf beruht die tragische Tücke des Schicksals in bezug auf Brechts Schaffen, daß kein vernünftiger Mensch von heute dessen 'soziales Problem' und die werkimmanenten philosophischen Suggestionen des Dramatikers ernstnehmen will. Die Lebensdauer der Dreigroschenoper ist vielmehr mit der eines reizenden, schönen und farbigen Museumsgegenstandes zu vergleichen, es ist aber nicht das überzeitliche Fortbestehen eines Kunstwerkes, das den Menschen noch etwas wichtiges zu übermitteln hat.32
Ende der 60er Jahre kamen daher häufiger Mann ist Mann oder Der gute Mensch von Sezuan auf die Bühne. Es soll dabei erwähnt werden, daß zu dieser Zeit ebenfalls alternative Bühnen Brechts Einakter (Die Ausnahme und die Regel, Teatrzyk Polityczny Alternatywa, Poznañ; Nichtarische Ehefrau, Teatr Otwartej Sceny, Wroclaw) bzw. eigene Kompositionen nach fragmentarisch zusammengestellten Texten Brechts (Phantasmagorie nach Brecht, Studencki Teatr Mafia, Bydgoszcz; Herrn Brechts Lieder und Songs, Teatrzyk Studencki Gong II, Lublin) präsentierten. Seit Anfang der 70er Jahre ging die Zahl der Brecht-Auffiihrungen auf etwa fünf bis sechs pro Jahr zurück. Es war sicherlich ein Zeichen der allgemeinen Brecht-Krise, die sich 1970 während der erneuten Gastspiele des Berliner Ensembles mit ganzer Schärfe abgezeichnet hat. In einer zum 75. Geburtstag Brechts durchgeführten Umfrage hoffte die Redaktion der Zeitschrift Teatr eine Antwort auf die Frage zu finden, warum dem Brechtschen Werk immer geringeres Interesse gilt. An der Umfrage beteiligten sich u.a. Axer, Swinarski, Zamkow, René - alles Theaterleute, die mit Brechts Dramaturgie wohl vertraut waren. Niemand versuchte mehr von der Aktualität der Brechtschen Stücke zu überzeugen. Das seit 15 Jahren verkündete 'Klassisch-Werden' des Brechtschen Werkes galt als besiegelt und gerechtfertigt: 32
M. Czanerle: O wiernosci i niewiernoáci. W zwi^zku ζ Operq za trzy grosze. In: Teatr 1958, H. 22.
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Maigorzata Leyko Es unterliegt keinem Zweifel, daß Brechts Stil in seiner reinen Form schneller aus der Mode war als man es noch vor zehn Jahren hätte voraussehen können. Die Dramen von Brecht und seinen Nachahmern sind - wie ich glaube - anachronistisch, und die missionarische Idee, die Wirklichkeit mit Hilfe des Theaters zu verändern - sinnlos und grundfalsch. Nichtsdestoweniger müßte das europäische Theater ohne Brecht total anders sein [...]. Zusammen mit seinen Vorläufern ist Brecht ein Bestandteil des Kreislaufs des europäischen Theaters geworden und nichts vermag ihn von dem reißenden Bach zu trennen, auszusondern oder daraus zu entfernen.33
Konrad Swinarski, der Brechts Bühnenstücke ebenfalls der Vergangenheit zuordnete, war jedoch der Ansicht, daß sie aus dem Theaterspielplan nicht verschwinden müßten; er widersetzte sich allerdings ihrer allzu willkürlichen Interpretation: Brecht negieren wollen, ihn als Anti-Brecht aufführen - und das ist ja gerade unter den jungen Enthusiasten der Fall - wäre einfach unehrlich. Andererseits ist er heute keineswegs wortwörtlich zu akzeptieren.34 Ein dritter Weg hat sich im polnischen Theater bis heute nicht finden lassen. Indem man sich Mühe gab, Brechts 'guter Phase' das Wertvollste, d.h. das Theatralische abzugewinnen, bediente man sich einer „Demontage" (so Krzysztof Wolicki) : Zahlreichen Fragmenten wurden allerlei Ideen des Verfassers entnommen und dazu benutzt, ein neues extrem unterschiedliches Ganzes zu komponieren. Im Hinblick auf die geradezu grenzenlose szenische Erfindungsgabe Brechts sind sowohl sein Theater als auch seine Theorie wahrlich eine beinahe unerschöpfliche Fundgrube.35 Dieses „Demontage"-Prinzip als Methode, Brecht zu lesen, konnte ebenfalls durch die Kritiker akzeptiert werden, die nun - sei es, um ihr Gewissen als Fachleute zu besänftigen, oder auch um sich als Besserwisser zu behaupten argumentierten: es stimmt schon, Brecht habe zwar ein anderes Stück geschrieben, aber es läßt sich heute wirklich nicht gerade so auffuhren. Ähnlicher Vorbehalt ist aus fast allen in den 80er Jahren erschienenen Rezensionen der Brecht-Auffuhrungen herauszulesen: Das Vergehen, vor dem Swinarski warnte, ist eine notwendige Korrektur geworden, soweit es die szenische Heterogenität der Auffuhrung garantieren konnte. Nennen wir nur ein paar Beispiele: In Mann ist Mann (TeatrNowy, Lodz 1986, Regie: J. Hutek),
33 34 35
E. Axer: Brecht - dzisiaj. In: Teatr 1973, H. 13. Teatr 1973, H. 14. K. Wolicki: Ζ teorii teatru Bertolta Brechta. In: Teatr 1969, H. 23.
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einer Parabel darüber, wie [...] Galy Gay an der eigenen Dummheit zugrunde geht und zum blutigen Mörder wird [...], führen die einzelnen Etappen des Stücks in eine ziemlich andere Richtung als dies vom Verfasser beabsichtigt werden konnte. [Die Symbolik des Stückes bekam] das Ausmaß einer für jedermann verständlichen Tragödie.36
In Turandot (Teatr Powszechny, Warszawa 1987, Regie: P. Cieslak) sorgte die Idee, bei der Bearbeitung der Kostüme, der Bewegung und der Gestik von einer operettenhaften 'Chinoiserie' auszugehen, für Komik und verursachte - im Anbetracht der unter dem polnischen Theaterpublikum längst vergessenen Satire des Kunstwerkes - eine Belebung der Vorstellung.37
Auch bei der Inszenierung von Herr Puntila (Teatr Narodowy, Warszawa 1987, Regie: T. Mine) verzichtete die Regie auf das Motiv der Verwandlung Maitis in einen selbstbewußten Proletarier und zeigte statt dessen „die Flucht der Liebenden, Matti und Fina, in eine neue, bessere Welt"38. Sogar heute braucht jene „Demontage" nicht unbedingt bemängelt zu werden, denn in den letzten Jahren wird Brecht nur äußerst selten wieder aufgeführt. Nach der Wende von 1989 ließen sich lediglich fünf neue Inszenierungen verzeichnen: ein einziges Drama {Der auflialtsame Aufstieg des Arturo Ui, Teatr Polski, Warszawa 1995, Regie: M. Prus) und vier SongMontagen mit der Musik von Kurt Weill und nach Texten u.a. von Brecht. Soll es heißen, wir werden Brecht nur noch in kondensierter Form, d.h. dank der Vermittlung durch die Weilische Musik kennenlernen können? Sogar diese These scheint zu weit getrieben zu sein, denn vor kurzem zeigte das Krakauer Teatr Ludowy nicht einmal die Dreigroschenoper nach Brecht, sondern nach Gays Text und mit der Musik von Jan Kanty Pawluskiewicz (Adaption und Inszenierung: K. Orzechowski, 1990). Der Streit um Brecht und alle damit verbundenen Spannungen begannen sich vor ungefähr 30 Jahren zu lösen. Heftige Polemiken konnten mit sachlichen Informationen geschlichtet werden. Kritische Ausgaben der Brechtschen Dramen und Theaterschriften, Publikationen namhafter Forscher wie etwa Szondi, Barthes oder Esslin folgten aufeinander. Allerdings liegt bis heute keine ausführliche Bearbeitung des dramatisch-theatralischen Werkes Brechts vor. Dieser Mangel ist nicht mit den frühen Arbeiten Roman Szydlowskis aufzuwiegen, einem erklärten Vorkämpfer für die Verbreitung Brechts, der ungeachtet der Mode und der politischen Situation konsequent für die Allgemeingültigkeit der Brechtschen Ideologie plädierte. Unter seinen 36 37 38
K. Sielicki: Ten od Matki Courage. In: Teatr 1987, H. 1. G. Sinko: Turandot Brechta w Powszechnym. In: Teatr 1987, H. 11. K. Kopka: Pan Puntila... czterdzieáci lat pózniej. In: Teatr 1988, H. 5.
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Maigorzata Leyko
Publikationen nimmt der Band Brecht w oczach krytyki swiatowej (Brecht im Licht der Weltkritik, Warszawa 1977) einen besonderen Platz ein. Als jedoch 1965 in Warszawa Roman Szydiowskis Buch Dramaturgia Bertolta Brechta (Brechts dramatische Kunst) herausgegeben wurde, machten die Rezensenten darauf aufmerksam, daß die Studie trotz des informativen Wertes weder neue Fakten aufdeckt noch originelle Interpretationen bietet; den Verfasser faszinierte Brecht offensichtlich als Ideologe, nicht so sehr als Künstler, dessen Schwächen er zu kaschieren suchte. Ähnlich gab sich Szydlowski in der Biographie Bertolt Brecht (Warszawa 1972) viel Mühe, alle Schattenseiten und -momente der künstlerischen Laufbahn Brechts zu verschweigen. Erst in der neuen Ausgabe von 1986 revidierte er seine einseitige Betrachtungsweise. Zum Schluß sollte noch eine Publikation erwähnt werden - es ist die 1974 in Wroclaw herausgegebene, sehr aufschlußreiche Untersuchung Konrad Gajeks Bertolt Brecht na scenach polskich 1929-1969 (Bertolt Brecht auf polnischen Theaterbühnen 1929-69). Es bleibt zu hoffen, daß die von Gajek angefangene Forschung fortgesetzt wird. Übersetzung: Maigorzata Pólrola
Slawomir Tryc
Friedrich Dürrenmatt auf den polnischen Bühnen. Mit allgemeinen Bemerkungen zur Rezeption fremdsprachiger Theaterwerke in Polen 1945-1989 1
Die nachfolgende Charakteristik der Popularität Dürrenmatts in Polen ist in erster Linie als ein spezifischer Kommentar zu den statistischen Angaben gedacht. Der Autor war dabei keineswegs bestrebt, die Fragen nach dem W i e ? und W a r u m ? zu beantworten, weil sich damit künftige Arbeiten befassen sollen, sondern er ist eher bemüht, die quantitativen Faktoren unter die Lupe zu nehmen. Von der Annahme ausgehend, daß der Zuschauer 'mit seinen Füßen' votiert, versuchen wir im folgenden das statistische Bild der Popularität Dürrenmatts in Polen darzustellen. Als Hilfsquelle zu unseren Erwägungen dienen zwei Diagramme, welche die Zahlen von Aufführungen und Zuschauern einiger fremdsprachiger Dramatiker: Shakespeare, Brecht, Molière, Shaw, Dürrenmatt graphisch wiedergeben. Diese sind zusätzlich mit dem wohl beliebtesten polnischen Bühnenautor, Aleksander Fredro, konfrontiert worden. 2 Bei der Wahl gerade dieser Namen war ihre verhältnismäßig stabile Position in den Theaterrepertoires von ausschlaggebender Bedeutung. Zur weiteren Illustration ist eine zweite Aufstellung beigegeben, aus welcher die Daten der jeweiligen Welturaufführung der Stücke Dürrenmatts und der polnischen Erstaufführung ersichtlich sind. Es geht daraus hervor, in welchem zeitlichen Abstand die polnischen Theater auf die Erscheinung der Stücke auf den Bühnen reagiert haben.3 Dieser Abstand kann in gewissem Sinne als Maßzahl für Interesse und Aktualität des Autors in Polen verstanden werden. Polnische Berufstheater haben in den Jahren 1956-1990 11 Dramen von Dürrenmatt präsentiert und darüber hinaus 4 seiner Hörspiele für eigene Zwecke adaptiert. In 30 Ortschaften, mit ihren 'Stammhäusern und Filialen', und 35 Sprechtheatern sind ca. 2 900 Aufführungen von über 1,2 Millionen
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Ein überarbeiteter Ausschnitt aus der Einleitung zum Buch Friedrich Dürrenmatt. Eine Bibliographie, das voraussichtlich 1997 im Verlag der Universität Wroclaw erscheinen wird. S.u. S. 96-97. S.u. S. 93-94.
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Zuschauern besucht worden. 4 Ist es viel oder eher wenig? Im Vergleich mit den polnischen und fremdsprachigen Klassikern vermögen diese Zahlen zwar kaum jemanden in Erstaunen zu versetzen, da beispielsweise Fredros Stücke in mehreren Spielzeiten über 1 000 Aufführungen und 500 000 Zuschauer verzeichnen konnten (einer vergleichbaren Beliebtheit erfreute sich in manchen Zeitabschnitten Shakespeare5), aber sie erlaubten es doch dem schweizerischen Schriftsteller, sich in der Spitzengruppe der populärsten Bühnenautoren der zeitgenössischen fremdsprachigen Dramatik, die in polnischen Theatern aufgeführt wurden, zu etablieren.6 Das mit Abstand populärste Stück von Dürrenmatt waren die Physiker. 21 Inszenierungen innerhalb von 6 Jahren (1963-69), 1 019 Aufführungen, 376 239 Besucher. Dies stimmt übrigens völlig mit dem Geschmack der Theaterzuschauer im Westen Europas überein. Auf den deutschsprachigen Bühnen erreichte das Stück in der Spielzeit 1962/63 1 569 Aufführungen. 7 An zweiter Stelle piazierten sich Der Besuch der alten Dame (10 Inszenierungen in den Jahren 1958-1982) und Romulus der Große (10 Inszenierungen in den Jahren 1959-1975): je ca. 500 Aufführungen mit jeweils 240 000 Besuchern. 8 Die übrigen Theaterwerke Dürrenmatts erfreuten sich in Polen 4
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1956 gab es in Polen 64 Sprechtheater, 1970 waren es 69, 1980 dann 71. In Warschau wurden z.B. Dürrenmatts Werke in 4 Theatern aufgeführt, und zwar im Teatr Dramatyczny, Teatr Wspólczesny, Teatr Ateneum und Teatr Ziemi Mazowieckiej. In der Spielzeit 1960/61 z.B. 1 025 Auflührungen mit 558 000 Besuchern. Seine 'Rekordleistung' war die Spielzeit 1969/70: 1 765 Aufiührungen, 752 000 Zuschauer. Siehe: T. Lengborn: Schriftsteller und Gesellschaft in der Schweiz. Zollinger - Frisch - Dürrenmatt. Frankfurt/M. 1972, S. 218. Nach den vom Autor herangezogenen Theaterstatistiken wurden die Physiker in den deutschsprachigen Ländern (Bundesrepublik Deutschland, DDR, Österreich, Schweiz) in der Spielzeit 1962/63 1598-mal an 59 Bühnen aufgeführt (in Polen 216-mal an 7 Bühnen), in der nächsten Spielzeit gab es 377 Auff. an 24 Bühnen (in Polen 491 AufF. an 9 Bühnen!). Die von Lengborn angeführten Daten stimmen übrigens an manchen Stellen nicht mit den Angaben des Deutschen Bühnenvereins für die Jahre 1947-1974 (Köln 1978) überein. Die Statistik des Bühnenvereins verzeichnet 15 Werke von Dürrenmatt einschließlich Play Strindberg und König Johann, nicht mitgezählt seine Bearbeitungen von Urfaust und Titus Andronicus. Höhepunkte für Dürrenmatt gab es in den deutschsprachigen Ländern in den Spielzeiten 1962/63 (1429/59) vor allem durch die Physiker und 1969/70 (1079/61) vor allem durch Play Strindberg. Angaben zu den einzelnen Theaterwerken (S. 63) bis 1974 finden sich im Anhang, s.u. S. 95. Zu Besuch der alten Dame: 461 Inszenierungen und 218 649 Zuschauer, darunter 25 Gastspielveranstaltungen in theaterlosen Städten mit 16 910 Besuchern. Nicht mitgezählt ist die Inszenierung im Teatr Polski in Poznan (1958), da die Angaben nicht mehr festzustellen sind
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einer weitaus geringeren Popularität: Der Meteor (5 Inszenierungen in den Jahren 1966-68): 189 Aufführungen mit 82 259 Besuchern,9 Der Mitmacher (1 Inszenierung im Jahre 1973): 139 Aufführungen mit 50 492 Besuchern, Play Strindberg (2 Inszenierungen, 1970 und 1974): 116 Aufführungen mit 41 681 Besuchern.10 Eine besondere Kategorie bilden Theater, welche Gastspiele in den theaterlosen Städten geben. Wegen der kargen Filmproduktion, wenig attraktiver Periodika und des damals noch in seinen Anfängen steckenden Fernsehens, haben die Anfang der 50er Jahre (d.h. zur Zeit des sozialistischen Realismus) festgesetzten, allgemeinen Voraussetzungen der staatlichen Kulturpolitik gerade diesen Theatern und den Verlagen die „führende Rolle in der Verbreitung der Kultur unter den Volksmassen" bestimmt. Das ganze Land wurde mit einem Netz von Theatern überzogen, das so gedacht war, daß jede Woiwodschaftsstadt (die großen Theaterzentren nicht mitgerechnet) mindestens ein Sprechtheater mit eigener Gastspielbühne besaß. Theater wurden auch in größeren Kreisstädten gegründet (Bielsko, Czçstochowa, Gniezno, Grudzi^dz, Jelenia Gòra, Kalisz). Einige davon verfügten über eigene Filialen.11 1955 gab es in Polen 61 Sprechbühnen, davon besaßen 15 Gastspielensembles und 3 fungierten als Wandertheater. Dieses Verhältnis blieb mit wenigen Modifikationen über lange Jahre konstant (manche Filialen haben sich mit der Zeit selbständig gemacht).
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Zu Romulus der Große'. 475 Auffuhrungen, darunter 59 Gastspielveranstaltungen, nicht mitgezählt die Inszenierungen im Teatr Rozmaitosci in Wroclaw, Teatr Ludowy in Nowa Huta und Teatr im. J. Osterwy in Lublin, wo die Angaben ebenfalls nicht mehr zu ermitteln sind. Die von mir angegebene Gesamtbesucherzahl und die Zahl der Aufluhrungen wurden anhand einer Vergleichsanalyse mit den zu damaliger Zeit in den betreffenden Theatern gespielten, meistbesuchten Stücken ausgerechnet. In der Spielzeit 1967/68 spielten das Stück 24 deutschsprachige Bühnen (DDR nicht mitgezählt) in 270 Aufführungen, in Polen dagegen 3 Bühnen in 151 Aufführungen. Angaben zu weiteren Stücken: Die Wiedertäufer - 3 Insz. in den Jahren 1967-69, 108 Auff., 48 944 Zuschauer Frank V. Oper einer Privatbank - 3 Insz. 1962, 98 Auff., 45 135 Zuschauer König Johann - 2 Insz. 1969 und 1970, 80 Auff., 35 992 Zuschauer Ein Engel kommt nach Babylon - 1 Insz. 1961, 57 Auff, 35 491 Zuschauer Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen - 3 Insz., 1962, 1984 2 Insz., 59 Auff., 17 084 Zuschauer Die Frist - 1 Insz. 1978, 34 Auff., 13 220 Zuschauer Das Unternehmen der Wega und Der Doppelgänger - 1 Insz. 1974, 17 Auff., 2 219 Zuschauer. Theater aus Bydgoszcz in Tonili, Theater aus Gdansk in Gdynia und Sopot, Theater aus Kielce in Radom, Theater aus Katowice in Sosnowiec und Theater aus Olsztyn in Elblqg.
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Dies stand selbstverständlich in keinem direkten Zusammenhang zu den Gesetzen des Marktes und auch zum Bedarf des polnischen Theaterpublikums an bestimmten dramatischen Werken: laut Dekret des Ministerrates von 1950 bekamen Theater, die sich nach der Wirtschaftsrechnung zu richten hatten, einen von oben herab aufgezwungenen Finanzplan (Einnahmen und Ausgaben) wie auch einen Dienstleistungsplan, der die Zahl der Uraufführungen, Inszenierungen wie auch der Zuschauer vorsah. Die genehmigten Kosten wurden durch Zuschüsse gedeckt; den Einspielergebnissen hat man keinen besonderen Wert beigemessen. Abgesehen davon, daß die Gastspiele über eine längere Zeit unter äußerst primitiven Bedingungen veranstaltet wurden, mit empfindlichen Lücken in der Rollenbesetzung,12 und daß ihr künstlerisches Niveau nicht selten viel zu wünschen übrig ließ, trugen sie zweifelsohne im großen Maße dazu bei, den Wirkungsbereich der Theater zu vervielfachen. Als Beispiel kann das nicht besonders große Ensemble des Teatr Dolnoslqski in Jelenia Gòra dienen, das 1970 mit seinen Gastspielveranstaltungen 68 theaterlose Städte Niederschlesiens bediente.13 Die Aufführungen wurden in der jeweiligen Ortschaft in der Regel nur einmal präsentiert.14 Ca. 350 der insgesamt 2 900 Dürrenmatt-Aufführungen in Polen wurden in theaterlosen Städten als Gastspiele aufgeführt bei einer Besucherzahl von ca. 130 000 (insgesamt 1,2 MIL), was 12% beträgt und weitaus unter dem Durchschnitt liegt, der in Polen in den 70er Jahren ca. 30% betrug.15 Die größten Verdienste um die Popularisierung der Theaterwerke Dürrenmatts 'in der Provinz' haben sich folgende Theater erworben: Teatr Ziemi Opolskiej in Opole, Teatr Wybrzeze in Gdañsk, Teatr im. W. Horzycy in Toruñ, Teatr im. W. Siemaszkowej in Rzeszów, Teatr Dolnosl^ski in Jelenia Gòra, Baltycki Teatr Dramatyczny in Koszalin, Teatr Ziemi Mazowieckiej in Warszawa, Teatr im. S. Zeromskiego in Kielce, Teatr Polski in Bielsko Biala und 12
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In Czçstochowa gab es z.B. bei 800 Aufführungen pro Spielzeit lediglich 50 Schauspieler, die in 3 Ensembles geaibeitet haben. In Jelenia Gòra mußte die 30 Personen zählende Truppe 2 Inszenierungen auf einmal realisieren, was künsüerisch sinnvolle Vorhaben überhaupt unmöglich machte. Siehe dazu: Stanislaw Marczak-Oborski: Teatry dramatyczne. In: S. Marczak-Oborski: Teatr polski w latach 1918-1965. Warszawa 1985. Siehe: Teatr Dolnoslqski >*> Jeleniej Górze 1945-1970. Jelenia Gòra 1970. Mitte der 50er Jahre wurde in den Theaterkreisen der Begriff 'chaitura' (etwa Brötchenverdienen) geprägt, mit dem man die Tätigkeit mancher Künstler bezeichnete, die danach trachteten, möglichst große Einnahmen bei minimaler Leistung zu erlangen. Andrzej Hausbrandt: Demografia publicznosci teatralnej. In: Janusz Degler (Hrsg.): Wprowadzenie do nauki o teatrze. Bd. 3: Odbiorcy dziela teatralnego. Widz - krytyk badacz. Wroclaw 1978, S. 298.
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Teatr Ziemi Lubuskiej in Zielona Gòra. Als Gastspielveranstaltungen wurden von insgesamt 20 Bühnen 5 Stücke Dürrenmatts aufgeführt, und zwar: Besuch der alten Dame, Romulus der Große, Physiker, Meteor und Play Strindberg. Das am meisten gezeigte Stück waren die Physiker: bei insgesamt 1 019 Aufführungen wurden 236 (ca. 23%) in theaterlosen Städten gezeigt, die Besucherzahl betrug 73 000 (insgesamt 376 000). 21 der insgesamt 116 Play Sir/WZ>erg-Aufführungen wurden in theaterlosen Städten aufgeführt. Die Besucherzahl betrug 6 000 (42 000 insgesamt). Von insgesamt 500 Aufführungen der Komödie Romulus der Große (mit 240 000 Besuchern) wurden 60 d.h. ca. 12% als Gastspiele (mit 26 000 Besuchern) gegeben.16 Diese niedrige (im Vergleich mit der allgemeinen 30-prozentigen Tendenz) Zahl der in den theaterlosen Städten aufgeführten Werke Dürrenmatts läßt vermuten, daß man auf manche Theaterstücke nicht nur wegen der technischen Schwierigkeiten, die eines zahlenmäßig starken Personals und einer umständlichen Bühnenbildmaschinerie bedürfen, sondern wegen der vorausgesehenen Perzeptionsprobleme verzichtet hat. Denn den traditionellen Spielplan der Gastspieltheater füllten in der Regel leichte, populäre Stükke, Komödien und polnische Klassik. Auch Laientheater haben gern nach den Stücken Dürrenmatts gegriffen. Aus den zu meiner Verfugung stehenden Angaben17 geht hervor, daß sich aus dem dramatischen Werk Dürrenmatts Die Physiker (4 Inszenierungen) und Romulus der Große (2 Inszenierungen) der größten Popularität erfreuten. Außerdem wurden Besuch der alten Dame und Frank V aufgeführt. Die Laientheater haben dagegen a l l e Hörspiele des schweizerischen Autors auf die Bühne gebracht, wobei das Nächtliche Gespräch (5 Inszenierungen) und die Panne (4 Inszenierungen) die größte Akzeptanz gewannen. Für szenische Zwecke wurde auch der Roman Grieche sucht Griechin adaptiert. Obwohl es zu diesen Inszenierungen (kurze Notizen in den Tageszeitungen ausgenommen) kaum Informationen gibt, ist es jedoch bekannt, daß die Werke an einem Ort (z.B. in den Studentenklubs) höchstens ein paarmal wiederholt wurden und daß das Publikum (wegen des Platzmangels) höchstens aus einigen Dutzend Personen bestand.
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Von ca. 500 Aufführungen des Besuchs der alten Dame wurden 25 (ca. 5%) in theaterlosen Städten gezeigt. Die Besucherzahl betrug 17 000 (240 000 insgesamt). Der Meteor wurde im Rahmen der Gastspielveranstaltungen 6-mal inszeniert (insgesamt 189), was ca. 3% beträgt. Die Besucherzahl betrog 1 827 bei 82 259 insgesamt. Wegen der fehlenden Dokumentation erheben die Ausführungen zur Rezeption Dürrenmatts in den Laientheatern keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.
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Ende der 50er Jahre erlebte Polen eine wahrhaftige Revolution im Bereich der Kommunikationsmittel, mit der technischen Entwicklung und der raschen Verbreitung des Fernsehens wurde gleichzeitig eine neue paratheatrale Form geschaffen, und zwar das Fernsehtheater. Dieses wurde prompt zu einer der Sendungen mit den meisten Einschaltquoten. In der Anfangsphase hat man vor allem Werke von namhaften Autoren inszeniert, womit man dem Publikum die Möglichkeit gab, sich mit manchen Werken bzw. Dramatikern zum ersten Mal bekanntzumachen. Zu den meistaufgeführten polnischen Autoren gehörten damals Szaniawski, Gatczyñski, Mrozek, Rózewicz und Herbert, von den ausländischen Dramatikern wurden Strindberg, Pirandello, Joyce, Wilder, Frisch, Ionesco und Dürrenmatt gespielt. Das Fernsehtheater hat die Möglichkeit einer 'idealen' Rollenbesetzung geschaffen, weil es - ohne ein festes Theaterensemble zu besitzen - für jede Inszenierung beliebige Schauspieler aus verschiedenen Theatern (und Städten) engagieren konnte. Auf diese Weise wurde nicht nur die dramatische Kunst weit und breit popularisiert, sondern auch die seit langem bestehende Hegemonie der Theaterzentren gebrochen. Zu den wichtigsten Regisseuren dieser Theaterform gehörten damals u.a. der 'Entdecker' seiner Spezifik, Adam Hanuszkiewicz, später Jerzy Antczak und Jerzy Gruza. Viele der bedeutendsten polnischen Regisseure haben dieses neue Medium und neue Realisierungsmöglichkeiten als Herausforderung betrachtet. Zu dieser Gruppe gehörten u.a. E. Axer, Α. Bardini, Κ. Dejmek, Ζ. Hübner, J. Krasowski, J. Kreczmar, L. René, Κ. Swinarski und A. Wajda. Das Fernsehtheater hat in dieser Anfangsphase 100 Inszenierungen aufgeführt, außerdem wurde eine Reihe von Einaktern und anderen Genres realisiert. In dem betreffenden Zeitabschnitt wurden im Fernsehen 4 Dramenwerke Dürrenmatts aufgeführt und 6 Hörspiele adaptiert. Darüber hinaus wurde auch der Kriminalroman Der Richter und sein Henker dramatisiert. Da bisher im polnischen Fernsehen keine Untersuchungen zu den Einschaltquoten der einzelnen Sendungen durchgeführt wurden, sind notwendigerweise andere Zahlenbestände heranzuziehen.18 Ende der 50er Jahre wurden im Fernsehen vor allem einige Hörspiele Dürrenmatts präsentiert, darunter die als sehr geDas wachsende Interesse der polnischen Öffentlichkeit für neue Medien (Radio, FernJahr 1950 1955 1960 1965 Bevölkerung (in Mill.) 25,0 27,6 29,8 31,3 Radioempfanger (in 1 146 3 057 5 268 5 646 Tsd.) 5 426 2 078 Fernseher (in Tsd.) Siehe: Rocznik statystyczny. Warszawa 1992.
1970 1975 1980 1985 1990 32,7 34,2 35,7 37,3 38,2 5 658 8 127 8 666 10 077 10 944 4215 6 472 7 954 9 468 9 919
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lungen bewertete Abendstunde im Spätherbst mit Woszczerowicz in der Hauptrolle. Ihr Wirkungsbereich ist - trotz der dynamischen Entwicklung dieses Mediums in dieser Zeit - eher als gering zu betrachten. Eine entscheidend aktivere Phase in der Popularisierung der Werke Dürrenmatts ist im polnischen Fernsehen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zu beobachten, als die Rezeption des schweizerischen Dramenautors in den Theaterzentren deutlich abgenommen hatte. 1967 betrug die Zahl der Fernsehempfanger in Polen 3 Millionen (um das potentielle Publikum zu errechnen wird diese Zahl mal 3 multipliziert19) und die zu jener Zeit durchgeführte Umfrage ergab, daß das Fernsehtheater mit einem 'Zuschauerraum' von 50 bis 60% rechnen konnte.20 Eine einfache mathematische Operation läßt uns von einem millionengroßen (potentiellen) Publikum sprechen, von dem ein Sprechtheater nicht mal träumen kann. Ebenso vernachlässigt sind in Polen Forschungen zum Radiopublikum. Davon, daß der Untersuchungsgegenstand (besonders in den 50er und 60er Jahren) in Hülle und Fülle vorhanden war, können z.B. die englischen Berechnungen zeugen, nach denen der im III. Programm von BBC gesendete Hamlet 400 000 Zuhörer an den Radioempfängern versammelte.21 Im Vergleich mit der Popularität der Unterhaltungsprogramme ist dies allem Anschein nach nicht besonders viel, aber - um es noch besser zu verdeutlichen eine ähnliche Zuschauerzahl erreichten in den polnischen Theatern lediglich die Physiker in über 1 000 Aufführungen, in 21 Theatern, innerhalb von 7 Jahren! Von 4 Hörspielen Dürrenmatts (und 6 Wiederholungen), die vom Rundfunktheater gesendet wurden, sind die meisten um die Wende 1950/60 ausgestrahlt worden, in der Zeit also, als sich dieses Medium in Polen der größten Popularität erfreute. Allmählich ist der Einfluß des Fernsehens immer mehr zu beobachten. In dieser Zeit hat das Rundfunktheater über 100 Premieren pro Jahr gegeben (Hörspiele, Dramenadaptationen, Rundfunkadaptationen der polnischen und ausländischen Prosa).22 Da es auch diesmal an Angaben zur Hörerschaft mangelt, wollen wir uns - ähnlich wie es beim Fernsehen der Fall war - anderer aussagekräftigen Zahlen bedienen. Aus der 1963 von der Redaktion fur Studien und Bewertung des Polnischen Rundfunkprogramms (Redakcja Studiów i Oceny Programu Polskiego Radia) durchgeführten Umfrage geht hervor, daß damals ca. 65% der Zuhörer Hör19 20
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M. Burdowicz-Nowicka: Rozprawy ζ socjologii teatru. Wroclaw 1971, S. 217. Siehe: Statystyczny opis warunków rozwqju kultury w PRL w latach 1946-1970. Auswahl und Einleitung A Wallis. Warszawa 1974, S. 226. A Kloskowska: ¡Cultura masowa. Krytyka i obrona. 2. Aufl. Warszawa 1980. Janusz Mayen: Radio a literatura. Warszawa 1965, S. 15.
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spiele zu ihren Lieblingsendungen zählten.23 Daraus kann man zu dem (selbstverständlich rein theoretischen, aber doch wahrscheinlichen) Schluß kommen, daß das Auditorium der 1958 zweimal ausgestrahlten Abendstunde im Spätherbst Millionen von Zuhörern zählen konnte. Der nach dem von Dürrenmatt bearbeiteten Drehbuch gedrehte Film Es geschah am heilichten Tag wurde in Polen in den Jahren 1961-1966 (10 Kopien, 35mm-Band) in 4 262 Vorstellungen mit insgesamt 553 225 Besuchern gespielt. Die Filmversion des Dramas Besuch der alten Dame haben sich in den Jahren 1966-1970 557 055 Besucher in 6 648 Vorstellungen angeschaut (23 Kopien, 35mm-Band). Im Vergleich mit solchen Kassenschlagern wie Vom Winde verweht (7,7 Millionen Besucher im Jahre 1963), Krieg und Frieden (UdSSR, 5 Millionen Besucher im Jahre 196724) oder dem Film Die Kreuzritter, nach dem gleichnamigen Roman von H. Sienkiewicz, den sich in den Jahren 1960-1973 26 Millionen Besucher angesehen hatten, ist es zwar nicht besonders viel, aber diese Optik wird sich ändern, wenn man die Zahl der Kinobesucher mit der Zahl der Theaterbesucher vergleicht. Es wird sich dann erweisen, daß der Besuch der alten Dame innerhalb von 20 Jahren und in über 500 Theateraufluhrungen nur die Hälfte dieser Besucherzahl verzeichnen konnte.25 Ohne den Versuch zu wagen, über die Rolle der westlichen zeitgenössischen Dramaturgie in der Geschichte des polnischen Theaters ausfuhrlich zu berichten, ist zu erwähnen, daß sie am markantesten in den Jahren 1957196426 zum Vorschein kommt. Dieser Zeitabschnitt wird von manchen polnischen Theaterhistorikern in zwei Unteretappen gegliedert: 1957-60, die von
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Ebd., S. 17.
Statystyczny opis warunköw rozwoju kultury (Anm. 20), S. 254. Marta Fik: Kultura polska po Jalcie. Kronika lat 1944-1981. [Die polnische Kultur nach Jaita. Eine Chronik der Jahre 1944-1981]. London 1989, S. 330. Das Interesse der polnischen Kinobesucher für dieses Medium kommt am besten in der folgenden Tabelle zum Vorschein: 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 Jahr 19 32,7 35,7 27,6 29,8 31,6 34,2 Bevölkerung 25,0 37,3 38,2 ( in Mill.) 1 376 2 672 3 418 3 935 3 285 2 639 2 228 2 057 1435 Kinos 123,2 183,2 201,6 173,3 137,6 140,8 97,5 Besucher 107,1 32,8 ( in Tsd.) Mit einer eventuellen zeiüichen Verschiebung, wie es bei Dürremnatt der Fall war, um weitere 3-4 Jahre.
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S. Marczak-Oborski „Sturm- und Drangperiode" genannt wurde 27 und 1961-64, „unsere kleine Stabilisierung" (nach einem Stück von Rózewicz genannt). Die Werke der westlichen Autoren beeinflussten damals in hohem Maße die Spielpläne der besten und der interessantesten polnischen Bühnen. Eine ganze Reihe von Inszenierungen wird als wichtiges Ereignis im Kulturleben Polens anerkannt. Nicht ohne Bedeutung war auch die Tatsache, daß die Theaterbühnen, angesichts des schwerfälligen Verlagswesens, damals der einzige Ort waren, in dem die Gesellschaft mit den neuesten Werken der Weltliteratur konfrontiert werden konnte. Neben anderen Quellen der Inspiration, wie den großen Nationaldramen, dem Theater der Groteske und der Ironie sowie (zwar in einem geringeren Maße) der zeitgenössischen polnischen Dramatik, brachten gerade die Werke der westlichen Autoren,28 als diejenigen, die sich mit zentralen gesellschaftlichen und existentiellen Problemen, mit dem Ideen- und Menschendrama beschäftigten, eine intellektuelle und emotionelle Genugtuung im Andrang der kontroversen alltäglichen Probleme mit sich. Sie wurden zum Prüfstein für die Mitwirkung am geistigen Ertrag der Gegenwart. Die polnischen Theaterleute konnten mit neuen Theaterformen und Ausdrucksmitteln konfrontiert werden, was einen nachhaltigen Einfluß auf die Entwicklung des polnischen Nachkriegstheaters hatte. Unter den Autoren, deren szenische Geschichte ein separates Kapitel in der Entwicklung des polnischen Nachkriegstheaters bilden, befindet sich auch der schweizerische Dramatiker Friedrich Dürrenmatt. Und in diesem Sinne bildet er einen wichtigen Bestandteil der Theatergeschichte Polens, das er nicht ohne Grund seine „zweite Heimat" nannte. Denn in keinem anderen Land (den deutschen Sprachraum ausgenommen) stand er in so hohem Ansehen, in keinem hatte er auch so treue Zuschauer wie in Polen.
Bemerkungen zur Rezeption fremdsprachiger Theaterwerke in Polen 1945-1989 Unter den vielfältigen Problemen, die ein Theaterforscher zu Gegenständen seiner wissenschaftlichen Untersuchungen macht, befindet sich auch die Auf27
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Stanislaw Marczak-Oborski: Zycie teatralne 1944-1964. Kierunki rozwojowe. Warszawa 1968, S. 120. Man darf auch Bert Brecht nicht vergessen.
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gäbe, die einzelnen Theaterkunstwerke in ihrer konkreten Gestalt zu erkennen, die künstlerischen und ideellen Gehalte wahrzunehmen und die Art der Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum zu registrieren. Und da er lediglich einen indirekten Kontakt mit dem Gegenstand seiner Analyse, Beschreibung und Interpretation hat sowie es mit einem einmaligen Ereignis zu tun hat, das kein Original, keine Kopie und keine Wiederholung kennt, sondern eine unendliche Folge von Auffiihrungsversionen, wie Musik, wie mittelalterliche Vortragsliteratur, ist er auf ein zusätzliches Forschungsvorhaben angewiesen, und zwar die R e k o n s t r u k t i o n historischer Theaterkunstwerke. Diese ist nur auf der Grundlage von erhaltenen Materialien durchzufuhren. Von ihrer Quantität, Qualität und Glaubwürdigkeit wie auch von der Fähigkeit des Forschers, den ihm zur Verfugung stehenden Belegen wesentliche Informationen zu entnehmen und diese zu analysieren, ist der Grad der Rekonstruktion und somit ihr wissenschaftlicher Wert abhängig. Zwar ist das Ergebnis dieser Vorhaben mit dem historischen Ereignis nicht zu identifizieren (hier stimme ich völlig mit den Ausführungen von Dietrich Steinbeck überein), weil „theaterhistorische 'Rekonstruktionen' nie das Theaterkunstwerk selbst, das ein Ereignis in der Zeit ist, reproduzieren können"29, aber sie stellen zweifelsohne die einzige Möglichkeit dar, die Theatergeschichte „dingfest" zu machen und sie dann einer wissenschaftlichen Bearbeitung zu unterziehen. Diese Überlieferungen sind in zwei Gruppen einzuteilen: - Materialien, die vor der Premiere entstehen und vom Theater selbst benutzt werden, 'Dokumente der Arbeit' genannt, und - Quellen, die während bzw. nach der Premiere entstehen mit dem Zweck, die Aufführung festzuhalten, zu 'konservieren', 'Dokumente des Werkes' genannt.30 In einem Idealmodell der Theaterarchivierung gibt es auch einen entsprechenden Platz für die Dokumentierung der Eindrücke, Erlebnisse und Urteile der Zuschauer sowie der Interaktion zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum. Fragmentarische, spärliche Reste materieller Realität,31 die in den polnischen Theatern zu finden sind, haben zur Folge, daß sich der Theatrologe
29
30
Siehe: Dietrich Steinbeck: Probleme der Dokumentation von Theaterkunstwerken. In: Die deutsche Bühne 43(1972), H. 2, S. 26-28; H. 3, S. 21-22. Zitiert nach: Helmar Klier (Hrsg.): Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Texte zum Selbstverständnis. Dannstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981, S. 181. Näheres siehe: Zbigniew Raszewski: Dokumentacja przedstawienia teatralnego. In: JanuszDegler (Hrsg.): Wprowadzenie do nauki o teatrze. Bd. 3 (Anm. 15), S. 528ff.
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vornehmlich mit den 'Dokumenten des Werkes' befaßt, d.h. mit den schriftlichen Überlieferungen, v.a. Rezensionen, Beiträgen zum Dramentext, dem Autor und dem Theater selbst, Interviews mit den Urhebern des Theaterkunstwerks (vor und nach der Aufführung), Szenenfotos, die nachträglich in Fachzeitschriften veröffentlicht werden, bzw. (in sehr seltenen Fällen) Schilderungen der Augenzeugen (Zuschauer). Ob sich anhand der vorhandenen Text- und Bildquellen wie auch einer Unzahl von verschiedenen Detailbelegen eine Auffuhrung theaterhistorisch 'rekonstruieren' läßt, ist zu bezweifeln. Völlig berechtigt kann dagegen von einer Untersuchung der künstlerischen und der sozialen Intentionen eines Theaterkunstwerks sowie - als Hypothese verstanden - „des vom Quellenbestand jeweils bezeugten Abdrucks, den das individuelle Theaterkunstwerk in Raum und Zeit der Geschichte hinterlassen hat"32, gesprochen werden. Trotz unterschiedlicher Erwartungen, die der Theaterkritik gegenüber immer wieder geäußert werden und trotz der Einwände gegen das, was sie für das Erkennen und Beurteilen der jeweiligen Theaterleistung beiträgt, ist nicht zu leugnen, daß sie oft die einzige Überlieferung bleibt, in der die Theatergeschichte festgehalten und archiviert wird. Und darin beruht ihr grundsätzlicher Wert. Bei der Rekonstruktion des gegebenen Theaterwerkes und bei der Aufstellung von Hypothesen über seine Rezeption, sollten vom Forscher alle kritischen Akten, alle schriftlichen Überlieferungen herangezogen werden, ihres Niveaus wie auch der ästhetischen, philosophischen und weltanschaulichen Auffassungen ihrer Autoren ungeachtet. Denn ich gehe von der Annahme aus, daß die Mannigfaltigkeit von (subjektiven) Kriterien und kritischen Einstellungen nur als Vorteil und nie als Nachteil angesehen werden darf, da sich diese oft antagonistischen Kriterien und Einstellungen nicht ausschließen, sondern für den Theatrologen als einander ergänzende, vervollständigende Quellen gelten können. Nur in dieser Mannigfaltigkeit sind bestimmte Regelmäßigkeiten, gewisse für das gegebene Land und die gegebene Epoche charakteristische Tendenzen in der Präsentation eines Autors auf der Bühne und in seiner Rezeption zu zeigen. Beim Versuch, ein 1945-89 in Polen aufgeführtes Theaterwerk anhand kritischer Überlieferungen zu rekonstruieren, soll auf Einschränkungen hin31
32
Gemeint sind hier sowohl Textquellen, z.B. Regiebücher, Szenarien, Rollenhefte, Soufflier- und Inspizientenbücher, Szenen- und Rollenbeschreibungen, als auch Bildquellen, z.B. Bühnenbild- und Kostümentwürfe, Originaldekorationen bzw. Dekorationsteile, Szenenfotos. Dietrich Steinbeck: Probleme der Dokumentation von Theaterkunstwerken (Anm. 29), S. 181.
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gewiesen werden, die man der wenig zahlreichen Gruppe seiner Autoren (ca. 100 Personen) auferlegt hat. Abgesehen von der Tatsache, daß die Urteile der Theaterkritiker nicht, wie es z.B. bei den Buchkritiken der Fall ist (indem man nach dem rezensierten Buch greift), überprüfbar sind, weil der Gegenstand der Analyse, nachdem er vom Spielplan abgesetzt worden ist, aufhört zu existieren, war der Einfluß der Theaterkritiker unter den damaligen politischen und gesellschaftlichen Zuständen sowohl auf das Theaterniveau als auch auf die Repertoirepolitik eher gering und ziemlich stark von offizieler Seite gesteuert. Dies ist wieder sehr eng mit dem Verhältnis der Staatsmacht zur Kultur (und somit zum Theater) verbunden, das in der durch sie betriebenen Kulturpolitik seinen Niederschlag fand. Der Staat spielte damals in Polen - allgemein gesagt - eine doppelte Rolle: die des Mäzens und die der Kontrollinstanz. Die Rolle als Mäzen wurde von ihm allmählich übernommen, indem er zuerst andere Formen des Mäzenatentums eingeschränkt, dann völlig abgeschafft und alle Institutionen des Kulturlebens von sich abhängig gemacht hat. Für polnische Theater, die lediglich 15-25% ihrer Ausgaben einspielen,33 bedeutete dies nicht nur völlige Abhängigkeit von staatlichen Subventionen für laufende Unternehmen, sondern auch Unterordnung unter viele Ämter verschiedener Ebenen, welche die Kulturpolitik in ihrem Zuständigkeitsbereich hatten und in denen Entscheide über Repertoirepolitik, Preise und Auszeichnungen, Eintrittspreise, Entwicklung des Theaterschulwesens u.v.a. fielen. Die Kulturpolitik des Staates war immanenter, organischer Teil der allgemeinen Politik, die danach strebte, ihre Wertehierarchie auch auf die Kulturebene zu übertragen. Im Falle deutlicher Diskrepanzen hat der Staat seine Kontrollbefugnisse, d.h. die Zensur, eingesetzt.34 Tendenzen, die in dieser Hinsicht in verschiedenen Zeitabschnitten im Bereich der präventiven (vor dem Spektakel), der repressiven (die Streichung des Theaterwerkes vom Spielplan) bzw. informellen Zensur (Autozensur) zum Vorschein kommen, können fur den Theaterforscher zu einer der wichtigsten Determinanten der politischen und kulturellen Entwicklung des die Zensur ausübenden Staates
33 34
Andrzej Hausbrandt: Elementy wiedzy o teatrze. Warszawa 1982, S. 200. 1958 wurden von der Zentralverwaltung der Theater (Centralny Zarz^d Teatrów) u.a. Der Prozeß und Das Schloß von Kafka, Die Trauung von Gombrowicz und Die Polizei von Mrozek und 1959 von der Theaterabteilung im Kultur- und Kunstministerium (Zespól d/s Teatrów Ministerstwa Kultury i Sztuki) Der öffentliche Anklüger von Hochwälder wegen des „strittigen Ideencharakters" und Die Polizei von Mrozek wegen der „nicht angemessenen Stückauswahl im Hinblick auf die Aufgaben des Theaters und das Milieu, in dem es wirkt", nicht genehmigt.
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werden, ihrer tiefgreifenden Abhängigkeit von der äußeren und inneren politischen und gesellschaftlichen Lage. Eine pragmatische, der aktuell betriebenen Politik dienliche Behandlung des Theaters wurde in Polen ziemlich oft zur Fackel der Zwietracht zwischen dem Staat und manchmal beträchtlich breiten Gesellschaftsschichten. Der Staat, der über Zensurorgane, Kulturinstitutionen und Kommunikationsmittel verfugte, ignorierte nicht nur die Marktgesetze, sondern auch den Geschmack der Zuschauer, indem er nicht allein über die Theaterwerke, sondern auch über deren Rezeption entscheiden wollte. Bei der Rekonstruktion eines Theaterwerkes anhand von schriftlichen Überlieferungen ist daher zu bedenken, daß die Kriterien, derer sich ein der Obrigkeit gefügiger Teil der Theaterkritiker damals bediente, dem Theatrologen eine interessante Einsicht in das 'ideale' Rezipientenmodell und die Voraussetzungen der Kulturpolitik in der gegebenen Zeitperiode gewähren können. Zu einem besonders heftigen Konflikt kam es in Polen in den Jahren 1949-55, nach der 'Dekretierung' des sozialistischen Realismus, als man die besonders reichlichen Subventionen für Kulturzwecke als Anlaß zur Instrumentalisierung des Theaters sah. Infolgedessen wurden nicht nur die „kleinbürgerlichen Schundstücke", sondern auch viele Werke der polnischen und ausländischen Klassik wie auch fast die ganze gegenwärtige westliche Dramatik vom Spielplan gestrichen. Dasselbe gilt im gleichen Maße für die damals betriebene Verlagspolitik. Durch Vermittlung entsprechender Organe verteidigte der totalitäre Staat die von ihm selbst geschaffene Ordnung und seine Ideen, und das sowohl gegen die Verbreitung der antagonistischen Konkurrenzordnung wie auch gegen Übergriffe auf seine Grundlagen. Der sich mit dieser Periode beschäftigende Forscher sollte daher Rücksicht darauf nehmen, daß die Auflage des erschienenen Werkes kein eindeutiges Indiz für das wahre Interesse des Lesepublikums sein muß. In einzelnen Fällen jedoch - ohne die damaligen Verhältnisse dämonisieren zu wollen - war sie es bestimmt. Neben empfindlichen restriktiven Aktionen, neben den Zeitabschnitten, als die Kultur von der Staatsmacht in erster Linie als eine Propagandamaschinerie verstanden wurde, gab es auch Phasen, in denen einzelne Theater zu einem Ort geworden sind, wo der Zuschauer seine moralische und geistige Einstellung mit den bedeutendsten Werken der Weltdramaturgie konfrontieren konnte. Von der Staatsmacht wurden sie dann teils als Sicherheitsventil für intellektuelle Eliten, teils als Visitenkarte für das Ausland betrachtet. Unter diesen ungünstigen Umständen hat die polnische Kultur dennoch viele herausragende Schöpfer hervorgebracht und eine ansehnliche Zahl von Errungenschaften in fast allen Bereichen der Kunst zu verzeichnen.
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Bei der Erforschung der Rezeption ausländischer Bühnenwerke in Polen fällt auf, daß sowohl die Autoren selbst als auch ihre Rezeption sehr oft ein Paradebeispiel für die von den Theatrologen propagierte These von der Selbständigkeit des Theaters bildeten, für die These nämlich, daß das Drama eine spezifische, eigenständige und produktive Kunst und keine literarische Gattung ist. Dies betrifft auch Friedrich Dürrenmatt. Da die Texte des schweizerischen Autors über längere Zeit für ein breites Publikum nicht zugänglich waren,35 existierten sie im Bewußtsein der polnischen Öffentlichkeit fast ausschließlich als theatrales Medium, in dem die Sprache, d.h. der literarische Text, lediglich zu e i n e m der Schauspielelemente geworden ist. In der Folge wurden Dürrenmatts Dramen als mindestens vierschichtige Schöpfungen wahrgenommen, in denen es einen lebendigen Menschen (Schauspieler) gab, einen konkreten, der Charakterisierung unterworfenen Bühnenraum, eine physikalisch meßbare Auffuhrungszeit und die szenische Bewegung. Dazu kamen noch der sprachliche und der außersprachliche Stoff (musikalische sowie andere akustische Effekte und Licht). Die Rezeption Friedrich Dürrenmatts in Polen beruhte in erster Linie auf einer spontanen Rezeption seiner Werke durch das Publikum während der einzelnen Aufführungen und erst später auf einer sich distanzierenden und distanzierten Interpretation seiner Texte. Zum Entsender der Dürrenmattschen Texte wurde das Theater selbst und in seinem Rahmen alle untergeordneten Kommunikationssysteme, wie Bühnenbild, Inszenierung, Musik, Licht usw. Friedrich Dürrenmatt gehörte zu der heute noch sehr selten vorkommenden Dichtergruppe, deren Werke in textlicher Form meines Erachtens als sekundäre Ergänzung ihrer eigentlichen, szenischen Gestalt aufzufassen sind. Das literarische Endprodukt hat sich nämlich während der theatralen Realisationen kristallisiert, wo es einer eigenartigen Bühnenverifikation unterlag. Dies alles hatte zur Folge, daß der 'casus Dürrenmatt' von der polnischen Theaterkritik fast ausschließlich unter Berücksichtigung von Maßstäben der Theaterkunst erörtert wurde. Wenn auch ein breites und entsprechend analysiertes kritisches Material in einzelnen Fällen eine ziemlich gute Basis dazu bilden kann, die Intentionen der Theaterschaffenden zu ergründen, so ist der Forscher bei der Beurteilung der Rezeption - was übrigens viele der Rezeptionsforscher in Polen irgendwie zu vergessen scheinen - auf mehr oder weniger zutreffende H y p o t h e 35
Die Dramen wurden in der praktisch nur den Fachleuten zugänglichen Monatsschrift Dialog veröffentlicht, ihre Buchausgabe erfolgte erst 1972, als das Interesse für Dürrenmatts Werke in Polen wesentlich nachgelassen hatte, in einer Auflage von 5 000 Exemplaren.
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s e n angewiesen. Dies liegt daran, daß es aus Mangel an einschlägigem Material nicht möglich ist, die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit jeder Auffuhrung in Betracht zu ziehen. Die Urteile der Kritik wie auch ihre Beschreibung bzw. Rekonstruktionsversuche (vor allem was die Leistung der Schauspieler anbelangt) beziehen sich nur rein theoretisch auf dieselben Auffiihrungen; in Wirklichkeit gelten sie aber anderen Auffiihrungsversionen. Nicht ohne Belang ist auch die Tatsache, daß der Einfluß des Theaters auf das Publikum, seine gesellschaftliche Wirkung und Rezeption in der Bewußtseinssphäre verborgen sind, die äußerst immun gegen jedwede analytische Untersuchung ist. Da dem Theaterforscher in der Regel keine soziologischen Analysen zur Verfügung stehen, bleibt ihm noch eine Möglichkeit, sein Forschungsumfeld zu erweitern. Zusätzlich zur Untersuchung der bereits erwähnten fragmentarischen 'Theaterdokumente' und verschiedener Formen der Theaterkritik kann er ein hypothetisches, sich jedoch auf gute Kenntnis der gesellschaftlich-politischen Realität und der allgemeinen Regeln, die das Kulturleben im jeweiligen Land regieren, stützendes Bild der Erwartungen und Bedürfnisse der Theaterzuschauer konstruieren und dieses - um es zu objektivieren - mit den statistischen Angaben konfrontieren. Bei der Analyse der in Polen zugänglichen Zusammenstellungen (Autoren und Bühnenwerke, die polnische Theater in ihre Spielpläne aufgenommen haben), muß berücksichtigt werden, daß sie, in erster Linie die Popularität des gegebenen Stückes bzw. Autoren zum Ausdruck bringend, oft über wichtige, bahnbrechende (durch ihren Text bzw. ihre formale Gestaltung), neue Entwicklungen einleitende Theaterkunstwerke hinweggehen. Vergeblich wäre also die Suche nach den als d a s „Ereignis der Spielzeit" anerkannten bzw. sehr stark diskutierten Stücken von S. Delaney Bitterer Honig (poln. Titel Smak miodu, Gdansk 1959, Teatr Wybrzeze, Regie Konrad Swinarski), P. Weiß Die Ermittlung (poln. Titel Dochodzenie, Warszawa 1966, Teatr Wspólczesny, Regie Erwin Axer), G. Büchner Woyzeck (Krakow 1966, Teatr Stary, Regie Konrad Swinarski).36 Als das wohl spektakulärste Beispiel dafür kann das Drama Dziady {Die Totenfeier) von Adam Mickiewicz, dem Vater der polnischen Romantik, dienen, das von Kazimierz Dejmek 1967/68 im Teatr Narodowy in Warszawa auf die Bühne gebracht wurde. Durch die Zensur wegen „antisowjetischer Akzente" unter Verbot gestellt, wurde die Aufführung zu einem der auslösenden Faktoren der Studentenrevolte im März 1968. Um die Zusammenstellung der populärsten Autoren und Stücke maßgeblich analysieren und bewerten zu können, sind sowohl Kenntnisse zur Kul36
Die letztgenannten wurden eine zeitlang durch die Zensur blockiert.
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turgeschichte des jeweiligen Landes als auch Informationen zu seiner gesellschaftlich-politischen Situation eine unabdingbare Voraussetzung. Zu berücksichtigen wären also in diesem Fall z.B. Verbote durch die Zensur37 (die betreffenden Materialien wurden nach 1989 nur fragmentarisch veröffentlicht), sowie die zu einem bestimmten Zeitpunkt als zeitgemäß eingeschätzten Autoren, Schauspieler bzw. Regisseure, als auch Präferenzen des damals alleinigen Mäzens (sprich: Vertreter des Machtapparates)38 oder sogar festlich begangene Jahrestage, die in der Regel eine Steigerung des Zuschauerinteresses für den betreffenden Autor zur Folge hatten. Zum verzerrten Bild der Statistiken, vornehmlich in den frühen 50er Jahren (dies betrifft in erster Linie die Zahl der Theaterbesucher), trug auch die kostenlose Verteilung der Theaterkarten unter Fabrikbelegschaften und Bauern nach dem damals verbreiteten Prinzip „Kultur in die Hütten" bei. 39 Selbstverständlich soll sich der Theaterforscher - meint zutreffend Janusz Degler - mit bloßer Rekonstruktion bzw. Aufzeichnung nicht zufriedengeben. Er unternimmt diese Aufgabe auch deshalb, um danach das Theaterwerk 'rechtmäßig' beurteilen, Vergleichsanalysen durchführen, es als ein Glied eines bestimmten historischen Entwicklungsprozesses betrachten zu können bzw. um den Versuch zu wagen, diesem Werk einen ihm gebührenden Platz in der zeitgenössischen Kulturgeschichte zuzuweisen. 40 37
38
39
40
Anhand von Statistiken ist es z.B. unmöglich festzustellen, daß S. Mrozek zwischen August 1968 und April 1973 kein einziges Stück wegen Zensurverbots herausbringen konnte und daß die Uraufführung seines Stückes Szczçiliwe wydarzenie im November 1973 seine erste Premiere im Heimatland seit über 5 Jahren war. Einige der Theaterwerke hatten Auflührungsverbot 'in der Provinz', oder man hat stark in ihren Text eingegriffen. Dasselbe galt für den Inhalt der Theaterrezensionen in manchen Zeitschriften und Zeitungen. Als eine sehr nützliche Quelle kann dabei das Werk von Marta Fik dienen: Kultura polska po Jalde (Anm. 25). Ernest Bryll: Rzecz listopadowa (Es geschah im November), Urauff. Teatr Polski, Wroclaw 1968, insgesamt 9 Erstaufführungen (!) in einer Spielzeit; der Dramenautor wurde geradezu zum Propheten seiner Generation ernannt. Der Grund dafür war die damalige intellektuelle Durststrecke im Theaterbetrieb wie auch die Hochkonjunktur einer pathetisch-nationalen Stimmung. Die poetische Montage theatralischer Bilder von L. Budrecki und I. Kanicki Dzis do ciebie przyjàé nie mogç [Heut kann ich zu dir nicht kommen], nach der Anfangszeile eines populären Partisanenliedes benannt, die als eine Synthese des Kampfes des polnischen Volkes um seine Unabhängigkeit im zweiten Weltkrieg gelten sollte, wurde 1968 zu einem der Elemente des politischen Kampfes, zum „Vorzeigemuster im positiven Sinne", zum „Muster der engagierten Einstellung und des richtigen Verständnisses für die Funktion des Theaters in unserem Leben", wie man dies im Stil der damals gängigen Slogans verkündete. In den Statistiken ist nicht die Zahl der 'physisch' im Zuschauerraum anwesenden Personen, sondern die Zahl der verkauften bzw. (kostenlos) verteilten Karten erfaßt. Janusz Degler: Przedmowa. In: Wprowadzenie do nauki o teatrze (Anm. 15), S. 9.
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Anhang
Dürrenmatts Werke: Uraufführungen und polnische Erstaufführungen41 im Vergleich 1. Der Doppelgänger (geschrieben: 1946) (poln. Titel:) Sobowtór 1960, Zürich 30.04.1974, Teatr Lalki i Aktora, Poznan (Puppentheater) 21.01.1984, Teatr Ateneum, Warszawa42 2. Romulus der Große (1948/49) Romulus Wielki 25.04.1949, Stadttheater Basel 02.04.1959, Teatr Dramatyczny, Warszawa 3. Der Richter und sein Henker (1950) Sçdzia i jego kat 25.03.1963, Fernsehtheater, Warszawa43 4. Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen (1951) Nocna rozmowa ζ cziowiekiem, którym siç gardzi 26.07.1952, Münchener Kammerspiele 17.10.1962, Teatr Wspóiczesny, Warszawa 5. Der Prozeß um des Esels Schatten (1951) Procès o cien osla 1956 (2. Fassung 1958), Zürich 15.03.1980, Teatr im. J. Osterwy, Gorzów Wlkp. 6. Ein Engel kommt nach Babylon (1953) Anioi zstqpil do Babilonu 22.12.1953, Münchener Kammerspiele 23.01.1961, Teatr Dramatyczny, Warszawa 7. Das Unternehmen der Wega (1954) Akcja „ Wega " 30.04.1974, Teatr Lalki i Aktora, Poznan 8. Der Besuch der alten Dame (1955) Wizyta starszej pani 29.01.1956, Schauspielhaus Zürich 26.01.1958, Teatr Nowy, Lódz
41
42 43
Berücksichtigt sind in der Aufstellung nur Berufstheater, zur Laienbühne vergleiche die Ausführungen auf S. 81. Gespielt zusammen mit Nächtliches Gespräch... und Abendstunde im Spätherbst. Das Theater des Polnischen Fernsehens verfügte eigentlich über kein eigenes Ensemble, die Stücke wurden hauptsächlich von Regisseuren, Bühnenbildnern, Schauspielern usw., insbesondere der Warschauer Theater, einstudiert.
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9. Die Panne (1955) Kraksa 13.09.1979, Wilhelmsbad 21.06.1965, Fernsehtheater, Warszawa44 10. Abendstunde im Spätherbst (1956) Jesienny wieczór 19.11.1959, Berliner Renaissancetheater 21.01.1984, Teatr Ateneum, Warszawa45 11. Frank der Fünfte (1958) Frank V 19.03.1959, Schauspielhaus Zürich 06.05.1962, Teatr Dramatyczny, Warszawa 12. Die Physiker (1961) Fizycy 20.02.1962, Schauspielhaus Zürich 23.01.1963, Teatr Dramatyczny, Warszawa 13. Der Meteor (1964) Meteor 20.01.1966, Schauspielhaus Zürich 25.11.1966, Teatr Dramatyczny, Warszawa 14. Die Wiedertäufer (1966/67) Anabaptysci 16.03.1967, Schauspielhaus Zürich 18.11.1967, Teatr Dramatyczny, Warszawa 15. König Johann nach Shakespeare (1968) Kró l Jan wedlug Szekspira 18.09.1968, Stadttheater Basel 21.12.1969, Teatr Ludowy, NowaHuta 16. Play Strindberg {1968) 08.02.1969, Basler Komödie 19.03.1970, Teatr Wspófczesny, Warszawa 17. Der Mitmacher (1972/73) Wspólnik 08.03.1973, Schauspielhaus Zürich 18.04.1973, Teatr Ateneum, Warszawa 18. Die Frist (1975/76) Zwloka 06.10.1977, Züricher Schauspielhaus (Kino Corso) 09.04.1978, Teatr Nowy, Lodz.
44 45
Erstsendung als Hörspiel: 17.01.1956. Gespielt zusammen mit dem Doppelgänger und Nächtlichen Gespräch. Die Uraufführung im Fernsehtheater fand bereits am 15.01.1959 statt!
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Übersicht über Dürrenmatts Dramen auf den Bühnen der deutschsprachigen Ländern (bis 1974) Werk Die Physiker
Auff. 2 054
Insz. 77
Play Strindberg Der Besuch der alten Dame Romulus der Große Die Ehe des Herrn Mississippi Der Meteor Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen Abendstunde im Spätherbst Ein Engel kommt nach Babylon Frank V. - Oper einer Privatbank Portrait eines Planeten Die Wiedertäufer Der Mitmacher Herkules und der Stall Augias
1422 1 190 694 680 455 325
62 67 27 41 17 29
Außerordentlicher Start 1962/63 an 52 Bühnen, im Jahr darauf 19, dann vereinzelt vor allem 1969-1971 zwischen 1971 und 1974 nicht gefragt stärker Mitte der 60er Jahre in den 70er Jahren wieder gefragt besonders 1965-67 bis 1970/71
154 124
8 10
besonders 1959-1965 nur bis 1966/67
120
4
nur vereinzelt
116 89 40 10
3 4 2 1
erst 1970 herausgekommen 1967/68 und 1972-1974 1973/74 1966/67
509 28 15
21 1 1
B e a r b e i t u n g e n : König Johann (Shakespeare) Urfaust (Goethe) Titus Andronicus (Shakespeare)
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8 8 8 Γ-» ^O IO
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N O o r ^ ^ o i o ^ f c n c J
8— °
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Dialektische Verfahren in Dramen von Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch - Wirkungen in der polnischen Dramatik nach 1956
In der polnischen Monatszeitschrift Dialog, die 1956 in der 'Tauwetter'Periode mit dem Ziel entstanden ist, die Versäumnisse der Kriegsjahre und die des realen Sozialismus im Hinblick auf Kenntnis des ausländischen Dramas und Theaters in Polen nachzuholen, wurde schon im vierten Heft über Dürrenmatts Schaffen berichtet.1 Anläßlich der berühmten Premiere seines Dramas Der Besuch der alten Dame in den Münchner Kammerspielen informierte man den polnischen Leser, die Worte Herbert Iherings zitierend, Dürrenmatt sei ein Dramatiker, der genau im Herzen der Gegenwart schreibe, und obwohl er die heutige Welt in krassen Farben sehe, seien seine Theaterstücke weit von bloßer Parodie und kabarettistischer Satire entfernt. Davon zeuge am besten der Fall von Der Besuch der alten Dame, den Ihering als das beste deutschsprachige Drama seit 1945, als wahren „Totentanz des Kapitalismus" feierte. Als vielleicht noch kennzeichnender für die weitere Rezeption Dürrenmatts in Polen sollte man den zweiten von den DialogRedakteuren ausgewählten Presseausschnitt berücksichtigen. Hier wurde nämlich der Theaterkritiker E. Altendorf zitiert, der eine gewisse Parallele zwischen dem dramatischen Schaffen Dürrenmatts und den Dramen von Giraudoux fand, indem er beide zur Kategorie des literarischen Theaters rechnete - eines Theaters, das sich nicht um eine genaue Darstellung der Wirklichkeit auf der Bühne bemüht, sondern aktuelle Probleme in einer Art Allegorie darstellt. Aus heutiger Perspektive kann man sicher sagen, daß die polnische Rezeption der Dramen Dürrenmatts zwar stark durch diese Zugehörigkeit zum sog. literarischen Theater beeinflußt wurde, daß aber seine „literarische Qualität" nicht in erster Linie als Opposition zur realistischen Poetik, sondern eher zum absurden Drama verstanden wurde. Am besten zeigt dies eine bemerkenswerte und für die erste Hälfte der 60er Jahren charakteristische zweitägige Diskussion über Schwierigkeiten der polnischen Dramatik, die vom Vorstand des Polnischen Schriftstellerverbands (Zarz^d Gtówny Zwi^zku Literatów Polskich) im März 1961 in Warschau organisiert und in Dialog sehr detailliert besprochen wurde. 1
Vgl. Kronika. In: Dialog 1956, H. 4, S. 143-144.
Dialektische Verfahren in Dramen von F. Dürrenmatt und M. Frisch
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Die Warschauer Tagung von 1961 war die erste nationale Zusammenkunft der Dramatiker, Regisseure und Theaterkritiker seit 1949. Damals hatte man, während einer programmatischen Konferenz in Obory, den Beginn der Epoche des realen Sozialismus proklamiert, welcher realistische Werke sozialistischen Inhalts in Drama und Theater verkündete und vorschrieb; jetzt versuchte man, eine Bilanz der 15 Nachkriegsjahre zu ziehen. Die bedeutendsten Veränderungen der Formen und Themen des polnischen Dramas schilderte in Warschau Adam Tarn, der ehemalige Chef der Zeitschrift Dialog, in seiner Eröffnungsrede. Die Suche nach dem zeitgemäßen und zugleich nationalen Drama in den ersten drei Nachkriegsjahren war durch den von oben eingeführten obligatorischen dramatischen und szenischen Verismus abrupt unterbrochen worden. Erst in der zweiten Hälfte der 50er Jahre kam die Zeit eines fieberhaften Nachholens, als man gleichzeitig Stücke von Miller und O'Neill, Sartre und Camus, Beckett und Ionesco übersetzte und spielte. Leider entstand genau in dieser Zeit auf polnischen Bühnen auch ein auffallendes Mißverhältnis zwischen der aus- und inländischen Produktion. Tarn nannte als Beispiel einige alarmierende Zahlen. Obwohl die DialogRedaktion seit 1956 jährlich ca. 300 Manuskripte von Erstlingswerken bekommen hatte, konnte man unter ihnen nur ein einziges druckreifes abendfüllendes Theaterstück finden (Nora Szczepanskas Kucharki [Köchinnen]: weder das Drama noch die Autorin sind dem heutigen Publikum ein Begriff). Nicht viel besser erging es den erfahrenen Dramatikern, deren Stücke sehr selten in den letzten fünf Jahren eine Theaterpremiere erlebt haben, allenfalls von einer Bühne gespielt worden und schnell aus dem Repertoire verschwunden sind. Das eigentliche Problem lag aber gar nicht bei der geringen Inszenierungsfrequenz polnischer Stücke. Man wartete nicht auf ein beliebiges Drama, so führte Tarn weiter aus, das sich mit der gegenwärtigen Problematik auseinandersetzen würde, sondern auf ein Drama, das auf eine aktuelle Problematik unmittelbar und geradlinig eingehen sollte. Die Dramatiker wählten aber immer öfter entweder verschiedene mythologische Kostüme oder vieldeutige Parabeln. „Wir schreiben nicht", fügt Tarn hinzu, „über das, was uns wirklich angeht, und wenn schon, dann greifen wir zu Kostümen, Anspielungen, Allegorien, weil wir entweder unsere Köpfe nicht zu weit hinausstrecken wollen oder aber weil wir annehmen, daß das Thema sowieso ein Tabu ist."2 Die Verhältnisse zwischen den Schriftstellern und verschiedenen Stufen sowohl der Staatsadministration und -zensur wie auch der Parteiadministration und -zensur waren wirklich kompliziert, die Prinzipien der sog. Kulturpolitik ver2
Trudnosci wspótczesnej dramaturgii polskiej. In: Dialog 1961, H. 4, S. 114-140, hier S. 116.
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änderten sich fast von Tag zu Tag und damit auch bevorzugte Themen und Formen der dramatischen Produktion. Es waren aber nicht immer nur politische Anspielungen, die das Eingreifen der Zensur verursachten. Ebenso häufig sind Verletzungen der Sitten durch Übersetzungs- und Spielverbot bestraft worden, wie z.B. in dem Fall von Behans Stück Die Geisel, das vom Theaterausschuß des Ministeriums für Kultur und Kunst (Zespól do Spraw Teatru w Ministerstwie Kultury i Sztuki) deswegen verboten worden ist, weil seine Handlung (ziemlich marginal) in einem Bordell spielt. Daß auf die politischen Verhältnisse Schriftsteller keinen großen Einfluß haben, wußte Tarn zu gut, um dabei länger zu verweilen. Er beendete also seine Eröffnungsrede mit dem Appell, daß das Hauptthema der Diskussion die Erneuerung der dramatischen Formen und Mittel sein sollte. Das fieberhafte Nachholen der Versäumnisse in der zweiten Hälfte der 50er Jahre stellte sich als höchst gefährlich vor allem für die junge Generation der polnischen Dramatiker heraus, so hieß es bei Edward Csató, der sich als zweiter zu Wort meldete. Als Reaktion auf die obligatorische Poetik des realen Sozialismus, die eigentlich zu einer Überreaktion wurde, suchten junge Dramatiker nach entsprechenden formalen Mustern vor allem bei Beckett und Ionesco, was zu einer Mythologisierung des Anti-Dramas gefuhrt hat. Man hat beispielsweise Warten auf Godot als ein „pures" Anti-Drama gefeiert, in welchem ein wahres Abbild unserer Wirklichkeit nur deshalb entstehen solle, weil nichts Handlungsmäßiges auf der Bühne geschieht und die Personen mit beliebigen Dialogfetzen sich und das Publikum zu unterhalten versuchen. „Viele haben zu verstehen begonnen, daß es [das Theater des Absurden] alle bisher gültigen Konstruktionsprinzipien vernichtet hat, die darüber entschieden hatten, ob ein Drama noch ein Drama und nicht schon ein lyrisches Poem sei"3 - erklärte Csató. Und als ein wichtiges Heilmittel, welches die polnischen Dramatiker unbedingt anwenden sollten, nannte nicht nur er, sondern fast jeder Diskutant der Tagung die dramatischen Verfahrensweisen von Friedrich Dürrenmatt. Dürrenmatts dramatische Werke waren damals (d.h. 1961) in Polen schon ziemlich gut bekannt. Mit der Übersetzung des Dramas Der Besuch der alten Dame im September 1957 beginnend, hat Dialog in knapp drei Jahren seine sechs weiteren Stücke und Hörspiele veröffentlicht, u.a. Romulus der Große, Ein Engel kommt nach Babylon und Herkules und der Stall des Augias. Noch 1961 sind Frank der Fünfte und 1962 Die Physiker erschienen. Diese Stücke wurden direkt nach der Publikation auf allen wichtigsten polnischen Bühnen inszeniert, vor allem im Warschauer Teatr Dramatyczny und im 3
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Krakauer Teatr Stary, aber auch in Lodz und Poznan. Dürrenmatt war so populär, daß innerhalb eines Jahres (von Januar 1963 bis Januar 1964) seine Physiker zwölf Premieren erlebten. Ebenso gut waren auch seine theoretischen Schriften polnischen Theaterfans vertraut. Dialog hat im September 1961 die vollständige Fassung von Dürrenmatts theatertheoretischem Aufsatz Theaterprobleme veröffentlicht mit der bedeutungsvollen Anmerkung, daß die Redaktion den Text deswegen habe übersetzen und drucken lassen, weil er von den polnischen Kritikern so oft zitiert worden sei.4 Dürrenmatt hat sogar im Oktober 1962 in Warschau als Gast von Dialog seine Verfahrensweise selbst kommentiert.5 Daraus ergibt sich nun folgerichtig die Frage: Warum haben Dürrenmatts Dramen für polnische Autoren, Zuschauer und Theaterkritiker derartig viel Anziehungskraft gehabt, daß man Anfang der 60er Jahre sehr häufig vom „Warten auf den polnischen Dürrenmatt" gesprochen und geschrieben hat? Dürrenmatts Attraktivität war eng mit seiner Position zwischen Theatertradition und -avantgarde verbunden. Er war kein Realist, aber sowohl die Schauspieler wie auch das breite Publikum konnten mit seinen Personen und Handlungen mehr anfangen als mit den Werken der Absurden und deren Epigonen. Es ist sehr kennzeichnend, daß fast alle Kritiker in ihren Rezensionen von Der Besuch der alten Dame zu betonen pflegten: „Dürrenmatts Drama läßt sich recht gut zusammenfassen. Es ist ein modernes Drama und trotzdem läßt es sich recht gut zusammenfassen."6 Die jungen Dramatiker konnten also bei ihm das lernen, was ihnen am meisten fehlte: grundlegende ästhetische Gesetzmäßigkeiten, die fur die Gattung Drama von Bedeutung sind. Dies bezeugt am besten folgendes Beispiel: 1956 hat man das dramatische Debüt des Poeten Miron Bialoszewski erlebt. Mit Recht wurde sein originelles, linguistisch-surrealistisches Schaffen als ein Protest gegen die noch geltende Dogmatik des sozialistischen Realismus anerkannt; ein Protest sowohl gegen streng verordnete Verständlichkeit des literarischen und theatralischen Werkes als auch gegen die dem Künstler auferlegten Beschränkungen des Rechts auf theatrales Experimentieren. Nur zwei Jahre danach haben mehrere Kritiker nicht nur das Model von Der Besuch der alten Dame als Wertmaßstab angenommen, sondern auch versucht, Bialoszewski Dürrenmatts Schaffen als Vorbild aufzuzwingen, mit der Begründung: „Es ist heutzutage äußerst schwer, ohne grundlegende Einfachheit und - was daraus folgt - ohne größere Verständlichkeit, ein wirklich interessantes und viel4
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Vgl. Fußnote zu Friedrich Dürrenmatt: Problemy teatru. Übersetzt von Witold Wirpsza. In: Dialog 1961, H. 9, S. 111-126, hier S. 111. Vgl. Friedrich Dürrenmatt: Ζ rozmowy w Dialogu. In: Dialog 1963, H. 4, S. 75-81. Maria Czanerle: Dwie Wizyty starszej pani. In: Teatr 1958, H. 8, S. 4-8, hier S. 4.
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schichtiges Drama zu schaffen."7 Zwar setzte sich Dürrenmatt mit der normativen Dramaturgie auseinander, plante aber sorgfältig und logisch den komplizierten Aufbau seiner Stücke aus ziemlich „einfachen" Bauteilen. Freilich möchte ich damit nicht andeuten, daß das bei Beckett oder Ionesco nicht ebenso der Fall war. Bei Dürrenmatt war es aber viel evidenter, weil sein Drama noch linear, Schritt für Schritt eine Geschichte zu erzählen wußte, die deswegen 'logischer' zu sein schien, weil der Autor, die szenische Handlung schaffend, das Muster des Kriminalromans bevorzugte. Er hat fast traditionelle Konfliktdramen geschrieben, benutzte auch dem Publikum vertraute Mittel und Konventionen, wenngleich bereits auf neue, bewußte Weise als eine Art von 'ready mades'. Auch für ihn, wie fiir die Absurden, wurde die heutige Welt vom puren Zufall regiert; ganz anders verstand er dagegen die Rolle der gegenwärtigen Komödie, deren Zweck darin bestehe, alles Chaotische und Gestaltlose des Lebens im Zaum der artistischen Form zu halten, rational in einem Bühnenmodell der „möglichen Welt" zu fixieren. „Es liegt im Wesen des Theaters, daß auf der Bühne irgend etwas geschieht [...], weil nur Taten das Grundlegende und Nachvollziehbare im Theater sind"8 - so hatte Dürrenmatt formuliert. Und diese Formel mußte eigentlich in Polen als das Wundermittel zur Behandlung der verbreiteten und modischen Abwehrhaltung gegen eine kausale und lebendige Bühnenhandlung gefeiert werden. Fast ein Schulbeispiel dafür, daß Dürrenmatts dramatische Gestaltungsmethode wirklich einen ziemlich bemerkenswerten Einfluß auf das polnische Drama ausübte, findet man in dem Schaffen von Jerzy Broszkiewicz, der damals - neben Slawomir Mrozek - zu den bedeutendsten jungen Dramatikern zählte. Obwohl Mrozek von der Journalistik zur kurzen Prosa und zu Erzählungen, und erst danach zum Drama wechselte, blieb seine Weltanschauung und Verfahrensweise sehr homogen. Broszkiewicz dagegen war immer auf der Suche nach einer ihm entsprechenden dramatischen Gestaltungsmethode, so daß sein dramatisches Oeuvre zum wahren Spiegel der Veränderungen und Strömungen, der Inspirationen und Einflüsse um 1960 wurde.9 Sein zweites Drama, Jonasz i Blazen (Jonas und Narr, 1958) erweckt den Eindruck, als sei es ein Kind von zwei Müttern: Einerseits sieht man deutliche Spuren der eigenartigen Dramaturgie des Ende der 50er Jahre 7
8 9
Rozmowy o dramacie - Teatr Bialoszewskiego. In: Dialog 1959, H. 2, S. 108-115, hier S. 110. Friedrich Düirenmatt: Ζ rozmowy w Dialogu (Anm. 5), S. 79. Der Verfasser hat keinesfalls den Übungscharakter seiner ersten Dramen bestritten. In seinem Nachwort zum Band Szesc sztuk scenicznych (Sechs Theaterstücke, Krakow 1963) hieß es, daß diese Stücke ein Ergebnis der Periode sind, die er „für sein dramaturgisches Schaffen als eine Art Anleitung" hielt.
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in voller Blüte stehenden Studententheaters mit seinen black-outs und aktuellen satirischen Witzen, anderseits kann man aber keinesfalls die fur Ionesco typischen Elemente der Farce verkennen, vor allem in einer Szene, in der Professor Jonas mit drei Kleinen über eine „Systematik der Vorstellungen" in der Art und Weise des Professors aus Die Unterrichtsstunde diskutiert. In seinem nächsten Drama, Glupiec i inni (Ein Idiot und andere, 1959) springt die Anwesenheit Ionescos noch stärker ins Auge. Broszkiewicz konzentriert sich auf das Vorhandensein und die Zerstörung von Sprachklischees, die erste Szene erinnert an die Situation der Hetze und der Versuchung in Ionescos Stück Jacques ou la soumission, die letzte mit dem Geplapper der vielen Stimmen: „Niemand hat gesehen! Niemand hat gehört! Niemand hat gesehen! Niemand hat gehört! cha, cha, cha..." sieht dagegen fast wie eine Kopie des Finales von Die kahle Sängerin aus. Schon hier kann man wohl die ersten stilistischen Merkmale der Moralität finden, die aber noch mit vollen Händen aus dem Roman La chute von Albert Camus geschöpft waren. Erst in bezug auf Dziejowa rola Pigwy (Pigwas historische Rolle, 1960) kann man ohne weiteres Dürrenmatts Einfluß feststellen. Die Form der Moralität wurde parodiert und ironisiert, indem ein positiver Held dreimal eine bittere Niederlage hinnehmen muß, wobei die nötige Distanz des Publikums mit Hilfe der Person eines das Bühnengeschehen kommentierenden Souffleurs garantiert wurde. Gleichzeitig läßt sich aber, so scheint mir, nicht verkennen, daß - obwohl die Figur des positiven Helden bei Broszkiewicz eindeutig ironisiert wurde - sein Drama rein didaktischen Zwecken ά rebours dienen sollte, was eigentlich mit Dürrenmatts Praxis und Selbstkommentaren nicht viel zu tun hat. Um das zu erklären, muß hier kurz auf die Rolle, die Brechts Dramaturgie im polnischen Theater gespielt hat, eingegangen werden. Brechts Didaktik und politischer Optimismus wurden von polnischen Theaterkritikern und -autoren sowohl vor 1956 wie auch danach stiefmütterlich behandelt, was Maria Czanerle besonders pointiert formuliert hat: „Es ist schon eine tragische Ironie daran, daß dieselben Dramen, die vor einigen Jahren nur deswegen nicht gespielt werden durften, weil sie die sozialen Verhältnisse nicht 'richtig' genug schilderten, heute ihrer allzugroßen Richtigkeit wegen völlig unspielbar zu sein scheinen."10 Man kann nicht bestreiten, daß polnische Bühnen in den Jahren 1957-1963 eine wahre Brecht-Mode erlebten; der Autor wurde aber mehr in bezug auf die theatralische Form, inszenatorische Mittel seines Theaters (neben Jean Vilar) gefeiert, denn als Dramaturg, der ein erwartetes Model des anti-realistischen Dramas schaffen konnte. In der 10
Maria Czanerle: Bertolta Brechta tragedii cigg dalszy. In: Teatr 1958, H. 19, S. 5-8, hier S. 8.
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Zeit eines fieberhaften Nachholens der 'Tauwetter'-Periode hat man 1957 die seit 1953 existierende Ausgabe seiner drei Dramen (Mutter Courage, Herr Puntila und Der kaukasische Kreidekreis) nur um eine Übersetzung von Das Leben des Galilei bereichert. Und allein dieses Drama hat in den 60er Jahren ein einziges Stück, dem gewisse Zusammenhänge mit Brechts Schaffen nachgewiesen wurden,11 beeinflußt. Der schon erwähnte Jerzy Broszkiewicz ließ sich erst 1963, d.h. nach seinen Übungen in Ionescos und Dürrenmatts Stilen, in seinem Drama über Kopernikus, Koniec Ksiçgi VI (Ende des 6. Buches), inspirieren. Es hing wohl mehr mit dem Inhalt und dem Titelhelden von Das Leben des Galilei als mit Vorteilen seiner epischen Form zusammen. Nichtsdestoweniger bezeugt Broszkiewiczs Drama am besten, daß man in Polen kein großes Interesse für Brechtsche Dramen und deren eigenartige dialektische Verfahren pflegte und letztere eigentlich nur mittels der Stücke von Dürrenmatt und Frisch kennengelernt hat.12 Und das nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten. Obwohl Dürrenmattsche Polemiken gegen Brechts ideologische Eindeutigkeit (Ein Engel kommt nach Babylon und Frank der Fünfte) in Polen sehr kühl aufgenommen wurden, waren Kritiker von seiner „moralischen Gleichgültigkeit" doch tief erschüttert. Dies bezeugt die lebhafte Diskussion anläßlich der polnischen Uraufführung von Der Besuch der
alten Dame. Dürrenmatt wollte zuerst keine Zustimmung für die polnische Premiere seines Stückes geben, da er ideologische Korrekturen der „kommunistischen Propaganda" befürchtete. Aus der Diskussion, die in der D/a/og-Redaktion im März 1958 stattgefunden hat, geht aber klar hervor, daß die Premiere alles andere als eindeutig war und gerade ihr ideologischer IndifFerentismus die Hauptvorwürfe seitens der Theaterkritik hervorgerufen hat. Geht man über die Gewohnheiten des sog. gewöhnlichen Publikums hinaus, geprägt von obligatorischen Eindeutigkeiten aus der Zeit des realen Sozialimus, so kann man feststellen, daß die Mehrzahl der Zuschauer durch etwas anderes aus der Fassung gebracht wurde als Dürrenmatts IndifFerentismus. Damals hat sich z.B. Krzysztof T. Toeplitz folgendermaßen geäußert:
11 12
Vgl. Józef Kelera: Etap syntezy. In: Dialog 1965, H. 10, S. 75-86, hier S. 76-77. Wie wenig man damals in Polen über Brecht wußte und wissen wollte, zeigt z.B. die in Dialog veröffentlichte Besprechung von John Willets The Theatre of Bertolt Brecht, in deren letzten Sätzen ziemlich deutlich gesagt wurde: „Polnische Originalität muß doch nicht unbedingt damit bezeugt werden, daß man taub bleiben soll wegen all dessen, was sich in der Welt abspielt. Brecht macht Kariere. Das muß schon etwas bedeuten." Vgl. Jerzy Koenig: O Brechcie na trzezwo. In: Dialog 1960, H. 4, S. 119-124, hier S. 124.
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Der Autor weicht allen potentiellen Erklärungen aus [...]. Die ganze Konstruktion von Der Besuch der alten Dame dagegen lockt jeden immer wieder mit einer Erklärung, macht immer wieder irgendwelche Anspielungen auf irgendwas, stapelt rätselhafte Metaphern, die jeder Zuschauer - und das mit Recht - lösen will.13
Und sogar Jan Kott suchte nach anderen Ausgängen für Dürrenmatts Drama, im Bestreben, „moralische Grundlagen der Ästhetik zu bewahren" (Adam Wazyk). Alles deutet also darauf hin, daß, obwohl die polnischen Theaterkritiker (vom Publikum ganz zu schweigen) die Bühnendidaktik satt hatten, auf das Modellhafte Dürrenmatts nicht völlig vorbereitet waren, welches nicht mehr als Medium der Aufklärung, sondern als Spielsituation wirkt. Sie erhoben laute Klagen über seinen Nihilismus, weil sie nicht bemerkten, daß Dürrenmatt zwar auf den traditionellen moralischen Appell, nicht aber auf einen Erkenntnisvorgang verzichtet, weil er eine neue Produktionsästhetik aufbietet. Bertolt Brecht erwartete von seinen Zuschauern, daß sie die auf der Bühne gewonnene Erkenntnis in die Wirklichkeit zurück projizierten. Dürrenmatts Erwartungen sind noch anspruchsvoller: Für ihn ist das Theater nur insofern eine moralische Anstalt, als es vom Zuschauer zu einer solchen gemacht wird. Brecht schrieb schon Ende der 20er Jahre: „Der moderne Zuschauer [...] wünscht nicht, bevormundet und vergewaltigt zu werden, sondern er will einfach menschliches Material vorgeworfen bekommen, um es selber zu ordnen."14 Dürrenmatt hat nicht mehr „einfach menschliches Material" auf die Bühne geworfen, sondern er hat die Theaterillusion einbezogen, mit den Gewohnheiten und Erwartungen seines Publikums boshaft gespielt. Ich würde noch weiter gehen: der polnische Zuschauer war nicht nur unvorbereitet auf Erkenntnisspiele mit seinen Erwartungen und Gewohnheiten, wie sie Dürrenmatt für unbequem aber notwendig hielt und die einige Jahre später zu Handkes Publikumsbeschimpfimg fuhren sollten. Die sozialpolitische Situation in Polen hat dem Drama ein damals schon anachronistisches Modell der Komödie und der Produktionsästhetik aufgezwungen. Ein Theaterautor durfte in keinem Fall sein Publikum - auf welche Art und Weise auch immer - angreifen, er sollte mit ihm einen Pakt gegen die offizielle Meinung und Weltanschauung, die Regierung usw. schließen. Vielleicht mit einer Ausnahme: nicht ohne gewisse Gründe war nämlich in Polen Dürrenmatts Romulus der Große ein beliebtes und unumstrittenes Stück. Historiosophische Ironie und 'mythischer' Revisionismus waren nicht nur erlaubt, sondern wurden sogar mit einer gewissen Vorliebe erwartet, was die damali13
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Rozmowy o dramacie - Wizyta starszej pani. In: Dialog 1958, H. 4, S. 127-133, hier S. 129. Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Bd. 1. Berlin/Weimar 1964, S. 275.
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ge Popularität von Jan Kotts Shakespeare-Lektüre durch das Prisma des „Großen Mechanismus der Geschichte" am besten bezeugt. Aber auch ein solches Verfahren sollte sich in bescheidenem Rahmen halten, was Mrozek zweimal am eigenen Leibe zu spüren bekommen hat, als er in Émierc porucznika (Tod des Leutnants, 1963) und später in Alfa (1984) die für sein Publikum noch lebendigen Mythen zu bekämpfen versuchte.15 Abgesehen davon war wohl die Dekonstruktion der nationalen Geschichtsmythen eher eine polnische Spezialität. Unter diesem Gesichtspunkt kann man bestimmte Parallelen - von Einflüssen kann hier eher keine Rede sein - zwischen Dürrenmatts Schaffen und den Dramen von Stanislaw Grochowiak, der eigentlich als Dichter berühmter war, betrachten. Bei Grochowiak findet man wohl dieselbe Haßliebe gegen die traditionellen Grundvorschriften der dramatischen Gattung: Mit jedem Drama bildete er scheinbar neue dramatische Genres („Sache für die Bühne", „Bilder aus der Geschichte" lauten Untertitel seiner Stücke), und gleichzeitig benutzte er bewußt, sogar ostentativ, alle traditionellen Konventionen. Wie Dürrenmatt wählte Grochowiak sehr sorgfaltig einen anderen Bühnenstil fur jedes Drama, häufle Andeutungen, Zitate, Anspielungen in einer Art logischen Spiels an (sein erstes Drama trägt den metaphorischen Titel Schachspiel), in dem sich die Handlung wie von selbst vollzieht, obwohl hier die Perspektivenwechsel vielleicht nicht so auffällig sind, wie bei Dürrenmatt. Wie seine ganze Generation war auch Grochowiak von der Geschichte besessen. Sein Drama Szachy (Schachspiel, 1961) zeigte metaphorisch die letzten zwei Jahrhunderte Polens als einen irren Reigen der Masken, wobei Król IV (König der Vierte, 1963) eine ganze Kollektion toter Mythen präsentierte. Und obwohl das letzte Drama zu den meistgespielten gehörte, hat man dagegen fast dieselben Einwände erhoben wie gegen Dürrenmatts dialektische Verfahren. Als Beispiel kann sehr gut die von Jan Bloñski an Grochowiak und seinen Zeitgenossen geübte Kritik dienen: „Es sieht so aus, als gäben sich junge Autoren damit zufrieden, die Hände zu ringen, und statt nach den Ursachen zu suchen, willigen sie in die Sklaverei einer unlösbaren Dialektik ein, aus welcher sie keinen Ausweg sehen [...], weil wahrscheinlich keiner da ist."16 Der unausgesprochene antinihilistische Unterton einer solchen Kritik läßt sich nicht überhören. Der Fall Grochowiaks deutet noch einen Aspekt von Dürrenmatts Schaffen an, der seine Rezeption in Polen überschattete, nämlich die geschichtsphilosophische Begründung seiner Komödienform. Nach Brechtschem Vorbild betonte er die historische Verwurzelung und damit die Relativierung jeder 15 16
Vgl. Malgorzata Sugiera: Dramaturgia Stawomira Mroika. Krakow 1996, S. 161-187. Jan Bloñski: Miçdzy szyderstwem a okrucieñstwem. In: Dialog 1963, H. 4, S. 70-74, hier S. 74.
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Dramaturgie und besonders der Komödie, die nicht mehr eine anthropologische Konstante, sondern eine geschichtlich spezifische Form sein sollte. Seine Weltanschauung war aber nicht frei von Paradoxie. Die Veränderbarkeit der Geschichte betonend, stellte Dürrenmatt ihren Verlauf trotzdem ganz fatalistisch dar. „Unsere Welt hat ebenso zur Groteske gefuhrt wie zur Atombombe"17 - schrieb er in seinen Theaterproblemen. Die Menschheit hat also in dieser geschichtlich notwendig gewordenen Situation keine Wahl (das nennt Dürrenmatt ihr Pech), nur die Menschen können für sich selbst zwischen dem subjektiv Guten und Bösen wählen. In Der Besuch der alten Dame gibt es zwar keine Metaphysik mehr, aber für die einzelnen Bürger der Stadt Güllen spielt die alte Klara dieselbe Rolle: die Rolle eines Fatums. Aus meiner Lektüre und Analyse der dramatischen Werke der drei Hauptautoren Mitteleuropas, die man nach Martin Esslin normalerweise zu den sog. Östlichen Absurden zählt, d.h. Istvan Örkeny, Václav Havel und Slawomir Mrozek, geht klar hervor, daß deren Auffassung von Geschichte, das Geschichtsverständnis sehr eigenartig war, weil sie ihr „geschichtliches Pech" ganz anders verstanden.18 Alle drei haben die politische Situation ihrer Länder als einen geschichtlichen Fehler verstanden, der früher oder später korrigiert werden müsse; als Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand, einen Ausnahmezustand. Sie haben sich also der dramatischen und szenischen Groteske als Mittel der gewünschten Korrektur bedient, wobei sie mehr im Sinne Brechts als Dürrenmatts ein Theorie-Praxis-Verhältnis zu erzeugen versuchten. Deswegen hätte bei ihnen - wie paradox dies auch scheinen mag - die geschichtsphilosophische Einstellung von Bertolt Brecht, dem die Welt nicht absurd, sondern nur schlecht organisiert schien, auf deutliche Zustimmung treffen müssen. Sie hatten ja vor, die widersinnige Wirklichkeit nicht nur zu ertragen, sondern eher zu verändern. Dürrenmatt glaubte daran, daß die Ordnung der widersinnigen, absurden Welt nur im Herzen der Einzelnen wiederherzustellen sei, die Dramatiker Mitteleuropas dagegen wollten für die ganze Welt die verlorene Ordnung wiedergewinnen. Es bleibt für mich ziemlich unklar, warum die andere Hälfte des Dioskurenpaars der Schweizer Dramatik, Max Frisch, in Polen eigentlich kaum rezipiert wurde. Nur sein Erstlingsdrama, Santa Cruz, wurde 1957 in Dialog veröffentlicht. Erwin Axer hat 1959 Biedermann und die Brandstifter in Warschau inszeniert, es wurden auch Don Juan 1962 in Poznan und in demselben Jahr Andorra in Warschau gezeigt. In allen Fällen bleiben polnische Versionen der Dramen bis heute ungedruckt. Aufgrund mancher Rezensionen läßt sich vermuten, daß das Publikum Frischs Biedermann, trotz sehr 17 18
Friedrich Dürrenmatt: Theater-Schriften und Reden I. Zürich 1966, S. 122. Vgl. Malgorzata Sugiera: Dramaturgia Siawomira Mroika (Anm. 15), S. 41-72.
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guter Regie und nennenswerter Schauspielleistungen, entweder als kompromißlose Auseinandersetzung mit dem Bürgertum oder als ein ziemlich gut geschriebenes aber nutzloses Theaterspielzeug betrachtet hat. Nicht ohne Bedeutung waren dabei auch das Finalbild des Haupthelden und die Motivation szenischer Handlungen. Bei Dürrenmatt scheint die letzte mehr gesellschaftlicher, bei Frisch aber mehr psychologischer Natur zu sein, weil das Publikum dazu neigte, in den Brandstiftern vor allem dramatische Verkörperungen des schlechten Gewissens von Biedermann zu sehen. Während in Der Besuch der alten Dame der unbedeutende III im Moment seines Todes zum Helden im klassischen Sinne wird, bleibt Biedermann bis zum Ende dumm und uninteressant, hieß es in einer Theaterkritik.19 Der Kritiker hat sich auch beschwert, daß die Problematik des Stückes noch durch den später von Frisch verfaßten Epilog in Form eines politischen Pamphlets dem polnischen Publikum gegenüber befremdend wirkte. Vielleicht auch deswegen ließ der Regisseur später die Aufführung ohne Epilog für das Fernsehen verfilmen. Die negative Rezeption der übrigen Dramen von Frisch wurde von etwas anderem beeinflußt.20 Dem Zuschauer wurde nämlich nicht klar, warum denn Frisch solche Stücke überhaupt geschrieben hat. Andorra wirkte, allem Anschein nach, zu überspitzt, unnötig vielschichtig und kompliziert. In der Geschichte eines verfolgten Juden wollte man in Polen nur ein Gegenwartsstück sehen, keine Parabel oder Metapher. Deswegen eben wurde das Schicksal von Andri, der als Nicht-Jude von den anderen zum Juden gemacht wird, als eine Art bloßer Verzierung betrachtet, die nur zur Folge hatte, daß viele Zuschauer nicht wußten, mit wem sie Mitleid fühlen sollten.21 Aus allen Theaterkritiken geht sehr klar hervor, daß im Vergleich mit der gefeierten Logik und Einfachheit des Dürrenmattschen Schaffens die drei in Polen aufgeführten Dramen von Frisch unnötig unverständlich und verwickelt scheinen mußten. Daß man in Polen Frischs Oeuvre überhaupt kannte, darf hier nicht bezweifelt werden, aber er war dem breiten Leserpublikum vor allem als Epiker bekannt. Das dürfte, zusammen mit den oben genannten Gründen, plausibel erklären, warum man kein Interesse an seinen weiteren Dramen hatte. Für Frischs Romane ist der Erkundungsversuch des Ich als Hauptthema zu nennen. Geradezu musterhafte Gestalt hat dieses Thema in dem Roman Mein Name sei Gantenbein angenommen, gemäß dem für Frisch typischen 19
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Vgl. Stanislaw Hebanowski: Max Frisch w teatrze wspólczesnym. In: Teatr 1959, H. 13, S. 9-10. Maria Czanerle: Prowokator i ofiara. O dwóch sztukach Maxa Frischa. In: Teatr 1962, H. 13, S. 4—8, hier S. 6. Ebd.
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Spruch: „Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er nachher für sein Leben hält." Der Erinnerungsprozeß und die Sehnsucht nach dem ungelebten Leben ist auch das strukturelle Prinzip, das dem Drama Santa Cruz zugrunde liegt. Daß man Anfang der 60er Jahre dazu neigte, das dramatische Schaffen Frischs im Kontext seiner Prosawerke zu interpretieren, bezeugt am besten Marta Piwmskas Aufsatz, in welchem sogar Andorra und Biedermann durch das Prisma der Romane Homo Faber und Stiller gelesen wurden.22 Es läßt sich also vermuten, daß die aufgeführten Dramen, zusammen mit dieser Lesart und einem formalen Virtuosentum, dazu beigetragen haben, daß Frischs Dramatik kein unmittelbares Muster für polnische Autoren sein konnte. Davon abgesehen wird man aber ziemlich auffällige, sowohl formale wie auch weltanschauliche Parallelen zwischen den Stücken Frischs und den Bühnenwerken solcher polnischer Autoren wie Jerzy Broszkiewicz und vor allem Slawomir Mrozek feststellen müssen. „Wenn ich Diktator wäre, würde ich nur Ionesco spielen lassen", so pflegte Frisch sich zu äußern,23 weil er selbst keinen Zweifel daran hatte, daß, obwohl das Theater die Welt nicht zu ändern vermöge, es unser Verhältnis zu ihr ändern könne. In diesem Punkt würde ich eine gewisse Übereinstimmung mit den weltanschaulichen und geschichtsphilosophischen Einstellungen der meisten polnischen Dramatiker sehen. Frisch hat vom Marxismus und vor allem von Brecht die gesellschaftskritische Analyse übernommen, hat sich aber - wie auch Dürrenmatt - von ihren praktisch-politischen Konsequenzen distanziert. Doch nicht so weit wie sein Landsmann. Frisch hätte eine solche Moralität wie Frank der Fünfte, in der die dargestellten moralischen Prinzipien boshaft ausgelacht werden, kaum schreiben können. Seine Formel „Lehrstück ohne Lehre" erfüllte sich zwar in einer Problematisierung der dargestellten Verhaltensmuster, es war aber schon in der Formulierung der Themen die These enthalten, daß es eine alternative Verhaltensweise geben muß. Das erinnert natürlich an das bereits erwähnte Drama Dziejowa rola Pigwy von Jerzy Broszkiewicz, der auch nur deswegen eine Anti-Moralität geschrieben hat, um den positiven Helden per negationem dem Publikum nahezubringen. In Broszkiewiczs nächstem Drama, Bar wszystkich swiçtych (Bar zu den Allerheiligen, 1960), sind noch wesentlichere Übereinstimmungen nicht zu übersehen. Józef Kelera hat zwar in seinem 1962 veröffentlichten Aufsatz bemerkt, daß Broszkiewicz in diesem Drama aus einer anderen Quelle der dramatischen Konventionen als in seinen früheren Stücken ge22 23
Vgl. Marta Piwiñska: Twórczoác Maxa Frischa. In: Dialog 1962, H. 7, S. 98-108. Zit. nach Manfred Durzak: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie. Stuttgart 1972, S. 151.
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schöpft hat, wußte aber nur Saroyan und Genet als Muster zu nennen.24 Die von ihm erwähnte Szene, in der das Mädchen Maria Magdalenas Kleider anprobiert und sich in deren Rolle versetzt, würde ich lieber im Kontext von Frischs Rollen und Rollenspielern als von Genets Zofen lesen, weil es hier mehr um einen Zusammenprall von subjektiven Erfahrungen mit objektiven gesellschaftlichen Verhaltensmustern als um ein für den letzteren typisches „soziales Psychodrama" geht. Weitere für Frischs Dramen typische strukturelle und thematische Merkmale lassen sich in Broszkiewiczs Skandal w Hellbergu (Skandal in Hellberg, 1961) finden. Und schon wieder wußte Kelera nur Dürrenmatts Das Versprechen und Der Besuch der alten Dame als Parallelen hervorzuheben. Skandal w Hellbergu erzählt jedoch von einem kollektiven Verbrechen, das von anständigen deutschen Bürgern begangen und über das in der Form des Gerichtsdramas berichtet wird. Dasselbe Geschehensmuster wie in Andorra ist unverkennbar. In einer kleinen Stadt wird seit einiger Zeit geraubt und vergewaltigt, was dazu gefuhrt hat, daß ein „Fremder" von der unruhigen Menge verklagt und gelyncht wird. Vor dem Gericht aber wird der Mord als ein Skandal erklärt und vertuscht - wie in Andorra, in dem alle beeiden, daß ihre Handlungen deshalb gerechtfertigt waren, weil sie nicht gewußt hätten, daß Andri einer von ihnen, nicht aber „Jud" gewesen sei. Es ist denkbar schwierig zu sagen, ob Broszkiewicz Andorra gelesen haben könnte oder nicht (das Drama wurde erst 1962 in Warschau aufgeführt). Wahrscheinlich nicht, denn wenn er es getan hätte, wäre sein Drama vielleicht formal besser konzipiert worden. Frisch hat die Zeugenaussagen sehr geschickt zwischen die Szenen, die Schritt für Schritt Vergangenheitsvorgänge zeigen, eingestreut und damit Spannung geschaffen. Broszkiewicz erzählt dagegen seine Geschichte chronologisch und sehr linear, was natürlich zur Folge haben mußte, daß in dem dritten Akt, in dem die Handlung im Gerichtssaal spielt, zu viel geredet und kommentiert wird. Die bei Frisch ständig anwesende Kluft zwischen Wesen und Erscheinung, Worten und Taten, Sprache als reproduzierbarem Material und Sprache als Mittel zum Zweck findet man freilich auch in den früheren Dramen von Slawomir Mrozek (bis 1964), zusammen mit dem Problem der Vorurteile und Bildnisse, die man dem anderen willkürlich aufzuzwingen versucht. Der Bürger, der aus Angst um seine eigene Haut, aus schlechtem Gewissen und als Gefangener der eigenen Ideologie wie Biedermann einer mehr oder weniger sanften Drohung nachgibt, sich zum Komplizen macht, nimmt bei Mrozek die Gestalt eines Kleinen, eines Augenarztes, eines Piotr Ohey an, der wie 24
Vgl. Józef Kelera: Siedem przygód Jerzego Broszkiewicza. In: Dialog 1962, H. 1, S. 82-99.
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auch alle anderen daran glaubt, daß man mit dem Bösen verhandeln oder gar paktieren darf. Sie alle geben nicht zuletzt deshalb nach, weil ihre Gegner sehr gut wissen, mit welchen Argumenten und in welcher Reihenfolge sie agieren müssen. Es geht sowohl bei Frisch als auch bei Mrozek keinesfalls um Gerechtigkeit, nicht einmal um eine solch perverse Gerechtigkeit wie in Der Besuch der alten Dame, auch nicht um ideologische oder politische Standpunkte, die eigentlich als besser oder schlechter gefälschte Münzen in diesem Geschäft gelten. Sie agieren vielmehr „aus purer Lust", wie in Biedermann gesagt wird, weil sie stärker sind und noch mehr Macht wollen. In Auf hoher See ist klar zu sehen, wie Mrozek sein Publikum vom Bühnengeschehen distanziert, damit er den Großen und den Mittleren um die Zustimmung des Kleinen, sein eigenes Fleisch als Hauptgang für die zwei zu opfern, mit politischen Mitteln kämpfen läßt. Weil es diesen nicht im geringsten um Hungerbefriedigung geht, sondern darum, daß der Kleine das Recht auf ihrer Seite sieht, wird am Ende der Handlung eine Kalbfleischbüchse gefunden, die freilich den Lauf der Dinge nicht mehr zu verändern vermag. Bezwecken doch die beiden, wie auch z.B. der nach einem gewissen Karol suchende Opa und dessen Enkel in Karol, vor allem, einen neuen Menschen als Komplizen der Macht zu schaffen. Man wird hier allerdings vorsichtig sein müssen, weil trotz aller Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen die sozioideologische Konstellation, die sich besonders im dramatischen Diskurs bemerkbar macht, bei Frisch und bei Mrozek völlig anders ist.25 Der erste versuchte in seinen Dramen die Kluft zwischen dem in einer Gesellschaft akzeptierten Moral-, Sitten- und/oder Ehrenkodex und den subjektiven Erfahrungen bzw. Verhaltensweisen zu zeigen. In Biedermann und die Brandstifter oder Andorra, zwei seiner Stücke, die wegen ihrer politischen Inhalte dem frühen Schaffen Mrozeks am nächsten stehen, bewahrt das private Leben der anständigen Bürger nur gelegentlich, in Momenten der sozialen Kontrolle, äußere Überstimmung mit dem Kodex. Es folgt daraus, daß die einstmals scharfen, festgesetzten Grenzen zwischen dem Guten und dem Bösen jetzt immer verschwommener und deswegen immer öfter und leichter überschritten werden. Die - sowohl im Leben, wie auch nach dem Tode - in Biedermanns Verhalten so auffällige Schizophrenie, der Zwiespalt zwischen den öffentlichen Tugenden und den privaten, geheimen Sünden stellt freilich alle Werte in Frage, welche die bürgerliche Gesellschaft begründen und bestätigen, womit gleichzeitig und eindeutig bezeugt wird, daß ihr die grundlegende 'civitas', d.h. sich aus freiem Willen den sozialen Regelungen unterzuordnen, völlig verloren gegangen ist. 25
Mehr zu diesem Thema bei Malgorzata Sugiera: Dramaturgia Siawomira Mroika (Anm. 15), S. 104-132.
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Maigorzata Sugiera
Mrozek zielt dagegen auf etwas anderes, weil die Ursache der Schwäche mancher seiner Helden und die Stärke anderer woanders liegt. Nur eines seiner früheren Dramen setzt sich mit dem Problem auseinander - Zabawa. Es zeigt eindeutig, daß im Polen der 60er Jahre die lebendige Tradition fehlte, weil die offizielle eine aufgezwungene und unechte Mischung war. Seine Figuren wußten also in einer solchen Tradition keinesfalls ihren Platz zu finden, konnten aber auch nicht ohne sie auskommen.26 Was den Figuren Frischs zur Last wurde, mangelte den Figuren Mrozeks. Die Alienation der ethischen Werte führte hier wie dort zu demselben Resultat: sie werden utilitaristisch benutzt, mißbraucht sowohl von den Stärkeren wie auch von den Schwächeren. Obwohl aber die Mechanismen ähnliche sind, nehmen sie auf dem sprachlichen Niveau (Präsuppositionen, Slogans, Dogmen usw.) eine andere Gestalt an. Und das könnte ein schwer zu überwindendes Hindernis für die Rezeption der Bühnenwerke Frischs gewesen sein, falls sie damals rezipiert wurden. Um die Mitte der 60er Jahre ging aber in Polen die Phase der fieberhaften Rezeption von ausländischen Dramen zu Ende, und man begann damit, sich mehr mit der eigenen Tradition auseinanderzusetzen.27
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Vgl. Maigorztata Sugiera: Das Bild des verführten Volkes in den Dramen von Slawomir Mrozek. In: ' Weine, weine, du armes Volk '. Das verführte und betrogene Volk auf der Bühne. Bd. 2. Anif/Salzburg 1995, S. 741-749. Schon 1965 hat Józef Kelera bemerkt, daß 1964 die große Welle der „neuen" polnischen Dramaturgie, die 1957 begonnen hatte, ihren Höhepunkt erreichte und eben deswegen sollte das Jahr 1964 als eine Zäsur in der Dramatik der Nachkriegsjahre erkannt werden. Vgl. Józef Kelera: Etap syntezy (Anm. 11), S. 75.
Dobrochna Ratajczakowa
Zwei Dramen von Tadeusz Rózewicz, Die Kartothek und In die Grube, als Beispiel von Erfolg und Mißerfolg
Die Bühnenschicksale der Stücke Kartothek und In die Grube sind gänzlich verschieden. Das erstere betrachtete man vor allem als Vollzug eines in Polen nach 1956 wichtigen Mythos von der Avantgarde, der Neuerung und der modernen Dramendichtung; In die Grube erfuhr eine Niederlage unter dem Druck eines vollkommen im Nationalbewußtsein verwurzelten Mythos vom Unabhängigkeitskampf, vom polnischen Heldenmut und vom 'polnischen Krieg', eines Mythos, der im 20. Jahrhundert in der Legende von der AK (Armia Krajowa = Heimatarmee) zum Ausdruck gebracht wurde. Die Uraufführung Act Kartothek fand am 25.03.1960 im Probensaal (Sala Prób) des Teatr Dramatyczny in Warschau statt. Das Stück, entstanden in den Jahren 1958-1959, wurde einen Monat vor der Uraufführung in der Zeitschrift Dialog veröffentlicht. „Die Kartothek kam, politisch und kulturell gesehen, zu einem falschen Zeitpunkt auf die Bühne."1 Die nach dem Oktober 1956 vollzogene Aufarbeitung der Geschichte führte damals zu einer ideologischen und politisch-pragmatischen Interpretation, zu einer Manipulation von ausgewählten Elementen der Volkstradition. Wieder findet man in den Rezensionen bekannte Verfahren der äsopischen Rede: „Das Stück von Rózewicz nehmen wir als einen mythologisierten, jedoch außerordentlich authentischen Ausdruck aktueller Stimmungen eines bestimmten Teils der Generation der zwanziger Jahre auf', schreibt Andrzej Wirth, und das bedeutet: der AK-Generation.2 Davor hatte er hingegen festgestellt: „Wir sind Zeugen der Umwandlung des 'polnischen Partisanen' in einen resignierten Outsider unter dem Einfluß eines für ihn unverständlichen Wandels: dem des 1
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M. Napiontkowa: Prapremiera Kartoteki. Co widzieli recenzenci? In: E. GuderianCzapliúska, E. Kalemba-Kasprzak (Hrsg.): Zobaczyc poetç. Materialy konferencji „Twórczoác Tadeusza Rózewicza". UAMPoznañ 4-6.11.1991. Poznan 1993, S. 57. J. Kelera betrachtet beide Stücke als die persönlichsten und am meisten autobiographischen unter den Dramen Rózewicz' (Od Kartoteki do Pulapki. In: T. Rózewicz: Teatr. Bd. 1. Kraków 1988, S. 47). Vom 26.06.1943 bis 3.11.1944 kämpfte Rózewicz in einer AK-Truppe, die in der Flußgabelung von Warthe und Pilica operierte (T. Drewnowski: Walka o oddech. O pisarstwie Tadeusza Ròiewicza. Warszawa 1990, S. 320).
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Vaterlandes zum Staat, des Volkes zur Volksmasse, des Patriotismus zur Firmentreue."3 „Der Horizont wird immer kleiner", sagt 'Held', „am besten sehe ich, wenn ich die Augen schließe. M t geschlossenen Augen sehe ich die Liebe, den Glauben, die Wahrheit."4 Die Spielzeit 1959/60 bildet den Ansatz zum 'Aufräumen' in der Kunst, „[...] man hat beschlossen, die Avantgarde höchstens auf experimentellen Bühnen zu spielen, auf den Hauptbühnen dagegen sollte man zu den verschiedenen Formeln des Realismus zurückkehren." 5 Die Uraufführung von Kartothek, eines Stückes ohne Handlung, das eine Anhäufung von Biographiefetzen eines Vertreters der durch den Krieg dezimierten Generation der 20er Jahre darstellt, hatte ebenso viele Anhänger wie Gegner. Tadeusz Drewnowski ordnete es einer auf einige Tauwetterphasen verteilten antinaturalistischen Umwälzung zu, einer eigenartigen polnischen „bataille d 'Hernani"6. Rózewicz' Kritiker schrieben von einem existentiellen Aufruhr, einem romantischen Ursprung des 'Helden', sie beriefen sich auf die neuerlichen Aufführungen der Vertreter des absurden Theaters. Nach Meinung von Maria Napiontkowa, war es jedoch ein „nicht vollständig realisiertes" Debüt, das Werk wurde nicht ausreichend erschlossen, vielleicht habe man es nicht ergründen wollen. Diese hauptsächlich politisch motivierte 'Nichtergründung' bedauerte der Autor in einem langen Gespräch mit Kazimierz Braun. Keiner bemerkte die Sache des Bergarbeiters, oder den getöteten Partisanen, das Klatschen der applaudierenden Hände, das immer gewaltiger im Bewußtsein des 'Helden' dröhnt (was nützt es, wenn „Picasso auch einmal geklatscht hat", und andere es vergessen haben), keiner bemerkte die Galgen hinter dem Fenster des Budapester Restaurants in einer der Textfassungen, die Parodie der politischen Prozesse aus der Berija-Zeit:7 „Ja, ich war es, der die Wurst aß, am Karfreitag, den fünfzehnten April 1926. Ich schäme mich meiner Tat", bekennt 'Held', „lange vorher hatte ich's ausgeheckt, zusammen mit Jasiu und Pawelek. [...] Ebenso unser liebes Großmütterchen, beseitigt dank meiner Intrige." Doch, wie Zbigniew Majchrowski feststellte:8 „Die Bühnenmethode, die die Illusion zerstört und im Theater neue Zeichen konstruiert, hebt die realen Entsprechungen der vorgestellten inkohärenten Wirklichkeit nicht auf." Dies war jedoch nicht das Wichtigste. 3
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A. Wirth: Widnokrqg zamkniçtych oczu. In: A. Wirth: Teatr, jaki mógiby bye. Warszawa 1964, S. 101, 102. Zuerst veröffenüicht in: Nowa Kultura 1960, Nr. 15. Die Hauptfigur in der Kartothek wird einfach nur 'Held' genannt. M. Napiontkowa: Prapremiera Kartoteki. Co widzieli recenzenci? (Anm. 1), S. 56. T. Drewnowski: Walka o oddech. O pisarstwie Tadeusza Róiewicza. (Anm. 2), S. 142. K. Braun, T. Rózewicz: Jçzyki teatru. Wroclaw 1989, S. 27-29. Ζ. Majchrowski: Znalezc siç w Kartotece. In: Z. Majchrowski: Gombrowicz i cien wieszcza oraz inné eseje o dramacìe i teatrze. Gdansk 1995, S. 161.
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In den Vordergrund trat die siegreiche Form, eine „inkonsequente" und „unreine" Form, die sich, wie Haiina Filipowicz meint, im Bruch mit der Konvention und ihrem unaufhörlichen Wandel äußere.9 Die Form dominierte auch die Aufnahme des Werkes. „Er kommt aus den 'Ismen' und geht weiter. Ebenfalls gegen die Avantgarde"10 - schrieb über Rózewicz Marta Piwiñska, die den Autor nicht nur zu den großen Spöttern zählte, sondern auch den abwertenden Begriff 'Technik der Collage' vorschlug, der eine berauschende Karriere machte.11 Józef Kelera stellte nach Jahren diesen Begriff in Frage, und wies auf das Wesentliche einer Collage hin, das von der Rózewicz'sehen Form weit entfernt ist: die Zusammenstellung verschiedener Materialien und Strukturen, wie auch den mit dieser Vielfalt verbundenen eigenartigen Bedeutungsüberschuß, der sie noch positiv aufwertet.12 De facto war das Stück der erste Versuch, eine neue dramatische Struktur13 (die nachkriegszeitlichen Zwei Theater [Dwa teatry] von Jerzy Szaniawski nicht gerechnet) und ein neues Theateridiom zu bilden. Dies wurde vor allem anderen geschätzt, aber auch angegriffen. Wenn jedoch die Uraufführung von Kartothek (42 Vorstellungen vor einem fast vollen Haus) in die Geschichte des polnischen Theaters einging, wenn die Rolleninterpretation des 'Helden' durch Józef Para exemplarisch geworden ist, und wenn das von den Anweisungen des Autors abweichende Bühnenbild von Jan Kosmski als beispielhaft angesehen wurde,14 dann ist dies zum einen der Faszination aller Befürworter der Modernität in der Kunst zu verdanken, zum anderen ist es der Erfolg einer mit der Zeit gewachsenen Legende über die Auffuhrung wie über das Drama selbst. Denn dieses Drama kam bald auf die Liste der Schullektüren, provozierte dazu einige treffende Bemerkungen von Janusz Slawinski und wurde einer suggestiven Interpretation von Teresa Kostkiewiczowa unterzogen.15 9
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H. Filipowicz: A Laboratory of Impure Forms. The Plays of Tadeusz Rótewicz. New York - Westport - Connecticut - London 1991, S. 145. M. Piwiñska: Rózewicz, awangarda i tradyeja. In: M. Piwiñska: Legenda romantyczna i szydercy. Warszawa 1973, S. 389, 395. M. Piwiñska: Rózewicz albo technika coUage'u. In: Dialog 1963, H. 9. J. Kelera: Tezy o Rózewiczu. In: Dialog 1979, H. 2, S. 93. Rózewicz kehrt in der Kartothek noch einmal zu den Quellen des Theaters und der Tragödie zurück, und sucht andere, bereits zeitgenössische Relationen zwischen deren zwei konstitutiven Bestandteilen: der dramatischen Handlung und der Aussage des Chores, der meistens (wie in der Kartothek) ein Chor der Greise war. „Kosinski entdeckte die Landschaft der Kartothek, schrieb nach der Erstaufführung Jan Kott in: Bardzo polska kartoteka. In: J. Kott: Miarka za miarkç. Warszawa 1962, S. 300. J. Slawiñski: Dramat; T. Kostkiewiczowa: Tadeusz Rózewicz: Kartoteka. In: Czytamy utwory wspôtczesne. Analizy. Warszawa 1967.
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Die Stellung Rózewicz' als Bahnbrecher wurde in den 70er Jahren gefestigt, als die politischen Anspielungen ihre Härte verloren und „ein Zeitpunkt kam, da sich die Theaterschaffenden für formale Spielereien begeisterten"16. Bezeichnend für diese Situation sind die Worte von Wlodzimierz Mating. In einer Diskussion, die im Mai 1973 von der Zeitschrift Zycie Literackie unter dem Titel Kritik, Literatur, Ideologie [Krytyka, literatura, ideologia] veranstaltet wurde, äußerte er sich so: „[...] ein gewisses falsches Modell, unter dem man sich die Literaturautonomie vorstellt, spukt noch immer bei uns herum. Und zwar wird alles, was aus dem Bereich der Idee kommt, in diesem Modell dem Schriftsteller aufgezwungen, alles, was aus dem Gebiet der Form kommt, wird zur Domäne der künstlerischen Freiheit." In den 70er Jahren verfestigte sich der polnische Mythos von Avantgarde und Neuerung, der durch Wissenschaft (ausgehend vom Institut für Literaturforschung in Warschau) und Kritik (insbesondere in Piwiñskas Romantische Legende und die Spötter [.Legenda romantyczna i szydercy], 1963) mitgestaltet wurde. Der Dramatiker führte die Kunstschaffenden aus dem Land Ulro, wie in Anlehnung an Czeslaw Milosz formuliert wurde, ins universelle Kunstparadies, ermöglichte ihnen, sich von der Abgeschlossenheit zu befreien, um das Gefühl der Klaustrophobie zu vermeiden, welches für das ganze politisch-ideologische Lager markant war und ließ sie schließlich in die Welt hinausschreiten. Die Kartothek wurde zum Vorbild einer neuen schöpferischen Einstellung, und ging als solches in den Kanon des polnischen Nachkriegsdramas ein. So entstand erst in in den 70er Jahren - mit dem jetzt gerade erlangten eindeutigen Bühnenerfolg - die Legende der vollkommenen (und für alle wichtigen) Uraufführung.17 Das deutsche Bühnenschicksal von Kartothek ist noch verzwickter, weil es zwei Staaten gab, den östlichen und den westlichen, - und dementsprechend - zwei Übersetzungen, zwei Uraufführungen und zwei verschiedene Vorstellungsreihen. Das Thema ist dermaßen kompliziert, daß man an dieser Stelle lediglich an die wichtigsten Fakten aus der deutschen Rezeption dieses Dramas von Rózewicz erinnern kann. Neben der Übersetzung von Henryk Bereska Die Karteilt gibt es eine Übersetzung von like Boll Die Kartothek.19 16 17
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M. Napiontkowa: Prapremiera Kartoteki (Anm. 1), S. 58. J. Klossowicz schreibt nach Jahren (Teatr Rózewicza. In: Literatura 1988, Nr. 10, S. 89) von einer sofortigen „glänzenden" Aufnahme der Kartothek im Theater. Er erinnert sich nicht mehr, daß es gar nicht so selbstverständlich war. Noch 1962 schrieb man: „Die Dramatik des letzten Jahrfünftes in Polen bilden vor allem zwei Namen: Mrozek und Broszkiewicz". T. Rózewicz: Stücke. Berlin: Volk und Welt 1974.
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Außer der Berliner Erstaufführung, die im Dezember 1960 an der Werkstattbühne im Schiller-Theater stattfand, verzeichnen wir die (als eigentliche Erstaufführung des Werkes geltende) Vorstellung der Bühnen der Stadt Essen am 27.09.1961. In Deutschland gab es viele Vorstellungen der Kartothek. Aufgeführt wurde sie von Repertoiretheatern (in Köln oder in Heidelberg: hier zusammen mit dem Unterbrochenen Akt [Akt przerywany]), von Theaterschulen und freien Bühnen; 1974 wurde sie vom Berliner Rundfunk gesendet. In die Grube erfuhr in Deutschland ein ähnliches Schicksal wie in Polen. Im Heimatland von Rózewicz hatte dieses Stück lediglich zwei Aufführungen, eine auf der Bühne und eine im Fernsehen; beide ließen das Ansehen des Autors sinken, beide riefen einen Skandal hervor. In Deutschland dagegen wurde die Übersetzung von Henryk Bereska, Fahr in die Grube, nicht einmal in Buchform herausgegeben, sondern war nur als sog. Bürstenabzug im Umlauf. Rózewicz war nämlich mit einer Veröffentlichung dieses Stücks ohne den seiner Meinung nach notwendigen Kommentar nicht einverstanden. Hatte die Geschichte der polnischen Rezeption des Werkes In die Grube den Ausschlag für solch eine Entscheidung gegeben? Das Stück entstand über einen Zeitraum von 17 Jahren hinweg (19551972). Veröffentlicht wurde es in Dialog, in der Februarausgabe 1979. Am 31.03.1979 fand seine Uraufführung im Teatr na Woli statt, Regie führte Tadeusz Lomnicki; gespielt wurde es acht Monate lang. Zum zweiten Mal wurde das Drama 1990 im Fernsehtheater (Teatr Telewizji) vorgestellt, in der Regie von Kazimierz Kutz. Beide Auffuhrungen wurden negativ aufgenommen, die Angriffe übertrafen die Stimmen der Befürworter und Enthusiasten, man bemühte sich, dieses von einer Aura des Skandals umgebene Stück schnell zu vergessen. Im Grunde genommen (wenn man die Daten der Veröffentlichungen in Betracht zieht) schließt In die Grube ein abrechnendes, in der Autobiographie des Autors verwurzeltes Triptychon der Partisanenzeit20 ab: Die Karto-
thek - Spaghetti und das Schwert {Spaghetti i miecz, 1964, Uraufführung 1976) - In die Grube. Die Reihenfolge ihrer Entstehung verläuft jedoch anders: die Serie eröffnet In die Grube, zuerst in Form einer Erzählung geschrieben, verbunden mit der Kriegssammlung Waldechos 21 Diese verwan19 20
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T. Rózewicz: Gedichte. Stücke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Auf diese Alt und Weise betrachtet Haiina Filipowicz die drei Stücke (Dead and Buried, The Card Index, Spaghetti and the Sword) im Kapitel Subverting a Heroic Myth. In: A Laboratory of Impure Forms (Anm. 9). Echa leine (1944): der Titel ist einer Novelle von Zeromski aus dem Jahr 1905 entnommen.
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delt sich später in eine Dichtung, nach dem Vorbild von Rilkes Werk Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, um zuletzt dramatische Gestalt anzunehmen. 22 In die Grube beinhaltet „etwas in der Art einer Handlung", schreibt Tadeusz Drewnowski: [...] drei Partisanen machen sich zu einem Raubzug auf: sie plündern das Pfarrhaus und verschonen nicht einmal die alte Haushälterin des Pfarrers. Als die Nachricht vom Oberfall die Kommandantur erreicht, flachten zwei von ihnen aus dem Wald, zwei alte Hasen, Marek und Bury. Nur Walus bleibt, und obwohl er leugnet, mit der Haushälterin etwas gehabt zu haben, stellt man ihn unter Arrest, hält ihn in einer Hütte gefangen und schleppt ihn am Strick herum, um ihn letztendlich - aufgrund des in Abwesenheit gefällten Urteils - umzubringen.23 Dieses Mal trat bei den Rezipienten die Frage der Form in den Hintergrund, obwohl die Kritik für das Werk ein nobilitierendes Bezugssystem heranzog, die Poetik der Tragödie. 24 Dabei ließ sie übrigens die Tatsache außer Acht, daß Rózewicz gerade die Tragödie in dem vorangehenden Stück Auf allen vieren (Na czworakach, 1965-1971) verurteilt hatte: Tragödien mißachten den menschlichen Körper, „Tragödien geschehen // 'nüchtern'". Sie vermitteln daher ein falsches Menschenbild. Rózewicz'sehe Skatologie greift also den für unsere Kultur kennzeichnenden „Primat des Geistes über die Materie" als eine „ungezwungene Reaktion auf irreführende Sublimierungen und Ästhetisierungen der Natur"25 an. Kann man nun von einer „zerstörten Tragödie" sprechen, die lediglich die Katharsis der Zuschauer wahrt,26 wenn die Tragik sich längst aus den Fesseln der Gattung befreit hat, wenn (wie Giraudoux in Elektro sagt) „unter Königen Erfahrungen gelingen, die nie den Ar22
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T. Drewnowski: Walka o oddech. O pisarstwie Tadeusza Ròiewicza. (Anm. 2), S. 243244. Ebd., S. 246. Tadeusz Lomnicki schrieb gleich, in derselben D/a/og-Ausgabe, in der das Drama veröffentlicht wurde, von einer „tragischen Auflösung" des Stückes (Refleksje przy lekturze Do piachu. In: Dialog 1979, H. 2, S. 90; ebenso in: Dzieje prapremiery. In: T. Lomnicki: Spotkania teatralne. Auswahl und Bearbeitung Maria Bojarska. Warszawa 1984, S. 107, 117); „... ich halte dieses Stück für eine moderne Tragödie", stellte Kazimierz Braun in einem Gespräch mit Rózewicz fest. In: K. Braun, T. Rózewicz: Jçzyki teatru (Anm. 7), S. 29; der Titel einer Rezension von Marta Fik lautete: Der Schein einer Tragödie (Pozory tragedii. In: Polityka 1979, Nr. 21); T. Drewnowski fragte: Eine wahre Tragödie? (Czy tragedia prawdziwa? In: Polityka 1979, Nr. 21); A. Schiller schrieb in der Zeitschrift Odra (1979, Nr. 6) ebenfalls von der Tragik des hier eingeschriebenen menschlichen Schicksals. Z. Majchrowski: Poezja jak otwarta rana. Warszawa 1993, S. 147. A. Krajewska: Tragedia niemozliwej tragedii. In: Zobaczyé poetç (Anm. 1), S. 72.
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men gelingen: reiner Haß, reiner Zorn". So geht wieder der Morgenstern auf, wenn das „Principium der Anthropologie von Rózewicz": „zuerst der Leib" heißt, und deren unvermeidliche Ergänzung: „ohne Leib kein Opfer" lautet.27 Kein Wunder also, daß in den 90er Jahren eine andere Interpretationsperspektive erscheint: die eines gegenwärtigen Christus und eines gegenwärtigen Golgatha. Sie ist durch verschiedene formale Bezüge gestützt: von „Stationendrama der geschichtlichen Marter, zusammengefaßt unter dem Gesichtspunkt der Wanderung des Individuums, der individuellen Leiden des Schützen Walus" sprach Drewnowski und der Anspruch einer „Volksmoral", die seit der Jahrhundertwende mit der Form des Mysterienspiels traditionell verbunden wird, liegt der Fernsehauffiihrung von 1990 in der Regie von Kazimierz Kutz zugrunde.28 Das Leibesopfer vernichtet (wie ehemals) die Tragödie. Der Partisanenmythos verschleierte jedoch (anders als im Falle von Kartothek) sowohl Lesern wie Zuschauern den Blick auf die formalen Fragen. „Eine rationale, verständige Erläuterung dieses Stückes von Seiten der Form und des Inhalts würde ihm vielleicht den Weg ins Bewußtsein bahnen. Nun, nicht in das im voraus voreingenommene", sagt Rózewicz. Weißt Du, es gab Leute, die dieses Stück nie gelesen haben, aber zugleich seine schrecklichen Gegner waren. Sie verlangten geradezu, daß ich aus Polen verschwinde. Sie schrieben mir anonyme Briefe. [...] Da ist das Drama eines Jungen vorgestellt, eines Analphabeten, der zum Tode verurteilt wird für eine wahrscheinlich nicht begangene Tat. Unaufmerksame Kritiker, unaufmerksame Leser behaupteten, ein Vergewaltiger und gewöhnlicher Räuber sei da Vertreter der AK-Partisanenjugend. Nichts war mir ferner. [...] Eine ganze Reihe von Mißverständnissen aus unaufmerksamem Lesen [...]. Oder aus bösem Willen. Gegenüber dem Text und dem Autor.29
Im allgemeinen verstanden die Zuschauer das Stück als Ablehnung der AKLegende und des polnischen Unabhängigkeitsmythos, als einen Akt elementarer Illoyalität seitens des Autors. Dies schien verständlich zu sein in einer Situation, in der die Erinnerung an stalinistische Prozesse immerfort wach blieb, die Erinnerung an Parolen wie „AK - ein vollgespuckter Zwerg der Reaktion". Der Streit drehte sich um Nationalheiligtümer, in einer Gesellschaft, die ihre patriotischen Mythen fortwährend als Ausdruck eigener Identität betrachtete. Die privatisierte Geschichte baute für viele einen wesentlichen Bezugspunkt auf, der noch aus der Epoche der Aufstände stammt. 21 28
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Z. Majchrowski: Poezja jak otwarta rana (Anm. 25), S. 151. K. Kutz: Chodzenie na niedzwiedzia, czyli misterium w lesie. In: Notatnik Teatralny 1991, Nr. 2, S. 32. K. Braun, T. Rózewicz: Jçzyki teatru (Anm. 7), S. 29, 30.
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Ein wesentlicher Faktor beruhte weiterhin auf der Tatsache, daß der Bestand an Nationalmythen in den 70er und 80er Jahren politischen Manipulationen unterzogen wurde, die in der Kunstrezeption mit Reaktionen echter Verteidiger der AK-Legende zusammenstießen, mit Meinungen also, die aus gegensätzlichen weltanschaulichen Positionen heraus formuliert wurden. Tadeusz Lomnicki notierte: „Der Vorsitzende, General M. (Mieczyslaw) M. (Moczar), fragte mich direkt: 'Warum haben Sie dieses Stück aufgeführt? Das ist doch schrecklich'."30 Die Spielleiter des Schauspiels ahnten das Ausmaß der unausweichlichen Kontroversen, aber sowohl Konrad Swinarski, der mit der Inszenierung dieses Dramas nicht mehr fertig wurde, wie auch Tadeusz Lomnicki erklärten das Stück für „unheimlich". „Man ließ es laufen" auch unter anderem aus dem Grunde, weil die Partei feststellte, daß in das weit vom Zentrum Warschaus entfernte Teatr na Woli ohnehin „keiner hingeht"31. Das 'Auslagern' der Vorführungen kontroverser Dramen an die Peripherie und in die Provinz war damals eine weit verbreitete Maßnahme. Den scharfen Reaktionen konnte das politische Zwiegespräch in der Zeitschrift Polityka (Marta Fik und Tadeusz Drewnowski) nicht zuvorkommen. Wie eine Denunziation klang der Artikel von Stanislaw Majewski Achtung! Banditen! (deutsche Formulierung im polnischen Text - Anm. d. Übers.), der das Werk ein „ekelhaftes Ding" nannte und abschließend vorschlug: „In die Grube mit dem Stück, und tief vergraben!"32 Fügen wir hinzu, daß die Vorstellung im letzten Augenblick aus dem Programm der Festspiele für Zeitgenössische Künste in Breslau (Festiwal Sztuk Wspólczesnych we Wroclawiu) herausgenommen wurde. Ähnliche Reaktionen konnte man auch 1990 in einem Fernsehgespräch nicht rechtzeitig abwehren,33 obwohl an diesem Gespräch der Autor selbst und auch der Regisseur mit zwei geladenen Gästen, Prof. Mieczyslaw Porçbski und Jan Józef Szczepanski, teilnahmen, um mit ihrer Autorität die Zuschauer von der Reinheit und Ehrlichkeit der Absichten beider Künstler zu 30
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T. Lomnicki: Spotkania teatralne (Anm. 24), S. 125. Mieczyslaw Moczar war 19641972 Vorsitzender des Verbandes der Kämpfer für Freiheit und Demokratie (ZBoWiD). 1964 wurde er auch Innenminister. Ebd., S. 107,109. S. Majewski: Achtung! Banditen! In: Stolica 1979, Nr. 18; scharf polemisiert mit ihm J. Kelera: Porachunki. In: Odra 1980, Nr. 3, S. 47-18. K. Lukasiewicz: Dramat wyklçty. In: Notatnik Teatralny 1991, S. 33. Zwei Publikationen bildeten die Zusammenfassung der Diskussion und nahmen zugleich am Streit teil: J. Majchereks: In die Grube mit Rózewicz (Do piachu ζ Rózewiczem. In: Teatr 1990, H. 12) und T. Burzynskis: Den Dichter knebeln (Zakneblowac poetç. In: Magazyn Tygodniowy Gazety Robotniczej 1991, Nr. 7).
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überzeugen. Die an den Schriftsteller gesandten anonymen Briefe lauteten eindeutig: „Abscheulichkeit" und „In die Grube mit Rózewicz!" Ein Kritiker der Zeitschrift Teatr sah sie als Zeichen der psychosozialen Situation an: die Kraft der Fesselung mit polnischen Mythen und die Schwäche einer Kunst, die der wahren Unabhängigkeit beraubt wurde.34 Den Polemiken Schloß sich damals auch die Opposition an;35 einige Zeit nach der Ausstrahlung hat man den Regisseur der Fernsehauöuhrung aus der Krakauer Rundfunkanstalt, in der das Stück inszeniert worden war, entlassen. In einer Situation, die von einem so starken, idealisierten, patriotischen Bild einer die höchsten Nationalwerte verteidigenden Partisanenschaft bestimmt wurde, einem Bild, das man als Realität ansah, schien die Verteidigung des Stückes unmöglich. Die künstlerischen Kategorien verblaßten etwas, die formalen Fragen schienen wenig zu bedeuten. Und dieser Zustand besteht bis heute. Der Schlüssel zu diesem Stück bleibt die Gestalt Walus'. Jan Klossowicz betrachtete ihn wie einen heutigen Woyzeck. Aber im Grunde gibt es zwischen den beiden wenig Ähnlichkeit, wenn auch gewisse Verbindungen existieren. Walus, gefuhrt am Strick, wie ein zum Schlachten bestimmtes Tier, von der Truppe abgesondert, eingeschlossen in einer Hütte am Rande des Lagerplatzes, vermag nichts zu erklären, kann sich nicht wehren; ein Held, der sowohl aus dem Rahmen des Partisanenmilieus wie aus dem Rahmen des Stückes selbst hinausfallt (wörtlich und im übertragenen Sinne). Zur wichtigsten Gestalt wird er erst kurz vor seinem Tode. In der letzten Szene ißt er einen Teller Erbsensuppe, er soll aus dem Wald geführt werden. So nimmt er seine ärmlichen Habseligkeiten, schnürt die Schuhe, erhält eine Schuld zurück (fünf Zigaretten) und bekommt vom Koch als Geschenk ein Stück Wurst mit auf den Weg. Dieser aber ist kurz: vor einer Sandgrube erfahrt er vom Urteil, er entleert sich vor der Exekution. Getötet wird er von ehemaligen Kameraden, schnell und ungeschickt. „Man muß ihm den Todesstoß versetzen, von nahem, direkt in den Kopf. Hirnfetzen zerspritzen an den Schuhen. Walus hinterhergehend [...] muß man sich sehr tief bücken, um wahrhaftig in die 'Augenhöhle des Krieges' zu blicken."36 Eine analoge Degradierung des polnischen Aufstandsheroismus finden wir einzig und allein in der berühmten Szene mit dem Altem Veteranen in der Warschauerin (Warszawianka) Wyspiañskis (1898). Walus ist eine passive und statische Gestalt, beinahe während des gesamten Stückes wartet er demütig auf das Urteil des dem Zuschauer unbekannten Gerichts. Gleichzeitig ist er eine fast stumme Gestalt, die sich eigentlich an 34 35 36
J. Majcherek: Do piachu ζ Rózewiczem (Anm. 33), S. 28. T. Drewnowski: Walka o oddech. O pisarstwie Tadeusza Róiewicza (Amn. 2), S. 252. J. Kelera: Od Kartoteki do Putapki (Anm. 2), S. 49.
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der Grenze zur sprachlichen Ohnmacht befindet, nahe jener Schweigezone, die Rózewicz seit langem fasziniert. Gerade dies Schweigen drückt in seinem Theater mehr aus als Worte, es steht über allem, obwohl doch „am Anfang des Gegenwartstheaters das Wort war, ist und sein wird." „Das Drama jedoch", schreibt Rózewicz, „spielt sich in der Stille ab. In einem Weltmeer der Stille. Und Wörter sind lediglich winzige Koralleninselchen, verstreut in diesem unendlichen Raum" (Der unterbrochene Akt). Der primitive Bauernsohn kann nicht anders sprechen als in zerrissenen, einfachsten Sätzen und mit stummer (oder fast stummer) Anwesenheit. Sein Schweigen drückt Glauben und Unglauben, Hoffnung und Leiden aus, es ist ein Protest, ein ärmlicher und gewichtsloser, doch er wird zur Anklage. Diese wird vom Zuschauer oder Leser vervollständigt, indem er den Emotionen der Gestalt weiter nachsinnt. Hier steckt die Hauptursache der Vieldeutigkeit dieses Schweigens, welches das Geheimnis des Seins berührt. Die Nullexistenz dieses NichtHelden gewinnt an Deutlichkeit dank der Konfrontation mit der Vulgarität des Wortes und der Trivialität des Lebens der Truppe: mit kollektiver Wäsche, Waschen, Rasieren, Schweineschlachten, Essen, Sichentleeren in einer gemeinsamen Latrine, unergiebigem Gerede, hoffnungslosem Bestehen und Beten während der Waldmesse. Erfolg bzw. Mißerfolg der Stücke Kartothek und In die Grube sind nicht identisch mit denen des Autors - was der Titel meines Essays suggeriert obschon sie doch nicht aufhören, sein Erfolg bzw. sein Mißerfolg zu sein. Beide Stücke sind eine nicht unbedeutende künstlerische Leistung, beide beinhalten auch eine andere Legierung universaler und lokaler Faktoren, von denen sie mitgebildet werden. Beide nehmen jeweils eine andere Stellung gegenüber der nationalen Geschichte und Mythologie ein, und jeweils anders behandeln sie auch die kollektive Erinnerung. Diese hat ihre Geschichte, wie jede Gesellschaftserscheinung; sie hat ihre 'kalten' Phasen, wenn sie eingeschläfert scheint, und ihre 'heißen', wenn sie erwacht und an die Oberfläche des kollektiven Lebens kommt, wo sie gehaltreiche und differenzierte Ausdrucksformen vorfindet, und wenn sie sich als ein sehr wesentliches Maß der Mentalität herausstellt.37
Die Kartothek verdankte ihren Erfolg nicht nur dem neuen Mythos von der Avantgarde, sondern auch dem Moment eines gewissen Erwachens des kollektiven Bewußtseins und der kollektiven Erinnerung. Nach 1956 schien es (leider nur kurz), daß die Voraussetzungen für eine Wiedererlangung dieser 37
B. Baczko: Wyobraienia spoteczne. Szkice o nadziei i pamiçci zbiorowej. Warszawa 1994, S. 201.
Zwei Dramen von Tadeusz Ròiewicz
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Erinnerung gegeben seien, die seit den 40er Jahren konfisziert worden war, und daß zumindest der Bereich des politischen Apparates, der auf die geistige Kontrolle über die Menschen abzielte, ins Wanken geraten sei. Dieses Drama von Rózewicz, das den 'Helden', der dem Druck totalitärer 'Austauschbarkeit' biographischer Bestandteile unterworfen war, mit einer demontierten Erinnerung in den Mittelpunkt stellt, berief sich auf gar nicht weit zurückliegende Erfahrungen der Zuschauer und Leser. Nur zu gut kannten sie solcherart kontrollierende Eingriffe, wie das Auslöschen historischer Fakten und die Unterbrechung der historischen Kontinuität, das Zensieren und Aktualisieren vergangener Ereignisse, von Handlungen, Verhaltensweisen, die Erstellung eines neuen Vergangenheitsbildes, so wie es die politisch-ideologischen Angelegenheiten diktierten, Manipulationen an der individuellen und kollektiven Erinnerung. Rózewicz berief sich demzufolge auf die Aktivität seiner Adressaten, er öffnete das Drama für einen gemeinsamen Dialog. So entwarf er eine Betrachtung der Konsequenzen der Nachkriegswirklichkeit und der vom System durchgeführten Verwüstungen in einer jeden Biographie. Die Kartothek, die Wertvorstellungen ins Kollektivbewußtsein einbringt, war jedoch etwas 'Nichtgeplantes', keiner erwartete nämlich von Seiten eines auf der Bühne gerade erst debütierenden Schriftstellers (sein eigentliches dichterisches Debüt war der Band Unruhe [Niepokój], 1947), daß er eine moderne dramatisch-theatrale Form vorlegen würde. In der Person von Rózewicz dagegen erschien ein Dramatiker, der einen neuen, doch wirksamen Dialog mit dem Adressaten vorschlug, und der zugleich, wie kein anderer, in einen 'Dialog' mit dem Stoff, mit der Materie des Werkes trat, und sie zu einer spezifischen Aktivität 'zwang'. Dabei schaffte er es nicht nur, die eigenen Erfahrungen universal zu machen, sondern auch den eigenen Blickpunkt mit der Perspektive der anderen zu vervollständigen, die mit unterschiedlichen Resultaten versuchten, sich in der politischen Wirklichkeit Polens zurechtzufinden. Dank dieser Situation jedoch wurde in der Kartothek nicht nur die Erschütterung des Krieges kollektiv erinnert, sondern auch die der Nachkriegsjahre, der stalinistischen Prozesse, des Jahres 1956. Ebenso kam es schnell zum Rückfall in die Vergangenheits- und Bewußtseinsmanipulationen. Deshalb zeigten sich die Adressaten in diesem Falle als Mitgestalter des gefeierten Erfolges, insbesondere dessen, der in den 70er Jahren kam und die kanonische Position des Werkes festigte. Die Aufnahme von In die Grube gestaltete sich anders, und der Mißerfolg des Stückes erwies sich vor allem als ein Mißerfolg der Adressaten. Das Werk verneinte de facto die einende Funktion der kollektiven Erinnerung und ihrer tragfähigsten Symbole, es brach mit dem Verlauf traditioneller
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Dobrochna Ratajczakov/a
Mythologie und stellte die Werte in Frage, die allgemein als die wichtigsten fur die Identität des Zuschauers und Lesers und der nationalen Kultur bezeichnet wurden. Dies waren jedoch keine universalen Werte. Universalität und Regionalismus haben im Werk In die Grube ein anderes Maß als in der Kartothek. Hier nämlich stellt sich als der 'AllgemeinbegrifF ausschließlich die Perspektive des biologischen Fortbestehens heraus, die einzige Kategorie, die man vor dem Pogrom bewahren kann, die einzige, welche die Kunst vereinigt. Wieviel wert ist die nationale Identität, die kollektive Erinnerung, die Persönlichkeit, die einzigartige Biographie, wenn sich das Leben beinahe im Nullstadium der Existenz befindet, wenn zwei bruchstückhafte, aber kultische Träume - vom Erblicken Krakaus, wo ,,d' Könige lieg'n" und riesige Gemälde hängen, und von einer Pilgerfahrt nach Tschenstochau - entschwinden, unter dem Druck reiner Biologie, des Bestehens und des Leidens. Über den Mißerfolg des Stückes entschieden die Rezipienten, indem sie die spezifische Universalität des Werkes In die Grube ablehnten, und zugleich die nationale Lokalisierung des Dramas in den Vordergrund stellten, die mit dem starken Einfluß patriotischer Unabhängigkeitsmythen und dem Modell des polnischen Partisanenheroismus verbunden war. Im Grunde könnte man In die Grube als einen Kampf des Autors an zwei Fronten betrachten: mit den Stereotypen der kollektiven Erinnerung, die das nationale Vorstellungsvermögen und die Wertesammlung organisieren, und mit den parteilichen 'Verteidigern' nationaler Tradition, des Typus M. Moczar, die diese Stereotypen rücksichtslos ausnutzen und eine „nationale Rechtskraft" für sich in der polnischen Geschichte suchen. Rózewicz geriet also zwischen Hammer und Amboß; er schmähte Heiligtümer auf eine für beide Seiten unzulässige Art, und zugleich machte er die Möglichkeit zunichte, einen breiteren Dialog mit seinen Adressaten zu beginnen. In diesem Stück erwies sich ein solcher Dialog mit den Zuschauern als ebenso unmöglich wie anfangs bei der Kartothek, bei der er schließlich aber zehn Jahre nach deren Uraufführung doch stattfand. Die späte Ernte für die Enkel-Generation steht also noch bevor. Das Jahr 1990 bescherte dem Werk den nächsten Mißerfolg. Gerade damals verengte sich der Raum gedanklicher Aktivität der Adressaten gewaltig sowie die Chance eines Dialoges mit den Zuschauern. War das ein widerhallendes Echo des Totalitarismus, unterstützt (paradoxerweise) vom Gefühl der Freiheit? Oder überlagerten sich diesmal beide Haltungen, die ehemalige - die parteiliche - und die neue, noch vor kurzem die inoffizielle? Rózewicz nimmt den Menschen in seinem Stück In die Grube nicht als ein autonomes und freies Einzelwesen wahr. Die Freiheit, an der man sich nach 1989 berauschte, blieb im Widerspruch zu solch einem Bild. Sie war gegen den ins Werk eingeschriebenen Determinis-
Zwei Dramen von Tadeusz Rozewicz
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mus und das Chaos, gegen die geheimnisvolle und zugleich grundlegende Beziehung zwischen Mensch und Geschichte. Es entstand eine Kluft, nicht so sehr zwischen der privaten und offiziellen Geschichte, als vielmehr zwischen den persönlichen Erfahrungen des Einzelwesens und der die Kunst mitbildenden existentiellen und rein biologischen Knechtung. Ebenfalls aus diesem Grunde wurde ein Diskurs unmöglich. Die Form des Werkes betrachtete man dabei als unwesentlich, obwohl doch beide Dramen das Chaos der Gegenwart ausdrückten. „Unser zeitgenössisches Nichts ist anders als das Nichts in der Vergangenheit", schrieb Rózewicz in den Vorbereitungen zum Autorenabend (Przygotowania do wieczoru autorskiego), „Unser Nichts existiert und ist aggressiv. [...] Es ist die Wirklichkeit." Walus' Schweigen ist eben aggressiv. Es besitzt eine dramenbildende Kraft. Es wird glatt zur Entsprechung der formalen Diskontinuität des Dramas. Mit Recht schreibt Haiina Filipowicz, daß der Autor statt nach einer Kontinuität zu suchen, uns gebiete, „Brüche und Sprünge [...] zu verfolgen", Bedeutungen zu suchen „in sorgfältig bedachten Spalten zwischen Fabel und gesprochenem Text".38 Man müßte sich also mit der Form der beiden Dramen beschäftigen. Sie verbindet sie doch genauso eng wie der persönliche Ton und der Autobiographismus der Ereignisse und Realien. Und obgleich diese Form gewisse Zusammenhänge mit Rózewicz' Poesie aufweist, behält sein Drama eine eigene Gestalt. Noch einmal führe ich die Worte von Haiina Filipowicz an: „ein Drama zu sein, sogar im Schaffen Rózewicz', bedeutet nicht dasselbe wie eine lyrische Aussage zu sein."39 Es ist jedoch kaum möglich, in einer kurzen Darlegung das Wesen der Form beider Werke zu skizzieren. Die Frage lediglich annoncierend, sage ich nur, daß man deren vollständigstes und vollkommenstes Muster in den fraktalen Modellen des Chaos entdecken kann. Rózewicz ergriff nämlich in der Kartothek und auch in In die Grube das Chaos, eingetragen in die Struktur unserer / nicht unserer Welt. Er schuf eine dramatisch-theatrale Form, die 38
39
H. Filipowicz: Od Kartoteki do Klucza. Problem formy w dramatach Rózewicza. In: Zobaczyc poetç (Anm. 1), S. 42. Ebd., S. 33-34. Das wird richtig sein, denn der Autor selbst verband Poesie mit Drama (gerade mit der Kartothek) im Gedichtband Grüne Rose (Zielona ròia, 1961). J. Kelera leitet das Alphabet Róiev/icz ' von seiner Poesie ab (Panorama dramatu. Studia i szkice. Wroclaw 1989, S. 134). Man muß hier zugeben, daß die dramatische Idee bei Rózewicz den Charakter einer poetischen Aufzeichnung annimmt, siehe z.B. 26 paidziernika uciekl ζ domu... Szkice do sztuki (o Tolstoju), T. Rozewicz: Kartki wydarte ζ dziennika. In: Odra 1984, Nr. 11, S. 40-41. Trotz dieser deutlichen genetischen Zusammenhänge zwischen Rózewicz' Poesie und Drama, finde ich jedoch, daß das Drama hier 'am Ausgang' eine gesonderte Form erreicht; und daß man sie mit Hilfe des 'Poesiealphabetes' nicht lösen kann.
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Dobrochna Ralajczakowa
einem Teragon (griech. Ungeheuer, Mißgeburt) entspricht, dem Benoît Mandelbrot den Namen Fraktal verlieh. Rózewicz berief eine neue Dramaturgie chaotischer Gegenwart, die schon allein mit ihrer Form den zeitgenössischen Sinn des Wortes 'Nichts' ausdrückt. Dennoch blieb diese Form in beiden Fällen unbemerkt, trotz ihrer gesamten Originalität. Aber damals konnte es nicht anders geschehen. Aus dem Polnischen von Marek Kasprzyk
TEIL III
Wojciech Dudzik
Das Bild des polnischen Theaters in der deutschen wissenschaftlichen Theaterliteratur der Nachkriegszeit
1.
Die Frage nach dem Bild des polnischen Theaters in der deutschen Literatur ist zugleich eine Frage von überregionaler Bedeutung, eine Frage nach dem tatsächlichen Wert, dem spezifisch Europäischen und Polnischen des polnischen Theaters. Bestätigen selbst Ausländer die Meinung von Polen selbst über polnische Bühnenwerke? Kann man bei den Bewertungen der einzelnen Ereignisse und Personen von ähnlichen Standpunkten sprechen? Was unterschätzt man im Ausland, und was überschätzt man? Damit sind natürlich nicht alle Fragen gestellt. Es ist aber klar, daß eine Untersuchung der Anwesenheit des polnischen Theaters in der Literatur und Kultur eines anderen Landes fur beide Seiten bereichernd und lehrreich sein kann. Man muß jedoch sofort mit einigen Vorbehalten beginnen. Erstens: Der Gegenstand meines Beitrags ist das T h e a t e r , noch genauer - das Schauspieltheater, nicht etwa das polnische Drama, dessen Rezeption in Deutschland ein eigenes, interessantes und teilweise schon bearbeitetes1 Problem darstellt. Thema ist das Theater als autonomes Bühnenkunstwerk. Das Drama als literarisches Werk bleibt außerhalb der Untersuchung, ohne Rücksicht darauf, daß im Deutschen (wie im Französischen) das Wort 'Theater' semantisch doppeldeutig ist und auch das (literarische) Drama meinen kann und obwohl das Wort 'Theater' in beiden Sprachen immer noch starke Beziehungen auf der Literatur hat. Dies gilt für die Bühnenpraxis wie für das allgemeine Bewußtsein und die Rezeption. 1
Hier wären folgende Aufsätze zu nennen: Sybille Bauer: „Gespenster und Propheten." Das moderne polnische Drama auf den Bühnen der Bundesrepublik, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz; Dietrich Scholze: Herausforderung durch „Exotik". Polnische Dramatik in der DDR. In: Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945-1985. Hrsg. von Heinz Kneip und Hubert Orlowski, Darmstadt 1988. Es gibt auch eine bibliographische Monographie: Polnisch-deutsche Dramenübersetzung 1830-1988. Grundzüge und Bibliographie. Hrsg. von Doris Lemmermeier und Brigitte Schultze, Mainz 1990.
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Wojcìech Dudzik
Die Gleichsetzung von Theater mit Drama fuhrt häufig zu Mißverständnissen. Als ich das zweibändige Werk Modernes polnisches Theater zur Hand nahm, erwartete ich dort Beiträge über Bühnen, Inszenierungen, Schauspielkunst, und keine dramatischen Texte von Witkacy, Szaniawski und Kruczkowski.2 Ähnlich verhielt es sich mit dem Werk Panorama des zeitgenössischen Theaters von Marianne Kesting, aber hier warnt der Untertitel: 58 l i t er arisch e Porträts3 (Hervorhebung W. D.). Zweitens: dieser Beitrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, er registriert auch nicht alle Werke, in denen irgendeine Erwähnung des polnischen Theaters zu finden ist. Es geht hier vor allem um die Grundliteratur, die in einer durchschnittlichen Universitätsbibliothek für Studenten und Theaterliebhaber, nicht nur fur Theaterwissenschafìler zur Verfugung steht. Ich bespreche also keine hochspezialisierten Monographien mit kleinen Auflagen, Dissertationen oder rein wissenschaftliche Aufsätze in Zeitschriften. Es ist ein anderes Gebiet, das mich interessiert.4 Die von mir durchgesehenen Materialien können in fünf Gruppen untergliedert werden: - Theatergeschichten (Abs. 2) - Theaterlexika (Abs. 3) - Textanthologien zur Theatertheorie (Abs. 4) - Darstellungen aus der Hand polnischer Autoren (Abs. 5) - Monographien zum polnischen Theater (Abs. 6).
2. Der Aufgabe, die Geschichte des Welttheaters zu bearbeiten, unterziehen sich nur wenige Historiker in wenigen Ländern. Es gibt immer noch eine zu ge2 3
4
Modernes polnisches Theater. Bd. 1-2. Hrsg. von Andrzej Wirth, Neuwied 1967. Marianne Kesting: Panorama des zeitgenössischen Theaters. 58 literarische Porträts. Revidierte und erweiterte Neuausgabe. München 1969. Am Rande kann man jedoch eine steigende Anzahl der dem polnischen Theater gewidmeten Dissertationen bemerken, u.a.: Wolfgang Kröplin: Stanislaw Wyspianskis 'monumentales Theater'. Untersuchungen über den Zusammenhang von reformatorischen Theaterprogramm und gesellschaftlicher Funktion im Epochenumbruch. Berlin 1985; Klaus Dermutz: Totes Leben. Zur Anthropologie und Theologie von Tadeusz Kantors Theater des Todes und der Liebe. Graz 1994. Seit 1995 wird in Deutschland auch eine neue wissenschaftliche Theaterzeitschrift publiziert, die das polnische Theater berücksichtigt: Balagan. Slawisches Drama, Theater und Kino. Verlag Kuban und Sagner, München.
Das Bild des polnischen Theaters
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ringe Anzahl solcher modernen Kompendien.5 Erst in den letzten Jahren wurde in Polen eine ausfuhrliche Darstellung der Geschichte des polnischen Theaters abgeschlossen (herausgegeben vom Institut für Kunst an der Polnischen Akademie der Wissenschaften). An eine Bearbeitung der Weltgeschichte des Theaters denkt noch niemand. In deutscher Sprache besitzen wir mindestens zwei solcher allgemeinen Werke: die monumentale zehnbändige Theatergeschichte Europas von Heinz Kindermann (Salzburg 1957-1974) und die Weltgeschichte des Theaters von Margot Berthold (Stuttgart 1968). Was erfährt der Leser dieser Bände über polnisches Theater? Kindermanns ehrgeiziges Werk liefert bereits im ersten Band Grundinformationen zum frühen religiösen Theater in Polen im 13. und 14. Jahrhundert, ferner zeigt es die wichtigsten Fakten aus der späteren Geschichte auf: Ordenstheater, Mysterien und Moralitäten aus dem 15. und 16. Jahrhundert, die ersten dramatischen Texte von Rej und Ciekliñski, Kochanowskis Tragödie Die Abfertigung der griechischen Gesandten, Hof- und Magnatentheater usw. Der 5. Band - Von der Aufklärung zur Romantik (2. Teil) - verfügt bereits über einen eigens Polen gewidmeten Abschnitt - und so bleibt es auch in den nächsten Bänden. Der Verfasser des polnischen Kapitels im letzten Band (Naturalismus und Impressionismus) ist der Historiker Stanislaw Kaszyñski aus Lodz. Die polnische Theatergeschichte wurde hier bis zu den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts bearbeitet, bis zur Reduta und zum Anfang der Bühnenarbeit Leon Schillers. Es fehlt jedoch eine deutliche Grenze, eine Schlußzäsur; eine solche könnte z.B. der Erste oder der Zweite Weltkrieg darstellen. In keinem anderen Werk ist Polen so ausfuhrlich präsent wie bei Kindermann. Jedoch ließ sich nach ihm bisher niemand mehr zu einer so umfangreichen Monographie verleiten. Sie ist für Fachleute und Studenten der Theaterwissenschaft, nicht aber dem Nicht-Fachmann bestimmt. Dieser sucht wahrscheinlich nach einer handlichen, synthetischen und modernen Theatergeschichte. Er kann auf die vor fast 30 Jahren veröffentlichte und nicht erweiterte oder überarbeitete Weltgeschichte des Theaters von Margot Berthold zurückgreifen, welche von Danuta Zmij-Zielmska 1980 auch ins Polnische übersetzt worden ist. Im Register finden wir hier fünf polnische Namen, zwei polnische Städte und eine polnische Bühne. Abgesehen von ausführlichen Mitteilungen über die erste polnische Tragödie von Jan Kochanowski werden hier Nebensächlichkeiten erwähnt. So wird z.B. Franciszek ZaWocki 5
Von den neusten Werken wären zu nennen: John Allen: A History of the Theatre in Europe. New Jersey 1983; Oscar G. Brockett: History of the Theatre. Boston 1982; Paul Kuritz: The Making of Theatre History. New Jersey 1988; John Russel Brown: The Oxford Illustrated History of Theatre. Oxford-New York 1995.
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Wojciech Dudzik
als erster namhafter Dramatiker des polnischen Nationaltheaters genannt, oder Stanislawa Wysocka als Leiterin des Kiewer Studios, das zusammen mit Theater Reduta nur als Beispiel der nach Stanislavskijs Methode arbeitenden Bühnen dienen sollte. Eine einbändige Geschichte des Welttheaters ist selbstverständlich gezwungen, eine strenge Faktenauswahl zu treffen, es ist jedoch nicht einfach, in diesem Sinne mit der Geschichte des polnischen Theaters zu verfahren. Die Leser von Bertholds Werk werden leider nichts über die Bedeutung der romantischen Dramen in Polen erfahren, nichts über das sog. monumentale Theater von Stanislaw Wyspianski, nichts über die Tätigkeit des größten polnischen und zweifellos einen der modernsten Regisseure im Europa der Zwischenkriegszeit, Leon Schiller. Wyspiañski schrieb seine Hamletstudie leider nicht auf Englisch - er wäre sonst so bekannt wie Gordon Craig geworden.6 Leon Schiller inszenierte leider nicht in Berlin - er wäre sonst so bekannt wie Max Reinhardt geworden. Beide Künstler müßten in einer Darstellung, die sich einen Überblick über das Theater der Welt zum Ziel gesetzt hat, genannt werden. Die erste und wichtigste Aufgabe des Herausgebers eines jeden Nachschlagewerkes, Lexikons usw. besteht in der Auswahl der Daten. Notwendig ist jedoch eine richtige und historisch motivierte Auswahl, nicht eine desorientierende oder willkürliche. Es geht vor allem auch um richtiges Abwägen zwischen nur lokal bzw. regional Relevantem, soweit dieses die Entwicklungsprozesse auch des Ganzen verstehbar macht, und universal Relevantem, das eine wichtige Etappe in der Geschichte des Theaters markiert. Die Auswahl hängt natürlich von den Quellen ab. Und hier liegt ein Grundproblem. Es bestätigt sich ein weiteres Mal, wie Sprache zu einem Rezeptionshindernis werden kann. Aber die Verfügbarkeit von Quellen in Übersetzung darf nicht für die historische Würdigung ausschlaggebend werden. Dann ist Kooperation unerläßlich, wie im Falle von Heinz Kindermann. Eine weitere Gesamtdarstellung der europäischen Theatergeschichte aus deutscher Feder ist zur Zeit im Entstehen begriffen. Es handelt sich dabei um Die Welt als Bühne von Manfred Brauneck. Die zwei bislang erschienenen Bände - die Zeit von den griechischen und römischen Anfängen bis zu Renaissance und Humanismus (1993) sowie das 17. und 18. Jahrhundert (1996) - vermitteln den Eindruck eines modernen, interessanten Kompendiums.7 6
7
Das Werk Wyspianskis und The Art of the Theatre von Craig wurden in demselben Jahr (1905) veröffentlicht. Als nicht wissenschaftliche Arbeit wäre noch ein kleines Büchlein von Andrea Gronemeyer zu erwähnen. Es hat dagegen deutlich populären Charakter. Sein Untertitel sagt dies daher auch unumwunden: Theater. Schnellkurs. Köln 1995. Diesen Kurs empfinde
Das Bild des polnischen Theaters
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Mit einem Gesamturteil muß man jedoch bis zum Erscheinen der folgenden Bände warten. Die restlichen historischen Arbeiten, die ich nennen möchte, sind weniger komplex. Sie stellen Datensammlungen und Kompendien dar und betreffen einzelne Epochen oder Theaterbereiche (wie Schauspielkunst, Regie usw.).
Die Geschichte des Theaters. Daten und Dokumente 1470-1840 (München 1979) von Herbert A. Frenzel dient hier als erstes Beispiel. Der Autor gibt kurze Auskünfte über polnisches Hof-, Magnaten- und Jesuitentheater im 16. Jahrhundert, bespricht die Anfänge des Nationaltheaters und die Dramaturgie jener Zeit, er gibt jedoch ebensowenig einen Überblick über die Anfänge der polnischen Tragödie bei Kochanowski wie über die romantischen Dramen von Mickiewicz, Slowacki und Krasmski - die zur Zeit ihrer Entstehung zwar nur als Lesedramen wirken konnten, aber einen ungeheuren Einfluß auf das geistige Leben der Nation und die weitere Entwicklung des polnischen Theaters ausübten. Auch die einzelnen Theaterelemente, wie Bühnenbild, Schauspiel, Regie, haben ihre historischen Monographien. In der Theaterbibliothek stehen also
u.a. Regie. Idee und Praxis moderner Theaterarbeit. Ein Leitfaden von Helmut Schwarz (Bremen 1965), Bühne und bildende Kunst im XX. Jahrhundert. Maler und Bildhauer arbeiten für das Theater von Henning Rischbieter und Wolfgang Storch (Velber 1968) und Theater. Eine illustrierte Geschichte des Schauspiels von Hans Peter Doli und Günther Erken (StuttgartZürich 1985) zur Verfugung. Alle drei Arbeiten wecken kleine Vorbehalte übrigens aus verschiedenen Gründen. Bleiben wir beim Bild von Polen, das in ihnen vermittelt wird. Zwei der genannten Werke machen es sich ganz einfach, nach dem Prinzip: pro Buch wird eine Person erwähnt. Für Rischbieter ist das der Maler Tadeusz Kantor, für Doli und Erken der Schauspieltheoretiker Jerzy Grotowski. Diese zwei Namen werden sich - was selbstverständlich ist - in den meisten Werken der Theaterliteratur der Gegenwart wiederholen. Nur diese zwei Namen scheinen mir manchmal auch außerhalb der professionellen Theaterkreise ein Begriff zu sein. Kantor ist in Deutschland besser bekannt, wohl aufgrund der häufigen Gastspiele, sowie seiner Bücher und Ausstellungen. Grotowski ist berühmt, vor allem aber als ein historisches Ereignis, und eigentlich weiß man nicht recht, ob er überhaupt noch aktiv ist. ich allerdings als allzu schnell. So schnell, daß die Verfasserin nicht alle Daten nachprüfen konnte oder keine Zeit für das Recherchieren wichtiger Materialien hatte. Wahrscheinlich deshalb wurde die kurze biographische Notiz von Jerzy Grotowski (der einzige in diesem Werk genannte polnische Name) mit dem Bild seines Mitarbeiters Ludwik Flaszen versehen.
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Es war auch nur Kantor und Grotowski vergönnt, Veröffentlichungen eigener Texte und Monographien in Deutschland zu erleben.8 Man kann sich freuen, daß in einem Buch mit dem Untertitel Maler und Bildhauer arbeiten für das Theater Kantors Silhouette ganz genau nachgezeichnet wurde (und das im Jahre 1968, noch vor den größten internationalen Erfolgen des Künstlers, die erst nach der Toten Klasse, 1975, begannen). Schade, daß nur Kantor für erwähnenswert erachtet wurde. Man übersah vor allem Wyspiañski, der nicht nur ein Dramatiker, sondern auch ein hervorragender Maler und Bühnenbildner war, außerdem weitere originelle Künstler der späteren Generation, wie z.B. Józef Szajna, der mit seinen interessanten 'plastischen' Bühnenwerken in vielen Ländern gastierte. In der Geschichte des Schauspiels von Doli und Erken wird Grotowski als Autor einer der drei Hauptmethoden des Schauspiels im 20. Jahrhundert vorgestellt. Man bezeichnete diese Richtungen mit den Namen von Konstantin S. Stanislavskij, Bertolt Brecht und Jerzy Grotowski. Man muß dieser Unterscheidung zustimmen und bestätigen, daß kein anderer polnischer Künstler auf das Welttheater so großen Einfluß ausübte. Kantor war berühmt, aber einsam, ohne Nachwuchs und Schüler (es gibt eventuell ästhetische Epigonen); Grotowski s Lehre fand in der ganzen Welt Verbreitung und Widerhall. Dieser weltweiten Bedeutung ist im Werk von Helmut Schwarz noch nicht Rechnung getragen. Im Lexikon-Teil seines Leitfadens finden wir 26 Namen polnischer Regisseure (4,6% aller Stichwörter), aber weder Grotowski noch Kantor. Die Erklärung kann hier das Jahr der Ausgabe sein 1965, also noch vor dem ersten Auslandsgastspiel vom Teatr Laboratorium.9 Aber die ersten enthusiastischen Texte über Grotowski waren in jener Zeit bereits im Ausland veröffentlicht, u.a. einer der ersten, wie ich vermute, deutschen Beiträge - von Philipp Wolff-Windegg, in einem Band unter dem da-
9
Kantors Werke wurden in Deutschland mehrmals publiziert: Tadeusz Kantor: Theater des Todes. Die tote Klasse. Wielopole, Wielopole. Nürnberg 1983; ders.: Ein Reisender - seine Texte und Manifeste. Nürnberg 1983; ders.: Regie. Tadeusz Kantor. Berlin 1995. Im letzten Jahr erschien zudem die Monographie von Jan Kiossowicz: Tadeusz Kantors Theater. Hrsg. von Harald Xander, aus dem Polnischen von Klaus Roth. Tübingen-Basel 1995. Das Hauptwerk Grotowskis wurde in Deutschland dreimal herausgegeben, zuerst als Das arme Theater (Velber 1969), dann unter dem Titel Für ein armes Theater (1986, 1994). Die deutsche Monographie über Grotowski hat Barbara Schwerin von Krosigk geschrieben: Der nackte Schauspieler. Die Entwicklung der Schauspieltheorie Jerzy Grotowskis. Berlin 1985. Die eiste Auslandstournée des Laboratorium-Theaters fand in Schweden, Dänemaik und Norwegen vom 6.02. bis 25.03.1966 statt. Danach spielte das Ensemble vom 21.06. bis 25.06.1966 in Paris.
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mais charakteristischen Titel Theater hinter dem 'Eisernen Vorhang '.10 Welche Namen sind also im Regisseure-Lexikon von Schwarz zu finden? Ich führe alle chronologisch an: Pawlikowski, Kotarbiñski, Wyspiañski, Szyfman, Zelwerowicz, Osterwa, Schiller, Horzyca, Jaracz, Trzciñski, Gall, Wçgierko, Wierciñski, Szletyñski, D^browski, Axer, Kreczmar (Jerzy), Korzeniewski, Bardini, René, Dejmek, Swinarski, Laskowska, Zamkow, Skuszanka, Krasowski. Es ist, wie man sieht, eine lange Liste (mit der Zäsur 1965), aber die Interpretation der Tätigkeit von vielen polnischen Künstlern weckt einige Zweifel. Diesen Kommentaren entsprechend, kann man bei den genannten Regisseuren fast nichts Originelles und Selbständiges bemerken, da sich der Verfasser damit begnügt, die polnischen Theaterkünstler nicht-polnischen Anregern und Vorbildern zuzuordnen. So zu Pawlikowski: „beeinflußt vom Gastspiel der Meininger leitete deren Stilvorbild seine Arbeit in Krakau und Lvov"; Wyspiañski: „ähnlich Gordon Craig, von dem er Anregungen empfing"; Osterwa: von Stanislavskij beeinflußt; Korzeniewski: „von den stilistischen Idealen des französischen Cartel angeregt"; Swinarski: von Brecht beeinflußt usw. usw.11 Das alles stimmt natürlich teilweise - außer der Behauptung, daß Wyspiañski von Craig „Anregungen empfing"; die Denkweise der beiden Künstler über das Theater war tatsächlich ähnlich, aber es verhielt sich eher so, daß sich Craig für Wyspiañski interessierte, den er über Leon Schiller kennengelernt hatte.12 Doch entschied erst die weitere schöpferische Umgestaltung der genannten Ideen über die höhere Bewertung der Arbeiten der beiden genannten Regisseure. Es scheint mir, daß das unter dem kurzen allgemeinen Stichwort „Polen" die Entwicklungstendenzen in der Geschichte der Regie besser dargestellt sind als unter den Stichworten zu einzelnen Regisseuren. Und dies um so mehr, als in dem ganzen Buch stärkere Akzente auf den historischen Aspekt gelegt wurden. Anschließend möchte ich noch auf einen Band hinweisen, der für deutsche Leser zur Verfugung steht: Das Atlantisbuch des Theaters, hrsg. von Martin Hürlimann (Zürich-Freiburg 1966). Er enthält ein kompetent, obwohl populär, geschriebenes Kapitel Das polnische Theater, das die Entwicklung der polnischen Bühne bis zu den 60er Jahren vorstellt, „durchgesehen und 10
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Vgl. Philipp Wolff-Windegg: Das psycho-dynamische Theater. In: Theater unserer Zeit. Hrsg. von Reinhold Grimm, Willy Jäggi und Hans Oesch. Bd. 6: Theater hinter dem 'Eisernen Vorhang'. Basel-Hamburg-Wien 1964. Helmut Schwarz: Regie. Idee und Praxis moderner Theaterarbeit. Ein Leitfaden. Bremen 1965. Vgl. S. 292, 387, 288, 239, 358. Leon Schiller hat in der Craigschen Zeitschrift The Mask einen ausführlichen Beitrag über Wyspiañski publiziert, vgl. The New Theatre in Poland: Stanislaw Wyspiañski, by L. de Schildenfeld-Schiller, with an introductory biographical note by the editor. In: The Mask 1909/1910, Vol. 2.
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ergänzt vom Theaterinstitut in Warschau". Diese Quelle würde ich in erster Linie dem Leser, der nach k u r z e n gründlichen Sachauskünften sucht, empfehlen. Hier nennt man die wichtigsten Ereignisse aus der Frühgeschichte des polnischen Theaters (die erste Tragödie in polnischer Sprache von Kochanowski, das Hof- und Schloßtheater im 17. und 18. Jahrhundert), weiter bespricht man die Gründung des Nationaltheaters in Warschau im Jahre 1765 und die Verdienste des „Vaters der polnischen Bühne", Wojciech Boguslawski. Es werden die bedeutendsten romantischen Dramatiker mit Mickiewicz an ihrer Spitze erwähnt, die berühmtesten Schauspieler des 19. Jahrhunderts (Bogumil Dawison, Helena Modrzejewska, Alojzy Zóikowski) sowie der erste prächtige Theaterbau in Warschau, Teatr Wielki (Großes Theater), das mit seiner grandiosen klassizistischen Fassade von Corazzi im Jahre 1833 eröffnet wurde. Im Atlantisbuch des Theaters findet der Leser ferner Hinweise auf die neue Epoche in der polnischen Schauspielkunst und Regie, welche im Krakauer Theater um die Jahrhundertwende begann, zudem auf die Tätigkeit der wichtigsten Theaterpersönlichkeiten in der Zwischenkriegszeit, u.a. den Schauspieler und Gründer des Ensembles Reduta, Juliusz Osterwa, den Regisseur des Monumentaltheaters Leon Schiller, den Schauspieler und Theaterpädagogen Aleksander Zelwerowicz, die Theaterdirektoren Arnold Szyfman und Wilam Horzyca. Schließlich werden auch Haupttendenzen in der Entwicklung des polnischen Theaters nach dem Zweiten Weltkrieg erwähnt. Das ganze 'polnische' Kapitel im besprochenen Werk ist keineswegs sehr umfangreich, es zählt knapp acht Seiten, aber es sind hier alle Stichwörter enthalten, die nötig sind, um ein klares Bild der polnischen Theatergeschichte zu formen.
3. Theaterlexika bilden die größte Gruppe von Quellen zum Welttheater auf dem deutschen Markt. In den Regalen einer guten Bibliothek kann man mindestens sechs solcher Nachschlagewerke finden.13 Die polnische Theaterwis13
Chronologisch: Karl Gröning, Werner Kließ: Friedrichs Theaterlexikon. Hrsg. von Hennig Rischbieter. Velber 1969; Christoph Trilse, Klaus Hammer, Rolf Kabel: Theaterlexikon. Berlin 1978 (2. neubearbeitete Ausgabe 1995); Theater-Lexikon. Hrsg. von Hennig Rischbieter. Zürich-Schwäbisch Hall 1983; Manfred Brauneck, Gérard Schneilin (Hrsg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Reinbek 1986 (3. vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 1992); Lothar Schwab, Richard Weber: Theaterlexikon. Kompaktwissen ßtr Schüler und junge Erwachsene.
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senschaft kann diese Vielfalt nur beneiden, weil sie bis heute nur über ein Lexikon Sìownik wspötczesnego teatru von Malgorzata Semil und Elzbieta Wysinska (1980; 2. erweiterte Ausgabe 1991) verfugt. Die Reichweite, der Umfang und die Art der Bearbeitung der Stichwörter sind in den deutschen Lexika verschieden - ich werde mich hier nicht damit beschäftigen - , die Mehrheit dieser Bände konzentriert sich jedoch auf das Theater des 20. Jahrhunderts. Sie weisen in der Regel gemischte Einträge auf, Personennamen und Sachstichwörter sind gemeinsam alphabetisch geordnet. In Friedrichs Theaterlexikon, im Theater-Lexikon Rischbieters und im Theaterlexikon Suchers (Bd. 2) finden wir auch nationenbezogene Stichwörter, also z.B. „Polen" oder „Polnisches Theater", mit den meistens richtigen grundsätzlichen historischen Daten und Entwicklungstendenzen der polnischen Bühnen. Das Theaterlexikon, hrsg. von Trilse, Hammer, Kabel, bringt ausnahmsweise viele Personenstichwörter (es ist überhaupt das umfangreichste): es sind 69, darunter Schauspieler, Dramatiker, Regisseure und Bühnenbildner, von Wojciech Boguslawski bis Daniel Olbrychski. Diese große Zahl folgt aus der Motivation des Ost-Berliner Herausgebers, der das Ziel hatte, dem Theater der damals (es war 1978) sozialistischen Länder den größten Raum zu geben. Autor der polnischen Stichwörter - und, wie ich vermute, auch ihrer Auswahl - war Roman Szydlowski. Seine Selektion scheint mir nicht streng zu sein, weil sie sogar Namen mit durchschnittlicher Bedeutung berücksichtigte (z.B. die Schauspielerin Maria Ciesielska oder den Dramatiker Jerzy Jurandot). In der neuen Ausgabe dieses Lexikons (1995) trifft man leider weiterhin Einflüsse des 'sozialistischen Zeitgeistes' und solche Kuriosa, wie zum Beispiel unter dem Stichwort „Wilam Horzyca". Man behauptet hier nämlich, daß er - eine der bedeutendsten polnischen Theaterpersönlichkeiten im 20. Jh., Vertreter des sog. Monumentaltheaters, stark angefeindet während des Stalinismus wegen des mystisch-mysteriösen Stils seiner Inszenierungen und seiner reaktionären, wie es damals hieß, politischen Ansichten - „nach 1945 Grundsteine für die proletarisch-sozialistische Richtung des polnischen Theaters legte" (S. 414)!
Frankfurt/M. 1991; C. Bernd Sucher (Hrsg.): Theaterlexikon. Bd. 1: Autoren, Regisseure, Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner, Kritiker. München 1995; Bd. 2: Epochen, Ensembles, Figuren, Spielformen, Begriffe, Theorien. München 1996. Dem Charakter eines Lexikons kommt auch das Buch von Siegfried Melchinger und Hennig Rischbieter nahe: Welttheater. Bühnen, Autoren, Inszenierungen. Braunschweig 1962 (2. Auflage 1966; 3. völlig neubearbeitete Auflage 1985). Es beschäftigt sich vor allem mit dem Repertoire, mit den Dramatikern und Inszenierungen der bedeutendsten Stücke. Das polnische Theater - im literarischen Sinne - ist dort von S. I. Witkiewicz, W. Gombrowicz und S. Mrozek vertreten.
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Im Theaterlexikon von Schwab und Weber sieht die Präsenz Polens ganz anders aus, was sich aus seinem sehr populären Charakter erklärt („Kompaktwissen für Schüler und junge Erwachsene"). Es gibt hier überhaupt wenige Personenstichwörter, weil die Autoren nur Personen, „die als Theoretiker für die Entwicklung des europäischen Theaters wegweisend waren oder deren praktische Arbeit stilbildend wirkte" berücksichtigt haben. Man findet hier also nur einen polnischen Namen: Jerzy Grotowski. Selbst Kantor fehlt. In den weiteren Lexika sind die Zahlenverhältnisse verschieden: bei Friedrich findet man 16 Einträge, bei Rischbieter 25, bei Schwab/Weber 13, meistens Regisseure und Dramatiker. Bei Friedrich und Rischbieter treten auch zwei Schauspieler auf, aber nur deswegen, weil sie mehr im Ausland als in Polen spielten und dort berühmt geworden sind. Es handelt sich um Bogumil Dawison und Helena Modrzejewska (in den Vereinigten Staaten als Modjeska bekannt). In anderen Fällen erwies sich die Sprachbarriere als unüberwindliches Hindernis. Die Mehrzahl der polnischen Namen wiederholt sich. In allen oben genannten Lexika haben wir also: Axer, Dejmek, Grotowski, Kantor, Kruczkowski,14 Mrozek, Rózewicz, Witkiewicz; bei Friedrich und Rischbieter zusätzlich: Boguslawski, Slowacki, Krasmski, Dawison, Modrzejewska, Zapolska, Wyspianski, Schiller (Leon); nur bei Rischbieter und Schwab/Weber: Gombrowicz, Jarocki, Kott, Swinarski, Wajda; nur bei Rischbieter: Mickiewicz, Fredro, Szajna, Holoubek, Tomaszewski. Was folgt daraus? Vor allem dies: eine Willkür, Subjektivismus und - last but not least Armut an Quellen, was u.a. die Bibliographie im Anhang zu den jeweiligen Stichwörtern beweist. Diese Namen bilden zusammen kein Gesamtbild des polnischen Theaters. Daten, Titel, Bühnen, die die Biographien füllen, ergeben noch keinen Einblick in die tatsächliche Bedeutung der konkreten Persönlichkeit oder in den Charakter der jeweiligen Arbeit. Trockene Tatsachen - das ist übrigens ein Nachteil aller Nachschlagewerke, wenn diese als einzige Wissensquelle gelten. Eine positive Ausnahme bildet hier das neuste Lexikon von Sucher: „Zu Recht erwarten die Benutzer" - behauptet der Herausgeber - „nicht nur Daten, Fakten, sondern auch Einordnungen, Bewertungen." 15 Als solche Bewertungen dienen in den meisten Stichwörtern Zitate aus deutschen Pressestimmen und Kritiken. Diese Lösung finde ich ganz gut, sie belebt Papierdaten und macht einzelne Biographien plastisch. 14
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Das Geheimnis der Popularität Kruczkowskis in Deutschland ist leicht zu erklären. Seine Niemcy (Die Sonnenbrucks) wurden auf fast allen Bühnen der DDR gespielt (1949-1952: 40 Inszenierungen) und gaben Anlaß zu vielen Diskussionen. Vergleichbaren Bühnenerfolg wird im Westen erst Mrozek wieder erreichen. C. Bernd Sucher: Theaterlexikon (Anm. 13). Bd. 1. S. 7.
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Es gibt kein Nachschlagewerk, das nicht verbessert werden könnte. So ist es auch mit den besprochenen Lexika. Grobe Fehler unterlaufen, wie etwa die folgenden: daß Witkiewicz als Offizier der geschlagenen polnischen Armee Selbstmord beging (in Friedrichs Lexikon), daß Szajnas Bühnenwerk Replika die Inszenierung eines Dramas von Witkiewicz sei, daß Wyspianski ein Politiker war, daß die Totenfeier (Dziady) im Jahre 1898 (statt 1901) ihre Uraufführung hatte, daß Grotowski in China studierte u.a. (alle Belege in Rischbieters Lexikon). Häufig treten Fehler bei Daten auf, bei Bühnennamen, Bildern (besonders oft in Rischbieters Lexikon, in dem die für polnische Kenner unsachgemäß anmutende Zusammenfassung des berühmten Dramas Dziady von Mickiewicz in der numerischen Reihenfolge von Teil I. bis IV. erfolgt).16 Und die Rechtschreibung der polnischen Namen und Titel ist ein Kapitel für sich ... Die Lektüre der Sachstichwörter kann dem Leser mehr Vorteile bringen. Zwei der besprochenen Lexika (Brauneck/Schneilin und Sucher, Bd. 2) enthalten nur solche Stichwörter. Beide konzentrieren sich nicht nur auf das 20. Jh., sondern streben nach einer umfassenden Darstellung. In der Länderübersicht des Theaterlexikons von Brauneck und Schneilin finden wir unter „Polen" die folgenden 15 Verweise: Armes Theater, Centrum Sztuki 'Studio', Cricot, Cricot 2, Jiddisches Theater, Reduta, Studententheater, Teatr Dramatyczny, Teatr im. J. Slowackiego, Teatr Narodowy, Teatr Nowy, Teatr Polski, Teatr Rapsodyczny, Teatr Stary, Teatr Wspólczesny. In Suchers Lexikon gibt es viel weniger: außer der allgemeinen Notiz „Polnisches Theater" nur Cricot, Reduta, Theater-Laboratorium und Für ein armes Theater. Der letzte Eintrag ist aber besonders aufschlußreich. Denn solche Stichwörter - die Titel der wichtigsten Texte zur Theatertheorie, von der Poetik Aristoteles' bis zum Leeren Raum Peter Brooks - sind eine wichtige Neuheit in Theater-Nachschlagewerken. Der Artikel Für ein armes Theater bei Sucher ist gleichzeitig der beste Beitrag unter den 'polnischen' Stichwörtern, da er Grotowskis Theorie sinnvoll zusammenfaßt (einschließlich einer aktuellen Bibliographie). Schlimmer steht es mit dem Stichwort „Theater-Laboratorium", dessen Ende der Autor auf 1975 ansetzt und seine Auflösung im Jahre 1984 dann nicht registriert. Ursache ist wahrscheinlich die veraltete Literatur, die zur Bearbeitung des Stichworts diente.17 16
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Mickiewiczs Dziady gelten, wie bekannt, als Musterbeispiel eines typisch romantischen, fragmentarischen Werkes, dessen Inszenierungen gewöhnlich mit dem II. Teil beginnen; dann folgen die Teile IV. und III., was die Inhaltslogik des Dramas fordert. Die Teile II. und IV. schrieb Mickiewicz 1823, Teil ΙΠ. - 1832. Aus dem I. Teil ist nur ein Fragment erhalten. Der einzige Titel ist hier Das Theater-Laboratorium Grotowskis, von Tadeusz Burzyñski und Zbigniew Osinski, Warschau 1979.
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Fünf Stichworte in Suchers Lexikon zeigen die allgemeine Unzulänglichkeit und geben kein Bild von der wirklichen Gestalt des polnischen Theaters, weder des früheren noch des heutigen. Beschrieben werden zwei Avantgarde-Theater und ein weiteres (Reduta) als Traditionsquelle für Grotowski, nicht genannt hingegen ist die zweite Strömung in der Tradition des polnischen Theaters: das Theater der großen Inszenierung, welches mit dem Teatr im. Bogusiawskiego beginnt. Übergangen wird überhaupt das RepertoireTheater, wobei der Eindruck vermittelt wird, daß auf den traditionellen Bühnen nichts wesentliches geschah. Ungenannt bleiben die berühmten 'plastischen' Inszenierungen von Szajna, und so ergibt sich ein unzutreffendes Resumé: „von den wenigen (!), dem Freien Theater zugehörigen Gruppen ist das seit 1977 existierende, auf Gebräuche der heimischen Volkskultur zurückgreifende Teatr Gardzienice [. . .] bekannt worden."18 Dagegen entwikkelt sich das Freie Theater in Polen seit über 30 Jahren sehr intensiv; auf den bekanntesten Festivals - früher in Nancy, später in Amsterdam und Edinburgh - spielen polnische Ensembles stets eine wichtige Rolle und erhalten bedeutende Preise. Im Gegensatz zu Sucher beschreibt Braunecks Lexikon die Tätigkeit freier Gruppen, vor allem die vom Studententheater abstammenden, ausfuhrlich und bemerkt mit Recht, daß Freies- bzw. Studententheater das parameter der gesellschaftlichen Stimmung" in Polen war und „die Rolle einer dritten Kraft in der polnischen Kultur"19 spielte. Wenn man die ausgewogensten allgemeinen Informationen über polnisches Gegenwartstheater sucht, so würde ich auf Braunecks Lexikon hinweisen, weil es aufgrund seiner Auswahl richtige Verhältnisse zwischen verschiedenen Typen der polnischen Bühnen aufzeigt. Es ist nur bedauerlich, daß in der angebüch „3. vollständig überarbeiteten Neuausgabe" keine neuen polnischen Stichwörter (mindestens z.B. Gardzienice) hinzukommen. Als umfangreichste Quelle für biographische Daten wäre natürlich das Theaterlexikon von Trilse zu nennen.
4. An internationaler Theatertheorie sind deutsche Autoren weniger interessiert als an Theatergeschichte. Außer Dissertationen und anderen rein wissenschaftlichen Schriften, die sich vorwiegend der Entwicklung der Theorie bei 18 19
C. Bernd Sucher: Theaterlexikon (Anm. 13). Bd. 2. S. 341. Manfred Brauneck, Gérard Schneilin: Theaterlexikon (Anm. 13), S. 887-889. Die Mehrzahl der polnischen Stichwörter bearbeitete hier Slawomir Tryc.
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den deutschen Dramatikern und Theaterleuten widmen, liegen drei bemerkenswerte Anthologien vor: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle von Manfred Brauneck (Reinbek 1982), Texte zur Theorie des Theaters, herausgeben und kommentiert von Klaus Lazarowicz und Christopher Balme (Stuttgart 1991) und die Studiensammlung Von Craig bis Brecht von Joachim Fiebach (Berlin 1975). In allen Fällen wird Polen von einem Namen vertreten: Jerzy Grotowski. Brauneck druckt das Fragment Für ein armes Theater in Kapitel Theater der Erfahrung - Freies Theater nach, und Lazarowicz Methodische Erforschung im Kapitel Schauspielkunst.20 Fiebach charakterisiert grob in einem Abschnitt seiner Monographie Grotowskis Methode, indem er sich auf einige Beiträge aus amerikanischen Zeitschriften und Texte aus dem Armen Theater stützt. Bei dieser Gelegenheit beschreibt er fälschlicherweise Bühnenbild und Requisiten zu Akropolis als gehörten sie zu Apocalypsis cum flguris. Noch einmal bestätigt es sich jedoch, daß in der ausländischen Optik Grotowski als einziger Pole erscheint, der einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Welttheaters geleistet hat.
5. Hier sind nun noch einige Übersetzungen aus dem Polnischen zu erwähnen, die von polnischen Verlagen für deutsche Leser veröffentlicht wurden. 21 Selbstverständlich werden sie hier nicht besprochen. Es ist nur zu bemerken, daß die Rezeption dieser Werke in Deutschland leider begrenzt ist. Die Ursache liegt hier vor allem im mangelhaften Vertrieb dieser Bücher, die als Propagandamaterialien der polnischen Verlage bzw. Behörden galten und als solche nicht über Buchhandlungen zu erwerben waren, sondern von den polnischen Kulturinstituten, Konsulaten und während polnischer Kulturver20
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Erstaunlich, daß Grotowskis Texte in einem anderen Kapitel - Paratheater - dieser Anthologie fehlen. Vgl. dazu: August Grodzicki: Zehn Jahre Volkspolen. Theater. Warschau 1955; Edward Csató: Das zeitgenössische polnische Theater. Warschau 1968; Roman Szydlowski: Das Theater in Polen. Warschau 1972; Witold Filier: Zeitgenössisches polnisches Theater. Warschau 1977; Andrzej Hausbrandt: Das Pantomimentheater Tomaszewskis. Warschau 1975; Tadeusz Burzyúski, Zbigniew Osiiiski: Das Theater-Laboratorium Grotowskis. Warschau 1979; August Grodzicki: Regisseure des polnischen Theaters. Warschau 1979.
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anstaltungen (Gastspiele, Buchmessen u.ä.) verteilt wurden. Unter den genannten Titeln (s.u. Anm. 21) finden sich jedoch keine Werbeschriften, sondern u.a. wertvolle, reich illustrierte Monographien des bekannten Pantomimentheaters Tomaszewskis, des Laboratorium-Theaters Grotowskis und eine Sammlung von Essays über Regisseure des polnischen Gegenwartstheaters. Es ist zu bedauern, daß nur wenige deutsche Bibliotheken über diese Werke - aus den oben genannten Gründen - verfugen. Zuletzt wäre noch eine besondere, nämlich die einzige allgemeine Monographie eines deutschen Verfassers über polnisches Theater vorzustellen: Das polnische Theater nach dem zweiten Weltkrieg von Karl Hartmann (Marburg 1964). Es ist dies eine kompetente, auf polnische Quellen gestützte Arbeit, welche die Theaterkultur in Polen in den Jahren 1944-1962 bespricht. Sie ist leider heute schon sehr alt, und deshalb handelt sie eigentlich nur vom Wiederaufbau des Theaterlebens nach dem Zweiten Weltkrieg, dem sozialistischen Realismus auf den Bühnen, dem 'Tauwetter' und neueren Bühnen nach dem Oktober des Jahres 1956. Es ist zu unterstreichen, daß es im Moment des Erscheinens dieser Monographie in Polen noch keine vergleichbare Arbeit gab. Erst vier Jahre später wurde Zycie teatralne w Polsce 1944-1964 von Stanislaw Marczak-Oborski veröffentlicht.
6. Kehren wir nun zuletzt zu den am Anfang dieses Beitrags gestellten Fragen zurück. Wie vorauszusehen war, betrachten deutsche Autoren das polnische Theater durch das Prisma der Gegenwart, wobei die Tätigkeit von Grotowski und Kantor größtes Interesse erweckt - also das, was das Europäische und nicht das spezifisch Polnische betrifft. Das ist verständlich. Es werden aber historische Persönlichkeiten, wie Stanislaw Wyspianski und Leon Schiller, oder Bühnen, wie das Teatr imienia Boguslawskiego (Boguslawski-Theater) in den 1920er Jahren und das Theater in Lvov (Lemberg) in den 1930er Jahren zu wenig bzw. überhaupt nicht berücksichtigt. Wyspiañski gilt mittlerweile als der wahre 'Theaterkünstler' (im Craigschen Sinne), d.h. Dramatiker, Maler, Bühnenbildner, Regisseur und Theaterideologe in einer Person magnus parens der modernen Theaterreform in Polen, der - wie Richard Wagner, Adolphe Appia oder Edward Gordon Craig - das Theater als Gesamtkunstwerk gesehen hat und gegen den Naturalismus auf der Bühne kämpfte. Von seinem Theaterverständnis gibt auch u.a. ein poetischer Text Zeugnis:
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Ich seh' mein Theater: gewaltig, im Äther, in riesigen Räumen voll Menschen und Schatten und Träumen, sie spielen von mir - vielgestaltig. Ihre Kunst ist ja nichts als die meine, ich hör' ihre Chormelodien, wie sie schwellen zu Sturmsymphonien, mit Donner und Blitz im Vereine.22
Diese Verse Wyspianskis gehörten zu den Lieblingszitaten von Leon Schiller, der als einer der moderasten damaligen Regisseure im Teatr im. Boguslawskiego in Warschau, in den Jahren 1924-1926, die Grundlagen für die Kunst der großen Inszenierung legte. Zwei Warschauer Theater galten nämlich in den 1920er Jahren als Hauptbühnen in Polen: die Reduta, die sich um die Entwicklung der Schauspielkunst verdient machte, und das Teatr imienia Boguslawskiego, mit seinen Regieexperimenten und interessanten architektonischen Bühnenbildern. Die Funktion des Zentrums der wichtigsten Theaterereignisse übernahm in den 1930er Jahren das Theater in Lvov, das unter der Leitung von Wilam Horzyca ein sehr interessantes, vor allem romantisches und neoromantisches Repertoire pflegte. Was aus der polnischen Theatergeschichte herauszuheben und in Europa zu verbreiten wäre, kann man zum Beispiel dem synthetischen, auf polnische Quellen gestützten Beitrag über Polen im Atlantisbuch des Theaters entnehmen. Die dort erwähnten und grob charakterisierten Geschehnisse aus dem polnischen Theaterleben wurden schon oben genannt. Sie können auch als Verzeichnis der wichtigsten Fakten und Daten gelten, die - aus polnischer Sicht - für ein Gesamtbild des polnischen Theaters unerläßlich wären. Diesem Zwecke sollten auch, wie ich hoffe, meine Anmerkungen am Rande der Besprechung der einzelnen Werke dienen. Abschließend ist noch einmal festzuhalten, daß die polnische 'Literatur' einschließlich der Dramatik in Deutschland präsenter und viel besser bekannt ist - dies vor allem dank der mehljährigen Arbeit der deutschen Polonisten und Übersetzer - als das 'Theater': Bühnenwerke und Bühnenkünstler. Das Bild vom polnischen Theater ist zwar keine terra incognita, aber es hat einige Mängel, stellenweise undeutliche Konturen und unklare Farben.
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Die Übersetzung dieses auf Deutsch bislang noch nicht veröffentlichten Gedichtes stammt von Hans-Peter Hoelscher-Obermaier.
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Literaturverzeichnis Berthold, Margot: Weltgeschichte des Theaters. Stuttgart 1968. Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek 1982. - Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Bd. 1, 2. Stuttgart-Weimar 1993, 1996. Brauneck, Manfred und Schneilin, Gérard: Theaterlexikon. Begriffe und Epochen. Bühnen und Ensembles. Reinbek 1986 (3. überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 1992). Csató, Edward: Das zeitgenössische polnische Theater. Warschau 1968. Burzyñski, Tadeusz und Osiriski, Zbigniew: Das Theater-Laboratorium Grotowskis. Warschau 1979. Doli, Hans Peter und Erken, Günther: Theater. Eine illustrierte Geschichte des Schauspiels. Stuttgart-Zürich 1985. Fiebach, Joachim: Von Craig bis Brecht. Studien zu Künstlertheorien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Berlin 1975. Filier, Witold: Zeitgenössisches polnisches Theater. Warschau 1977. Frenzel, Herbert A : Geschichte des Theaters. Daten und Dokumente 1470-1840. München 1979. Grimm, Reinhold; Jäggi, Willy; Oesch, Hans (Hrsg.): Theater unserer Zeit. Bd. 6: Theater hinter dem 'Eisemen Vorhang'. Basel-Hamburg-Wien 1964. Gröning, Karl und Kließ, Werner: Friedrichs Theaterlexikon. Hrsg. von Hennig Rischbieter. Velber 1969. Grodzicki, August: Regisseure des polnischen Theaters. Warschau 1979. -Zehn Jahre Volkspolen. Theater. Warschau 1955. Gronemeyer, Andrea: Theater. Schnellkurs. Köln 1995. Hartmann, Karl: Das polnische Theater nach dem Zweiten Weltkrieg. Marburg 1964. Hausbrandt, Andrzej: Das Pantomimentheater Tomaszewskis. Warschau 1975. Hürlimann, Martin (Hrsg.): Das Atlantisbuch des Theaters. Zürich-Freiburg 1966. Kesting, Marianne: Panorama des zeitgenössischen Theaters. 58 literarische Porträts. Revid. und erweit. Neuausg. München 1969. Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas. Bd. 1-10. Salzburg 1957-1974. Klossowicz, Jan: Tadeusz Kantors Theater. Tübingen-Basel 1995. Kunstmann, Heinrich: Moderne polnische Dramatik. Köln-Graz 1965. Lazarowicz, Klaus und Balme, Christopher (Hrsg.): Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart 1991. Melchinger, Siegfried: Modernes Welttheater. Bremen 1956. - Theater der Gegenwart. Frankfurt/M. 1956. Melchinger, Siegfried und Rischbieter, Henning (Hrsg.): Welttheater. Bühnen, Autoren, Inszenierungen. Braunschweig 1962. (3. völlig neubearbearbeitete Auflage, hrsg. von H. Rischbieter und J. Berg, 1985). Rischbieter, Henning (Hrsg.): Bühne und bildende Kunst im XX. Jahrhundert. Maler und Bildhauer arbeiten für das Theater. Velber 1968. - Theater-Lexikon. Zürich-Schwäbisch Hall 1983. Scholze, Dietrich: Zwischen Vergnügen und Schock. Polnische Dramatik im 20. Jahrhundert. Berlin 1989.
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Schwab, Lothar und Weber Richard: Theaterlexikon. Kompaktwissen für Schüler und junge Erwachsene. Frankfurt/M. 1991. Schwarz, Helmut: Regie. Idee und Praxis moderner Theaterarbeit. Ein Leitfaden. Bremen 1965. Schwerin von Krosigk, Barbara: Der nackte Schauspieler. Die Entwicklung der Schauspieltheorie Jerzy Grotowskis. Berlin 1985. Sucher, C. Bernd (Hrsg.): Theaterlexikon. Bd. 1: Autoren, Regisseure, Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner, Kritiker. München 1995; Bd. 2: Epochen, Ensembles, Figuren, Spielformen, Begriffe, Theorien. München 1996. Trilse, Christoph; Hammer, Klaus; Kabel, Rolf: Theaterlexikon. Berlin 1978. (2. neubearbeitete Ausgabe: Lexikon Theater International. Berlin 1995).
Brigitte Schultze
Rezeptionsblockaden des deutschsprachigen Theaters für Mickiewicz, Krasmski, Slowacki und Wyspiañski
I Es mag irritieren, daß hier die drei kanonischen Dramenautoren der polnischen Hochromantik Mickiewicz, Krasmski und Slowacki und der 'Allround-Künstler' des Fin de siècle, Wyspiañski, in „polnisch-deutschen Theaterbeziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg" vorkommen. Für diese Themenwahl gibt es gute Gründe: Das text- und bildgestützte polnische Drama besitzt seit der Hochromantik und bis in die 70er/80er Jahre eine - möglicherweise in ganz Europa singulare - innere Kohärenz.1 Über rede- und bildgestützte intertextuelle Einlagerungen, die sowohl auf nationale, polnische, als auch auf kanonische Texte anderer Länder und auf transkulturelle Tradierungen Bezug nehmen, entsteht ein 'Makrodiskurs', an dem - neben und nach Wyspiañski - sowohl die bedeutendsten Dramatiker des 20. Jahrhunderts wie Witkiewicz, Gombrowicz, Rózewicz und Mrozek teilhaben als auch aus heutiger Sicht eher zweitrangige Autoren, wie etwa Rostworowski, Bryll und andere.2 Mickiewiczs Dziady (Ahnenfeier), Krasmskis Nie-Boska komedia (Ungöttliche Komödie), Stowackis Kordicm und Wyspiañskis Wesele (Die Hochzeit) sind also in einer Reihe polnischer Dramen, die auf deutschsprachigen Bühnen inszeniert werden, s e k u n d ä r zu rezipieren. Daher interessiert die Frage, ob und in welcher Weise deutschsprachige Theaterbesucher das sinnstiftende Angebot der Text- und Bildzitate - die Horizontale und Vertikale, das Tableau, den 'danse macabre' in seinen Metamorphosen, das Kreuzeszeichen u.a.m., wie auch die vielen intertextuellen Referenzen - aufnehmen können. Die Frage lautet somit: Hat es einen Kultur1
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Brigitte Schultze: Polnisches Drama im 19. und 20. Jahrhundert: Traditionsbildung im nationalen und transkulturellen Kontext. In: Forum Modernes Theater 8, 1993/1, S. 28—42. Brigitte Schultze: Das kanonische Bühnenwerk bleibt Lektüre. Mickiewiczs Dziady (.Ahnenfeier) im polnisch-deutschen Kulturtransfer. In: Komödie und Tragödie - übersetzt und bearbeitet. Hrsg. von Ulrike Jekutsch u.a. Tübingen 1994 (Forum Modernes Theater. Schriftenreihe 16), S. 369^103, hier S. 370.
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transfer gegeben, durch den deutschsprachige Rezipienten hörend und schauend auf diese spezifisch polnische Dramen- und Theatertradition eingestellt wären?3 Vorausgreifend ist dies zu sagen: Eine solche Vorbereitung auf die polnischen Codes, die polnische Intertextualität in den Stücken von Witkacy, Mrozek, Rózewicz u.a. gibt es nicht. Vielmehr läßt sich von einer w e i t g e h e n d e n Rezeptionsblockade sprechen: Mickiewiczs Dziady und Siowackis Kordicm sind kein einziges Mal auf einer deutschsprachigen Bühne inszeniert worden; für Krasiñskis Nie-Boska komedia gab es e i n e n günstigen historischen und theatergeschichtlichen Augenblick, nämlich die 1920er und 1930er Jahre, in denen mehrere Inszenierungen stattfanden; Wyspiañskis Wesele {Die Hochzeit) wurde nach einer wechselvollen Übersetzungsgeschichte erstmals 1992 auf den Salzburger Festspielen aufgeführt, Noe listopadowa (Novembernacht) erlebte eine deutschsprachige Inszenierung in Weimar (die einer in Berlin gezeigten polnischen Inszenierung von Wajda nachgestaltet war), und von Wyzwolenie (Die Befreiung) gibt es nicht einmal eine deutsche Übersetzung. Diese Rezeptionsblockade und deren mögliche Ursachen sollen im ersten Teil dieses Berichts dargestellt werden. In einem zweiten Teil wird dann an einem Fallbeispiel, Mrozeks Tango, untersucht, wie mit einigen Text- und Bildzitaten und weiteren Markierungen auf deutschsprachigen Bühnen umgegangen wurde und wird. Dieses Stück erscheint aus einer Reihe von Gründen als besonders geeignetes Fallbeispiel: Tango ist intertextuell sowohl in der polnischen Tradition (Hochromantik, Jungpolen) als auch gesamteuropäisch (Hamlet, Bibel) verortet; das Stück ist besonders häufig gespielt worden und gehört von daher zu den bekanntesten polnischen Bühnenwerken, nicht allein im deutschsprachigen Raum. Für diesen Kulturtransfer steht allein Ludwig Zimmerers engagierte, jedoch etwas eilig erstellte Wiedergabe zur Verfugung. Da die Auffuhrungsgeschichte von Tango auf deutschsprachigen Bühnen und die Einschätzung dieses Stückes bei vielen Kritikern hierzulande durch die Übersetzung mitbegründet ist, soll diese Arbeitsgrundlage für Theaterleute knapp charakterisiert werden. Die Beobachtungen beziehen sich vor allem auf vier Inszenierungen: eine Inszenierung des Deutschen Theaters in Göttingen aus der Spielzeit 1966/67 sowie eine erneute Aufnahme aus der Spielzeit 1994/95, eine Einstudierung am Düsseldorfer Schauspielhaus durch Erwin Axer - zeitgleich mit der ersten Göttinger Inszenierung, d.h. von 1966, und schließlich auf den Tango, den Konstanze Lauterbach im Februar 1996 am Burgtheater herausgebracht hat. Von allen Aufführungen haben die 3
Harald Xander: Ikonen, Mysterien, Totentänze: Traditionsbildung in der szenischen Praxis des polnischen Theaters. In: Forum Modernes Theater 8, 1993/1, S. 57-74.
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Regiebücher, teilweise auch Szenenfotos vorgelegen.4 An der Düsseldorfer Inszenierung interessiert besonders, wie Axer mit denjenigen polnischen intertextuellen Referenzen umgeht, die in Zimmerers Übersetzung identifiziert werden können. Der Bericht soll mit einigen Überlegungen zu der Möglichkeit, Rezeptionslücken in späteren Theaterphasen zu beheben, schließen.
II Hier sei zunächst der Frage nachgegangen, unter welchen Bedingungen fremdsprachige, fremdkulturelle Dramen die Chance haben, auf zielseitigen Bühnen inszeniert, vielleicht sogar dauerhaft ins Repertoire aufgenommen zu werden. In der Theatergeschichte werden insbesondere zwei Begründungszusammenhänge deutlich: 1. Ein ausländisches Bühnenwerk wird übersetzt und gespielt, weil es angesichts eines gesteigerten Bedarfs an neuen Stücken - das Repertoire auffiillen kann; man denke an den Export französischer Boulevardkomödien im 19. Jahrhundert. 2. Ein fremdsprachiges Stück wird übersetzt und gespielt, weil es einem zeitgleichen - aktuellen Bühnenrepertoire der Zielkultur hinlänglich ähnlich ist, zumindest aber ähnlich zu sein scheint; in diesem Sinne profitierten die tschechischen Modelldramen Havels, Kohouts und Klimas, auch die Dramen Mrozeks von der wachsenden Vertrautheit des Publikums mit Stücken Ionescos, Becketts u.a. Dieser Bedingungsrahmen ist für die polnischen poetischen Dramen nicht gegeben. Gemäß vergleichenden Fallstudien zum übersetzerischen und szenischen Transfer fremdsprachiger Dramen5 in Deutschland, Österreich und der Schweiz - sowie in Übereinstimmung mit wiederholt geäußerter Forschermeinung - können außer den häufig beobachteten Konstellationen auch ganz spezifische Ursachen begünstigend wirken: 1. Das Vorhandensein einer universell gerichteten Problemstellung oder auch eine modellhaft, parabelhaft formulierte Problemkonstellation. 4
5
Bei dem deutschen Theater Göttingen, dem Düsseldorfer Schauspielhaus und dem Burgtheater in Wien bedanke ich mich für die Überlassung der Soufflierexemplare bzw. von Kopien der Soufflierexemplare sowie weiterer Materialien für das vorliegende Arbeitsvorhaben. Die Fallstudien sind zum einen im Sonderforschungsbereich „Die literarische Übersetzung" (SFB 309, 1985-1996) in Göttingen, zum anderen in Projektseminaren der Mainzer Slavistik entstanden.
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2. Ein Angebot zur zielseitigen Aktualisierung im Sinne des 'tua res agitur'. 3. Die Vermittlung des Fremden, Andersartigen. Dabei ist eine gesteigerte Rezeptionsbereitschaft für Fremdheitsphänomene von besonderen historischen und anderen Rahmenbedingungen abhängig. Bekanntlich gibt es Epochenkontexte, die für Fremdheit aufgeschlossener sind und waren, wie die Romantik und das Fin de siècle, und Epochenkontexte, die sich geradezu gegen Fremdheit sperrten, wie etwa der Historismus. Andersartigkeit im Sinne des Exotischen führt zumeist nur zu einer peripheren Aufnahme, nicht aber zur dauerhaften Etablierung im Bühnenrepertoire. Fremdheit kann dabei, das zeigt gerade der polnisch-deutsche Transfer, auch eine entscheidende Ursache für Rezeptionsblockaden sein. 4. Die Verwendbarkeit zur Schließung von 'Systemlücken'. Für diesen Motivationszusammenhang kennt die Theatergeschichte bedeutsame Beispiele wie die Shakespeare-Rezeption und die Annahme von Elementen der commedia dell'arte-Tradition in vielen Ländern Europas und weniger bekannte wie z.B. die Rolle von Kantors und Grotowskis Theater bei der „Emanzipierung des englischen Theaters von seinen Traditionen der Textbezogenheit"6. 5. Angebote für die aktuelle zielseitige Theaterpraxis. Hierzu zählen Vorschläge für einen kreativen Einsatz theatraler Zeichensysteme, Vorschläge zur Reduktion und Komplexion des Zeicheninventars u.a.m.7 Den hier genannten begünstigenden Faktoren wären sicher weitere hinzuzufügen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Positionen sind ohnehin recht fließend. Es sind auch wenigstens drei Faktoren zu nennen, die neben ausgeprägter Fremdheit rezeptionserschwerend wirken können: 1. die Art und Weise des übersetzerischen Transfers, 2. - und dies gilt vor allem für Bühnenübersetzungen und -bearbeitungen des 19. Jahrhunderts, teilweise noch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - ein Textaufbau, bei dem ein erkennbarer Handlungsnexus fehlt, paradigmatische Strukturen überwiegen o.ä., und 3. eine Dramenübersetzung in Versform. Bei den beiden zuletzt genannten Aspekten kommen Traditionen und Konventionen der deutschen Bühnenpraxis ins Spiel. Dies sei etwas mehr ausgeführt: 1. Nach historisch-vergleichenden Übersetzungsanalysen und der Einsicht in Regiebücher, die auf der Grundlage vollständiger Stückwiedergaben erstellt wurden, läßt sich sagen, daß mangelnde Genauigkeit, ein Nichtbeachten 6
7
Hierzu berichtete Richard Gough vom Centre for Performance Research in Cardiff: „The Influence of Polish Theatre in England" (Polish Drama Conference, 8 . 1 0 9.10.1993, Norwich). Vgl. Brigitte Schultze: Das kanonische Biihnenvrerk (Anm. 2), S. 373f.
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der situativen Kontexte - z.B., indem redundante Explikationen hinzugefügt werden - oder andere Schwächen einer Stückwiedergabe nur selten ein grundlegendes Hindernis für die Inszenierung einer Übersetzung darstellen. Wenn Übersetzer Ellipsen tilgen, Inversionen in eine unauffällige Wortfolge auflösen, markierte Lexik in unmarkierte umwandeln, so stellen Theaterleute zumeist in der Regiepartitur die Merkmale spontaner mündlicher Rede wieder her - und zwar da, wo es ihnen angebracht erscheint. Selbstverständlich gibt es auch Dramenübersetzungen, die nachdrücklich für den Lektürekanon, nicht aber fur eine szenische Umsetzung gedacht sind. Manche solcher Stückwiedergaben, in denen narrative Texturen (z.B. eine unmarkierte, geschlossene Syntax) dominieren, haben niemals das Medium der Lektüre verlassen. 2. Analysen von englisch-deutschen, russisch-deutschen, italienisch-deutschen und anderen Dramenübersetzungen des 18. und 19., teilweise auch noch des 20. Jahrhunderts zeigen, daß von Spielvorlagen fur deutsche Bühnen häufig eine syntagmatische Struktur, d.h. ein möglichst geschlossener Handlungsnexus erwartet wird; wenn das Syntagma beeinträchtigt ist, z.B. durch nicht handlungsrelevante Komikanlässe in englischen Komödien oder auch durch Serien von Schemahandlungen, wie in Gogols Tragikomödie Revizor, werden durch bearbeitende Eingriffe Korrekturen am Handlungsnexus vorgenommen; was nicht zum syntagmatischen Kern gehört, wird - so ein oft angewandtes Bearbeitungsverfahren - gestrichen.8 3. Der übersetzerische Umgang mit Versdramen und die Debatten, die solche Vorgänge begleiteten, lassen erkennen, daß die Versform nicht selten als Hindernis für eine Inszenierung gesehen wurde. Wenn Tartuffe9 und andere Verskomödien Molières oder auch Niemcewiczs Powrót posta (Rückkehr des Gesandten)10 in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts als Prosakomödien übersetzt wurden, so hat das selbstverständlich wesentlich
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Vgl. Czennia Bärbel: Deutsche Spiel- und Lesarten von Sheridans School for Scandal aus drei Jahrhunderten. In: Europäische Komödie im übersetzerischen Transfer. Hrsg. von Fritz Paul, Wolfgang Ranke, Brigitte Schultze. Tübingen 1993 (Forum Modernes Theater. Schriftenreihe 11), S. 77-115, hier S. 78, 87f.; Brigitte Schultze: Probleme mit der intrigenlosen Komödie: Gogols Revizor in den frühen deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen. In: ebd., S. 187-239, hier S. 206f., 211-222, 224, 227, 235. Dorothea Kulhnann: Die französische Alexandrinerkomödie in deutschen Übersetzungen (am Beispiel von Moliéres Tartuffe). In: Komödie und Tragödie - übersetzt und bearbeitet (Anm. 2), S. 225-267, bes. S. 226f., 230-232, 235. Brigitte Schultze: Ein Sonderfall im polnisch-deutschen Kulturtransfer: zwei frühe (1792) Übersetzungen von Niemcewiczs Powrót posta (1790). In: IV Polsko-Niemiecka konferencja polonistyczna: Od Oswiecenia ku romantyzmowi. Kultura Polska ok. 1800. Hrsg. von Jakub Lichañski u.a. Warszawa 1996.
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mit der zeitbedingten Bevorzugung der Prosakomödie zu tun; manche Translationsfalle des 19. und 20. Jahrhunderts zeigen jedoch deutlich, daß sich Übersetzer und deutsche Bühnenhäuser mit Versdramen 'schwer tun'. Die hier zusammengetragenen fünf begünstigenden und drei - möglicherweise - beeinträchtigenden Faktoren können als Erklärungshilfe herangezogen werden, wenn im folgenden das Schicksal der zentralen Stücke der polnischen Schlüsseltradition sowie einiger Dramen Wyspianskis auf deutschsprachigen Bühnen betrachtet wird.
III Zunächst geht es um die Stücke der Hochromantik. Mickiewiczs Dziady sind, wie erwähnt, kein einziges Mal auf einer deutschsprachigen Bühne inszeniert worden. Mehr als 35 Fragmentübersetzungen, 11 die teilweise in Gedichtanthologien abgedruckt sind, zeugen davon, daß die Ahnenfeier in der Zielkultur vor allem als große Dichtung und als ein Beitrag zum Lektürekanon rezipiert wurde. 12 Es gibt eine einzige vollständige Versübersetzung von dem Slavisten und Mácha-Übersetzer Walter Schamschula - aus dem Jahre 1991,13 sowie eine nahezu vollständige Versübersetzung von Siegfried Lipiner von 188714 und schließlich eine gekürzte, in den 60er Jahren für das Burgtheater erstellte Prosaübertragung von Gerda Hagenau. 15 Bei den beiden Versübersetzungen ist nicht einmal der Versuch einer Inszenierung unternommen worden. Bei Gerda Hagenaus Prosafassung, die nicht nur durch den Verzicht auf Verse, sondern auch durch Umarbeitung des Stückes in eine Ringform auf zielseitige Sehgewohnheiten eingeht, hat es immerhin ein Auffiihrungsprojekt gegeben. Daß Lipiners - nachdrücklich als Lektüreange11 12
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Brigitte Schultze: Das kanonische Bühnenwerk (Anm. 2), S. 372. So stellt auch Marta Kijowska (Fremder Nachbar? Zur Aufnahme der polnischen Literatur in Deutschland. In: Süddeutsche Zeitung, 27.03.1996, Beilage, S. I) das Drama Die Totenfeier neben die Epopöe Pan Tadeusz („Leser würden sich [...] freuen"). Adam Mickiewicz: Die Ahnenfeier. Ein Poem. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Walter Schamschula. Köln, Weimar, Wien 1991 (Schriften des Komitees der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der Slawischen Studien. Nr. 14). Adam Mickiewicz: Totenfeier. (Dziady). Übersetzt und mit erklärender Einleitung versehen von Siegfried Lipiner. Leipzig 1887. Adam Mickiewicz: Dziady. Totenfeier. Eine dramatische Dichtung in zwei Teilen. In die deutsche Sprache übertragen und für die Bühne bearbeitet von Gerda Hagenau. Theatermanuskript: Proscenium Edition.
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bot ausgewiesene - Übertragung nicht für eine szenische Umsetzung in Frage kam, leuchtet unmittelbar ein: Man denke daran, daß bis 1887 auch in Polen selbst noch keine hinlänglich vollständige Inszenierung dieses Nationaldramas stattgefunden hatte, daß sich die Zeit des Historismus überdies gegenüber kultureller Fremdheit extrem abweisend verhielt und Wiener Bühnen zwar zur Aufnahme polnischer Stücke bereit waren - jedoch nicht der Nationaldramen, sondern der Komödien. Warum dann im 20. Jahrhundert Gerda Hagenaus Projekt, an dem Dejmek - nach dem Eklat anläßlich seiner Dz/arfy-Inszenierung 1968 - mitwirken sollte, gescheitert ist, läßt sich nicht völlig aufklären. Offensichtlich gab es Bedenken wegen des absehbaren Kostenaufwands (die Zahl der in diesem Vorhaben gebundenen Schauspieler); überdies konnten die Wiener Theaterleute wohl nicht vom Rang dieses Stükkes überzeugt werden.16 Walter Schamschulas vollständige Versübersetzung in einer philologisch anspruchsvollen zweisprachigen Ausgabe ist - nach mündlichen Auskünften des Übersetzers selbst17 - in erster Linie als poetischer Text, weniger als Bühnenwerk übertragen worden. So sind Mickiewiczs Dziady im Lektürekanon der deutschsprachigen Länder geblieben. Im Hinblick auf das Medium Theater liegt, wenn man von Lesungen in Theaterhäusern absieht,18 eine vollständige Rezeptionsblockade vor. Zieht man die oben zusammengetragenen Kriterien heran, so sieht das Spektrum möglicher Gründe für die Rezeptionsblockade folgendermaßen aus: Von den rezeptionsbegünstigenden Faktoren entfallen mehrere ganz oder weitgehend. 1. Auch wenn neuere Forschungen, durchaus begründet, das Vorhandensein übernationaler Textraditionen, etwa auch die seit der Moderne aktuelle Thematik der Diskontinuität der Rollenfigur u.a.m. in diesem Text entdekken, läßt sich weder von einer Thematik von universeller Tragweite noch von einem Modelldrama oder Parabelstück sprechen. Bekanntlich hat die polnische Inszenierungstradition eben diejenigen Momente des Sinnangebots exponiert, die zur polnischen Identitätsbestimmung gehören. Diese Exponierung des 'Eigenen' impliziert eine Fremdsetzung anderer Kulturen.19 16 17
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Vgl. Brigitte Schultze: Das kanonische Bühnenwerk (Anm. 2), S. 387. Vgl. ebd., S. 384f., Anmerkung 42. [Die Anmerkungen zu den Fußnoten in diesem Beitrag werden durch Abkürzung 'Anm.' gekennzeichnet, die 'Anmerkungen' in den zitierten Quellen werden dagegen ausgeschrieben.] Vgl. Doris Lemmermeier/Brigitte Schultze (Hrsg.): Polnisch-deutsche Dramenübersetzung 1830-1988. Grundzüge und Bibliographie. Bearbeitet von Doris Lemmermeier, Janusz Mallek, Antje-Susann Gühlke und Brigitte Schultze. Mainz 1990 (Mainzer Slavistische Veröfienüichungen. Nr. 14), S. 85. Vgl. Brigitte Schultze: Das kanonische Bühnenwerk (Anm. 2), S. 398.
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2. Ähnliches gilt für das Kriterium thematischer Aktualität im Sinne des 'tua res agitur'. Weder um die letzte Jahrhundertwende noch danach hätten Theaterbesucher in Berlin, Hamburg oder Wien dem Stück eine solche Aktualität abgewinnen können. Gerade für den protestantischen Norden ist anzunehmen, daß die Signalstrukturen einer sehr traditionsverhafteten katholischen Religiosität als extrem befremdlich aufgenommen worden wären.20 3. Für die spezifische kulturelle - historische, religiöse, gattungspoetische usw. - Fremdheit in den Dziady war möglicherweise die Jahrhundertwende besonders aufgeschlossen, eine Zeit also, in der es noch keine geeignete Spielvorlage gab. Gerda Hagenaus etwa 1968 endgültig fertiggestellte Prosaübersetzung traf dann auf eine internationale Theaterzeit, die insbesondere für transkulturell wirkende Modelldramen und politisch aktuelle Stücke weniger für historische Fremdheit und poetische Codes zurückliegender Zeiträume - aufgeschlossen war.21 4. Es steht außer Frage, daß Mickiewiczs spezifische Realisierung eines poetischen, synkretistischen Dramas und die wesentlich aus ihm hervorgegangene Dramen- und Theatertradition - zumindest teilweise - eine Systemlücke im deutschsprachigen Theater, weniger im Felde des geschriebenen Dramas, markiert: Viele Stücke der deutschen Romantik, wie etwa Achim von Arnims Halle und Jerusalem, sind bekanntlich niemals inszeniert worden. Die Dramen von Zacharias Werner, in denen Berührungspunkte mit den Dziady zu finden sind, haben zwar im 19. Jahrhundert einen kurzfristigen Erfolg erlebt, doch ist keine traditionsstiftende Wirkung von ihnen ausgegangen.22 Auf deutschsprachigen Bühnen wurde anderen Codes der Vorzug gegeben; eventuell empfundene Systemlücken wurden mit Hilfe anderer Quellen abgedeckt.23 5. Für die zeitgenössische Theaterpraxis mit ihrer Aufgeschlossenheit für Verstörungen jeder Art, für Codewechsel und eine dynamische Generierung von Theaterzeichen hielte Mickiewiczs Stück wohl manche Anregungen bereit. Da diese denkbaren Inspirationsquellen jedoch in hochgradig fremdes 'Texttheater' verpackt sind, dürfte es bei der Rezeptionsblockade bleiben. Inspirierend haben eher diejenigen polnischen Theatermacher gewirkt,24 die sich radikal und systemhaft vom tradierten textgestützten Drama gelöst haben: Kantor und Grotowski. 20 21 22
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Ebd., S. 399. Ebd., S. 399f. Auch die 'Wiederentdeckung' von Zacharias Werner auf einem Berliner Theatertreffen (1996) wird kaum dazu beitragen, die Rezeptionsbedingungen fur Mickiewiczs Drama zu ändern. Brigitte Schultze: Das kanonische Bühnenwerk (Anm. 2), S. 400. Ebd.
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Für diejenigen Faktoren, die eine Rezeption beeinträchtigen können, ergibt sich diese Konstellation: 1. Keine der drei bis 1991 geschaffenen Wiedergaben der Dziady ist, so darf vermutet werden, so angelegt, daß sie Theaterleute unmittelbar zur szenischen Arbeit einlädt. Im Kontext der Tradition deutschsprachiger Bühnen ist wohl eine Inszenierung von Gerda Hagenaus auf semantische Genauigkeit bedachter Wiedergabe, der - notwendigerweise - viel von der Musikalität des Ausgangstextes verlorengeht, am ehesten denkbar. 2. Bedenkt man, wie sehr in der deutschsprachigen Bühnentradition Stükken mit einem erkennbaren Handlungsnexus der Vorzug gegeben wurde, so wird deutlich, daß Mickiewiczs Stück solchen Erwartungen besonders fern steht. Erst in großer Distanz zum Entstehungszeitraum, in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, scheinen die Voraussetzungen für die Annahme von radikalem, raschem Codewechsel, eine uneingeschränkte Mischung von Textsorten etc. gegeben zu sein - sicher nicht für jedes Theaterpublikum, aber doch fur diejenigen, die mit Stücken Heiner Müllers, Volker Brauns u.a. umgehen mögen. 3. Die Tatsache, daß Mickiewiczs Ahnenfeier ein Versdrama ist, hat die Bühnenrezeption gewiß nicht erleichtert. Es sei daran erinnert, daß die polnische Prosodie, ähnlich wie die französische, mit ihrer Satzmelodie ein 'Überspielen' des Endreims gestattet, d.h. ein Sprechen in großer Nähe zur natürlichen, zur Prosarede erlaubt. Angesichts der differenten prosodischen Verhältnisse im Deutschen ist es für Schauspieler einer deutschsprachigen Bühne viel schwieriger, Endreime zu 'verstecken'. Bei der Inszenierung einer deutschen Versübersetzung der Dziady hätten sich möglicherweise ähnliche Schwierigkeiten ergeben wie bei der Inszenierung von Wyspiañskis Wesele {Die Hochzeit) auf den Salzburger Festspielen 1992 und 1993 auf der Grundlage der Nachdichtung von Karl Dedecius (s.u.). Bei der Ursachenforschung nach der Rezeptionsblockade deutschsprachiger Bühnen ist schließlich auch dies zu bedenken: Wenn polnische Regisseure (was ja auch selten genug vorkommt) daran gehen, das Nationaldrama zu inszenieren, so können sie darauf vertrauen, daß ihren Rezipienten das schwierige Stück mindestens einmal in der Schule nahegebracht worden ist. Wenn Konrad die Verse seiner Improvisation spricht, stellt sich das Problem des spontanen Hörverstehens insofern nicht, als polnische Theaterbesucher diese Verse kennen. Für das Publikum einer deutschsprachigen Bühne könnte bei manchen Passagen des Stückes ein spontanes Hörverstehen nicht mehr sicherzustellen sein. Eine verstehende Rezeption ist erst bei langsamer, ggf. wiederholter Lektüre, vielleicht unter Zuhilfenahme von Erläuterungen,
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möglich. Mickiewiczs Dziady dürften ein Text für die Lektüre bleiben. Wir haben es mit einer Rezeptionsblockade zu tun, die im Zeichen vielfältiger, offensichtlich nicht zu überwindender, historischer und kultureller Differenz steht. Umgekehrt steht die temporäre Annahme von Krasinskis Nie-Boska ¡comedia im Zeichen von Analogie und Korrespondenz. Dafür, daß die Ungöttliche Komödie im 20. Jahrhundert für etwa 15 Jahre - zwischen 1923 und 1936 - auf mehreren deutschsprachigen Bühnen (in Kattowitz, Bamberg, Gera, Wien)25 erfolgreich aufgeführt wurde, können wiederum mehrere Faktoren des Kriterienkatalogs - diesmal ins Positive gewendet - geltend gemacht werden. Im Hinblick auf diejenigen Momente, die eine Inszenierung begünstigen, ergibt sich folgendes Bild: 1. Im Kontext des expressionistischen Theaters ist Krasiñskis Stationendrama des aus der Menge herausgehobenen, Wandlung und Erlösung suchenden (dabei jedoch wandlungsunfahigen, weil 'herzlosen') Protagonisten ein Modelldrama, eine kanontypische Form.26 2. Für den Zeitraum um 1920 und danach liegt Aktualität im Sinne des 'tua res agitur' vor: Die mit intellektueller Scharfsinnigkeit, Konsequenz und sogar Radikalität behandelte Problematik der sozialen Revolution war höchst aktuell. Die seit der Jahrhundertwende auf der Bühne exponierte Rollen- und Identitätsproblematik ist in der Ungöttlichen Komödie noch deutlicher herausgestellt als in Mickiewiczs Ahnenfeier u.a.m.27 3. Auch wenn davon auszugehen ist, daß weder das Theater des Expressionismus noch das Wiener Burgtheater während Röbbelings Direktion (1932-1937) besonders aufgeschlossen für kulturelle Fremdheit waren,28 so 25
Brigitte Schultze: Vom romantischen zum expressionistischen Drama. Zygmunt Krasiñskis Nie-Boska komedia (Ungöttliche Komödie) in den Bearbeitungen von Otto Zoff und Franz Theodor Csokor. In: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte. Hrsg. von Brigitte Schultze. Berlin 1987 (Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung. Nr. 1), S. 149-177, bes. S. 149-151; B. Schultze: Krasiñski herangeholt: Nie-Boska komedia (Die Un-Göttliche Komödie, 1833) am Burgtheater (1936). In: Theaterinstitution und Kulturtransfer I: Fremdsprachiges Repertoire am Burgtheater und an anderen europäischen Bühnen. Hrsg. von Bäibel Fritz, Brigitte Schultze und Horst Turk. Tübingen 1996 (Forum Modernes Theater. Schriftenreihe 21); Jan Michalik: Nieznany epizod recepcji Nie-Boskiej komedii w Niemczech. „Opracowanie sceniczne" i prapremiera. In: Ruch literacki 30 (1989), 4-5, S. 339-355.
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Vgl. Brigitte Schultze: Vom romantischen zum expressionistischen Drama (Anm. 25), S. 152-154. Vgl. Brigitte Schultze: Das kanonische Bühnenwerk (Anm. 2), S. 401. Brigitte Schultze: Das kanonische Bühnenwerk, ebd.; Beata Hammerschmid: Tolstoj für Wien: 2ivoj trup (Der lebende Leichnam) im Zyklus Stimmen der Völker im Dra-
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erscheint die Fremdheit in Krasinskis Stück doch in vieler Hinsicht in vertrautem Gewand: Analogien zwischen diesem Drama der polnischen Hochromantik und dem Drama des deutschen Expressionismus erleichtern den Zu29
gang. 4. Nie-Boska komedia kann zwar keine Systemlücke im deutschen Drama und Theater füllen, doch kann das Stück, indem es ein Gegenmodell zu den wandlungsfáhigen Protagonisten zahlreicher expressionistischer Bühnenwerke bietet, eine willkommene Ergänzung, ein Beitrag zur Ausdifferenzierung der zeittypischen Weltaussagen sein. 5. Das Stück hält in großer Dichte Angebote an ein innovatorisches Theater bereit: Versuche mit der Simultan- oder auch Drehbühne, Montageverfahren, den Einsatz des Mediums Film, die im Revolutionstheater beliebten Massenszenen u.v.m.30 Mit Blick auf diejenigen Faktoren, die möglicherweise rezeptionsbeeinträchtigend wirken können, ergibt sich wiederum ein günstiges Bild; solche Faktoren sind weitgehend ausgeschaltet: 1. 1917 liegt bereits die dritte vollständige Übersetzung von Krasmskis Stück vor.31 Diese dritte, in einer hohen Auflage im Gustav Kiepenheuer Verlag in Weimar gedruckte anonyme Übersetzung eignet sich, u.a. wegen der stilistischen Homogenisierung und Heranführung des sprachlichen Duktus an die Literatursprache der Gegenwart, für die Erstellung von Bühnenvorlagen,32 wobei allerdings, wie die Bearbeitungen von Zoff und Csokor zeigen, manche Merkmale mündlicher Rede wie syntaktische Lücken, Inversionen, Pausen u.a.m. - gegenüber der syntaktisch extrem geschlossenen Übersetzung und im Einklang mit dem Ausgangstext - eigens 'hergestellt' werden. 2. Auch wenn Krasinskis Stationendrama nicht über einen geschlossenen Handlungsnexus verfugt, so besitzt es doch, u.a. durch die nahezu ständige
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ma. In: Theaterinstitution und Kulturtransfer I (Anm. 25); Brigitte Schultze/Wiebke Skalicky: Zusammenfuhrüng im Zeichen des Familiendramas: Edmond Konráds Kvoöna {Das Nest) am Wiener Akademie-Theater (1936-1937). In: ebd. Brigitte Schultze: Vom romantischen zum expressionistischen Drama (Anm. 25), S. 152-155. Ebd., S. 152-155; B. Schultze: Das kanonische Bühnenwerk (Anm. 2), S. 401. Brigitte Schultze: Vom romantischen zum expressionistischen Drama (Anm. 25), S. 149. Ebd., S. 164-166; B. Schultze: Übersetzung, Nachdichtung, Bearbeitung: Zur Klassifikation der deutschen Varianten von Zygmunt Krasmskis Nie-Boska komedia. In: Sprach- und Kulturkontakte im Polnischen. Hrsg. von Gerd Hentschel, Gustav Ineichen und Alek Pohl. München 1987 (Specimina philologiae slavicae. Supplementband. 23), S. 559-580, hier S. 571-573.
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Anwesenheit des Protagonisten, kohärente thematische Linien und einen nachvollziehbaren Aufbau. Überdies haben die Bearbeiter bei diesem Stück Möglichkeiten zur Stärkung des Handlungsnexus gesehen.33 3. Die Probleme mit der Verssprache auf deutschen Bühnen entfallen, da das Stück in rhythmischer Prosa abgefaßt ist und nur einige wenige eingeschaltete Gedichte enthält. Für die - wenn auch nur vorübergehende - Bühnenrezeption der Ungöttlichen Komödie läßt sich somit ein ganzes Spektrum von Gründen nennen. Doch lassen sich auch die Ursachen dafür, daß dieses Stück nicht dauerhaft in das fremdkulturelle Repertoire deutschsprachiger Bühnen eingegangen ist, vermuten. Die entschiedene Absage an gesellschaftliche Veränderung als Weg zur Besserung menschlichen Schicksals und die entschiedene Stellungnahme für eine katholisch-christliche Heilsordnung dürften dazugehören.34 Im Hinblick auf Slowackis Kordian gibt es wiederum eine Rezeptionsblockade von Seiten sämtlicher deutschsprachiger Bühnen. Anders als im Falle von Mickiewiczs Dziady, die in zahlreichen Fragmentübersetzungen als Lektüreangebot vorliegen,35 war und ist Kordian nahezu völlig vom Kulturtransfer ausgeschlossen. Es gibt, soweit zu ermitteln war, eine einzige vollständige Versübersetzung von Artur Berson aus dem Jahre 1887. Berson hat den Text im Selbstverlag herausgebracht.36 Im 20. Jahrhundert sind dann einige Kernszenen des Stückes, von Eleonore Kalkowska übertragen, in den Mickiewicz-Blättem abgedruckt worden. Selbst wenn es noch weitere Fragmentübersetzungen geben sollte, was anzunehmen ist, ist die Nichtbeachtung von Slowackis Kordian extrem. Viele andere Texte dieses Autors sind übrigens gleichfalls vom übersetzerischen Transfer ausgeschlossen geblieben.37 Deutsche Slavisten sprechen dieses Rezeptionsdefizit bisweilen an, haben jedoch zumeist keine Erklärung dafür. Zieht man den oben skizzierten Kriterienkatalog heran, so läßt sich für die Rezeptionsblockade deutschsprachiger Bühnen diese Begründung finden: 1. Das Stück bietet weder eine auf universelle Gültigkeit abzielende Aussage noch die modellhafte Gestaltung einer Problemstellung. 33
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Brigitte Schultze: Vom romantischen zum expressionistischen Drama (Anm. 25), S. 166f., 171f., 176; B. Schultze: Krasiñski herangeholt (Anm. 25). Ebd. Lemmermeier/Schultze: Polnisch-deutsche Dramenübersetzung (Anm. 18), S. 83-86; Brigitte Schultze: Das kanonische Buhnenwerk (Anm. 2), S. 387f., Anmerkung 46. Kordian. Dramatisches Gedicht. Aus dem Polnischen in den Versmaßen des Originals übertragen von Artur Berson. Wien: Selbstverlag, 1887. Zu nennen sind Hans Rothe und auch Walter Schamschula, der z.Zt. mit einer vollständigen Nachdichtung von Król duch (König Geist) eine weitere Lücke der Rezeption Slowackis zu schließen sucht.
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2. Diesem Drama ist auch kein Deutungsangebot im Sinne des 'tua res agitur' abzugewinnen. 3. Die Fremdheitsphänomene sind so vielfältig und von einer Art (man denke an den Diskurs mit Mickiewicz, an die dynamische Bildersprache), daß man im 20. Jahrhundert keine Theatersituation findet, die nachdrücklich auf dieses Stück vorbereitet bzw. eingestellt gewesen wäre. Es ließe sich allenfalls darüber spekulieren, ob im Zusammenhang des symbolistischen Theaters eine gewisse Rezeptionsbereitschaft hätte bestehen können. Hier gilt jedoch zu bedenken, daß die Inszenierungen von symbolistischen Bühnenwerken (Strindbergs, Maeterlincks u.a.) in der Regel keine nachträgliche szenische Rezeption von romantischen Dramen initiiert haben. 4. Stowackis Kordian ist gewiß auch kein geeigneter 'Kandidat' zur Schließung von Systemlücken: Bekanntlich steht das Stück in vielen Passagen den Gattungskonventionen des 'Dramatischen Poems' besonders nahe, einer Form also, die in den deutschsprachigen Ländern, z.B. auch in England, im Lektürekanon verblieben ist. Nachdem das Dramatische Poem der Romantik in den deutschsprachigen Ländern - anders als in Polen - keine kanon- und traditionsstiftende Funktion erlangt hat, gilt es Theaterpraktikern, wie oft zu hören ist, vorwiegend als Genre für die Lektüre. 5. Die Tatsache, daß p o l n i s c h e Theaterleute diesem Stück viele Impulse für die Bühnenpraxis gerade der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgewonnen haben, ist im deutschsprachigen Raum unbekannt. Diejenigen Faktoren, die - unter bestimmten Bedingungen - den szenischen Transfer fremdsprachiger, fremdkultureller Dramatik erleichtern können, lassen sich somit für Kordian nicht bzw. fast nicht geltend machen. Dagegen sind diejenigen Momente deutlich greifbar, die einer theatralen Rezeption hinderlich sein können: 1. Auch wenn Bersons Übersetzung um Nähe zum Ausgangstext, z.B. um eine Wiedergabe der unterschiedlichen Rhythmen, lexikalischen Codes usw. im Text der einzelnen Rollenfiguren, bemüht ist, scheinen nur bestimmte Textteile für eine szenische Umsetzung geeignet. (Dieses Problem stellt sich bekanntlich auch beim Ausgangstext.) Eine hohe Frequenz von Inversionen, ebenso von Wortfügungen, die erst bei wiederholtem Lesen verständlich werden, dürften einem spontanen Hörverstehen abträglich sein. 2. Von der im deutschsprachigen Theater bevorzugten syntagmatischen Struktur, dem geschlossenen Handlungsnexus, weicht Slowackis Kordian noch mehr ab als dies bei den beiden anderen kanonischen Stücken der polnischen Hochromantik der Fall ist. Und während polnische Theaterleute eine Vorstellung davon haben, welche Szenen - traditionell - zum Handlungskern gehören, müßten deutsche Regisseure, so ist anzunehmen, derartige Orientierungen bei der Ausgangskultur 'abfragen'.
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3. Da Bersons Übersetzung eine weitgehend aus Langzeilen bestehende Versübersetzung ist, in der teilweise lange, schwierige Redeblöcke memoriert werden müssen, steht das Stück, gerade im 20. Jahrhundert, der Inszenierungspraxis deutschsprachiger Bühnen besonders fern. Die hier zusammengetragenen denkbaren Gründe für die Rezeptionsblokkade gegenüber Stowackis Kordicm können sicher allenfalls eine Teilantwort sein. Um die Ursachen für die bemerkenswerten Defizite in der gesamten deutschen Slowacki-Rezeption zu klären, bedarf es weitergehender Forschungen. Die Rezeptionsblockaden deutschsprachiger Bühnenhäuser im Hinblick auf das dramatische Werk von Wyspiañski können an dieser Stelle nur in einzelnen Aspekten betrachtet werden. Zunächst ist zu bedenken, daß Stücke wie
Wesele (Die Hochzeit), Noe listopadowa (Novembernacht) und Wyzwolenie (Die Befreiung) in eine Theaterzeit trafen, die bemerkenswert aufgeschlossen für kulturelle Fremdheit und für eine synkretistische Aneignung von Fremdheitsphänomenen jeder Art war. Es war überdies eine Zeit, in der die 'Bühneneignung' von Versdramen in vielen Ländern und Theaterhäusern herausgestellt wurde. Der für eine Reihe von Stücken Wyspiañskis strukturbildende dramatische und theatrale Metatext (diskursive und repräsentative Metatheatralität) konnte - durch analoge Entwicklungen in mehreren europäischen Ländern - wahrscheinlich besser aufgenommen werden als in den vorangehenden Jahrzehnten. Diese insgesamt günstigen Rezeptionsbedingungen blieben jedoch ungenutzt. Keines der drei genannten Stücke fand während des in mancher Hinsicht günstigsten historischen Augenblicks den Weg auf eine deutsche Bühne. Aus einer Reihe von Gründen fehlte für jedes dieser Versdramen die entscheidende Voraussetzung, nämlich eine vollständige Übersetzung bzw. Nachdichtung: Von Wyzwolenie gibt es, wie erwähnt, bis heute keine Wiedergabe ins Deutsche, Noe listopadowa kam etwas später, 1918, in einer Übertragung von Stefan Odrow^z-Wysocki in der „Polnischen Bibliothek"38 heraus, und Wesele, das Stück mit der bewegtesten Übersetzungsgeschichte, war erst 1977 in Henryk Bereskas Prosafassung39 und 1992 in der Versübertragung von Karl Dedecius40 zugänglich. Im Hinblick auf Wesele sollte dennoch eher von einem unglücklichen Rezeptionsprozeß als von einer 38
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Stanislaw Wyspiañski: Novembernacht. Deutsch von St. v. Odrow^z. In: Dramatische Werke. Bd. 1. München 1918 (Polnische Bibliothek. Abt. 3: Bd. 2,1), S. 57-302. Stanislaw Wyspiañski: Die Hochzeit. Drama in drei Akten. Übersetzung und Nachdichtung von Heniyk Bereska. Leipzig 1977. Stanislaw Wyspiañski: Die Hochzeit. Drama in drei Akten. Aus dem Polnischen übertragen und herausgegeben von Karl Dedecius. Frankfurt/M. 1992.
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'Blockade' gesprochen werden. Es gab immerhin zwei Versuche, dieses Stück in großer Nähe zur Entstehungszeit an die deutsche Zielkultur weiterzuvermitteln: Otto Forst de Battaglia und Hugo von Hofmannsthal planten gemeinsam eine Wyspiañski-Ausgabe, und Hofmannsthal wollte „ernsthaft einer deutschen Adaptierung von Wyspiañskis Hochzeit nähertreten"41; von Jozef Drobner hat es offensichtlich eine vollständige, jedoch nur in einigen gedruckten Fragmenten überlieferte Versübersetzung gegeben, die - das zeigen vergleichende Übersetzungsanalysen - bemerkenswert geeignet für eine szenische Realisierung gewesen sein dürfte.42 Daß Wyspiañskis Bühnenwerk, dieses wichtige Bindeglied der polnischen dramatischen und theatralen Kanonbildung zwischen den Stücken der Hochromantik und den Dramen von Witkiewicz, Gombrowicz, Mrozek, Rózewicz u.a., so weitgehend vom polnisch-deutschen Kulturtransfer ausgeschlossen war, und daß diese Rezeptionslücke bis heute nur bruchstückhaft geschlossen worden ist, hängt zweifellos wesentlich damit zusammen, daß es dem Autor selbst vor allem um eine theatrale 'Ansprache' an seine eigenen Landsleute ging: in Wyzwolenie um die Gefahren, die aus der manipulierten Mickiewicz-Rezeption herrühren, und um den Appell, diese Stereotypen zu verabschieden, in Noe listopadowa um eine radikale 'Entzauberung'43 der um den Novemberaufstand gebildeten Geschichtsmythen und in Wesele um eine Widerlegung des idealistischen, ja 'blauäugigen' Konzepts von einer Versöhnung zwischen Stadt und Land, Bauerntum und Intelligenz, durch solche - nationalen Konsens verheißenden - 'Modell-Hochzeiten'. Bei der Rezeption von Wyspiañskis Stücken geht es nicht allein darum, daß ein deutschsprachiges (oder jedes andere nichtpolnische) Publikum eine Fülle von Kontextualisierungen aufnehmen muß, die von historischer, gattungspoetischer, allgemein kultureller, intertextueller usw. Fremdheit geprägt sind. Theaterbesucher des deutschsprachigen Raumes, denen jene Einführungen in Wyspiañskis Stücke fehlen, die jeder Pole erhält, müssen an einem Theaterabend g l e i c h z e i t i g sowohl die immens komplexen Hintergründe, intertextuellen Vernetzungen usw. aufnehmen als auch den ironi41
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Otto Forst de Battaglia: Deutschland und die polnische Literatur. In: Ein Erasmus unserer Zeit. Otto Forst de Battaglia. Schriften zur polnischen Literatur. Hrsg. von Marek Zybura. Darmstadt 1992, S. 19-27, hier S. 25. Brigitte Schultze: Kwadratura kola: Wesele Wyspiañskiego w przekladach niemieckich i angielskich. In: Stulecie Mlodej Polski. Hrsg. von Maria Podraza-Kwiatkowska. Krakow 1995, S. 361-375, hier S. 365-367. Brigitte Schultze: Entzauberter Geschichtsmythos: Stanislaw Wyspiañskis Noe listopadowa (Novembernacht). In: Geschichtsdrama. Hrsg. von Wolfgang Düsing. Tübingen, Basel 1996; vgl. Dobrochna Ratajczakowa: Obrazy narodowe w dramacie i teatrze. Wroclaw 1994, S. 245-247.
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sehen, teilweise auch parodistischen Diskurs, in den polnische Rezipienten hineingezogen werden. Daß nichtpolnische Theaterbesucher überfordert sind, wenn sie sowohl die fremden Kontexte44 als auch die ironisch-parodistische Zurückweisung von Manipulationen und Fehlorientierungen in dem polnischen Gemeinwesen aufnehmen sollen, haben viele Reaktionen auf die deutsche Erstaufführung von Wesele bei den Salzburger Festspielen 1992 und 1993 gezeigt: In der - durchaus nachvollziehbaren - Vorstellung, bei der ersten Einfuhrung dieses Stückes möglichst viel von dem Ausgangstext bieten zu müssen, hat Peter Stein auf der Grundlage der historisch konzipierten Versübersetzung von Dedecius weitgehend auf aktualisierende Verfahren verzichtet.45 Gerade diejenigen Kritiker, die auf eine Einlösung von Mortiers Versprechen, das Sprechtheater werde „aktuell" sein, hofften, fanden hierin einen Angriffspunkt.46 So gesehen war diese Inszenierung ein anschauliches Beispiel dafür, was geschehen kann, wenn eine Rezeptionslücke nach großer historischer Distanz 'historisierend' geschlossen werden soll. Die Reaktionen der Kritiker zeigten aber auch, wie schwer sich jene mit dem ironisch-parodistischen Diskurs taten: Manche der von Wiederholungen durchsetzten (Dedecius hat hier sogar klugerweise einiges reduziert), auf volkstümlichen Rhythmen gegründeten Verse (z.B. in der Szene mit Werayhora) wurden nicht als Spott aufgenommen, sondern als „Knatterreime"47, die Tiraden des alkoholisierten Journalisten wurden nicht als bitterer Hieb gegen eine Zunft, die ihrer Pflicht zur Aufklärung nicht nachkommt, verstanden, sondern als Erinnerung daran, daß man in Polen gern trinkt usw. Zu den wesentlichen Ursachen für die weitgehenden Rezeptionsblockaden gehört sicher, daß in der polnischen Tradition ein Dramen- und Theatercode gewählt wurde, der sich im deutschsprachigen Theater gerade nicht durchgesetzt hatte. Auch der gewollte 'innerpolnische' Diskurs mit allen Merkmalen der Fremdheit, auch der 'Fremdsetzung' gegenüber anderen Kulturen und Gemeinschaften, gehört - in gewissem Umfang - dazu. Die erste Übersetzung von Mickiewiczs Dziady und die einzige deutsche Wiedergabe von Slowackis Kordian (1887) fielen überdies in eine Zeit, den Historismus, die kulturelle Fremdheit kaum ertrug. So bleibt die Frage zurück, ob sich einmal entstandene Rezeptionslücken und -blockaden überhaupt nachträglich behe44 45
46 47
Vgl. M. Kijowska: Fremder Nachbar? (Anm. 12). Brigitte Schultze/Jola Schabenbeck-Ebers/Irene Kriese: Stanislaw Wyspiaúskis Versdrama Wesele (Die Hochzeit) - übersetzt, inszeniert und rezensiert. In: Forum Modernes Theater 10, 1995/1, S. 64-93. Brigitte Schultze: Kwadratura kola (Anm. 42), S. 375. Brigitte Schultze/Jola Schabenbeck-Ebers/Irene Kriese: Stanislaw Wyspiaúskis Versdrama Wesele - übersetzt (Anm. 45), S. 82.
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Brigitte Schultze
ben lassen - und wie eine solche 'Reparatur' am Kulturtransfer aussehen könnte. Hier sei zunächst festgehalten, welche Informationslücken es - angesichts der beschriebenen Transferdefizite - bei Theaterbesuchern des deutschsprachigen Raumes geben kann, wenn die Begegnung mit dem polnischen Theater erst mit Stücken von Witkiewicz, Mrozek, Rózewicz, Gombrowicz u.a. beginnt. Es geht dann, wie erwähnt, um Stücke, die sich über Zitate ironisch und parodistisch auf die Tradition beziehen. Man müßte u.a. auf diese Tradierungselemente hinweisen: 1. die ständig wiederkehrenden visuellen Zeichen - das Kreuzessymbol, Horizontale und Vertikale (als Signalsetzung für Dehierarchisierung, Wertverlust bzw. von hierarchischen Ordnungen, metaphysischer Perspektivierung - vgl. Anmerkung 3 in diesem Beitrag), den 'danse macabre', die rituelle Mahlzeit u.a.m., 2. den Topos des 'Retters', 'Erlösers' in einer aus den Fugen geratenen Welt - auch die Markierung einer Leerstelle, wenn ein Retter fehlt, 3. den Topos plötzlicher Verwandlungen, auch die 'Inszenierung' von magischen Akten, welche Verwandlung, eine neue Ordnung verheißen, wie etwa die Hochzeit,48 4. vielfaltige Nutzung des Traumes, 5. eine Bezugnahme auf'Metaphysisches', 6. einen diskursiv und repräsentativ geführten metatheatralen Diskurs, bei dem die stückimmanenten Regisseure, auch der Regiewechsel, vorrangiges Augenmerk verdienen; es sei daran erinnert, daß gerade die metadramatischen, metatheatralen Momente in den kanonischen polnischen Dramen thematische Leitkomplexe wie das Thema 'Macht und Freiheit' transportieren. Drameninterner Regiewechsel ist Machtwechsel oder der Versuch eines Machtwechsels. Dies sei an zwei Beispielen in Erinnerung gebracht: Während Prospero in Shakespeares The Tempest die Macht freiwillig abgibt, muß der starre Genius (=Prospero) in Wyspiañskis Wyzwolenie, d.h. der von seinen Landsleuten manipulierte Mickiewicz, durch einen Regieeinfall aus seiner Machtposition veijagt werden; in Mrozeks Tango tritt in Artur ein Regisseur auf, der schließlich das Opfer seiner Regiearbeit voller Illusionen und Irrtümer ist. Zu den Lektüre- und Sehhilfen fur Rezipienten des deutschen Sprachraums gehört somit auch der Hinweis, daß das sich selbst reflektieren-
48
Brigitte Schultze: Hochzeit und Trauung in der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Tradierung und künstlerische Funktion eines literarischen Themas. Göttingen 1982 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Phil.-Hist. Klasse. 1).
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de, als Kommunikationsform ausgestellte Theater in polnischen Stücken zentrale Diskurse transportiert. Aus den Rezeptionsblockaden und dem eher durch Zufall unterbliebenen polnisch-deutschen Bühnentransfer gehen noch weitere Informationslücken hervor, die ggf. bei Inszenierungen polnischer Stücke des 20. Jahrhunderts bedacht sein sollten.
IV Mit Blick auf das abschließende Fallbeispiel, Mrozeks Tango auf deutschsprachigen Bühnen, stellt sich nun die Frage, wie deutsche Übersetzer mit den Wort- und Bildzitaten, der Metatheatralität und anderen Deutungsangeboten aus der polnischen Dramen- und Theatertradition umgehen. Bildzitate, bei denen sich in der Regel keine translatorischen, sondern Verstehensprobleme ergeben, werden zumeist in Orientierung am Ausgangstext wiedergegeben. Bei redegestützten Bezügen zu den drei zentralen Stücken der Hochromantik zeigen sich heterogene Befunde: Teilweise scheinen die Textreferenzen nicht erkannt worden zu sein, teilweise suchen Übersetzer auch nach einer Verortung solcher Bezüge in der Zielkultur; metadramatische und metatheatrale Diskurse werden zumeist in die Stückwiedergaben eingebracht, doch kommt es auch vor, daß einzelne Signalsetzungen eliminiert sind. Das Gesagte gilt auch für die - durch Autorisierung begründete - einzige deutsche Übersetzung von Tango durch Ludwig Zimmerer.49 Diese Übersetzung unterscheidet sich durch zwei grundlegende Merkmale vom Ausgangstext: Sie bietet ein weniger präzises, kalkuliertes Deutungsangebot als der Ausgangstext, und sie kommt entschieden 'leichtgewichtiger' daher als Mrozeks Stück. Diese Abweichungen mögen ein Grund dafür sein, daß das Stück in Auffiihrungsbesprechungen,50 so scheint es, im Hinblick auf sein Potential zur Stiftung von Verunsicherung nicht selten unterschätzt wird. Zimmerers Wiedergabe ist z.B. nicht zu entnehmen, daß in dem gesellschaftlichen Mikrokosmos gar nicht alles in Chaos versunken ist: Die polnischen Anredekonventionen funktionieren konventionell und werden fortgesetzt zu Beziehungsdefinitionen und Machtspielen eingesetzt. Bei der Kartenrunde in 49
50
Slawomir Mrozek: Tango. Übersetzt von Ludwig Zimmerer. In: 'Tango ' und andere Stücke. München, Zürich 1980, S. 159-252. Viola Bolduan: Im Gleichschritt über Leichen. Premiere im Kleinen Haus. Slawomir Mrozeks Tango. Inszenierung Horst Siede. In: Wiesbadener Tageblatt, 28.03.1994, S. 3.
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der Eingangssequenz z.B. wird der Onkel Eugeniusz als 'odd man out' definiert; anders als in der Übersetzung, spricht die Großmutter nicht zu ihm „du wirst ja schon wieder ganz rot" - , sondern v o n ihm, grenzt ihn aus: „wieder ist er rot geworden!"51 Daß sich in dem oft bemängelten „Schwadronieren"52 mehrerer Rollenfiguren, besonders Arturs und Stomils, etliche intertextuelle Bezüge und ein auf Kryptozitate gestützter Eilmarsch durch Positionen der europäischen Philosophiegeschichte53 befinden, bleibt Rezipienten des deutschen Tango und seiner Inszenierungen verborgen. Aus der Übersetzung geht z.B. auch nur undeutlich hervor, daß neben Artur auch seine Familienmitglieder, jedes für sich, eine stille Liebe zu bestimmten Konventionen hegen. Im Ausgangstext muß auch die Interpunktion als Deutungsangebot ernst genommen werden. Der Eindruck von Harmlosigkeit und 'Leichtgewichtigkeit' ist in dem deutschen Tango z.B. dadurch verstärkt, daß Zimmerer ein auf das Wort „Spiel" gestütztes Isotopiefeld einführt, das es im Ausgangstext nicht gibt.54 Weitere Abweichungen durch den übersetzerischen Transfer ließen sich nennen. Während der Ausgangstext die Tragikomödie als e i n e O p t i o n der theatralen Interpretation offenhält,55 engt die Übersetzung das Deutungsangebot - tendenziell - auf eine Komödie oder leichte Farce ein. Vergleicht man deutsche 7ango-Inszenierungen vor 1968 und aus den 1990er Jahren, so zeigt sich in der Regel, daß die frühen Inszenierungen - ob deutschsprachige Theaterbesucher dies nun merken oder nicht - mehr von dem 'typisch polnischen' Zeicheninventar und den intertextuellen Signalsetzungen (soweit diese identifizierbar sind) an die Zielkultur weitergeben als die Inszenierungen der 1990er Jahre. In der Göttinger Inszenierung von 1966/67, in der relativ wenig Text eingestrichen war, ließ sich z.B. das Zeicheninventar mühelos identifizieren: die Horizontale dominierte, die Tableaus (gebildet aus den Zuschauern von Stomils Theaterauftuhrung und der zum Hochzeitsfoto aufgereihten Familie) waren geradezu exakt ausgeführt, der Tango „La cumparsita" wurde so verwirklicht, wie Mrozeks Stück dies vorgibt. Arturs Hybrisrede im III. Akt, die parodistisch auf Konrads Improvi51
52 53 54 55
Brigitte Schultze: Innerfamiliäre Anrede und andere Formen der Beziehungsdefinition als Problem der Dramenübersetzung: Slawomir Mrozeks Tango deutsch. In: Soziale und theatralische Konventionen als Problem der Dramenübersetzung. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte u.a. Tübingen 1988 (Forum Modernes Theater. Schriftenreihe 1), S. 55-80, hier S. 69. Viola Bolduan: Im Gleichschritt über Leichen (Anm. 50). Dazu hat Harald Xander eine nicht publizierte Studie vorgelegt. Brigitte Schultze: Innerfamiliäre Anrede (Anm. 51), S. 76f. Brigitte Schultze/Thorsten Unger: Das tragikomische Phänomen im Drama des 20. Jahrhunderts. In: Modernisme. Hrsg. von Jean Paid Bier. 1997.
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sation Bezug nimmt, und hinter der auch Worte aus Goethes Faust hörbar werden („Taka piesn jest sila, dzielnosc ...", „Tak! Czufy jestem, silnyjestem i rozumny" / „Wort - Sinn - Kraft - Tat"),56 war so realisiert, daß die intertextuelle Markierung erkannt werden konnte.57 Für die Inszenierung im Düsseldorfer Schauspielhaus (1966), die zugleich die deutsche Erstaufführung war, ergibt sich ein ähnliches Bild wie für die Göttinger Aufführung. Wenn in dem in vielen Rezensionen gelobten Düsseldorfer Tango „eine lange nicht erlebte Übereinstimmung von Werk und Auffuhrung" 58 hervorgehoben wird, so ist hier nicht nur zu bedenken (was auch für die Göttinger Inszenierung gilt), daß die Vorgaben des Dramenautors um die Mitte der 60er Jahre insgesamt mehr beachtet wurden als etwa in den 90er Jahren; den Düsseldorfer Tango inszenierte Erwin Axer, d.h. hier arbeitete deijenige polnische Regisseur mit Zimmerers Übersetzung und einem deutschen Ensemble, der auch die Warschauer Uraufführung des Stükkes herausgebracht hatte. Auch in Düsseldorf wurde der Text (wie dies für Axers Regietätigkeit charakteristisch ist) weitgehend ausgespielt, mit einigen Änderungen am Figurentext zur Stärkung der 'Mündlichkeit' sowie Kürzungen von Arturs Tiraden im II. und ΠΙ. Akt. Der Aufbau von Raumzeichen war für das Publikum ebenso zu erkennen wie der zum „Todestango" mutierte 'danse macabre'.59 Es überrascht nicht, daß Arturs große Hybrisrede,60 hinter der Mickiewiczs Kordian und Goethes Faust aufscheinen und die von Zimmerer intertextuell teilweise in der Bibel verankert wird („ich bin die Tat, der Wille und der Weg"), ohne jede Kürzung gebracht wird. Ähnlich wie in der Göttinger Inszenierung sind die Rollen des Intellektuellen Artur und des Proletariers Edek so besetzt, daß hinter dem schlanken, 'kopflastigen', verbosen Artur der traditionelle Vertreter des sozialen Oben, der 'pan', hinter Edek mit seiner herausgestellten physischen Präsenz hingegen der Vertreter 56 57 58
59
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Vgl. Brigitte Schultze: Das kanonische Bühnenwerk (Anm. 2), S. 381f. Rezipienten gaben an, Bezüge zur Bibel und zu Goethes Faust identifiziert zu haben. Gerd Vielhaber: Mrozeks Tango in Düsseldorf. Artur, der 'Konter-Revolutionär'. In: National-Zeitung, Basel, 25.01.1966. Albert Schultze-Vellinghausen: Durch die absurde Blume gesagt. Slawomir Mrozeks Tango im Düsseldorfer Schauspielhaus. In: [Hier konnte die Zeitung bislang nicht identifiziert werden.] Mrozek: Tango (Anm. 49), S. 243; dazu B. Schultze in Zusammenarbeit mit Fritz Paul: Zitat, Allusion und andere redegestützte und nichtverbale Referenzen in Dramenübersetzungen. Dargestellt an polnisch-deutschen und polnisch-englischen Übersetzungsfällen des 20. Jahrhunderts. In: Literatur und Theater. Traditionen und Konventionen als Problem der Dramenübersetzung. Hrsg. von Brigitte Schultze u.a., Tübingen 1990 (Forum Modernes Theater. Schriftenreihe 4), S. 161-210, hier S. 170172.
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des Unten, der 'cham', sichtbar wird.61 Rezensenten dieser ersten Phase der 7ango-Rezeption waren sich übrigens teilweise dessen bewußt, daß dieses Stück eine sekundäre Rezeption kanonischer polnischer Bühnenwerke einschließt: „Dieses Schauspiel [···] ist geladen mit Anspielungen auf polnische Literatur bis zu Gombrowicz inklusive."62 In den 7a«go-Inszenierungen der 1990er Jahre ist der polnische Tradierungszusammenhang, das zeigen nicht allein die hier ausgewählten Göttinger und Wiener Inszenierungen, sondern auch weitere Fallbeispiele, weniger erkennbar als in jenen der Jahre 1966/67. Für die Einstudierung in Göttingen ist der Text mehr eingestrichen und entschiedener sprachlich aktualisiert („schnuppe" wird zu „scheißegal"63, „Ah, Edek" zu „Hei, Edek"64 usw.). Die große Hybrisrede ist weitgehend getilgt; die übersetzerisch gewonnene Anspielung auf das Christuszitat („ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben") ist offensichtlich nach einer Streichung wieder in das Stück aufgenommen worden,65 doch fehlen nun manche andere Kontextualisierungen. Die Raumzeichen sind teilweise der Inszenierungspraxis der neueren Zeit angepaßt. An die Stelle der einen Horizontale ist das Spiel auf mehreren Ebenen mit der schrägen Ebene in der Raummitte getreten. Der im Figurenkonzept gewandelte Artur tut sich mit der Schräge besonders schwer; er schlittert fortwährend hin, so daß 'slap-stick'-Effekte entstehen. Das Deutungsangebot der räumlichen Zeichen lautet nunmehr weniger 'Dehierarchisierung und Chaos' als vielmehr 'Destabilisierung und Chaos'. Aus dem fast beiläufigen Mord an Artur wird ein Massaker, der Tango ist nur anzitiert, so daß ein referentieller Bezug zum Totentanz nicht aufgenommen werden kann. Auch eine Wiesbadener Inszenierung von 1994 unterstreicht durch die Raumzeichen vor allem Destabilisierung, Gefährdung: „mit den schiefen Wänden, stürzenden Linien"66. Am weitesten fuhrt wohl Konstanze Lauterbachs Inszenierung von Tango am Burgtheater (1996) von Mrozeks Text und von Zimmerers Übersetzung fort. Viele Repliken sind getilgt, nicht wenige umformuliert oder auch durch andere, knappe Wendungen ersetzt. Die Spieldauer, die bei Inszenierungen der ersten Phase 2" Stunden oder mehr beträgt, ist hier auf 56 Spielminuten67 61 62 63 64 65 66 67
Vgl. Gerd Vielhaber: Mrozeks Tango in Düsseldorf (Anm. 58). Vgl. Schultze-Vellinghausen: Durch die absurde Blume gesagt (Anm. 59). Soufllierexemplar des Deutschen Theaters in Göttingen, z.B. S. 152. Ebd., S. 116. Ebd., S. 229. Viola Bolduan: Im Gleichschritt über Leichen (Anm. 50). Dazu eine handschriftliche Notiz im Regiebuch, S. 78.
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reduziert, wobei durch Musikeinlagen und die Pause eine etwas längere Aufführung entsteht. Das Regiebuch läßt erkennen, daß die bereits in Zimmerers Übersetzung geschwächten Zwischentöne gänzlich fehlen. Aus dem moralischen Rigoristen Artur, der in seiner intellektuellen Einseitigkeit nicht merkt, was er anrichtet, ist ein Träumer mit einer Neigung zur politischen Rechten geworden.68 Die Rollen Arturs und Edeks sind so besetzt, daß das aus dem Paradigma 'pan' vs. 'cham' hervorgegangene Figurenpaar 'Intellektueller vs. Prolet' (=Geist vs. Physis) nicht mehr zu erkennen ist. Hier ist Artur - durch seine Größe und eine gewisse Körperfülle - weich statt drahtig, ist von größerer physischer Präsens als der schlanke Edek. Die deutlichste Umfunktionierung erfahrt der Tango. Er ist hier nicht mehr der Totentanz, mit dem in die verordnete Öde einer Diktatur hineingetanzt wird. Der Tango ist hier ein mehrfach wiederkehrendes Element, das für die Auseinandersetzung zwischen Jung und Alt steht; der Tanz wird offensichtlich zur Fokussierung des spannungsgeladenen Miteinanders in der Mikrogesellschaft genutzt.69 Von Mrozeks Parabel und der polnischen Dramentradition ist dieser Wiener Tango weit entfernt. Es ist die Frage zu stellen, ob die kurze Wiener Farce, was sie wohl tun soll, die aktuelle Befindlichkeit der Gesellschaft reflektiert.
V Die knappen Ausführungen zu Mrozeks Tango auf deutschsprachigen Bühnen konnten nur andeutungsweise zeigen, daß die Möglichkeiten einer Rezeption von Text- und Bildzitaten der kanonischen Stücke der polnischen Dramentradition insgesamt begrenzt sind. Von der ersten Phase von TangoInszenierungen auf deutschsprachigen Bühnen (1966/67) bis zu den szenischen Realisationen der 1990er Jahre sind die Möglichkeiten zur Identifizierung tradierter polnischer Wort- und Bildzeichen nochmal reduziert. Hier gilt es freilich zu bedenken, daß bei Inszenierungen anderer Stücke, etwa Gombrowiczs Élub (Die Trauung), die Chancen einer s e k u n d ä r e n Rezeption des fremdkulturellen Tradierungszusammenhangs mehr gegeben sind als bei 68
69
Thomas Thieringer: Naivität wiedergewinnen. Konstanze Lauterbach inszeniert am Wiener Burgtheater Mrozeks Tango. In: Süddeutsche Zeitung, 23.02.1996, S. 14. Roland Koberg: 1 Sarg, 1 Ring, 1 Parabel. Wien trauert um Josef Meinrad, um sich selbst und um den Verlust des Ifflandrings. Und das Burgtheater tanzt Tango. In: Die Zeit, 8.03.1996, S. 54.
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Tango. Insgesamt wird mail davon ausgehen können, daß das Inventar charakteristischer Bildzeichen - das Symbol des Kreuzes, Horizontale und Vertikale, das rituelle Mahl, die Prozession, Tableau und Tableau vivant sowie der 'danse macabre' - eher erkannt werden kann als die redegestützten Referenzen. Im Hinblick auf die Rezeptionsblockade fur die kanonischen Stücke von Mickiewicz, Krasinski, Slowacki und Wyspiañski läßt sich vermuten, daß diese Blockade als Tatbestand angenommen werden muß, d.h. nicht substantiell rückgängig gemacht werden kann. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß sich im polnischen Drama seit den 80er Jahren ein Codewechsel vollzieht und daß die Kompetenz zum Dechiffrieren des tradierten intertextuellen Potentials bei polnischen Theaterbesuchern zurückgeht. Die theatralen Codes scheinen insgesamt 'internationaler' zu werden. Der mögliche - Gewinn an transkultureller Kommunizierbarkeit wird dabei wohl bezahlt mit einem Verlust an 'polnisch Eigenem'. Vielleicht fordert die veränderte Situation in Polen eine Rückbesinnung auf die Tradition heraus,70 so daß auch deutschsprachige Rezipienten noch einmal mit dieser Tradition konfrontiert werden könnten - z.B. in Gastspielen polnischer Bühnen.
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Dies hält Karol Sauerland für sehr wahrscheinlich.
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Jarockis Münchener Inszenierung von Stanislaw Ignacy Witkiewicz' Die Mutter (1975) und ihre Rezeption
Stanislaw Ignacy Witkiewicz: Wir wollen im Theater in einer völlig anderen Welt sein, in der die Geschehnisse [...] durch das Bizarre ihrer Relationen das Werden in der Zeit als solches hervorbringen, das von keiner Logik determiniert ist außer von der Logik dieses Werdens selbst. [...] Also ganz einfach ein Irrenhaus? Oder das Gehirn eines Irren auf der Bühne? Möglich. .. Aus diesem Theater kommend, soll der Mensch unter dem Eindruck stehen, aus einem seltsamen Traum erwacht zu sein, in dem die gewöhnlichsten Dinge einen eigentümlichen, unergründlichen Reiz besitzen, der charakteristisch ist für die Traumgespinste, die sich mit nichts vergleichen lassen.1 Jerzy Jarocki: Die schöpferische Tätigkeit des Regisseurs Jarocki zeichnet sich dadurch aus, daß er der Idee des Werkes [...] treu bleibt [...], daß er die Wirklichkeit in Träume verwandelt und sich auf den Schauspieler konzentriert. [...] Bei seinen Aufführungen bedient sich Jarocki gern der Konvention des Traums, oder er wählt Stücke, bei denen diese Konvention vorausgesetzt wird.2 Maria Nicklisch: Eine „diskrete Zauberin"3, „eine dieser strahlenden Feenfiguren des Theaters"4, die „eindeutig zur Gattung der Luftgeister gehörte"5. 1
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Stanislaw Ignacy Witkiewicz: Zur Theorie der Reinen Form im Theater. Übers, von Peter Lachmami. In: Spectaculum XI. Sechs moderne Theaterstücke. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1968. Anhang. Biographische Texte und Zeugnisse, S. 337. August Grodzicki: Jarocki. In: Grodzicki: Regisseure des polnischen Theaters. Warszawa (Interpress) 1979, S. 99 und 101. C. Bernd Sucher: Diskrete Zauberin. Zum Tod von Maria Nicklisch. In: Süddeutsche Zeitung, 22.11.1995. Gert Gliewe: Die Diva mit dem schönsten Lachen. Maria Nicklisch, die Doyenne der Kammerspiele, ist tot. In: Abendzeitung, 22.11.1995. Gerhard Stadelmaier: Ariel mit Meisteibrief. Kunst der Luftgeisterei: Zum Tode der Münchner Schauspielerin Maria Nicklisch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.11.1995.
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Diese drei Künstler mit so starker Affinität zur Sphäre des Irrationalen wurden 1975 zu einer kreativen Konstellation zusammengeführt: Jerzy Jarocki inszenierte Witkiewicz' Die Mutter mit Maria Nicklisch in der Titelrolle an den Münchener Kammerspielen. Das künstlerische Resultat stürzte offenkundig das Publikum in eine tiefe Verunsicherung: Die Rezensionen sind geprägt von nur halbherzig eingestandener Faszination, Ratlosigkeit oder Ablehnung. Die Premierenbesucher entluden sich in einem „Buh-Schwall" fur den Regisseur und ,,dröhnende[m] Beifall fur Mutter und Sohn".6 „Was ist Verwirrendes geschehen?" fragte nachträglich Helmut Schödel in Theater heute1 Die Zuschauer waren konfrontiert mit einem Spektakel, in dem die ihnen vertraute Logik außer Kraft gesetzt war, ersetzt durch die Konventionserweiterung eines Traums. Oder wer konnte logisch erklären, warum Leon - gespielt von Knut Koch - unter Aufbietung aller physischen Kräfte einen Schrank auf seinem gekrümmten Rücken balancierte, während er seine sprachlich verstiegene Philosophie erläuterte?8 Und wer rechnete damit, daß die Bühne schlagartig von einer erdrückenden Fülle von Wollknäueln bedeckt wurde? Eine Vielzahl überraschender Bilder, getragen von einer expressiven, teils akrobatischen Körpersprache, gab es auf der Bühne zu bestaunen. Gerade diese physische Komponente hat sich mir von jenem Theaterabend bis heute eingeprägt. Losgelöst von psychologisierender Notwendigkeit und der Konvention des Alltagsgebarens, gebrauchte Jarocki die Körpersprache als ein emanzipiertes theatrales Element. Er führte sie in seine Inszenierung als eigenständige Dimension ein. Keineswegs hatte sie der Illustrierung des Textes zu dienen, behaupte ich aus meiner heutigen Erinnerung heraus. Eine gegenteilige These konnte Armin Eichholz in seiner Kritik nicht stützen: Der Regisseur sei „[...] mit Seminarfleiß entschlossen [...], wirr Gedachtes klar zu veranschaulichen durch 'Körpersprache'." 9 Wie wenig stimmig diese Unterstellung ist, zeigt sich, wenn er in derselben Rezension bemängelt: „Was er [Knut Koch als Leon] an Körpersprache leistet, lenkt freilich von allem Gesagten 6
1
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Armin Eichholz: Szenen einer Ära. In: Theater für München. Ein Arbeitsbuch der Kammerspiele. Hrsg. von Hans-Reinhard Müller, Dieter Dorn und Ernst Wendt. München (Süddeutscher Verlag) 1983, S. 10. Helmut Schödel: Die Mutter von Witkiewicz in München. Unter der Rubrik: Was war. In: Theater heute 1975, H. 7, S. 57. Ein Interpretationsversuch folgt weiter unten. Armin Eichholz: Polnische Schnapsidee, gehupft wie gesprungen. Jerzy Jarocki inszeniert das 'geschmacklose Stück' von Stanislaw Ignacy Witkiewicz: Die Mutter. In: Münchner Merkur, 26.05.1975.
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ab."10 Der Rezensent verstieg sich in seiner Behauptung der veranschaulichenden, also illustrierenden Körpersprache gar zu folgender Formulierung: „Sogar die Satzzeichen könnte einer erraten, wenn dieser abstruse Ideenträger [Leon] auf einen Stuhl hüpft (Strichpunkt), sich zusammenkauert (Punkt), plötzlich hinter einen Schrank sprintet (Gedankenstrich) oder, noch ratloser als das Publikum, am Boden liegt und stirbt."11 In der Beschreibung einer Szene, die sich auch mir als bleibender bildlicher Eindruck eingeprägt hat, spürt man deutlich das Glück des Rezensenten, eine Analogie konstruieren zu können: „Den ersten Szenenbeifall hat er im Zusammenspiel mit einem Schrank [...]. Hier kommt es zu dem durch und durch stimmigen Einklang von Aktion und Bedeutung: er will den Schrank sozusagen wie seine Idee loswerden."12 Gerade dieser angestrengte „Logisierungs"-Versuch13 eines hilflosen Kritikers macht deutlich, daß sich in Jarockis Inszenierung die Körpersprache eben nicht illustrierend zum Text verhielt, wenn sie auch exakt auf den Sprech-Rhythmus bezogen war. Die Körper- wie die gesamte Bildsprache waren als emanzipierte theatrale Elemente gedacht, das Theaterereignis als die Reaktion aller theatralen Elemente aufeinander. Gerade in dieser losgelösten Physiologie, einer eigenständigen Logik - wie der eines Traumes - folgend, scheint mir Jarocki Witkiewicz' „Theorie der reinen Form im Theater"14 kongenial umgesetzt zu haben. Wie ungewöhnlich dieser ästhetische Ansatz war, veranschaulicht am besten ein Vergleich: Das Saisonereignis der deutschen Theaterszene war 1975 Peter Steins Inszenierung von Maksim Gorkijs Sommergästen,15 In dieser Produktion hatte er zu einem Stil gefunden, in dem jede Geste sämtlicher auf der Bühne anwesenden Darsteller, auch wenn sie nur stumm im Hintergrund präsent waren, aufs höchste motiviert und subtextgetragen war. Sibylle Wirsing konstatierte „[...] die Genauigkeit von Schritt und Tritt, von jeder Handbewegung und jedem Tonfall"16, und Klaus Völker beschrieb: „Die 10 11 12 13
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Ebd. Ebd. Ebd. Logisierung ist eine Lieblingsvokabel Leons in der deutschen Übersetzung von Irmtraud Zimmermann-Göllheim. Siehe: Stanislaw Ignacy Witkiewicz: Die Mutter. Geschmackloses Stück in zwei Akten mit Epilog. Übers, von Irmtraud ZimmermannGöllheim. Baden-Baden (Johannes Hertel) 1970. Ein Zitat daraus: siehe Anfang dieses Textes. Premiere: 22.12.1974. In: Frankfarter Allgemeine Zeitung; zitiert nach: Schaubühne am Halleschen Ufer / am Lehniner Platz 1962-1987. Hrsg. von Schaubühne am Lehniner Platz. Berlin (Ullstein, Propyläen) 1987, S. 160.
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Inszenierung hat alle Rollen gleichermaßen groß und wichtig gemacht; nicht die Länge eines Textes, den ein Darsteller spricht, ist entscheidend, sondern das Leben, mit dem er seine Rolle erfüllt."17 Gerade dieses perfekte, an Stanislavskij orientierte Ensemblespiel machte die Qualität dieser Inszenierung aus, dessen psychologisierend motivierte Gestik in diametralem Gegensatz zu Jerzy Jarockis fast zeitgleich erarbeiteter Körpersprache in seiner Münchener Inszenierung der Mutter stand. Zu diesem Zeitpunkt waren die Münchener Kammerspiele in einem Umbruch begriffen, nachdem zwei Jahre zuvor Hans-Reinhard Müller von August Everding die Intendanz übernommen hatte. Müllers Verdienst war es, sich in der Anfang 1975 noch nicht abgeschlossenen Profilierungsphase für verschiedene künstlerische Entwicklungen offen zu halten, wofür auch die Gastverpflichtung Jerzy Jarockis und die Wahl des hierzulande unbekannten Autors Stanislaw Ignacy Witkiewicz exemplarisch sind. In diesem Kontext ist Helmut Schödels Schlußsatz in Theater heute zu lesen: „Eine ganz heilsame Verunsicherung [. . .]. ist das Ergebnis eines Theaterabends in den Kammerspielen, der zeigt, wie sinnvoll mitunter die Wagnisse dort sind."18 Doch das „Wagnis" fand in der Münchener Presse wenig positive Resonanz. Jarocki gelang es, sich mit seiner Inszenierung der Mutter zwischen alle intellektuellen Fronten zu begeben. Wer etwa die Entdeckung eines hier bislang unbekannten Textes im Sinne des intellektuell abgesegneten und philosphisch eingeordneten 'Absurden Theaters' erwartet hatte, der sah sich enttäuscht. So Armin Eichholz: „Seitdem Ionesco und Beckett auch die unbehelflichsten Artikulier-Versuche früherer Autoren rückwirkend als Vorläufer des Absurden erscheinen lassen, blüht mancher Unsinn auf, kriegt womöglich ein Hochstapler recht: das irgendwie Gewollte gilt dann als das raffiniert Geleistete. So bei W. [Witkiewicz]."19 In der ersten Hälfte der 60er Jahre20 hatte Martin Esslin noch formuliert: „Im Theater des Absurden kann man nun eine Geisteshaltung erkennen, die wahrhaft repräsentativ für unsere Zeit ist."21 1975 beschimpfte der Rezensent der Abendzeitung Witkiewicz' Die Mutter - treu der Konsequenz, nach der 17 18 19 20 21
In: Die Weltwoche\ zitiert nach: Schaubühne am Halleschen Ufer (Anm. 16), S. 160. Schödel: Die Mutter von Witkiewicz (Anm. 7). Eichholz: Polnische Schnapsidee (Anm. 9). Englische Ausgabe: 1961; deutsche Erstveröffentlichung: 1964. Martin Esslin: Das Theater des Absurden [= rowohlts deutsche enzyklopädie, Sachgebiet Theaterwissenschaft]. Hrsg. von Ernesto Grassi. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1966, S. 13.
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das Moderne von gestern heute in besonderem Maße unmodern wirkt 22 - als ,,altbacken-aufgewärmte[s] Absurditätenspektakel [...]. Da ergießt sich der ganze Moderkram des alten absurd-surrealistischen Theaters über die Bühne." 23 Jarocki dagegen nahm er in Schutz: „[...] er hat herausgeholt, was aus diesem seelenlos artifiziellen Kunstgebilde herauszukitzeln ist."24 So kam er zu dem Schluß: „Der Regisseur Jerzy Jarocki quittierte die Buhs stellvertretend für den Autor."25 Doch auch an Jarocki übte die Münchener Presse heftig Kritik. Gar nicht gut kam etwa bei Armin Eichholz eine Erklärung Jarockis vor der Premiere an, die der damalige Rezensent auch noch in seinem 1983 publizierten Rückblick auf die „Szenen einer Ära" der Kammerspiele berichtete: „Zuvor hatte der Regisseur [ . . .] persönlich dem Kammerspielpublikum ins Gewissen geredet: 'Da kommen bei uns noch die Leute aus dem Dorf, die finden auch was Spannendes in Witkiewicz. Sie verstehen zwar seine Philosophie nicht, aber sie genießen das Spektakel."26 Diese Äußerung Jarockis quittierte Eichholz wie folgt: „Was er an Körpersprache leistet, lenkt freilich von allem Gesagten ab. [...] Mit anderen Worten, der 'reine' Zuschauer ist jetzt da, wo ihn der Regisseur Jarocki haben will; keine weiteren Fragen. Sieh zu mit Hör weg." - Aber „[...] über diese Diskrepanz kommt kein westlicher Theatermann weg." 27 Im Umgang mit der Presse hat sich Jarocki jedoch auch ein wenig leichtsinnig verhalten: er erklärte auf der ersten Seite des Programmheftes seine Interessenslage und die Zielvorstellungen seiner Inszenierung. So machte er es seinen Kritikern leicht: sie konnten sich nach Belieben seine Formulierungen vornehmen, am Gesehenen messen oder gleich von vornherein verdammen. Genau dies geschah auch in den Münchener Rezensionen, wie zwei Beispiele veranschaulichen sollen: 1. Jarocki formulierte: ,JDie Mutter von Witkiewicz [...] bewegte schon seit langem meine Phantasie. Zum ersten Mal konnte ich es jedoch im Jahre 1964 verwirklichen - es war gleichzeitig die Welturaufführung dieses Stük22
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Vgl. dazu: „Das jüngst Vergangene, das Leben beansprucht, ist abgelebter als das vor langem Gewesene, dessen Bedeutung sich gewandelt hat." Zitiert nach Siegfried Kracauer: Die Photographie. In: Krakauer: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt am Main (suhrkamp taschenbuch) 1977, S. 30-31. George Salmony: Sturm im Spülwasser. Kammerspiele: Die Mutter von Witkiewicz. In: Abendzeitung, 26.05.1976. Ebd. Ebd. Eichholz: Szenen einer Ära (Anm. 6), S. 10. Eichholz: Polnische Schnapsidee (Anm. 9).
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kes. Danach hatte ich noch mehrmals die Möglichkeit, es zu inszenieren."28 Michael Skasa folgerte: „Jarocki hat Die Mutter bereits mehrmals inszeniert; er kennt sie also in- und auswendig. Aber mir scheint, die szenische Phantasie ging dabei verloren und wurde durch Gags ersetzt."29 2. Jarockis Erklärung, sein „Versuch einer Bearbeitung" ziele „auf die Vereinheitlichung der etwas chaotischen und vielschichtigen Witkiewicz'sehen Struktur"30, weckte Ingrid Seidenfadens Mißtrauen wie folgt: „Solche Version mag ihre Richtigkeit haben für das polnische Theater. Aber werden wir hierzulande nicht mit einer sorgfältig vorgekauten Bearbeitung um die wirkliche literaturhistorische Entdeckung betrogen? Man wüßte es «31 gern. Eine Selbstaussage wurde Jarocki nicht in seinen eigenen Worten vorgeworfen, unterschwellig in den Hochzeiten analytischer Dramaturgie wohl aber am meisten verübelt: „Was die Inszenierung als Ganzes betrifft, so habe ich die Methode gewählt, die die gesamte Bürde der Interpretation auf die Schultern der Schauspieler lädt."32 In dieser Formulierung, die als Absage an analytische Interpretation und Regie als theatrale Ordnungsmacht verstanden werden konnte, scheint mir die eigentliche Wurzel mancher kritischer Überlegung zu Jarockis Umsetzung des Textes verborgen zu sein. Es gab auch Rezensenten, die sich mit Witkiewicz' Text auseinandergesetzt hatten und - davon höchst angetan - , nun dessen Qualität gegen Jarockis Inszenierung ausspielten. Während Armin Eichholz das Bühnengeschehen als „anarchischen Betrieb"33 bezeichnete, vermißte Michael Skasa in der Süddeutschen Zeitung eben dieses: Das „[. . .] lockende Chaos, die rettende Anarchie, müßten in einer Inszenierung wenigstens durchschimmern als positive Alternative zur beklagten 'Farblosigkeit'."34 Die „faszinierend arrangierte Aufführung"35 gefiel dem Rezensenten für sich genommen, doch schien sie ihm keine adäquate Umsetzung des Textes von Witkiewicz zu sein: „[...] Applaus auf offener Szene, so schön sah das aus: Maria Nicklisch [...] ein 28
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Jerzy Jarocki: Einige Worte des Regisseurs. In: Programmheft zu Witkiewicz' Die Mutter. Münchner Kammerspiele 1975, S. 3. Michael Skasa: Leon oder Die Phantasie an der Macht. Die Mutter von Witkiewicz an den Kammerspielen. In: Süddeutsche Zeitung, 26.05.1975. Jarocki: Einige Worte des Regisseurs (Anm. 28), S. 3. Ingrid Seidenfaden: Sehenswertes Traumtheater. Jerzy Jarocki inszeniert Die Mutter von Witkiewicz. In: Bayerische Staatszeitung, 30.05.1975. Jarocki: Einige Worte des Regisseurs (Anm. 28), S. 3. Eichholz: Szenen einer Ära (Anm. 6), S. 10. Skasa: Leon oder Die Phantasie (Anm. 29). Ebd.
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Rauschgoldengelchen aus versunkener Zeit, schwebt sie durch ein Chaos aus Phantasie - das es nicht gab in dieser Aufführung."36 Sie „[...] schien [...] mir mehr an dem bedrohlichen Mrozek als am anarchisch phantastischen Witkiewicz orientiert: All diese bemehlten Figuren in ihren Lazarus-Kostümen [...] (Bühne und Kostüme von Krystyna Zachwatowicz)"37. Hier hat jedoch der Rezensent im Schwünge seiner kritischen Feder übersehen, daß der Autor und Maler Witkiewicz selbst die optischen Bühnen-, Kostüm- und Schminkanweisungen in seinem Dramentext niedergelegt hat, welche in der Inszenierung befolgt worden sind. Helmut Schödel beschrieb im Juli 1975 die offenkundig vorherrschende Ratlosigkeit in der Rezeption, dabei die Gelegenheit für kräftige Kollegenschelte nützend: „Hilfesuchend denke ich mir, wie wohl andere schreiben würden", über diese Auffuhrung „[...] vor einem erstaunten, oft ratlosen Publikum und einer Theaterkritik, die über Witkiewicz in der Tradition des Absurden reflektierte, nicht so ganz zufrieden war, dabei aber doch keinen Rat wußte (Süddeutsche Zeitung) oder simplifizierend von einer 'Polnischen Schnapsidee - gehupft wie gesprungen' (Münchner Merkur) daherfaselte."38 Für sich kommt er zu dem interessanten Schluß: „Eine ganz heilsame Verunsicherung, einmal nicht selbstgewisses Urteil ist das Ergebnis."39 Lobend schreibt Schödel von „einem außergewöhnlichen Text" und „einem bemerkenswerten Theaterereignis": „wildes Theater für zwei aufregende Stunden"40 hat er erlebt. Er schwärmt geradezu: „Dieser polnische Theaterabend [...] ist der Abend eines bestechend schönen, gruseligen Bilder-Arrangements."41 Doch am vollendeten Genuß hindert ihn der intellektuelle Einwand, daß „die Bilder und das Spiel" sich zu wenig auf den Text „besinnen".42 Denn wie Kollege Skasa hat Helmut Schödel die Anarchie des Textes goutiert, die er auf der Bühne vermißt, auch wenn er von ,,wilde[m] Theater" schreibt: „Wenn sprachliche, gedankliche, dramaturgische Anarchie optisch geordnet wird, verliert sie an Chaos, was ihr an Ordnung zuwächst."43 Jarockis Inszenierung ist ein „Akt phantasievoller Theaterdressur: wildes Theater zähmen durch komponierte Bilder."44 Sein ratloses Resümee, das dem Michael Skasas frappierend ähnelt: „[. . .] die bescheidenen unter den * 37 38 39 40 41 42 43 44
Ebd. EM. Schödel: Die Mutter von Witkiewicz (Anm. 7). Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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vielen gedachten Schreibern müßten zugeben, daß sie auch nichts Besseres wissen."45 Die zentrale Frage drängt sich bei der Lektüre der intellektuellen Verrenkungen der Rezensenten wie von selbst auf: Was blockierte den theatralen Genuß? Ingrid Seidenfaden, der Jarockis Inszenierung offenkundig gefallen hat, gab in ihrer mit „Sehenswertes Traumtheater" überschriebenen Rezension einen bemerkenswerten Hinweis: „ M a n stelle sich nur einen Augenblick vor, es gäbe diese Auffuhrung zu sehen als fremdes Gastspiel, umgeben vom Flair des Exotischen - statt, wie hier, mit der Hausmarke der Kammerspiele, mit dem vertrauten Ensemble -, der Bewunderung wäre kein Ende."46 Sie lobte - erstaunlicherweise in der Bayerischen Staatszeitung - nicht nur die Gesamtleistung als eine „[...] durch und durch vollendete Aufführung, kunstvoll kontrolliert in der Handhabung unwahrscheinlicher Bilder"47, sondern sie allein bemerkte auch die innere Logik der Inszenierung: „Wie wirkliche Träume sind - [...] einzig beziehbar auf die Logik des Träumenden."48 Doch in Deutschland wurde Mitte der 70er Jahre ein ganz anderes Theater produziert und mit Wohlwollen rezipiert. Zu den Inszenierungen des Jahres 1975 kürten die von der Zeitschrift Theater heute befragten deutschen Theaterkritiker Peter Steins Zelebrierung eines Theaters der verästelten Psychologie, seine akribisch detailgenaue Inszenierung von Maksim Gorkijs Sommergästen, gemeinsam mit Hans Hollmanns Die letzten Tage der Menschheit, 1976 entschieden Niels-Peter Rudolphs Onkel Wanja, 1977 Dieter Dorns Minna von Barnhelm und Peter Zadeks Hedda Gabler den alljährlichen „Besten-Wettbewerb" für sich. Dorns Auseinandersetzung mit der Komödie Lessings wurde von Armin Eichholz im Jahrzehnt-Rückblick der Kammerspiele attestiert: „[...] er macht daraus ein Dokumentarspiel vom 22. August 1763, so genau erarbeitet er eine Art friderizianisch-psychologischen Nachkriegsrealismus. Aus dem sich dann intellektuell gesicherte höhere Heiterkeit ergibt."49 Und für alle übrigen der genannten Inszenierungen stimmt das Resümee50 der Entscheidung von 1975: „Die Inszenierungen greifen [...] - Trend dieser Jahre - in die Gesellschaftsgeschichte der Väter 45 46 47
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Ebd. Seidenfaden: Sehenswertes Traumtheater (Anm. 31). Wobei sie wiederum den Text als „eine alte Geschichte, beinahe ein[en] altefn] Hut" kritisierte. In: Seidenfaden: Sehenswertes Traumtheater (Anm. 31). Ebd. Eichholz: Szenen einer Ära (Anm. 6), S. 13. Zitiert nach Theater 1975, Sonderheft der Zeitschrift Theater heute, S. 51.
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und Vorväter zurück. [...] Verbindendes zwischen beiden Aufführungen: die Intelligenz und die Radikalität der Dramaturgie." Zur Veranschaulichung der Akzeptanzgrundlagen der deutschen Theaterszene Mitte der 70er Jahre will ich auf eine andere ästhetische Konfrontation verweisen, die sich fast zeitgleich mit Jarockis Münchener Inszenierung ereignete. Über Robert Wilsons erstes Gastspiel in Deutschland 1976 mit seiner Produktion Einstein on the Beach berichtet Anke Roeder rückblickend aus eigenem Erleben: Beim Publikum „[...] löste dieses überwältigende Bildertheater Bewunderung, Erstaunen, Fassungslosigkeit, Faszination aus [...], weil es nicht diskursiv, nicht erklärend war, sondern im Gegenteil hermetisch verschlüsselt fremde Geschichten erzählte, nicht literarisch, nicht gesellschaftskritisch, nicht politisch determiniert. Robert Wilsons Theater war ein Einschnitt. Der Hintergrund, vor dem es in Deutschland aufgenommen wurde, war das Theater der 68iger Generation mit seinem moralischen Impetus, ein radikales politisch-dokumentarisches Theater, das aufklären und in gesellschaftliche Wirklichkeit eingreifen wollte durch die Analyse vergangener und gegenwärtiger Geschichte. Robert Wilsons Theater ist kein analytisches Theater und keines, das Geschichte in ihrem historischen Verlauf nachvollzieht... "51 Entsprechend kontrovers verlief auch die Rezeption. Renate Klett, die vermutlich schon vorher mit Robert Wilsons Theater in Berührung gekommen war, 52 berichtete 1976 in der Oktober-Ausgabe von Theater heute aus Avignon: „Bildertheater ganz anderer Art war bei der großen Sensation des Festivals zu sehen, der Welturaufführung von Robert Wilsons neuer Oper Einstein on the Beach. [ ... ] Bewegung, Raum und Zeit sind die Grundbegriffe, aus denen heraus Wilson sein Traumtheater53 schafft."
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Anke Roeder: Bilder aus der Ferne. Zum Theater des Robert Wilson. In: Marta Eggert: Magische Augenblicke. Inszenierungen von Ruth Berghaus und Robert Wilson. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Theatermuseum von 24.07.1991 bis 29.09.1991, S.
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Denn sie schreibt im zitierten Theater Aeu/e-Artikel 1976: „Wilson bezeichnet seine Spektakel seit jeher als Opern - diesmal ist es wirklich eine. [...] Neu bei Wilson ist auch die durchgehende Verwendung von Musik..." - Vgl. Renate Klett: Marx-Collage und Einstein-Metamorphose. Bericht über das dreißigste Festival d'Avignon. In: Theater heute 1976, H. 10, S. 30 und 31. In den Theaterrezensionen Mitte der 70er Jahre fällt auf, daß auf die Vokabel 'Traum' mit Vorliebe immer dann zurückgegriffen wird, wenn sich eine theatrale Präsentation dem intellektuellen Zugriff des Kritikers verweigert. Z.B.: Seidenfaden: Sehenswertes Traumtheater (Anm. 31); Renate Klett: 'festival mondial mondain'. Das Weltfestival des Theaters in Nancy steckt in einer Krise. Theater heute 1977, H. 8, S. 16-19, bes. S. 16-17 über 'Cricot2' und 'People Show'; u.a.m.
10.
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Im folgenden Monat präsentierte Theater heute auf Seite 1 eine Gegenrezension Henning Rischbieters, der das Wilson-Gastspiel in Hamburg gesehen hatte. Die Einwände sind symptomatisch fur eine verbreitete Geisteshaltung zum Theater in jenen Jahren: „Je länger ich Einstein on the Beach zusah, um so ärgerlicher wurde ich über [...] die Dürftigkeit des intellektuellen Materials [...] Verlangsamung und Lautstärke sind dicke Zeigefinger: hier läuft in sich verändernden Räumen Zeit ab. Mehr nicht. Denn was inhaltlich geschieht, was an Realität - politischer, sozialer, psychischer - fragmentarisch, assoziativ abgebildet wird, ist wenig."54 Bei aller ästhetischen Unterschiedlichkeit gibt es m.E. Gemeinsamkeiten im Werk Robert Wilsons und Jerzy Jarockis: die Isolation der theatralen Elemente, aus der die Körpersprache ihre Autonomie gewinnt, und die Verweigerung der analytischen Text-Interpretation als Zentrum der Regiearbeit. Letzteres hat Heiner Müller in eine pointierte Formulierung gefaßt: „In Deutschland akzeptieren Regisseure nicht, daß Text Material ist, das für sich spricht. Es soll mit aller Macht zum Sprechen gebracht werden. Und damit bringt man es zum Schweigen. Wilson bringt Stücke oder Texte zum Sprechen, weil er sie eben nicht auseinandernimmt und interpretiert."55 Wilsons und Jarockis Produktionen waren fast zeitgleich zum ersten Mal in Deutschland zu sehen - doch nur im Falle Robert Wilsons schlug die starke Irritation der Rezipienten überwiegend in Faszination und Bewunderung um. Die Differenz wurzelte vermutlich auch56 in der stärkeren deutschen Vertrautheit mit moderner amerikanischer Ästhetik - z.B. in der Bildenden Kunst - als mit der polnischer Prägung. Möglicherweise wäre Jarockis Inszenierung weitaus offener und positiver als kompaktes Gastspiel auf einem Festival rezipiert worden - mit diesem Gedanken hatte ja schon Ingrid Seidenfaden gespielt. Doch die in Opposition zur Theorieüberfrachtung des neuen deutschen Staatstheaterbetriebs veranstalteten Festivals des 'Freien Theaters' - als Gesamterlebnis quasi ein später Ableger des Happenings, in dem die internationale Freie Szene gastierte etablierten sich in Deutschland erst in den späten 70er Jahren.57
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Henning Rischbieter: Der dicke Zeigefinger. Skeptisches über Einstein on the Beach. In: Theater heute 1976, H. 11, S. 1. Heiner Müller: Die Kindheit kostümieren. Gespräch mit Holm Keller, 13.07.1994. In: Holm Keller: Robert Wilson [=Regie im Theater. Hrsg. von Claudia Balk]. Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch) 1997, S. 96-98. Die Diskussion unterschiedlicher ästhetischer Qualitäten kann in diesem Rahmen nicht gefühlt werden, um dem Vergleich nicht übermäßig Raum zu geben. Das Freie Theater fand in Deutschland seine größte Publikumsresonanz in der Präsentationsform des international ausgerichteten Festivals der späten 70er und frühen 80er
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Jerzy Jarockis Münchener Inszenierung der Mutter 1975 - ein Experiment am falschen Ort, zur falschen Zeit? Ein Nachhall der irritierenden Faszination hat bis in unsere heutigen Tage überdauert: Das Rollenportrait von Maria Nicklisch, das eine enorme mediale Wirkung entwickelt hat.58 Theater heute hob es im Juli 1975 auf sein Titelblatt, das Theaterlexikon Henning Richbieters publizierte diese Fotografie, und die Münchener Abendzeitung druckte sie noch im November 1995 großformatig ab zur Illustrierung ihres Nachrufes auf Maria Nicklisch, als sie nach einer 60 Jahre währenden Schauspielkarriere an den Münchener Kammerspielen59 verstorben war. Das Mädchen- und Feenhafte, das Zarte und das Zauberische der alten Dame - hier war es in ein optisches Bild gefaßt! Die von Maria Nicklisch verkörperte Mutter war schon von der äußeren Erscheinung her eine Kindfrau: in weißem Kleidchen, wie sie Mädchen um die Jahrhundertwende trugen, die hellen Haare zu blonden Gretchenzöpfen geflochten. Diese kindliche Alte verriet ihre Lebensjahre wie beim Betrachten von Familienfotos: Die Mutter oder Großmutter, ungewohnt jugendlich auf einem frühen Bildnis in einer Kleidung, die uns befremdlich historisch erscheint. Die zeitliche Distanz wird uns auf neue Weise bewußt: nicht die gealterte Erscheinung der heutigen Person, sondern das ungewohnte Ambiente der vor so offenkundig langer Zeit Junggewesenen springt uns in die Augen. Siegfried Kracauer hat diesen Vorgang beim Betrachten von Familienfotos wie folgt nach vollzogen: „Sah so die Großmutter aus? Die Photographie, über 60 Jahre alt [...], zeigt sie als junges Mädchen von 24."60 Im Epilog des „geschmacklosen Stücks" - so Witkiewicz' Untertitel - tritt nach dem Tod der Mutter eine „unbekannte Frau" auf. „Ihr Gesicht, ihre Gestalt und ihre Bewegungen ähneln frappierend denselben Elementen der MUTTER." 61 Sie sagt zu Leon: „Sicher erkennst du mich nicht, Leonderl, ich bin deine Mutter, im Alter von dreiundzwanzig Jahren, noch vor deiner Geburt."62 Die „[. . .] Großmutter auf der Photographie ist ein archäologisches Mannequin, das der Veranschaulichung des Zeitkostüms dient. [...] Vor den Augen der Enkel löst sich die Großmutter in modisch-altmodische Einzelheiten
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Jahre (Internationales Theaterfestival München 1977 - mit Unteibrechungen - bis 1985, Theater der Nationen Hamburg 1979, Theater der Welt Köln 1981 u.a.). In mehreren Varianten Fotos von Winfried Rabanus. 1935 hatte sie ihr Engagement an den Münchener Kanunerspielen begonnen, und sie blieb bis zu ihrem Tod im November 1995 Ensemblemitglied, wenn man sie auch in den letzten Lebensjahren nicht mehr auf der Bühne sah. Kracauer: Die Photographie (Anm. 22), S. 22-23. Witkiewicz: Die Mutter (Anm. 13), S. 43. Ebd., S. 44.
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auf. [...] Denn durch die Ornamentik des Kostüms hindurch, [...] meinen sie einen Augenblick der verflossenen Zeit zu erblicken, der Zeit, die ohne Wiederkehr abläuft. Zwar ist die Zeit nicht mitphotographiert [...], aber die Photographie selber, so dünkt ihnen, ist eine Darstellung der Zeit."63 Auf diese Weise scheint mir das Rollenportrait Maria Nicklischs im Kostüm der Mutter eine historische Fotografie in potenziertem Sinne zu sein: die Fotografie einer lebendigen „Fotografie", die nun verstorben ist. Fotografie und Zeiterfahrung - dieses Thema hat auch den vielseitigen Künstler Witkiewicz intensiv beschäftigt: Als seine Verlobte Jadwiga Janczewska sich 1914 das Leben genommen hatte, fertigte er von einer ihrer früheren Portraitaufnahmen Vergrößerungen an, denen er künstlich die Patina historischer Fotografien verlieh. „Die neuen Abzüge waren absichtlich unscharf und fleckig, was ihr Gesicht entstellte und zugleich den Prozeß des Verschwindens der Erinnerung suggerierte."64 Über die spezielle Situation dieser sehr persönlichen Nachbearbeitung hinaus, haftet vielen Portraits des Fotografen Witkiewicz eine betonte Zeitlichkeit an. Sich nicht mit dem äußeren Abbild einer Person begnügend, suchte er in seinen Portraitaufnahmen Momente der inneren Seelenbewegung sichtbar zu machen. Diese Fotografien sind Fixierungen eines flüchtigen Abdrucks der Seele porträtierter Persönlichkeiten. Auch auf dem Terrain der Fotografie mochte sich Witkiewicz nicht mit dem rein Äußerlichen, real Verfugbaren zufriedengeben. „Metaphysische Portraits" nennt der Sammler und Spezialist Stefan Okolowicz diesen Versuch, in die transzendentale Sphäre menschlicher Persönlichkeitsstruktur vorzudringen, und konstatiert abschließend. „Es scheint jedoch mögüch, Photographien zu schaffen, in denen sowohl der Realismus - dem Medium inhärent - als auch die Beziehungen zum realen Leben in den Hintergrund treten, wo ohne intellektuelle Analyse die vorhandene Organisation der Bildelemente direkt als Form auf uns wirkt. Damit wären die Bedingungen von Witkiewicz' Theorie der 'Reinen Form' erfüllt"65 - eben jenen ästhetischen Grundsätzen, nach denen Witkiewicz auch sein dramatisches Werk gestaltet und seine Theatervisionen entworfen hat. 63 64
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Kracauer: Die Photographie (Anm. 22), S. 22-23. Stefan Okolowicz: Metaphysische Portraits. In: T. O. Immisch, Klaus E. Göltz und Ulrich Pohlmann (Hrsg.): Witkacy. Metaphysische Portraits. Photographien von Stanislaw Ignacy Witkiewicz. Mit Texten von Urszula Czartoryska und Stefan Okolowicz. Leipzig (Connewitzer Verlagsbuchhandlung) 1997, S. 25-53, hier S. 37. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Fotomuseum im Münchner Stadtmuseum, sowie in Halle, New York und Chicago. Ebd., S. 53.
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Mrozek auf deutschsprachigen Bühnen Schwierigkeiten im deutsch-polnischen Dialog
Slawomir Mrozek ist seit drei Jahrzehnten einer der meistgespielten Dramenautoren Polens. Mit Ausnahme der Jahre 1968-1973, als die staatliche Zensur wegen eines öffentlichen Protestschreibens gegen den Einmarsch der Warschauer Paktmächte in die Tschechoslowakei alle Werke des seit 1963 im Ausland lebenden Autors verbot,1 hat Mrozek wie kaum ein anderer zeitgenössischer Dramatiker die Bühnen seines Heimatlandes geprägt. Einen Höhepunkt seiner Bühnenpräsenz bildete das Jahr des Internationalen Mrozek-Festivals in Krakau 1990, das auch mit zwei Festival-Bänden dokumentiert ist.2 Seit 1996 lebt Mrozek wieder in seiner Heimatstadt Krakau, er ist nach 32 Jahren der Emigration in das freie Polen zurückgekehrt. Schon 1985 hatte ihm das Jaruzelski-Regime die Einreise zum Besuch gewährt, das Krakauer Festival hatte den Künstler wie einen König mit Triumphzügen durch die Stadt geehrt. Zwar ist Mrozek nicht wie Václav Havel in der Tschechischen Republik zu politischen Würden aufgestiegen, und aus seiner Autobiographie geht auch deutlich hervor, daß ihm daran ganz und gar nicht gelegen wäre.3 Aber als einen heimlichen Regenten des polnischen Theaters mag man ihn wohl bezeichnen. 1
Mrozek hatte zunächst in Le Monde ein Protestschreiben veröffentlicht, das danach in mehreren Ländern des Westens nachgedruckt wurde. 1963 war er zu einem langjährigen Reiseaufenthalt nach Italien, später auch nach Berlin und Paris ausgereist. Aufgrund des Protestschreibens entzog die polnische Regierung ihm den Paß, und er blieb im Pariser Exil. Siehe hierzu die ausfuhrlichen Informationen bei Haiina Stephan: Mroiek, Krakow 1996, und die Autobiographie Mrozeks auf polnisch und englisch: Mroiek i Mroiek. Materialy ζ sesji naukowej zorganizowanej przez Zaklad Teatru Instytutu Filologii Polskiej Uniwersytetu Jagielloñskiego 18-21 czerwca 1990, Kraków 1994, sowie die deutsche: Burgtheater Stawomir Mroiek Tango, 1996, S. 127-168.
2
Vgl. Mroiek i Mroiek (Anm. 1); Mroiek Festival Cracov 17th-29th June 1994. In der mit Mroiek betitelten Krakauer Festivalsausgabe von 1994 analysiert Mrozek (in einer Art mentaler Autobiographie, die der Verführung gerade auch junger, mit Sexual- und Identitätsproblemen kämpfender Männer durch die kommunistische Ideologie selbstkritisch nachgeht) die Gründe seines jugendlichen Engagements für das Regime in Polen: „[...] the dominating ideological set-up, if accepted, unfailingly promisses a good career, and an upward mobile male has a much better chance (significance, mo-
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Minder stark, aber immer noch beeindruckend ist auch Mrozeks Bühnenpräsenz in den Ländern des Westens und allen voran auf den deutschen und deutschsprachigen Bühnen, allerdings mit Ausnahme der ehemaligen DDR. Dort war Mrozek ebenso wie in der einstigen UdSSR lange verboten; erst seit dem Mauerfall zeigen sich zaghafte Versuche, Mrozek auch in den neuen Bundesländern heimisch zu machen.4 Der Grund dafür, daß die westdeutschen Theater Mrozek feierten, die ostdeutschen ihn mieden, könnte in dem von Jan Blonski kolportierten Witz liegen, der schon Ende der 50er Jahre im Umlauf war: „Polen, die freieste Baracke im sozialistischen Lager."5 Selbstironisch bespötteln die Polen damit ihren Reichtum an geistiger Freiheit bei materieller Armut, während Intellektuelle aus der DDR noch 1982 die Demokratie in Westdeutschland als „Illusion" 'entlarven', der sie selber nicht erliegen möchten.6 Für die westdeutschen Bühnen hingegen war Mrozeks Stimme aus der Baracke Polen willkommener als die des im Westen lebenden Autors. Man kann hier einen Rezeptionsverlauf in drei Phasen mit abnehmendem Pendelausschlag zum Positiven und Negativen hin feststellen: Tango läutet 1966 einen wahren Mrozek-Boom ein, der in den 70er Jahren langsam verebbt, bis mit Der Schneider (1980), Der Schlachthof (1981) und Der Botschafter (1984/85)7ein Tiefpunkt erreicht ist, der sich in einer Rezension von Werner Schulze-Reimpell über die Essener Aufführung des 1973 verfaßten Schlachthofs vielleicht am deutlichsten kundgibt. Schulze-Reimpell sieht
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s
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ney, fame) than the one who remains at the bottom." (S. 130) In der mit „Autobiographie" übertitelten Version des AufRihrungsbuches vom Burgtheater (vgl. Anm. 1) erwähnt er seinen „Sinn für reine Ästhetik" (S. 155), der ihn von politischem Engagement für die westlichen Studentenerhebungen der 68er-Generation abhielt. Dieser mag ihn nun wohl auch vor der Übernahme politischer Aufgaben in Polen zurückschrecken lassen. Zur weitgehenden Abstinenz ostdeutscher Bühnen von Mrozeks Stücken zur Zeit der DDR vgl. Dietrich Scholze: Miejsce Mrozka w recepcji polskiego dramatu przez teatry NRD (1949-1990). In: Mroiek i Mrozek (Anm. 1), S. 20-26. Siehe Jan Bloñski: Cenzor jako czytelnik. In: Mroiek i Mroiek (Anm. 1), S. 131-135, hier S. 133. Vgl. beispielsweise Thomas Brasch: „[...] weil der Staat [gemeint ist die damalige BRD, H. S.] [...] sich ständig zurückzieht und so tut, als gäbe es ihn nicht, weil die Bundesrepublik 1945 da weitergewurstelt hat, wo 1933 aufgehört wurde, und eine allgemeine Lüge weiterbetrieben wird, nämlich die der Demokratie." Zitiert nach: Die Regisseure sind die großen Verhinderer. Thomas Brasch rechnet ab mit dem westdeutschen Theater und den 'Moden' des Kulturbetriebes'. In: Theater heute 1982, H. 9, S. 7. Die in Klammern gesetzten Jahreszahlen geben hier und im weiteren die Aufführungsjahre an, Jahreszahlen ohne Klammern, falls nicht anders angemerkt, bezeichnen die Veröffentlichungszeit des Textes der Stücke.
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in dem Stück einen hinter seinen eigenen Möglichkeiten zurückgebliebenen, weil „in den surrealen Wurzeln des absurden Theaters" verfangenen Autor, der sich in „schwärzestem Kulturpessimismus" ergehe.8 Er empfiehlt das Werk Zu Fuß (geschrieben 1980) zur Aufführung, das anstelle der „verbrauchten Ästhetik" eines „überwundenen Schaffensabschnitts" etwas Neues einleite.9 In den 80er Jahren ist Mrozek ein zwar immer wieder präsenter, aber nicht eben umjubelter Gast auf westdeutschen Bühnen, bis dann in der ersten Hälfte der 90er Jahre ein zweiter, allerdings bescheidenerer positiver Aufwind einsetzt, der kurioserweise weniger durch neue, als durch das alte Erfolgsstück Tango angeführt wird. Der unebene Verlauf der Rezeption auf deutschen und deutschsprachigen Bühnen hängt zum einen mit den politischen Ereignissen und Ost-Westbeziehungen, zum anderen aber auch mit Mrozeks künstlerischem Profil zusammen. Mrozek ist ein vielseitiger Schriftsteller, sucht sich aus einmal gefundenen Formen immer wieder zu befreien, behält sich aber auch die Option vor, zu alten Stilphasen zurückzukehren. Als Autor des östlichen Absurden Theaters in Polen und kurz darauf im Westen bekannt geworden (besonders wichtig sind die zwischen 1961 bis 1963 geschriebenen Einakter Auf hoher See, Strip-tease, Karol und Das Tanzfest), gibt er nach Tango die absurde Schreibweise auf, sucht Formen und Themen mit universeller Gültigkeit für ein nicht mehr heimisches, polnisches, sondern ausländisches, internationales Publikum, wobei er sich an Witkiewicz und Gombrowicz orientiert. In Westdeutschland meistbeachtete Stücke aus dieser Zeit sind wohl Nochmal von vorn und Die Propheten sowie Ein glückliches Ereignis.10 Mitte der 70er Jahre setzt sich Mrozek in Stücken wie Der Buckel, Das Schlachthaus, Emigranten, Der Schneider und Watzlaff mit dem Totalitarisme und dem Problem der Emigration auseinander, bemüht sich jedoch um eine kulturgeschichtliche und allgemein philosophische Weite des Blicks, die, wie Haiina Stephan schreibt, den Osten mit den Augen des Westens betrachtet.11 Zu
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Siehe Werner Schulze-Reimpell: Slawomir Mrozek Der Schlachthof. In: Theater heute 1981, H. 12, S. 58. Ebd. Ausführliche bibliographische Hinweise zu Rezensionen des Stücks Zu Fuß in deutschen Presseorganen siehe bei H. Stephan: Mroiek (Anm. 1), S. 195, Anmerkung 82 und 83. [Die Anmerkungen zu den Fußnoten in diesem Beitrag werden durch Abkürzung 'Anm.' gekennzeichnet, die 'Anmerkungen' in den zitierten Quuellen werden ausgeschrieben.] Vgl. dazu: ebd., S. 154-155, Anmerkung 23; S. 156, Anmerkung 26. Daß diese Umkehrung des Blicks nicht immer das von Mrozek erwünschte Ergebnis hatte, legt H. Stephan am Beispiel insbesondere von Emigranten dar. Im Westen sehe man in den aus osteuropäischer Sicht als Emigranten aufgefaßten Helden Immigran-
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Fuß, Der Botschafter, 1981, und Ein Sommertag, 1984, sowie Der Vertrag, 1986, bringen z.T. historische (Zu Fuß), z.T. kulturgeschichtliche Vertiefungen der allgemeineren Problematik, und mit Porträt, 1987, das auf dem Mrozek-Festival von 1990 das am häufigsten gezeigte Stück war,12 findet Mrozek zu einem international anerkannten Stil der Erforschung psychologischer Spätfolgen des Stalinismus.13 Der einst als Vertreter des östlichen Theaters des Absurden neben Václav Havel berühmt gewordene Autor bringt es also fertig, Historie, Ideologiegeschichte, aber auch Psychologie, die alle drei dem Absurden Theater fremd waren, stilistisch zu entwickeln. Mit Witwen, 1992 in Mexiko entstanden, aber erst 1995 vom Autor zum Druck gegeben, kehrt er dann zum Absurden seiner Anfangszeit zurück, anscheinend unbekümmert darum, daß das Theater des Absurden seit Mitte der 70er Jahre schon tot gesagt war, und sein vorläufig letztes Stück Liebe auf der Krim, 1993, rekapituliert wie Tango die Geschichte unseres Jahrhunderts, nun aber nicht mehr aus polnischer, sondern aus russischer Sicht, während Zu Fuß die geschichtliche Situation Polens am Ende des Zweiten Weltkriegs wie in einer Momentaufnahme eingefangen hatte.14 Einem derartig fazettenreichen, ständig sich selbst erneuernden Dramenautor auf der Spur geblieben zu sein und mit aktuellen Aufführungen dem eigenen Publikum nahe gebracht zu haben ist gewiß ein Verdienst deutscher Bühnen. Zu konstatieren ist aber auch, daß sich Slawomir Mrozek selber das Schicksal seiner Stücke in Deutschland besonders hat angelegen sein lassen. Man könnte von einem wechselseitigen, dialogischen Bemühen um Verständigung sprechen, woran nicht nur die Theaterkünstler und der Autor, sondern auch Theaterkritik und Theoretiker teilnahmen. Einige Faktoren dieses Dialogs wollen wir aufzeigen.
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ten, was höchst negative Konnotationen wachrufe; vgl. H. Stephan: Mroiek (Anm.l), bes. S. 177. Ebd., S. 214. Vgl. dazu auch D. Scholze: Miejsce Mrozka w recepcji polskiego dramatu przez teatry NRD (1949-1990) (Anm. 4). Das Stück Witwen wurde auf dem Festival des zeitgenössischen Dramas in Siena in einer Eigenregie Mrozeks gezeigt. In Wien brachte es das Reinhardt Seminar zur Auflühning; vgl. H. Stephan: Mroiek (Anm. 1), S. 221. In Moskau wurde es von Roman Kozak unter dem Titel Die Banane aufgeführt. Die Kritik erachtete es laut H. Stephan (ebd., S. 222) als das Werk, das „das russische Theater auf den Weg ins neue Jahrhundert gebracht hat". Liebe auf der Krim ist im polnischen Text zur Bewahrung seines Rhythmus und seiner Intonation graphisch besonders eingerichtet. Außerdem mußten die polnischen Intendanten eine Zehn-Punkte-Klausel des Autors respektieren, um das Aufführungsrecht zu erhalten. Vgl. dazu H. Stephan: ebd., S. 223-224.
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1. Die kommunikativen Faktoren der Bühnenaufführungen Mrozeks Ausländische Autoren haben es schwer, in das deutsche Bühnenrepertoire aufgenommen zu werden, besonders wenn sie wie Mrozek aus einem slavischen Land kommen, dessen Geschichte, Kultur, Literatur und Theaterentwicklung kaum bekannt sind. Mrozek hat auch nicht wie etwa der Tscheche Milan Kundera seine Muttersprache zugunsten der Sprache der Exilheimat preisgegeben, sondern ist als Erzähler wie auch Stückeschreiber stets dem Polnischen treu geblieben.15 Daß sich dennoch bei uns eine Auffiihrungstradition seiner Bühnenwerke etabliert hat, an die Regisseure, Theaterkritiker wie auch das Theaterpublikum anknüpfen können, verdankt sich hauptsächlich drei kommunikationssteuernden Faktoren: 1) Pilotauffiihrungen durch polnische Gastspiele und Gastregisseure, abgelöst durch Eigeninszenierung Mrozeks in Deutschland, 2) Polenreportagen besonders in Theater heute, die politische Umbrüche im Lande in ihrer Auswirkung auf die Theatersituation durchleuchten, und schließlich 3) theoretischen Studien von Kulturexperten Polens, die wiederum in Theater heute ein Forum finden, sowie ein besonders lebhaftes Reagieren der Theaterkritiker in Tageszeitungen, welche Mrozek-Auffiihrungen begleiten.
1.1. Pilotaufführungen und Eigenregie Mrozeks Anders als etwa Václav Havel, der durch die Wiener Bühnenwelt zu einer Art Hausautor gemacht wurde, oder auch als Thomas Bernhardt, dem Claus Peymann erst in Bochum, dann in Wien zu kontinuierlichen Uraufführungen verhalf, hat sich Mrozek nicht an einem großen deutschen Theaterhaus oder bei einem Regisseur dauerhaft einnisten können, sondern seine Bühnenpräsenz ist über Provinztheater wie fuhrende Theaterstädte breit gestreut. Diesem risikoreichen Schwebestatus arbeiten jedoch zu Beginn seiner deutschen Bühnenkarriere Gastspiele und Gastregiewerke berühmter polnischer Theaterschaffender stützend entgegen. Wie ein Paukenschlag wirkte die deutsche Erstauffiihrung von Tango am Düsseldorfer Schauspielhaus (21.01.1966) 15
Václav Havel hat die ihm vom Husák-Regime angebotene Emigration auch aus Gründen der Bindung an die Muttersprache nicht angenommen. Mrozek konnte in Witold Gombrowicz, der trotz jahrzehntelanger Emigration stets polnisch schrieb, ein Beispiel des gelungenen Versuchs, auch in einer fremden Sprachumgebung in der eigenen Sprache kreativ zu bleiben, finden.
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durch den Warschauer Regisseur Erwin Axer mit Schauspielern des Düsseldorfer Ensembles und in der Bühnenausstattung von Ewa Starowiejska. Das Stück hatte 1965 in Belgrad, Bydgoszcz und Warschau gleich drei Premieren erlebt, wovon die durch Axer besorgte Warschauer Inszenierung nicht nur nach Düsseldorf, sondern auch zu Theaterfestivalen nach Paris, Berlin und Florenz gebracht wurde. Heinz Engels, Assistent Axers in Düsseldorf, wiederholte die Axersche Bühnenversion sogar in New York.16 Von den zahlreichen Rezensionen in Deutschland17 sei auf die von Marianne Kesting (18.01.1966 in Die Zeit) und von Gerd Vielhaber (25.01.1966 in der Baseler National-Zeitung) näher eingegangen. Kesting gibt den Hauptfiguren des Stücks, Artur und Edek, verständniserleichternde dramatische Vorbilder in Gestalt der Shakespearischen Hamlet und Fortinbras bei und ordnet den Werkstil in die Traditionslinie westlicher neuerer Absurdisten wie Adamov, Ionesco und des älteren Jarry ein, knüpft sogar an die Brechtsche Dramatik an.18 Entsprechend deutschen Rezensentengepflogenheiten, die Gymnasiallehrerattitüden fortsetzen, hebt sie die 'Moral von der Geschieht' hervor: „Mrozeks eindringliche Lehre dürfte lauten: die liberale Anarchie ebnet den Elementen des Terrors den Weg. Das haben wir inzwischen mehr als einmal erlebt. Eine diskutable Lösung des Dilemmas ist uns bis heute nicht einmal am Horizont aufgedämmert." Was hier noch als willkommener didaktischer Zeigefinger gepriesen wird, soll dann später, in den 70er und 80er Jahren, Mrozek von deutschen Kritikern zum Vorwurf gemacht werden. Vielhaber ergänzt Kestings romanistische Bildungsorientierung um eine anglistische, indem er in Mrozek einen polnischen Gesprächspartner „der Pinter und Albee" erblickt. Die Ost wie West übergreifende Relevanz des Stücks läßt er durch einen anonym bleibenden Jungen polnischen Journalisten" artikulieren: „wäre der Autor Slowomir Mrozek (sie!) nicht als Pole, sondern im 16 17
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Vgl. dazu H. Stephan: Mrozek (Anm. 1), S. 137. Vgl. ebd., Anmerkung 33. Die Rezension von Marianne Kesting trägt den Titel: Zwischen Anarchie und Teror. Die Farce löste die Tragödie ab: Slawomir Mrozeks Tango im Düsseldorfer Schauspielhaus. In: Die Zeit, 28.01.1966. Gerd Vielhabers Rezension ist untertitelt mit: Artur, der 'Konter-Revolutionär' (Mrozeks Tango in Düsseldorf). In: National Zeitung, Basel, 25.01.1966. Für Materialien zu Tango in deutschen Presseorganen, für Textbücher und Pressestimmen zu Aufführungen Mrozekscher Stücke bei uns danke ich herzlich meiner Kollegin Brigitte Schultze am Slavischen Institut der Universität Mainz. Kesting zieht die Linie von Brecht zu Mrozek über den Brecht-Schüler Erwin Axer. Brecht ist in Polen nicht ganz so beliebt wie in Deutschland (Ost und West). Obwohl Mrozek sich in der Phase seines politisch engagierten Theaters Brecht durchaus annäherte, geht er wie Milan Kundera stärker auf die Tradition der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurück. Vgl. dazu auch H. Stephan: ebd., S. 161fF.
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Westen geboren, wäre ihm sein Artur sicher als Links-Intellektueller geraten. In Polen konnte er nur eine Art Konter-Revolutionär werden." Trotz beinahe überschwenglicher Begeisterung bemerken beide Rezensenten auch irritierende Momente an dem Stück, die sie aber unterschiedlich orten und bewerten. Während Vielhaber an Mrozeks „Parabel" im „absurde(n) Gewand einer vielschichtigen Satire" einen kompositorischen ,3ruch" zwischen den Akten als „Mangel" hervorhebt, konstatiert Resting eine Sprengung der „künstlerischen Geschlossenheit", die sie aber in einen Vorzug des Polen gegenüber Parabelautoren wie Kafka und Beckett ummünzt: Anders als diese, die „hermetisch abgeschlossene, letztlich nicht zu interpretierende Parabeln" lieferten, lasse Mrozek „die Figuren auf der Bühne" die „schwerer zugängliche parabolische Situation" so lange erläutern, „bis jeder sie verstanden hat". Sie lobt also die Technik der Selbstauslegung des Stücks durch den dramatischen Personendialog - auch dies soll in späteren Rezensionen dem Autor zum Fallstrick geraten. Aus den Kritikerstimmen geht hervor, daß der polnische Autor des Absurden Theaters, aufgeführt und interpretiert durch einen ebenfalls polnischen Regisseur, dem Publikum das zu geben vermag, was es bei westlichen absurden Dramatikern vermißt - die unmittelbare Verständlichkeit der Botschaft. Dies hatte schon Martin Esslin in Theater heute (1/1966) auf den Punkt gebracht. Anläßlich des Besuchs der Axerschen Aufführung in Warschau konstatierte er, das Theater habe das zurückgewonnen, was es im Westen „so weitgehend verloren" habe: „das Gefühl der Zuschauer, bei einem wirklichen Ereignis anwesend gewesen zu sein." Er dehnt diesen Befund auch auf Aufführungen von Havels Gartenfest und Ivan Klimas Das Schloß in Prag aus, lobt alle drei Vertreter des östlichen Absurden wie auch ihr heimisches Publikum wegen ihrer unmystifizierenden Schreibweise einerseits und seiner auf Eindeutigkeit der zweideutigen Aussageformen gerichteten Interpretationsneigung andererseits.19 Mrozek und seine tschechischen Altersgenossen junger Absurdisten ebenso wie der theatralische Kommunikationsprozeß unter den Bedingungen eines unterdrückerischen, in seinen Zensurmaßregeln aber schon verunsicherten kommunistischen Systems erscheinen wie Vorbilder gesunder Theaterwelt gegenüber westlicher Dekadenz.20 An Axers Regieerfolg kann Jerzy Jarocki 15 Jahre später anknüpfen. Auf dem Theater-Festival in Köln 1981 präsentiert er eine mit Krakauer Schau19
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Vgl. dazu Martin Esslins: Politisches Theater - absurd. Eindrücke von neuen Stücken aus Polen und der CSSR. In: Theater heute 1966, H. 1, S. 8-11; sowie Esslins: Stationen einer 'éducation théâtrale'. In: Theater heute 1985, Jahrbuch, S. 32-33. Einen eindrucksvollen Einblick in die Mühsale der staatlichen Zensoren im Fall von Mrozeks Die Polizei gibt Jan Bloñski: Cenzor jako czytelnik (Anm. 5).
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spielstudenten einstudierte Inszenierung von Zu Fuß, ein Jahr später auf dem Festival in Berlin seine mit einem professionellen Ensemble erarbeitete Warschauer Version. Andrzej Wirth, der anläßlich eines Polenreports die Krakauer Auffuhrung beschreibt, hebt zwei Momente hervor: Mrozeks Fähigkeit, Löcher im kollektiven Gedächtnis Europas aufzufüllen - der Westen habe die historische Nullstunde zwischen dem Abzug der Deutschen aus Polen und dem Einzug der Russen bisher „ausgelassen"; das Talent des Regisseurs sowie seines Bühnenbildners Jerzy Juk-Kowarski, einen „Sturz der Bilder, mit Momenten scharfer Stille dazwischen" zu inszenieren.21 Offensichtlich bedarf es eines großen Regisseurs, um die Mrozeksche Komplementarität von visueller Bildlichkeit und Stille, von Sprechen und Verschweigen, die im übrigen auch dem von Vielhaber gerügten „Bruch" zwischen den Akten in Tango zugrunde lag, 22 zu Bühnenwirksamkeit zu bringen. Eher bescheidenen Resultats blieb der Versuch des Warschauer „Fernsehtheatermanns"23 Jan Kulczynski, am Deutschen Theater in Göttingen Mrozek zu einer Art Hausautor zu machen. Mit Der Buckel (1977), Der Schneider (1980), Der Botschafter (1985) und Porträt (1990) verfolgt er die Entwicklung des Dramatikers auch in weniger publikumswirksame Stilexperimente hinein, dabei noch behindert durch einen einfallslosen Bühnenbildner. Anstelle der Komplementarität, die jedem Ausdruckselement der Bühne eigene
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Siehe: Polen 1945 und 1981. Ein Reisetagebuch von Andreas Wirth. Die Geschichte hält den Atem an. In: Theater heute 1981, H. 5, S. 10-16, hier S. 12. Beachtenswert ist auch die Anmerkung zu Peter Lachmanns: Das Leiden - ein Traum. In: Theater heute 1983, H. 1, S. 17-24, hier S. 20. Zwischen dem zweiten und dritten Akt von Tango verläßt Artur, der bis dahin nur im geschützten Kreis seiner Künstler-Familie von „neuen" Formen (die aber die alten sind) schwadroniert hatte, das Haus. Nach seiner Rückkehr ist er gebrochen und will nun anstelle der Formerneuerung eine ideelle Erneuerung, die er in der Macht zur Tötung anderer zu finden meint; was ihm in der Außenwelt widerfahren ist, wird nicht berichtet. Jan Bloñski liefert eine psychologische Studie des hedonistisch im Zeichen des l a i s s e r f a i r e erzogenen, unreif bleibenden Menschen, dessen illusionäre Wirklichkeitsvorstellung beim ersten Zusammenprall mit der gesellschaftlichen Realität einstürzt, was zu Trotzreaktionen der Gewalt führt. Vgl. Bloñski: Dramaturgia modelów. In: ders.: Mroiek. Wszystkie sztuki Stav/omira Mroika, Kraków 1995, S. 97140. Ergänzend ließe sich sagen, daß die „neuen" Formen, mit denen Artur die Gesellschaft beglücken will, in der Alltagswelt der ehemaligen sozialistischen Länder durchaus Usus waren: Hochzeit in Weiß, Kirchenglocken, romantische Hochzeitsmusik und elterlicher Segen, wozu Artur seine liberalen Künstlereltern erst zwingen muß, waren z.B. in Polen sehr beliebt. Artur hätte demnach in der Außenwelt entdeckt, daß seine „neuen" Formen jenseits des Familienkreises schon restauriert waren. So die Rezension von Jochen Hieber: Machen Kleider Leute? Mrozeks 'Der Schneider' in Göttingen. In: Theater heute 1980, H. 12, S. 56.
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semantische Ladung verleiht, scheint das Bühnenbild zu schlichter Illustration des ohnehin Bekannten zu dienen: Porträt beispielsweise wird in der Göttinger Ausführung durch einen „aufblasbaren Stalinkopf'24 auf der Bühnenwand banalisiert. Eine russische Inszenierung, die anstelle des Porträts Stalins in das Publikum gerichtete Spiegel verwendete, sowie eine ostdeutsche, die den Stalinkopf und Hände über einer Mauer hervorkommen ließ, vermochten Mrozeks Analyse unfrei erzogener Menschen nachdrücklicher zu gestalten.25 Mrozek hat, soweit mir ersichtlich wurde, in Deutschland nur eine Auffuhrung inszeniert.26 1984/85 versucht er sich mit Der Botschafter an der Neuen Schaubühne in München (Tourneetheater) zum ersten Mal an einer Theaterregie. Das Stück hatte seine Uraufführung im Oktober 1981 in Warschau in der Regie des renommierten Regisseurs Kazimierz Dejmek erlebt, war aber nach Einführung des Kriegsrechts abgesetzt worden. Trotz der politischen Anstößigkeit folgten bis 1989 weitere elf Premieren in Polen. Nach der deutschen Erstaufführung durch Tom Toelle am Berliner Schloßparktheater mit Boy Gobert in der Rolle des Botschafters, die auf wenig Gegenliebe bei der Theaterkritik stieß,27 bedurfte es viel Muts des Regisseurs, der auf den Premieren in Warschau und Berlin anwesend gewesen war, sich nicht nur als Autor, sondern zusätzlich als Regisseur zu dem Werk zu bekennen. Über das Echo dieses Regieversuchs schweigt sich sogar die ansonsten peinlich genaue Autorin der neuesten Mrozekschen Theaterbiographie, Haiina Stephan, aus. Zu vermuten ist, daß Mrozeks Regie sowenig wie das Stück überzeugte.28 Mrozeks Regiepräsenz in Deutschland war bis dahin schon in einer anderen Form der kommunikativen Teilhabe am Theater vorbereitet gewesen, nämlich in Aufsätzen und Anmerkungen in Programmheften, so etwa anläßlich der Einspielung von Watzlaff in Zürich (1970), zu der Auffuhrung des Buckels in Göttingen u.a. Ging es ihm dort um eine Eigeninterpretation sei2
" Vgl. die Rezension von Ronald Meyer: Langeweile, die Rache der Geschichte. In: Theater heute 1990, H. 1, S. 45. 25 Vgl. hierzu H. Stephan: Mrotek (Anm. 1), S. 215, und Anmerkung 106. 26 Dies scheint zumindest nach H. Stephan: ebd., so zu sein. 27 Vgl. das besonders bissige „Aus Schmalz gehauen" von Henning Rischbieter in: Theater heute 1982, H. 3, S. 37. 28 Die Autorin nennt unter den immerhin recht zahlreichen Kritiken in Deutschland keine im Titel positive (hierzu drei Beispiele: „Lauter Problemfölle. Deutsche Erstaufführung von Mrozeks Botschafter"; „Papierparabel. Slawomir Mrozeks Botschafter „Die gemütliche Weltkrise. Mrozeks Stück Der Botschaften). Im Haupttext schreibt sie anschließend an den Satz, der Mroieks Eigenregie aussagte: „Die Kommentare zum Thema des Stücks waren keineswegs so kritisch, wie man hätte erwarten können." Siehe Stephan: Mrotek (Anm. 1), S. 200 und Anmerkung 87.
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ner Stücke, die möglichen Fehldeutungen vorbeugen sollte, so pointiert der Aufsatz „Warum ich mein Stück 'Der Botschafter' inszeniere", abgedruckt im Programmheft der Münchner Inszenierung,29 noch etwas anderes: Mrozek will, wie er expressis verbis sagt, „Verantwortung" für das Stück übernehmen, in der „Frontlinie" stehen. Die martialische Sprache ist nicht zufallig, denn Der Botschafter setzt eine mit Watzlaff (das der Autor fast zeitgleich mit dem ersten Tag der Besatzung der Tschechoslowakei durch die Warschauer Paktmächte zu schreiben begonnen hatte - der tschechische Name des Titels spielt darauf an) initiierte agitatorische Stilphase fort und fuhrt sie zum Höhepunkt eines Agitprop-Stücks mit umgekehrtem Vorzeichen. Watzlaff, Der Schlachthof, Der Botschafter, später auch Porträt sind Aufklärungsdramen mit didaktisch-warnendem Zeigefinger: Der liberale, von Mrozek ebenso wie von anderen östlichen Emigranten als dekadent angesehene Westen soll vor der Brutalität und Vitalität des kommunistischen Blocks und seiner verführerischen marxistischen Ideologie gewarnt werden. Diese Botschaft, die, schon in Tango und im Erfolgsstück Die Polizei30 enthalten, in den 60er Jahren gern vernommen worden war, verliert in den 70er und frühen 80er Jahren zunehmend an Reiz. Wie taub die Ohren geworden sind, verdeutlichen beispielsweise die Überschriften von Rezensionen zu Watzlaff in der Züricher Uraufführung: „Der zerschlagene Mrozek" (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.02.1970), oder zur Aufführung in Hamburg: „Schiffbruch für Mrozek. Watzlaff in Hamburg" (Die Welt, 18.05.1970). Der Rezensent in der Frankfurter Allgemeine Zeitung versteigt sich sogar zu der Annahme, der Autor könne mit dem Stück seine Reputation verlieren.31 Mrozeks Warnungs- und Aufklärungshaltung, die ja angesichts der Niederschlagung des Prager Frühlings und des Verbots der 'Solidamosc' in Polen ab 1981 durchaus aktuell ist, war durch sein Pariser Exil, das ihn die dortige Studentenrevolte mit neomarxistischen Zügen hatte miterleben lassen, angestachelt worden. Doch offensichtlich findet er weder als Dramatiker noch als Programmheftautor noch gar als Regisseur den geeigneten Ton, die westdeutsche Theaterwelt zu erreichen. Eine spätere, höchst zweideutige Rezension von Wend Kässens in Theater heute (6/1983) anläßlich der Inszenierung des Botschafters in Hannover 29
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Informationen und Textauszug finden sich bei H. Stephan: ebd., S. 196 und Anmerkung 85. Auch in weiteren Passagen ihrer Monographie greift Stephan auf Mrozeks Aufsatz zurück. Auf diese beziehe ich mich. Dieses frühe Drama manifestiert schon das Bemühen des Autors, die Regiefteiheit einzuschränken. Vgl. dazu den „Hinweis für eine eventuelle Inszenierung", abgedruckt in: Slawomir Mrozek: Tango und andere Stücke. München 1980, S. 6. Vgl. H. Stephan: Mroìek (Anm. 1), S. 163 und Anmerkung 36.
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durch Peter Fricke offenbart, daß nicht nur dramatische und theatralische Form, sondern auch die Aussage des Stücks nicht ankommen: Das Bühnenbild mit vergittertem Fenster, Betonmauer und Stacheldraht, die einen in westlichem Schick ausgestatteten Botschaftsraum eindeutig lokalisieren, werde in seiner Plattheit durch chargenhaft agierende Schauspieler ergänzt und durch gekünstelte Regie abgerundet. Bis hierher kritisiert der Rezensent ausschließlich die Theaterschaffenden. Doch der auf den Werktext gemünzte Satz: „Aber selbst die totale Isolierung der Botschaft durch die Behauptung, das Land ihrer Zugehörigkeit habe sich schlicht aufgelöst, können (sie!) der heldenhaften Ehre, mit der der Botschafter den Flüchtling verteidigt, nichts anhaben", in Verband mit der Überschrift: „Die Botschaft gibt es wohl, allein..."32, müßte Mrozek, hätte er auch - wie bei der von den Kritikern bespöttelten Berliner Aufführung - im Publikum gesessen, ins Herz treffen. Mrozek läßt in seinem Stück einen westlichen Botschafter alten, vornehmen Stils einen Flüchtling, der ihn um Hilfe bittet, unter Gefahr des eigenen Lebens gegen eine Regierungsmafia östlicher Provenienz verteidigen, dies ausschließlich wegen seines Ehrgefühls. Im polnischen Begriff Ehre (polnisch: honor) verbindet sich ein aristokratischer Lebensstil mit einem internalisierten Wert- und Würdebewußtsein der eigenen Person, innerer Charakter und äußere Form kommen also konzentrathaft zusammen. Da im Deutschen Ehre als Wort und als Begriff fast inhaltslos, gar lächerlich geworden ist, können ein Text und eine Rolle unter diesem Vorzeichen nicht zum Klingen gebracht werden, es sei denn, der Rezipient - und Rezensent - löse sich von seinen Schablonen. Vielleicht war Mrozeks Versuch der Eigeninszenierung gerade von Der Botschafter aus dem Bewußtsein der Diskrepanz zwischen der deutschen und polnischen Kultursphäre hervorgegangen. Sein im Programmheft verwendeter Ausdruck der „Verantwortung", der in Deutschland positivere Konnotationen hat, könnte darauf hinweisen. Ein Fingerzeig auf die deutsche, philosophische Verantwortungsethik erübrigt sich hier wohl. Trotz der Flauten und Peinlichkeiten hat Mrozeks persönliche Steuerung der Rezeption seiner Stücke vermutlich aber doch insofern Wirkung gezeigt, als jede Neuinszenierung in Deutschland ein 'Rauschen im Blätterwald' hervorruft. Unwichtig dürften hierbei auch nicht die ausfuhrlichen Polenbeiträge in Deutschlands gewichtiger Monatszeitschrift Theater heute sein.
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Theater heute 1983, H. 6, S. 54. Das Bühnenbild der Hannoverschen Inszenierung besorgte Anita Rask Nielssen. Bei der Berliner Aufführung war Hans Brosch Bühnenbildner.
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1.2. Die Polenreportagen in Theater heute Greifen wir uns das Jahrzehnt der 80er Jahre heraus, gegen dessen Ende in allen Ländern des Ostblocks die kommunistische Herrschaft zerbrochen ist, dann lesen sich die Berichte dieser Zeitschrift wie eine Aufzeichnung seismographischer Erschütterungen, die, zu Beginn des Jahrzehnts vom Satellitenstaat Polen ausgehend, das Zentrum Moskau erfassen und an seinem Ende nach Polen zurückschwingen. Verwunderung muß bei dem deutschen Betrachter der Boykott der staatlichen Medien durch die 'Solidarnoác'-treue Schauspielerinnung ab 1982 wecken, den sowohl der Erzbischof Glemp wie das Bildungsministerium - der eine durch Überredung, das andere durch Zwangsmaßnahmen - durchbrechen wollten.33 Ein vergleichbar entschlossenes Eintreten der Künstler fur eine regierungsunabhängige Theatergewerkschaft ist nach den Lageberichten in derselben Zeitschrift über die DDR noch im Übergangsjahr 1990 vor der Wiedervereinigung nicht zu erwarten gewesen.34 Die vier großen kulturpolitischen Reportagen in diesem Zeitraum kehren zwar, mit Ausnahme der ersten (5/1981), in Wort und Bild (so etwa 1/1983, S. 18, wo ein knieender Lech Walçsa bei der Morgenmesse in einer Halle der Danziger Leninwerft gezeigt wird) den politischen Aspekt hervor, doch Gravitationszentrum der Berichterstattung sind Theaterereignisse und -reflexionen. Ein Konterfei Mrozeks auf dem Titelblatt der Zeitschrift, gleich unter der Ankündigung des ersten Reports „Polen 1945 und 1981. Ein Theatertagebuch" (5/1981), spitzt die im Covertext gestellte Frage: „Welche Auswirkungen haben die jüngsten politischen Ereignisse auf die polnische Theaterszene?" auf unseren Autor zu - ambivalent offen hinsichtlich seiner passiven (Verbot aller Stücke durch die Regierung) oder aktiven (die Agitprop-Stücke Mrozeks, die den Westen aufrütteln sollen, s. dazu oben in unserem Text) Rolle. Andrzej Wirths Theatertagebuch stilisiert nun Mrozek für die deutsche Leserschaft nicht zum Widerstandshelden, denn das Pathos der Heldenvereh33
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Vgl. dazu „Polen 1982." In: Theater heute 1983, H. 1, S. 17-27; das Witkiewicz-Jubiläum in Warschau, über das H. 2 aus dem Jahr 1986 berichtet, war ein Versuch der Regierung, die Theaterkünstler mit ihren eigenen Mitteln zu gewinnen. Vgl. hierzu bes. die Sparte „Theater in der DDR" in: Theater heute 1990, H. 3, S. 2935, insbes. die dortige Diskussion innerhalb des und um den Verband der Theaterschaffenden der DDR. Aufschlußreich über die mögliche, aber ungenutzte Macht der Schauspieler ist die Bemerkung Gregor Gysis: „Die Machthaber scheuten immer den Konflikt. Selbst ein Streik von Schauspielern hätte sie in eine brenzlige Situation gebracht." In: G. Gysi: „Anwalt der Enterbten? Gregor Gysi - ein Theater heute-Gespräch von Michael Merschmeier und Franz Wille." In: Theater heute 1993, H. 10, S. 4-12, hier S. 7.
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rung ist in Deutschland weniger gefragt als in Polen. Doch seine ausfuhrliche Beschreibung der Aufführung von Zu Fuß durch Jerzy Jarocki am Teatr Stary (Altes Theater) in Krakau läßt bemerkenswerte Zusammenhänge zwischen den aktuellen politischen Vorgängen, der geistig-künstlerischen Geschichte des Landes und der Biographie Mrozeks als Emigrant und Verfasser des Protestschreibens schon gegen die Besetzung der Tschechoslowakei im Jahre 1968 aufscheinen: Jarocki hat dem Epilog des Stücks eigenmächtig einen Prolog an die Seite gestellt, eine Szene aus Witkiewiczs Die Mutter zum Thema der kulturpessimistischen Vision vom Untergang des großen, schöpferischen Individuums im 20. Jahrhundert, eine Obsession dieses prophetenhaften Künstlers. Im Epilog läßt der Regisseur Superiusz, ein wiedererstandener Witkiewicz, über ein Seil balancierend ins Fenster und Jenseits springen, worin eine Anspielung auf Witkiewiczs Selbstmord 1939 nach der Okkupation durch Hitler-Deutschland enthalten ist. Im Stück gehen der Bauer und sein Sohn, in welchem nicht nur Wirth, sondern auch polnische Interpreten den jungen Mrozek vermuten,35 „zu Fuß" durch den Dreck und die Trümmer des verwüsteten Landes „nach Hause", im Kopf die Moral: „Lüg nicht, stiehl nicht und sage den anderen nicht, was sie zu tun haben." (S. 13) Beides, das stille Nachhausegehen, Bleiben, Aufbauen des Zerstörten wie auch das Leben nach Maximen schlichter Moral ohne Herrschaftsanspruch war nicht Sache Witkiewiczs noch die kommunistischer Ideologen, ist aber Mrozeks Sache. Auch dies wirft ein Licht auf seine Verantwortungshaltung, wie er sie bei uns bekannt hat. Während die beiden folgenden Polen-Berichte je einzelne Theaterereignisse ins Zentrum rücken (1/1983: „Polen 1982", S. 17-27, setzt mit Peter Lachmanns Aufsatz über den damals gerade verstorbenen Dramatiker und Regisseur Helmut Kajzar und einem anschließenden Interview zwischen Lachmann und Kajzar ein; 2/1986: „Polen nach dem Kriegsrecht: Kultur, Politik, Theater und das Witkiewicz-Jubiläum", S. 1-9, liefert eine Art Witkiewicz'scher Gegenperspektive auf die laufenden, politischen Ereignisse zu der Mrozekschen in 5/1981), scheint der vierte Polen-Report anläßlich der bevorstehenden Präsidentenwahl Mrozek aus der Theaterszene völlig zu verdrängen: Wajda, Kott, Stuhr, Grotowski, Gombrowicz, Szczypiorski, Kaiina - allesamt wichtige Regisseure, Theatertheoretiker, Schauspieler, Theatererzieher, Dramatiker u. dgl. - figurieren schon auf dem Titelblatt. Doch ein 35
Vgl. dazu H. Stephan: Mroiek (Aran. 1), S. 193. Nina Király berichtet, daß Jarocki in anderen Auffuhrungen mit den Krakauer Schauspielschülern das autobiographische Modell in der Methode der Textmontage noch stärker hervorgehoben hat. Vgl. N. Király: Mrozek w inscenaçjach Jerzego Jarockiego. In: Mroiek i Mroiek (Anm. 1), S. 82-85, hier S. 83.
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Untertitel des Reports, „Wer kommt nach Mrozek und Rózewicz?" (S. 8), macht aus Mrozek eine Art Führungspersönlichkeit analog Lech Watçsa, dem Arbeiterführer. Die Tatsache, daß Tadeusz Rózewicz neben Mrozek gestellt wird, erklärt sich daraus, daß beide die wichtigsten lebenden Dramenautoren Polens sind. Der junge Mrozek war Schüler Rózewiczs, und dies nicht nur in künstlerischer Hinsicht (beide vertraten die absurdistische Strömung), sondern auch in deijenigen der unpathetischen Moral.36 Die konkrete Wirkung der Polenreportagen auf die westdeutsche Theateröffentlichkeit bleibt Thema der Spekulation, wenngleich die Informationen über literarisch-dramatische, theater- und zeitgeschichtliche Zusammenhänge mit Sicherheit vorhandene Wissenslücken schließen. Wie gesucht dieses Material aber in Ländern des Ostblocks war, darauf macht ein Leitartikel aus der Feder Peter von Beckers aufmerksam, den er anläßlich der Reperkussionen des Falls der Mauer in der Theaterwelt der ehemaligen DDR schreibt. Den Vorwurf, Theater heute erhebe sich zum Richter über Künstler der neuen Bundesländer, weist er mit dem Aufklärungsauftrag der Zeitschrift zurück und schreibt: Theater heute galt seit den sechziger Jahren bei Künstlern, Schriftstellern, Intellektuellen und Theaterleuten zwischen Bukarest und Schwerin als Schmuggelgut: ein im Ostblock unterdrücktes, unter der Hand weitergereichtes Stück Information, ein publizistisches Forum der Wahrheitssuche [...]. Diese Zeitschrift hat nicht nur Müller, Mrozek, Braun und Hein, sondern auch Václav Havel und Lutz Rathenow gedruckt, als diese Autoren als Zeitzeugen andernorts noch nicht so begehrt waren wie heute.37
Bekanntlich druckt jede Nummer der Zeitschrift einen Werktext ab, die erwähnten Mrozek und Havel figurieren mehrmals mit übersetzten Stücken. Doch nicht nur diese Wissensform dürfte gemeint sein. Auch die Lageberichte über die Theater in den Ländern der genannten Autoren über Repression und Widerstand sind wohl mitgemeint. Auf Hintergrundwissen der Art, wie es die genannten Polenreportagen anbieten, greift die Theaterkritik Mrozekscher AufRihrungen auch im Westen gern zurück. Ganz anders hingegen geht sie mit den in Theater heute abgedruckten, besonders in den 80er Jahren häufigen theoretischen Aufsätzen von Polenexperten wie Jan Kott, Peter Lachmann und Andrzej Wirth um: 36
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Vgl. dazu auch Herta Schmid: Das moderne polnische Drama. In: Die literarische Moderne in Europa. Bd. 2: Formationen der literarischen Avantgarde. Hrsg. von Hans Joachim Piechotta, Ralph-Rainer Wuthenow, Sabine Rothemann. Opladen, S. 393423. Peter von Becker: „Der Fall Gero Hammer, und andere(s) Lügen, Stasi, Stellungnahmen - Zur Fortsetzung der Debatte..." In: Theater heute 1992, H. 2, S. 1-2, hier S. 1.
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Sie läßt es liegen, macht kaum Gebrauch von ihm. Da aber gerade diese Studien für die neueste Bühnenauffiihrung von Tango durch Konstanze Lauterbach am Wiener Burgtheater, mit der wir unsere Übersicht abschließen wollen, relevant werden könnte, sei der Gegenstand zusammenfassend erörtert.
1.3. Theoretische Studien von Kulturexperten Polens Als zentralen Kern der gemeinten Beiträge 38 lassen sich zwei begriffliche Oppositionspaare, (Bühnen-)Illusion versus Wirklichkeit und Kunst versus Leben, herausschälen. Zwischen beiden Begriffspaaren besteht keine Beziehung der Synonymik, Illusion kann hier nicht durch Kunst, Wirklichkeit nicht durch Leben ersetzt werden. Vielmehr steht hinter jedem dieser Paare eine eigene Geschichte der Poetik und Ästhetik von Drama und Theater. Das Paar 'Illusion' versus 'Wirklichkeit' verbindet sich in Deutschland mit dem Theater Bertolt Brechts und kulminiert in dessen berühmter, von dem russischen Regisseur Meyerhold übernommener 39 Lehre vom V-Effekt; Slawomir Mrozeks Aufklärungs- und Verantwortungshaltung schließt an diese Tradition an. 40 'Kunst' versus 'Leben' dagegen verläuft in Polen über die 38
Berücksichtigt wurden von mir vor allem: Jan Kott: „Das Ende des Unmöglichen Theaters." In: Theater heute 1980, Jahrbuch, S. 138-143; Andrzej Wirth: „Grotowski nach 20 Jahren." In: ebd., S. 144-146; Jan Kott: „Der versetzte Zettel oder die EselLiebe einer Königin als historische Theateipremiere." In: Theater heute 1981, H. 8, S. 32-41; Jan Kott: „Die Wahrheit des Theaters." In: Theater heute 1984, Jahrbuch, S. 24-25; Barbara Hahn: „Die Realität der Bilder. Zwischen Video-Performance und Theater: Jolanta Lothe und Peter Lachmann zeigen 'AKT-ORKA' - Ein Bericht aus Warschau." In: Theater heute 1989, H. 7, S. 16-17. Eine Gegenposition zu Kotts Shakespeare-Sicht nimmt Roger Planchón ein, so in dessen Beitrag: „Noch weiter zurück zu Shakespeares Mythen, Göttern und Geistern." In: Theater heute 1981, H. 3, S. 32-38. Den technisch-didaktischen Aspekt seiner mystischen Kunstauffassung legt Jerzy Grotowski in Theater heute 1982, H. 9 in einem Aufsatz mit der Überschrift „Spannung und Entspannung müssen zusammenspielen. Jerzy Grotowski über westliche und fernöstliche Schauspielkunst.", S. 13-14, dar. In der mystischen Sicht ließe er sich Planchón an die Seite stellen.
39
Vgl. dazu Herta Schmid: Rezension zu Katherine Bliss Eaton, The Theater of Meyerhold and Brecht. In: Forum Modernes Theater 1989, H. 2, Bd. 4, S. 203-209. Vgl. auch Anm. 18. Genauere Einsicht in die Filiation Brecht-Meyerhold-Stanislavskij gibt Marianne Resting: Stanislawski - Meyerhold - Brecht. In: Forum Modernes Theater 1989, H. 2, Bd. 4, S. 122-138. Sue-Ellen Case („Der Zwang zum Modell und zur Metapher. Tendenzen und Widersprüche im DDR-Theater von Sue-Ellen Case." In: Theater heute 1980, H. 10, S. 8-14) beschreibt zwei Linien des Brechtschen Schaffens (die epische und die der Lehrstücke) und deren Schicksal in der DDR, was auch miterklärt, warum Mrozek in diesem Teil Deutschlands so unbeliebt war.
40
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Traditionslinie Witkiewicz, Gombrowicz, Grotowski, letzterer knüpft mit seiner Poetik des sogenannten Armen Theaters auch an das Theater der Grausamkeit von Antonin Artaud an und beeinflußt in den USA das Living Theater. Diese Linie fuhrt in ihren letzten Konsequenzen, insofern sie das Leben über die Kunst stellt, zur Zerstörung des Theaters; Jan Kott berichtet eindringlich, daß dabei schließlich auch das Leben draufgezahlt wird 41 Mrozek lehnt eine derartige Poetik und Ästhetik ab, er verweigert die in Polen seit der Romantik von Künstlern reklamierte Pose metaphysischer Propheten, auf die insbesondere Witkiewicz noch lauthals Anspruch erhoben hatte.42 In den analytischen Passagen der einschlägigen Aufsätze Jan Kotts wird beiden Begriffspaaren eine gemeinsame theoretische Grundlage, nämlich die des Zeichens, gegeben. Alle sinnlich wahrnehmbaren Elemente der theatralischen Aufführung wie Wort, Ding, akustischer und musikalischer Laut sind Zeichen für bewußtseinsimmanente Bedeutungen, und erst über diese können sie mit der gehandelten, erfahrenen, emotional erlebten und rationell begriffenen Lebenswirklichkeit in Verbindung treten. Die Art der Theaterzeichen ist nun in den beiden Linien der Ästhetik ganz unterschiedlich: Illusion versus Wirklichkeit setzt auf rational konstruierte und in ihrer Konstruktion durchschaubare, kontrollierbare Zeichenpraxis des Theaters, Kunst versus Leben rekurriert auf magische Zeichenbeschwörung, auf heiliges Ritual, das verehrend mit- und nachvollzogen, nicht aber distanzierend kritisiert wird. Die letztere Linie manifestiert auch die Neigung, Sprache und dramatischen Dialog aufzuheben und durch vermeintliche Natursprache oder Hieroglyphen zu 41
Siehe hierzu besonders Jan Kott: Das Ende des unmöglichen Theaters (Anm. 38), wo er zwischen der Auffuhrung des Living Theater Paradise Now, dem Verfall der amerikanischen Hippie-Kultur durch Heroin und schließlich dem Massenselbstmord der Moon-Sekte (November 1978) im Dschungel von Guayana eine Verbindungslinie zieht, in die an den entsprechenden Stellen auch Artaud und Grotowski (dieser mit Einschränkung) eingeordnet werden. Brechts Verfremdungsästhetik und Mrozeks nüchterne Aufklärungshaltung nehmen sich gegen diese Linie magischer Zeichenpraxis, die Kott auch einmal als „Seuche" (S. 140) bezeichnet, wie Gesundungsmittel des zerrütteten Verstandes aus.
42
In einem Brief an Konstanty Puzyna schreibt Mrozek über den Schlachthof, das laut H. Stephan: Mroiek (Anm. 1), S. 166, das happening von Hermann Nietzsch, bei dem das Schlachten von Tieren inszeniert wurde, zum Erfahrungshintergrund hatte: „Meiner Meinung nach ist Der Schlachthof die Verfolgung eines Wegs [...]: Vergötterung der Kultur, die Kultur als absoluter, übergeordneter Wert. Dann natürlich der Zusammenbruch, wenn es zur Konfrontation mit dem 'Leben', mit Tod, Leiden, Morden kommt. [...] Die zeitgenössische Schlußfolgeiung: Laßt uns daher kulturlos sein, und noch weitergehend, laßt uns auf der Seite der letzten Wahrheit, d.h. des Todes sein." (Zitat in meiner Übersetzung aus H. Stephan: ebd.)
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ersetzen. In der ersteren behalten Sprachzeichen und Dialog ihre dramenkonstitutive Relevanz bei - die Stimmen von Marianne Resting und Gerd Vielhaber, die wir eingangs zu Worte kommen ließen, hoben an Mrozeks Tango gerade die eindeutige dramatische Personenrede lobend hervor, während in der späteren Flautephase Mrozekscher Aufiuhrungen bei uns der Tenor der Kritiker in Richtung überflüssigen Geschwätzes zielte.43 Die positive wie negative Kritik macht aber klar, daß Mrozek ein Autor des Wortdramas ist, das zwar durchaus visuelle Bilder und musikalische Klangsprache verwendet - besonders eindringlich im vielgerühmten Zu Fuß - , doch das gesprochene Wort bleibt dominierende Zeichenart. Darin ist er dem tschechischen Absurdisten Václav Havel verwandt, der dem sprechenden Menschen Verantwortung für die Bedeutung der Sprachzeichen im kommunikativen Verkehr abverlangt.44 Im übrigen ist von der Mrozek-Kritik zu Recht hervorgehoben worden, daß sich der Autor an Stilmerkmale Havels immer stärker annähert. Nicht nur die deutschen Theaterkritiker, sondern auch die Regisseure scheinen an dem spezifischen Zeichenaspekt der Dramen Mrozeks wenig Interesse zu haben. Als Beispiel wollen wir auf Konstanze Lauterbachs Auffuhrung des zeitüberdauernden Erfolgsstücks Tango eingehen. Insofern K. Lauterbach eine aus der ehemaligen DDR kommende Regisseurin ist, zeigt sich an ihrer Auffassung auch, neben der Schwierigkeit des allgemeinen deutsch-polnischen Dialogs, die Problematik des deutsch-deutschen Gesprächs, mit der wir uns nach der Wiedervereinigung auseinanderzusetzen haben.
2. Tango am Wiener Burgtheater - der deutsch-polnische im Aspekt des deutsch-deutschen Dialogs Konstanze Lauterbach gehört zu den Regisseuren, für die der dramatische Werktext Ausgangspunkt, aber nicht „Ziel" der Bearbeitung ist, wie sie selbst sagt.45 Ihr Regiestil will „Lust" an Assoziationen wecken, von rationalen 43
44
45
So insbesondere im Fall der Aufführung des Schlachthofes (1981 in Essen). Eine Übersicht der Rezensionen in deutschen Blättern gibt H. Stephan: ebd., S. 170, Anmerkung 44, 45. Vgl. dazu Havels „Botschaft zum 'Welttheatertag', 27.03.1994", abgedruckt in: Theater heute 1994, H. 4, S. 1. Siehe das Interview von Thomas Thieringer mit der Regisseurin: Naivität wiedergewinnen. Konstanze Lauteibach inszeniert am Wiener Burgtheater Mrozeks Tango. In: Süddeutsche Zeitung, 23.02.1996.
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„Zwängen" befreien. In der Inszenierung von Tango (Premiere am Wiener Burgtheater, 23.02.1996) gibt sie durch kräftige Textstreichung der visuellen Bildlichkeit der Bühne Freiraum gegenüber dem bei Mrozek vorherrschenden, weil mit der Logik der Sprache und des Denkens absurdistisch spielenden Redetext. Mrozek selber fordert dagegen immer wieder eine möglichst texttreue Inszenierung, er ist kein Anhänger des Regietheaters. Schon bei Die Polizei hatte er sich ausdrücklich metaphorische Interpretationen durch die Bühnenausstattung verbeten. Aber nicht nur Streichungen, sondern auch Textveränderungen nimmt Lauterbach vor. Die wichtigste ist wohl die Untermalung der gesamten Aufführung durch Tanz und musikalischen Rhythmus, während bei Mrozek nur an ganz wenigen, gezielt berechneten Stellen Musik eingesetzt wird. Vor allem bemerkenswert ist der Wegfall des Schlußtangos von Edek und Eugen. In Programmbuch des Burgtheaters schließt der Stücktext mit Eugens Aufforderung an Edek zum „Tänzchen", die Edek verächtlich zurückweist. Bei Mrozek war es Edek, der Eugen gegen dessen Zögern zum Tango nötigte, und die aus vollen Lautsprechern in den Zuschauerraum schallende Melodie von „La Cumparsita" geht auch noch bei schon geschlossenem Vorhang weiter. In dem Regie-Buch der Wiener Aufführung folgt dem Werktext das Gedicht Erlkönig von Johann Wolfgang Goethe.46 Der Tango weicht der Ballade. Mrozek insistiert in der Regieanweisung gerade auf „La Cumparsita": „ der Tango 'La Cumparsita', aber unbedingt der und kein anderer."47 Und gewiß nicht, so kann man hinzufugen, die Goethesche Ballade anstelle von Carlos Gardeis (f 24.06.1935) Erfolgstango. Gardel, Sohn armer französischer Emigranten in Argentinien, Freund von Federico García Lorca, hat scharfe, Sozialrevolutionäre, von allen Regierungen Argentiniens verbotene Tangos, aber auch sentimentale, schnell zu Schnulzen werdende geschrieben, zu letzteren gehört „La Cumparsita". Schlager und abgesunkene hohe Musik sind ein Markenzeichen des Absurden Theaters: In Tango verlangt Mrozek in der Mitte des dritten und letzten Aktes auch noch den „Hochzeitsmarsch 46
Vgl. dazu: Burghtheater R-Buch 'Tango' von Slawomir Mrozek (Probebeginn: 11.12. 1995, Premiere: Ende Februar 1996), Wien. Im Textbuch Burgtheater Slawomir Mroiek Tango, 24.02.1996, ist Goethes Gedicht jedoch nicht abgedruckt. Ob dies bedeutete, daß bei der Premiere der Erlkönig nicht rezitiert wurde, vermag ich nicht zu sagen, weil die Rezensenten sich hierzu nicht äußern. Montagen fremder Texte sind allerdings üblich. Z.B. erwähnt Viola Bolduan in ihrer Besprechung einer Wiesbadener Aufführung von Tango: „Im Gleichschritt über Leichen. Premiere im Kleinen Haus / Slawomir Mrozeks 'Tango' / Inszenierung: Horst Siede." In: Wiesbadener Tageblatt, 28.03.1994, S. 3, „La Paloma".
47
Mrozek: Tango und andere Stücke (Anm. 30), S. 251.
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von Mendelssohn" „in voller Lautstärke", aufdringliches Geläute der Kirchenglocken bereitet ihn über lange Dialogszenen vor.48 Im Westen konnotiert die Populärmusik mit einem apolitischen Konsumgeschmack des Massenpublikums, in den kommunistisch regierten Ländern war eine verfälschte, harmlos gemachte Folklore ein Mittel der Anbiederung der Regierungen an das 'Volk'. 49 Schon durch die beiden genannten Musikstücke suggeriert Mrozek eine evolutionäre Linie von Artur, dem intellektuellen Familiendiktator der restaurierten „alten Form", zu Edek, dem unzivilisierten Lakaien und Vertreter der Diktatur der Faust, der den Intellektuellen erschlägt und in der Macht ablöst. Das Stück verlängert diese Entwicklungslinie nach hinten in die Generation der Eltern Arturs, Stomil und Eleonore, die aus dem Künstlermilieu der historischen Avantgarde übriggeblieben sind, und der Großeltern Eugen und Eugenia aus der Jahrhundertwende hinein. In den mir bekannten Interpretationen des Stücks wird diese Entwicklungslinie der Familiengenerationen auf das 20. Jahrhundert beschränkt, Tango ist eine Art Mentalitätsgeschichte unserer Jetztzeit, deren Wurzeln Mrozek noch nicht bis in die Romantik zurückverfolgt.50 Mit dem Ersatz von „La Cumparsita" durch den Erlkönig fuhrt Lauterbach also eine neue, deutsche Genealogie ein, aber nicht nur das: Auch der Zeichentypus des Dramatikers Mrozek wird verändert. In Goethes Gedicht deuten bekanntlich Vater und Sohn die Stimmen und Erscheinungen der Nacht mit unterschiedlichem Schlüssel. Wo der Sohn den raunenden, lockenden und drohenden mythischen König vernimmt, erblickt der Vater nur rational erklärbare, gefahrlose Merkmale der realistischen Natur. Aus der dritten Perspektive des Lesers stirbt das Kind an seinen subjektiven Ängsten, die Zeichendeutung zeugt also das reale Faktum des Sterbens. Wohl weniger bei Goethe, aber in Lauterbachs Auffassung werden mythischer Modus und mythische Zeichenauffassung zum konstant gültigen Inter48 49
50
Vgl. ebd., S. 231, u.a. Zu derartigen Verfälschungen hat Milan Kundera Untersuchungen vorgelegt, so in seinem Die Kunst des Romans (Essay), München Wien 1987. In Tango (Anm. 30), S. 175, spielt Stomil auf die Unbotmäßigkeit dieser Musikart an, wenn er sagt: „Kannst du dir vorstellen, welch ein Mut dazu gehörte, Tango zu tanzen?" „La Cumparsita" dürfte aber gerade nicht zu den verbotenen Stücken gehört haben. Für Auskünfte über Carlos Gardeis Tangokompositionen und ihr politisches Schicksal danke ich Dr. Guillermo Diaz-Santanilla in Bochum. Die eigenüiche Abrechnimg mit dem romantischen Kulturerbe in Polen setzt massiv mit Watzlaff, Der Schlachthof und Porträt ein. Allerdings kann auch das kurz vor Tango verfaßte Stück Tod eines Leutnants, 1963, dazugezählt werden, wo Mrozek eine durch Mickiewicz initiierte heroische Legendenbildung um eine historische Figur entmystifiziert.
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pretationsschlüssel aller historischen Erscheinungen, unabhängig von ihrer zeitgeschichtlichen, konkreten Einordnung und Kausalität. Dafür scheinen jedenfalls eine die gesamte Auffiihrung durchziehende musikalisch-tänzerische Rhythmisierung, die assoziative, visuelle Bildsprache und die Ausschaltung der „Zwänge" zum Rationalen zu sprechen. Die Tatsache dann, daß nicht der brutale Edek (anfänglich wurde er von Mrozek-Interpreten als Prototyp der Gewaltdiktatoren Stalin und Hitler, neuerdings als Schreckgesicht des Neofaschismus aufgefaßt), sondern der konservativ-großväterliche und zugleich opportunistisch anpäßlerische Kollaborateur aller Diktatoren Eugen Edek zum „Tänzchen" auffordert, läßt sich als Schließung der beiden extremen chronologisch-linearen Kettenglieder zum Kreis ewiger Wiederholung auslegen, was dem Mythos und nicht der historischen Denkweise entspricht. Lauterbachs Lesart von Tango ist eine anti-Mrozeksche, denn Mrozek will gerade den fatalistischen Glauben an ewige Wiederholung der Geschichte mit seinem Dramenschaffen durchbrechen. Er steht wie Vaclav Havel für einen rationalen Zeichengebrauch, für eine Sprache der menschlichen Vernunft. Und er rechnet mit Diktatoren wie deren Helfern ab, wobei er sich selbst und seine Biographie nicht schont. Von den Kritikerstimmen der Aufführung seien diejenige Sigrid Löfflers {Süddeutsche Zeitung, 26.02.1996) und die auf Löffler versteckt reagierende Roland Kobergs (Die Zeit, 8.03.1996) erwähnt. Löffler bemerkt den mythologischen Zug: „Artur träumt [...] von Gewalt, Opfer und Tragödie. Er wünscht sich, daß etwas 'Endgültiges, Tragisches' geschähe, etwas 'Unumkehrbares' - so, als hätte er den 'Anschwellenden Bocksgesang' von Botho Strauß gelesen mit seiner raunenden Sehnsucht nach Blutopfer und Tragödie." Anstelle der „knappe(n), scharfe(n) und böse(n) Groteske", als die das Stück „heute allenfalls denkbar" wäre, liefere Lauterbach eine „aufgedonnerte, postmodern verrätselte Mysterien-Show [...] mit allem leeren Brimborium". An den Untertitel ihrer Besprechung: „Lauterbachs platte Deutung von Mrozeks 'Tango' in Wien" (der Haupttitel lautet: „Etwas Unumkehrbares"), scheint die im Tenor positive Rezension Kobergs anzuknüpfen: Die Parabel von 1964 stellt in Verkehrte-Welt-Manier die Kinder als Verfechter neuer Konventionen und die Eltern als Verteidiger alter Revolutionen gegenüber. Heute läßt sie sich, den verquasten letzten Akt ausgenommen, ganz simpel als realistisches Stück über 68er und 89er lesen. Das kann für platt halten, wer mag, nur: Ein aktuelleres Stück über den heutigen Generationskonflikt gibt es nicht.S1
51
Kobergs Rezension trägt den Titel: 1 Sarg, a Ring, a Parabel. Wien trauert um Josef Meinrad, um sich selbst und um den Verlust des Ifflandrings. Und das Burgtheater tanzt Tango. In: Die Zeit, 8.03.1996, S. 54.
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Koberg bemerkt aber nicht, daß Löffler weniger das Stück denn die Auffiihrung als „platt" bezeichnet hatte. Ebenso entgeht ihm, daß eine durchgängige Rhythmisierung der Bühnengestaltung nach einem choreographischen Grundton des, so Koberg, „suchenden Umgang(s) zwischen Alt und Jung: brutal und zärtlich, hingezogen und abgestoßen" der Semantik des Schlußtangos bei Mrozek zuwiderläuft. „Zärtlichkeit" zwischen den Generationen ist dem Satiriker Mrozek fremd, schon gar nicht kann von ihr in der Beziehung zwischen dem Opportunisten Eugen und dem Totschläger Edek die Rede sein. Scharfsichtiger als Koberg hat Löffler die Annehmbarmachung des mythisch-tragischen Weltgefühls durch Lauterbach herausgespürt, das Mrozek konsequent kritisiert hat.52 Auf den philosophischen Hintergrund des von Löffler erwähnten „postmodernen" Stilisierungszuges bei Lauterbach hat Wolfgang Kraus in einem anläßlich des Krakauer Mrozek-Festivals geschriebenen Essay mit dem Titel „Tango und der Wiener Walzer, Slawomir Mrozek und die Wirklichkeit" hingewiesen.53 In Stomil, Arturs Vater, sieht er eine Art Allegorie des Sprungs in die Moderne, welche die alten Götter verwarf, um sich selbst aufs Piedestal zu stellen. Artur setze Stomils anarchistische Revolte in der neokonservativen Umkehrhaltung des Rückgriffs auf alte Formen und der Suche nach neuen Werten und Ideen fort, die in realer, ideenloser Diktatur (Edek) münde, an die sich Eltern wie Großeltern anpassen. Zu den diesen kulturhistorischen Prozeß begleitenden Philosophen rechnet er Herbert Marcuse, der 1968 die westeuropäische Studentenerhebung sekundierte, und Paul Feyerband, dessen Versuch der Auflösung des Humanismus in einem unbeschränkten Relativismus des „Anything goes", von der „modernen Mode" erfolgreich maskiert, eine Rückkehr der „uralten irrationalen Anarchie" zeitigen wolle. Dem Wiener Feyerband stellt er den Belgier Paul de Man an die Seite, beide unrühmlich mit dem Hitlerfaschismus verbunden und beide auch nach der Emigration in die USA im amerikanischen philosophischen und ästhetischen Postmodernismus federführend geworden. Mrozeks Dramen generell und Tango speziell bewertet Kraus als „wesentlichen Beitrag dazu, daß weitere Generationen der Stomils und Edeks nicht heranwachsen, daß sie vollständig aussterben oder wenigstens lächerlich und ungefährlich werden"54. 52
53
54
Vgl. dazu auch Herta Schmid: Gegen ein 'Theater der Grausamkeit': Slawomir Mrozeks Mçczenstwo Piotra Ohey'a. In: Chapters from the History of Stage Cruelty, ed. by Günter Ahrends and Hans-Jürgen Diller. Gunter Narr Verlag Tübingen, S. 7 9 116. Vgl. Wolfgang Kraus: Tango i walc wiedeñski, Slawomir Mroiek i rzeczywistosé. In: Mroiek i Mroiek (Anm. 1), S. 127-130. Siehe ebd., S. 130.
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Über den neuerdings in den deutsch-deutschen eingebetteten deutsch-polnischen Dialog, entzündet an Mrozeks zeitloser Groteske Tango, wollen wir Werner Kraus das Wort geben: Die Menschen in Westeuropa hoffen heute, daß die positiven Werte des Rationalismus, einer wirksamen staatlichen Ordnung, des gesellschaftlichen Wohlgedeihens mit Hilfe der so gänzlich verschiedenen Erfahrungen der Revolutionäre aus den postmarxistischen, postkommunistischen Ländern bestärkt werden. Gerade sie können unseren jüngeren und älteren Generationen zu einer richtigen Einschätzung einer wohlorganisierten und gut funktionierenden Demokratie verhelfen. Denn als Kontrast zu der dortigen zerstörten Illusion allgemeiner Glückseligkeit und vollständiger Freiheit gewinnen die Werte der westlichen, durchaus nicht fehlerlosen, aber realen Demokratie an Bedeutung.55
Die mythische Zeichensprache im Theater, angeführt von dem Oppositionspaar 'Kunst' versus 'Leben', verbindet sich, wie Jan Kott in seinen Essays analysiert hat, mit utopischen Glücksversprechungen aller Couleurs, ihre historischen Verwirklichungen haben im 20. Jahrhundert im Osten wie im Westen fatale Folgen gehabt. Das nüchterne Gegenpaar 'Illusion' versus 'Wirklichkeit', auf das auch der Essay von Werner Kraus anspielt, gibt der Kunst, was der Kunst ist: Autonomie der eigenen, dramatischen wie theatralischen Welt (die Bühnenillusion) und semantische Modelle von Wirklichkeit, die gerade wegen ihrer Lebensferne immer von neuem akute Relevanz gewinnen können. So wie Mrozeks Tango. Oder auch wie Porträt, das am 23.05.1990 am Ostberliner Maxim-GorkiTheater Premiere hatte. Über die Konstruktion dieses Stücks schreibt Dietrich Scholze, auch mit Bezug auf eine frühere, schon 1987 in der DDR gezeigte Aufführung: Der Konstruktion von Porträt fehlt gewiß die dramatische Konsequenz, der Zusammenhang. Der Autor hat sie jedoch ersetzt durch eine innere, psychologische Logik; darin drückt sich das Bestreben aus, die Verletzungen, Traumata der Zuschauer zu beheben. Und vielleicht auch: sie vor einer neuen Versuchung des Glaubens an leichte Lösungen, an Illusionen zu warnen. [...] Es ist ein s t r i k t künstlerischer, aus geographischer Distanz unternommener Versuch der psychischen Wiederherstellung bei den Völkern Osteuropas.56
Wie an Tango fallt dem Kritiker an Porträt kompositorische Brüchigkeit auf, doch ebenso auch die (psycho-)analytische Logik, die die Brüche überwin55 56
Ebd. D. Scholze: Miejsce Mrozka w recepcji polskiego dramatu (Anm. 4), S. 25. Hervorhebung d. Autors.
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det. Konstanze Lauterbach scheint in einer anderen Denktradition als der ebenfalls in der ehemaligen DDR beheimatete Scholze zu stehen. Beide Traditionslinien sind uns im Westen keineswegs fremd, aber Mrozek sollte nicht in die Lauterbachsche eingeordnet werden. Der „Flop", wie Sigrid Löffler die neueste Burg-Auffiihrung von Tango nennt, ist wohlverdient.
Dietrich Scholze
Mrozek und Rózewicz in der Deutschen Demokratischen Republik
0. Voraussetzungen An der Auswahl der polnischen Stücke, die von den DDR-Theatern übernommen worden sind, lassen sich die kulturpolitischen Richtlinien der jeweiligen historischen Phase wie in einem Spiegel erkennen.1 Am Anfang stand die Absicht, vom „Nachbar Polen" zu lernen, der dem Nationalsozialismus geistig und militärisch widerstanden und ihn schließlich mitbesiegt hatte. Am Ende deutete die Vorliebe der Theatermacher für groteske und absurde Vorlagen auf einen Verlust gewohnter Kriterien hin, dem die gänzliche Auflösung der staatlichen Strukturen alsbald folgte. Dazwischen lagen Zeiträume größerer oder kleinerer Nähe bzw. (verordneter) Distanz zur polnischen Kultur, die sich insgesamt durch mehr Liberalität von oben und stärkere Opposition von unten auszeichnete. Der Einsatz für polnische Kultur in der DDR war daher stets auch ein Versuch, das Korsett der offiziellen Kulturpolitik ein wenig zu lockern. Ein historisierendes Vorgehen, wie es sich in der Literatur- und Theatergeschichte durchgesetzt hat, muß für die 40 Jahre DDR zwei unterschiedliche gesellschaftliche Rezeptionsweisen berücksichtigen, wobei der Wandel in den 60er Jahren vonstatten ging.2 Literarische und künstlerische Kommunikation war seit dieser Zeit weniger durch Erziehung und Belehrung der Adressaten als durch Dialog und kollektive Verständigung geprägt. Dennoch blieb der Gebrauch, den jeder einzelne vom kulturellen Angebot machte, differenziert, wurde Polyfunktionalität nolens volens zu einem Prinzip der Aneignung im Kulturbetrieb des sog. realen Sozialismus. Der Verlauf der Rezeption polnischer Dramatik ist an die beiden Hauptperioden der Kulturentwicklung in der DDR gebunden, doch er deckt sich 1
2
Siehe dazu Dietrich Scholze: Zwischen Vergnügen und Schock. Polnische Dramatik im 20. Jahrhundert. (Ost-)Berlin 1989, bes. das Rezeptionskapitel S. 291-315. Vgl. dazu zusammenfassend Ingeborg Münz-Koenen: Einleitung. In: Literarisches Leben in der DDR 1945-1960. Literaturkonzepte und Leseprogramme. (Ost-)Berlin 1979, S. 7-22.
Mroîek und Rôtewicz in der DDR
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mit ihnen nicht. Die Rezeption vielmehr sollte, läßt man die Anlaufphase bis 1949 beiseite, in 'drei markante Phasen' unterteilt werden, die überdies ihre Entsprechung auf der anderen Seite, bei der Rezeption von DDR-Literatur bzw. -Theater in Polen, finden.3 Nach diesem bewährten Drei-Phasen-Modell ist e r s t e n s zwischen 1949 und der Mitte der 50er Jahre ein reger Austausch zu konstatieren, der - jedenfalls aus der Sicht der Theaterkritik - bestimmt wird vom ostdeutschen Interesse am polnischen Geistesleben. Für die „revolutionär-demokratische Umgestaltung" sollten die kulturellen Erfahrungen eines „Bruderlandes" genutzt werden, in dem sich schon früher, seit 1944, eine „gleitende kommunistische Machtübernahme" (Jörg K. Hoensch) vollzogen hatte. Von Mitte der 50er bis Ende der 60er Jahre ist, z w e i t e n s , ein Rückgang der Kontakte zu verzeichnen, der - allgemein gesprochen mit der politischen Liberalisierung in Polen ab 1956 und zugleich mit dem Umstand zusammenhing, daß die DDR nach dem Mauerbau auf die Begründung einer eigenen Nationalkultur größten Wert legte. (Das hatte Folgen für die Aneignung von Literatur und Theater verbündeter Länder, darunter selbst der UdSSR.) D r i t t e n s : Nach 1970 führte insbesondere die verstärkte Wirtschaftskooperation der RGW-Länder, die mit veränderten ideologischen Konzepten einherging, zu einer erneuten Intensivierung des kulturellen Austausche zwischen der DDR und Polen. Er wurde einerseits durch die politischen Institutionen stimuliert, andererseits infolge vergleichbarer bzw. gegensätzlicher sozialer Entwicklungen an der Basis erstrebt und durchgesetzt. Die Erweiterung der Reisemöglichkeiten (ab Januar 1972 paß- und visafrei zwischen Polen und der DDR) beförderte auf deutscher Seite das öffentliche Interesse an polnischer Geschichte und Kultur. Im übrigen hatten eine „ästhetische Emanzipation" von Literatur und Kunst (Werner Mittenzwei) und der tendenzielle Übergang zu dialogischen Kommunikationsformen zu einer Vielfalt der Rezeptionsweisen gefuhrt, die im ostdeutschen Teilstaat bis dahin beispiellos war. Herausgefordert wurde damit, aus der Sicht des totalitären Staates, die bewußte kulturpolitische Steuerung der Rezeption zwecks Förderung des Erwünschten. 3
Exemplarisch seien zur Bekräftigung angeführt: Heinz Kneip: Entwicklungstendenzen in der Rezeption polnischer Literatur in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sowie deutscher Literatur in Polen seit 1945. In: Fragen der polnischen Kultur im 20. Jahrhundert. Vorträge und Diskussionen der Tagung zum ehrenden Gedenken an Alexander Brückner. Bonn 1978. Bd. 2. Hrsg. von Reinhold Olesch und Hans Rothe (= Bausteine zur Geschichte der Literatur bei den Slawen, Bd. 14,2). Gießen 1980, S. 102; Annäherung und Distanz. DDR-Literatur in der polnischen Literaturkritik. Hrsg. von Manfred Diersch und Hubert Orlowski. Halle/Leipzig 1983, S. 14f.
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Dietrich Scholze
Hatte es die relative Spontaneität der Spielplangestaltung den Theatern in den 60er Jahren erlaubt, „die Schuld gegenüber der Zeitdramatik aus sozialistischen Ländern (eher) im Bereich des Gefällig-Heiteren als des AnregendProblemreichen abzutragen"4, so nahmen nun kulturelle Institutionen die Vermittlung zielgerichtet auf sich. Augenfällig wurde dieser Wechsel durch die (auf Gegenseitigkeit beruhenden) alljährlichen „Tage der Theaterkunst", die vom Ministerium fur Kultur und vom Verband der Theaterschaffenden der DDR gemeinsam ausgerichtet wurden. Gewidmet waren sie 1972 der UdSSR, 1973 Bulgarien, 1974 Ungarn, 1975 Polen, 1976 Rumänien, 1977 der t S S R und 1978 - letztmalig organisiert - allen diesen Ländern zusammen. Als Ergebnis der „Tage der polnischen Theaterkunst" vom 9.10. bis 19.10.1975 konnten für die Spielzeit 1975/76 57 Inszenierungen von 35 Stücken an 40 Theatern der Republik registriert werden. Das war immerhin rund ein Viertel der bis dahin seit 1949 überhaupt verzeichneten Übernahmen. Das Entscheidende an dem Festival aber war, daß damit erstmals ein repräsentativer Querschnitt polnischer Gegenwartsdramatik auf den Bühnen der DDR simultan angeboten wurde Zwar war auch hierbei das Unterhaltungstheater beachtlich präsent: neben Jerzy Stefan Stawinski vor allem Ernest Brylls / Katarzyna Gaertners suggestives Singspiel Na szkle malowane (Auf Glas gemalt). Nun jedoch gelangten, neben Leon Kruczkowskis Replik auf den existentialistischen Freiheitsbegriff in Pierwszy dzien wolnosci (Der erste Tag der Freiheit) sowie Eintagsentdeckungen, nach 10 bis 15 Jahren endlich wichtige Stücke der beiden bedeutendsten polnischen Gegenwartsdramatiker, Slawomir Mrozek und Tadeusz Rózewicz, in den Diskussionskontext der DDR-Theaterkultur. Obwohl die Quantität dieses Rezeptionsschubes erwartungsgemäß nicht gehalten wurde und sich die jährlichen Inszenierungsziffern für Polen ab 1976 bei etwa fünf einpendelten, datiert der Durchbruch in Richtung auf eine Aufnahme der spezifisch polnischen Traditionen, Formen und Ausdrucksweisen im Osten Deutschlands seit jenem Jahr. Aus der Breite des genutzten Angebots, das 1975 knapp 20 Dramatiker einschloß, haben sich vor allem die Verfasser von Grotesken, von spielerischen bzw. poetischen Modell- oder Parabelstücken - Mrozek, Rózewicz, schließlich auch Iredynski - auf längere Sicht behaupten und, zumindest streckenweise, eine Auflührungstradition begründen können. Bedingung dafür war, daß das Groteske, ebenso wie die Parabel, in den 70er Jahren in der DDR zunehmend als eine ästhetische Möglichkeit begriffen und geduldet 4
Manfred Nössig: Richard muß dran glauben von Marek Domanski. In: Theater der Zeit [weiter TdZ genannt] 27(1972)10, S. 45.
Mroiek und Róìewicz in der DDR
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wurde, die über Verfremdung, über primär spielerische Strukturen gleichfalls einer „realistischen Aneignung von Welt" auf dem Theater zuzuarbeiten vermochte.5 Es wurde zugestanden, daß die absurde Situation in ihrer Abbildqualität auf abnorme, unzulängliche Verhältnisse in der Realität verweisen und somit Handlungsimpulse auslösen könne. Das Verständnis für diese nichtillusionistische Darstellungsart, das auf die „Zuschaukunst" ausgedehnt werden mußte, wuchs namentlich anhand älterer oder zeitgenössischer Dramatik der politisch verbündeten osteuropäischen Länder; Majakowski, Bulgakow, ôrkény, Raditschkow waren, bei allen Unterschieden im einzelnen, die Weggenossen der „polnischen Absurden" auf dem DDR-Theater.
1. Mrozek Slawomir Mrozek ist 1975 sowohl mit seinen drei grotesken Einaktern von
1961 Na petnym morzu, Karol, Strip-tease (Auf hoher See, Karol, Striptease) als auch mit dem Schauspiel Tango eingeführt worden. Von Kritikern wurde sogleich vermerkt, daß die Unerfahrenheit mit grotesken und parabolischen Kunstmitteln die Akteure entweder zur plakativen 'Verdoppelung' der Effekte oder aber zu einem übertrieben naturalistischen Psychologisieren verleitete, zur Suche nach vordergründiger Lebensähnlichkeit. Damit wurden zunächst eher herkömmliche Zuschaugewohnheiten bedient. Angesichts der Universalität der Mrozekschen Modelle war diese Gegenreaktion jedoch einleuchtend, denn potentiell „eröffnen sich dabei meist so weiträumige Assoziationsfelder, daß die Zielrichtung der Kritik (und auch des damit verbundenen moralischen Appells) mehr viel- als eindeutig ist, vom Rezipienten selbst konkretisiert werden muß"6. Das Verdienst, die herausragende, auf Volkstheater und Romantik zurückgehende Traditionslinie des polnischen Dramas zuerst und überzeugend präsentiert zu haben, wurde von einer Reihe kompetenter Rezensenten insbesondere der Rostocker Inszenierung des Tango bescheinigt (März 1975, Gastregie: Józef Gruda), mit der die „Tage 5
6
Vgl. dazu u.a. Wolfgang Kröplin: Zerrspiegel und Vergrößerungsglas. Aspekte zur Rezeption des Grotesken. In: TdZ 33(1978)8, S. 22-24; ders.: Das Groteske - eine Gestaltungsweise in Drama und Theater. Studien zu Majakowski, Bulgakow, ôrkény, Mroiek. (Ost-)Berlin 1981 (= Material zum Theater, Nr. 150); Jochanaan Christoph Trilse: Der Clown S. B. - oder: Spiele einer großen Absage. In: Sinn und Form 38(1986)4, S. 851-875. Martin Linzer: Auf hoher See / Striptease von Slawomir Mrozek. In: TdZ 36(1981)4, S. 2.
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der polnischen Theaterkunst" offiziell eingeläutet wurden. Der Berliner Theaterwissenschaftler Ernst Schumacher sah das Drama „weniger in der Nachfolge der parabolischen als vielmehr hyperbolischen Stücke, die das Bild der Welt, das Bild des Menschen überdeutlich zeichnen, wenn man so will: verzeichnen"7. Hinter dem obligaten Bezug auf die spätbürgerliche Gesellschaft erkannte man im allgemeinen eine umfassendere Warnfunktion, wenngleich Rezeptionsprobleme infolge der strukturellen Mehrdeutigkeit des Tango nicht verschwiegen wurden. Daß die vorhandenen absurden Elemente im Dienst eines metaphysischen Nihilismus, einer Philosophie der Verzweiflung stünden, behauptete wohlweislich keiner der Rezensenten. Wie sehr Schlagworte mitunter dennoch selbst erfahrene Interpreten beeinflußten, zeigte eine Besprechung der Weimarer Ew/gnOTtew-ErstaufRihrung von 1978 in der Erfurter Tageszeitung Das Volk (8.02.1978). Die Überschrift Absurdes aus der bürgerlichen Welt negierte, daß gerade dieses Mrozek-Kammerspiel von menschlichen Charakteren in konkreten sozialen Umständen handelte - zwei Gastarbeiter in Westeuropa -, daß es bei Dominanz der psychologischen Analyse auf die Chancen des einzelnen zur Selbstbestimmung, zur Identitätsfindung hinwies. Keine erkennbare Rolle gespielt hat bei der DDR-Rezeption der Emigranti ein historisches Klischee, das von dem Stück immerhin variiert wird. Literarisch angelegt wurde es einst in dem Spottgedicht Zwei Ritter („Zwei Polen aus der Polackei...") von Heinrich Heine, das auf Randgruppen der polnischen Frankreich-Emigration nach dem Aufstand von 1830/31 zielte und in den Gestalten von Krapülinski und Waschlapski dank dem Allgemeinen Deutschen Kommersbuch jahrzehntelang Verbreitung fand. Wie hingegen aus französischer Sicht das Gastarbeiterproblem aktualisiert und konkretisiert worden ist, das hat eine polnische Kritikerin nach der Uraufführung durch Roger Blin am Théâtre d'Orsay anschaulich geschildert. Dort nämlich wurde das Existenzdrama zu einem Lehrstück über die ungeliebten Ausländer: „Denn fur die Pariser sind das gar keine Emigranten. Es sind Immigranten."8 Es sind, zugespitzt, „Kanaken", die sich in der Metro herumdrücken, die Steuerbehörden hintergehen und die Elendsquartiere bevölkern. In den 'exotischen', von ihren Ideen besessenen Helden erkannte das französische Publikum nicht in erster Linie die individuellen Schicksale, sondern einen Beleg für die zivilisatorische Zurückgebliebenheit osteuropäischer Länder wie Po7
8
Ernst Schumacher: DDR-Erstauflührung von S. Mrozeks Hyperbel Tango in Rostock. In: Berliner Zeitung, (Ost-)Berlin, 20.03.1975. Malgorzata Szpakowska: ... i jak to wygl^da ζ Warszawy [... und dazu die Warschauer Sicht], In: Dialog 1975, H. 4, S. 115.
Mroiek und Róiewicz in der DDR
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len. Statt Betroffenheit und Mitgefühl wurde somit - trotz bester Absichten der Theaterleute - Selbstgerechtigkeit erzeugt.
2. Rózewicz 1975 begann - abgesehen von einem frühen Versuch auf der Studiobühne der Leipziger Karl-Marx-Universität (1965), der mit politischer Maßregelung der Beteiligten endete - auch die Einbürgerung von Tadeusz Rózewicz in das Theater der DDR. Das Erscheinen des Volk-und-Welt-Bandes Stücke im Jahr zuvor hatte günstige Voraussetzungen geschaffen. (Dasselbe galt, jedoch erst ab 1977, für Mrozek.) Durch einen als Nachwort zum Band publizierten Essay des Brecht-Biographen Werner Mittenzwei, Der Traum des Tadeusz Rózewicz vom konsequenten Theater,9 wurden wesentliche Leitlinien für die Aufnahme dieser „poetischen" Dramaturgie vorgegeben. Mittenzwei lieferte sensible Interpretationen der einzelnen Dramen und deutete auf einige Besonderheiten Rózewicz' hin: die ausführlichen Regiebemerkungen als Schlüssel zur Aufführung; die Verwandtschaft zur Lyrik; die Funktion der Pausen, der Details, der szenischen Vorgänge im Vergleich zu traditioneller Handlungs- und Wortdominanz. Die ostdeutsche Theaterpraxis der folgenden Jahre erbrachte, daß „Tadeusz Rózewicz uns am nächsten kam, daß gerade seine Stücke die Chance haben, in unserer Zeit und unserer gesellschaftlichen Situation verstanden und erlebt zu werden. Ihre moralische Provokation trifft auch bei uns genau und ruft Verwirrung hervor."10 - Wie spiegelte sich die umfangreiche Rózewicz-Rezeption (18 Inszenierungen von 10 Stükken zwischen 1975 und 1990) in der Theaterkritik wider? Als die ersten beiden Stücke, Grupa Laokoona (Die Laokoon-gruppe) und Swiadkowie albo Nasza mala stabilizacja (Die Zeugen oder Unsere kleine Stabilisierung), 1975 an je zwei Theatern aufgeführt wurden, überwog das Lob für Bereicherung und Auflockerung der Spielpläne durch einen lebenden „Klassiker des Welttheaters". In der meist rezensorischen Nacherzählung des szenischen Geschehens war ein Bewußtsein von der Neuartigkeit der dramaturgischen Mittel freilich kaum kenntlich, obgleich mit Stichworten wie „grotesk" oder „absurd" nicht gespart wurde. Namentlich bei der Parabel Swiadkowie ver9
10
Tadeusz Rózewicz: Stücke. Berlin 1974, S. 355-383; vgl. dazu auch Sinn und Form 26(1974)3, S. 624-648, sowie Mittenzwei: Kampf der Richtungen. Strömungen und Tendenzen der internationalen Dramatik. Leipzig 1978, S. 557-586. Martin Linzer: Gtównie o Rózewiczu [Hauptsächlich über R.]. In: Teatr 1981, H. 9, S. 20 [Übersetzung D. S.].
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mißte man die soziale Konkretheit, so daß sich Mittenzwei in einer Diskussion nach der Potsdamer Premiere veranlaßt sah, eine These aus seinem Essay zu bekräftigen: Erst die Kenntnis des gesellschaftlichen Hintergrunds, der polnischen „kleinen Stabilisierung", mache das Anliegen Rózewicz' ganz verständlich. Verschiedene Kritiker hoben den moralischen Impetus heraus und bestätigten die Schockwirkung, einige erblickten die „spätbürgerlich-absurden Mittel" - optimistisch - entschieden im Dienst einer Philosophie der Hoffnung und des Humanismus.11 Mit der „sogenannten Komödie" Wyszedl ζ domu {Er ging aus dem Haus) verlangte das Schauspielensemble der Leipziger Theater 1980 seinem Publikum eine Umstellung der eingeübten Seh- und Hörgewohnheiten ab. Das „kulinarische" Vergnügen an dieser bildträchtigen Prüfung von Normen des Zusammenlebens im Alltag wog aber, nach übereinstimmender Ansicht der Rezensenten, die Mühe auf. Überdies wäre ein origineller Anstoß zum Mitdenken geboten worden. Es wurde sogar ein Bezug Rózewicz' zu Brecht entdeckt: „Wie dieser ist er letztlich auf die positive Denkvergnügung aus, indem er menschliches Fehlverhalten innerhalb der sozialistischen Ordnung als veränderungswürdig analysiert..."12 Der Dramaturg und Theaterwissenschaftler Wolfgang Kröplin unterstrich bei dieser Gelegenheit noch einmal die Relevanz des polnischen Dramatikers für das DDR-Theater: „Hinter dem Vergnüglichen wittert das Bittere, das Bedrohliche. Sein moralischer Rigorismus, seine Sorge um das Menschliche im Menschen unserer Zeit sind kompromißlos, schmerzhaft, unbequem. Das aber macht den Autor gerade notwendig für uns."13 Weniger einhellig war das Urteil über die etwa gleichzeitige Potsdamer Inszenierung von Odejscie glodomora (Der Hungerkünstler geht). Abgesehen von Details stieß besonders die Anlehnung an Kafka auf Zweifel, da dieser durch seine Vollkommenheit „alle Eingänge" (lies: Zugänge) blockierte. So habe denn Rózewicz „mit vielen kleinen Rollen und Szenen die Dichtheit des Originals aufgelöst, ihm satirisches Beiwerk verliehen und den tiefgründigen literarischen Stoff [...] ziemlich verzettelt"14. Die Künstlerproblematik als Thema des Stücks blieb hier außer acht. Sie gewann dafür in einer anderen Besprechung verblüffende Aktualität. Gerhard Ebert 11
12 13
14
Z.B. Ingeborg Pietzsch: Die Zeugen oder Unsere kleine Stabilisierung von Tadeusz Rózewicz. In: TDZ 30(1975)10, S. 60; Helmut Ullrich: Über das Amüsement zur Beunruhigung. Gedanken zum dramatischen Schaffen von Tadeusz Rózewicz anläßlich einer Aufführung in Potsdam. In: Neue Zeit, (Ost-)Berlin, 8.07.1975. Georg Antosch: Er ging aus dem Haus. In: Die Union, Leipzig, 5.03.1980. Wolfgang Kröplin: Umgang mit Rózewicz. Er ging aus dem Haus im Leipziger Kellertheater. In: TdZ 35(1980)6, S. 20. Barbara Faensen: Hungerkünstler als eiüer Einzelgänger. In: Neue Zeit, (Ost-)Berlin, 18.04.1980.
Mroiek und Rótewicz in der DDR
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schrieb in der Tageszeitung Junge Welt. „Arrogante 'Künstler', versessen auf abgöttische Anerkennung und beleidigt bis aufs 'Weggehen'", gäbe es bekanntlich auch hierzulande. In jüngster Zeit sind sie wieder einmal ins Gespräch gekommen. Allerdings nicht durch einen billig-ordinären Impresario und auch nicht eingesperrt in einen Drahtkäfig - nein, heutzutage finden sie kapitalkräftige Impresarios und weit bequemere Medien, sich zur Schau zu stellen.15
Jähe kulturpolitische Aktualisierungen dieser Art waren unter den kritischen Stimmen indes die Ausnahme. Mit Biale malzeñstwo (Weiße Ehe), einem fur Rózewicz vergleichsweise geschlossenen, überschaubar auf Handlung und Fabel bauenden Stück, boten zwei DDR-Theater (Rudolstadt 1978, Deutsches Theater Berlin 1981) ihrem Publikum einen spezifischen Anreiz zum Nachdenken über die Geschlechterfrage, über den Wandel moralischer und ethischer Konventionen seit der Jahrhundertwende. Die - etwa im Vergleich zu Kartoteka {Die Kartei-, 1960) - vertrautere Struktur, die Anklänge an Themen eines Wedekind, Ibsen oder Strindberg mögen mit dafür verantwortlich gewesen sein, daß sich dieses „psychoanalytische" Stück trotz mancher Einwände der Kritik jeweils lange im Repertoire behauptete. Ähnliches galt für die Inszenierung der Pulapka (Die Falle) am Berliner Maxim-Gorki Theater (1985), jenes Stücks, mit dem Rózewicz sein Verhältnis zu Kafka - diesmal über die poetisch-paraphrasierende Reihung biographischer Episoden - ein zweites Mal zu bestimmen suchte. In dieser Projektion eines privaten Künstlerschicksals auf die Apokalypse des 20. Jahrhunderts - den Holocaust - wurde eine Aneignungskonzeption demonstriert, die exemplarisch gewesen sein dürfte für den Umgang mit polnischer Dramatik in der späten DDR. Nach begründeter Meinung von Martin Linzer hatte Regisseur Rolf Winkelgrund in Pulapka der Versuchung widerstanden, Versatzstücke (oder Klischees) des 'polnischen' Theaters zu benutzen oder auch nur zu zitieren, vornehmlich über szenische Metaphern, 'Bilder'; [...] er insistiert auf genaue, fast möchte man sagen penible Ausdeutung des Textes über die Schauspieler als Zentrum der Auffiihrung.16
Damit vermied er die lediglich sprachlich „eingedeutschte Rekonstruktion" eines fremden Modells zugunsten wirklicher Einfunktionierung in die eigene, 15
16
Gerhart Ebert: Ein Hungerkünstler im Drahtkäfig. In: Junge Welt, (Ost-)Berlin, 9.04.1980. Martin Linzer: Doppel-Falle. Tadeusz Rózewicz' Die Falle am Maxim-Gorki Theater und ein Gastspiel aus Gdansk. In: TdZ 4(1985)12, S. 20.
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nationale Tradition samt - umständlichem - Ausspielen der philosophischen und psychologischen Bezüge. Daß durch den Verzicht auf die grundlegende metaphorische Bildlösung - wie sie ein Gastspiel des Danziger Theaters im Herbst 1985 eindrucksvoll vorführte17 - unter anderem die Notwendigkeit entstand, schon bis zur Stückmitte zehn zeitraubende Umbauten vorzunehmen, schien Publikum wie Kritik gleichwohl wenig zu stören. Inwieweit polnische Stücke noch nach Jahren einen Ausgleich für das in der DDR verspätet rezipierte westeuropäische Theater des Absurden leisteten, wurde an der Aufnahme der Leipziger Inszenierung des RózewiczStücks Stara kobieta wysiaduje (,Die alte Frau brütet) Anfang 1987 deutlich. Mittenzwei hatte 1974 im Tone eines Vorwurfs erklärt, dieses apokalyptische Drama, dem die auflösende Kraft des Komödischen sowie jeglicher Optimismus fehlten, enthielte keine „freundliche Aufforderung zum Nachdenken darüber, wie menschliches Schicksal zu meistern sei"18. Dem setzten nun Kritiker entgegen, „daß eine 'freundliche' Aufforderung nicht mehr genügt, gegen die Schreckensvisionen der Gegenwart Widerstand zu organisieren"19. Sie erkannten den Ersatz der Handlung durch Nicht-Handlung, die Sprachlosigkeit der „sogenannten Personen", die Kumulation theatralischer Zeichen zu einer trostlosen Vision sehr wohl als formales Erbteil der Absurden, interpretierten diese Mittel aber gleichzeitig als Warnung, Appell, Mobilisierung, als eine Schärfung des Blicks auf die Gegenwart. Denn: „Vielleicht sind wir hellhöriger geworden seitdem, erfahrener schon für die akute Bedrohung von Leben, Natur, Umwelt."20 Daß hier, auf einer kleinen, experimentellen Spielstätte zumal, statistisch gesehen noch immer Theater für Eingeweihte, für Kenner und Liebhaber gemacht wurde, weist auf den langwierigen Wandel der Publikumsgewohnheiten hin. In den 70er Jahren waren auf dem DDR-Theater einseitige, doktrinäre ästhetische Orientierungen schrittweise abgebaut worden. Die Erkenntnis breitete sich aus: „Humor, Ironie, Satire, Sarkasmus, Groteske im literarischen Text gehören zu jenen Genuß gewährenden Arten geistiger Aneignung, durch die literarische Kommunikation funktioniert."21 Indem das Publikum diese Zusammenhänge mehr und mehr begriff, rückte es allmählich 17
18 19 20 21
Vgl. Dieter Krebs: Wie sich die Bilder nicht gleichen... In: Berliner Zeitung, 16.10.1985. Nachwort in: Rózewicz: Stücke (Anm. 9), S. 381. Linzer: Annäherung an Rózewicz. Die alte Frau brütet. In: TdZ 42(1987)4, S. 5. Erika Stephan: Die alte Frau brütet. In: Sonntag, (Ost-)Berlin, 12.04.1987. Hans Kaufmann: Zur DDR-Literatur der siebziger Jahre. In: Sinn und Form 30(1978)1, S. 175. - Vgl. auch Wolfgang Kröplin: Maß und Möglichkeit. Zum Einfluß europäischer sozialistischer Theaterkulturen auf unser Theater. In: TdZ 37(1982)5, S. 5-8.
Mrotek und Róìewicz in der DDR
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von der Erwartung ab, im Theater bekannte Sachverhalte nur in anderer, bild- und modellhafter Gestalt aufbereitet zu finden. Der DDR-Zuschauer wurde mündig, er wurde fähig zu einer wertenden, schöpferisch-kritischen Aktivität. Nach Meinung der an Brecht geschulten Theaterwissenschaft näherte er sich damit jenem idealtypischen Bild vom „ko-fabulierenden" Zuschauer, „der die szenischen Angebote a) möglichst umfassend und genau wahrnimmt, b) sie in ein reiches Assoziationsfeld stellt und c) eine andere als die auf der Bühne dargestellte Lösungsmöglichkeit des Konflikts mitdenkt"22. Für Mrozek ebenso wie fur Rózewicz kann aus der Rezeption in der späten DDR der Schluß gezogen werden, daß ihre Stücke dazu beitrugen, den Sinn für groteske und absurde Kunstmittel, überhaupt für gebrochene, „verkehrte" Darstellungen bei den Rezipienten zu schärfen. Die ideologische und politische Funktion dieser Dramatik aus einem „Bruderland" mußte freilich bis zuletzt in einer „realistischen Aneignung" gesehen werden; zeitweise war, per Hilfskonstruktion, sogar von „realistischer Absurdität" oder „absurdem Realismus" die Rede. Die „polnischen Absurden" haben seit den 70er Jahren einer Öffnung, einer Erweiterung der erlaubten Abbildungsverfahren zugearbeitet - wie paradox dies auch immer legitimiert wurde: Wir täuschten uns, wenn wir sie als eine ideologisch ziemlich suspekte polnische Variante vom absurden Theater des Westens ansehen würden, dazu verführt von formalen Ähnlichkeiten, während doch die philosophische Haltung geradezu entgegengesetzt ist: dort Behauptung der Absurdität als Weltprinzip; hier der Protest gegen Absurdes.23
3. Das Ende im Zeichen Mrozeks Die gewachsene Fähigkeit des DDR-Publikums, das ästhetische Abbild auf der Bühne auch dann als Sinnbild des Daseins zu begreifen, wenn es die Gestalt von Parabel oder Groteske annahm, wurde zur Voraussetzung dafür, daß Stücke von Mrozek unmittelbar vor der politischen Wende im Herbst 1989 öffentliche Wirkung zeitigten. Im Vorfeld der Ereignisse wurde eine Neigung zu grotesken und absurden Texten sichtbar, auf welche die Bühnen reagierten. Schon im Oktober 1988 präsentierte das Kleist-Theater Frankfurt (Oder) Tango, im Januar 1989 das Deutsche Theater Berlin und im Dezember das Volkstheater Rostock die vier Parabeln Kwartet o lisie (Fuchsquar22
23
Roland Dreßler/Dieter Wiedemann: Von der Kunst des Zuschauens. (Ost-)Berlin 1986, S. 160. Helmut Ullrich: Identität von Spaß und Ernst. In: Neue Zeit, 22.10.1975.
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tett), im März zeigte die Ost-Berliner Volksbühne Emigratici und im April schließlich das Theater im sächsischen Altenburg zum erstenmal die Politsatire Policja ([Die]Polizei). (Diese Aktivität verwundert um so mehr, wenn man bedenkt, daß die deutschsprachigen Rechte an Mrozek-Stücken seit jeher in West-Berlin lagen, die DDR-Theater also für die Inszenierungen ihre schmalen Devisenkonten beanspruchen mußten.) Eine Mrozek-Welle, wie es sie seit 1975 nicht mehr gegeben hatte, wies als Symptom auf die kommenden Veränderungen voraus. Die Instrumente der kulturpolitischen Reglementierung griffen nicht mehr, die Dämme begannen zu brechen. Fragen, die Mrozek in seinen Parabeln verfremdet gestellt hatte, waren nun auch im „Musterland des Sozialismus" unabweisbar geworden. Das Absurde im Alltag schob sich, vor allem wegen der Diskrepanz zwischen der Realität und ihrer Widerspiegelung in den Medien, immer mehr in den Vordergrund und bestimmte die soziale Interaktion. Aus der Sicht der Dramenrezeption vollzog sich das Ende der DDR im Zeichen Mrozeks. Und Mrozek erwies sich als Meister der Antizipation. Als er 1986 in Paris das Drama Portret (Porträt) schrieb, waren die Umwälzungen in Osteuropa noch nicht abzusehen - obgleich die Polen bereits 1980/81 den Systemwechsel geprobt hatten. Portret aber bot mit seinem Täter-Opfer-Konflikt ein dramatisches Modell zur Aufarbeitung der Vergangenheit im totalitären System. Mrozek zwang den Zuschauer zur Beobachtung einer doppelten Krankengeschichte, er ließ ihn die eigene Position unter moralischem Aspekt überprüfen. Interessanterweise ist dieses Angebot zur Selbstheilung mit Mitteln des Theaters in der einstigen DDR kaum angenommen worden. Inszeniert wurde Portret nur einmal: im Ost-Berliner Maxim-Gorki Theater, dem ehemaligen Kleinen Theater Unter den Linden (Premiere am 23.05.1990). Kritiker aus beiden Teilen der Stadt - noch gab es dazwischen offizielle Übergänge - erkannten sofort die Aktualität der Thematik. „Fälle wie der vorgeführte sind uns heute noch viel zu schmerzhaft nahe"24, resümierte der Rezensent der Berliner Zeitung am Abend, während man in der Welt lesen konnte: „So wird Porträt wohl als aktuelles Zeitstück zur EntSEDisierung an den DDR-Theatern bald die Runde machen - zumal es mit den Rollen der beiden Freunde handfestes Theater bietet."25 Der Kritiker des Neuen Deutschland86 verstand hauptsächlich die Ausstattung als Wink, „da24
25
26
Günther Bellmann: Viel falsche Heiterkeit. In: Berliner Zeitung am Abend, (Ost-)Berlin, 25.05.1990. Lorenz Tomerius: Die Freiheit ist neu, die Schuld aber bleibt. In: Die Welt, (West-)Berlin, 7.06.1990. Gerhard Ebert: Schiaffi eher ab, als daß es jemanden aufregt. In: Neues Deutschland, (Ost-)Berlin, 5.06.1990.
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mit auch jeder DDRler begreife, daß ihn der Abend vorzugsweise angeht". (Der Bühnenbildner Jürgen Heidenreich hatte das Interieur des Zuschauerraums bis auf die Bühne verlängert.) In der Berliner Zeitung allerdings wurde beklagt, daß das Publikumsinteresse gering, der Saal zur normalen Vorstellung kaum halb gefüllt gewesen sei: „Das theatrale Exempel, das da wie für den Tag statuiert wird, scheint nicht sehr gefragt zu sein."27 Offenbar handelte es sich hier um ein Nach-Wende-Syndrom, wie es Jacek Buras für Polen anschaulich beschrieben hat: „Das Interesse des Publikums ging deutlich zurück, weil es allzu stark von den Alltagsproblemen und den sensationellen Geschehnissen auf der Bühne des Lebens beansprucht war und weil die Theater mit den letzteren kaum Schritt zu halten vermochten."28 Gründe fur die schwache Resonanz von Portret erblickte die Kritik aber auch im Stückaufbau, insbesondere in den Längen und dem Spannungsabfall des dritten Akts. Einen Teil der Verantwortung schrieb man dem jungen Berliner Regisseur zu. Er hatte die erste Szene, eine minutenlange Ansprache an das unsichtbare Stalin-Porträt, bei völliger Dunkelheit als eine Art Hörspiel inszeniert. Als größter Mangel wurde vermerkt, daß das spröde Stück in voller Länge vom Blatt gespielt worden war. Der neue Chefredakteur von Theater der Zeit, Martin Linzer, nannte plausible Ursachen für den Mißerfolg: Der Regisseur „scheitert an dem schwierigen Stück insofern, als er sich zu unentschieden gegenüber den Unentschiedenheiten des Stücks verhält, irgendwie zwischen Ibsen und Beckett pendelnd keine klare Linie in der Spielweise findet"29 Was am gleichen Haus 1985 einem anderen Regisseur mit Pulapka von Rózewicz geglückt war - „Rolf Winkelgrund [...] insistiert auf genaue, fast möchte man sagen penible Ausdeutung des Textes über die Schauspieler als Zentrum der Aufführung"30 - , das funktionierte diesmal nicht. Das Sinnpotential des Abrechnungsstücks wurde nicht aktiviert, die Inszenierung verschwand nach nur vier Vorstellungen vom Spielplan. Handelte es sich, einige Wochen vor dem formalen Ende der DDR, um den Beginn einer neuerlichen Geschichtsverdrängung, gegen die das ostdeutsche Theater mit Hilfe von Kruczkowskis Niemcy (Die Sonnenbrucks) einst so vehement Position bezogen hatte?
27
28
29 30
Ernst Schumacher: Das Exempel scheint nicht gefragt. In: Berliner Zeitung, (Ost-)Berlin, 22.06.1990. Jacek St. Buras: Theater im Sog der Zeit. In: Deutsch-Polnische Ansichten zur Literatur und Kultur. Jahrbuch 1989. Darmstadt 1990, S. 202. Martin Linzer: Mrozek in Berlin. In: TdZ 45(1990)10, S. 29. Martin Linzer: Doppel-Falle (Anm. 16), S. 20.
Harald Xander
Die Geschlossenheit des polnischen 'TheaterweltbildsFreie Theater aus Polen zu Gast in Deutschland
Und siehst du, europäisches Gänschen: die Kultur siegt. [...] Sie öffnet dir den Schatz der europäischen Kultur sperrangelweit! [...] Mir hat sich auch alles herausgedreht.1
Die Zeit, in der Polen als Theaterland entdeckt wird, sind die Jahre 1960 bis 1980. Erst jetzt und vor dem politischen und kulturellen Hintergrund dieser Jahre entsteht eine international größere Aufmerksamkeit für die polnische Theaterkultur. Diese Entwicklung wird maßgeblich von zwei Künstlern eingeleitet und getragen: Jerzy Grotowski und Tadeusz Kantor.2 Der ausländische Beobachter kann in den 70ern, in denen sich Polen immer mehr nach außen öffnet, sich zwar ohne weiteres auch davon überzeugen, daß Polen sich in der Vielfalt und Breite seiner Theaterkultur kaum von anderen europäischen Ländern unterscheidet, doch bleiben Grotowski und Kantor, die Scharniere über die sich die Tür zum östlichen Nachbarn auftut. Dies gilt besonders auch in bezug auf die avantgardistischen Traditionen des polnischen Theaters. Grotowski und Kantor schaffen plötzlich einen begehbaren Raum, in dem man zuvor nur auf Vermutungen angewiesen war. Mit ihrem nachhaltigen internationalen Erfolg setzen sie die Wegmarken der zukünftigen gegenseitigen Orientierung. Taviani vergleicht den Auftritt Grotowskis im Frühjahr 1966 beim „Festival du Théâtre des Nations" mit der Explosion einer Bombe.3 Bernard Dort erinnert sich in ähnlicher Weise an den ersten Auftritt von Kantors Cricot 2 auf dem „Fèstivàl mondial du théâtre" 1971 in 1
2
3
T. Mózgowicz in Tadeusz Kantors Die tote Klasse. Zitiert nach H. Xander: Auf Tadeusz Kantors Spuren. In: Jan Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater. Übers, von Klaus Roth. Hrsg. von H. Xander. Tübingen 1995, S. 145. Eine Darstellung des polnischen 'Nachkriegstheaters' auf dieser Basis überschreibt Hyde 1992 ganz im Sinne der folgenden Argumentationskette mit „Dead Souls Under Western Eyes". Vgl. G. Hyde: Poland. In: R. Yarrow (Hrsg.): European Theatre 19601990. London and New York 1992, S. 182-219. F. Taviani: Die Geschichte des Odin. In: E. Barba: Jenseits der schwimmenden Inseln. Reinbek 1985, S. 262-309, hierS. 275.
Die Geschlossenheit des polnischen 'Theaterweltbilds'
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Nancy: „Sein Das Wasserhuhn nach einem Text von Witkiewicz unterlief all unsere Gewohnheiten als Zuschauer [...]. Dieses Wasserhuhn war tatsächlich verwirrend."4 Dort nennt Kantors Theater ein „Theater der Grenzen" und liefert damit eine mögliche Erklärung für den internationalen Erfolg des polnischen Theaters. Grotowski und Kantor machen deutlich, daß die durch die politischen Blöcke des kalten Krieges gezogenen Grenzlinien auf kulturellem Gebiet keine Bedeutung haben. Und damit nicht genug: Inszenierungen wie Grotowskis Akropolis (1962) oder Kantors Wielopole, Wielopole (1980) rufen die Tatsache ins Bewußtsein, daß Polen d a s Schlachtfeld war, auf dem das 'alte Europa' als ein Raum gemeinsamer kultureller Werte, verbindender ethischer und religiöser Überzeugungen katastrophal zugrunde gegangen war. Sie weisen damit nicht nur auf einen leeren Fleck auf der europäischen Landkarte, sondern ebenso auf eine Leerstelle im kulturellen Gedächtnis. Polen rückt sowohl im geographischen als auch im kulturgeschichtlichen Sinn von der Peripherie Europas wieder zurück in dessen Zentrum. Die Befremdung und Verwirrung, welche die polnischen Theatertruppen auslösen, werden wie ein Befreiungsschlag begrüßt. Wie in Dorts Beschreibung empfinden viele Zuschauer ihre erste Begegnung mit dem polnischen Theater als ein Schlüsselerlebnis. Zofia Tomczyk-Watrak hat für Józef Szajnas Inszenierung Replika eine Reihe internationaler Kritikerstimmen zusammengestellt. Szajnas Inszenierung trägt wesentlich dazu bei, daß sich das Bild, welches Grotowski und Kantor vom polnischen Theater hinterlassen, weiter verfestigt. Tomczyk-Watrak faßt zusammen: Viele der Rezensenten unterstrichen ihre Ratlosigkeit gegenüber dem ungewöhnlichen Material der Aufführung, das sich einer intellektuellen Analyse entgegenstellt. Sie versuchten, subjektive, höchst intime Erlebnisse zu berichten: Als das Licht langsam verlosch und die Bühne in ein Dämmerlicht tauchte, konnte ich nicht klatschen. Es war so wie auf einem Friedhof zu klatschen, an einem Gemeinschaftsgrab, das fur einen Augenblick geöffnet wurde. Ich fühlte mich zerrissen, erledigt, erschüttert, ich hatte einzig Lust dazu, auf die Knie zu fallen und loszuweinen. (Malkah Rabel).5
In Szajnas außerordentlich erfolgreicher Inszenierung sind eine ganze Reihe von Elementen erkennbar, die für den Außenstehenden eine gewisse Ähnlichkeit mit Grotowskis oder Kantors Bühnenästhetik aufweisen. Im Sinne Wittgensteins könnte man dabei auch von einer Art 'Familienähnlichkeit'
4
5
B. Dort: Un théâtre des frontières. In: G. Banu: Kantor, l'artiste à la fin du XXe. Paris 1989, S. 23-28, hier S. 23. Zofia Tomczyk-Watrak: Józef Szajna ijego teatr. Warschau 1985. S. 111.
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Harald Xander
sprechen.6 Wie Grotowskis Akropolis, zu der Szajna Bühnenbild und Kostüme entwarf, präsentiert sich Replika zunächst als eine Auseinandersetzung mit den Todeslagern der Nazis, gewinnt aber von hieraus schnell die Züge einer universellen Metapher der menschlichen Existenz. Kahlköpfige Figuren in zerrissenen Kostümen schälen sich aus Abfallhaufen. Sie gehen auf Krükken, humpeln und kriechen durch den Bühnenraum, sind auf Prothesen angewiesen. Sie können sich weder artikulieren noch menschlichen Kontakt untereinander herstellen. Szajna verwendet - ähnlich wie Kantor - lebensgroße Puppen. Die Figuren werden als ihrer menschlichen Eigenschaften nahezu beraubt dargestellt und gleichen sich damit an ihre leblosen Doppelgänger an. Einige der Puppen bestehen, um die Metapher weiter zu fuhren, nur noch aus Rumpf, Kopf oder einzelnen Gliedmaßen. Ihr Inneres quillt hervor. Eine Puppe wird, wie Christus ans Kreuz, an ein Holzrad geschlagen - ein Bildzitat aus der christlichen Heilsgeschichte, wie es uns ebenfalls bei Kantor häufig begegnet. Die hohe Attraktivität bzw. affektive Wirkung des polnischen Theaters ist nicht einfach auf die Faszination des Fremden zurückzufuhren. Seine Sprache besteht zu einem großen Teil aus Elementen, die im westlichen Kulturkreis universell verständlich sind. Darüber hinaus sind sie zu jenen zu rechnen, welche die Identität unseres Kulturkreises über Jahrhunderte entscheidend geprägt haben.7 Das eigentlich zutiefst Bekannte begegnet uns im polnischen Theater als etwas verstörend Fremdes. Idealtypisch findet sich diese Kombination, wie u.a. J. Klossowicz herausgearbeitet hat, im Theater von Tadeusz Kantor.8 Kantors Theater steht für das, was das Bild des polnischen Theaters in den 70er und 80er Jahren im Ausland insgesamt bestimmte: das polnische Theater - ein Theater der Bilder, der Gesten und des Rhythmus, ein Theater auf der Suche nach universellen Einsichten und metaphysischen Erfahrungen. Ausgehend von Inszenierungen, die im Juni 1992 auf dem Festival Contact '92 - Tage des polnischen Theaters in Mainz gezeigt wurden, habe ich diesen Ansatz weitergeführt und einige der dem westlichen Beobachter ins Auge fallenden 'Familienähnlichkeiten' des polnischen Theaters systematisch zusammengefaßt. Die „Traditionsbildung der szenischen Praxis", so meine grundlegende These, stützt sich auf eine gleichermaßen spezifisch polnische
6
7 8
Vgl. auch zum folgenden ausfuhrlicher H. Xander: Ikonen, Mysterien und Totentänze. Traditionsbildung in der szenischen Praxis des polnischen Theaters. In: Forum Modernes Theater, 1 (1993), S. 57-74, besonders S. 69ff. Ebd. J. Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater (Anm. 1), S. 81f.
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wie universelle Poetik der „Ikonen, Mysterien und Totentänze".9 Ein solches Bild vom polnischen Theater bestätigt sich auch gerade dann, wenn man den Blick einmal nicht auf die Galionsfiguren des polnischen Theaters, Kantor und Grotowski, richtet, sondern ihn auf die Nebenschauplätze schweifen läßt. Ein gutes Beispiel für einen solchen Nebenschauplatz können etwa die deutsch-polnischen Beziehungen im Studenten- und Amateurtheater abgeben, die sich in den 60er und 70er Jahren lebhaft entwickeln.10 Der Ort, an dem sich ein festes Bild vom polnischen Theater einprägen konnte - und dies ist mit ein Grund für seine nachhaltige Wirkung - ist nicht der traditionelle Theaterraum. Die Rezeption des polnischen Theaters erschöpft sich nicht in der traditionellen Beziehung von Zuschauer zu Dargebotenem. Grotowski übernahm, wie hinlänglich bekannt, von der historischen Theateravantgarde die Zielvorstellung von Theater als einer Forschungsstätte, einem Versuchsraum, einer anthropologischen Werkstätte und eines Laboratoriums. Innerhalb einer von der modernen Technik und dem internationalen Kapitalismus korrumpierten Welt sah er im Schauspieler bzw. in der schauspielerischen Arbeit eine der letzten Zugangsmöglichkeiten zu den transzendenten, metaphysischen „Quellen" des menschlichen Daseins.11 Die Mission eines so verstandenen Theaters erfüllte sich gerade nicht im institutionalisierten, von den Zuschauern nur zu konsumierenden Theaterbetrieb, sondern abseits davon in Gemeinschaften authentischer kultureller Begegnung. Grotowski reformuliert damit auch ein zweites Postulat der historischen Avantgarde, die Forderung einer Gleichsetzung von Kunst und Leben:12 Ich glaube, daß es vor allem mit dem Versuch verbunden ist, von der klassischen Einteilung in aktive und passive Kultur abzugehen. [...] Das, was ein Privileg weniger ist, kann ja auch anderen zuteil werden. Ich spreche nicht von irgendeiner Massenerzeugung von Werken, sondern von einer Art persönlicher schöpferischer Erkenntnis, die sowohl für das Leben des Einzelnen als auch für sein Leben mit anderen nicht ohne Bedeutung ist. Bei unserer Arbeit auf dem Gebiet des Theaters, bei den Auffuhrungen, die wir viele Jahre lang herausbrachten, näherten wir uns Schritt für Schritt einer Auffassung vom aktiven Menschen (Schauspieler), bei der es nicht darum geht, jeman9 10
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H. Xander: Ikonen, Mysterien und Totentänze (Anm. 6). Zur Entstehimg einer „ f r e i e n jungen Theaterszene" in Polen vgl. A. Jawlowska: Wiçcej ni¿ teatr. Warschau 1988, bes. S. 11. Vgl. z.B. E. Fischer-Lichte: Die Verklärung des Körpers. In: E. Fischer-Lichte/H. Xander (Hrsg.): Welttheater-Nationaltheater-Lokaltheater? Europäisches Theater am Ende des 20. Jahrhunderts. Tübingen 1993, S. 109-116. So z.B. Grotowskis Kommentar zu dem 1977 als internationaler Workshop veranstalteten Projekt „Unterfangen Berg". Vgl. T. Burzyñski/Z. Osiñski: Das Theater Laboratorium Grotowskis. Warschau 1979, S. 142f.
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den darzustellen, sondern man selbst zu sein, mit einem anderen zusammen zu sein, mit ihm umzugehen, wie es Stanislawski genannt hat.
Als letzte Konsequenz dieser Vorgabe zieht Grotowski 1969 mit Apocalypsis cum figuris einen Schlußstrich unter seine bisherige Theaterarbeit und verabschiedet sich von der traditionellen Theateraufluhrung. Fast gleichzeitig mit dieser Entscheidung setzen auch die Organisatoren der renommierten Internationalen Amateurtheaterwoche in Scheersberg (Schleswig-Holstein) eine Zäsur in ihrer Arbeit: Im 14. Jahr des Bestehens soll das hier seit 1955 jährlich stattfindende Festival durch eine sog. „Internationale Theaterwerkstatt" ersetzt werden. An die Stelle der Präsentation bereits fertiger Inszenierungen tritt die gemeinsame Arbeit der Teilnehmer in einzelnen Werkstattprojekten. Die nach wie vor eingeladenen Gastspielauffiihrungen dienen vor allem als Diskussionsgrundlage der Projekte. Schon im zweiten Jahr werden Gäste aus Polen eingeladen: das Studententheater 'Kalambur' aus Breslau, mit der Inszenierung Im Rhythmus der Sonne nach Gedichten von Urszula Koziol.13 Diese Wahl ist aus mehren Gründen interessant. Das 'Kalambur' [dt. Kalauer, H. X.] wird als Studententheater ebenfalls schon in den 50er Jahren (1957) gegründet. Es entwickelt sich zu einer der wichtigsten nationalen und internationalen Institutionen des polnischen Amateurtheaters. Im Mai 1967 veranstaltet es zum ersten Mal ein internationales Theaterfestival. 1969 ein zweites, das die Programmatik fur die folgenden Jahre festlegt: Von diesem Moment an ging es den Machern des Jungen Theaters nicht mehr allein darum, wie man künstlerisch arbeiten solle, um die K»mst dem Leben näher zu bringen, sondern um das Manifestieren einer neuer Lebensform. Man muß nicht nur anders künstlerisch arbeiten, sondern vor allen Dingen anders leben.14
Das Programm verbindet eine universelle Problemstellung mit dem Bemühen um eine Öffnung des polnischen Theaters nach außen. In Wechselwirkung mit den internationalen Festivals, Workshops und Aktionen, die Grotowski ab 1970 in Breslau und Umgebung durchführt, gelingt es dem 'Kalambur', immer mehr ausländische Theaterreisende in die Stadt an der Oder zu lokken. So zählt man etwa 1976 über 35 Gastgruppen und 42 000 Zuschauer 13
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Im folgenden zitiere ich häufiger aus internem Arbeitsmaterial der Scheersberger Theaterwerkstätten, die nicht als veröffentlichte Quellen ausgewiesen werden können. Für die Bereitstellung des Materials gilt Herrn Wollenweber von Theaterhof Scheersberg an dieser Stelle mein ausdrücklicher Dank. Boleslaw Litwiniec: Teatr mtody- teatr otwarty. Breslau 1978, S. 15. Zitiert nach E. Lisowska: Ζ dziejów Teatru i Osrodka Kalambur. In: oérodek teatru otwartego kalambur. Warschau 1982, S. 43.
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aus aller Welt.15 Ab dem vierten Festival, 1973, wird das Programm einer Öffnung des Theaters im Titel des Festivals festgeschrieben. Es heißt von nun an „Festival des offenen Theaters". Ebenfalls 1973 formuliert der Leiter des Theaters und Organisator des Festivals, Boguslaw Litwiniec, seine 21 „Überzeugungen der offenen Kunst". Die internationale Öffnung des polnischen Theaters und ein totales, das ganze Leben umfassendes Theaterkonzept werden darin untrennbar miteinander verknüpft. Paradoxerweise verbirgt sich hinter dem Begriff der „offenen Kunst" ein recht geschlossenes Ensemble von Postulaten, wie einige Beispiele verdeutlichen mögen: II. D I E OFFENE KUNST
wird beflügelt durch die Hoffnung auf mitmenschliche Solidarität und geht über das einsame Heldentum oder eine egozentrische Rettung hinaus. X I V . DIE OFFENE KUNST
behandelt sich als eine Form der Teilnahme am Leben - in Übereinstimmung mit der Überzeugung, daß künstlerisch anders arbeiten anders leben bedeutet. X V . DIE OFFENE KUNST
setzt die Wahrheit nicht mit dem gleich, was logisch ist, sondern mit dem, was natürlich und authentisch ist, und sie fordert vom Künstler, daß seine Haltung sich nicht nur im Kunstwerk, sondern ebenso in der Art der Arbeit - des Schaffens - des Lebens ausdrückt. X V I . DIE OFFENE KUNST
entscheidet den Konflikt zwischen Natur und Kultur, zwischen dem was ursprünglich und dem was aufgesetzt ist, im Handeln, erschließt sich seine Urteile auf dem Marsch und unterstellt sie einer täglichen Überprüfung.16
Im Rhythmus der Sonne, mit der Litwiniec neben dem Scheersberger Festival auch zahlreiche andere europäische Länder sowie New York und Kanada erreicht, gilt als die Inszenierung, welche die neue Programmatik vorbildlich umsetzt. Litwiniec vertritt einen bedingungslosen Eklektizismus der Theatermittel und -konventionen. Operette, Kabarett, psychologisches Theater, Boulevardkomödie usw. stehen gleichberechtigt nebeneinander, solange sie dazu beitragen, das oberste Ziel der Theaterarbeit zu erreichen, nämlich, die „Sensibilität des Zuschauers zu attackieren". Dramaturgisch hält sich Litwiniec, wie ein Beobachter anmerkt, an ein recht traditionelles Muster: 15
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Vgl. H. Xander: Aus der Wartehalle ins globale Dorf - „Reisebilder" des polnischen „Welttheaters". In: A. Kotte (Hrsg.): Theater der Region - Theater Europas. Bern 1995, S. 83ff. Übernommen aus dem Programmheft des „VIII Internationalen Treffens des internationalen Theaters - Breslau 28.09 - 11.10.1987".
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Die Aufführung nährte sich aus der Atmosphäre der aktuellen und wichtigen gesellschaftlich-politischen Ereignisse, sie erzählte darüber, „was der Mensch in der Welt der erschütterten Werte, der Halbwahrheiten und Lügen, [...] die in große Worte gehüllt werden, ist." Dramaturgisch dargestellt von der Geburt bis zum symbolischen Tod, wurde er durch die Hölle und den Himmel der Zivilisation geführt, durch Gut und Böse, Enttäuschung, Bitterkeit, Aufstieg und Fall. Diese geradezu zeitgenössische Moralität, dieser „Jedermann" des XX. Jahrhunderts, erhielt im Theater eine hervorragend passende Form, eine halb rezitierte, halb gesungene „menschliche Messe", Kreuzweg und Musical gleichzeitig.17
Zur dritten internationalen Theaterwerkstatt in Scheersberg (Oktober 1971) werden das Krakauer Studententheater 'STU' mi ihrer Inszenierung Spadanie (Das Sinken) und der Warschauer Theatermacher Helmut Kajzar eingeladen. Das Sinken ist ähnlich wie Im Rhythmus der Sonne eine szenische Collage, die von einem Gedicht ausgeht - in diesem Fall von einem der wichtigsten Texte von Tadeusz Rózewicz. Auch für diese Produktion sind deutlich Anleihen aus der Tradition der Moralität und des Mysterienspiels zu erkennen.18 Die Inszenierung wird als „eine Schauspieldiskussion über die Lage der jungen Generation in der heutigen Welt" angekündigt und mit dem Untertitel „Über vertikale und horizontale Elemente im Leben des zeitgenössischen Menschen" versehen. Das Motiv der Vertikalbewegung findet sich auch im Werkstattprojekt Kajzars wieder, der sein eigenes Stück Paternoster als Arbeitsgrundlage vorschlägt. Die Projektgruppe erarbeitet daraus die erste Szene, „Die Heimkehr des verlorenen Sohnes". In der Werkstattauffiihrung wird der gesamte Aufführungsraum bespielt. Die Figuren von Mutter und Vater, die den Sohn empfangen, sind mit Stroh ausgestopft. Die Aufführung, die damit für deutsche Zuschauer kaum erkennbar, szenische Motive aus Wyspianskis Wesele {Die Hochzeit) und Gombrowiczs Slub (Die Trauung) zitiert, wird in der Dokumentation der Scheersberger Theaterwerkstatt als das „wohl stärkste künstlerische Geschehen" dieses Jahres geführt. Auch die polnische Gastgruppe des Jahres 1972, das Lubliner Studententheater 'gong 2', stützt sich auf das Prinzip der Textcollage. Erneut bildet ein Text von T. Rózewicz, die Erzählung Vorbereitung auf einen Autorenabend, die Ausgangsbasis. Auch hier erfolgt ein deutlicher Rückgriff auf das Muster der Moralität. Der Protagonist der universellen Entscheidung ist diesmal, wie durch die polnische Romantik vorgeprägt, der Dichter bzw. der Künstler: 17
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Tadeusz Nyczek: Poezja w teatrze. In: Tea Ir a poezja. Breslau 1978. Zitiert nach E. Lisowska: oirodek teatru otwartego kalambur (Anm. 14), S. 44. Die dramaturgischen Muster des mittelalterlichen Theaters werden vom Drama der polnischen Romantik neu exponiert und begründen von hier aus neue, spezifisch polnische Traditionslinien.
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Wovon wird Ihr neues Stück handeln? Vom Tod! Das wird das Publikum weder sehen noch hören wollen! Vielleicht!
Das Geschehen schließt auch hier mit einem Bildzitat nationaler Mythen. Erneut sind Folien Wyspianskis bzw. Gombrowiczs erkennbar: Das Schauspiel hat einige Pointen und verschiedene Lösungen: Die letzte dieser Lösungen ist eine Schmähschrift auf den Künstler. Klägliches Geschöpf, Wrack eines Mannes, Überreste eines Schriftstellers, Schatten eines halb entblößten Wirts, der gen Himmel fahrt, während in seinem eigenen Haus schon seit langer Zeit die Küchenschlampe Terror macht. Es singen ihm, dem Künstler, holde Mädchen in weiß-roten Gewändern, die zuschauen, wie er zum Himmel emporschwebt. Und die Führungen durch sein Haus übernimmt die Küchenschlampe.19 1973 werden zum ersten Mal Leszek M^dzik und seine Gruppe 'Seena Plastyczna' (Plastische Bühne), das Studententheater der Katholischen Universität Lublin, nach Scheersberg eingeladen. Die Einladung verdient erstens besondere Erwähnung, weil diese Zusammenarbeit bis heute kontinuierlich weitergeführt und aufrechterhalten wird, und zweitens, weil sich die künstlerische Konzeption von 'Seena Plastyczna' als ein Idealtyp eines geschlossenen Theaterweltbilds präsentiert.20 Die Gruppe entsteht 1970 und läßt sich von Beginn an von dem Konzept eines 'plastischen Theaters', eines reinen Bilder-, Bewegungs- und Geräuschtheaters, leiten. Über 20 Jahre kontinuierliche Arbeit an einer so ausgerichteten, eigenständigen Ästhetik machen das „Studententheater", wie Irena Slawmska anerkennend formuliert, zu einer „einzigartigen Erscheinung auf der Landkarte des zeitgenössischen polnischen Theaters"21. 'Seena Plastyczna' kann eine beachtliche Liste von Auftritten und Gastspielreisen im
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So K. Mroziewicz in Ilustrowany Magazyn Studencki vom 28.05.1972. Zitiert nach Materialien des Theaterhofs Scheersberg. Auswahl: 1974: Gastspiel mit Ikarus und Abendmahl·, 1979: Gastspiel mit Austrocknen-, Werkstattleitung „Private Last Judgement" („It is going to be an attempt at o f f e r i n g to t h e e a r t h and r e s u r r e c t i o n of what is dead and rotten in us and of what we would like to preserve for ever.") 1982: Werkstattleitung zum Thema Raum-Musik-Bilder-Komposition. Irena Slawiñska: Einleitung zu iycie ku smierci. 'Scena Plastyczna' Katolickiego Uniwersytetu Lubelskiego Leszka M^dzika [life towards death. 'Scena Plastyczna' of the Catholic University of Lublin. Artistic Manager Leszek M^dzik], Lublin 1991.
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Ausland vorweisen. Innerhalb Polens gibt sie das Vorbild für zahlreiche andere Gruppen. Ihre Inszenierungen gestalten sich als eine Abfolge symbolisch oft höchst aufgeladener Einzelbilder, deren Spannung sich auf eine exakt komponierte Wechselwirkung zwischen einigen grundlegenden Gegensatzpaaren zurückfuhren läßt: Stille und Geräusch, Hell und Dunkel, Licht und Schatten, Stillstand und Bewegung, Leben und Leblosigkeit, Raum und Fläche, Fallen und Sich Erheben.22 Idealtypisch im Sinne eines geschlossenen Theaterweltbilds ist das Theater von Leszek M^dzik vor allem in Hinblick darauf, daß hier die Konzeption eines radikalen Bildertheaters und der Anspruch auf einen universellen Bedeutungshorizont fast bis zur Deckungsgleichheit zusammenkommen. Slawinska fragt: „Wie kann man dieses Theater definieren? [...] als religiöses Theater? als philosophisches? als kosmisches?" Zur Antwort zitiert sie einen Eigenkommentar M^dziks: „Es ist die tiefste menschliche Wirklichkeit. Zu ihrem Inhalt fügen sich Leidenschaften und existentielle Zustände zusammen, denen sich der Mensch nicht immer bewußt ist, und mit denen er nicht immer zurecht kommt: Liebe, Glaube, Heiligkeit, Bestürzung, das Gefühl der Endlichkeit, der Tod - das ist was den Raum der Inszenierungen mit Leben füllt."23
M^dziks Äußerung spiegelt, wie Slawmska anmerkt, ein Verständnis von Theater wider, das auf eine lange Tradition zurückblicken kann: Die Theaterbühne soll zum Schauplatz eines Welttheaters werden, „wo zwischen die Mächte des Guten und des Bösen das schwache menschliche Wesen geworfen wurde, berufen zum Leiden, aber auch zur Freiheit"24. Theater, das auf einen universellen Bedeutungshorizont zielt, muß seine Wirkung außerhalb der Sprache und über sie hinaus transportieren können. Das Konzept eines Bildertheaters und die traditionelle Denkfigur vom Welttheater ergänzen und unterstützen sich gegenseitig: M^dziks Theaterweltbild genügt sich selbst als ein Bilder-Welttheater. Auch eine zweite wichtige Gruppe des polnischen 'plastischen Theaters' der 80er Jahre findet auf dem Scheersberg begeisterte Aufnahme. 1988 zeigt die Warschauer Truppe 'Akademia Ruchu' [dt. Bewegungsakademie; H. X.] ihre Inszenierung Carthago. Zentraler Bezugspunkt der Inszenierung ist eine riesige Plattform, die durch eine spezielle Aufhängung frei im Raum bewegt werden kann. Einmal schneidet sie den Raum in zwei Teile, einmal bietet sie eine schiefe, eine anderes Mal eine frei schwebende Spielfläche. Die Schau22 23 24
Ebd. Ebd. Ebd.
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spieler müssen sich in ihren Aktionen immer wieder aufs Neue den durch die Plattform vorgegebenen Spielräumen anpassen bzw. sich in ihnen behaupten. Die metaphorische Funktion der Installation ist kaum zu übersehen. Der Leiter des Theaterhofes kommentiert die Aufführung als „ein Gleichnis sicherlich nicht nur für die politische Situation in ihrem Heimatland". An der Theaterwerkstatt 1989 beteiligt sich 'Akademia Ruchu' mit der Leitung von Werkstattprojekten. Diese umfassen fünf Aktionen, in denen nichttheatertypische Räume und Orte bespielt werden. Ein Beispiel: Die Teilnehmer des Projekts bilden am Strand der Ostsee eine Menschenkette, die sich parallel zum Rhythmus der Wellen vor und zurück bewegt. Nach einiger Zeit verlassen die Akteure den Strand und geben den Blick auf das Wasser frei. Auf den Wellen schwimmen kleine, weiße Objekte, die sich schließlich als Papierschiffchen entpuppen. Die Veranstalter kommentieren, welche Absichten sie hinter den Aktionen der polnischen Gäste vermuten: In Alltagsabläufe sollen Momente der Fremdheit und der Veränderung eingesetzt werden - anfangs kaum merklich, durch Wiederholung oder Steigerung immer auffälliger. Der Passant soll stutzig werden und über sein eigenes eingefahrenes Verhalten stutzig werden.
Von den Aktionen geht allerdings kein grundsätzlich neuer Impuls für das Scheersberger Bild vom polnischen Theater aus. 'Akademia Ruchu' führt das Grundkonzept von Theater als Lebensmodell vielmehr konsequent zu Ende. Zusammengefaßt entsteht das Bild vom polnischen Welttheater, wie es sich auch in Scheersberg verfolgen läßt, in drei Schritten: von einem Welttheater der Poesie, über ein Welttheater der Bilder zu einem Welttheater im Alltag. Die Kombination der auf den ersten Blick widersprüchlichen Konzepte von Theater als einer offenen Kunst und Theater als Welttheater macht polnische Gruppen ebenso zu gern gesehenen Gästen im Ausland ebenso, wie es viele ausländische Theaterleute und Zuschauer nach Polen bringt. Der Erfolg und die Anerkennung, welche die Gruppen daraus ziehen, stabilisiert ihr Selbstverständnis. Das Credo, daß Theaterarbeit mit einer grundsätzlichen Veränderung des eigenen Lebens einhergehen müsse, bewahrheitet sich für die Theatermacher nicht zuletzt an den eigenen (Reise-)Erfahrungen.25 Vor dem Hintergrund der polnischen Geschichte und des aktuellen politischen Geschehens der 80er Jahre erscheinen die polnischen Theatergruppen den ausländischen Beobachtern als Vorzeigebeispiele eines neuen, „freien" Theaters, dessen Losung lautet, sich als „schwimmende Inseln" in einem Meer des 25
Vgl. H. Xander: Aus der Wartehalle (Arnn. 15), S. 83.
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Antihumanen zu behaupten. Als weiterer Faktor, der das polnische Welttheater-Theaterweltbild stabilisiert, spielt die spezifisch polnische theatertheoretische Tradition eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Im Konzept des 'offenen Theaters' sind die Spuren des Diktums Mickiewiczs von der historischen Mission des polnischen Dramas ebenso deutlich, wie die der Theorie der reinen Form Witkiewiczs, der das Theater darauf festlegt, beim Zuschauer einen metaphysischen Schock auszulösen. Indizien für die Stabilisierung eines bestimmten Theaterweltbilds fur das polnische Theater sind daneben auch die auffällig hohe 'Lebensdauer' der Gruppen sowie ihres künstlerischen Selbstverständnisses. Die oben genannten Theater 'Kalambur' und 'Seena Plastyczna' sind schon so lange Teil des polnischen Theaterlebens, daß die in Polen zeitweise übliche Bezeichnung 'junges Theater' auf sie kaum noch anzuwenden ist. Eine 'Lebensdauer' von über 20 Jahren ist für freie Gruppen in Polen keineswegs eine Ausnahme. Die Theater '77' aus Lodz, das 'Theater des achten Tages' aus Poznañ oder 'Gardzienice' genießen mittlerweile bei ihrem Publikum schon einen mythologischen Status. Durch die jahrelange Zusammenarbeit und oft auch den jahrelangen politischen Widerstand entstehen hier stabile Gruppenidentitäten und kohärente künstlerische Programme. Die Gruppengeschichte wird dabei häufig selbst zum Gegenstand der künstlerischen Darstellung. Auch hier ein kurzes Beispiel aus den Gastspielen auf der Theaterwerkstatt Scheersberg. Die 1972 von der Lubliner Gruppe 'gong 2' gezeigte Bearbeitung von Rózewiezs Vorbereitung auf einen Autorenabend wird explizit als eine persönliche Bilanz unter zehn Jahre Theaterarbeit des Regisseurs und Hauptdarstellers Andrzej Rozhin angekündigt. Sie endet mit der oben bereits zitierten „Schmähschrift auf den Künstler". Auch hier schließt sich ein Kreis: Die eigene Identität als Künstler bindet sich an die Kompetenz in der Behandlung universeller Probleme, und umgekehrt wird die eigene künstlerische Identität zu einem Musterfall einer universellen Problematik. Letzteres läßt sich, wie ich in einem selbständigen Aufsatz ausführlich ausgearbeitet habe, besonders gut am Begriff der 'Reise' darstellen.26 Von Grotowski ausgehend gilt der Reisebegriff dem 'freien' polnischen Theater quer zu allen ästhetischen Differenzen als ein Paradigma der eigenen Arbeit und des eigenen Anspruchs. Der Aufsatz schließt mit einer entsprechenden Analyse der Theaterästhetik Tadeusz Kantors. Die Besonderheit Kantors innerhalb des polnischen Kontextes besteht darin, daß er den Begriff von seinem Ende her denkt. Sei26
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ne Position im Theater des Todes kennzeichnet er selbst als die eines Rückkehrenden. Der Rückbezug und die Rückbindung auf die persönliche und davon nicht zu trennende künstlerische Biographie erfolgt nun allerdings nicht wie allzu oft bei anderen polnischen Theaterkünstlern im Gestus der Selbstversicherung, sondern im Gestus der Selbstentsicherung, der Suche nach den Spuren der eigenen Identität und ihres erneuten Verwischens. Kantor dekonstruiert den Mythos des Reisens. Die Reise entpuppt sich an ihrem Ende als eine Fluchtbewegung vor der Unvermeidlichkeit des Todes, als ein letzter, absurder Versuch einer Ortsbestimmung, wo die Unmöglichkeit eines Aufenthalts längst feststeht. Doch trotz und gerade wegen dieser dekonstruierenden Geste tritt Kantor mit dem Anspruch auf, ein - im doppelten Sinne - Protagonist des Welttheaters zu sein. K. Plesniarowicz hat in seiner semiotisch orientierten Kantor-Monografie die Theatersprache von Kantors Theater des Todes als ein rhythmisches Wechselspiel von Desemantisierung und Resemantisierung bzw. von Dekonstruktion und Rekonstruktion zusammengefaßt: Kantors Theater unternehme „den Versuch, die Handlungen zu beschreiben, die programmatisch das Universum der Zeichen entwerten".27 Und, so bleibt hier hinzuzufügen, es zeichnet sich besonders dadurch aus, daß diese semiotischen Prozesse so gegeneinander- bzw. zusammengestellt werden, daß der Verstehensprozeß extrem offen bleibt. Dieser Deutungsvorschlag kann genauso gut auf einzelne Requisiten aus Kantors Theater, etwa die „mechanische Wiege" aus Die tote Klasse oder das Drehbett aus Wielopole, Wielopole angewendet werden, wie auf übergreifende Kompositionsmuster. Plesniarowicz zeichnet als Untergruppen des Wechselspiels von Konstruktion und Dekonstruktion unter anderen den „Rhythmus der Belebung und des Sterbens", den „Rhythmus der Ähnlichkeiten und der Unterschiede" sowie den „Rhythmus der Identität und der Distanz". Selbst fur die theoretischen Aussagen Kantors liefert der Vorschlag Plesniarowiczs eine überzeugende Basis. Kantor verwirklicht das „Paradox des ewigen Avantgardisten". Immer wieder aufs Neue unterfuttert er seine Inszenierungen mit Manifesten, die sich gegenseitig außer Kraft setzen und für ungültig erklären. Auch hier ein Wechselspiel der Dekonstruktion und Rekonstruktion des eigenen avantgardistischen Anspruchs. Ebenso hält Kantors Theater die Schwebe zwischen den wichtigsten avantgardistischen Theatermodellen - Theater als Tempel und Theater als Schaubude - , indem es beide auf der Bühne aufeinander prallen läßt. Unter dieser Perspektive fugt sich Kantor sehr gut in das zuvor skizzierte Bild eines polnischen 'Welttheaters'. Das Wechselspiel von Desemantisie27
K. Plesniarowicz: Teatr bnìerci Tadeusza Kantora. Chotomów 1990, S. 27.
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rung und Resemantisierung bzw. Dekonstruktion und Rekonstruktion bedeutet für Kantor nämlich wie bereits angedeutet kein abstraktes, auf beliebige Inhalte übertragbares Formprinzip. Im Gegenteil: Das Theater des Todes setzt seine Hebel mit äußerster Präzision an: Religion, Geschichte, Identität, Fortschritt und Kunst, Krieg, Erinnerung, Herkunft, Tod und Heimkehr. Noch nachdrücklicher als andere polnische Regisseure zitiert Kantor die „großen Erzählungen" des westlichen Europas auf die Bühne. Während für Kantors Zeitgenossen die Nichterzählbarkeit der „großen Erzählungen" beschlossene Sache ist, wirft Kantors Theater einen Blick darauf, daß uns für die „Möblierung des Zimmers der Vorstellungskraft" in einem Jahrhundert der Zerstörung ohnehin nur wenig mehr als Bruchstücke der großen Mythen übrig geblieben sind. 1944 inszeniert er Wyspiañskis Rückkehr des Odysseus in einem Zimmer eines vom Krieg schwer beschädigten Krakauer Gebäude. Kantor arrangiert Fundstücke aus den Trümmern der Stadt zu einem symbolischen Interieur, in das er Odysseus mit grauem Soldatenmantel und Stahlhelm zurückkehren läßt: Die Heimkehr des Helden - im doppelten Sinne eine Heimsuchung.28 Wie in diesem Beispiel erfährt bei Kantor die Verdichtung komplexer Sachverhalte zu wirkungsintensiven Theaterbildern, die allgemein als Merkmal des polnischen 'plastischen Theaters' gelten kann, eine besonders deutliche Ausprägung. Hyde nennt Kantors Theater in Abgrenzung zu Grotowskis „armem" Theater ein „überfrachtetes Theater".29 Aus meiner Sicht wäre diese Überfrachtung näher als eine erzählerische Überfrachtung zu kennzeichnen. Das fur Kantor typische Verfahren ist die Ineinanderprojektion verschiedener „großer Erzählungen" in eine gemeinsame Ebene. Beispiel dafür sind die Gleichsetzung von christlicher Heilsgeschichte, politischer Geschichte und Familiengeschichte in Wielopole, Wielopole, das Doubeln der greisen Figuren in Die tote Klasse durch Puppen sowie die Verwischung der Grenzen zwischen Mensch und technischer Apparatur in Kantors sogenannten „BIO-OBJEKTEN". Schließlich kann auch das 'Markenzeichen' seiner Aufführungen, Kantors Anwesenheit auf der Bühne und seine Bezugnahme auf das Bühnengeschehen, als eine metaphorische Verdichtung „großer Erzählungen" aufgefaßt werden. Kantor repräsentiert sowohl das Subjekt als auch das Objekt seiner Erzählung. Kantor zitiert sich selbst als einen Erzähler der „großen Erzählungen" auf die Bühne und stellt damit einen Zirkelschluß her: Seine Position ist auf die grundsätzliche Bedingung der Erzählbarkeit angewiesen und mit ihr in Frage gestellt. Dem Theater, das immer nur eine Form der Erzählung 28 29
Vgl. H. Xander: Auf Tadeusz Kantors Spuren (Anm. 1), S. 16. G. Hyde: Poland (Anm. 2), S. 191.
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sein kann, ist kein Raum außerhalb des Erzählbaren zugänglich. Kantors Theater verteidigt das Modell des Welttheaters, indem es die Problematik der Vorbedingungen von Theater, die Erzählbarkeit menschlicher Existenz, auf die Bühne bringt. Kantors Person symbolisiert „den Faden, an dem alles hängt". Die These vom 'geschlossenen Theaterweltbild' muß fur Kantor damit weiter differenziert werden. In Kantors Theater des Todes wird das Modell des Welttheaters konsequent bis zu einem Metatheater des Welttheaters weiterverfolgt, oder in der berühmten Formel von Jan Kott: Kantors Theater ist kein Theater der Existenz - es ist ein „Theater der Essenz"30. Die Faszination, die vom polnischen Theater ausgehen kann, bleibt damit jedoch immer auch eine Gratwanderung. Dazu ein letztes Beispiel: Die erste Fassung von Józef Szajnas Replika (=Replika I) wird 1971, im Kunstmuseum in Göteburg, zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. Dabei handelte es sich noch um eine Installation ohne Schauspieler, die ihrerseits auf einem Environment des Jahres 1969 mit dem Titel Reminiscencje aufbaute. Insgesamt erinnert die Ausstattung in vielen Punkten an die Konzeption, die Szajna 1962 fur Grotowskis Akropolis-lnszeràenmg ausgearbeitet hat. Die Uraufführung der ersten Fassung von Replika mit Schauspielern (=Replika II) findet ebenfalls im Ausland, auf dem Edinburgher Theaterfestival, statt. Die dritte Fassung (=Replika III) hat auf dem Theaterfestival von Nancy 1973 Premiere. Erst die vierte Fassung (=Replika IV) erlebt eine polnische Uraufführung (1973). Szajna bereist mit Replika neben fast allen europäischen Ländern u.a. auch die USA (1976) und Mexiko. Die letzte Aufführung findet kurz vor der Auflösung von Szajnas Theater 1979 in Stuttgart statt. Zuvor ist die Inszenierung 1973 in Essen und 1975 in Dortmund zu sehen gewesen. Werden in den meisten Ländern die Reaktionen auf die Inszenierung auch gegen Ende der 70er noch als Schock oder Erschütterung beschrieben, finden sich auch bereits weniger begeisterte Rezensionen wie die im finnischen Hufrudstadsblat. Der Kritiker, der die Aufführung bereits 1972 gesehen hatte, wunderte sich darüber, daß das Theater Studio sieben Jahre später immer noch versuche, „die Welt mit immer denselben Zeichen zu erklären", um dann hinzuzufügen: Das ist eine unverfälscht polnische Kombination von makabren Requisiten und brennenden Kerzen. Man muß annehmen, daß Replika sich zum Teil auf die Konzentrationslager Hitlers bezieht und zum Teil auf das Chaos der Welt.31
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Jan Kott: Theater der Essenz: Kantor und Brook. In: Das Gedächtnis des Körpers. Berlin 1990, S. 215. Zofia Tomczyk-Watrak: Józef Szajna ijego teatr (Anm. 5), S. 115.
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Ergänzende Literaturangaben Allegri, L.: Lo spazio medievale di Wìelopole-Wielopole. In: Gedda, L. (Hrsg.): Kantor. Protagonismo registico e spazio memoriale. Firenze 1984, S. 47-57. Seifert, S.: Die Kantorsche Schule des Lebens. In: die tageszeitung, 27.03.1996, S. 13. Stachorskij, S. Vs.: „Balagan" und „Chram". Theaterästhetische Suche in Rußland zu Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Balagan 1995, Nr. 1, S. 27-53. Wiewiora, D.: Philosophischer Ernst und karnavaleskes Weltempfinden - Die ambivalente Todeskonzeption im Theater des Todes von Tadeusz Kantor. In: Balagan 1995, Nr. 1, S. 68-81.
Claudia Jeschke
Befremdung und Faszination. Anmerkungen zur Raum-, Körper- und Bewegungsästhetik im Theater Tadeusz Kantors
Als „Eine Reise durch andere Räume"1, oder auch als „Reise durch die verschiedenen Räume des 20. Jahrhunderts"2 - so beschreibt Michal Kobialka das Theater Tadeusz Kantors. Kantor zerstörte die traditionelle Repräsentation auf dem Theater, indem er, wie Kobialka feststellt, die Attribute des physikalischen Raumes und der Realität erforschte; die Erfahrung und Auslotung von Raum und Realität, bzw. von Raum als Realität ist demnach zentral und instrumental für die Entwicklung des Kantor-spezifischen mentalen, physischen und metaphysischen Theaters. Kantors veränderliche Vorstellungen von Raum/Realität betreffen immer auch die Schauspieler, ihre Körper und Bewegungen. Im Manifest Theater des Todes 1975 aber konkretisieren sich die bislang eher impliziten, metaphorisch-metaphysischen, mit Problemen der Repräsentation und Illusionierung verbrämten Informationen zur Körperlichkeit, zu explizit physischen Strategien - und visualisieren sich in der legendären und relativ gut dokumentierten Inszenierung von Die tote Klasse3 : In der folgenden Studie bilden Kantors bis 1975 entwickelte Raum-Theorien den Vorlauf zu einer motorischen, d.h. physiologisch-phänomenologischen Exploration des Mitte der 70er Jahre manifesten Körper- und Bewegungskonzepts. Dieser Versuch der Isolierung eines einzelnen Aspekts im Produktions- und Wirkungsprozeß des Kantorschen Theaters muß fragmentarisch bleiben, ist, mit Harald Xanders Worten, nur „eine der vielen Chiffren, die Kantor [...] noch zur Entzifferung bereithält"4. 1
2 3
Michal Kobialka (Hrsg. u. Übersetzer): A Journey Through Other Spaces. Essays and Manifestos, 1944-1990 Tadeusz Kantor. With a Critical Study of Tadeusz Kantor 's Theatre by Michal Kobialka. Berkeley, Los Angeles, London 1993. Ebd. Nicht immer stimmen die beiden mir vorliegenden Szenenbeschieibungen: von Jan Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater. Hrsg. von Harald Xander. Tübingen, Basel 1995, S. 132ff sowie von M. Kobialka: Journey (Anm. 1), S. 316ff und die filmischen Aufzeichnungen: Denis Bablet: Le Théâtre de Tadeusz Kantor. CNRS Audiovisuel, Paris 1985 und Krzysztof Miklaszewski: Teatr Tadeusza Kantora. Interpress Film, Warschau 1986, miteinander überein. Ich richte mich in meiner Analyse vor allem
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1. Materialität des Raumes Kantors Auseinandersetzung mit Raum/Realität durchläuft mehrere Stadien. Zu Beginn der 50er Jahre verwirft er die bislang für ihn gültige Vorstellung vom passiven Raum als „receptacle without dimension into which the intellectual puts its creation"5 zugunsten eines dynamischen Raumkonzepts, das die Beziehungen und Spannungen zwischen Raum und Objekten erforschte. Kantor definierte Raum als mentalen Raum, der selbst Ideen, psychologische Spannungen, Gedanken und spirituelle Konflikte barg. Der mentale Raum war demnach in Bewegung: „motion [rather than spatial figures, was] the main actor [on stage], motion itself, autonomous and abstract. It created tensions of a higher degree than actor's gestures, which due to their realism could never become an [abstract] form."6 Die Beschäftigung mit „Informeller Kunst", die Kantor 1955 in Paris kennenlernt, läßt ihn Formen ent-decken, aufdecken, die frei von konventionellen Konstruktionsgesetzen waren, veränderlich und fließend, und die das Konzept eines vollendeten Werks negierten. „Informelle Kunst" ist für Kantor ein Synonym für Spontaneität von Handeln und Bewegen, in der sich Formen, ihre Materialität wie ihre Essentialität, durch den Prozeß der Beschädigung, Dekomposition, Auflösung, Desintegration, Dekonstruktion, Zerstörung enthüllen. Raum ist also lebendig; er kann Formen hervorbringen und erlaubt auch neue Lesarten dramatischer Texte.7 Zu Beginn der 60er Jahre überträgt Kantor seine Erfahrungen mit dem dynamischen Potential des Raumes, seiner kreativen Autonomie, auf Objekte und auch auf die Schauspieler. Um sie von ihrer Abhängigkeit durch die gebräuchlichen Illusionierungstrategien zu befreien und sie als 'sie selbst' vorzustellen, entwickelt er die Todesmaschine,8 eine Konstruktion aus Klapp-
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nach dem polnischen Film, der die Szenenfolge von Die tote Klasse im Ablauf kontinuierlicher und vollständiger als die anderen mir zur Verfügung stehenden Quellen wiedergibt. Ein kritischer Vergleich der Dokumente steht, soweit ich sehe, in der Forschung noch aus. Harald Xander: Auf Tadeusz Kantors Spuren. In: J. Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater (Anm. 3), S. VÜ-XVII, hier S. XVII. Zit. nach M. Kobialka: Journey (Anm. 1), S. 279. Ebd., S. 280. Kantor transferiert die Ideen der 'Informellen Kunst' in The Country House 1961 auf die Bühne: Dieses Werk gilt als Beispiel des 'Informellen Theaters'; vgl. dazu Kobialka: Journey (Anm. 1), S. 292, 300. Oder auch Vernichtungsmaschine; vgl. J. Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater (Anm. 3), S. 38. Eine Abbildung dieser Maschine findet sich z.B. in J. Klossowicz: Tadeusz Kantor's Journey. In: The Drama Review, Vol. 30, No. 3, Fall 1986, S. 104.
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Stühlen, die er in der Inszenierung von Der Narr und die Nonne 1963 einsetzt. Die roboterhaften Bewegungen der Maschine zerstörten jegliche dramatische Aktion auf der Bühne. Die Schauspieler wurden zur Seite gestoßen, mußten um ihren Spielraum kämpfen. Die Präsentation des Textes wurde so durch die Maschine und die Schauspieler zergliedert, die weniger die vom Text suggerierten Emotionen vorführten als „das 'Etwas', das am entgegengesetzten Pol existiert"9, nämlich Empfindungen wie etwa Erschöpfung, Lähmung, Frustration und Gelangweiltsein - sie drückten den Kampf der Schauspieler gegen die Maschine aus, ihr Bemühen, sich nicht von der Maschine unterkriegen zu lassen. Folglich illustrierten die Szenen auf der Bühne keine Handlung, sondern waren als negative oder paratextuelle Bezüge zur unmittelbaren Aktion konstruiert. Es entstanden - von Kantor so genannte - ZeroZonen, Nullzonen, in denen die Schauspieler keine Illusionen herstellen konnten, weil sie permanent der den Spielraum dekonstruierenden Maschine entrannen. Sie reduzierten ihre Aktionen auf ein Minimum, mußten aber wegen der Maschine weiterhin reagieren und agieren. Über den aktuellen Einsatz der Todesmaschine in Der Narr und die Nonne hinaus verstand Kantor dieses Gerät als einen Auslöser für Prozesse, während derer die Schauspieler gezwungen wurden, Systeme außerhalb ihrer selbst zu eliminieren, d.h. konventionelle Illusionierungspraktiken zu vermeiden. Und den Zuschauern verweigerte Kantor auf diese Weise, sich mit den Bühnengeschehnissen zu identifizieren und/oder Interpretationen zu entwickeln, Bedeutungen zu konstruieren. Mitte der 60er Jahre begann sich Kantor mit der Idee des Happening auseinanderzusetzen. In der Folge gestaltete er selbst szenische Ereignisse, die er als Theater-Happenings bezeichnete. In ihnen hinterfragte er wiederum vor allem den Raum in seiner Doppelfunktion als physische Realität und als theatraler Aufíührungsort und - konsequenterweise - in seiner Bedeutung für die Zuschauer. Mit dem Stück Zierpuppen und Schlampen, das er 1973 in einer Galerie aufführte, entwickelte Kantor das Unmögliche Theater. In diesem Augenblick ist es wichtig für mich, eine riesige F ü l l e von M ö g l i c h k e i t e n so miteinander zu koppeln, daß sich beim Zuschauer ein G e f ü h 1 der U n m ö g l i c h k e i t einstellt, das G a n z e
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Zit. nach M. Kobialka: Journey (Anm. 1), S. 290.
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zu e r f a s s e n und zu e n t z i f f e r n . [...] Meine Bemühungen bewegen sich in zwei Richtungen: zum Schauspieler und zum Zuschauer hin. Ich schaffe eine szenische Methode, die in sich selbst geschlossen, die von der Perzeption unabhängig ist, dem 'Nichts' zugewandt, 'unmöglich'. Andererseits beraube ich den Zuschauer seines Status und seiner Daseinsberechtigung als Zuschauer. Seine Bedeutung wird erschüttert, angezweifelt, sein Platz fortdauernd korrigiert und geändert.10
Autonomität der Mittel, Synchronizität und Sequentialität von szenischen Ereignissen und ihre Vielschichtigkeit führten im Theater Kantors auf inhaltlicher Ebene zu einem eher räumlich als zeitlich formierten Konzept von Geschichte. Vergangene und gleichzeitige Kulturen und Geschehnisse wurden zu multiplen, sich ständig überlappenden Räumen. Kantor interessierte sich besonders für die Spannungen zwischen den einzelnen Elementen, die diese Überschneidungen konstituierten. Inhaltliche Aspekte wie die Inszenierungen des Selbsts, des/der Anderen, des Gedächtnisses, des Erinnerns arrangierten sich so zu räumlichen Spannungen. In dem 1975 veröffentlichten Manifest Theater des Todes reflektierte Kantor über diese Spannungen als Interaktionen zwischen Vergangenem, Totem und Jetzigem, Lebendigem (oder auch: zwischen Vergangenem, Lebendigem und Jetzigem, Totem). Der Vorgang des Erinnerns stellte die bezeugenden, sinnhaften Kompetenzen des Visuellen in Frage - ein Problem, auf das Kantor mit der Vergegenständlichung aller psychischen und biologischen Vorgänge reagierte. Auch die Schauspieler bezog er in diese verfremdende Vergegenständlichung mit ein; sie fungierten im Theater des Todes weniger als Menschen denn als menschenähnliche Mechanismen.11 GEGENÜBER jenen, die diesseits geblieben waren, trat EIN MENSCH auf, der ihnen TÄUSCHEND ÄHNLICH sah, und trotzdem (durch irgend eine mysteriöse und geniale 'Verwandlung') ungreifbar weit, erschütternd FREMD, wie ein Toter vorkam, als ob er durch eine unsichtbare BARRIERE von ihnen getrennt wäre - durch eine Barriere, die gerade deswegen so furchtbar und unvorstellbar erscheint, weil sich uns ihr wahrer Sinn und Schrecken lediglich im TRAUM offenbart.12
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Vom Happening bis zum 'Unmöglichen'. In: Institut für moderne Kunst Nürnberg (Hrsg.): Tadeusz Kantor. Ein Reisender - seine Texte und Manifeste. Nürnberg 1988, S. 190. Zur generellen Funktion der Puppen in Kantors Theater vgl. J. Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater (Anm. 3), S. 67ff. T. Kantor: Theater des Todes. In: T. Kantor: Ein Reisender (Anm. 10), S. 254.
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2. Mannequins Im Folgenden werde ich assoziativ-historisierend, d.h. auch im Vergleich zu den von Kantor selbst erwähnten Theorien von Kleist und Craig, einige der körperspezifischen und bewegungsrelevanten Gedanken und Überlegungen Kantors aus dem Manifest Theater des Todes aufgreifen und ihre bildhafte wie motorische Umsetzung in Die tote Klasse untersuchen. Ich bin nicht der Meinung, daß die PUPPE (oder die WACHSFIGUR) einen lebendigen Schauspieler ersetzen könnte, wie Kleist und Craig es forderten. Dies wäre doch zu leicht und zu naiv. Ich bemühe mich, die Motive und die Bestimmung dieses ungewöhnlichen Geschöpfes zu erforschen, das plötzlich in meinen Gedanken und Ideen auftauchte. Sein Erscheinen unterstreicht meine immer festere Überzeugung, daß das L e b e n ausschließlich durch das N i c h t - L e b e n , durch das S i c h - B e r u f e n auf den TOD in der Kunst ausgedrückt werden kann, durch den ANSCHEIN, die LEERE und die BOTSCHAFTSLOSIGKEIT. In meinem Theater muß die PUPPE zu einem Modell werden. Dadurch kann die erschütternde Empfindung des TODES und die Situation der Toten übermittelt werden. Die Puppe als Modell für den lebendigen SCHAUSPIELER.13
In Die tote Klasse setzt Kantor Wachs-Puppen ein14 - in seiner Terminologie: Mannequins. Und er überträgt deren modellhafte Eigenschaften auf die Körper, die Bewegungen der „lebendigen Schauspieler". Welchen ModellBegriff hat Kantor, oder wie äußert sich der Transfer von Mannequins zu Schauspielern auf physiologisch-phänomenologischer Ebene? Kantor geht es nicht darum - so zeigt sein Hinweis auf die Bedeutung des Motivs / der Bestimmung der Puppe - , die Illusion von realistischer Bewegung zu erzeugen. Realistische Bewegung ist ein motorisch hochkomplizierter und vielfältiger Akt, der entscheidend von den Bedingungen der Erdanziehung auf den Körper, der Körperschwere also, gestaltet wird. Körperschwere ist demnach immer existent, in Haltungen wie in Bewegungen. Beide fordern den Aufwand von muskulärer Energie, der die Beziehung der Körperschwere zur Erdanziehung regelt. Der Umgang mit der Körperschwere, d.h. genauer: ihre Vermeidung, ist, in physikalischem wie metaphorischem Sinn, das Thema der Marionetten, der Puppen, der Automaten, der Maschinen. Heinrich von Kleist z.B. geht davon aus, daß allein die Marionette der lästigen Kraft der Erdanziehung nicht unterworfen ist; sie aktiviere den körpereigenen, im Becken befindlichen Schwerpunkt und sei deshalb in der La13 14
Ebd., S. 253. Zur inhaltlichen und dramaturgischen Funktion der Puppen vgl. z.B. M. Kobialka: Journey (Anm. 1), S. 317ff.
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ge, Grazie herzustellen. Kleist bestimmt mit dieser bewegungsorientierten Konzeption ein Körperzentrum, das initiativ für alle weiteren Aktionen (des Oberkörpers, der Gliedmaßen und des Kopfes) wirken soll. Sein Verständnis der Marionette eliminiert den zum Umgang mit der Erdanziehung notwendigen Energieaufwand; er ersetzt ihn durch sukzessive Bewegungen, die von einem Energiezentrum im Becken ausgelöst werden. In Kleists mechanischer Gliederpuppe spiegelt sich die Tendenz, mit den Mitteln der Abstraktion die hinter den Dingen verborgenen bewegungsmäßigen Gesetzmäßigkeiten enthüllen, Grazie herstellen zu wollen. Im Unterschied zu Kleist verbindet Edward Gordon Craig mit seiner Utopie der Über-Marionette keine explizite bewegungsmäßige Vorstellung; die Über-Marionette ist vor allem (Götter)Bild, orientiert sich am Körper in Trance. Bild (=Haltung) oder Trance sind gleichbleibende, eher schwebende denn kraftvolle energetische Zustände; Craig manifestiert seine metaphysische Vorstellung der Über-Marionette in der Elimination jeglicher dynamischer Veränderungen. Aus beiden Theorien, Kleist wie Craig, läßt sich über diese generellen Beobachtungen hinaus kein spezifisches Bewegungsvokabular entwickeln.15
2.1. Erste Szene: Linearität Anders bei Kantor, der sein Manifest auf der Bühne umsetzt. (Es folgt keine Szenenbeschreibung, sondern der Versuch, anhand der ersten beiden Szenen16 von Die tote Klasse wesentliche Aspekte seiner Körper-, Raum- und Bewegungsverwendung zu exponieren.) 15
Kantor bezieht sich im „Theater des Todes"-Manifest neben Kleist und Craig auch auf die Automaten E. T. A. Hoffmanns, ohne sich im einzelnen mit ihnen auseinanderzusetzen. Hoffmanns Automaten haben, wie Dirk Scheper ausfuhrt (Oskar Schlemmer. Das Triadische Ballett und die Bauhausbühne. Berlin 1988, S. 50), Oskar Schlemmers Konzeption der 'Kunstfigur' entscheidend beeinflußt; sie bleibt im Theater des Todes unerwähnt. Es läßt sich nur spekulieren, warum Kantor in dieser Schrift Hoffmann und Schlemmer aus seinen Überlegungen ausklammerte: Sie sehen die Frage einer 'Gestaltverwandlung' des Menschen im Raum des Theaters vor allem polar und abstrakt (Automat und Mensch, Mensch und Kunstfigur); Kleist und Craig hingegen - wie eben auch Kantor in seiner Typologie der Marionette - verhandeln das Problem eher integrativ und humanistisch.
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Die erste Szene enthält die Sequenz vom Beginn des Stückes bis zum ersten Abgang der Schauspieler. Die Sequenzen, die ich hier als zweite Szene bezeichne, erfassen den zweiten Auftritt der Schauspieler (mit den Wachsfiguren) bis zu ihrem erneuten Abgang; sie scheinen mir von der Verwendung von Körperbewegung und Raum her einen definitiven Abschnitt zu bilden. M. Kobialka unterteilt diesen Teil dreifach: in den
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Der Eröffhungsszene ist ein Tableau Vivant vorangestellt, in dem sich einige der in den ersten beiden Schulbank-Reihen sitzenden Schauspieler leicht nach außen neigen und die in der letzten Reihe Befindlichen aufgestanden sind. Die Putzfrau steht abgewendet und nach vorne gebeugt links vor der Gruppe. Auf ein Zeichen Kantors setzen sich die Schauspieler gerade und zunächst bewegungslos in die Bänke, deren Konstruktion Oberkörper, Kopf und später Annbewegungen sichtbar werden läßt. Wenn sich die Schauspieler zu bewegen anfangen - mit zögernden, seitlich vom Körper geführten, nach oben weisenden Armbewegungen17 - , geschieht das ohne sichtbare Beteiligung des Rumpfes; er wird stillgehalten, d.h. es finden weder Neigungen, noch Kontraktionen oder Verdrehungen statt. Der Kopf ist in diese unveränderliche aufrechte Haltung eingeschlossen; Körperfronten und die unbeweglichen Gesichter weisen in dieselbe Richtung. Die Kleidung fördert die statische Haltung des Rumpfes und betont visuell die Position der Köpfe/Gesichter und die Aktionen der Hände. Am Ende der Szene stehen die Schauspieler auf und gehen rückwärts und ohne ihre Front zu verändern ab. Die Beine sind nicht besonders aktiv; sie ermöglichen lediglich die Fortbewegung, indem sie das Körpergewicht tragen. Wesentlich scheint mir die energetische Gleichförmigkeit der Bewegungen zu sein, sie sind verhalten, gespannt.18 Wichtig bei dieser Grundhaltung ist die klare axiale Ausrichtung der Körperfront; sie entspricht der Gestaltung des Spielraums, der durch die quadratisch gespannten Seile sowie durch die Konstruktion und die räumliche Plaziening der Schulbänke definiert wird (welche die Schauspieler seitlich gehend, mit nach vorne gerichteter Körperfront verlassen und in die sie sich in späteren Szenen in eben dieser Haltung wieder hineinsetzen). Auch die Zuschauer befinden sich vor und seitlich neben dem Geschehen, von diesem durch die Seil-Linie getrennt. Der Fokus der Schauspieler ist durch die klare
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'Auftritt mit den Wachsfiguren', sowie in „The Nocturnal Lesson" und „The Grammar Lesson". Vgl. dazu M. Kobialka: Journey (Anm. 1), S. 318ff. Abbildung z.B. in: Institut für moderne Kunst Nürnberg (Hrsg.): Tadeusz Kantor. Theater des Todes fotografiert von Günther K. Kühnel. Zirndorf 1983, S. 27. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Ähnlichkeit des in Die tote Klasse verwendeten Vokabulars mit Kantors persönlichen Bewegungsvorlieben, wie sie sich aus der Beobachtung seiner Aktionen bei Interviews, während Proben und auf der Bühne ableiten lassen. Auch bei seinen Bewegungen bilden Oberkörper und Kopf fast immer einen einheitlichen, gehaltenen Sektor, der sich manchmal nach vorne neigt. Kantor hält die Oberarme häufig seitlich vom Körper in geringer Reichweite; Armbewegungen sind Bewegungen der Unterarme und Hände, die er sehr oft verschränkt oder mit denen er sein Gesicht (Mund, Stirn) berührt (d.h. die Aktionen der Oberarme finden vor dem oberen Körpersektor statt).
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Flächigkeit der Körperfront nach außen gerichtet, bleibt jedoch durch das zwar spezifische, aber äußerst reduzierte Bewegungsvokabular unbestimmt. Die Verwendung der beiden Achsen hoch-tief und rechts-links ist sowohl in den Haltungen wie auch in den wiederholten Aktionen des Arme-Hebens wie des Aufstehens und Hinausgehens betont (und sie erscheint als seitliches Neigen der Oberkörper im vorangestellten Tableau Vivant): Die Flächigkeit erlaubt Ansicht und vermittelt Bildhaftigkeit,19 die sich auch über das 'Einfrieren', das über eine bestimmte Zeitspanne ausgedehnte 'Halten' der Positionen herstellt. Die Körperhaltungen selbst und ihre zeitliche wie räumliche Komposition wirken architektonisch20 - als eine Art Verstärkung des sog. aufrechten Stands, der Normalhaltung, die durch das energetische Mittel der Spannung, Starre die Unflexibilität sowohl der Marionette als auch die eines Toten aufgreift.
2.2. Zweite Szene: Zentralität Zur zweiten Szene treten die Schauspieler, nacheinander von hinten kommend, zu Walzer-Klängen auf; an ihren Körpern sind kindergroße WachsPuppen befestigt. Die Fronten der Mannequins weisen meistens nach vorne oder nach hinten, befinden sich also parallel zu den Körperfronten der Schauspieler oder ihnen gegenüber.21 Die Agierenden umkreisen im Uhrzeigersinn, mit kleinen, leicht fallend-angespannt ausgeführten Schritten den 3/4 Takt aufnehmend, dreimal das Zentrum der Schulbänke; die Körper sind starr, ihre Fronten weisen wie die Gesichter in die Fortbewegungsrichtung. Vor den Schulbänken fuhren einige der Schauspieler eine individuelle, ritualisierte Handlung aus, wie z.B. drei- oder viermal mit der Peitsche auf den Boden schlagen22 oder mit einem Bein in die Luft treten. Bei diesen Handlungen wird das bislang etablierte, reduzierte Bewegungsvokabular durch noch nicht verwendete Bewegungen, etwa solche des Rumpfes oder der Beine, und vor allem durch starke dynamische Veränderungen erweitert. Dazu
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M. Kobialka spricht von Fotografie; vgl. dazu Journey (Amn. 1), S. 318. J. Klossowicz verwendet den Begriff der Archtitektonik genereller: er bezieht ihn auf die Komposition der Kantorschen Schauspiele; vgl. J. Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater (Anm. 3), S. 73ff. Nur der weißhaarige alte Mann, der sich später ins WC setzen wird, trägt die Puppe liegend auf seinen Armen. - Die Reihenfolge des Auftritts der Figuren ist in den mir zur Verfügung stehenden Filmen unterschiedlich: bei Bablet taucht z.B. der Mann mit dem Fahrrad als zweiter, im polnischen Film als dritter auf. Abbildung z.B. in: Tadeusz Kantor. Theater des Todes... (Anm. 17), S. 34.
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gehören neben den bereits erwähnten Aktionen des Schlagens und Tretens auch die sich zentrifugal um den Rumpf herum bewegenden Arme. Daß das lokale Zentrum des Spielraums (mit immer noch deutlicher Orientierung nach vorne) signifikant ist, und daß Kantor diese Signifikanz mit einer Radikalisierung der in der ersten Szene angelegten Bewegungsfolgen verbindet, zeigen auch andere Beispiele aus dem weiteren Verlauf der Komposition. So wird die Etablierung der Hoch-Tief-Achse besonders betont, wenn sich zunächst die Frau mit Fenster erhebt und in ihrer, der letzten Bank (in der Mitte des Raums?) stehen bleibt. Später, nachdem sich die Schauspieler äußerst aktiv gestikulierend an der Peripherie der Bänke aufgehalten und sich dann wieder in die Bänke gesetzt haben, einen kakophonischen Rhythmus skandierend, arrangieren sie sich auf drei verschieden hohen vertikalen Ebenen - sitzend, stehend, auf der Bank stehend. Während dieses Arrangements schneiden sie extreme Grimassen,23 gestikulieren und lärmen, bevor sie das Klassenzimmer normal vorwärts gehend wieder verlassen. Während des gesamten Verlaufs setzt Kantor wie in der ersten Szene architektonische Kompositionen ein, die er hier jedoch, im Unterschied zum Vorhergehenden, nicht mehr flächig, zweidimensional gestaltet, sondern von einem Zentrum ausgehend in die Dreidimensionalität erweitert. Kantor als Person auf der Bühne während der Aufführung unterstützt diese räumliche Konstruktion der Raumgestaltung und Personenfiihrung: Während er zu Beginn der ersten Szene am seitlich gespannten Seil entlang von vorne nach hinten geht und von dort aus aktionslos das Geschehen betrachtet, hält er sich in der zweiten Szene vorne links auf und greift von dort immer wieder ein die Handlungen ein, indem er auf die im Zentrum agierende Gruppe zugeht, gleichsam Teil von ihr wird, indem er ihre Dynamik gestikulierend reguliert. Kantor manifestiert in der ersten Szene die Linearität und konfrontiert diese in der zweiten Szene mit der Zentralität. Diese beiden Strategien werden auch später immer wieder aufgegriffen, variiert und auch miteinander kombiniert.24 Ein Beispiel: Direkt vor den vorne sitzenden Zuschauern befindet sich die Familienmaschine, „ein skurriles Gerät, das wie eine Kreuzung zwischen gynäkologischem Stuhl und einem Folterinstrument anmutet; es 23 24
Abbildung z.B. in: ebd., S. 53. Ob sich in der Konstruktion und Destruktion, der Ver- und Entknüpfung der Körper-, Bewegungs- und Raumaspekte eine ähnliche Spiralstruktur ergibt, wie sie K. Pleániarowicz auf semiotischer Ebene fur Die tote Klasse feststellt, ließe sich anhand einer vollständigen, mir nicht vorliegenden Dokumentation der Inszenierung überprüfen. Vgl. Dietmar Wiewiora: Tadeusz Kantors Theater in der Forschung. In: J. Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater (Anm. 3), S. XXXV-XLI, hier S. XXXIX.)
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dient dazu, die Beine des Delinquenten auseinanderzuziehen."25 Damit die Maschine arbeiten kann, muß der „Delinquent" liegen; ihre beiden Teile funktionieren auf einer nahezu horizontalen Ebene, die normalerweise aufrechte Haltung der Person, die durch sie gequält werden soll, wird um 90 Grad gekippt, wodurch die Flächigkeit des Bewegungskonzepts beibehalten wird. Nach einigen weiteren Aktionen kommt die Putzfrau wieder herein die Maschine befindet sich mit einem eingespanntem Menschen auf der Bühne: Jetzt spielt sie [die Putzfrau, C. J.] den Tod: sie hält einen Sensenbesen in der Hand, mit dem sie quer durch die ganze Klasse fegt. Nach jeder Bewegung fällt einer der Alten."26 Die Schauspieler agieren hier nach dem Kreisprinzip: Der Tod hält den Besen horizontal über dem Kopf und bewegt ihn auf dieser horizontalen Ebene hin und her. Währenddessen umkreist er mehrmals die Bänke; die Alten laufen ihm, ebenfalls auf einem Kreisweg, davon, bevor er sie mit dem Besen trifft, sie auf den Boden sinken und liegen bleiben.
3. Materialität der Bewegung Körper, Bewegungen und Raum folgen denselben universal-geometrischen Gesetzen und werden als gleichwertige Faktoren der Inszenierung gesehen. Auf theoretischer Ebene aber ist es vor allem die Körpervorstellung und weniger wie bislang das Raumkonzept, das die Ästhetik von Die tote Klasse bestimmt. Kantors Sicht vom Körper ist in ihrer Haltungsorientiertheit, Bildhaftigkeit Craigs Utopie von der Über-Marionette verwandt. Die Verdopplung der Körper durch die Mannequins fuhrt jedoch andere, über die Ansichtigkeit und bedeutungsvolle Bildhaftigkeit hinausgehende Aspekte der Bewegung wie des Raumes ein. Kantor definiert konkrete Zentren - ob im Körper der Schauspieler oder in der Verwendung des Raumes, wobei sich in der Konstruktion des Körperzentrums Ähnlichkeiten zwischen Kantor und Kleist finden lassen. Wie Kleist versteht auch Kantor das Zentrum als formalen, als räumlichen Fixpunkt, von dem aus sich Bewegung entwickeln kann, um dem herum Bewegung stattfindet, auf den sich Bewegung bezieht. Zentrum ist keineswegs, wie häufig im Tanz, mit persönlicher Emotionalität konnotiert. Eher ließe sich bei Kantor die Verknüpfung von Zentrum und Erinnern kon25
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Ebd., S. 138. Abbildung z.B. in: Tadeusz Kantor. Theater des Todes... (Αηχη. 17), S. 62-63. J. Klossowicz: Tadeusz Kantors Theater (Anm. 3), S. 139.
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struieren. Mit Kleist wie Craig verbindet ihn die gleichförmige und unflexibel-angespannte (=Maschinen ähnliche, mechanische) Verwendung von Energie. Das von Kantor verwendete Bewegungsvokabular zeigt die Modellhaftigkeit von Körper, Körperbewegungen und Raum durch die Definition und Materialisierung essentieller und universaler Bewegungs- und Raumaspekte: Linearität und Zentralität werden zu explizit physischen Strategien. Durch räumliche (d.h. architektonische), zeitliche und muskuläre (d.h. rhythmische und dynamische) Faktoren modifiziert, fungieren sie während des gesamten Stückes als durchgestaltete, autonome, textuelle Folie, auf die weitere szenische Informationen projiziert werden. Körper, Körperbewegungen und Raum sind in Kantors Theater nicht nur Mittel, sondern Material; sie werden zu multidimensionalen und multivalenten Spannungsfeldern, die - über die Bedeutungszuweisung hinaus - eine spezifische, energetische Lesart, besser: Erfahrbarkeit, des Geschehens ermöglichen.
4. Körpertheater Die Todesmaschine hatte den Schauspieler vom Text entfremdet. Das Modell der Puppe entfremdet den Schauspieler durch Verdoppelung von der 'realen', anatomischen Konstruktion seines Körpers; gleichzeitig aber betont die Verdoppelung die 'reale' Konstruktion. Kantor manifestiert die Vielschichtigkeit des Puppen-Modells durch die Körper und an den Körpern der Schauspieler. Ihre Bewegungssprache ist reduziert, mechanisch, durch die enge und bedingungshafte Vernetzung mit dem Raum aber informativ, genau. Körper, Bewegungen und Raum sind autonom und vermitteln eine spezifische Art von Energie; und sie sind und bleiben theatrale Bilder, Projektionsflächen. In der Konzentration auf die ambige, reale wie theatrale, Körperlichkeit ähnelt das Theater des Todes dem etwa gleichzeitig entstehenden westdeutschen Tanztheater. Bei allen ästhetischen und entwicklungsgeschichtlichen Unterschieden problematisieren und gestalten beide Zwischenbereiche - Antinomien zwischen 'natürlichem' und 'künstlichem' Körper, realistischer und theatralisierter Bewegung, zwischen Konkretheit und Abstraktion. In Die tote Klasse reagiert Kantor auf diese Antinomien mit einer Ästhetik formaler Entpersönlichung; das Tanztheater geht den Weg persönlicher Formalisierung.
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Filmverzeichnis Bablet, Denis: Le Théâtre de Tadeusz Kantor. CNRS Audiovisuel, Paris 1985. Miklaszewski, Krzysztof: Teatr Tadeusza Kantora. Interpress Film, Warschau 1986.
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„Das lebende Bild einer Methode": Zur Funktion der Theaterfotografie in der Rezeption der Theaterästhetik Jerzy Grotowskis
Die Bedeutung der Theaterarbeit Jerzy Grotowskis für das westliche Theater der Nachkriegszeit ist unumstritten. Sein Name ist ja fast zum Synonym für das avantgardistische polnische Theater der letzten 30 Jahre geworden. Es gehört jedoch zu den Ironien der neueren Theatergeschichte, daß im Fall Grotowskis sein Einfluß im internationalen Rahmen nicht über den unmittelbaren Einfluß seiner Theateraufführungen erfolgte. Wie Hans-Peter Bayerdörfer in der Einleitung zu diesem Band bemerkt, hängt die internationale Karriere Grotowskis in erster Linie mit der Propagierung seiner Ideen und weniger mit der „realen Begegnung mit seinem theatralen Werk"1 zusammen. Denkt man an die großen Regisseure und Theaterensembles der Nachkriegszeit - Peter Brook, Giorgio Strehler, das Living Theater, und auch an Tadeusz Kantor - so beruht deren Wirkung und Reputation wesentlich darauf, daß bedeutende Inszenierungen im Rahmen ausgedehnter Tourneen und kontinuierliche Gastspielauftritte von einem breiten Publikum rezipiert werden konnten. Die 'kanonischen' Inszenierungen Grotowskis dagegen Akropolis, Der standhafte Prinz, Apocalypsis cum ftguris - wurden außerhalb des Theaterlaboratoriums in Opole und Wroclaw (und auch dort) nur von einer verhältnismäßig geringen Zahl Eingeweihter gesehen. Der Grund fur Grotowskis weltweite Wirkung muß also woanders gesucht werden.2 Bei Grotowski haben wir es mit dem ungewöhnlichen Fall zu tun, daß ein Theaterkünstler primär über das gedruckte Wort und Bild rezipiert wurde. Vorrangig ist hier an die von Eugenio Barba und Odin Theatret herausgegebene Schriftensammlung Towards a Poor Theatre zu deuten, die einen entscheidende Einfluß auf die Theaterästhetik in den späten 60er Jahren nahm. Erst mit der Veröffentlichung wurde Grotowskis Theaterarbeit international 1
2
Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: Prinzen, Prinzessinnen, Mannequins. - Polnisches Theater in der Bundesrepublik Deutschland seit Beginn der siebziger Jahre. S. 13-45. Es soll allerdings nicht der Eindruck entstehen, daß das Theater-Laboratorium in dieser Hinsicht völlig abstinent gewesen wäre. Folgende Gastspiele machten Grotowski im Ausland bekannt, auch wenn die Zahl der Zuschauer relativ klein blieb: Théâtre des Nations in Paris, 1968; New York 1969; West-Berlin 1970.
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bekannt.3 Die Innovationskraft dieses Buchs als bahnbrechender, neuartiger Versuch, Theaterarbeit zu vermitteln, darf nicht unterschätzt und soll im folgenden näher untersucht werden. Vor allem soll der besondere Wert der zahlreichen, in vielfältigen ästhetischen Funktionen eingesetzten Theaterfotografien hervorgehoben werden. Es geht also im folgenden weniger um eine weitere Explikation der Theater- und Schauspieltheorie Grotowskis, die bereits mehrfach untersucht wurde,4 sondern vielmehr um die Frage, wie die Theaterfotografie einen eigenständigen Bild- und Theoriediskurs entfalten kann. Es soll argumentiert werden, daß das Zusammenspiel theoretischer Argumentation und aussagekräftiger Bildvermittlung maßgeblich dazu beitrugen, die Theaterästhetik Grotowskis auf internationaler Ebene durchzusetzen. Um diese These zu überprüfen, soll ein bisher wenig beachtetes Beispiel der Grotowski-Rezeption untersucht werden. Es geht um das sogenannte Township-Theater, das in den schwarzen Siedlungen Südafrikas während der Apartheid entstand, und in seinen bekanntesten Inszenierungen eine explizite Grotowski-Rezeption aufweist. Für ein armes Theater erschien zunächst in englischer Sprache und bestand aus verschiedenen Textsorten, die zum Teil bereits andernorts in englischer, französischer und polnischer Sprache erschienen waren. Neben Interviews und Manifesten mit und von Grotowski selbst finden sich Workshop- und Probenprotokolle, Szenarien sowie, und das ist ein ganz wesentlicher Rezeptionsfaktor, zahlreiche äußerst expressive Theaterfotografien. Das Buch stellt also keinesfalls ein konsistent argumentiertes Theatermanifest vorwiegend programmatischen Inhalts dar, sondern gewährt Einblick in einen neuartigen theatralen Schaffensprozeß. Die Fotografien erfüllen dabei zwei wesentliche Funktionen. Zum einen dokumentieren sie die ästhetischen Ergebnisse des Prozesses und zum anderen informieren sie mit Hilfe verschiedener fotografischer Techniken über die prozessuale Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Was die ästhetischen Ergebnisse anbelangt, so ist vor allem die Inszenierung des Standhaften Prinzen mit Ryszard Cieslak in der Titelrolle der herausragendste Beleg fur die Wirksamkeit der Theaterästhetik Grotowskis. Daß der Schauspieler Cieslak im wahrsten Sinne des Wortes zum Sinnbild in dieser Rolle zum Synonym bzw. Sinnbild für die Theaterarbeit Grotowskis wurde, 3
4
Bis dahin war Grotowski außerhalb Polens hauptsächlich den Lesern der Tulane Drama Review bekannt, wo bereits 1965 eine Beschäftigung mit seiner Theateraibeit einsetzte. Vgl. bes. 1965, H. 9. Einen guten Oberblick über die „arme" Periode in deutscher Sprache bietet Barbara Schwerin von Krosigk: Der nackte Schauspieler: Die Entwicklung der Theatertheorie Jerzy Grotowskis. Berlin 1986.
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läßt sich nirgendwo besser als am Titelfoto der deutschen Ausgabe beobachten (Abb. 1). Es handelt sich um eine der meist reproduzierten Theaterfotografien der Nachkriegszeit, die für Grotowskis Theater steht. Es ist Bestandteil unseres theaterkulturellen Gedächtnisses, obwohl nur eine verschwindende geringe Zahl von Zuschauern Cieslak in der Rolle sahen. Das Foto stellt in der Inszenierung den Moment der Translumination, den höchsten Zustand schauspielerischer Entblößung dar, wie Grotowski sagt. Angesichts dieses Bildes und der ganzen Bildserie zum Standhaften Prinzen, die in Für ein armes Theater abgedruckt sind, wundert es nicht, wenn wir im Vorwort lesen: „Grotowskis engster Mitarbeiter in seiner Forschung ist Ryszard Cieslak, der, wie ein Kritiker der französischen Zeitschrift L 'Express meinte, in seiner Rolle als standhafter Prinz das lebende Bild dieser Methode ist."5 „Das lebende Bild dieser Methode" - diese Formulierung deutet darauf hin, daß die Methode Grotowskis Ende der 60er Jahre bereits zu einem Bild, zu einer primär visuellen und weniger experientiell vermittelten Theaterkonzeption geronnen war. Allerdings war Grotowskis Theaterauffassung in den 60er Jahren bekanntlich auf unmittelbare Erfahrung ausgerichtet. Die Philosophie eines „armen Theaters" äußerte sich nicht nur in der Reduktion der Theatermittel, sondern theatertheoretisch gesehen in einer unsichtbaren Erfahrung zwischen Darstellern und Publikum: Indem wir schrittweise eliminierten, was sich als überflüssig erwies, fanden wir heraus, daß Theater ohne Schminke, ohne eigenständige Kostüme und Bühnenbild, ohne abgetrennten Aufführungsbereich (Bühne), ohne Beleuchtungs- und Toneffekte usw. existieren kann. Es kann nicht existieren ohne die Schauspieler-Zuschauer-Beziehung: eine perzeptuelle, direkte, „lebendige" Gemeinschaft.6
Auch wenn sich die Kernidee Grotowskis in der Formel zusammenfassen läßt, Theater sei das, was sich zwischen Schauspielern und Zuschauern ereigne,7 bestand die Breiten- und vielleicht auch die Tiefenwirkung Grotowskis 5
6 7
Jerzy Grotowski: Für ein armes Theater, S. 8. Zitiert wird nach der von Frank Heibert neuübersetzten zweiten Auflage (Zürich/Schwäbisch Hall, 1986). Die deutsche Erstausgabe erschien 1969. Ebd., S. 15. Das theatertheoretische und -wissenschaftliche Pendant zu dieser Theaterauffassung war die sogenannte Interaktionismustheorie, die parallel zur Grotowski-Rezeption formuliert wurde. In Abgrenzung gegenüber philologisch ausgerichteten Theatertheorien versucht der szenische Interaktionismus das Wesentliche des Theaters im Kommunikationsprozeß zwischen Szene und Parkett zu lokalisieren, also in einem ästhetischen und kommunikationstheoretisehen Raum, der sich dem philologischen Zugriff entzieht.
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Abb. 1: Ryszard Cieslak in der Standhafte Prinz. (Foto: Teatr Laboratorium)
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Abb. 2: Ryszard Cieslak in der Standhafte Prinz. (Foto: Teatr Laboratorium)
in der ungeheuer wirkungsvollen theaterfotografischen Präsentation seiner Methode. Hierin zeigt sich ein interessanter Widerspruch zwischen Programm, Praxis und eigentlicher Rezeption. Denn die Bedeutung der Theaterfotografie in diesem Maße hervorzuheben, impliziert, daß das Theater Grotowskis keinesfalls nur auf das Hier und Jetzt, „auf die direkte lebendige Gemeinschaft" beschränkt ist, sondern sogar intermedial transportabel sei. Es lohnt sich die Frage zu stellen, welchen Anteil die Theaterfotografie und deren Inszenierungsmöglichkeiten insgesamt an diesem Rezeptionsprozeß hatten. Im folgenden Abschnitt soll deshalb versucht werden, einige der vielfältigen Bilddiskurse der im Buch enthaltenen Fotografien genauer zu analysieren. Dabei sollen sowohl inhaltliche (das Abgebildete) als auch formale (die technischen und ästhetischen Konvention des Mediums) Aspekte der Bilder zur Sprache kommen. In Abb. 1 und 2 ist die vollkommene Ausblendung des szenischen Geschehens suggeriert. Nur die Umrisse einer Bühne, d.h. eines materiellen Raums sind sichtbar. Auf der inhaltlichen Ebene vermitteln die Bilder daher den Eindruck, daß Cieslak im Raum aufgehoben sei, daß der Schauspieler als alleiniges Zeichen in der ansonsten polyphonen Semiotik des Theaters fun-
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giert. Auf der formalen Ebene wird mit den Ausdrucksmitteln der Schwarzweißfotografie gearbeitet, die sich für Strategien der Fokussierung und selektiven Nuancierung ganz besonders eignet.8 Diese fotografische Isolierung des Schauspielers in einem Raum ohne Koordinaten dient dazu, der intendierten Wirkung der Inszenierung und der Theaterphilosophie Grotowskis Genüge zu tun. Denn in dieser Phase seiner Arbeit steht ohne Zweifel der Schauspieler im Zentrum. Der menschliche Darsteller und die expressiven Mittel seines Körpers und seiner Psyche, die beide bis zur Selbstaufgabe und -entblößung beansprucht werden sollen, sind die Träger des theatralen Geschehens. Serge Ouaknine spricht von Cieslaks „Partitur der psychophysischen Entblößung"9. Abb. 3 zeigt den standhaften Prinzen im finalen Zustand der „Gnade". Als Vergleich (Abb. 4) dient eine Nahaufnahme von Glenda Jackson in der Rolle der Charlotte Corday in Peter Brooks Verfilmung seiner Inszenierung von Marat/Sade aus dem Jahr 1965. Hier geht es weniger darum, einer etwaigen Einflußnahme von Grotowski auf Brook (oder gar umgekehrt) das Wort zu reden,10 als um die Technik der Nahaufnahme als Ausdrucksmittel der Theaterfotografie. Formal gesehen handelt es sich bei der Nahaufnahme um eine Perspektive, die der Zuschauer angeblich nie erreichen kann, da sie seine Raumerfahrung des Theaters überschreitet. Hingegen erwecken die beiden Nahaufnahmen Assoziationen mit dem filmischen Blick, wo die Perspektive sehr vertraut ist, oder auf der inhaltlichen Ebene mit medizinisch-psychiatrischen Fotografien. Letztere Konnotation ist vermutlich intendiert oder zumindest nicht unwillkommen, denn es geht Grotowski bekanntlich um den schauspielerischen Ausdruck eines Extrem- bzw. Ausnahmezustands. Etwas problematischer erscheint die Assoziation mit dem Film, denn die Theaterästhetik Grotowskis steht wie fast keine andere in dieser Zeit für einen medienspezifischen Purismus. Dennoch verweisen die Nahaufnahmen auf eine Dynamik intermedialer Beeinflussung, die aus programmatischer Perspektive sicherlich nicht gewollt waren. Es ist aber nicht verwunderlich, daß Andrzej
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Diese besonderen ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten der Schwarzweißfotografie erklären, warum sich bei der Theaterfotografie Falbabbildungen nie ganz durchsetzten. Sie kommen dem menschlichen Auge entgegen, welches das Szenische Geschehen in starken Kontrasten sehr präzise zu fokussieren wissen: Störendes oder Nebensächliches wird 'ausgeblendet', d.h. es gelangt nicht zur bewußten Wahrnehmung. Der standhafte Prinz: Bearbeitung und Inszenierung Jerzy Grotowski. Protokoll der Aufführung und Kommentar von Serge Ouaknine. In: Theater heute 1971, H. 8, S. 33. Für eine Wechselbeziehung zwischen den beiden Inszenierungen stimmt die Chronologie natürlich nicht. Daß allerdings Brook von Grotowski beeinflußt wurde - und das bereits vor Erscheinen des Armen Theaters - steht außer Frage.
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Abb. 3: Ryszard Cieslak in der Standhafte Prinz. (Foto: Teatr Laboratorium)
Abb. 4: Glenda Jackson als Charlotte Corday aus Marat/Sade.
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Wirth 1980 beim Versuch eines Resümees unter vier wesentlichen Wirkungsfaktoren der Theaterästhetik Grotowskis das „Exponieren des Spielers in direkter Nähe zum Zuschauer (close up)", so daß dieser die kleinsten Veränderungen des körperlichen Ausdrucks direkt wahrnehmen kann an zweiter Stelle setzt.11 Hier geht es zweifelsohne um den Versuch, im Theater die Wahrnehmungsmöglichkeit eines anderen Mediums zu simulieren. Was im Theater durch räumliche Nähe und Beschränkung der Zuschauerzahlen erreicht werden soll, läßt sich mit fotoästhetischen Mitteln viel einfacher und für einen viel breiteren Rezipientenkreis bewerkstelligen. Dienten die Fotografien von Ryszard Cieslak in der Rolle des standhaften Prinzen dazu, wesentliche Elemente der Theaterästhetik Grotowskis zu vermitteln, so bilden diese nur einen Bereich der in Für ein armes Theater enthaltenen theaterfotografischen Vermittlungsstrategien. Eine andere Kategorie stellen die zahlreichen abgebildeten Schauspielerübungen dar, wie z.B. Abb. 5. Auch hier sind sowohl inhaltliche wie formale Aspekte der Fotografien zu beachten.12 Zunächst fällt aufgrund der „entblößten" Körperlichkeit die visuelle Parallele zu der Cieslak-Serie auf. Hier wird die Nacktheit jedoch nicht durch die Erfordernisse einer fiktionalen Rolle mit gewollter Anspielung auf die christliche Ikonographie begründet, sondern in diesen Bildern entblößt sich der Schauspieler auch in der alltäglichen Ausübung seiner Vorbereitungsübungen.13 Abgesehen von einer grundsätzlichen Parallelisierung der beiden Bildserien, die eine bruchlose Kontinuität zwischen beiden schauspielerischen Funktionen suggeriert, finden sich auch Parallelen zwischen den einzelnen ikonographischen Motiven. So ist bei Cieslak in Abb. 1 und in den gewählten Ausschnitten von Abb. 5 die Exponierung der Hände unübersehbar. Die Überbetonung der Hände bei Cieslak verweist auf die Askese der 'Figur', bei den Übungen auf die erforderliche Askese des Schauspielers selbst. Das Beispiel der Hände ist außerdem exemplarisch fur die fotografische Zerlegung des Körpers in kleinere Bestandteile. Fingerpositionen oder Augen werden durch Ausschnitte auf besondere Weise exponiert. Diese Fotos dienen zum einen als Illustrationen bestimmter, im Text beschriebener Übungen (Aktivierung der Körperteile), zum anderen hat die Ausschmtthaftigkeit eine 11 12
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Andrzej Wirth: Grotowski nach zwanzig Jahren. In: Theater heute, Jb. 1980, S. 144. Insgesamt 15 von Fredi Graedl aufgenommene Fotografien dokumentieren Trainingsübungen im Teatr Laboratorium in Wroclaw. Eugenio Barba schreibt in dem Kapitel zum Training: „Grotowski besteht darauf, daß alle seine Übungen mit möglichst wenig Kleidung durchgeführt werden. Praktisch nackt. Nichts darf unsere Bewegungen behindern." In: Grotowski: Für ein armes Theater (Anm. 5), S. 154.
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Abb. 5: Trainingsübungen im Teatr Laboratorium. (Fotos: Fredi Graedl)
viel grundsätzlichere Bedeutung. Hierbei geht es weniger um den Effekt der filmischen Nahaufnahme, sondern um die quasi wissenschaftliche Darstellung des Körpers als wichtigstes Ausdrucksinstrumentariums des Schauspielers. Eine derartige Zergliederung des Körpers mit Hilfe der Fotografie ist, so möchte ich vorschlagen, eine neuartige Methode zur Darstellung schauspielpädagogischer Sachverhalte.14 14
Die einzige vergleichbare Publikation wäre hier der Band Theaterarbeit des Berliner Ensembles (21961) mit seiner vielfältigen Photodokumentation zu sechs Auffiihrungen des Berliner Ensembles. Diese Publikation enthält auch grundsätzliche Überlegungen zur Theaterfotografie von Ruth Berlau; siehe S. 341-345. Allerdings dient die überwiegende Mehrzahl der Fotografien der Illustration szenischer Vorgänge. Nahaufnahmen mit Ausnahme einiger Schauspieler-Porträts kommen so gut wie nicht vor, was sicherlich auf das gestische Prinzip der Brechtschen Theaterauffassung zurückzuführen ist. Berlau rechtfertigt den Einsatz hochempfindlichen Films mit entsprechendem Verlust an Schärfe: „Unsere Schauspieler spielen kaum noch für den Operngucker. Es handelt sich nicht so sehr mehr um den mimischen Ausdruck, den eine Situation der Figur entlockt, es handelt sich tun die Situation selbst, den besonderen Vorgang zwischen den Menschen." [Hervorhebung C. B.]. S. 345.
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Daß ferner die ganze Abbildungsserie sehr stark an Yoga-Übungen oder die Ausbildungsprozeduren indischer Theaterformen erinnert, ist keinesfalls zufallig. Die gewollten Assoziationen mit asiatischer Theater- und Religionskultur ist sicherlich teilweise, wenn nicht gar maßgeblich auf den Herausgeber des Buches, Eugenio Barba zurückzuführen. Erst seit Barba als Begründer und Wortführer einer 'Theateranthropologie' in Erscheinung getreten ist (seit etwa Anfang der 80er Jahre mit der Gründung der ISTA) ist man in der Lage, seinen editorischen Beitrag bei der Gestaltung des Buches besser einschätzen zu können. Vergleicht man die zahlreichen Abbildungen in Barbas Hauptwerk, A Dictionary of Theatre Anthropology,15 so fällt sofort ins Auge die gleiche Technik der fotografischen Darstellung. Im Kapitel „Training" zum Beispiel werden sogar die Bilder aus Für ein armes Theater abgedruckt. Hier stehen sie explizit neben Abbildungen asiatischer Theaterformen. Barbas Interesse an transkulturellen Universalien der Schauspielkunst zeigt sich bereits in seinem früheren Buch. Auf der Suche nach kulturunabhängigen „pre-expressiven" schauspielerischen Techniken und Ausdrucksmöglichkeiten steht der „nackte" Schauspieler für die größtmögliche Entkleidung kulturspezifischer Zeichen. In den von Graedl festgehaltenen Schauspielübungen treffen sich Grotowskis Konzept einer psychophysischen Nacktheit, die in erster Linie von europäischen Wahrhaftigkeits- und Authentizitätsdiskursen (K. Stanislavskij) herrührt, mit dem kulturvergleichenden Ansatz Barbas. So erinnert die Isolierung der Finger zum Beispiel an die mudra des indischen Tanzes, die Exponierung der Augen an die mimischen Ausdruckstechniken des kathakali. Die zahlreichen Anklänge an asiatische Darstellungs- und Körpertechniken unterstreichen auch, zumindest implizit, den Weg zu einer Metaphysik über eine präzise Körpertechnik als Ziel der Theaterarbeit Grotowskis in den 60er Jahren. Bekanntlich verließ Grotowski Anfang der 70er Jahre das Theater im engeren Sinne und versuchte mit paratheatralen Experimenten andere Erfahrungsbereiche zu erschließen.16 Diese Phase seiner Theaterarbeit blieb zunächst einer breiteren Theateröffentlichkeit verborgen. Sein Buch Für ein armes Theater dagegen wurde immer mehr zu einem kanonischen Text der Theateravantgarde der 70er Jahre in vielen Ländern. Wie dieses Buch in einem Land von Schauspielern ohne unmittelbaren Kontakt zu Grotowski oder seinem Laboratorium rezipiert wurde, soll im folgenden Abschnitt exemplifiziert werden. 15
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Eugenio Barba und Nicola Savarese: A Dictionary of Theatre Anthropology: The Secret Art of the Performer (übersetzt von Richard Gough). London/ New York 1991. Zu dieser Phase seiner Albeit vgl. Jennifer Kumiega: The Theatre of Grotowski. London 1985.
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1980. Eine schwarze südafrikanische Theatergruppe ist in einem alten Bus unterwegs. Die Gruppe wird von den Behörden schikaniert, die Stimmung ist gedämpft. Jemand im Bus stimmt ein religiöses Lied aus der jüngsten Produktion an. Man spekuliert darüber, was wohl passieren würde, wenn Jesus Christus zurück auf die Erde und zwar nach Südafrika zurückkehren würde. Zwei der Schauspieler im Bus, Percy Mtwa und Mbongeni Ngema, beschäftigt diese Vorstellung besonders intensiv: die Idee für eines der bis dahin erfolgreichsten Theaterstücke der südafrikanischen Geschichte, Woza Albert!, (Erhebe Dich, Albert!) ist geboren. Was hat diese Geschichte aus Südafrika mit Jerzy Grotowski und dem polnischen Theater zu tun? Beim näheren Hinsehen stellen sich vielfältige Berührungspunkte heraus. Denn die diesem internationalen Erfolgsstück zugrundeliegende Ästhetik, der Auñuhrungsstil, war das unmittelbare Ergebnis einer Grotowski-Rezeption. Und zwar einer Grotowski-Rezeption der besonderen Art: Wie zwei relativ arme schwarze Schauspieler, Percy Mtwa und Mbongeni Ngema, aus den südafrikanischen Townships einen für das dortige Theater neuartigen Theaterstil entwickelten, ist ein faszinierendes, und im internationalen Kontext kein untypisches Kapitel der GrotowskiRezeption. In einem Interview hat sich der Ko-Autor und Schauspieler Percy Mtwa ausfuhrlich dazu geäußert: Ich erkläre, wie es zu dem Stück [Woza Albertf] kam. Als wir noch Material sammelten, dachten wir an eine Besetzung mit sechs Darstellern. Aber irgendwo ist uns jenes Buch von Jerzy Grotowski Für ein armes Theater in die Hände gefallen. Er sagte viel, das uns inspirierte. Wir lasen dieses Buch, befaßten uns intensiv damit, und dann etwas später fanden wir ein anderes Buch von Peter Brook. Wir studierten diese Bücher, denn das ist manchmal das einzige, was machen kann, wenn man in den Townships lebt [...]. Wir taten alles, was Jerzy Grotowski uns beibrachte: Wir reduzierten die Zahl der Schauspieler auf zwei: wir stellen uns der Herausforderung, das ganze Stück mit uns beiden auf der Bühne zu spielen.17
Das Ergebnis war eine Art Revue, ein satirischer Bilderbogen der südafrikanischen Apartheid-Gesellschaft. In kurzen, prägnanten Szenen gelang es Mtwa und Ngema mit Hilfe des weißen Regisseurs Barney Simon eine für das südafrikanische Theater neuartige Ästhetik zu entwickeln. Der Stil verbindet Commedia dell'arte mit Vaudeville, indigene Oralität mit Techniken aus den Massenmedien. In dieser medialen Polyphone mutet das Stück keineswegs wie eine Hommage an Grotowski an. Dennoch ist der virtuose, ver17
Percy Mtwa: „I've been an entertainer throughout my life". Interview mit Eckhard Breitinger. In: Matatu: Zeitschrift Jìir afrikanische Kultur und Gesellschaft 1988, H. 3/4, S. 160-175; hier S. 165. Übersetzung: Christopher Balme.
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Abb. 6: Eröflnungsszene Woza Albert! Jazz-Gruppe. (Foto: Michael Kahn)
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wandlungsfreudige Schauspielstil das Ergebnis einer intensiven Lektüre und kulturspezifischen Aneignung des Grotowski-Buchs. Mtwa intepretiert den Absolutheitsanspruch Grotowskis, was die Schauspielarbeit angeht, sowie dessen Begriff des „heiligen Schauspielers" als Ausdruck maximaler darstellerischer Involviertheit: Was er aber damit meint, ist die vollkommene Involviertheit des Schauspielers. Es ist wie eine Art disziplinierte Spontaneität, die sich ein Schauspieler aneignen muß, um wirken zu können. Wenn er von einem armen Theater spricht, hat das nichts mit Geldmangel zu tun. Damit meint er eine Stilart, die den Schauspieler vor eine viel größere Herausforderung stellt als beim reichen Theater. Es hat auch nichts mit einer Trickkiste, oder Fertigkeiten, Technik zu tun. Das ist selbstverständlich: so etwas brauchen wir alle. Nein. Man muß als Schauspieler versuchen, Bilder zu schaffen wie ein Künstler; du mußt deinen Körper als das einzig dir verfügbare Instrument benutzen; und dieser Körper kann alles sein; eine Skulptur; er kann singen, Musik machen, Bewegung oder Klang sein; dieser Körper kann alles sein. Das ist es, was Grotowski mit armem Theater meinte.18
In dieser Passage kommen zwei wesentliche Elemente der GrotowskiRezeption zum Ausdruck. Zum einen schildert Mtwa, wie der Körper zum dominanten Zeichenvehikel der Auffuhrung wird. Daß die kinesischen Zeichen zur Dominante werden, gilt nicht nur fur Woza Albert!, sondern für das Township Theater generell. Sie umfassen Zeichensprache, Pantomime, Tanz und stilisierte, zur Skulptur tendierende Körperbilder. Die Vorstellung des Körpers als Instrument, als Resonanzboden in Grotowskis Terminologie, wird in Woza Albert! beinahe wörtlich umgesetzt. Das Stück beginnt mit der mimisch-akustischen Darstellung einer Jazz-Gruppe, wobei die Darsteller keinerlei Instrumente, sondern nur ihre Körper und Stimmen einsetzten (vgl. Abb. 6).19 Obwohl diese Szene der asketischen Theaterauffassung Grotowskis durchaus entspricht und die Schauspieler eine ästhetische Legitimation dafür in Für ein armes Theater vorfanden, geht die Idee selbst auf die Erfahrung tatsächlicher Armut in den Townships. Mtwa berichtet, wie er als Teenager zusammen mit anderen Schulkameraden eine 'a capella' Rockgruppe nach dieser Art, ohne Instrumente, gründete.20 18 19
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Ebd., S. 170. Die Regieanweisung lautet: „The actors enter and take their positions quickly, simply. Mbongeni sits [...] Percy squats between his legs. As they create their totem, the house-lights dim to blackout. On the first note of their music, overhead lights come on, sculpting them. They become an instrumental jazz-band, using only their bodies and their mouths - double bass, saxophone, flute, drums, bongos, trumpet etc." Percy Mtwa, Mbongeni Ngema, Barney Simon: Woza Albert! In: Woza Afrika!: An Anthology of South African Plays. Hrsg. von Duma Ndlovu. New York 1985, S. 3. Mtwa: „I've been an entertainer..." (Anm. 17), S. 160.
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Das zweite wesentliche Element dieser Grotowski-Rezeption betrifft die Erarbeitung der zahlreichen Rollen der beiden Schauspieler. Mtwa verweist auf das Problem, daß in vielen nichtrealistischen Aufführungen aufgrund der Vielzahl der Rollen eine Stilisierung notwendig sei, welche die realistische Darstellung der Charaktere erschwere. Dies führe dazu, daß die dargestellten Figuren wenig 'authentisch' wirken: „Man findet immer wieder diese große Trennung. Jerzy Grotowski half uns, diese beiden Dinge zusammenzubringen. Wir lasen und verstanden ihn. Dann gingen wir in die Townships; wir fanden das Leben dort und das Material, wovon er spricht, und aus diesem Townshipmaterial schufen wir das Stück."21 Auch wenn diese Art quasi-dokumentarischer Recherche 'vor Ort' für Grotowskis schauspielpädagogische Methode nicht gerade als charakteristisch bezeichnet werden kann, ist die psychophysische Umsetzung des gewonnenen Materials wiederum die „reine" Lehre. Mtwa beruft sich auf Grotowskis Idee der semiotischen Transformationen, wobei jeder Gegenstand auf der Bühne, auch der menschliche Körper, beliebig umkodierbar sei: Jerzy Grotowski hat sich dazu auch geäußert. Er entwickelt die Idee von Transformationen. [...] Diese Transformation, wie Grotowski sie beschreibt, entsteht, wenn ein Ding ein anderes gebiert. Es ist wie ein Eimer, mit dem man Wasser holt, aber im Winter bohrt man Löcher darein, um ihn als Ofen zum Erwärmen zu benutzen. Es handelt sich um diese Art von Transformation. Mit den Charakteren ging es uns nicht darum, sie einfach nachzuahmen im Sinne von Mimikry. Wir versuchen uns, in die Seelen dieser Leute zu versetzen. Manchmal können Sie sich vorstellen, wie schwierig das ist, vor allem wenn man versucht, sich in die Seele eines Buren zu versetzen. Aber wir wollten in das Innerste dieser Menschen hineinschlüpfen: Denn wenn die Seele eines Menschen in dich hineinschlüpft, wird dein Körper transformiert. Und es ist diese Transformation einer anderen Person, die sich dem Publikum vermittelt. Das war für uns die Herausforderung.22
Interessant ist hierbei, wie die beiden Schauspieler zwei eigentlich disparate Ideen bei Grotowski in einer kreativen Neuformulierung zusammenbringen. Denn die ästhetische Transformation vom Zeichenmaterial auf der Bühne eine andere Art Transformation impliziert als die des Schauspielers. Denn dessen 'Verwandlung' im Prozeß der schauspielrischer Rollenaneignung ähnelt eher einem Trancezustand, einem Begriff, den Grotowski auch explizit gebraucht.23 Mtwa und Ngemi behalten jedoch in ihrem Spiel bei aller über21 22 23
Ebd., S. 172. Ebd., S. 172-173. In Für ein armes Theater (Anm. 5) heißt es: „Der Schauspieler gibt sich selbst als absolutes Geschenk hin. Dies ist eine Technik der 'Trance' und die Einbeziehung aller psychischen und körperlichen Kräfte des Schauspielers, die aus den intimsten Schich-
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zeugenden Verwandlungskunst eine Brechtsche Distanz zu ihren Rollen. Ob es sich hierbei um eines der zahlreichen produktiven Mißverständnisse, die den Weg des interkulturellen Austausches im Theater des 20. Jahrhunderts säumen, oder um eine bewußte kulturspezifische Überwindung scheinbarer Antinomien handelt, bleibe dahingestellt. Sicherlich einer der nachhaltigen Eindrücke dieser Aufführung sind die visuelle Eindringlichkeit der kurzen Szenen und Figurendarstellungen. Zuweilen wirken die Auftritte wie dokumentarische Schnappschüsse aus dem Alltag des Apartheid-Regimes. Die Vorstellung, szenische Vorgänge könnten an die Ästhetik der Fotografie erinnern, sollte bewußt erweckt werden. Hierzu fuhrt Mtwa aus: „Bilder - ich verwende gern das Wort Bilder [images]. Das ist die Verbindung von Kunst und Theater. Die Bilder, die ich auf der Bühne zeige, sind wie Photographien - pah! - und es ist da."24 Die Provenienz dieser vorwiegend körperlichen Darstellungstechnik ist zum einen die recht evidente Beeinflussung durch die Massenmedien - neben genuiner Fotografie ist auch die 'freeze-frame'-Technik des Films zu nennen - zum anderen muß man auf die bereits erörterte Vorbildfunktion der Fotografien in Für ein armes Theater verweisen. Denn vor allem die Cieslak-Serie stellt auf eindrucksvolle Weise unter Beweis, wie ausdrucksstark der menschliche Körper auf der Bühne sein kann, eine Expressivität, die in Worten und Programmen allein kaum zu vermitteln ist. Die Ausgangsthese dieser Überlegungen lautete, daß die internationale Grotowski-Rezeption primär über die Lektüre eines Buchs erfolgte. Es handelt sich um ein ungewöhnliches Buch, das eine innovative, bis dahin kaum gekannte Kombination von Text und Bild einsetzte. Es illustriert die Konzeption eines Theaters, das mit einem Minimum an szenischen Mitteln auskommen sollte, bei dem ein transformierter Schauspieler im Mittelpunkt zu stehen hatte. Ist bei Grotowski diese Transformation quasi-religiös zu verstehen, so dient sie beim südafrikanischen Township Theater einem unverhohlen politischen Theaterkonzept. Dennoch entstand die dort entwickelte Ästhetik im wahrsten Sinne des Wortes mit Grotowski in der Hand. Sogar die Kostümierung der Schauspieler in Woza Albert! (aber auch in anderen Folgeproduktionen in diesem Stil) soll als unmißverständliche Hommage an Grotowski und weniger als kulturspezifischer Kleidungskode verstanden werden. Der halbnackte Körper, der als Transformationsfläche für Verwandlungen der verschiedensten Art dient - als Klang- und Figurenkörper, als Hubschrauber
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ten seines Seins und seiner Instinkte hervorgehen und in einer Art 'Durchstrahlen' hervorsprudeln." S. 13. Mtwa: „I've been an entertainer... " (Anm. 17), S. 174.
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oder Spielautomat - ist eine ungewöhnliche, aber extrem wirkungsvolle Umsetzung jener Bildästhetik in Für ein armes Theater. Theater als Ikono- oder besser Fotografie; Momentaufnahmen von Menschen in einem entmenschlichten System.
Abbildungen Abb. 1: Ryszard Cieslak in Der standhafte Prinz. (Foto: Teatr-Laboratorium). Quelle: Jerzy Grotowski: Für ein armes Theater (Zürich/Schwäbisch Hall, 1986). Titelfoto Abb. 2: Ryszard Cieslak in Der standhafte Prinz. (Foto: Teatr-Laboratorium). Quelle: ebd., Abb. 35-37 Abb. 3: Ryszard Cieálak in Der standhafte Prinz. (Foto: Teatr-Laboratorium). Quelle: ebd., Abb. 40. Abb. 4: Glenda Jackson als Charlotte Corday aus Marat/Sade. Videoprint. Abb. 5: Trainingsübungen im Teatr-Laboratorium. (Fotos Fredi Graedl). Quelle: Jerzy Grotowski: Für ein armes Theater (Zürich/Schwäbisch Hall, 1986), Abb. 82-84. Abb. 6: EröfEhungsszene Woza Albert! Jazz-Gruppe. Foto: Michael Kahn.
Theo Girshausen
Hamlet-Bilder im polnischen und deutschen Theater
1. Den kompletten „Hamlet der Jahrhundertmitte" hat Jan Kott in zwei Aufführungen gesehen, 1956 und 1959, beide Male in seiner Heimat, in Polen; in Krakau die erste, in Warschau die zweite. Es ist sicher keine allzu kühne Spekulation, wenn man vermutet, daß ihn das Erlebnis dieser Aufführungen auf die Inspiration von Shakespeare heute1 gefuhrt, ihn darin aber zumindest bestärkt und gefestigt haben mag. Das betrifft zunächst den Grundgedanken von der radikalen Zeitgenossenschaft Shakespeares im 20. Jahrhundert. Wenige Wochen nach dem XX. Parteitag der KPdSU sieht Jan Kott den ersten Hamlet, knapp und konzis, drei Stunden kurz, von reiner, glühender Aktualität: Entschlackt, konzentriert, reduziert auf das „Drama eines politischen Verbrechens". Prägnanter noch: auf das Skandalon des politischen Verbrechens, das unwiderruflich, unwiderleglich geschehen ist und nunmehr Konsequenzen fordert - Ahndung mit kaltem Blut und aus sicherem Wissen, nicht aus dunklem Auftrag zur Rache: Jeder weiß darum, in jeder Zeitung ist es nachzulesen; Bücher lenken da nur ab. So hat Jan Kott diesen Hamlet im Jahr 1956 gesehen, keinen „Charakter", weil voller Entschiedenheit: „von der Politik befallen [...], frei von Illusionen, sarkastisch, leidenschaftlich und brutal." (S. 76) Dieser Hamlet ist eindeutig und seine anrührende Widersprüchlichkeit kommt gerade von solcher Entschiedenheit her: Aufbegehrend wie Jugendliche, dabei von der Anmut eines James Dean; von ungestillter Passion getrieben, ein wenig kindisch wegen solcher Heftigkeit; primitiver als seine Vorgänger, eben weil er ganz Tat ist; nicht zerrissen von Reflexion, sondern berauscht von seiner Entrüstung: „Das ist der polnische Hamlet nach dem 20. Parteitag." (S. 76) Aber es ist nicht der ganze Hamlet. Drei Jahre später, in Warschau, ist alle Eindeutigkeit geschwunden, der Hamlet hat an innerer Kompliziertheit gewonnen. 1
Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf: Jan Kott: Shakespeare heute. München (dtv) 1980.
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Er ist - sagt Kott - „durch weitere Erfahrungen" gegangen (S. 80). Welche das sind, wird nicht berichtet, und dies Schweigen ist beredt. Der erste Hamlet las nur Zeitungen, die dem zweiten nun nichts mehr zu sagen haben, er ist jetzt wieder der „arme Junge mit dem Buch in der Hand". Aktuell auch er, aber nicht mehr reine Aktualität, aufgefordert zur Tat, besessen von der Tat, sondern: gebrochen durch „weitere Erfahrungen". Erst beide Aufführungen zusammen zeigen den ganzen „Hamlet der Jahrhundertmitte", den Jan Kott gesehen hat: in Polen. Dies doppelte Erlebnis hat, denke ich, weitere Bedeutsamkeit für Shakespeare heute. Die Konstellation dieser beiden Aufführungen fuhrt nämlich unmittelbar zur Wendung, die Jan Kott seinem Gedanken von der Zeitgenossenschaft Shakespeares in unserem Jahrhundert gibt. Der Hamlet Shakespeares weiß schon immer um diese Erfahrungen, die der polnische Hamlet von 1956 erst machen mußte: Sein Ende, wie es die Tradition des Rachestücks will, ist von jeher letal. Hamlet stirbt und wird sterben, jedes Mal neu, zu jeder Zeit. Fortinbras wird kommen, immer wieder und bislang hat er sich noch immer erwiesen als der, der er von jeher gewesen ist. Der polnische Hamlet von 1959 bestätigt das Wissen, das Shakespeares Hamlet besitzt, die illusionslose Kenntnis des „großen Mechanismus", den Jan Kott im ersten Teil seines Buches, anhand der Königsdramen, beschrieben hat. Daran kann auch ein Fortinbras nichts ändern, sein Lächeln ist und bleibt das Lächeln einer Sphinx: Das Szenarium steht fest, die Rollen sind verteilt, das Ende unausweichlich. Der Hamlet von 1959 bestätigt das nur - wieder einmal. D a r i n e r s t erweist, bestätigt und bekräftigt sich die ganze Aktualität Shakespeares in unserem Jahrhundert. Und dennoch war es 1956 und in Krakau anders. Die Grandfrage ist ja, Kott ist da unmißverständlich: Wie besetzt man die feststehenden Rollen und das heißt: wie genau will man das Szenarium begreifen? Das Beispiel, das Jan Kott für den Regisseur seines, des ersten Teils des polnischen „Hamlets der Jahrhundertmitte" gibt, ist wiederum beredt. Sein von der Notwendigkeit zu handeln besessener, von daher eindeutiger Hamlet ist besetzt in einem Szenario des politischen Attentats, er findet sich eingeteilt in die Logistik eines Anschlags auf die Usurpatoren der politischen Macht. Deshalb herrscht in dieser Aufführung ganz und gar die Gegenwart, reine Aktualität. Man kennt die Vergangenheit, sie bietet keine Gründe zu zweifeln und zu zögern: mit ihr fertig zu werden, ist die Aufgabe jetzt und hier. Deshalb konzentriert sich das Interesse ganz und gar auf die Gegenwart, auf die schiere Tat. Gewiß, das Szenarium steht fest. Aber, jetzt und hier, im Moment, in dem die Geschichte Aktualität, nichts als Aktualität ist, kann man zumindest hoffen: Es kommt darauf an, wer Fortinbras sein wird. Das eben ist 1959 anders. Da
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hat er sich - nach „weiteren Erfahrungen" - zur Kenntlichkeit verändert: Shakespeares Hamlet hat - wieder einmal - Bestätigung erfahren. Erst beide Hamlets zusammen, wie gesagt, ergeben den ganzen, den „polnischen Hamlet der Jahrhundertmitte" - in bezug auf Shakespeares Hamlet zeigen sie sich als Ausdruck einer Grundspannung dieses Jahrhunderts.
2. Jan Kott selbst zitiert eine andere Lesart des Hamlet, die aus einer anderen Zeit stammt und einer anderen Aktualität gilt: Bertolt Brecht hat das Stück damals nicht von Deutschland aus gelesen, aber er hatte Deutschland im Auge, als er - ins Exil getrieben, „angesichts der blutigen und finsteren Zeitläufe, in denen ich dies schreibe"2 - den Hamlet als die Tragödie der scheiternden Vernunft sah, das durch das „kriegerische Beispiel" des jungen Fortinbras in Gang gesetzte Rezidiv in die „unvernünftige Praxis" des 'Auge um Auge, Zahn um Zahn'. Die oft gestrichene Szene mit der Begegnung zwischen dem nach Frankreich flüchtenden Hamlet und dem nach Polen marschierenden Heer des Norwegers wird für Brecht zur Schlüsselszene, die ursächlich zum „blutigen Gemetzel" des finalen Aktes fuhrt. Brecht spricht ausdrücklich von einer „Tragödie" der Vernunft und das kann bei ihm nicht anders denn als Kategorie der unversöhnlichen Kritik verstanden werden: Grund der Verurteilung von Hamlets Rückfall in die Barbarei, daran, daß er, der es - dank Wittenberg - anders weiß und es am besten wissen müßte, letzten Endes doch noch mitmacht. Brechts Aufführung des Hamlet ist bekanntlich nie zustandegekommen; darauf bezügliche Materialien lassen aber die Richtung erkennen, in der Brecht, wäre es denn soweit gekommen, seinen Grundgedanken ausgestaltet hätte. Durch konsequente Historisierung der Fabel wäre, auf dialektischem Wege, ihr Aktualitätspunkt anvisiert worden. Nach der - schon 1939 entstandenen - Übungsszene für Schauspieler3 zu schließen, hätte dieser Hamlet konsequent zu seiner Entstehungszeit, zu Shakespeares Zeiten also, gespielt und deswegen eben: im Zeitalter der Auflösung der feudalen Zwangsordnung - von verletzter Ehre, Rache und wieder Rache - und der Dämmerung einer ersten, noch ganz umrißhaften Gestalt der Vernunft. Und, paradoxerweise: 2
3
Bertolt Brecht: Kleines Organonßr das Theater. In: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 16. Frankfurt am Main 1967, S. 695. Fährenszene, zu spielen zwischen der 3. und 4. Szene des IV. Akts von Hamlet. In: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke (Anm. 2). Bd. 7. S. 3014ff.
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Nach Brechts weiterer Lesart wäre es gerade König Claudius, der Usurpator, gewesen, der ihr zu ihrer Heraufkunft verhilft. Indem er mit den Norwegern Verträge schließt, einen schwungvollen Fischhandel etabliert, der an die Stelle des Kreislaufs der ewigen kriegerischen Auseinandersetzungen tritt, sorgt er dafür, daß die Unvernunft der feudalen Praxis aufhört und durch die Rationalität bürgerlicher Praxis substituiert wird: der Frieden und der Wohlstand des Handels lösen den Krieg und die Not der Ehrenhändel ab. Deswegen also ist Hamlets Tat ein Rückfall von historischem Ausmaß: Obwohl er weiß, daß der Mörder Claudius (war er es?) inzwischen ein „guter Mann"4 geworden ist, verhilft er, ausgelöst durch die Trommeln des marschierenden Norweger-Heers,5 der feudalen Logik blutiger Rache erneut zur Geltung. Wobei darin aber gerade - sozusagen im historischen Rückspiegel - der eigentliche Aktualitätspunkt aufblitzt, den Brecht im Auge hat: Der zur Zeit seiner Überlegungen zum Hamlet akute Rückfall in die Barbarei infolge der eigenen Logik 'bürgerlicher' Rationalität, die nur eine halbe Vernunft ist. Eine Halbheit, die sich in dem Moment manifestiert, in dem der Frieden der Fische aufhört und der Krieg um die F i s c h e unausweichlich wird. In Brechts unbarmherziger Kritik der halben Vernunft ist also, das ist ihre dialektische - Pointe, sein kompromißloses Plädoyer für die ganze, die ungeteilte Vernunft enthalten, und erst so gesehen kann Hamlets Tragödie unter dem Blickpunkt ihrer realen, ihrer zukünftigen Vermeidbarkeit konzipiert werden.
3.1. Jan Kott merkt es an: Angesichts solch entschiedener Kritik ist auch Brechts Hamlet kein Charakterdrama, so wenig, wie das bei Kott selbst der Fall ist; das Schwergewicht liegt auch hier auf der Fabel mit ihrem klaren 'Drehpunkt' und Hamlet spielt in ihr eine ganz und gar eindeutige, eine politische Rolle. Der grundlegende Unterschied aber zwischen Kotts und Brechts Hamlet besteht in ihren ganz und gar verschiedenen Voraussetzungen: Bei Brecht liegt der Bezug zwischen dem stark herausgestrichenen Damals der Fabel und dem Jetztpunkt ihrer geplanten Aufführung in den wirtschaftlichen Verläufen (die Brecht auch in der weiteren Beschäftigung mit diesem Stück wichtig nimmt, als er nämlich einen Film über den Hamlet an der Weizen4 5
Ebd., S. 3016. Vgl. auch Brechts Gedicht Über Shakespeares 'Hamlet'. In: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke (Anm. 2). Bd. 9. S. 608f.
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börse konzipiert6) und die Möglichkeiten der realen Vermeidbarkeit der Tragödie hängen ab von den Konsequenzen, die aus der Kenntnis ihrer Gesetze gezogen werden könnten - darin eben ist Brecht dialektischer Materialist. Für Kott liegt Shakespeares brennende, bestürzende Aktualität aber gerade darin, daß dieser Autor die intime B e z i e h u n g z w i s c h e n G e s c h i c h t e u n d N a t u r gesehen und schonungslos in Szene gesetzt hat. Ich habe es schon angedeutet: Der Hamlet steht im Aufbauplan von Shakespeare heute an zweiter Stelle nach den Historiendramen nämlich nicht etwa (nur) wegen der Chronologie der Werkentstehung, sondern in allererster Linie deshalb, weil die Historiendramen ihm sämtliche Bedingungen vorschreiben. Kotts Hamlet setzt den kalten Blick auf die Geschichte, auf die Essenz der Geschichte voraus, der in den Königsdramen auf die Menschen und auf die Macht geworfen wurde. Der Hamlet, das vermerkt Jan Kott mit schneidender Lakonik, spielt unter den Voraussetzungen des „Großen Mechanismus" und - so wie es in den Königsdramen die Meuchelmörder waren - sind es hier die Totengräber, die um seine Wahrheit wissen. Sie besteht in der Ununterscheidbarkeit von Geschichte und Natur. Die Menschen sterben, aber wie sie sterben, können sie sich nicht aussuchen: Sie sterben als Opfer ihrer Geschichte - ob sie danach trachten, Geschichte zu machen, ob sie 'nur' mitmachen oder eigentlich vorhatten, sich zu verweigern. Und gerade dafür findet Kott die Beispiele in seiner Zeit, so wie er sie als Pole - erlebt hat. Es sind die ihm damals bekannten Zentralen der ihm gerade geläufigen Macht, in denen er sie findet und weil sie ihm so bekannt und geläufig sind, vermag er die Szenen Shakespeares so plastisch zu beschreiben und so bedrängend zu kommentieren: Der Königsmörder-Mechanismus mit seinen Regularien der kältesten Machtergreifung, des planmäßigen Machtausbaus, den Notwendigkeiten, alles Unrecht nachträglich ins Recht zu setzen, jede Wahrheit in ihr Gegenteil zu verkehren, läßt sich gerade nach dem XX. Parteitag - im Wechsel der Politbüros begreifen. Auch hier, die gar nicht geheimgehaltene „Geheimrede" sprach es aus, agierte der Alleinherrscher, gingen die Meuchelmörder um, zogen die Helfershelfer und Ohrenbläser die Drähte und von hier aus waren die Schauprozesse vorbereitet worden, die verstehen halfen, daß selbst für Abweichler und Verweigerer in diesem Mechanismus keinerlei Tragik mehr möglich sein konnte: Ihre Schuldgeständnisse und Selbstanklagen nehmen d i e s e n Opfern im Untergang noch die letzte Rechtfertigung, ihre persönliche, ihre menschliche Würde. Das ist der „große Mechanismus", den Shakespeare gestaltet, in dem Jan Kott die Aktualität der Königsdramen im 20. Jahrhundert aufgespürt hat. 6
In: Bertolt Brecht: Texte fir Filme II. Frankfurt am Main 1969, S. 353ff.
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Wobei sich die Aktualität des Hamlet des Näheren überhaupt erst durch seinen genauen Bezug auf diesen Mechanismus zu erkennen gibt. An mehreren Stellen sagt es Kott ganz deutlich: Der Hamlet verwickelt die Geschichte der Königsdramen in einen philosophischen Streit: Ob in einer sinnlosen Welt eine moralische Existenz möglich sein könnte. Erst dieser Gedanke läßt denn auch die Konstellation der beiden //iww/ef-Auffiihrungen von 1956 und 1959 ganz verstehen, die Jan Kott erlebt hat. 1956 war dieser Streit virulent, stand die Frage nach der Moral zur Entscheidung an; 1959 war er - wieder einmal - entschieden. Ganz im Sinne der Königsdramen: Der alte Usurpator ist durch den neuen Usurpator gestürzt und alles kann von vorne beginnen. So wie eben - nach „weiteren Erfahrungen" zwischen 1956 und 1959 - auch der junge Fortinbras verstanden werden mußte.
3.2. Bertolt Brecht, Deutschland im Blick, hätte s o l c h e Aktualität des Hamlet kaum konzipieren können: Die Auseinandersetzung mit den Zentralen der Macht, die zu seiner Zeit schalteten, erfolgt denn auch in einem anderen, einem eigenen Stück, in dem zwar auch ein Richard III. auftritt, aber - in Gestalt des Arturo Ui - als Schmierenkomödiant. Selbst nur ein „Verüber großer Verbrechen"7 ist er nicht mehr als der - freilich blutige - Parodist eines „großen Verbrechers", für den deshalb nicht mehr ein Quentchen Größe oder Faszination übrigbleiben kann. Auch hier schreibt Brecht konsequent als dialektischer Materialist. Die entlarvende, entblößende Wahrheit d i e s e s Staatstreichs besteht in den nackten Interessen der Händler, die sich von Gangstergewalt Hilfe erhoffen, denen aber die Kontrolle über diese Gewalt entgleitet, so daß sie sich letzten Endes auch gegen sie selbst richtet. Dies „Schicksal" ist von Menschen gemacht, weshalb es kein Schicksal ist: vorgeführt werden soll deswegen der ' a u f h a l t s a m e Aufstieg des Arturo Ui'. Keine Rede kann - angesichts dieser Usurpatoren - von der Naturverfallenheit der Geschichte sein. Wo Jan Kott seinen Mächtigen, die allesamt Opfer sind, keine Tragik mehr zugestehen, ihnen immerhin aber ihre Kreatürlichkeit belassen konnte, hätte die gallige Bitternis, die Kotts Einsicht noch übrig läßt, den Arturo Uis, den Givolas, Giris und Romas zugebilligt, Zugeständnisse an sie bedeutet, die ihnen Brecht, und ich behaupte: die ihnen kein anderer um keinen Preis hätte machen können, noch machen könnte. Die Gangstertreffs um Ui können nicht die Machtzentralen sein, in denen sich ein 7
Anmerkungen zu Der auftialtsame Aufstieg des Arturo Ui. In: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke (Anm. 2). Band 17. S. 1177.
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Hamlet bewegt; denn hier ist der Streit nicht möglich, in den Shakespeares Stück - nach Kotts Lesart - die Geschichte der Königsdramen verwickelt. Die Frage nach der Möglichkeit der Moral in einer sinnlosen Welt stellt sich in einer - blutigen - Travestie der Königsdramen nicht - da ist kein Stück breit Platz mehr für irgendeine Moral.
4. Der Vergleich von Brechts und Kotts Lesart des Hamlet läßt Affinitäten und Unterschiede zwischen beiden erkennen. Zunächst: was beide eint, ist das, was Brecht einmal das „plumpe Denken" genannt hat. Dies plumpe Denken ist direkt, umstandslos, vor allem aber: von radikaler Konkretion. Brecht scheut sich im Arturo Ui nicht, die Exempel seines Zeitgeschehens in eine gnadenlose Parodie des 'hohen Stils' einer Tragödie zu transponieren - ganz unverfälscht. So wie sich Jan Kott nicht scheut, in den Königsdramen, im Hamlet die Beispiele seines Zeitgeschehens wiederzufinden, ganz unverfälscht, ganz präzis, um in ihnen - illusionslos - gleichsam die Fliegen wiederzuerkennen, die im Bernstein der Shakespeareschen Gestaltungskraft konserviert sind, als authentische Belegstücke der Geschichte, in welchen sich nichts weniger als ihre Essenz zu erkennen geben soll. Das Verfahren beider ist identisch, gerade deswegen aber differieren beider Ergebnisse. Brecht konnte seine Zeit nicht, so wie Kott, einfach im Bild des Hamlet gespiegelt sehen: der Rest an Größe, der ihr in diesem Rahmen geblieben wäre, hätte die Wahrheit der Zeit, s e i n e r Zeit verzerrt, verfälscht. Hier haben also zwei Autoren des 20. Jahrhunderts den Hamlet ganz präzise, ganz konkret von der Erfahrung dieses Jahrhunderts her gelesen. Wobei es aber auf der ganzen Besonderheit dieser Erfahrung zu insistieren gilt. Auf dieser - vollen - Konkretion muß bestanden werden, will man ein Mißverständnis bei der Lektüre Kotts vermeiden: Daß es sich bei der Formel vom „Großen Mechanismus" um eine Formel der Geschichtsphilosophie handele. Weswegen die Distanz zwischen einer Erfahrung, aus der heraus dies Buch Shakespeare heute geschrieben wurde, und der anderen Erfahrung, die in Deutschland zu machen war, nicht unterschlagen werden darf, auch heute nicht. Der unterschiedliche Ort, die verschiedene Zeit müssen mitbedacht werden, in denen Shakespeare heute geschrieben wurde und in denen es von Deutschland aus, oder aber: Deutschland im Auge gelesen wurde und wird. Sonst versteht man Jan Kott nicht, sonst versteht man die Aktualität Shakespeares, so wie sie dieser Autor konzipiert hat, gründlich falsch.
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Wobei der Vergleich mit diesem Ergebnis noch nicht ganz zu Ende gebracht ist. Neben Übereinstimmungen im Verfahren, „plump" zu denken, erfahrene Zeit literarisch Gestalt werden zu lassen, und den unterschiedlichen Ergebnissen, die das in bezug auf die Lesarten des Hamlet erbringen mußte, läßt sich nämlich noch eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen Kott und Brecht konstatieren. Kott selbst dürfte sie bewußt gewesen sein, als er Brecht zitierte. Wenn er diesen Verweis damit motiviert, daß Brechts Hamlet, so wie seiner auch, kein Charakterdrama darstelle, dann bleibt sein Zitat mit solcher Begründung merkwürdig beliebig: Genauso gut hätte Kott j e d e n bedeutenden /fam/ei-Kommentator des 20. Jahrhunderts zitieren können, um diese Übereinstimmung zu belegen, die - mit den Worten T. S. Eliots gesagt darin besteht, daß eben , flamlet als Schauspiel das übergeordnete, Hamlet als Charakter nur ein untergeordnetes Problem ist"8. Sollte man angesichts der offensichtlichen Beiläufigkeit, mit der Kott Brecht zitiert, also daran denken, daß das Zitat weniger der Übereinstimmung, sondern der ausdrücklichen Kontrastierung von Kotts und Brechts Lesarten wegen erfolgt? Und tatsächlich: Wenn man - angesichts des Arturo Ui - sagen kann, es sei Brecht als Autor gelungen, konkrete Zeiterfahrungen unmittelbare und unmittelbar betreffende Gestalt werden zu lassen, dann muß man auch zugeben, daß Brecht als Dramaturg dem Hamlet gegenüber auf eigenartige Weise lau geblieben ist. Seine Aktualisierung der Fabel mutet, bei allem Aufwand an Dialektik, seltsam konstruiert an. Es fehlt ihr das, was gerade die Überzeugungskraft von Kotts Shakespeare-Lektüre ausmacht: die Unmittelbarkeit, mit der sich Shakespeare, so wie Kott ihn - aus Erfahrung - begreift, auf dieses, auf unser Jahrhundert bezieht. Deswegen fehlt ihr auch das Bestürzende, das Kotts Shakespeare für den Leser und den Theaterzuschauer unseres Jahrhunderts bereithält. Weswegen nun weiter zu fragen ist: Wie wäre die Konsequenz zu ziehen aus Jan Kotts Gedanken von der bestürzenden, betreffenden A k t u a l i t ä t Shakespeares und zugleich der Einsicht Rechnung zu tragen, ein Hamlet des 20. Jahrhunderts könne, in Deutschland gelesen, nicht der gleiche 'politische' Hamlet sein, den Jan Kott im Auge, den er in Polen erfahren hatte. Eben weil die an Brechts Arturo Ui zu demonstrierende Einsicht ernstzunehmen ist: Daß die Zentralen der Macht, denen Kott und Brecht konfrontiert waren, nicht gleicherweise im Bild des „Großen Mechanismus" zu begreifen sind. Dieser Schädel hatte eine Zunge in sich und konnte singen. Wie der Schuft ihn auf den Boden schmeißt, als wäre es Kain's Kinnbacken, der den ersten Mord beging! Das 8
T. S. Eliot: Hamlet. In: Eliot: Ausgewählte Essays 1917-1947. Frankfurt am Main 1950, S. 177.
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könnte der Schädel von einem Politiker sein, den dieser Esel jetzt aussticht, von einem, der Gott hereinlegen wollte. Könnte das nicht sein?9
5. ,flamlet ist wie ein Schwamm. Wenn man ihn nicht stilisiert oder antiquiert spielt, saugt er sogleich die ganze Gegenwart in sich auf."10 Dieser Satz aus Jan Kotts Hamlet-Essay steht über der Aufführung des Hamlet, die Β. K. Tragelehn, Brecht-Schüler, 1985 in München herausgebracht hat. Für einen, ihren zentralen Impuls bekannten sich die Inszenatoren also zu Shakespeare heute. Erkennbar war die Unmittelbarkeit der Wirkung angestrebt, die in Kotts Aktualitäts-Konzept so wichtig ist, und zugleich sollte sie - nach Maßgabe des „plumpen", des konkreten Denkens, dessen sich Jan Kott und Brecht gleicherweise bedient hatten - für den Ort der Aufführung, jetzt und hier, erzielt werden. Kein Hamlet in 'kottischer' Interpretation also, wohl aber einer im Sinne von Kotts - präzisiertem, wohl verstandenen - Grundgedanken. Weshalb beides ausfallen mußte, das Kotts polnischen Hamlet kennzeichnet: Kein „Großer Mechanismus", der - wie an Brecht zu demonstrieren war - den Dimensionen des „politischen Verbrechens", das in Deutschland geschah und von Deutschland ausging, unangemessen wäre, noch aber die schiere Aktualität des gewaltsamen Attentats auf die Usurpatoren der Macht nach restlos enthüllter Wahrheit über dies Verbrechen. Im Gegenteil: Gerade die Wahrheit des Geschehenen stand in dieser Aufführung - für die Zuschauer - ganz und gar in Zweifel und - für die auf dieser Bühne Agierenden - im vollen Ausmaß zur Disposition. Der König, die Königin, der Hofstaat haben mit dem, was geschehen war, nichts mehr zu tun. Man ist vollauf beschäftigt, den Aufgaben der Gegenwart gerecht zu werden. Als die Hofwelt auf Tragelehns Szene zuerst auftaucht, wird sie aufgeblendet aus der vollständigen Finsternis der Geisterscheinung. Gerade noch Schwärze der Nacht, vor der sich nur die Konturen des von Kopf bis Fuß in Eisen gekleideten Phantoms abhoben, in der nur das Wispern der geängstigten Wachen zu hören war, jetzt reine Tagwelt: Hell, beschwingt, grundiert vom Wiener Walzer, das tanzende Paar Gertrud und Claudius, umstanden von feiernder Hofgesellschaft, rot und weiß die Kostüme, rot und gold das 9
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Hamlet in Heiner Müllers Übersetzung, Bild 16. Zitiert nach: Β. K. Tragelehn: TheaterArbeiten. Shakespeare/Molière. Hrsg. von Theo Girshausen. Berlin 1988, S. 104. Jan Kott: Shakespeare heute (Arnn. 1), S. 78.
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Mobiliar, ein paar Sessel, ein Schreibtisch. Der, ist der Tanz zu Ende - als Arbeitsgerät des Throns - , auch sogleich in Aktion tritt - Claudius, tatkräftig die Hemdsärmel aufgerollt, erteilt von hier aus die Weisungen: Es gilt des Fortinbras Rachegelüste - die aktuelle Bedrohung der Realpolitik - einzudämmen, mit klugem Schachzug, diplomatischem Geschick, mit Augenmaß: V e r n u n f t r e g i e r t und dieser Claudius in dieser lichten Welt ist - wie Brecht das sah - vernünftig, aufgeklärt, voller Gelassenheit und gespannter Tatkraft in eins; perfekter Staatsmann, ein Technologe der Lagebeherrschung, der an alles denkt, voll Sorgsamkeit und Umsicht. Dann der schiere Kontrast dazu: Die Erscheinung Hamlets - aus dem ungemachten Bett; aus der Gegenwelt, der Welt des Schlafes voll irrer, wirrer Träume. Die Konterkarierung des Hamlet, den Kott damals in Krakau gesehen hatte, ein bißchen so wie Brecht ihn konzipiert hat: Ein etwas verkommener, kräftiger, aber kraftlos gewordener, nicht mehr ganz junger Mann; definiert durch seine Accessoires, Säbel, verknitterten Trenchcoat mit Trauerbinde überm Armel: Schon im ersten Auftritt Inbild der Verstörung. Die nach seiner Begegnung mit dem Vater/Geist ins Unermeßliche wächst und den Mechanismus in Gang setzt, so wie ihn diese Aufführung sieht - auf Deutschland zielend und deshalb: anders als Kott. Mit einem Wort gesagt: Kein „Großer", mehr ein absehbarer, ausrechenbarer Mechanismus ist das, mehr Kalamität als Fatalität. Er präsentiert sich nämlich mit Deutlichkeit und Schärfe als nicht abreißende Kette der unangemessenen Reaktionen. Unangemessen, weil allesamt als Lösungen fur Hamlets so unverständliche Schwierigkeiten geplant, in dieser hellen, lichten Welt der gespannten Tatkraft und der entspannten Geselligkeit zurecht zu kommen. Um dann unweigerlich und in jedem Falle absehbar im Fehlschlag zu enden, ins Mißlingen zu münden, zum Patzer zu geraten. Auch hierbei verständig und aufgeklärt, sucht man nach Erklärungen fur Hamlets Verstörung, hier und jetzt, in gegenwärtiger Tat-Welt. Polonius weiß sie als erster - die verzweifelte Liebe zur schönen Ophelia ist der unzweifelhafte Grund für Hamlets Verwirrung; Claudius erhofft sie von staatsmännischer Aktion: Rosenkrantz und Güldenstern erhalten den Auftrag vorsichtig, bedachtsam, mit angemessenen Mitteln - , den Grund der Irritation des Stiefsohns weniger auszuforschen, als - mit Augenmaß - ausfindig zu machen. Und als es schließlich heraus ist, was mit alledem nicht zu verhindern war, die Mausefalle zugeschnappt, erfolgt noch ein letzter, schon eher verzweifelter Versuch der Mutter, Hamlets Verstörung herauszuhalten aus den Schatten dessen, was war und nicht mehr wirklich ist, es in der Gegenwart meistern zu wollen: Den lauschenden Polonius hinter der Wand, will sie den Skandal auf das Miniatur-Format eines Familien-Krachs verkleinern, Hamlets Verstocktheit zum präpotenten Protestgehabe eines aufsässigen
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Jünglings mit Provokationsgelüsten reduzieren. Das ist die letzte der unangemessenen Reaktionen, der Fehlschläge, der verpatzten Versuche, Erklärungen und Lösungen im Hier und Jetzt zu finden. Am Ende der Familienszene steht der erste der nun unvermeidlich gewordenen Staatsaktionen alten Zuschnitts: Hamlets Amoklauf, Polonius Tod. Die Geschichte der unangemessenen Reaktionen, der Fehlschläge, der Patzer, der - weil sie ihren Mechanismus so offen klarlegt - eine gewisse (durchaus nüchterne) Komik eigen ist, zeigt sich, erstmals kulminierend im Tod des Polonius, von Anfang an aber auch von ihrer anderen Seite: als Geschichte der u m s i c h g r e i f e n d e n Verstörung. Das Lichte der Hofwelt schwindet; das Rot des Mobiliars, der Roben nimmt dunkle, nimmt Blutfarbe an; die Reden werden unsicherer, die Mienen ängstlicher, die Gesten fahrig. Die Sicherheit der Welt aufgeklärter Umgangsformen bricht zusammen, das Innere, dahinter bislang verborgen, tritt nach außen, die Traumata brechen in wohlberechneter politischer Aktion auf, die damit nicht länger mehr berechenbar bleibt. „Wenn man den Hamlet - hat der Regisseur das später einmal kommentiert - „als so eine politische Innenwelt nimmt [...]. Im Bau wie in der Sprache fällt einem das Wilde und Zerfetzte auf, alles ist von höhnischem Gelächter durchsetzt, die Sätze fliegen auf und davon [...]. Es ist, als ob man einer Explosion zusieht."11 So verrutschen in der Aufführung, je mehr Hamlets Verstörung um sich greift, ansteckend wird, die Linien, verschwimmen die Konturen, flackern die Lichter. Womit unmißverständlich versucht wird, formale Konsequenzen aus einer Beobachtung zu ziehen, die Jan Kott zu den Formen dieses Stücks gemacht hat, als er von den „offenen Stellen", der „Porosität" des Stücks sprach. Und die früher schon, bei T. S. Eliot, zu dem Verdikt geführt hatte: Dies Stück sei dem Autor mißraten. Es ist bekannt, warum: Weil er keine volle dramatische Entsprechung für seine poetische Absicht gefunden habe, die deshalb von keinem Interpreten rekonstruierbar sei. Shakespeares Hamlet sei, sagt Eliot, Ergebnis einer Schichtung, der Übereinanderlagerung mehrerer Fassungen ein und desselben Stückplans, und es sei dem Autor nicht gelungen, die Bruchstellen zwischen den Schichten zu tilgen, die Handlung zur planen Durchführung zu bringen. So präsentieren sich die Fetzen der unterschiedlichen Konzeptionen im wirren Durcheinander, durchdringen, mischen sich die Dimensionen, fuhren die verrutschten Perspektiven in unterschiedlichste Richtungen, aber sämtlich ins Vage; für Eliot alles Anzeichen des Scheiterns, des Mißlingens, das ganze Stück ein Patzer. Nun fuhrt aber gerade dies Ernstnehmen des formal Disparaten in Tragelehns Auffuhrung auf die Aktualität des deutschen Hamlet im Jahre 1985, als 11
B. K. Tragelehn: TheaterArbeiten (Anm. 9), S. 125.
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„politisches Stück" verstanden; im Chaos der Form entdeckt sie mit Konsequenz sein Politikum. Für die Aufluhrungszeit nämlich so, wie es Carl Schmitt für seine Entstehungszeit verstanden hat.12 Was Eliot als unwillkürliches Scheitern der Gestaltungskraft des Autors bezeichnete, stellt sich für Schmitt bekanntlich dar als bewußtes, wenngleich vom politischen Instinkt Shakespeares veranlaßtes Kalkül: Als Versuch, die Spuren der Aktualität zu verwischen, die das Rachestück für seine Augen, für die Augen der Elisabethaner damals, als es geschrieben wurde, unweigerlich haben mußte - angesichts eines gerade geschehenen politischen Verbrechens, zur Zeit der Nachfolgediskussion um eine alt gewordene Königin, vor dem Hintergrund der Thronansprüche des Sohnes einer Mutter, die nicht lang zuvor die Gemahlin des Mörders seines Vaters geworden war: vor dem Hintergrund solch realer Zeitgestalten wie Elisabeth, Jakob, Maria, des Bothwell, Southhampton und Essex. Für Schmitt ist Shakespeare ein Autor, der mit Erschrecken die Parallelen entdeckt hatte zwischen einer publikumswirksamen Fiktion, der bewährten Rachegeschichte aus Dänemark, der letzter Schliff gegeben werden sollte, und der politischen Wirklichkeit seiner eigenen Zeit. Weshalb er die Geschichte verzerren m u ß t e , um solche Parallelen zur Unkenntlichkeit zu deformieren. Deformation, für Eliot untrügliches Indiz für das Scheitern des Autors, wird, so gesehen, zum Resultat höchster Kunstfertigkeit. Wobei diese dann freilich näher zu bestimmen bleibt: nämlich als politische Kunst, nämlich als Kunst der literarischen Verdrängung einer sehr eindeutigen - verbrecherischen - Realität. Gluterfüllte Gegenwart war Hamlets Welt in Krakau 1956, erfüllt vom Wissen um das politische Verbrechen, um eine Vergangenheit, die unerbitterlich zur Konsequenz drängte, jetzt und hier. Der Geist, der zu Hamlet geredet hatte, war alles andere als ein Phantom. Die Gegenwart des Münchner Hamlet kennt keine Vergangenheit, nirgendwann; ihr Glück beruht auf dem Vergessen. Und gerade deshalb herrscht in dieser Auffuhrung ganz und gar die Vergangenheit, das Verbrechen wirkt fort und keiner weiß warum; vergessen und verdrängt, bereitet es um so heftigere Phantomschmerzen. Und die haben auch Hamlet selbst befallen. Auch er ist nicht ausgenommen von dem Mechanismus der unangemessenen Reaktionen, weil auch er nichts w e i ß von dem, was war: in dieser Umgebung - vielleicht - darum auch gar nicht wissen kann. Blind rennt er gegen Blindheit an und es ist - hier folgt die Aufführung Brechts Vorschlag zum 'Drehpunkt' der Aktion - schlußendlich nur das waffenstarrende Heer der marschierenden Norweger, der ihn zum finalen Rundumschlag motiviert. Was aber, anders als bei Brecht, kein 12
Carl Schmitt: Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel. Düsseldorf, Köln 1956.
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Rückfall hinter die Vernunft ist, sondern ein Anschlag, ein Attentat auf eine Vernunft, die - systematisch, pragmatisch - auf dem Vergessen beruht, Tatkräfte in der Gegenwart entwickelt, die sich letztendlich als Verdrängungskünste bewähren müssen - und nicht können. Die irrationale Vergangenheit ist stärker als die so verstandene Ratio der Gegenwart, darin liegt - in der Bundesrepublik, Mitte der 80er Jahre und heute - der Unterschied zu Brecht. Der Unterschied zu Kotts Krakauer Hamlet aber darin, daß diesem Münchner Hamlet die Anmut des politischen Rebellen versagt bleiben muß. Hierin wurde wieder „plump", konkret gedacht: Auch dieses Attentat, der Terror, gehörte zum Zeitpunkt des Münchner Hamlet schließlich zu deutscher Vergangenheit und deswegen: zur Geschichte der Gewaltspirale, aus der Brechts Hamlet - auch er erfolglos - zumindest eine Zeit lang den Ausweg gesucht hat. Der Krakauer Hamlet insistierte auf der vollständigen Entdeckung des Verbrechens der Vergangenheit, Brechts Hamlet auf dem Rückfall ins Verbrechen infolge der Fixierung auf die Vergangenheit, Tragelehns Auffuhrung aber auf den Folgen eines vergangenen Verbrechens - als den uneingestandenen und deshalb unheimlichen Folgen eines Tabus. Die Gegenwart taucht im Fortgang von Hamlets Geschichte gleichsam zurück in die Schatten der Vergangenheit, von der sich niemand befreien kann, weil man sie nicht wissen will und darf, um den Preis des gegenwärtigen Glücks. Was geschieht, wenn diese Befreiung nicht gelingen will - wenn es dem Zuschauer nicht dämmert, der Totengräber weiß es, als Fachmann. Als solcher kann er eine nüchterne Expertise abgeben über den Mechanismus, der in Tragelehns Hamlet abschnurrte. Das ist nicht der „Große Mechanismus", den Jan Kotts Hamlet voraussetzte, aber - im Deutschland unserer Gegenwart so wenig wie damals in Polen - eben auch keine Formel der Geschichtsphilosophie. In Deutschland, angesichts eines vergangenen „politischen Verbrechens", das man sich nicht eingestehen mochte, handelt es sich - einfach, kalt, „plump" gesagt und da erreicht diese Auffiihrung (für mich) ihren Moment bedrängender, bestürzender Aktualität - um den lapidaren Mechanismus der blinden, erbarmungslosen Rückkehr des Verdrängten. Man konstatiert ihn wie immer, am Ende von Tragelehns Auffiihrung, den alten Schluß des Hamlet, man konstatiert sie hier wie damals in Krakau, mehr noch in Warschau, die Brechts Einsatz für die Vernunft hatte vermeiden wollen: die Serie der Leichen, die fortwährende Attraktion des Rachestücks, die zum Hinsehen, schließlich - immer wieder - zum Nachzählen zwingt. „Aber ist das recht?" fragt der Erste Clown. Und so kann man jetzt den Satz des zweiten zu verstehen meinen, wenn der antwortet: „Ja, freilich, Leichenschaurecht. "
TEIL I V
Barbara Surowska
Deutsche Dramatiker fur die polnische Bühne. Theaterübersetzungen - Gerhart Hauptmann, Ivan Göll, Thomas Bernhard
1. Dreimal habe ich als Übersetzerin fürs Theater gearbeitet, für drei verschiedene Bühnen und fast zu gleicher Zeit, in den Jahren 1976-78. Es waren zu meinem Glück lauter wichtige Theater in Warschau, mit denen ich durch meine Übersetzungen in nähere Verbindung kam: Teatr Wspólczesny unter der Leitung von Erwin Axer, Teatr Powszechny unter der Leitung von Zygmunt Hübner und Teatr Studio unter der Leitung von Józef Szajna. Alle drei genannten Theaterdirektoren und namhaften Regisseure wollten ein deutsches Avantgardestück uraufführen und haben mich daraufhin angesprochen, ob ich zu einer Übersetzung bereit sei. Das Theater Wspótczesny (dem Titel nach also die Moderne oder zeitgenössische Bühne) pflegte das polnische Publikum mit den interessantesten Erscheinungen auf dem Gebiete des Theaters in der Welt bekannt zu machen. Erwin Axer hatte 1973 mit großem Erfolg Ein Fest für Boris von Thomas Bernhard im Wiener Akademietheater inszeniert und wollte dieses Stück in einer Neuaufführung und -besetzung in Polen zeigen. Bernhard war zu diesem Zeitpunkt bei uns kaum ein Begriff. Die Hauptrolle in Ein Fest für Boris, die der Guten, einer verkrüppelten, an den Rollstuhl gefesselten Frau, die ununterbrochen monologisiert - insbesondere in den zwei ersten Akten, in denen sie als Partnerin nur eine Pflegerin hat, die sie meist stumm bedient - ist nur von einer hervorragenden Schauspielerin zu meistern. In der Warschauer Inszenierung wurde sie bestens besetzt. Mit Maja Komorowska, die Axer dem Krakauer Theater, in dem sie in Becketts Endspiel als Hamm die Stärke ihres Talents bewies, abgeworben hatte. Das Warschauer Publikum lernte sie in der Rolle der Guten zum ersten Mal kennen und schätzen. Es war eine unglaubliche Leistung. Komorowska spielte bravourös, mit Einsatz ihrer ganzen physischen und geistigen Kräfte. Sie verstand es, das Publikum zu fesseln, die Langsamkeit des Stücks vergessen zu lassen, der sich einschleichenden Langeweile entgegenzuwirken. Es war, wie sie in einem Interview eingestand, für sie auch eine
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Art Ringen um eine gute Diktion. Sie war bemüht, so sauber wie nur irgend möglich zu sprechen, um der plastischen Sprache Bernhards gerecht zu werden, deren Poetizität auskosten zu lassen, ja sogar die übertriebene Künstlichkeit dieser Sprache in ein Positivum, eine Tugend zu verwandeln. Die von ihr kreierte Gute war grausam, aber auch leidend, herrisch, aber nicht immer beherrscht und stark, sondern auch hysterisch, hin und wieder hilflos, von Schwäche überwältigt. Ihr schallendes Gelächter am Ende des Stücks wirkte unheimlich und begleitete einen noch auf dem Nachhauseweg. Der zweite starke Punkt neben der exzellent gespielten Hauptrolle in der Warschauer Inszenierung des Bernhardschen Stücks war das Bühnenbild, besorgt von Ewa Starowieyska. Sie hat den Raum sehr einfach gestaltet. Hohe graue Wände, hohe Türen und Fenster, „wodurch der scheinbare Kontakt mit dem, was außen geschieht, aufrecht erhalten wurde"1. Beeindruckend waren auch die von ihr entworfenen Kostüme, insbesondere die Kollektion der Hüte von auserlesener Eleganz, die die Gute anprobierte bzw. trug. Von der Regie Axers kann ich nur mit höchster Anerkennung und Bewunderung sprechen. Er ist jemand auf dem Theater, der auf das Wort achtgibt und es respektiert. Er ist gar nicht geneigt, den Text irgendwie umzugestalten, zu verunstalten, etwa durch Kürzungen, wozu man ihn hin und wieder zu bewegen suchte, um das Spiel zu dynamisieren und verlebendigen. Der Text ist fur Axer heilig. Es kommt ihm darauf an, die Eigenart der Sprache und ihre Poetik zu exponieren. Ich als Übersetzerin fand in Axer natürlich jemand, der mich verstand, der für literarische Qualitäten Fingerspitzengefühl besaß. Er wollte von mir wissen, wie ich die Sprache Bernhards empfinde, und es kam ihm nicht allein auf die Deutung des Textes an, sondern auf den Duktus, den Rhythmus, die Bewegung der Sprache, auf dieses eigenartige Hin und Her der Rede, wie wenn es eine Welle wäre, die manchmal nur vorwärtsdrängt und manchmal sich überstülpt. Ist es nicht so, fragte er, und versuchte es gestisch auszudrücken, indem er mit seinen Armen den Gang einer Welle nachzuahmen begann, eine langsam vorwärtsstrebende, sich leicht drehende Bewegung der Hände vollzog, um dann plötzlich innezuhalten und mit ausladender Gebärde das überschlagen der Welle anzudeuten. Ist es nicht so? Es war nicht ohne weiteres möglich, für die mit betontem Formwillen kunstvoll gestaltete, effektvolle Sprache Bernhards, mit ihrer eigenartigen Melodie, ihren wechselnden Rhythmen, polnische Äquivalente zu finden. Das Wort, gesetzt zwischen zwei Perioden, pendelt hier wie die Magnetnagel zwischen zwei Polen, mal den einen mal den anderen aufzeigend. Es ist eine erfinderische Spra1
Marta Fik: Mowa banalna albo precyzyjna. In: Polityka 1976, Nr. 49, S. 10.
Deutsche Dramatiker fiir die polnische Bühne
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che, die die Hauptmotive immer aufs Neue, variierend, aufgreift, eine Sprache, die auch voll von epigrammatischen Formulierungen ist, was für die Professionalität des Autors spricht,
heißt es im Programm des Festes für Boris. Mich faszinierte an der Sprache Bernhards außerdem - oder vor allem, daß sie absolut präzise ist. Zielsicher treffen die Worte, oft einzelne Worte, in dem lang sich hinziehenden Monolog, entweder die Sache oder die Person, für die oder besser gegen die sie gerichtet sind. Die Worte, mit denen die Gute meist jemandem zusetzt, mit denen sie andere quält, hat sie sich selber qualvoll abgerungen. Sie entlarven sie, richten sich sogar gegen sie. Sie sind tötend und selbstmörderisch. Der lange, böse Monolog stellt eine Last dar, die kaum zu ertragen ist. Aber alles in diesem Stück ist so: auch die Krone, die sich die Gute für den Maskenball auswählt und aufsetzt und lange in ihr ausharrt, so lange, bis sie unter ihrer Schwere ohnmächtig wird. Und genauso schwer fällt es ihrer Pflegerin, das Fest mit gefesselten, eingebundenen Beinen auszuhalten. Nicht anders verhält es sich mit den kistenartigen Betten der Verkrüppelten, die sie einengen und wo sie an nichts anderes als an ihre Behinderung denken und wo diese Gedanken sie auch bis in ihre Träume hinein verfolgen. Die Schwierigkeit bei der Übersetzung ergab sich vor allem daraus, daß die Figuren dieses Stücks kaum miteinander kommunizieren. Es sind Vereinsamte, in jeder Hinsicht verkrüppelte Individuen, die Gespräche in verkümmerter Form fuhren. Satzfetzen, Brocken, gestammelte Worte vernehmen wir aus ihren Mündern. Es sind keine Dialoge im gewöhnlichen Sinne. Die Worte, die gewechselt werden, bilden vielmehr in ihrer Gesamtheit eine bestimmte düstere Atmosphäre, ein poetisches Ganzes mit einer dunklen, unheimlichen Aura. Es kommt also darauf an, sie wie sorgfaltig gewählte Worte eines Gedichts aufzufassen. Ein Auslassen oder Auswechseln bestimmter Laute, die die Stimmung evozieren, wäre unerlaubt. Dort, wo wir es nicht mit Dialogen, sondern vorwiegend mit Monologen, sehr langen Monologen zu tun haben - vor allem in den beiden ersten Akten - handelt es sich um keine einfache Anhäufung von abgerundeten Sätzen, sondern von ineinander verknüpften, nicht enden wollenden Wortverkettungen, die nachzubilden sind. Worte schaffen hier Situationen und nicht umgekehrt. Mit der Umgangssprache kann man da nicht arbeiten. Man muß konstruieren und nachdichten. Die Kritiker waren sich absolut uneinig in ihrem Urteil. Für die einen stellte diese polnische Aufführung einen großen Erfolg des Regisseurs, der Szenographin, der Schauspieler dar, für die anderen - 'ein Ereignis in minus'.
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Barbara Surowska
Manche fanden das Stück banal und einfach ermüdend. Nichtssagend und epigonal im Vergleich mit Beckett. Seine Befürworter dagegen verstanden es als ein intellektuelles Spiel und eine große Metapher des modernen Lebens und der menschlichen Existenz. Bernhard erschien ihnen wichtig als moderner Dramenschreiber und Erneuerer der Sprache.
2. Den Text des Methusalem von Ivan Göll habe ich für die Warschauer Monatsschrift Literatura na swiecie übersetzt und ihn dort Anfang 1977 publiziert.2 Zwei andere kurze Texte, das Vorwort zum Methusalem und Surrealismus wurden mitveröffentlicht,3 in der Absicht, Gölls Absichten zum Drama ein wenig zu erhellen. Literatura na swiecie war zu diesem Zeitpunkt eine sehr begehrte Zeitschrift, da sie rare Westliteratur in Polen verbreitete. Ivan Göll, ein völlig unbekannter Autor, erweckte großes Interesse. Man wollte mehr von ihm erfahren, ihn besser kennenlernen. In diesem Sinne ergriff sogar der Autor von Asche und Diamant, Jerzy Andrzejewski, in Sachen Ivan Göll, dessen Drama ihm außerordentlich gut gefiel, in der Wochenschrift Literatura das Wort. Den Text hatte er als „ein hervorragendes, faszinierendes satirisches Drama"4 empfunden, bedauerte jedoch die mangelhafte Information über den Autor und forderte die Redaktion der Literatura na swiecie auf, weiteres Material über ihn zu liefern. Ich habe ihm in einem nächsten Heft der Literatura na swiecie geantwortet. Die Debatte um Ivan Göll weckte das Bedürfiiis, sein Drama auf dem Theater zu erleben. Józef Szajna zeigte sich bereit, es auf seiner experimentellen Bühne, dem Theater Studio, zu inszenieren. Die Regie übernahm er jedoch nicht selber, sondern gewann dafür Andrzej Markowicz, der ähnlich wie er in der Theaterpraxis seine Kenntnisse auf dem Gebiet der bildenden Künste auszunutzen wußte. Markowicz, ein gebürtiger Warschauer, Regisseur, Bühnenbildner, Maler und Graphiker, hatte an der Ostseeküste mit dem Teatr Wybrzeze zusammengearbeitet, aber auch an anderen Orten in Polen als Bühnenbildner gewirkt. 1977 hatte er das surrealistische Drama Gyubal Wahazar von Witkacy auf dem Teatr Polski in Bielsko Biala mit großem Erfolg aufgeführt. Als Regisseur und Szenograph dieser Inszenierung erntete er großen Beifall bei der Theaterkritik. 2
3 4
Ivan Göll: Methusalem czyli Wieczny Mieszczanin. Übersetzung von B. L. Surowska. In: Literatura na Swiecie 1977, Nr. 2, S. 306-339. Ivan Göll: Dramatu jut nie ma\ Nadrealizm. In: ebd., S. 303-305. Jerzy Andrzejewski: Ζ dnia na dzieñ. In: Literatura 1977, Nr. 20, S. 16.
Deutsche Dramatiker flor die polnische Bühne
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Teresa Krzemieñ brachte in der Kultura einen begeisterten Bericht: Die ganze Auffuhrung entspringt einer szenographischen Idee, die verschiedene Elemente verbindet: Musik, Schauspieler, Rhythmen der gesprochenen Texte, lebendige Bilder. Sie hat ihren musikalischen Rhythmus, ist phantastisch-irreal und in dieser Irrealität sehr konkret. Die Schauspieler bewegen sich wie in einer Pantomime, in bestimmten Richtungen und auf vorgezeichneten Axen. Ihre Kostüme sind für sie bezeichnend. Ihr Platz auf der Bühne schreibt ihnen ihre Aktionen vor.5 U n d in Stowo Powszechne
hieß es:
Eine konsequent durchgeführte und mit Präzision funktionierende plastische Vision [...]. Tolle Formen, die man mit dem Surrealismus verbindet (...] all das im Dienste einer klaren Auffuhrungsidee.6
Diese und ähnliche Rezensionen waren eine gute Empfehlung für die Hauptstadt. Am 30.04.1978, d.h. ein Jahr nach der Witkacy-Inszenierung, gastierte - wie gesagt - Markowicz als Regisseur und Gestalter des Szenenbildes mit Gölls Methusalem in Warschau. Ich habe ein buntes, lebendiges Bild in Erinnerung. Markowicz konnte sich als Anhänger des Theaters, in dem alle möglichen Elemente des szenisch Darstellbaren zu einem Ganzen vereinigt werden, zu erkennen geben. Die Musik von Andrzej Glowinski hat seine Absichten bestens unterstützt. Auf der Szene ein Mobiliar, das nach Bedarf - einen Büroraum oder einen Raum im gutbürgerlichen Hause - vorzutäuschen half (ein Riesenplüschsofa etwa, ganz zentral piaziert, geeignet für Salons und Bordelle, wie sie Bürger von gemeiner Art benötigen; ein Thron mit Nachtopf versehen der ähnliche Zwecke erfüllt). Alles Pastellfarben oder grell. Ein Riesenspielschrank, der für die vielen witzigen Einfalle eine Menge hergab. Die Kostümierung war Georg Grosz' Ideen angepaßt. Schauspieler als lebendige Figurinen. Moderne Apparaturen, funkensprühende Telephondrähte, sich bewegende, durchsichtige Fahrstühle mit Glastüren. Automaten. Lustige „Hallo", „Hallo" Rufe. Informationslärm. Handelsgeschäfte, Revolution, skandalöse Zustände, Sittenverderbnis, Ideenverfall. Eine in Auflösung begriffene Gesellschaft. Ausgelacht, angeprangert, höhnisch verabschiedet. Die Alogik des Stücks, sein surrealistischer Charakter hat unsere Zensur nicht irregeführt. Die Satire durfte nicht als total begriffen werden und alles 5
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Teresa Krzemieñ: Teatr Bielsko Biala: relacja optymistyczna. In: Kultura 1977, Nr. 23, S. 11 und 5. Stefan Polonica [S. Polony]: Mroiek, Strindberg i Göll. In: Slowo Powszechne 1978, Nr. 105, S. 4.
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umfassen; die politischen Angriffe wurden überprüft, der Name Liebknecht durfte daher nicht als ein Element im satirischen Spiel im Stück verbleiben. Der Zensor hat aufgepaßt und ihn aus dem Text entfernen lassen. Dem Gelächter durften nur die Alltagsprobleme preisgegeben werden. Die der Politik nicht. Die Übersetzung eines solchen Stücks wie Ivan Gölls Methusalem bereitet Vergnügen, weil man seine Spiele mit der Sprache spielen kann. Der Text muß ironisch sein, er muß seine Leichtigkeit haben, zugleich aber beißende Satire sein. Göll arbeitet mit Phrasen, mit Sprachschablonen, um auf Gedankenlosigkeiten hinzuweisen. Man muß Entsprechungen finden. Dort, wo er kreativ ist, muß man es auch sein, Sprachspiele konstruieren, lustig und ironisch sein. Und seine Anspielungen begreifen. Denn Satire meint etwas Konkretes trotz aller Alogik und Dekonstruktion. Ein kleines Beispiel, eine Textstelle, soll veranschaulichen, welche Aufgaben bei der Übertragung einen erwarteten. Ich zitiere aus dem Teil „die Revolution der Tiere": PAPAGEI. Bruda, Brada, bistuda! KUCKUCK. Hol der Kuckuck dein dämlich Bradertum. Ein deutschnationaler Vogel singt „Es braust mein Ruf wie Donnerhall." PAPAGEI. Liberte Egalité Fra... Fra... Fra KUCKUCK. Fra...Fra... Phrasen! Du Judennase!
Und die Übersetzung, die stellenweise mich befriedigt und stellenweise immer noch eine Herausforderung fur mich darstellt: PAPUGA. Bracie, Bracie, niemacie! KUKULKA. Przestañ ζ tym ghipim brataniem. Niemiecki ptak wznosi naçjonalistyczny spiew: „Es braust mein Ruf wie Donnerhall." PAPUGA. Liberte Egalité Fra... Fra... Fra... KUKULKA Fra... Fra...Fra... Frazesy! Zydowskie nosy!
3. Der dritte von mir und Karol Sauerland fur das Theater übersetzte Text: Vor Sonnenaufgang Gerhart Hauptmanns, ist eine Auftragsarbeit gewesen. Die Uraufführung im Teatr Dramatyczny fand am 12.08.1978 statt.
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Wir waren gerade von einer winzigen in eine größere, noch gar nicht eingerichtete Altbauwohnung gezogen und hatten dort mit dem Anstreichen der Wände begonnen, als Zygmunt Hübner uns das Versprechen abgenötigte, fur ihn auf der Stelle das Hauptmannsche Drama zu übersetzen. Für gestern, wie es hieß, denn man setzte sich mit einem Gastregisseur aus Schweden, Ernst Günther, schon zu Tischproben zusammen. Jeden Morgen auf dem Weg zum Theater erschien Hübner in unserer Bruchbude, um eiligst die übersetzten Seiten zu holen, ja sie fertig oder noch nicht ganz fertig aus der Schreibmaschine herauszudrehen und damit wie mit einer Beute zu verschwinden. Wir übersetzten wie im Trance. Laut den Text hersagend. Für die Überprüfung war da keine Zeit. Um sich zu vergewissern, ob alles in Ordnung war, mußte ich ins Theater gehen, Tischproben beiwohnen, den Schauspielern zuhören. Mag sein, daß diese Art zu übersetzen nicht weiter zu empfehlen ist, doch war fur mich die Erfahrung, wie der übersetzte Text von den Schauspielen gesprochen wird, das Beste, was mir als Übersetzerin von Dramendialogen passieren konnte. Mein lautes Hersagen der Textpartien und das der Schauspieler das war nicht das Gleiche. Wenn der Schauspieler über den Text stolperte, war es in den meisten Fällen mein und nicht sein Fehler. Dann wurde korrigiert, das bessere, sich anbietende passende Wort an die Stelle des Holpersteins gesetzt. Der Text begann sein Eigenleben. Und tat seine Wirkung oder auch nicht. Im zweiten Fall wurde gefeilt, die Übertragung dem Sprecher mundgerecht gemacht. Wir haben es bekanntlich bei Vor Sonnenuntergang mit einem naturalistischen Text zu tun. Das hat seine Konsequenzen für die Sprachgestaltung. Nur die gebildeten Personen dieses Dramas sprechen betont gepflegt deutsch. Die anderen gebrauchen den Dialekt, der sich nicht ins Polnische übersetzen läßt. Es ist die Alltagssprache der in einem halbkultivierten Milieu der neureichen Bauern, die unter sich meist derb und vulgär sind und manchmal, um einem fremden Besucher Eindruck zu machen, sich wie intelligente Menschen zu gebärden versuchen und kläglich dabei scheitern müssen; die unflätige Sprache der in den Suff verfallenen, mit ihrem Brüllen, Fluchen und kaum artikulierbaren Lallen. Ich habe wenigstens versucht, wenn schon nicht den schlesischen Dialekt, so doch die gesprochene Sprache der polnischen Provinz zu gebrauchen, um mich dem Original zu nähern. Aber die ganze Skala der Sprachmöglichkeiten des Originals ist bedauerlicherweise kaum wiederzugeben. Die Wahl dieses Stücks hatte der schwedische Regisseur, ein Kenner des frühen Naturalismus, getroffen. Die Umgestaltung des Textes (Verlegung des II. und großer Textpartien des IV. Aktes an den Anfang) war auch seine Entscheidung. Die Hauptveränderung, die aus seiner Idee der Inszenierung
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resultierte, betraf den Schluß. Helene nahm sich nicht wie im Hauptmannschen Drama aus Verzweiflung, nachdem Loth die Flucht ergriffen hatte, das Leben, sondern packte - wie es sich für eine moderne, emanzipierte Frau gehört - ihre Koffer in der Bereitschaft, dem Nest der Degenerierten den Rücken zu kehren und davonzugehen. Die Inszenierung wurde wohlwollend besprochen, weil Hauptmann als nobelpreisgekrönter Autor in Polen überhaupt respektvoll behandelt wird. Man lobte vor allem das Ensemble der Schauspieler des Teatr Powszechny das sich wie immer bewährt hatte, insbesondere die Darstellerin der weiblichen Hauptrolle - Helene (Joanna Zóíkowska), die sehr überzeugend eine nicht verfeinerte und übersensible, sondern eher eine vitale, dem Leben mit Freude seine guten Seiten abgewinnende und zu Selbständigkeit fähige Tochter spielte. Neben ihr wurde zumeist der Darsteller des Doktor Loths, Olgierd Lukaszewicz, in den Rezensionen lobend erwähnt. Nur einer von ihnen fand ihn zu fein für die Gestalt des negativen Idealisten, recht arroganten, von den Ideen einer primitiven Vererbungstheorie besessenen Mannes.
4. Rückblickend kann man sagen, daß es sich um drei ganz verschiedene Übersetzungserfahrungen gehandelt hat. Während das Hauptmannsche Stück das alte Problem aufgab, was macht man mit deutschen Dialektpartien, verlangte Ein Fest fiir Boris einen Sinn für das Poetische. Und Methusalem einen für Wortwitz, surrealistische und dadaistische Sprachauffassung. Während Axer literarisches Theater in bester Ausführung bot, bemühte sich Markowicz um ein modernes, spektakuläres Gesamtkunstwerk.
Olgierd Lukaszewicz
Diesen Vorhang heben! Eindrücke eines polnischen Schauspielers von deutschen und österreichischen Bühnen (1994)1
Ich habe im Leben schon verschiedene Vertretungen blitzartig übernommen, aber nie hätte ich gedacht, daß ich auch mal für einen indisponierten Theaterkritiker einspringe. Doch als das polnische Zentrum ITI mir bereits für jemand anderen gekaufte Theaterkarten und bestellte Übernachtungen für die November-Theaterwochen in Berlin anbot (dies im Rahmen des internationalen Austausche), sagte ich mit Vergnügen zu. Für den deutschsprachigen Raum interessiere ich mich seit ungefähr vier Jahren. Hier spielte ich in Theatern - wobei es eher off- und keine renommierten Bühnen waren, abgesehen von der exklusiven Hochzeit von Wajda in Salzburg,2 zu der Peter Stein die Besetzung zusammenstellte. Dreimal trat ich im Film auf; zuletzt im König der letzten Tage, der auf derselben Idee wie Die Wiedertäufer von Dürrenmatt basiert und der die teuerste Produktion des ZDF im letzten Jahr (1993, Anm. d. Übers.) war. Ich habe wirklich recht viel Theater gesehen wobei ich mir natürlich nicht den Überblick eines professionellen Kritikers zuspreche. Ich fuhr in ein Land, in dem die Zahl der Theaterzuschauer in der Saison 1990/91 31 Millionen überschritt. In dem es 131 Theater gibt. Nur wenige bei uns sind sich dessen bewußt, daß kein anderes Land im Westen so viele Theater hat. Professor Aleksander Bardini sagte zu mir einmal: „Wenn Sie sich so für das deutsche Theater begeistern, haben Sie offensichtlich das Beste darin gesehen". Ich weiß es nicht. Ich sah die Meister der deutschen Bühne, aber auch Debütanten und ganz unbekannte Künstler. Ich beschränkte mich nicht auf Meisterwerke. Ich würde vielleicht sagen, daß ich während meiner Besu1
2
Podnieíó tç kurtynç! In: Dialog 1994, H. 3, S. 76 Für die freundliche Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung dieses Textes danke ich Herrn O. Lukaszewicz, für die Übertragung Frau M. Meyerweissflog. Vgl. loanna Walaszek: Salzburger Festspiele: Wajda i Stein. In: Dialog 1992, H. 11. Hochzeit, Regie: Andrzej Wajda, Salzburger Festspiele 1992. - Zu dieser Auffuhrung vgl. in diesem Band den Beitrag von B. Schultze: Rezeptionsblockaden des deutschsprachigen Theaters fur Mickiewicz, Krasinski, Slowacki und Wyspianski. S. 146-168.
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che in Deutschland vor allem das k u l t u r e l l e B e w u ß t s e i n des Nachbarn kennenlernen wollte. Schmerzhaft erkannte ich dabei meine Wissenslücken und einen Haufen Vorurteile, die unser Denken über diese Kultur immer wieder beeinflussen.
Amphitryon3 Ich hatte schon einmal die Gelegenheit gehabt, diese Aufführung der Schaubühne in der Regie von Klaus Michael Grüber4 während der Wiener Festwochen 1991 zu sehen (einen Tag später haben wir dort Die Falle5 gespielt). Trotzdem schaute ich sie nochmals - mit Freude - an. In den Augen der Presse und der Zuschauer ist sie eine der besten Aufführungen dieses Landes. Gespielt in Krakau während des Monats der Europäischen Kultur, wurde sie sowohl seitens der Kritik als auch der professionellen Theatermacher kühl aufgenommen. Aber das sind die Voreingenommenheiten, die ich schon kurz angesprochen habe, diese Vorurteile, welche den Geschmack, die Vorlieben und die deutsche Ästhetik betreffen. Ich erinnere mich, wie Gustaw Holoubek mal über Konrad Swinarski als „Regisseur mit dem deutschen Geschmack" sprach; der Kontext milderte die Schärfe dieser Formulierung, trotzdem klang sie recht abwertend. Zweifellos basiert das deutsche Theater auf ganz anderen Grundsätzen als das polnische. Insbesondere ist die Beziehung der Auffuhrung zur literarischen Vorlage eine andere als in Polen: Das Theater ist entweder dem aufgeführten Werke absolut treu, oder es behandelt es als Inspirationsquelle, nimmt aber immer alle in dem Werk enthaltenen Ideen ernst. Bei uns ist es üblich, die Gedanken des Autors oberflächlich, poetisch, stimmungsvoll, „wie es einem aus der Seele spricht" zu interpretieren, vermischt mit ein bißchen Vision, Kreativität und Effekthascherei. Und für gewöhnlich mit Politik, wodurch sich die Literatur in Publizistik verwandelt. Noch vor einigen Jahren war auch bei uns selbstverständlich, was Peter Stein mit der Hartnäckigkeit eines Besessenen verkündet: Das europäische Theater war und ist das Theater der Literatur. Die gründliche Textanalyse dient als Basis. Erst auf dieser kann man versuchen, etwas eigenes aufzubauen. Das deutsche Theater ging 3
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Amphitryon, Regie Klaus M. Grüber, Premiere: 20.03.1991, eine Aufführung der Schaubühne am Hebbeltheater Berlin. Vgl. Elzbieta Wysiüska: W krçgu Theatertreffen. In: Dialog 1992, H. 8. T. Rózewicz: Die Falle. Regie: Jerzy Grzegorzewski, Produktion der Wiener Festwochen, Juni 1991.
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von diesem Grundprinzip nie ab. Dafür sorgt der Dramaturg. So jemanden stellt man sogar in der off-Szene ein. Unsere Theater gaben einen solchen Partner, der den intellektuellen Effekt der Arbeit von Künstlern bilanziert, auf. Wir benötigten einen 'Literatur-Direktor', der das Stück zwar dem Parteikomitee hätte erklären können, nicht aber den Regisseuren oder den Schauspielern. Interessant ist die Beziehung zur Schauspielkunst. In Polen geht man vom Inneren, von dem Erlebnis aus ('Echo' von Stanislavskij), in Deutschland muß man von Beginn an mehr zeigen. Die Schauspielkunst bedeutet hier eine darstellende Kunst, und dabei muß man auf Anhieb mit Verständnis klare Konturen „zeichnen". Gehen wir zurück zu Amphitryon. Es ist allein schon sehenswert, wie detailliert und tiefsinnig in dem klar durchdachten und präzise konstruierten Spektakel die Analyse der zwei Ebenen der antiken Welt durchgeführt ist: die höhere und die niedrigere, die der Götter und die der Plebs. [...] Immer wieder frappiert die unwahrscheinliche Präzision der Ausführung. Die Präzision, der Stimme, der Gestik, die Präzision der Wiedergabe von Gedanken. Diese wurde nicht mal durch eine Serie von Textaussetzern gestört, mit denen sich die Schauspieler selber an diesem Tag schrecklich bloßgestellt haben. Na was, sie haben sogar die in der ersten Reihe sitzende Souffleuse um Hilfe gerufen - und konnten daraus sogar noch Vorteil ziehen. Das Publikum störte es nicht - vielleicht deswegen, weil das Publikum in diesem Theater den Text gleichzeitig direkt und distanziert hören kann. Die Schauspieler helfen dabei, indem sie den Text mit dem Körper, mit der Gestik illustrieren und gleichzeitig ununterbrochen die bedingungslose Unterordnung alles ihres Tuns unter die Idee des Regisseurs unterstreichen. Es gibt keinen Platz für irgendwelche eigenen schauspielerischen 'Sehnsüchte', für das einzelgängerische Stören des Gesamtbildes. Jemand könnte sagen, daß dies intellektuell und kalt sei. Aber was für eine Präzision steckt da drin! Wir erreichen solche Klarheit der Übertragung äußerst selten. Um so bitterer ist es für mich, daß gerade im Teatr Stary, in dem Swinarski so viele Jahre lang die deutschen Erfahrungen um polnische Emotionen und um die Winkel unserer Sensibilität bereicherte, daß gerade hier Amphitryon diese Niederlage erlitt.
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Sprachstudien Ich muß zugeben, daß ich die Molièresche Version von Amphitryon nicht gekannt habe. Solche Themen gehen ja quer durch Europa... Dem Meisterwerk von Kleist zuhörend dachte ich, daß man doch bei unseren hervorragendsten Romantikern die Reflexion, die Vision der Welt auf dem gleich hohen Niveau finden kann. Doch die unselige Niederlage des Volkes spiegelt sich so sehr in den Werken wieder, daß diese zwangsläufig zerissen und 'impressionistisch' aufgelöst, daß sie von der Eingebung, vom Geisteszustand, von etwas, was man nicht immer von dem Menschen trennen kann, vom Ungenannten abhängig erscheinen. Viele, viele Jahre lang hat mich eben dieser Riß mitgenommen, angezogen, inspiriert. Als ich nach Deutschland kam, verlagerte sich meine Faszination auf den gegenüberliegenden Pol. In dem Sprachunterricht in Freiburg verlangte man von mir vor allem, daß ich schon in den einfachsten Übungen sprachlich präzise bin. Später, bei der Analyse verschiedener Zeitungsartikel, lernte ich langsam die hiesige Denkweise kennen. Dennoch sagten sie: Nein, nein, du schwimmst. Du bist zu allgemein. Ich glaube nicht, daß Präzisionslosigkeit ausschließlich meine persönliche Schwäche ist. Damals fing ich an zu verstehen, wie die Präzision des Sprechens in das Denken übergeht und wie sich die Präzision des Denkens auf der Bühne niederschlägt. In Deutschland ist sie auf dieser stetig präsent. [... ]
„Volksbühne" Bis vor kurzem stand der Zuschauerraum dieses großen Saales leer. Die Stadt [Berlin] entschloß sich, das Theater an Franz Castorf* zu übergeben, jenem 'enfant terrible' aus der DDR, der in jedem Interview hervorhebt, daß die beiden Stadthälften künstlich zusammengeschweißt wurden und daß er die neue Realität durch das Prisma der alten sieht. Das Theater von Castorf erinnert irgendwie an das alte Theater von Adam Hanuszkiewicz. Beide Regisseure 'walzen' - wie ich das nenne - das Drama 'aus' und entnehmen daraus Stücke, die in dem jeweiligen Moment aktuell, bissig, publizistisch oder anarchistisch klingen. Diese Methode brachte Castorf einen erheblichen Erfolg: das Durchbrechen der Krise. Heute ist die Volksbühne die modischste Bühne beider Hälften Berlins. 6
Vgl. Kronika. In: Dialog 1992, H. 1-2 und 1993, H. 4.
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[...] Das Stück, welches die Bühne am Rosa-Luxemburg-Platz spielt, heißt Rosa Luxemburg, Rote Rosen für Dich,1 die Regie führte Johann Kresnik.8 Im Programm, und genauer gesagt in dem Flugblatt, blieben nur das Libretto von George Tabori und ein paar Informationen über den Charakter dieses seltsam expressionistischen 'Kabaretts mit These' übrig. Außer dem Flugblatt wird den Zuschauern noch eine kleine DDR-Fahne gereicht, auf der in Kleindruck die Losung „Anarchie ist machbar" geschrieben steht. Beunruhigend klingt diese Parole in Deutschland, wo alle Augenblicke irgendwelche Bomben explodieren. In diesem Theater habe ich keinen klaren - von den anderen Bühnen bekannten - Gedanken, keine Reflexion über die Komplexität der Welt und kein Abwägen von Meinungen zu erwarten. Hier wird anarchistischer Sprengstoff geboten, welcher ein Mittel gegen die geistige Krise bundesrepublikanischer Bürger sein soll - und ist! „Ob der Kapitalismus moralisch ist?! Es ist so, als ob man von einer Prostituierten Moral erwartete." Und das Publikum klatscht, man hört Kommentare. Von der Bühne schlägt einem die Enttäuschung über die Demokratie entgegen, welche ein Trugbild und Quatsch sei, welche ratlos gegen Unrecht sei, wenn sie es zuließe, daß zuerst Rosa Luxemburg und dann die Terroristin Ulrike Meinhoff ermordet wurden. Der Kapitalismus trat in die östlichen Häuser ein wie ein Gespenst aus den Schlagworten jüngster Propaganda. Für mich lag in der Aufführung mit der Gleichstellung von Rosa Luxemburg und Ulrike Meinhoff, die hier fast als siamesische Schwestern auftreten, ein in gewisser Weise moralischer Mißbrauch. Ich machte eine kleine Umfrage unter meinen Bekannten, wagte sogar fremde Menschen aus dem Publikum auszufragen - und es stellte sich heraus, daß niemand diese Gleichstellung akzeptierte. Ich rief also Reinhard Hauff an, den hervorragenden Filmregisseur, welcher mal den Film über die Baader-Meinhoff-Gruppe gedreht hat. Er erklärte mir, daß die beiden Heldinnen der Aufführung einen gemeinsamen Ausgangspunkt hatten: Allseitig gebildete Frauen widmen sich restlos dem Kampf für ihre Ideen. Der Rest sei überzogen. Die Vorstellung beginnt mit dem klassischen Ballet-Bild: Der sterbende Schwan. Die Tänzerin ist vollkommen, es fehlt jegliche Parodie. Nachdem sie gefallen ist, packt sie ein Schauspieler, angezogen wie die Arbeiter, die nach ökologischen Katastrophen aufräumen, in einen Müllsack ein. Das erste Lachen, der erste Kontakt mit dem Publikum. Später stellt sich vor uns eine ganze Reihe von Honeckern auf: Männer und Frauen mit aufgesetzten Hü7
8
Rosa Luxemburg, Rote Rosen fiir Dich. Regie: Johann Kresnik, Volksbühne Berlin, Oktober 1991. Vgl. Kronika. In: Dialog 1993, H. 12.
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ten, die in regelmäßigen Abständen die Brille reinigen und einstecken. Und dann winken die Fähnchen. Ich sah mich um, wieviele Zuschauer wohl mit eigenen Fähnchen zurückwinken werden. Nicht so viele, das Thema ist nicht mehr mit Freude verbunden. Das Geschehen erhält einen kabarettistischen Schwung, die Nummern werden immer heikler, in ihrer Art schwierig für mich zu akzeptieren. Grauhaarige Greise stecken sich Mikrophone in den Schritt und onanieren, es wird mit Hämmern an die Grabsteine der Heldinnen geschlagen, eine echte Geige wird zerschmettert, die männlichen Hintern leuchten, es gibt sogar den Beischlaf auf einer Torte. Die 'Honecker' in hochgekrempelten Unterhosen lassen sich hinter Gitter bringen. Was daran vielleicht am interessantesten ist - und woran man am besten Tabori erkennt - ist die Szene, in der inmitten der Verwirrung Hitler aus einem kleinem Ei ausschlüpft. Von Anfang an mit Schnurrbärtchen, obwohl noch in kurzen Hosen, tollt er auf der Bühne herum, ruft Marni und stützt sich auf dem Kruzifix ab (immer noch wird der protestantischen Kirche die Zusammenarbeit mit Hitler vorgeworfen). In dieser Szene konzentriert sich die ganze Gewissenserforschung dieser Aufführung, die antinazionalsozialistisch und anti-antisemitisch ist und die gegen verschiedene Parolen protestiert, welche die neue Heimat zementieren. Zu einem gewissen Zeitpunkt fängt eine Schauspielerin, nach Brechtscher Art aus der Rolle heraustretend, bei beleuchteten Zuschauerraum an, dem Publikum ein Rezept für eine Bombe zu diktieren. Sie wendet sich liebevoll „an die, welche ihr so scheu und leise zuhören". Ich befürchte, daß niemand außer mir die Ohrfeige ihrer Worte verspürte.
Im Westen und im Osten Der Kollege aus dem Berliner Ensemble, der in der Schaubühne meine Krawatte und mein beharrliches Bemühen, elegant zu sein, bemerkte, legte mir taktvoll nahe, daß ich - wenn ich zur Volksbühne fahre - mich ganz anders, eben irgendwie, anziehen sollte. Und tatsächlich - nicht eine einzige Krawatte um mich herum! Daran konnte ich auch erkennen, daß ich mich im - revoltierenden - Osten befinde. Im Zuschauerraum saßen nur kunterbunt gekleidete junge Leute und eine spezifische Kategorie von Intellektuellen jugendlichen Greisen. Genau so ein Publikum bildete immer die off-Szene. Ich folgte der Auflührung mit Widerwillen, Angst und Besorgnis. Sie war für mich voll von gefährlichen Ansätzen und von irgendwie kitschiger, zerstörerischer Kraft. Ein Rätsel bleibt für mich zum Beispiel das Anbrennen des
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Fleisches eines halbierten Schweines. Der Gestank erregte bei mir Übelkeit. Nach einer Stunde konnte ich mich nur mit Selbstüberwindung zwingen zu bleiben. Vielleicht ist das meine Vorbelastung - die des Ankömmlings aus dem Lande, in dem die 'Botschaft an das Volk' doch mit der Verantwortung für die Moralität der Aussage verbunden ist. Diese Kunst soll vor allem provozieren, Impulse geben. Bewegung und Diskussionen auslösen. Demagogie ist Kunst. [...]
„Deutsches Theater" Ich sah hier das Stück von Lessing, Philotas,9 die alte Inszenierung, noch aus dem Jahre 1987. Bis in die Details hervorragend plastisch und ästhetisch subtil aufbereitet, aber wieder wachte der Pole in mir auf und die Aussage konnte ich nicht akzeptieren. Unsere Volkshelden kämpften und vertraten Standpunkte, und hier ist der Held kindisch, unverantwortlich. Und diese Kindlichkeit hinterläßt in der Konstruktion des Spektakels ihren Abdruck. Es wird von Abschnitt zu Abschnitt gespielt, alle drei Sätze ändert der Schauspieler Intonation, Stimmfarbe und Melodie. Er betont die Form ungeheuer und ist in seinem Formalismus vortrefflich, virtuos, nur ärgert mich der Relativismus dieses Spiels. Meine deutschen Gesprächspartner behaupten, daß nur diese Form den Relativismus ihrer patriotischen Gefühle ausdrücken konnte. Die Klassik ist in der östlichen Hälfte dasselbe, was sie schon früher war und was sie auch bei uns war: das Theater der politischen Anspielungen. Es würde mich interessieren, wie sich diese Anspielungen und ihre Wirkung nach all den politischen Umwälzungen verändert haben. Viele tiefer in der Sprache versteckte Andeutungen entwischen mir immer noch. Aber ich merke, daß dieses Theater immer noch irgendwie lebendig ist, daß die Leute darauf eingehen. (Man muß dazu bemerken, daß das Stück Philotas nur selten in das Programm aufgenommen wird. Von Bedeutung für die Auffuhrung war die Popularität des Titelhelden Ulrich Mühe, der auch in Polen durch Filme bekannt ist.)
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G. E. Lessing: Philotas / Nathan der Weise. Deutsches Theater Berlin, 6.10.1987
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Schauspieler Die deutschen Schauspieler arbeiten so, wie nirgendwo bei uns. Ich beobachtete dies einmal während der Proben zu den Einsamen Menschen10 von Hauptmann, die in München von August Everding, dem Vorsitzenden des Deutschen Theaterarbeitgeberverbandes, geleitet wurden. Die Proben dauerten bis vier Uhr nachmittag, zwei Stunden Pause, wieder Probe und ab 19.30 drei-, vierstündige Vorstellung. Dies ist der Arbeitsrhytmus eines normalen Repertoire-Theaters. Unwahrscheinlich. Es hat sich viel im Alltag der Schauspieler verändert. Legendäre, rigorose Gewerkschaften sind nicht mehr so mächtig. Verschwunden sind die im Osten und bei uns noch eingehaltenen spielfreien Montage. Es wird jeden Tag gespielt. Man zittert um die Arbeit. Eins, worum ich die deutschen Kollegen wirklich beneide, ist ihre Fertigkeit zu fixieren - das festzuhalten, was man in den Proben erreicht hat. Probleme dagegen habe ich damit, mir selber die Frage zu beantworten, wie es eigentlich mit deren Ensemblespiel steht. Nach der Aufführung gehen sie in eine Kneipe, der Regisseur bespricht die Aufführung und jeder von ihnen denkt ausschließlich an sich selbst, konzentriert sich auf sich selbst, ist egozentrisch. Wir in Polen verstehen es, uns auf eine gemeinsame Konzeption zu verständigen, dem Regisseur konkrete Lösungen anzubieten. Hier nicht den Schauspielern fehlt in den zwischenmenschlichen Kontakten so eine normale, menschliche Gelassenheit. Bei Wein, gern. Aber dabei gibt es keine Gespräche über die Kunst. Ich kann nicht alllzu genau bestimmen, wo die Grenze liegt zwischen dem, was ich akzeptiere, und dem, was ich nicht mehr aufnehmen kann. Oft jedoch, wenn ich in den Proben saß, hatte ich fallweise das Gefühl, die Schauspieler könnten, wenn sie besser, wärmer, weniger 'kühl-professionell' miteinander arbeiten würden, viel mehr Wahrheit erreichen. Aber das gehört schon eher in die Sphäre der Sitten als des Berufs selbst.
Dreihundert Jahre Erziehung des Publikums Ich habe von unserem ungeheuren Unwissen über die deutsche Kultur, Literatur und Theater gesprochen; das tut mir wirklich weh und es beschämt 10
G. Hauptmann: Einsame Menschen. Regie: August Everding, Prinzregententheater München, 3.06.1989.
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mich. Wenn man bedenkt, daß sich seit dem 18. Jahrhundert, seit den Hoftheatern in den reichen Fürstentümern, in unserer Nachbarschaft eine wunderbare Theaterkultur harmonisch entwickelte, welche ganze Generationen von theatererfahrenen Besuchern erzogen hat! Wieso wollen wir das nicht nutzen? Seit Anfang der 80er Jahre geht es mit unserem Theater langsam und, mit einigen Ausnahmen, gleichmäßig bergab. Dafür gibt es verschiedene Gründe, aber der hauptsächliche, meiner Meinung nach, ist das Fehlen des Publikums, welches dank der Erziehung das Bedürfnis nach Kontakt mit dem Theater hätte. Über das Interesse der Deutschen an der Musik, an der Oper, an den Chören, an verschiedenen Formen der musikalischen Bildung - darüber wissen wir Bescheid. Genauso präsent ist in ihrem Leben das Theater. Die Zuschauer besuchen über 600 Bühnen. Genauer gesagt, gibt es 608 Bühnen wie mich Franz Wille vom Theater heute informierte, ohne deren Charakter und Status zu differenzieren. Im allgemeinem verfügen die einzelnen Theater über ein paar Bühnen. Zur Zeit gibt es 131 Stammtheater mit eigenem Ensemble, welche volle Zuwendungen vom Staat, vom Land oder von der Stadt bekommen. 78 Tourneetheater erhalten die Subventionen aus dem Etat von mehreren Städten, und 86 nicht subventionierte (von Musicalbühnen bis zu den alternativen Theatern) unterhalten sich entweder von den Karteneinnahmen oder von den minimalen Dotationen aus stattlichen Kassen und von privaten Sponsoren. Ich lernte diese Welt 'von unten' kennen: Meine ersten Schritte in Deutschland machte ich mit einem kleinem Kellertheater. Die Proben fanden in einem Restaurant statt, ich spielte mit Studenten zusammen und hatte das Gefühl, daß es das Ende der Welt ist und daß mich hier niemand wahrnimmt. Und doch, die Rezensionen wurden in allen Zeitungen veröffentlicht. Ob man mich bemerkt hat? Nein, nicht mich. Es wurde die Auffuhrung besprochen. Die Rezensenten bei uns 'bemerken' die Schauspieler, reißen sie aus dem Kontext der Auffuhrung und vergeben Noten: Fünfer, Vierer, Dreier. Wenn deutschen Rezensenten schon über einen Schauspieler schreiben, dann muß dafür entweder ein intellektueller, in Zusammenhang der Kritik einsichtiger Grund vorhanden sein, oder eine tatsächlich auffallende Rollengestaltung - egal ob gut oder schlecht. Wichtig hingegen ist die Aufführung - ganz gleichgültig, ob auf einer exklusiven Bühne mit Karten für 50 DM oder in der Garage in der Cuvrystraße. Es zählt die Professionalität und die Kunstfertigkeit der Durchführung.
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Olgìerd Lukasiewicz
' Ostblockästhetik' Dieser Begriff wurde uns in Wien serviert, als wir dort Die Falle in der Regie von Jerzy Grzegorzewski zeigten. Ich versuchte meine Gesprächspartner in Berlin auszuhorchen, was sie darunter verstehen - provokativ, weil ich selber diesen Begriff für dumm halte. Die Bewohner der östlichen Hälfte zuckten die Achsel: Es ist „Quatsch". Ein berühmter Schauspieler aus dem Westen sagte mir hingegen, der Ausdruck verstehe sich von selbst... Nach langen Überlegungen kam er im nachhinein zu dem Entschluß, daß eine bestimmte Art von Bühnengestaltung darunter zu verstehen sei: schwer, aus Pappmaché. Jemand anderes fugte hinzu, es gehe um die illusionistische Bühne. Beide Vorwürfe passen zu Grzegorzewski wie die Faust aufs Auge. Dennoch kam auf diese Weise die gegenseitige Voreingenommenheit beiderseits - wieder zum Vorschein. Zwischen den Deutschen und den Polen, aber auch zwischen den Ossis und den Wessis. Der Osten empfindet generell die Andersartigkeit der existentiellen Erfahrung und das - was man gut verstehen kann - spiegelt sich in der Kunst wieder; nur die Bezeichnung ist nicht glücklich getroffen. Wir sind zu einer gewissen Fremdheit verurteilt. Nicht einmal die Hochzeit11 von Wajda in Salzburg unter den Fittichen von Stein wurde in der überregionalen Presse erwähnt - bei gleichzeitig reger Aufmerksamkeit, welche den bescheidensten eigenen Vorstellungen geschenkt wurde, wovon ich schon vorhin sprach. Exotik. Der eiserne Vorhang der gegenseitigen Voreingenommenheit und des Informationsmangels hängt immer noch tief. Auf der einer Seite wirkt die deutsche Überheblichkeit und der Stolz, auf der anderen die polnische Selbstsicherheit, die nicht durch die Kenntnis der Dinge beeinträchtigt ist. Im Grunde genommen könnte man diesen Zustand leicht für unabänderbar erklären - wenn man von Gegenbeispielen wie Konrad Swinarski und Erwin Axer absehen würde. Ihr Schaffen ist aber ein Beweis dafür, daß das Schöpfen aus den Erfahrungen beider Seiten großartige künstlerische Ergebnisse hervorbringen kann. Meinerseits kann ich sagen, - ohne mich, Gott behüte, neben diese zwei wunderbaren Künstler stellen zu wollen, was Größenwahn wäre - daß der vieijährige nahe Umgang mit der deutschen Kultur meine Weltsicht beträchtlich bereichert hat. Es war ein faszinierendes Abenteuer und dabei soll so lange als möglich bleiben. Übersetzt von Magdalena Meyerweissflog
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Siehe Anm. 2.
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Malgorzata Leyko / Malgorzata Sugiera The Reception of Plays and Theatre of the German-speaking Countries in Poland after 1945 The main aim of this paper is to take a first step in researching the reception of German language plays and theatre in Poland after 1945, by taking into consideration translated and published plays, the repertoire of official theatres as well as books, articles and information on the drama and theatre of German speaking countries. Although quite a number of such plays have been translated and published in the post-war period, very few were staged (with the exception of Friedrich Diirrenmatts's plays in the 50s and 60s), because of fundamental differences in style and aesthetics between Polish and German language theatres. This is true not only for repertoire from Switzerland, Austria and West Germany, but for East German plays as well. At the beginning of the 80s the situation changed noticeably. More and more young directors became interested in performing plays by German speaking playwrights (Bernhard, Dorst, Schwab) and in the Polish media more and more information on the drama and theatre in these countries was to be found.
Hans-Peter Bayerdörfer Princess, Princesses, Mannequins. Polish Theatre in the Federal Republic of Germany since the 1970s This survey of the reception of Polish drama and theatre starts with complementary remarks on previous literary research, as far as drama is concerned. More detailed attention is given to the period in which basic anthologies of Polish contemporary drama became available at the end of the 1960s in East and West Germany, as well as additional editions of major avantgarde playwrights of the 20th century, such as Witkacy. Further emphasis is placed upon the impact of Polish stage directors in Germany, first of all directors of nonliterary Polish theatre, starting with the generation of the great neo-avantgarde artists who became known in Western Europe in the late sixties. The different modes of their reception and the reasons for their success are outlined here. The investigation leads to the generation of their successors, into the later decades and into the new era of the 1990s.
294 From the general historical point of view, different phases - mainly due to political development in Europe - are distinguished, phases in which the relationship between the East and the West German states to Poland led to quite different modes of reception and nonreception. They are marked by political events, such as the Prague-invasion by the Warsaw-treaty military forces in 1968, the worldwide attention paid to the Solidarnoáé-movement in the 1970s, the proclamation of martial law in 1981 and finally the postcommunist era in Poland and the political change in East Germany, leading to German re-unification. The survey finishes in the mid-1990s, when post-Kantorian stage directors succeed in establishing a firm theatrical position in Germany.
Anna Milanowski Polish-Austrian Theatre Relationships After the Second World War Until 1989. A History of Mentalities and Influences Contacts between Polish and Austrian theatres started soon after 1945 and were active on the level of ensemble guest tours, including leading stages such as Burgtheater, and Stary Teatr and Teatr Studio. Since 1972, extended exchange has been possible on the basis of a cultural cooperation agreement between the two republics. Nevertheless there have been obstacles to the reception of theatre, because of a mutual lack of knowledge of national literary idioms. After a thorough analysis of these obstacles, the history of attempts to overcome them by drama productions from the other country - about 10 Polish authors in Austria and more than 15 Austrian playwrights in Poland - is outlined. These attempts are surpassed by Krystian Lupa's new approach, in the present decade, which also includes dramatisations of Austrian fiction since Robert Musil and Thomas Bernhard.
Maigorzata Leyko The Desirable and Undesirable Brecht Brecht was one of the first German authors accepted in Poland after World War Π. Selected translations of his anti-Nazi poetry, drama and prose, filled with communist spirit, were published after 1948. In the wake of the visit of the Berlin Ensemble to Warsaw in 1952, the controversy of actuality and ideological correctness of Brecht's work in socialist theatre was shown clearly. It was the most important and violent dispute of those years, focusing on the question of how free and independent the artist can be in his artistic choice. Only a few years later, in 1955, when Brecht's plays first appeared on the Polish stages, he was regarded by most of the Polish theatres as the most fascinating author. His
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method of 'episches Theater' as well as the 'Verfremdungseffekt' were adapted for all his plays. In the early 70s this image of Brecht changed and new, freer and creative interpretations of his work replaced the official position of a 'new classic'.
Slawomir Tryc Friedrich Dürrenmatt on Polish Stages. With General Remarks about the Reception of Foreign Language Theatre in Poland 1945-1989 Among those playwrights whose impact can be traced along specific lines in Polish postwar theatre, the most prominent one is the Swiss author Friedrich Dürrenmatt, who called Poland his second home. Nowhere outside German speaking countries was he as highly appreciated and cheered by audiences as in Poland. Professional theatres have produced eleven of his plays between 1956-1990, and also adapted four radio plays - resulting in some 2,900 performances, attended by 1.2 million theatre goers. Amateur theatre productions, TV-and radio adaptations followed as well as movies based on the plays. After Bertolt Brecht, Dürrenmatt is the most frequently staged German language playwright in Poland. The essay is conceptualised as a specific commentary to statistical data which is evaluated within the framework of general trends in Polish theatre. The second part of the essay debates the basic problems with which a theatre historian is confronted when he tries to investigate the stage reception of foreign language theatre during the period of statecontrolled culture in Poland.
Malgorzata Sugiera Dialectical Proceedings in Plays by Friedrich Dürrenmatt and Max Frisch - Their Impact on Polish Drama after 1956 The paper examines the reception of plays by Max Frisch and Friedrich Dürrenmatt, two leading Swiss playwrights of the first post-war generation in the German language theatre, in Poland in the 50s and 60s. It not only describes performances and audience reaction to them, but also traces their proven and possible influences on Polish playwrights such as S. Grochowiak, J. Broszkiewicz and S. Mro2ek. Furthermore, it tries to find a reliable answer to the question why Dürrenmatt's plays became enormously popular (and were used by many Polish critics of this period as the best example of avantgarde drama), while the plays of Max Frisch were almost entirely rejected despite the fact that he was quite well known as a novelist.
296 Dobrochna Ratajczakowa Two Plays of Tadeusz Rózewicz: The Card Index and Dead and Buried as an Example of Success and Failure. This article compares the stage histories of two of Rózewicz's plays. The Card Index (1958-59) was staged for the first time when the „thaw" was coming to an end and the communist system had regained strength. The role of form was emphasised in the enthusiastic critical reception of this play, which was - mistakenly - welcomed as an innovative collage. Dead and Buried (1955-72) on the other hand, was - also wrongly - taken to be a play intended to destroy the legend of the Armia Krajowa and of the Second World War guerrilla. The article shows the perseverance of myths, in this case the Polish myth of 'freedom fighting', and their permanent influence in processes of reception, leading in different ways to success and failure.
Wojciech Dudzik The Image of Polish Theatre in German Theatre Literature of the Post-War Period This article takes a look at the representation of Polish theatre in post-war German theatre literature (i.e. dramatic art in Polish playhouses, without taking Polish drama into account). The analysis is focused on basic literature such as works on theatre history, theatre encyclopaedias and anthologies rather than highly specialised monographs or dissertations. The study reveals that in these works German authors tend to approach Polish theatre arts from a synchronic point of view, the centre of attention lying on the work of Jerzy Grotowski and Tadeusz Kantor, they prefer a basically European rather than a specifically Polish focus. Other names (e.g. Stanislaw Wyspianski, Leon Schiller) and playhouses (e.g. Teatr im. Boguslawskiego in Warsaw or the theatre of Lvov) that are essential to Polish theatre, do not always seem to be appropriately reflected in German theatre literature.
Brigitte Schultze Reception Problems of the Polish Playwrights Mickiewicz, Krasiñski, Slowacki and Wyspianski in the German Theatre and their Consequences There is good reason for mentioning the main playwrights of Polish high romanticism, Mickiewicz, Krasinski and Slowacki and Wyspianski, the 'allround-artist' of the Polish fin de siècle, in connection with „Polish-German Theatre Contact after the Second World
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War". At least till the 1970s and 1980s, Polish playwriting was characterised, so it seems, by unique inner coherence: Referring to central plays of the Polish 'core tradition', e.g. to Mickiewicz's Forefather's Eve, Slowacki's Kordian, Krasinski's Undivine Comedy, and Wyspianski's The Wedding and The Deliverance, and also to the central texts of world literature, e.g. the Bible, Shakespeare's plays, Goethes's Faust and many others, the plays by Mrozek, Gombrowicz, Rózewicz and many other contemporaries abound with intertextuality. Equally important are references to traditional visual signs of Polish culture - the tableau, the sign of the cross, the 'dance macabre', and many others. Such Polish and transcultural intertextuality is a challenge for translators, readers, and also for theatre goers. Polish plays ask for specific cultural competence in order to be understood adequately. The fact that the plays of Polish high romanticism and Wyspianski (with the exception of Krasiñski's 'quasi-expressionist' Undivine Comedy) hardly ever reached a German stage, may therefore partly be due to inadequate translations but also to the 'abundance' of Polish intertextuality. Besides that, the translations available hardly ever met the actual theatrical code of the German speaking theatres. As a consequence, the 'second reception' of intertextual information, as it is found in plays by Rózewicz, Gombrowicz, Mrozek, Witkiewicz and others cannot be deciphered by theatre goers of the second half of the 20th century. A comparative study of several productions of Mrozek's three act play Tango in Germany and in Austria shows that early productions, i.e. of the 1960s (no matter whether this will be understood or not) tend to reproduce a large amount of the intertextuality and the visual signs contained in the play, whereas later productions tend to move away from the 'Polish' elements - i.e. the staging becomes more international.
Claudia Balk
Jerzy Jarockis Production of the Play The Mother by Stanislaw Ignacy Witkiewicz in 1975 and its Reception When Jerzy Jarocki directed the play The Mother by Stanislaw Ignacy Witkiewicz at the Kammerspiele in Munich in 1975, the artistic result very obviously unsettled the audience. The critics showed partial fascination but also helplessness and rejection, as the audience had been confronted with an event that denied the hitherto familiar logic in the theatre. During the mid-1970s a different kind of theatre was produced and valued in Germany. Jarockis production was lull of surprising images, which were shown in an expressive as well as in an acrobatic body-language. Here the body and the imagery functioned as emancipated theatrical elements. The essay states that Jarocki with exactly this kind of detached physiology follows his own original logic - like in a dream -, translated Witkiewiczs' Theory of the Pure Form in Theatre and put it into practice in a congenial way.
298 Herta Schmid Mrozek on German-language Stages - Difficulties with GermanPolish Dialogue. Although Slawomir Mrozek is less popular today than in the sixties, he is still a highly regarded playwright and a constant presence on the stage. In recent years one can even observe a certain renaissance, thanks to his latest play Love on the Crimean Island as well as his everlasting attraction to Tango. After the disappearance of the wall between East and West Germany, Mrozek proved to be a writer, who, by analysing the psychological consequences of being brought up in a dictatorship, helps people to understand themselves better in the democratic society of the German Federal Republic. The paper describes three factors which were influential in the communication between Mrozek and the German theatre public: 1. Spectacular performances of Mrozek's plays by Polish theatre directors such as Erwin Axer (Tango at the Düsseldorfer Schauspielhaus in January 1966) and Jerzy Jarocki (On Foot at the Theatre Festival in Cologne 1981) made the author widely known. 2. The famous monthly Theater heute published a series of reports on Poland in the eighties, which focused on the political events around 'Solidarnosó', but gave also insight into the specific democratic spirit of Polish theatres. 3. In the same monthly there have appeared continuously since the sixties theoretical studies on Polish theatre and culture by thinkers like Jan Kott, Andrzej Wirth and Peter Lachmann. These studies bridged the gap between German and Polish enlightenment, thereby opposing the tradition of magic theatre which is represented among others in the works of Jerzy Grotowski. Especially in the studies of Jan Kott one can see that these two opposing lines, which also make use of quite different theatrical sign structures, are important for the theatres in Poland but also in Western European countries as well as in the USA. Finally the paper discusses the latest staging of Mrozek's Tango by an East German director - Konstanze Lauterbach - at the famous Burgtheater in Vienna (1996) as a case study of misunderstanding Mrozek by interpreting him in the mode of magic theatre.
Dietrich Scholze The Reception of Mrozek and Rózewicz in the German Democratic Republic It is possible to determine the cultural policy of any particular period by considering the choice of Polish plays performed by theatres in the GDR. There were no official performances of plays by Mrozek and Rózewicz until 1975 when a more liberal ideological approach placed greater emphasis on cultural exchanges with Eastern and Western European countries. At the end of the 1980s, the preference shown by directors and dramatists for
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grotesque and absurd models, indicated the loss of the usual standards and was soon followed by the collapse of the state structures themselves.
Harald Xander A Close Reading of the Open Polish World Theatre When looking for characteristic elements of Poland's contemporary theatrical thinking and staging, many cues lead back to romantic and even medieval ideas of theatre. Jerzy Grotowski and Tadeusz Kantor, the most influential Polish theatre artists of the 1960s and 1970s never doubted the universal dimensions of the theatrical stage and the messianic mission of their creations. A whole generation of young theatre people followed them worldwide. From my point of view, this unquestioned and therefore closed understanding of theatre as „world theatre", for the Polish theatre turned out to be a highly effective door opener to the Western stages. In my article this hypothesis is debated by focusing on a microhistorical chapter of Polish-German theatre relations. For more than 20 years the small village of Scheersberg has offered a worldwide forum for young theatre amateurs, the so-called „Theatrical Workshop". Already in 1969 the first Polish student theatre was invited to present and discuss its productions. My article discusses the strong impact of the Polish groups on the history of the „Workshop" as well as dealing with the important role this international recognition played for the stabilisation and the conservation of the romantic tradition.
Claudia Jeschke Alienation and Fascination. Notes on the Aesthetics of Space, Body and Movement in the Theatre of Tadeusz Kantor. Kantor's ideas of the materiality of space (Informal Art, Happening, Death Machine) as well as his concept of 'mannequin' (as represented in The Theatre of Death, 1975) function as background of a spatial and physiological-motoric exploration of the first two scenes of The Dead Class. Kantor uses two explicitly physical strategies in order to structure his piece: linearity and centralisation. He establishes them as autonomous, textual layers, on which further scenic information is projected. Linearity and centralisation, thus, provide multidimensional and multivalent areas of tension (Spannungsfelder) which allow a specific reading, i.e. experience, of the events on stage. In so doing, Kantor develops a specific materiality of movement. Concerning the significance of corporeality and chore-
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Christopher B. Balme „The Living Image of a Method": The Role of Theatre Photography in the Reception of Jerzy Grotowski's Theatre Aesthetics. This paper examines an interesting paradox surrounding the influence of Grotowski's theatrical method. Although he is clearly one of the most influential directors of the postwar period, his actual productions were only seen by very few. The success and influence of Grotowski's theatre is mainly due to the impact of Towards a Poor Theatre, the collection of essays, rehearsal protocols, and above all, innovative theatrical photographs edited by Eugenio Barba, that led to Grotowski's international reception. The paper demonstrates how theatre photography can create an autonomous 'image' of theatre and a theoretical discourse. The combination in Towards a Poor Theatre of theoretical argument and expressive photographs represented a new way of disseminating theatrical ideas. This hypothesis is tested by examining the reception of Grotowski's ideas in South African Township theatre.
Theo Orshausen Images of Hamlet on Polish and German Stages. This paper contrasts two possible readings of Shakespeare against the background of historical experiences between the 1930s and 1940s: those of Jan Kott and those of Bertolt Brecht. Their contrast is due to the differences between their time and place of reflection on Shakespeare, between Poland and Germany. They are linked by what Brecht once called „crude thinking", meaning the production of a concrete topical „relevance" for classical texts in the theatre. The way in which Kott's and Brecht's ideas can be combined - once again in the concrete application of a Shakespeare text to an altered historical situation - shall be exemplified with reference to B. K. Tragelehn's Munich Hamlet production of 1985.
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Barbara Surowska German Playwrights for the Polish Theatre - Stage Translations: Thomas Bernhard, Ivan Göll, Gerhart Hauptmann The report summarises the experiences of a translator who cooperated with production teams during the rehearsal periods. The three case studies result from working with stage directors who had decided to produce German avantgarde plays from several periods. In the case of Thomas Bernhardt A Party for Boris (Ein Fest für Boris) the author was practically unknown and so was the style of the play. The lack of communication between the roles proved to be as problematic for the translation as the long and at first sight unstructured soliloquies. Ivan Goll's play Methusalem, which is indebted to Dada and early Surrealism, demanded high creativity and skill to find equivalents for the highly artificial play of words which forms the linguistic substance of the play. The early avantgarde piece by Gerhart Hauptmann, Before Dawn / Before Daybreak, is particularly challenging because of its use of dialect. So the main problem was to find corresponding language levels to represent the linguistic and at the same time social hierarchy of the cast.
Olgierd Lukaszewicz Raise This Curtain! A Polish Actor's Impressions of German and Austrian Stages (1994) In this article, the highly renowned actor, who has frequently performed in famous Polish productions abroad, gives a challenging account of his experiences with theatre in Germany and Austria. He starts with Berlin stages, contrasting, among others, productions at the formerly Eastern Volksbühne and at the formerly Western Schaubühne. His main perspective, however, is that of comparing Polish and German ideology of theatre and ideas about standards and accomplishments in the theatrical culture in each other's countries. He concentrates on contrasting attitudes towards the relationship between dramatic text and stage production, between individual acting and over all production concept, between audience expectation and reaction to productions. In all those different areas he investigates the impact of prejudices and mis-information which prevent the adequate mutual understanding and appreciation of the theatrical culture of these neighbouring countries.