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German Pages 962 [941] Year 2003
Die polnische Heimatarmee (Armia Krajowa) war im Zweiten Weltkrieg die zentrale Trägerin des bewaffneten Widerstandes im polnischen Untergrundstaat. Sie wurde von der polnischen Exilregierung in London geführt und 1944 von der Roten Armee gewaltsam aufgelöst. Der Sammelband bietet eine umfassende Darstellung der polnischen Heimatarmee seit 1939 und des schwierigen Umganges mit ihrer Geschichte. Vor dem Hintergrund der komplizierten ethnischen und territorialen Gemengelage in der Region werden neben dem internationalen Forschungsstand auch aktuelle Diskussionen in Polen, Deutschland und den Nachfolgestaaten der UdSSR transparent.
Die Herausgeber: Bernhard Chiari, Dr. phil., geb. 1965, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam
Jerzy Kochanowski, Dr. habil., geb. 1960,
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau
Oldenbourg
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Die
polnische Heimatarmee
Beiträge zur Militärgeschichte Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Band 57
R.
Oldenbourg Verlag München 2003
Die polnische Heimatarmee Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg
Im Auftrag des
Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Bernhard Chiari Mitarbeit von Jerzy Kochanowski unter
R.
Oldenbourg Verlag München 2003
Herausgeber:
Bernhard
Chiari, Dr. phil., geb. 1965, wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Zeppelinstr. 127/128, 14471
E-mail:
Potsdam
[email protected].
Koordinierung des Projektes in Polen: Jerzy Kochanowski, Dr. habil., geb. 1960, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau, Aleje Ujazdowskie 39, PL 00-540 Warszawa E-mail:
[email protected].
Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme -
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich
© 2003 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Str. 145, D-81671 München Internet: http:/Avww.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unMikrozulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, verfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.
Übersetzungen,
Gedruckt auf säurefreiem,
alterungsbeständigen Papier (chlorfrei gebleicht).
Satz: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei
GmbH, München
Umschlagseite: Kampfpause bei der Kompanie »Koszta«, Ort unbekannt (Zentrum KARTA, Warschau; Bestand Lokajski, 17). Karte auf Umschlag und Vorsatzblatt vorn: Krieg Deutschlands gegen Polen (1.-5. September 1939), in: Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis zum 22. Juni 1941. Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Gerhart Hass, Köln 1974 (= Deutschland im zweiten Weltkrieg, Bd 1). Karte auf Umschlag und Vorsatzblatt hinten: Weißrussische Angriffsoperation. Die Befreiung Ostpolens. 23. Juni bis 14. September 1944, in: Velikaja Otecestvennaja vojna Sovetskogo Sojuza 1941 -1945 gg.: Kratkaja istorija, Moskva 1984 Bildmotiv vordere
Falls nicht alle Rechteinhaber ermittelt wurden, bitten wir gegebenenfalls ISBN 3-486-56715-2
um
Mitteilung.
Inhalt Vorwort.IX Danksagung und redaktionelle Hinweise.XI
Bernhard Chiari Die Heimatarmee als
Spiegelbild polnischer nationaler Identität.1 I. Die Heimatarmee und ihr historisch-mihtärisches Umfeld
Bernd Martin Barrieren Brücken Barrikaden. Historische Perspektiven deutsch-polnischer Nachbarschaft im 19. und 20. Jahrhundert.29 —
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Hans-Jürgen Bömelburg Die deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939 bis 1945.51 Wanda Krystyna Roman Die sowjetische Okkupation der polnischen Ostgebiete 1939 bis 1941.87 Grzegorz Mazur Der »Bund für den bewaffneten Kampf— Heimatarmee« und seine Gliederung.111 Marek Ney-Krwawicz Die Führung der Republik Polen im Exil.151 Andrzej Peplohski Die Aufklärung der Heimatarmee.169
Piotr Kolakowski Die Unterwanderung des polnischen Untergrundes durch den Nachrichtendienst und Sicherheitsapparat der UdSSR 1939 bis 1945.187 Wlodzimierz Borodziej Der Warschauer Aufstand.217
Grzegorz Mazur
Die Aktion »Burza«.255 Harald Moldenhauer Der sowjetische NKVD und die Heimatarmee im »Lubliner Polen« 1944/45.275
II.
Kriegsalltag
Majewski Konzept und Organisation des »zivilen Kampfes«.303 Janusz Marszalec Piotr
Leben unter dem Terror der Besatzer und das Randverhalten von Soldaten der Armia Krajowa.325 Martin Dean Polen in der einheimischen Hilfspolizei. Ein Aspekt der Besatzungsrealität in den deutsch besetzten ostpolnischen Gebieten.355
Jerzy Myszor
Die katholische Kirche und die Heimatarmee.369
Katja Höger
Frauen als Kombattanten.387 Waldemar Bednarski Das Gesicht des Krieges in der Gemeinde Kotlice (Kreis Zamosc) 1939 bis 1945.411 Lars Jockheck »Banditen« »Terroristen« »Agenten« »Opfer«. Der polnische Widerstand und die Heimatarmee in der Presse-Propaganda des »Generalgouvernements«.431 Anke Stephan »Banditen« oder »Helden«? Der Warschauer Aufstand in der Wahrnehmung deutscher Mannschaftssoldaten.473 Bernhard Chiari Kriegslist oder Bündnis mit dem Feind? Deutsch-polnische Kontakte 1943/44.497 —
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III. Regionen, Minderheiten und nationale Deutungen au\l=ss\erhalb Polens
Grzegorz Motyka Der polnisch-ukrainische Gegensatz in Wolhynien und Ostgalizien.531 Timothy Snyder Die Heimatarmee aus ukrainischer Perspektive.549 Kazimierz Krajewski Der Bezirk Nowogródek der Heimatarmee. Nationalitätenkonflikte und politische Verhältnisse 1939 bis 1945.563 Ivan P. Kren' Der Einsatz der Armia Krajowa auf dem Territorium Weißrußlands aus weißrussischer Sicht. Versuch einer Ortsbestimmung.585
Inhalt
VII
Sigizmund P. Borodin Die weißrussische Geschichtsschreibung und Publizistik und
die Heimatarmee in den nordöstlichen Gebieten der Republik Polen 1939 bis 1945.599 Piotr Niwiiiski Die nationale Frage im Wilnagebiet.617 Frank Golczewski Die Heimatarmee und die Juden.635
IV. Geschichtsbilder von der Heimatarmee in der polnischen Nachkriegszeit
Krzysztof Komorowski Facetten des polnischen militärischen Widerstandes und seine Aktualität. Versuch einer Einordnung.679 Andrzej Czeslaw Zak Militärische Traditionspflege in den polnischen Streitkräften.691 Krzysztof Lesiakowski Die Veteranen der Armia Krajowa und die »Partisanen« von Mieczyslaw Moczar in den sechziger Jahren.721
Rafal Habielski Die Soldaten der Heimatarmee in der Emigration.739 Tomasz Markiewicz Der Kampf um die Erinnerung. Denkmäler der Heimatarmee in Warschau seit 1945.753 Rafal Wnuk Die »Kolumbus-Generation«. Überlegungen zu einer kollektiven Biographie.777 Edmund Dmitrów unter Mtarbeit von Jerzy Kulak Der polnische »Historikerstreit« zur Armia Krajowa.807 Barbara Szacka Die Legende von der Armia Krajowa im kollektiven Gedächtnis der Nachkriegszeit.847
Anhang Zeittafel.865 Bildteil.881 Karten.895
Abkürzungen.903 Die polnische Heimatarmee Bibliographie 1945 bis 2002.913 Personenregister.935 —
Vorwort Wer seinen Nachbarn kennenlernen möchte, sollte sich mit dessen Geschichte befassen. Dies gilt um so mehr, wenn das Jahrhunderte währende Nebeneinander und Miteinander auch Phasen fürchterlicher Auseinandersetzungen und Verbrechen aufweist wie Krieg und Holocaust, aber auch die Vertreibungen der Nachkriegszeit. Mit dem vorliegenden Sammelband zu Geschichte und Mythos der polnischen Heimatarmee, herausgegeben von Bernhard Chiari, betritt das Militärgeschichtliche Forschungsamt wissenschaftliches Neuland. Das Buch macht erstmals Ergebnisse der polnischen und weißrussischen Grundlagenforschung zum Zweiten Weltkrieg einem breiteren deutschen Publikum zugänglich. Es präsentiert außerdem aktuelle Forschungsansätze aus Deutschland und aus dem angloamerikanischen Raum. Neben der Vermittlung (militär)historischer Erkenntnisse steht die Frage danach, welchen Stellenwert die Armia Krajowa und die polnische Untergrundgesellschaft im heutigen Polen haben. Der Sammelband behandelt außer der Geschichte auch den Umgang mit Geschichte. Dieser erfolgt in Polen nach anderen Regeln als in Deutschland. Das Projekt spiegelt auch diesbezüglich den Stellenwert wider, den die Kontakte zum NATO-Mitglied und zukünftigen EU-Land Polen in den letzten Jahren erhalten haben. Mit unserem Nachbarn sind wir in einen Dialog über die gemeinsame Geschichte eingetreten. Mehrere laufende Projekte tragen diesem Erkenntnisinteresse Rechnung. In den vergangenen zwölf Monaten haben der gegenseitige Austausch und die Zusammenarbeit nochmals einen deutlichen Aufschwung genommen. Polnische Historiker wurden als Gastwissenschafder am Militärgeschichtlichen Forschungsamt empfangen und konnten in einen direkten Austausch mit den Wissenschafdern des Hauses vor allem über die west- und ostdeutsche Nachkriegsgeschichte und die beiden Weltkriege treten. Besuche bei historischen Forschungseinrichtungen in Warschau dienten dem Kennenlernen und Zuhören. Der vorliegende Band ist ein erstes Ergebnis dieser Kontakte. Ich möchte in diesem Zusammenhang vor allem dem Deutschen Flistorischen Institut Warschau und seinem Leiter, Professor Dr. Klaus Ziemer, danken. Ohne die Unterstützung unseres Projektes durch Dr. habil. Jerzy Kochanowski und ohne die hervorragende Infrastruktur des DHI vor Ort wäre die Durchführung nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt außerdem Professor Eugeniusz Cezary Kröl, Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, der die Entstehung des Sammelbandes wohlwollend begleitet hat. Der ausführlichen Danksagung des Herausgebers an die zahlreichen internen und externen Projektmitarbeiterrinnen und Projektmitarbeiter möchte ich nicht —
Vorwort
X
Ich weiß aber um den besonderen Anspruch dieses Publikationsvorhabens und spreche hier stellvertretend allen Beteiligten, vor allem dem Herausgeber Bernhard Chiari und der Schriftleitung sowie dem verantwortlichen Lektor Michael Thomae meine Anerkennung für die geleistete Arbeit aus. Obwohl zwischen der deutschen und der polnischen Hauptstadt mehrmals täglich wieder der Berlin-Warszawa-Express verkehrt, sind die Verbindungen im umfassenden Sinne zwischen beiden Ländern erst im Entstehen begriffen. Die Geschichtswissenschaft bildet hier keine Ausnahme. Ich wünsche dem Herausgeber und seinem Buch, daß der Sammelband das Verständnis des deutschen Lesers für die polnische Nationalgeschichte und den Umgang mit ihr in Polen fördert. Außerdem hoffe ich auf eine positive Aufnahme der Arbeit im Wissenschaftsdiskurs und auf eine stimulierende Wirkung bezüglich weiterer Forschungsanstrengungen. Insofern ist dieser Band ein Schritt in einer Diskussion, die gerade erst begonnen hat.
vorgreifen.
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Dr. Jörg
Duppler Kapitän zur See und Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes
Danksagung und redaktionelle Hinweise vorliegende Sammelband zu Geschichte und Mythos der polnischen Heimathat sich im Verlauf der Arbeit als historisches Großprojekt erwiesen. 35 Aufsätze aus vier Sprachen waren inhaltlich, terminologisch und sprachlich aufeinander abzustimmen. Ziel war es, ein Buch und nicht nur eine Sammlung von Aufsätzen zu gestalten. Einigen Menschen gilt es an dieser Stelle besonders zu danken, und ich tue dies nach vielen Monaten intensiver gemeinsamer Arbeit mit großer FreuDer
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Ohne die Unterstützung zweier Kollegen wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. An erster Stelle ist Jerzy Kochanowski vom Deutschen Historischen Institut Warschau zu nennen, der das Projekt in Polen betreut hat. Bei der Suche nach Autoren und der Ausgestaltung des inhaltlichen Konzeptes hat sich Jerzy nicht nur als hervorragender Kenner der polnischen Geschichte des Zweiten Weltkriegs erwiesen, sondern in vielen, teils schwierigen Fällen auch als hervorragender Verhandlungsführer. Immer wieder hat er entstandene Mißverständnisse ausgeräumt und durch seine Kontakte, sein Fingerspitzengefühl und durch den Aufwand ungezählter Arbeitsstunden das Projekt am laufen gehalten und nach Stockungen und Ausfallen wieder flott gemacht. Dies alles ermöglichte Jerzy Kochanowski neben einer (erfolgreich abgeschlossenen) Habilitationsprüfung sowie zahlreichen anderen wissenschaftlichen Vorhaben, die parallel zum »AK-Sammelband« liefen. Sein Anteil an diesem Buch kann nicht hoch genug gewürdigt werden. Am Militärgeschichtlichen Forschungsamt hat Michael Thomae mit der redaktionellen Betreuung der Manuskripte gleichzeitig sein Gesellen- und Meisterstück als verantwortlicher Lektor abgeliefert. In zahlreichen Arbeitsgängen stellte er immer wieder seine professionellen Fähigkeiten unter Beweis, aus Rohübersetzungen im Deutschen lesbare und verständliche Texte zu machen. Dabei war die enge Zusammenarbeit zwischen Herausgeber und Lektor über viele Monate nicht nur reibungslos, sondern auch ein Vergnügen. Michael Thomae mußte neben sehr speziellen Anforderungen des Lektorats und dem Gefühl für die polnischen und russischen Originale vor allem große Ausdauer entwickeln, und er hat selbst nach vielen Korrekturdurchgängen noch die Energie aufgebracht, unlogische Sachverhalte und komplizierte Begriffe zu klären, die dem Herausgeber entgangen waren. Stellvertretend für das große Team der Schriftleitung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes danke ich deren Leiter Arnim Lang, der den langwierigen Prozeß der Erfassung und Herstellung koordinierte und vor allem in der letzten Phase
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Danksagung und redaktionelle Hinweise
immer mehr auch selbst mit Hand anlegte. Arnim Lang und seinen Mitarbeitern ist es zu verdanken, daß dieses Buch zum geplanten Termin erscheinen kann, und daß selbst in den letzten Tagen vor der Fertigstellung (Weihnachten 2002) in seiner Schriftleitung zwar Konzentration, aber niemals Aufregung herrschte. Im Verlauf der letzten Monate wuchs um das Projekt herum aus einer Gruppe von Fachleuten vielmehr eine Mannschaft zusammen, die gemeinsam auf die Erreichung eines Zieles hinarbeitete und den Herausgeber in jeder Weise vorbildlich unterstützte. Ich weiß den Unterschied zwischen einer Gruppe und einer Mannschaft sehr zu schätzen, und es war ein große Freude für mich, dieses Buch unter solchen Bedingungen abschließen zu können. Wichtige Stützen des Teams waren Bernd Nogli, der die Karten im Anhang gezeichnet, und Maurice Woynoski, der für die Bildbearbeitung Sorge getragen sowie Marina Sandig, die sich um die Bildrechte gekümmert hat. Carola Klinke trug die Hauptlast der Textgestaltung. Anna Zinserling (verantwortliche Redakteurin der deutschen Ausgabe der Zeitschrift »Karta. Zeitzeugnisse aus Ostmitteleuropa«, Berlin) hat als polnische Muttersprachlerin die Durchsicht der Manuskripte übernommen und dabei viel Mühe auf die Recherche teils entlegenster bibliographischer Angaben oder terminologischer Probleme verwandt. Sie organisierte die Bildrecherche in verschiedenen polnischen Archiven über das Karta-Archiv in Warschau und ersparte uns damit viele lange Wege. Ihr gebührt ein Ehrenplatz im Team. Mein Kollege Gennadij Saganovic (Minsk) erleichterte mir die Kommunikation mit den beiden weißrussischen Autoren. Im Verlauf eines Forschungsvorhabens besteht immer die Gefahr, den Abstand zum Thema zu verlieren; ich danke deshalb allen, die versucht haben, mich davor zu bewahren. Frank Nägler und Matthias Rogg (beide im Militärgeschichtlichen Forschungsamt) sowie Hubertus F. Jahn (Clare College, Cambridge) waren mir in diesem Zusammenhang wichtige Gesprächspartner und hatten in kameradschaftlicher Weise auch ein Auge auf meine eigenen Manuskripte. Frank Golczewski (Universität Hamburg) erklärte sich in der Konzeptionsphase nicht nur bereit, einen zentralen Beitrag für dieses Buch zu übernehmen, sondern vermittelte mir während eines langen Gespräches in Hamburg wertvolle Hinweise und Einschätzungen zur allgemeinen Relevanz des Themas. Sein freundlicher Rat und seine Erfahrung waren auch in der Folge eine große Hilfe für mich. Gleiches gilt für Eugeniusz Cezary Kröl (Wissenschaftliches Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Berlin), der die Entstehung dieses Buches wohlwollend begleitet und auf vielfältige Weise gefördert hat. Last not least danke ich Hans-Erich Volkmann, dem scheidenden Leiter der Abteilung Forschung am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, der sich selbst wiederholt mit Fragen der polnischen Geschichte wissenschaftlich auseinandergesetzt hat; er gab mir die Möglichkeit, mein Projekt hier im Hause zu verfolgen und zu realisieren. Karin K. Hepp (Militärgeschichtliches Forschungsamt) organisierte die Rohübersetzung der Beiträge und sorgte für reibungslose Zusammenarbeit mit verschiedenen Abteilungen des Sprachendienstes der Bundeswehr. Alle Übersetzerinnen und Übersetzer sind im Anschluß an die jeweiligen Beiträge genannt. Mein Kollege Kurt Arlt ließ immer wieder ohne Murren zahlreiche Nachfragen zu Über-
Danksagung und redaktionelle Hinweise
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Setzungsproblemen über sich ergehen und mich von seiner Vertrautheit mit der polnischen Sprache profitieren. Die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit (Fundacja Wspölpracy Polsko-Niemieckiej, FWPN) in Warschau gewährte einen Zuschuß, der in die Autorenhonorare mit eingeflossen ist. Auch hierfür möchte ich herzlich danken. Zu guter letzt gilt mein Dank meiner Frau Julia und meinem Sohn Constantin, der neun Monate vor dem Sammelband auf die Welt kam. Beide haben mir in der Phase des Schreibens und Redigierens liebevoll den Rücken gestärkt, selbst wenn sich die Armia Krajowa nicht immer an normale Arbeitszeiten hielt. Julia ist dieses Buch gewidmet. ***
Gegenstand des Sammelbandes macht einige editorische Hinweise notwendig. Angesichts unübersichtlicher ethnischer, politischer und sprachlicher Strukturen in Ostmittel- und Osteuropa sowie durch die nationale und emotionale Befrachtung des Zweiten Weltkrieges und seiner Grenzziehungen gibt es für manche Probleme der Terminologie oder bei der Verwendung von Ortsund Eigennamen keine »richtigen« Lösungen. Mit Blick auf Einheitlichkeit und Lesbarkeit mußte ich viele dieser Fragen dennoch grundsätzlich klären. Polnische Orts- und Eigennamen sind in ihrer polnischen Form belassen, auch wenn sie wie in den ursprünglich russischsprachigen Beiträgen von den Verfassern in ihrer russischen Form genannt werden. Dabei habe ich mich an der polnischsowjetischen Grenze von 1939 orientiert. So wird die Stadt Baranowicze (russ. Baranovici, weißruss. Baranavicy) für die gesamte Kriegszeit stets in ihrer polnischen Form genannt, auch wenn sie seit der sowjetischen Besetzung vom September 1939 Teil der Weißrussischen Sowjetrepublik bzw. der Republik Belarus' ist. Um eine möglichst hohe Authentizität der Texte zu erreichen, sind Straßennamen und einige geographische Bezeichnungen ebenfalls in der polnischen belassen Originalform (plac Jo\efa Pitsudskiego anstatt Jozef-Pilsudski-Platz oder Forst von Naliboki). anstatt Nalibocka Pus^c^a Sind eingebürgerte deutsche Namen vorhanden (Warschau für Warszawa, Krakau für Krakow etc.), werden diese verwendet ebenso wie in Polen der Gebrauch polnischer Namensvarianten (Londyn für London, Lipsk für Leipzig etc.) selbstverständlich ist. Dieses Verfahren findet auch in den Karten im Anhang Anwendung. Eine Ausnahme bilden Organisationsbezeichnungen. So bleibt der Lemberger Bezirk der Heimatarmee der »Bezirk Lwow«. Politische Implikationen liegen mir hierbei gänzlich fern, zumal der Umgang mit diesen dem Gang durch ein Minenfeld gleicht. Sowjetische Organisationsbezeichnungen und Namen sind in russischer Sprache und der wissenschaftlichen Transliteration folgend wiedergegeben. Dies entspricht den Verhältnissen in der UdSSR während des Zweiten Weltkriegs. Ein vollständiges Abkürzungsverzeichnis sowie eine Konkordanz der wichtigsten übersetzten Begriffe befindet sich im Anhang. Letztere wuchs im Verlauf der ArDer
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Danksagung und redaktionelle Hinweise
ständig auf und diente als Grundlage für die Vereinheitlichung der Terminologie in allen Aufsätzen. In den Anmerkungen erfolgen sämtliche Literaturangaben in der Originalsprache (russische, weißrussische und ukrainische Literatur jeweils in der wissenschaftlichen Transliteration), jedoch nach deutscher Zitierweise. Nationale Eigenarten beim Zitieren (im Polnischen meist keine Seitenzahlen bei Zeitungsartikeln, im Russischen Verwendung von Initialen anstelle der Vornamen) waren nicht in allen Fällen in ein einheitliches Schema zu bringen. Einige bibliographische Angaben konnten weder die Autoren, noch, von Seiten der Redaktion, detektivischer Spürsinn oder das Internet zutage fördern. Eine ganz ausgezeichnete Recherchemöglichkeit hält übrigens der Verbund KaRo (Katalog Rozproszony Bibliotek Polskich; http://karo.umk.pl) bereit, der die problemlose Literatursuche in allen wichtigen polnischen Bibliotheken ermöglicht und dem deutschen Benutzer neben einer englischsprachigen Suchmaske auch die korrekte Darstellung polnischer beiten
Sonderzeichen bietet. Der Anhang enthält eine systematische polnische Auswahlbibliographie, in der sämtliche Titel übersetzt sind. Spezialliteratur in den Beiträgen selbst wurde hingegen in der Originalsprache belassen. Eine Ausnahme bilden Archivalien und Beiträge in unzugänglichen, meist zeitgenössischen Periodika, denen jeweils eine deutsche Übersetzung nachgestellt ist. Um Redundanzen zu vermeiden, waren in den meisten Beiträgen Kürzungen und Straffungen unumgänglich. Hier wie bei der Wiedergabe im Deutschen war oberste Maxime nicht die wortwörtliche Übereinstimmung von Original und Übersetzung, sondern die Verständlichkeit und Lesbarkeit des deutschen Textes. In Fällen, wo die Terminologie im Polnischen oder Russischen falsche Assoziationen wecken würde, haben wir nach deutschen Entsprechungen gesucht, die dem Sachverhalt gerecht werden, auch wenn dabei mitunter von der direkten Übersetzung abgewichen werden mußte. Gleiches gilt für sprachlich bedingte Besonderheiten des Satzbaues, die möglichst behutsam in eine im Deutschen gut lesbare Form überführt wurden. Allen Mitarbeitern an diesem Sammelband danke ich diesbezüglich für ihr Verständnis. Bernhard Chiari
Potsdam, im Dezember 2002
Bernhard Chiari
Die Heimatarmee als
Spiegelbild polnischer nationaler Identität Dieses Buch erzählt von der Geschichte und vom Mythos der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa). Diese war, geführt von einer polnischen Exilregierung zunächst in Frankreich (Angers) und später in London, während des Zweiten Weltkrieges mit bis zu 400 000 Angehörigen die zentrale Trägerin des bewaffneten Widerstandes in Polen. Sie vereinnahmte die meisten anderen, politisch stark heterogenen Untergrundgruppierungen im besetzten Land und ist wie keine andere Organisation zum Synonym für die militärischen Leistungen des polnischen Untergrundes geworden bis 1943 vor allem in der Form von Aufklärung und Diversion, in der letzten Phase des Krieges dann zunehmend durch den Einsatz größerer militärischer Formationen. Ab Sommer 1944 zerschlugen die Rote Armee und der sowjetische NKVD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) die Einheiten der Armia Krajowa. Im Rahmen umfangreicher »Säuberungen« verhafteten oder exekutierten sie deren Führerkorps, entwaffneten die Mannschaften oder gliederten sie in sowjettreue Verbände ein. Im folgenden wird die Entwicklung der Armia Krajowa und ihrer Vorgängerorganisationen seit 1939 nachgezeichnet. Dabei soll die Frage beantwortet werden, was die Heimatarmee war, und worin im militärischen wie politisch-moralischen Sinne ihre Leistung für Polen und die polnische Gesellschaft bestand. Allein schon die militärgeschichtliche Dimension der Ereignisse lohnte die Nachfrage von Historikern1. Die Armia Krajowa war aber, ähnlich wie die sowjeti—
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Zur polnischen Literatur in der Volkrepublik und im Exil sowie nach 1990 vgl. die Bibliographie im Anhang. Die wenigen deutschsprachigen SpezialStudien zur Armia Krajowa konzentrieren sich auf den Warschauer Aufstand, etwa Wlodzimierz Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a.M. 2001; Der Warschauer Aufstand 1944, hrsg. von Bernd Martin und Stanislawa Lewandowska, Warschau 1999; Hanns von Krannhals, Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a.M. 1962. Der Warschauer Aufstand wird häufig verwechselt mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto, den die »Jüdische Kampforganisation« unter Mordechai Anielewicz als Reaktion auf die am 19.4.1943 einsetzende Deportation von 60 000 noch im Ghetto verbliebenen Juden in die Vernichtungslager begann. Trotz fehlender Waffen und Munition und mangelnder Unterstützung seitens des polnischen Widerstandes kämpften die jüdischen Aufständischen bis zum Mai 1943. SS-Gruppenführer und Generalmajor der Polizei Jürgen Stroop meldete am 16.5.1943 die erfolgreiche Liquidierung des »jüdischen Wohnbezirkes«, vgl. hierzu den photomechanischen Druck des Stroop-Berichts: Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr, Vorwort von Andrzej Wirth, Neuwied, Berlin, Darmstadt 1960. Von insgesamt fast einer halben Million jüdischer Ghettobewohner überlebten nur einige tausend den Krieg, vgl. aus der schier unüber—
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Bernhard Chiari
mehr als nur eine bewaffnete Organisation2. Ihr helletztlich chancenloser denhafter, doch Kampf gegen die deutsche Wehrmacht und die Sicherheitsorgane der Besatzungsmacht, gegen Mord und Terror, »Eindeutschung« und »Umvolkung« nach den Plänen der nationalsozialistischen Rassensehe
Partisanenbewegung,
ideologen machte sie zu einer Ikone, zum leuchtenden Sinnbild der polnischen Nationalgeschichte. Dies erklärt die Bedeutung, welche der Heimatarmee im kol-
lektiven Gedächtnis Polens bis heute zukommt. Die in Deutschland bekannteste Leistung der Armia Krajowa ist ihr Einsatz während des Warschauer Aufstandes vom 1. August bis 2. Oktober 1944. 36 000 mangelhaft ausgerüstete Kämpfer boten deutschen Eliteeinheiten unter Führung des Generals der Waffen-SS Erich von dem Bach-Zelewski, enthemmten Killerkommandos wie dem berüchtigten Sonderverband von Dr. Oskar Dirlewanger (zuletzt SS-Oberführer) und der SSSturmbrigade RONA (Russkaja OsvoboditePnaja Narodnaja Armija) unter Mieczyslaw Kamiñski die Stirn. Diese legten Warschau in Schutt und Asche und töteten vermutlich 16 000 Kämpfer der Armia Krajowa und bis zu 150 000 Zivilisten. Insbesondere der Warschauer Aufstand verlieh der Heimatarmee im Exil wie im kommunistischen Nachkriegspolen einen mythischen Nimbus und umgab deren Helden mit einer märchenhaften Gloriole. Die Heimatarmee geriet im Kriegsverlauf in einen Kampf hinein, der um die Neuaufteilung Europas geführt wurde. Sie kämpfte nicht nur in Warschau und im übrigen deutsch besetzten sogenannten Generalgouvernement. Ihre Formationen waren auch auf dem polnisch, ukrainisch, weißrussisch, jüdisch und litauisch besiedelten Territorium präsent, das seit dem Frieden von Riga 1921 als »Östliche Grenzmarken« (Kresy Wschodnie) Teil Polens war, und das die Sowjetunion 1939 infolge des Hitler-Stalin-Paktes annektiert und der Weißrussischen, Ukrainischen bzw. Litauischen SSR (Wilnagebief) einverleibt hatte. Die Armia Krajowa geriet seit 1943 zunehmend zwischen die Fronten und kämpfte gegen mindestens zwei Feinde, nämlich gegen die deutschen Besatzungstruppen und die Rote Armee. Die sowjetische Führung um Iosif Stalin machte in der letzten Kriegsphase gegenüber ihren westlichen Verbündeten (zu denen übrigens bis 1943 auch die Londoner Exilregierung und damit die Armia Krajowa als deren bewaffneter Arm zählten) kaum mehr ein Hehl daraus, daß sie einen polnischen Staat nicht in den Grenzen der Zweiten Polnischen Republik wiederherstellen würde, sondern die Kresy dauerhaft als sowjetisches Territorium betrachtete. Und anders als die sowjetische Partisanenbewegung, die zwar im deutsch besetzten Gebiet operierte, aber als Teil der Roten Armee von Moskau aus geführt und vor allem versorgt wurde, war die
schaubaren Literatur 1943, München 1993.
Wolfgang
Scheffler und
Helge Grabitz,
Der Ghetto-Aufstand Warschau
Vgl. zur sowjetischen Partisanenbewegung und ihrer Deutung im Überblick Bernd Bonwetsch, Sowjetische Partisanen 1941-1944. Legenden und Wirklichkeit des »allgemeinen Volkskrieges«, in: Partisanen und Volkskrieg. Zur Revolutionierung des Krieges im 20. Jahrhundert, hrsg. von Gerhard Schulz, Göttingen 1985, S. 92-124; Lutz Klinkhammer, Der Partisanenkrieg der Wehrmacht 1941-1944, in: Die Wehrmacht. Mythos und Realität, hrsg. von Rolf-Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann, München 1999, S. 815-836.
Die Heimatarmee als
Spiegelbild polnischer nationaler Identität
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Heimatarmee in ihrem Kampf auf sich allein gestellt3. Gan% Polen war besetzt, ein polnischer Staat existierte selbst im nationalsozialistischen »Generalgouvernement« nicht einmal ansatzweise. Eine polnische Exilregierung mit lange unklarem Status erteilte der Untergrundarmee Befehle, häufig ohne auch nur über zuverlässige Lageinformationen aus allen Regionen und geeignete Führungsmittel zu verfügen. Bei ihrer Suche nach rüstungstechnischer und militärischer Hilfe bei den Alliierten war sie in der Realität auf die Rolle eines mitunter lästigen Bittstellers verwiesen, der das ohnehin schwierige Verhältnis zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion noch komplizierter machte. Der Mangel an Waffen und Munition blieb während des ganzen Krieges das zentrale Problem für die Operationsführung in der Konspiration. In verschiedenen Regionen entwickelten zudem die Verbände der Armia Krajowa und ihre Führer ein Eigenleben. Die Heimatarmee bestand aus Gruppen unterschiedlichster Couleur. Abweichend von verklärenden Darstellungen kann somit von der Untergrundarmee nur bedingt gesprochen werden. Die Armia Krajowa focht heldenhaft, mußte sich aber den deutschen und dann endgültig den sowjetischen Truppen geschlagen geben. Letztere brachen 1944 den »polnischen nationalistischen Widerstand« im befreiten Gebiet und begannen mit ethnischen Säuberungen (Repatriierungen), die Polen gemeinsam mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung bis 1947 zu einem mehr oder weniger ethnisch homogenen Nationalstaat machten. Ein gleiches Schicksal traf die Weißrussen und Ukrainer in Polen, die in den sowjetischen Osten »umgesiedelt« bzw. zum Zwecke der Assimilation unter polnischen Neusiedlern in den ehemals deutschen Gebieten zerstreut wurden. Die polnische Judenheit war zu großen Teilen emigriert oder in den nationalsozialistischen Todeslagern umgekommen. Auf der Grundlage kommunistischer Widerstandsorganisationen wie der Armia Ludowa (Volksarmee) und polnischer Truppen, die unter sowjetischer Führung in der UdSSR aufgestellt worden waren und nun gemeinsam mit der Roten Armee Polen befreiten, entstanden in den Jahren nach Kriegsende volkspolnische Streitkräfte. Für sie waren die »nationalistische« Armia Krajowa, von den kommunistischen Behörden verunglimpft als »Sudelgnom der Reaktion«, ebenso wie die »bourgeoise« polnische Exilregierung in London keinesfalls traditionswürdig. Bereits diese einleitenden Sätze lassen ahnen, wie kompliziert der Umgang Polens mit einem zentralen Thema seiner Mlitärgeschichte des 20. Jahrhunderts bis heute ist. Die Heimatarmee oder besser: ein idealisiertes und überhöhtes Bild von ihr ist nach einer Periode der Verteufelung über die Jahre zu einem nationalen Symbol geworden. Sie verkörpert Allgemeingültigkeit beanspruchende und in der polnischen Geschichte zentrale Werte wie Mut, Opferbereitschaft, Heldentum und Vaterlandsliebe. Die Armia Krajowa schon ihr Name trägt im Polnischen all diese Werte in sich ging im Zweiten Weltkrieg angesichts zweier übermächtiger Feinde mit wehenden Fahnen unter, sie verkörperte aber gleichzeitig einen gewaltigen moralischen Sieg: das physische und moralische Überleben der polnischen —
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Vgl.
zum Aufbau der sowjetischen Partisanenbewegung und zu ihrer logistischen Basis die klassische Darstellung von Pantelejmon K. Ponomarenko, Vsenarodnaja bor'ba v tylu nemecko-fasistskich zachvatcikov 1941 -1944, Moskva 1986.
Bernhard Chiari
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Untergrund. Dieser Sieg war allen Polen nicht nur bekannt, sondern etwa in Warschau den Überlebenden des Krieges an jeder Straßenecke der fast total zerstörten Stadt überdeutlich vor Augen. Das ganze Land war überzogen mit den Gräbern gefallener Widerstandskämpfer. Dennoch haben die kommunistischen Machthaber zumindest bis zum Ende der Stalinära die Rolle der Heimatarmee tabuisiert oder zumindest verzerrt dargestellt, obwohl auch polnische Kommunisten während des Krieges der Armia Krajowa angehört hatten, und damit wiederum zu ihrer Mystifizierung beigetragen. Für viele Polen hat die Armia Krajowa über Jahrzehnte und verschiedene Phasen des polnischen Kommunismus hinweg die Tradition des »alten«, des »wahren« Polen verkörpert. Diese Tradition war zum Teil auch innerhalb des kommunistischen Staatsapparates oder in den Streitkräften lebendig. Es ist überaus schwierig, hier klare weltanschaulich definierte Grenzen zu ziehen. Selbst in der Sowjetära, in Spätstalinismus und »Tauwetter«, zur Hochzeit der Volksrepublik Polen in den späten siebziger Jahren, innerhalb der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung »Solidarnosc« oder während des im Dezember 1981 von General Wojciech Jaruzelski verhängten Kriegsrechtes bildete die Heimatarmee einen patriotischen Be-
Gesellschaft im
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zugspunkt.
Ein einzelnes Ereignis illustriert den Stellenwert, den ihre legitime Tradition außerhalb Volkspolens wie auch innerhalb der polnischen Gesellschaft hatte: Während der gesamten Zeit der Volksrepublik wurde in London das Amt des Exilpräsidenten ununterbrochen weitergegeben. Diese Geste drückte den Anspruch auf die Legitimität der Präsidentschaft seit den Tagen des deutschen Überfalls aus. Der letzte der Exilpräsidenten, Ryszard Kaczorowski, brachte nach dem Sturz der Kommunisten die präsidialen Vorkriegsinsignien von London nach Warschau. Er übergab sie dort an Lech Walçsa, den ehemaligen Funktionär der Gewerkschaft »Solidarnosc«, der am 22. Dezember 1990 sein Amt als Präsident der Republik Polen antrat.
Die aufgeteilte Nation: Der polnische Mythos der Teilungszeit Um die Geschichte der Armia Krajowa, aber vor allem ihre emotionale Befrachtung zu verstehen, ist die Kenntnis einiger historischer Entwicklungen und ständig wiederkehrender Motive hilfreich. Damit die Ansätze auch für jene Leser greifbar werden, die nicht mit der polnischen Geschichte vertraut sind, sollen zunächst
einige zentrale Bezugspunkte polnischen nationalen stellt werden.
Hierzu zählen
vor
allem die Geschichte und der
Selbstverständnisses vorange-
Mythos
der
Teilungszeit (vgl.
Übersichtskarte im Anhang). Norman Davies beschreibt in seiner großartigen
Erzählung von
der Geschichte Polens für die Zeit
vor
dem Ersten
Weltkrieg
die
Die Heimatarmee als
Spiegelbild polnischer nationaler Identität
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Manifestationen polnischen Patriotismus' in drei unterschiedlichen Staaten4. In der Tat: Polnische Soldaten des Zaren hatten bis zum Untergang des Russischen Reiches die russische, und nicht die polnische Fahne zu grüßen. Warschau war die Hauptstadt eines »Königreichs Polen«, dessen Krone jedoch in Personalunion der russische Zar trug, der sich dort durch einen Statthalter vertreten ließ. Im August 1831 schlugen die Truppen von General Ivan F. Paskevic einen nationalen Aufstand nieder, der sich seit 1830 über Monate gegen ein deutlich überlegenes russisches Heer behauptet hatte. Nikolaus I. setzte am 14. Februar 1832 das »Organische Statut« in Kraft, das Polen »für immer« zu einem unabtrennbaren Teil des Russischen Reiches erklärte5. Die Angst der russischen Autokratie vor der »polnischen Gefahr« bewirkte in der Folge eine Politik der Unterdrückung gegenüber dem bis dato weitgehend autonomen Königreich Polen, die nach einem neuen Aufstand 1863/64 in eine radikale Russifizierung mündete. Freilich waren zugleich viele Polen loyale Untertanen und Mitgestalter des russischen Staates. Polnische Intellektuelle spielten eine von den Behörden mißtrauisch beargwöhnte, aber vielfach durchaus erfolgreiche Rolle in den Milieus und literarischen Zirkeln St. Petersburgs6. Polen stellten zur Jahrhundertmitte drei Prozent der Beamten im Zarenreich, und der Anteil polnischer Offiziere in der russischen Armee lag vor dem Ersten Weltkrieg bei zehn Prozent7. In Preußen war nach dem Gebietszuwachs infolge der Dritten Polnischen Teilung von 1795 jeder dritte Einwohner des Landes Pole. Der preußische Adler thronte über Behördeneingängen, Schulen und Kasernentoren, und trotz romantischer »Polenschwärmerei« im frühen 19. Jahrhundert und wiederholter Annäherung hat die deutsche Politik weder vor noch nach der Reichsgründung von 1871 tragfähige Lösungen für den Umgang mit der polnischen Minderheit gefunden8. Deutsche und Polen lebten vor dem Ersten Weltkrieg zwar in manchen Regionen weniger spannungsreich zusammen als in anderen, blieben insgesamt aber doch sozial wie kulturell mehr oder weniger getrennt voneinander. Trotz Wahlrecht waren die Polen in Preußen und Deutschland Staatsbürger zweiter Klasse. Die deutsche Angst vor einer polnischen »Gegennation« und eine Polenpolitik, bestehend aus Repression und Germanisierung, mobilisierten auf beiden Seiten immer
Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, 3. Aufl., München 2002 (engl.: Heart of Europe. A Short History of Poland, Oxford, New York 1984). Vgl. Valentin Gitermann, Geschichte Rußlands, Bd 3, Frankfurt a.M. 1987 [Erstausgabe 1949], S. 37-46. Vgl. Bernhard Chiari, Das »polnische Scheusal«. Faddej Venediktovic Bulgarin in St. Petersburg (1789-1859), in: St. Petersburg Leningrad St. Petersburg. Eine Stadt im Spiegel der Zeit, hrsg. von Stefan Creuzberger [u.a.], Stuttgart 2000, S. 63-81. Daniel Beauvois, Le noble, le serf, et le révizor. La noblesse polonaise entre le tsarisme et les masses ukrainiennes (1831-1863), Paris 1985; Zahlenangaben nach: Maria Rohde, Polen, in: Studienhandbuch Östliches Europa, Bd 2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion, hrsg. von Thomas M. Bohn und Dietmar Neutatz, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 413-416, hier S. 414. Vgl. Klaus Zernack, Preußen Deutschland Polen. Aufsätze zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, hrsg. von Wolfram Fischer, 2. Aufl., Berlin 2001. —
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mehr Verfechter eines militanten Nationalismus und förderten auf polnischer Seite den Wunsch nach einem eigenen Nationalstaat9. Am ehesten noch im Vielvölkerstaat der Habsburger fanden die Polen die Möglichkeit kultureller Autonomie. Die Städte Krakau und Lemberg waren Teil des »Königreiches Galizien und Lodomerien mit dem Erzherzogtum Krakau und den Herzogtümern Auschwitz und Zator«, kurz als Galizien bezeichnet, im Westen mit einer polnischen Bevölkerungsmehrheit und einem starken jüdischen Anteil in den Städten, im Osten mit einer »ruthenischen« (ukrainischen) Bevölkerungsmehrheit bei polnisch-jüdischer Dominanz in den städtischen Zentren. In Galizien richtete sich seit dem Aufgeklärten Absolutismus Joseph II. die staatliche Politik weniger gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe als vielmehr auf die »Modernisierung« der Region und auf ihre Anbindung an die übrige Monarchie. Wenn in Joseph Roths romantisierendem »Radetzkymarsch« kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs Polen, Juden und »Ruthenen« in den österreichischen Regimentern an der russischen Grenze dienten, so spiegelt dies die sprichwörtliche Loyalität der galizischen Landbevölkerung und Juden gegenüber dem Herrscherhaus wider: Polnische wie ruthenische Bauern waren 1846 eine verläßliche Stütze im Kampf der Habsburger gegen polnische Grundherren, die einen Aufstand für die Wiederherstellung der »Rzeczpospolita« (der polnischen Republik, der res publica) anzettelten. In Galizien war freilich die Ablehnung der österreichischen Staatsmacht durch die polnische Elite wohl auch deshalb nicht so entschieden wie in Preußen oder gar im Russischen Reich, weil sie zunehmend von einem polnischruthenischen Antagonismus und der Auseinandersetzung mit dem aufkommenden ukrainischen Nationalismus überlagert wurde, der von der Mitte des W.Jahrhunderts bis zu den brutalen Auseinandersetzungen des Zweiten Weltkriegs eine Grundkonstante in der Region bildete11'. Der polnische Patriotismus entwickelte sich in Wechselwirkung mit den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Teilungszeit, während sich die Adelsnation zu einer Volksnation wandelte. Polen war keine verspätete, sondern eine aufgeteilte Nation, und dennoch hörte die polnische Gesellschaft niemals auf, sich als Einheit zu begreifen trotz der sehr unterschiedlichen Bedingungen in Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland. Im 19. Jahrhundert wurde vielmehr die Vorstellung von der Unrechtmäßigkeit der Teilungen und von der Rechtmäßigkeit des polnischen Anspruches auf die Freiheit der polnischen Nation in der Oberschicht zur allgemein akzeptierten Prämisse. In der Teilungszeit bildeten sich funktionierende Strukturen einer polnischen Untergrundgesellschaft heraus, die das sprachliche, kulturelle und moralische Überleben sicherten11. Diesbezügliche Anstrengungen unternahmen vor allem die Angehörigen der polni—
Im Überblick vgl. Thomas Nipperdev, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 266-281. Anna Veronika Wendland, Galizien: Westen des Ostens, Osten des Westens, in: Ukraine. Geographie Ethnische Struktur Geschichte Sprache und Literatur Kultur Politik Bildung Wirtschaft Recht, hrsg. von Peter Jordan [u.a.], Frankfurt a.M. [u.a.] 2001 (= Osthefte, Sonderbd 15, Reihe zu »Österreichische Osthefte«), S. 389-421, hier S. 404-414. Vgl. Piotr Wandycz, The Lands of Partitioned Poland, 1795-1918, Seatde 1975. -
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Spiegelbild polnischer nationaler Identität
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sehen Intelligenzija, die ehemalige Adelselite, welche die 1795 untergegangene Welt der Adelsrepublik verkörperte. Die reale Erfahrung der Unterdrückung und vom Leben im Untergrund, außerhalb der von der jeweiligen nichtpolnischen Staatsmacht bereitgestellten Strukturen, erfuhr eine Verklärung und Überhöhung12. Patriotismus erhielt eine religiöse Dimension, von der Norman Davies sagte, sie habe »auf einem System irrationaler Überzeugungen [beruht], die man nur in einem Glaubensakt übernehmen konnte, und diese Überzeugungen sollten als Anleitung für das tägliche Leben in einer feindlichen, gleichermaßen irrationalen Welt dienen«13.
Die
Entstehung der »Zweiten Republik«
Zwischen 1918 und 1921 erstand aus den Trümmern der untergegangenen Reiche ein neuer polnischer Staat. Ein Blick auf die in diesem Band enthaltene Karte zur Entstehung der Zweiten Republik veranschaulicht zweierlei: Erstens verschwammen im polnischen Fall die Grenzen zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit, dominiert durch bodenständige militärische Gewalt und die Interventionen der Ententemächte beim Kampf um die politische Neuordnung der Region. Zweitens entstand in den Jahren bis zum Frieden von Riga im März 1921 zwar ein einheitliches Staatsgebilde, welches aber seinerseits für Ostmitteleuropa typische ethnische, kulturelle und religiöse Mischgebiete vereinnahmte. Polnisch wurden so unterschiedliche Landschaften wie das schlesische Herzogtum Teschen, Oberschlesien oder das österreichische Westgalizien. Von Rußland übernahm Polen die zu Kriegsende deutsch und österreichisch besetzten Gebiete des Königreichs Polen und besetzte im Juli 1919 auch das von ukrainischer Seite beanspruchte Ostgalizien (1923 bestätigt vom Völkerbund). Der Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 sprach dem neuen Staat neben dem Großherzogtum Posen (von Preußen großenteils abgefallen nach dem Posener Aufstand vom 26. Dezember 1918) weitere Gebiete um die Städte Bromberg und Thorn zu, und nach einer Volksabstimmung vom Juli 1920 kamen einige Dörfer aus dem preußischen Grenzgebiet hinzu14. Eine Botschafterkonferenz vom Juli 1920 machte Teile der ungarischen Gebiete Orawa und Zips zu Territorien polnisch Westgaliziens. Polnisches Militär besetzte im Oktober 1920 das ehemals russische sogenannte Mittel-Litauen um Wilna. Ethnisches Mischgebiet waren die vormals russischen Gebiete um Pinsk, BrestLitowsk und Bialystok, bis Februar 1919 von der deutschen Armee besetzt, im polnisch-sowjetischen Krieg von 1919/20 Schlachtfeld, und im Frieden von Riga am 18. März 1921 Polen zuerkannt15. Die vier Wojewodschaften Wilna, Nowo12 13 14
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Klaus Zernack, Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994, S. 407. Davies, Im Herzen Europas (wie Anm. 4), S. 245. Janowo, Napromek, Grunwald, vgl. Karte im Anhang. Unter dem Aspekt des Minderheitenschutzes behandelt die Entstehung des polnischen Staates Jens Boysen, Die polnischen Optanten: Ein Beispiel für den Zusammenhang von Krieg und völ-
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gródek, Polesie und Wolyh (Wolhynien) umfaßten litauisches, ukrainisches, weißrussisches und polnisches Siedlungsgebiet mit starken jüdischen Bevölkerungsanteilen in den Städten. In der Bauernbevölkerung war die Ansicht verbreitet, jenseits ethnischer und sprachlicher Grenzen »auf Bauernart« (po muzycki) zu sprechen16. Die konstitutionelle Periode und die Sanacja Józef Pilsudskis
Dieser kurze historische Abriß illustriert die inneren und äußeren Rahmenbedingungen, unter denen die Zweite Polnische Republik aus der Taufe gehoben wurde. Ihre Geschichte bis 1926 war, stark vereinfacht, von der Auseinandersetzung zwischen dem nationaldemokratischen Lager und der Bewegung Józef Pilsudskis geprägt. Diese vollzog sich vor 1921 zunächst auf vorkonstitutioneller Grundlage und zwischen 1921 und 1926 in wechselnden Koalitionsregierungen in einer unübersichtlichen Parteienlandschaft. Die stärksten Kräfte im Land bildeten die Nationaldemokraten, Sozialisten, Bauern und Christdemokraten, umgeben von einer Vielzahl ständig wechselnder Vereine, Verbände und anderer gesellschaftlicher Einrichtungen. Die von Roman Dmowski, dem aufstrebenden Warschauer Bürgertum des 19. Jahrhunderts entstammend, dominierte Nationaldemokratie (Endecja) mit ihren Hochburgen in Posen und Lemberg umfaßte selbst ein breites Spektrum politischer Ansichten. Sie ging aus der 1893 von Dmowski gegründeten Nationalen Liga hervor, die seit 1897 als Nationaldemokratische Partei (SND), seit 1919 als Nationaler Volksverband (ZLN) und seit 1928 als Nationale Partei (SN) um die Macht im Staat kämpfte, um dann zwischen 1926 bis zu ihrer Auflösung 1933 als Großpolnisches Lager (OWP) die Kräfte der rechten Opposition zu bündeln.17 Auf den Machtkampf zwischen Dmowskis Nationaldemokraten und dem Lager Józef Pilsudskis wird in diesem Band mehrfach Bezug genommen. Polnische Regierungen kämpften gegen das Chaos und den wirtschaftlichen Niedergang der Nachkriegszeit an, die auch den übrigen europäischen Staaten zu schaffen machten18. Mitte der zwanziger Jahre hatte der junge parlamentarische Staat durchaus einige Erfolge bei der Konsolidierung seines inneren wie äußeren Gefüges zu verzeichnen. Er hatte es in der kurzen, von Krisen gekennzeichneten Zeit seines Bestehens jedoch nicht vermocht, sich den für das dauerhafte Überleben notwendigen gesellschaftlichen Rückhalt zu sichern. Gegen das Gros der polnischen Armee, das loyal zur Regierung und zum Präsidenten der Republik, Stanislaw Wojciechowski, stand, begann Józef Pilsudski am 12. Mai 1926 einen bewaffNeuordnung, in: Erster Weltkrieg Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, hrsg. von Bruno Thoß und Hans-Erich Volkmann, Paderborn [u.a.] 2002, S. 593-613. Werner Benecke, Die Ostgebiete der Zweiten Polnischen Republik. Staatsmacht und öffentliche Ordnung in einer Minderheitenregion 1918-1939, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 1 5. Zur Person Dmowskis vgl. Andrzej Micewski, Roman Dmowski, Warszawa 1971. Maciej Giertych, Dmowski czy Pilsudski?, Wroclaw 1995. kerrechtlicher
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Die Heimatarmee als
Spiegelbild polnischer nationaler Identität
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Aufstand. Nach geglückter Machtübernahme faßte er unter dem programmatischen Namen »Sanacja« (lat. sanatio »Heilung«, »Gesundung«) ein breites Spektrum politischer Gruppierungen in ein nationales Lager mit dem Ziel zusammen, den »schwächlichen« polnischen Staat von Parteienwirtschaft und Korruptineten
on zu
reinigen.
Regime. Wenn auch alle politischen Parteien weiter bestanden, verlor das polnische Parlament einen Teil seiner Rechte. Pilsudski, Sohn einer verarmten Adelsfamilie in Litauen und als junger Mann aktiver Sozialist, wurde wegen antirussischer Aktivitäten mehrere Jahre nach Sibirien verurteilt. Später tauchte er als geächteter Terrorist und politischer Flüchtling im österreichischen Galizien unter und schrieb sich frühzeitig die »nationale Befreiung« Polens und die Schaffung eines unabhängigen Staates auf seine Fahnen19. Er konnte sich dabei auf polnische Offiziere stützen, die ihm teils schon aus der Zeit des Ersten Weltkriegs treu ergeben waren. Pilsudski hatte im Königreich Polen, das die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn im November 1916 in den deutsch und österreichisch besetzten Gebieten Rußlands installiert hatten, eine maßgebliche Rolle bei der Aufstellung polnischer Freiwilligenverbände gespielt. Während die Mittelmächte diesen formal eigenständigen, faktisch aber weiter militärisch besetzten Staat als Versuch zur DeStabilisierung des Russischen Reiches eher nolens volens in Kauf genommen und über die »polnische Frage« bis Kriegsende keine Einigkeit erzielt hatten, sah Pilsudski seine »Legionen« als die Keimzelle eines zukünftigen polnischen Staates2". Pilsudski instrumentalisierte zunächst einen Parteilosen Block der Zusammenarbeit mit der Regierung (BBWR), um sich durch Manipulationen des Wahlsystems eine Machtbasis zu schaffen. Im Polen der »Sanacja« besetzten Obristen zahlreiche wichtige Führungspositionen. Zu ihnen zählten Außenminister Józef Beck (seit 1932), Adam Koc, Führer des Lagers der Nationalen Einheit (OZN), das dem bereits erwähnten Parteilosen Block (BBWR) folgte, oder der mehrfache Ministerpräsident Walery Slawek. Bis zu seinem Tod im Jahre 1935 dominierte Marschall Pilsudski den polnischen Staat, war er Kriegsminister und Generalinspekteur der polnischen Armee. Die Opposition mußte Gängelung und Unterdrückung hinnehmen, bis hin zu politischen Prozessen gegen die Oppositionsführer. In Fragen der nationalen Minderheiten vertrat die »Sanacja« einen autoritären Standpunkt und schloß Ukrainer und Weißrussen weitgehend von der politischen Entscheidungsfindung im Lande aus. Nach dem Tod Pilsudskis 1935 führte der 1926 zum Staatspräsident gewählte Ignacy Moscicki das Land bis zum deutschen Angriff 1939. Nach seinem Rücktritt berief sein Nachfolger Wladislaw Raczkiewicz neben General Wladyslaw Sikorski In Polen entstand ein autoritäres
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Andrzej Garlicki, Józef Pilsudski, 1867-1935,
Brookfield 1994; Waclaw Jcdrzejewicz, Pilsudski: Poland, New York 1982; ders., Kronika zycia Józefa Pitsudskiego 1867-1935, London 1977; vgl. aus deutscher Sicht Martina Pietsch, Zwischen Verachtung und Verehrung. Marschall Józef Pilsudski im Spiegel der deutschen Presse 1926- 1935, Weimar [u.a.] 1995, und zur polnischen Nachkriegsrezeption Roch Little, Le mythe de l'antihéros socialiste contre le mythe du héros A life for
antisocialiste. Le débat sur Pilsudski dans l'historiographie polonaise Arbor, Mich. 1994. Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd 2 (wie Anm. 9), S. 810 f.
Ann 20
d'après-guerre (1945- 1989),
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Regierungschef auch ein Kabinett aus Angehörigen der ehemaligen Opposition. Diese dominierten während des Krieges die polnische Exilregierung, immer wieder kam es aber zu Konflikten mit Anhängern Pilsudskis und der »Sanacja« im polnischen Untergrund, aber auch in den politischen Führungsgremien im Exil. Mehrere Autoren des vorliegenden Sammelbandes thematisieren diese Auseinandersetzungen in ihren Beiträgen. als
neuem
Minderheiten in Polen
problematischer Aspekt polnischer Geschichte der Zwischenkriegszeit ist der der Führung unter Pilsudski mit den nationalen Minderheiten. Die Gesamtbevölkerung wuchs zwischen 1921 und 1939 von 26,3 Mllionen auf mehr als
Ein
Umgang
35 Millionen also etwa um ein Drittel. Etwa zwei Drittel der Einwohner sprachen Polnisch als Muttersprache, Ukrainer machten 15, Juden neun, Weißrussen fünf und Deutsche zwei Prozent aus21. In Polen agierte eine Vielzahl von Organisationen, welche die kulturellen und politischen Interessen der nationalen Minderheiten wahrnahmen, doch schwankte der Umgang mit diesen Minderheiten zwischen der Gewährung zumindest kultureller Autonomie und radikaler Polonisierung. Nationale Ambitionen, so die Befürchtung vieler polnischer Politiker, die teils selbst Bürger der österreichischen und russischen Vielvölkerreiche gewesen waren und durchaus unterschiedlichen Parteien angehörten, könnten den polnischen Staat in seinem Bestehen bedrohen. Dieser förderte einen »Rat der Deutschen in Polen« und tolerierte die Arbeit der jüdischen Gemeindevertretungen (kehile), die jedoch beide eher kulturelle Aufgaben wahrnahmen. Im Sejm gab es zeitweise einen Minderheitenblock, in dem Vertreter einer Deutschen Sozialistischen Partei (DSAP) und der Nationalisten der »Jungdeutschen Partei« gemeinsam mit Abgeordneten jüdischer politischer Interessenvertretungen wie den sozialistischen »Poale Zion« (Arbeiter Zions), dem marxistisch und internationalistisch ausgerichteten Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (kurz »Bund«), den Zionisten und anderen die Parlamentsbänke teilten22. Während die ukrainische Minderheit seit der österreichischen Zeit über mehrere Parteien wie Sozialdemokraten (USDP), einen Ukrainischen Sozialistischen Bauernbund, die Ruthenische-Ukrainische Radikale Partei (R-URP) und eine Nationaldemokratische Organisation (UNDO) verfügte, führte die repressive polnische Nationalitätenpolitik zur Stärkung der verbotenen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Ihr Terror wurde in den dreißiger Jahren zu einem ernsthaften Problem für den polnischen Staat23. 1925 initiierte eine kleine Gruppe weißrussischer Sejm-Abgeordneter unter der Führung des Philologen Bronislaw Taraszkie-
Zahlen nach Davies, Im Herzen Europas (wie Anm. 4), S. 108 f. Gertrud Pickhan, »Gegen den Strom«. Der Allgemeine |üdische Arbeiterbund »Bund« in Polen 1918-1939, Stuttgart 2001, S. 70-78. Vgl. Harald Binder, Parteiwesen und Parteibegriff bei den Ruthenen der Habsburgermonarchie, in: Ukraine (wie Anm. 10), S. 211-240.
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wicz die Weißrussische Arbeiter- und Bauerngemeinde (Bialoruska WlosciahskoRobotnicza Hromada), die etwa ein Jahr lang erheblichen Zulauf hatte, aber schon am 14. Januar 1927 von den polnischen Behörden verboten und aufgelöst wurde. Die Polizei inhaftierte mehr als 800 Personen, die Anführer fanden sich vor Gericht mit der Anklage konfrontiert, an einer »staatsfeindlichen Verschwörung« beteiligt gewesen zu sein24. Die Schwierigkeiten beim Umgang mit den eigenen Minderheiten kennzeichneten einen Nationalitätenstaat mit nationalstaatlichem Anspruch, und sie sind nur vor dem Hintergrund der außenpolitischen Entwicklungen zu sehen. So bildete die Frage der deutschen Minderheit ein Kernproblem zwischen der Weimarer Republik bzw. dem Deutschen Reich und Polen, das auf beiden Seiten für nationale Erregung sorgte. Unter den wechselnden Konstellationen des deutsch-polnischen, polnisch-sowjetischen und sowjetisch-deutschen Verhältnisses (deutscher Zollkrieg 1925/26, Verträge von Rapallo 1922 und Berlin 1926, polnisch-sowjetischer Nichtangriffspakt vom 25. Juli 1932, deutsch-polnische Gewaltverzichtserklärung vom 26. Januar 1934) strebte Polen die Position einer ostmitteleuropäischen Führungsmacht an. Diese sollte sowohl dem expansiven Kommunismus sowjetischer Prägung als auch dem revisionistischen deutschen Nationalismus Einhalt gebieten, dessen Blick begehrlich auf die deutsche Ostgrenze gerichtet war. Die konservative deutsche Machtelite wiederum sah in Polen einen »Saisonstaat«, und die aggressive Polonisierungspolitik Pilsudskis und seiner Nachfolger machte die deutsche Minderheit in Polen ansprechbar für die nationalsozialistische Idee einer gesamtdeutschen »Volksgemeinschaft«. Polen annektierte 1938 zwar das Olsa-Gebiet und profitierte damit von der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Deutschland, aber schon kurz darauf mündeten aggressive deutsche Forderungen bezüglich einer Rückkehr der Freien Stadt Danzig ins Reich in die Aufkündigung des deutsch-polnischen Vertrages von 1934. Am 23. August 1939 unterzeichneten Deutschland und die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt, der mit seinem geheimen Zusatzprotokoll die Aufteilung Polens zwischen beiden Diktaturen besiegelte25. Die Jahre zwischen dem deutschen Septemberfeldzug 1939 und der Neugestaltung und ethnischen Homogenisierung Ostmitteleuropas durch die sowjetische Siegermacht bis 1947 machten Polen nach der Erfahrung der Teilungen, des Ersten Weltkriegs und der mühsamen Suche nach staatlicher und gesellschaftlicher Identität im Nationalitätenstaat der Zwischenkriegsjahre nun zum »Schlachtfeld der Diktatoren«26. Die deutsch-sowjetische und, nach dem Juni 1941, die deutsche
Die Ostgebiete (wie Anm. 16), S. 56-59; Peter Brock, Belarusan National Identity as an of Conscientious Objection in Interwar Poland, in: East European Quarterly, 3 (1995), S. 285-292; Jerzy Tomaszewski, Belorussians in the Eyes of the Poles, 1918-1939, in: Acta Poloniae Histórica, 51 (1985), S. 101-122. Vgl. als Standarddarstellungen nach wie vor Martin Broszat, 200 Jahre deutsche Polenpolitik, Frankfurt a.M. 1972; Marian Wojciechowski, Die polnisch-deutschen Beziehungen 1933-1938, Leiden 1971. Dietrich Beyrau, Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin, Göttingen 2000.
Benecke,
Aspect
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die polnische Gesellschaft mit der den Rand des Untergangs.
Besatzung konfrontierten tung und brachte sie Die
an
physischen Vernich-
schwierige Geschichte der polnischen Heimatarmee
Die wechselvolle, häufig von Gewalt und Vertreibung gezeichnete und mit traumatischen Elementen behaftete Geschichte ethnischer Mischregionen hat, gemeinsam mit der Vereinnahmung ihrer Historie durch nationale Bewegungen oder politische Regimes, in Polen wie auch bei seinen Nachbarn vielfach zu einer Beschränkung auf nationale Standpunkte und zu einer Tabuisierung problematischer Aspekte geführt. Diese Tabuisierung wirkt auch nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums weiter fort. Die Arbeiten in diesem Band sind Teil einer schwierigen Auseinandersetzung, und sie machen dieses Buch nicht nur zu einem Werk über einen Aspekt der polnischen Geschichte, sondern auch zu einem Zeugnis über den Umgang mit ihr. Dem Wirken der polnischen Heimatarmee gehen auf den folgenden Seiten polnische, deutsche, weißrussische, amerikanische und britische Autoren nach. Bei der Auswahl der Beiträge wurde versucht, der komplizierten ethnischen und territorialen Gemengelage in der Region gerecht zu werden und dabei außer den aktuellen Forschungsstand auch die aktuellen Diskussionen in Polen, Deutschland und den Nachfolgestaaten der UdSSR zu berücksichtigen. Bezogen auf die Nachkriegszeit geht es um die Frage, welche Rolle der Mythos der Heimatarmee in der Volksrepublik und dann im postkommunistischen Polen in der öffentlichen Wahrnehmung, für das nationale Selbstbewußtsein und in staatlichen Inszenierungen spielte. Damit soll der Sammelband auch einen Beitrag zum deutschen Verständnis der polnischen nationalen Geschichte in der Kriegs- und Nachkriegszeit leisten. Die Zusammenstellung spiegelt die unübersichtlichen Verhältnisse in Ostmitteleuropa wider. Sie illustriert die Probleme von teils infolge von Gewalt und Vertreibung entstandenen Nationalstaaten, sich mit ihrer multiethnischen, multikonfessionellen und multikulturellen Geschichte auseinanderzusetzen. Der Band macht Forschungsarbeiten jüngerer Kollegen zugänglich, die erst in den Jahren nach Erlangung der polnischen Unabhängigkeit entstanden sind, ebenso wie solche von Autoren, die schon auf viele Jahre Forschungserfahrung zurückgreifen können.
Historisch-militärisches Umfeld
folgenden erzählen 33 Autoren in vier Abschnitten die Geschichte der polnischen Heimatarmee. Eine einleitende tour d'horizon macht den Leser mit den historischen Rahmenbedingungen, den organisatorischen Strukturen sowie mit den militärischen Operationen vertraut, welche die Armia Krajowa bestritten hat. Bernd Im
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Spiegelbild polnischer nationaler Identität
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Martin breitet in seinem Essay zwei Jahrhunderte der deutsch-polnischen Beziehungen aus. Er schildert dabei speziell die Geschichte von Barrieren und Klischees, Mißverständnissen und Vorurteilen, die auf beiden Seiten bis heute fortwirken.
Hans-Jürgen Bömelburg und Wanda Roman analysieren in ihren Beiträgen die deutsche und die sowjetische Besatzung, die den historischen Rahmen abgaben für Entstehung und Wirken der Heimatarmee. Ohne die Kenntnis des nationalsozialistischen Okkupations- und Terrorsystems einerseits, das Polen 1939 vom souveränen Staat zum Ort von Rechtlosigkeit, Unterdrückung und Massenmord machte, und ohne das Verständnis dafür, welche Auswirkungen andererseits die sowjetische Besetzung in den Kresy Wschodnie zwischen 1939 und 1941 hatte, sind weder der Kampf der Armia Krajowa noch die Darstellungen der Nachkriegszeit zu begreifen.
Die Strukturen der Untergrundarmee, ihre militärische und territoriale Gliederung und ihren Führungsapparat beschreibt Gr%egoi\ Ma^ur, ergänzt von den Ausführungen Marek Ney-Krwawic^'zu den polnischen Exilbehörden in Frankreich und England. Beide Autoren zeigen eine militärische Untergrundformation, die von ihrem Organisationsgrad her den Vergleich mit der sowjetischen Partisanenbewegung nicht zu scheuen braucht. Dies macht auch der Aufsatz von Andrej Peplonski deutlich, der ebenfalls unter militärhistorischen Gesichtspunkten den Aufklärungsapparat der polnischen Untergrundarmee und vor allem dessen Leistungen während des Krieges analysiert: Wenigen Lesern dürfte bekannt sein, daß beispielsweise der britische Geheimdienst wesentliche Erkenntnisse über die deutschen »V-Waffen« polnischen Aufklärern verdankte. Piotr Kolakowski wendet sich dem zweiten Gegner zu, mit dem die Armia Krajowa im Verlauf des Krieges konfrontiert war: Bereits kurz nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR und dann verstärkt seit 1942/43 begann die sowjetische Aufklärung, den polnischen Untergrund zu erkunden und zu infiltrieren. Damit bereiteten die sowjetischen Behörden schon zu einem frühen Zeitpunkt die zweite Sowjetisierung Ostpolens (oder, nach sowjetischer Lesart, die Befreiung der Weißrussischen und Ukrainischen Sowjetrepubliken in den Grenzen von 1941) vor. Erfolge erzielten sie vor allem in den ethnischen Mischgebieten zumal in den zwischen 1939 und 1941 sowjetisch besetzten Kresy —, aber auch im polnischen Kernland. Die beiden folgenden Aufsätze sind zwei zentralen militärischen Operationen der Heimatarmee gewidmet. Auf der Basis seiner in deutscher Sprache erschienenen Monographie schildert Wlod^imier^ Borod^iej mit dem Warschauer Aufstand ein Ereignis, das geradezu zum Inbegriff des polnischen Widerstandes im Zweiten Weltkrieg wurde, bestimmend für das Selbstverständnis einer ganzen Generation polnischer Widerstandskämpfer und Maßstab für jene allgemeingültigen Werte, welchen sich diese Generation verpflichtet fühlte. Gr^egor^ Ma^ur ergänzt den Blick auf Warschau durch seine Chronik der »Aktion Burza« (Gewitterstürm). Unter diesem Decknamen führte 1944 die Armia Krajowa ihre lange geplante, beinahe flächendeckend koordinierte und wichtigste militärische Operation durch, welche —
Bernhard Chiari
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mit Blick auf die bereits
katastrophale militärische Lage der deutschen Wehrmacht entgegen ursprünglichen Planungen in einen allgemeinen Aufstand mündete. Der Kampf der Heimatarmee im Rahmen von »Burza« folgte der Dramaturgie des Warschauer Aufstandes. Er war heldenhaft, aber seine Bedeutung blieb in erster Linie eine moralische. Die militärischen Resultate waren begrenzt: Die Rote Armee stand bereits auf polnischem Territorium, und die Idee, polnische Untergrundformationen zu enttarnen und als reguläre polnische Streitkräfte an der Seite sowjetischer Divisionen als gleichberechtigte Verbündete und quasi als »Hausherren« anerkannt zu werden, ging an der Realität vorbei. Rote Armee und NKVD entwaffneten sämtliche »polnischen Nationalisten« und begannen damit, den Untergrund zu »säubern«. Von diesem letzten Akt der militärischen Kämpfe, der mancherorts noch zu einem Zeitpunkt tobte, als die Armia Krajowa offiziell längst aufgelöst war, berichtet Harald Moldenhauer. Er tut dies am Beispiel des sogenannten Lubliner Polen (Polska Lubelska), wo mit massiver sowjetischer Unterstützung in der zweiten Jahreshälfte 1944 zwischen Bug und Weichsel die Anfänge eines kommunistischen polnischen Staates entstanden. Kriegsalltag Der zweite Abschnitt behandelt den
Kriegsalltag.
Piotr Majewski und
Janus% Mar-
s^alec beschreiben in ihren Beiträgen gewissermaßen Genotypus und Phänotypus
des polnischen zivilen Widerstandes bzw. der Besatzungsgesellschaft. Deren moralisches Überleben war möglich, weil neben der »Motivation« zum Widerstand, welche die brutale und rassenideologisch motivierte deutsche Besatzungspolitik lieferte, legitime staatliche und ethische Instanzen existierten. Diese gaben die Regeln im Umgang mit den Besatzern vor, verkörperten und vermittelten sie. Schließlich konnten sie durch Instanzen wie Untergrundgerichte, aber vor allem durch die Bekanntmachung, »Achtung« und Bestrafung von Wankelmütigen oder Verrätern bis zu einem gewissen Grad deren Einhaltung überwachen. Vielleicht ist noch wesentlicher, daß die polnische Bevölkerung aus dem Wirken der Untergrundinstitutionen moralische Kraft für das Überleben des mörderischen Besatzungsalltags schöpfte. Während sich Piotr Majewski zentral organisierten Widerstands- und Überlebenstaktiken sowie den Mitteln zuwendet, moralische Richtlinien und konkrete Handlungsanweisungen in verschiedene Bereiche der Gesellschaft zu transportieren, gilt der Blick Janusz Marszalec' dem realen Besatzungsalltag. Die polnische Untergrundgesellschaft konnte ebensowenig auf eine geschlossene Phalanx von Helden zurückgreifen, wie dies in der Sowjetunion oder den besetzten Ländern Westeuropas der Fall war27. Im besetzten Warschau klagten die Unter-
grundbehörden über die große
Zahl
von
»Kowalskis«
(die
»Müllers und
Meiers«),
Vgl. etwa Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938-1945), 8Bde, hrsg. vom Bundesarchiv, Berlin, Heidelberg 1988-1996, hier Bd 7 |= Ergänzungsbd lj: Okkupation und Kollaboration (1938-1945). Beiträge zu Konzepten und Praxis der Kollaboration in der deutschen Okkupationspolitik, Heidelberg 1994.
Die Heimatarmee als
Spiegelbild polnischer nationaler Identität Nation als
15
allem das eigene am Herzen lag. Selbst im historischen Zentrum Polens, wo weder Nationalitätenfragen noch Grenzstreitigkeiten den Widerstandswillen der Bevölkerung schwächen konnten, und selbst angesichts der brutalen deutschen Besatzung und der offen sichtbaren Isolierung und Ermordnung der jüdischen Einwohner der Stadt fand »Alltag« in jeder Form statt, schufen sich die Menschen Nischen, und verschwammen die Grenzen zwischen Widerstand, dem Überleben dienender Kooperation mit den Besatzungsbehörden und der nach dem Krieg als unmoralisch verdammten Kollaboration. Marszalec spricht hier, mit aller Vorsicht, ein polnisches Tabu an und veranschaulicht die realen Bedingungen des Besatzungsalltags, in dem anders als beispielsweise im belagerten Leningrad28 die Behörden einen sehr direkten Zugriff auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens hatten. Der Leser wird nicht nur zwischen den Zeilen spüren, wie schwer es den Autoren fällt, die Ebene idealtypischer Formen von Widerstand, die vielfach nur von begrenztem Aussagewert sind, und ihrer Verschriftlichung in Form moralischer Kodices zu verlassen und sich den realen, vielschichtigen Phänomenen des Besatzungsalltags zu stellen. Daß sie dies tun, ist ein wesentlicher Beitrag zu diesem Sammelband und Grundlage dafür, auch für die polnische Kriegsgesellschaft in eine Historisierung des Kriegsgeschehens einzutreten. Den Grenzbereich der »Interaktion« zwischen Herrschern und Beherrschten beleuchtet auch Martin Dean. Auf der Basis von Akten der Nachkriegsprozesse, welche die polnischen und sowjetischen Behörden gegen »Vaterlandsverräter« führten, rekonstruiert er die Beteiligung von Polen am Aufbau der deutschen Hilfspolizei, und zwar hauptsächlich in den 1939 von der Sowjetunion annektierten Gebieten, die unter deutscher Besatzung einen Teil des »Reichskommissariats Ostland« (vgl. Übersichtskarte im Anhang) bildete. Dean zeigt, daß die deutschen Sicherheitskräfte beispielsweise in dem von ihnen geschaffenen »Generalkommissariat Weißruthenien« beim Aufbau einer dringend benötigten Hilfspolizei angesichts der komplizierten ethnischen Gemengelage keine Möglichkeit hatten, ethnisch homogene Polizeiposten zu bilden. Dort dienten vielmehr entsprechend der Bevölkerungsstruktur weißrussische, polnische, ukrainische oder russische Einwohner Seite an Seite mit je sehr unterschiedlichen Motivationen und allesamt der Gefahr ausgesetzt, in einem mörderischen Alltag, der seit 1942 zunehmend im Zeichen des deutschen »Bandenkampfes« und des Erstarkens der sowjetischen Partisanenbewegung stand, selbst in eine Spirale von Kompromittierung und Verbrechen zu geraten. Die Grenzen sind hier oft nur schwer auszumachen, doch läßt sich schlüssig nachweisen, daß gerade in den ethnischen Problemzonen der ehemaligen Kresy ein guter Nährboden bestand für jede Form von Mißbrauch und Verbrechen unter deutscher Oberaufsicht. Zum Mythos der Heimatarmee und der sowjetischen Partisanenbewegung hat beigetragen, daß beide einen kompromißlosen Kampf gegen den »Abschaum« einheimischer Polizei führten. Die Ausführundenen
weniger
die
Bewahrung
der
polnischen
vor
Überleben und mitunter sogar Wohlleben in der besetzten Stadt
—
-
—
Vgl. Aileen Rambow, Überleben mit Worten. Literatur und Ideologie während der Blockade von Leningrad 1941 -1944, Berlin 1995.
Bernhard Chiari
16
gen Martin Deans
bestätigen die Brutalität auf allen beteiligten Seiten, lassen aber gleichzeitig ahnen, wie schwer nachvollziehbar die inneren Frontlinien waren, welche die Kresy während des Krieges durchzogen29. Die Rolle der katholischen Kirche im polnischen Untergrundstaat beschreibt Jertjy Mys^or. Er tut dies mit Blick auf einzelne Angehörige der höheren Geistlichkeit sowie auf das Verhältnis zwischen Kirche und Untergrundstaat und das Wirken einer Militärgeistlichkeit in dessen Streitkräften, der Armia Krajowa. In welchem Maße diese auch die polnischen Frauen in ihre organisatorischen Strukturen miteinbezog, macht Katja Höger vor allem am Beispiel des Warschauer Aufstandes deutlich. Die Befunde Högers, etwa was die tatsächliche Bedeutung von Frauen als Kombattantinnen in einer ohnehin hoffnungslos unterbewaffneten Armee anbetrifft, entziehen sich vielfach so wie Untersuchungen zu Alltagsphänomenen generell der Quantifizierung. Die Ausführungen zeigen aber, daß es sich beim Warschauer Aufstand tatsächlich um eine FVréjerhebung handelte und um ein Ereignis, das die gesamte Bevölkerung der Stadt betraf. Welche Auswirkungen die Beteiligung von Frauen an den Kampfhandlungen vor allem in klassischen weiblichen Bereichen wie dem Melde- und Sanitätswesen auf polnische Frauenbilder hatten, und welche Wechselwirkungen zwischen dem Kriegsgeschehen und den spezifisch polnischen Ausprägungen von einer Tradition wie Nation repräsentierenden Weiblichkeit bestanden, wie sie im Motiv der mütterlichen Jungfrau, der polnischen Muttergottes »Matka-Polka«, seit dem Mittelalter zum Ausdruck kommt, bleibt hingegen noch zu untersuchen30. —
—
—
—
—
Waldemar Bednarski erzählt die Geschichte der Gemeinde Kotlice, Kreis Zamosc, im Krieg. Etwa auf halber Strecke zwischen Lublin und Lemberg gelegen, war diese Region Schauplatz heftiger polnisch-ukrainischer Auseinandersetzungen, die 1944 zum offenen militärischen Konflikt eskalierten. Der Beitrag Waldemar Bednarskis ist keine »Mikrostudie« im wissenschaftlichen Sinne. Hauptsächlich auf der Basis von Zeitzeugenbefragungen, Kriegsmemoiren und Dokumenten aus Privatbesitz beschreibt der Verfasser aus polnischer Sicht die militärischen Vorbereitungen der Heimatarmee sowie den Kampf gegen zwei Feinde: die deutsche Wehrmacht und die Ukrainische Aufständischenarmee (UPA). Die Erzählung Bednarskis ist die eines Opfergangs, der den Schutz der polnischen Bevölkerung zum Zweck hatte. Längere Schilderungen von Gefechtsszenen aus der Sicht von Zeitzeugen müssen nicht quellenkritisch in Frage gestellt werden, um dennoch eine plastische Vorstellung der bürgerkriegsähnlichen Zustände in besetzten ethnischen Mischgebieten und von Ablauf und Auswirkungen deutscher »Bandenkampf-« und »Säuberungsaktionen« aus der Sicht der Opfer zu geben. Darüber hinaus erhält der Leser einen Eindruck vom Literaturgenre der Kriegs- und Partisanenmemoiren sowie von der aktuellen populären Wahrnehmung dieses GescheZur Veranschaulichung ist ein Vergleich mit dem sowjetischen Bürgerkrieg vielfach hilfreicher als die national ausgerichteten polnischen bzw. sowjetischen Schilderungen des Zweiten Weltkriegs, vgl. Vladimir N. Brovkin, Behind the Front Lines of the Civil War. Political Parties and Social Movements in Russia, 1918-1922, Princeton, N.J. 1994. Vgl. Natali Stegmann, Die Töchter der geschlagenen Helden. »Frauenfrage«, Feminismus und Frauenbewegung in Polen 1863-1919, Wiesbaden 2000, S. 41-45.
Die Heimatarmee als
Spiegelbild polnischer nationaler Identität
17
hens. Während Verklärungen und das Ausschmücken der Ereignisse in den ehemaligen Staaten der Sowjetunion nach 1991 immer mehr problematisiert wurden, waren im polnischen Exil und in Polen nach dem Ende des Kommunismus auch gegenläufige Versuche zu beobachten, für die Heimatarmee nach Jahren fehlender Traditionswürdigkeit eine stark idealisierte und überhöhte Sicht der Kriegsereignisse zu präsentieren. Die Nationalitätenkonflikte als eigenständiges Thema werden in diesem Sammelband an anderer Stelle behandelt31. Lars Jockheck und Anke Stephan zeigen die Armia Krajowa aus deutscher Perspektive und zwar mit dem Blick der zeitgenössischen Außenwahrnehmung bzw. Darstellung der Heimatarmee durch deutsche Soldaten und die deutsch kontrollierte Presse des »Generalgouvernements«. Lars Jockheck liefert einen differenzierten Überblick über das Pressewesen. Er schließt dabei insofern nahtlos an die grundlegenden Beiträge von Piotr Majewski und Janusz Marszalec an, als er die schwierige Frage nach der Rezeption von Presse und Propaganda im Untergrundstaat stellt. Dessen Autorität war es beispielsweise nicht möglich, den Bewohnern des »Generalgouvernements« die Lektüre deutscher Propagandablätter zu verleiden. Die quellengesättigte Arbeit erschließt zahlreiche Facetten des offiziösen (und teilweise auch des inoffiziellen Untergrund-)Schrifttums zum ersten Mal für den deutschen Leser. Sie zeigt die Kontinuitätslinien zwischen historischen Vorurteilen und Stereotypen der Teilungs- und Zwischenkriegszeit, welche, angereichert mit Elementen der nationalsozialistischen Rassenideologie, überall im Propagandaschrifttum nachzuweisen sind. Andererseits wird allerorts die Notwendigkeit deutlich, im Sinne einer nationalsozialistischen »Realpolitik« erfolgreich auf die Bevölkerung einzuwirken. Ein ähnliches Spannungsgefüge beschreibt auch Anke Stephan aus alltagsgeschichtlicher Sicht des »kleinen Mannes«, und zwar am Beispiel des Warschauer Aufstandes. Sie fragt danach, wie sich deutsche Mannschaftssoldaten vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Propaganda und ihres eigenen, stark durch den Nationalsozialismus geprägten Wertekanons ein Bild von der Heimatarmee machten. Stephan kommt zu dem zunächst überraschenden Ergebnis, daß die Armia Krajowa sehr gut, und zwar positiv, »ins deutsche Bild paßte«. Deutsche Soldaten verstanden den ehrenhaft untergehenden Kämpfer der Heimatarmee häufig geradezu als ein Sinnbild, das dabei half, sich für einen selbst längst als sinnlos erkannten Kampf weiter zu motivieren. Dabei griffen sie allerdings auf einen Wertekanon zurück, welcher der nationalsozialistischen Erziehung und Propaganda entstammte. Mein eigener Beitrag versucht vor einem ähnlichen Hintergrund, lokale Kontakte und militärische Absprachen zwischen der Heimatarmee und den deutschen Sicherheitskräften einzuordnen, zu denen es angesichts der kurz bevorstehenden Besetzung der ehemaligen Kresy Wschodnie durch die Rote Armee kam. —
Vgl.
klassischen sowjetischen Typus der Partisanenmemoiren Ovidij A. Gorcakov, Vne Avtobiograficeskaja chronika, Moskva 1990, oder das Bild S.V. Gerasimovs, Mat' parti(1943), Gosudarstvennaja Tret'jakovskaja galereja, Moskva; Nina Tumarkin, The Living and
zum
zakona. zana
The Dead. The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia, New York 1994; Sozialistische Helden. Die kulturgeschichtliche Anatomie von Propagandafiguren, hrsg. von Silke Satjukow und Rainer Gries, Berlin 2002.
Bernhard Chiari
18
Regionen, Minderheiten Deutungen außerhalb Polens
und nationale
Der dritte Abschnitt behandelt die nationale und territoriale Problematik, welche die Kriegsereignisse und die Tätigkeit der Heimatarmee maßgeblich mit beeinflußt haben. Nationale Spannungen aus der Zeit vor 1918 und der Zwischenkriegsperiode eskalierten während des Krieges zu einem offenen militärischen Schlagabtausch. Dies betraf in erster Linie Galizien und Wolhynien und den ukrainischpolnischen Antagonismus, sowie in zweiter Linie das Wilnagebiet. Dort kämpfte die Heimatarmee vor dem Hintergrund berechtigter polnischer Befürchtungen, die Region könnte nach Kriegsende dauerhaft litauisiert werden, gegen die deutsche Besatzungsmacht und gleichzeitig gegen sowjetische Formationen. Zudem war sie seit dem Jahreswechsel 1943/44 ständig auch in Zusammenstöße mit litauischen Polizeikräften verwickelt. Auf allen Seiten ereigneten sich schwerste und Greueltaten. In Galizien und Wolhynien fanden regelrechte ethnische Säuberungen statt. Als dritte Problemregion wird das Gebiet Nowogródek behandelt, das auf-
Übergriffe
grund
seiner geographischen Beschaffenheit hervorragende Voraussetzungen für den Einsatz von Partisanen bot (vgl. Übersichtskarte im Anhang). Das mehrheitlich polnisch-jüdische Nowogródek wurde 1939 von der Sowjetunion annektiert und bildete seit Herbst 1941 ein gleichnamiges »Gebietskommissariat« im Rahmen des nominell von der deutschen Zivilverwaltung beherrschten »Generalkommissariats Weißruthenien«. Hier führten seit 1943 vor allem die erkennbare sowjetische Absicht, Nowogródek in die Weißrussische Sowjetrepublik (BSSR) einzugliedern, sowie die außergewöhnlich starke Präsenz sowjetischer Partisanengruppen zu heftigen militärischen Auseinandersetzungen zwischen deutschen Sicherheitskräften, sowjetischen Verbänden und der Heimatarmee. Nowogródek ist ein Lehrbeispiel für die sowjetische Taktik, in der Aufbauphase militärischer Untergrundstrukturen zunächst mit lokalen Gruppen zusammenzuarbeiten (dies betraf neben den Abteilungen der Armia Krajowa beispielsweise auch jüdische Partisanen), um diese später entweder zu inkorporieren oder rücksichtslos zu liquidieren32. Die hier in wenigen Sätzen umrissenen Regionen mit ihren verschiedenen historischen Zugehörigkeiten und Entwicklungen sind bislang noch nicht in einer vergleichenden, synthetischen Untersuchung dargestellt worden. Dies gilt noch viel mehr für die sich überlappenden und jeweils durch eine große regionale, politische und selbst ethnische Diversifizierung gekennzeichneten Nationalitäten, von denen hier die Rede ist. Regionale, konfessionelle, sprachliche und politische Identitäten wechselten mitunter von einem Ort zum anderen33. Gleichzeitig handelt es sich
Vgl. Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weiß-
rußland 1941 -1944, Düsseldorf 1998, S. 280-302. Vgl. im Überblick Geschichte der Ukraine, hrsg. von Frank Golczewski, Göttingen 1994; Ukraine (wie Anm. 10); Handbuch der Geschichte Weißrußlands, hrsg. von Dietrich Beyrau und Rainer Lindner, Göttingen 2001; Zwischen Staatsnation und Minderheit. Litauen, das Memelland und das Wilnagebiet in der Zwischenkriegszeit, hrsg. von Joachim Tauber (= Nordost-Archiv. Zeit-
Die Heimatarmee als
um
Spiegelbild polnischer nationaler Identität
19
jenes Themenfeld, das als Folge gewaltsamer Grenzveränderungen und Bevöl-
im und nach dem Zweiten Weltkrieg in den beteiligten Staaten bis heute emotional wie politisch mit am stärksten belastet ist. Von einer einheitlichen Führung, von der Armia Krajowa kann im Zusammenhang mit Nationalitätenfragen nicht die Rede sein. Die hier vorgenommene Auswahl von Beiträgen rekonstruiert daher den Verlauf und die Eskalation der militärischen Auseinandersetzungen und Ausschreitungen in unterschiedlichen Regionen, deren Leidtragende fast immer die Zivilbevölkerung war. Die Autoren tun dies mit Blick auf die Armia Krajowa auf der Basis ausgiebiger polnischer Grundlagenforschung und aus einer mehr oder weniger dezidiert polnisch nationalen Sicht: Gr^egorr^ Motyka für Wolhynien und Ostgalizien, Karnmier^ Krajewski für Nowogródek und Piotr Niivinski für das Wilnagebiet. Diese drei Beiträge werden durch andere nationale Deutungen bzw. deren Analyse ergänzt. So setzt sich Timothy Snyder in seinem Essay mit dem negativen ukrainischen Bild der Heimatarmee auseinander und ermöglicht dem Leser quasi einen doppelt gebrochenen Blick, nämlich jenen auf die ukrainische Perspektive mit den Augen des amerikanischen Nationalismus- und Osteuropaspezialisten. Die ukrainische Interpretation war und ist gegensätzlich zu polnischen Darstellungen. Sie ignorierte in der sowjetischen Periode die Heimatarmee entweder oder rückte sie in die Nähe der nationalsozialistischen Besatzer. Hierbei spielte der problematische Umgang mit der eigenen, ukrainischen nationalen Geschichte eine entscheidende Rolle. Nationalistische Gruppen vertraten während des Zweiten Weltkrieges vor allem in der westlichen Ukraine nationale ukrainische Ansprüche gegenüber dem Deutschen Reich und wurden damit zu Hauptfeinden des von der UdSSR organisierten sowjetischen Untergrundes. Die UPA zählte in der Diktion der Nachkriegs-Sowjetunion denn auch zum Abschaum der »nationalistischen Steigbügelhalter des Hiderfaschismus«. Gleichzeitig war sie für viele Ukrainer, vor allem im westlichen Teil des Landes, ein positiver Bezugspunkt, da nach den Erfahrungen sowjetischer Nationalitätenpolitik in der Zwischenkriegszeit und vor allem nach der »Wiedervereinigung« Wolhyniens und Ostgaliziens mit der UdSSR 1939 starke Ressentiments gegenüber der sowjetischen Führung bestanden. Die Ukraine hatte ebenso wie Polen ungeheuerliche Kriegsopfer zu ertragen. Dieter Pohl schätzt die Zahl der getöteten Einwohner als Folge der deutschen Besatzung insgesamt auf drei bis vier Millionen34. Nationale ukrainische wie sowjetische Sichtweisen haben meist eines gemeinsam: Sie sehen in der Armia Krajowa einen der Hauptgegner im ukrainischen Opfergang des Weltkriegs. Bestenfalls erste Anzeichen sind dafür zu erkennen, eine moderne Gesellschaftsgeschichte der Ukraine zu schreiben, die bei der Analyse der Auswirkungen von Besatzung, Partisanenkrieg, Kollaboration und Nationsbildung auch die polnische Heimatarmee mit einbezieht.
kerungsverschiebungen
—
schrift für Regionalgeschichte. N.F. II, [1993], 2), Lüneburg 1993; zur polnischen Spezialüteratur vgl. die Beiträge im Abschnitt III des vorliegenden Sammelbandes. Vgl. Dieter Pohl, Die Ukraine im Zweiten Weltkrieg, in: Ukraine (wie Anm. 10), S. 339-362, hier S. 361.
Bernhard Chiari
211
Auch in Weißrußland tut man sich schwer mit der Geschichte der Heimatarmee. Die Weißrussische Sowjetrepublik wuchs nach der »Wiedervereinigung« 1939 auf das Doppelte ihrer Größe und Bevölkerungszahl. Die Opferbilanz des Krieges ist hier ebenso fürchterlich wie die ukrainische: Wahrscheinlich jeder vierte Einwohner der BSSR kam während des Zweiten Weltkriegs ums Leben. Die Ermordung der Juden während der deutschen Besatzung, die sowjetischen Säuberungen und die »Repatriierung« der polnischen Einwohner nach 1944 machten aus Weißrußland einen mehr oder weniger ethnisch homogenen »Nationalstaat«. Im Unterschied zur Ukraine waren aber nationale weißrussische Traditionen weit schwächer ausgeprägt und spielten nach dem Krieg in einer weitgehend russifizierten Einheitsrepublik lediglich eine untergeordnete Rolle. Das kollektive Gedächtnis der Menschen in Weißrußland beherrscht bis heute ein Mythos, nämlich jener vom »Volkskrieg« (vsenarodnaja bor'ba), in dem die sowjetische Partisanenbewegung unter Führung der Kommunistischen Partei die deutschen Besatzer vertrieb. Mit dem »Großen Vaterländischen Krieg« verbinden sich auch Stolz und Selbstwertgefühl. Der identitätsstiftende Einfluß dieser Erinnerung war schon während des Krieges spürbar. Vor allem aber kam ihm nach der Befreiung eine wichtige Funktion bei der Legitimierung der politischen Führung zu. Für den Widerstand, den das »weißrussische Volk« dem Hitlerfaschismus entgegensetzte, erhielt die BSSR nach dem sowjetischen Sieg den ehrenvollen Titel »Partisanenrepublik«. Minsk und Brest wurden zu »Heldenstädten« (gorod geroj). Der sowjetische »Volkskrieg«, war ein zentraler Bestandteil weiß russischer Nachkriegsidentität35. Der Widerstand, den die Armia Krajowa der deutschen Besatzung und der sowjetischen, ebenfalls als Okkupation empfundenen zweiten Sowjetisierung der ehemaligen Kresy Wschodnie entgegensetzte, war in Weißrußland während der Sowjetära ebensowenig präsent wie jener anderer, nicht-sowjetischer
Gruppen. Sigi^mund P.
Borodin und Ivan P. Kren vermitteln in ihren Beiträgen einen Eindruck von der Wirkungskraft, welche die sowjetische Sicht der Geschichte Weißrußlands bis heute entfaltet, und auch von den Versuchen, zu einer genuin weißrussischen Interpretation des Krieges zu kommen. Beide Aufsätze verbinden historische Betrachtungen und die Systematisierung aktueller weißrussischer Literatur zur Armia Krajowa mit moralischen und staatsrechtlichen Kategorien. Die Autoren liefern Argumente für die historische Legitimität der »Wiedervereinigung« von 1939 und kommen folgerichtig zu dem Schluß, bei den Operationen der Heimatarmee in den Kresy Wschodnie habe es sich gewissermaßen um einen exterritorialen Einsatz auf weißrussischem Gebiet gehandelt. Einige Ableitungen und Argumente werden mit Widerspruch rechnen dürfen. Nicht zuletzt deshalb vermitteln sie einen ausgezeichneten Eindruck von der Sprengkraft, welche die »polnischen '
Ostgebiete« bzw. polnische und andere Versuche
der
Thematisierung dieser Regi-
Bernhard Chiari, Die schüchterne Königstochter. Die Republik Belarus vor der Jahrtausendwende. Versuch einer Annäherung, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, 11 (1999), 2, S. 43-54.
Die Heimatarmee als
Spiegelbild polnischer nationaler Identität
21
bis heute haben, und wo in der unabhängigen Republik Belarus' die Hindernisfür eine Historisierung liegen. Das polnisch-jüdisch-litauische Wilna ist ein weiteres Beispiel dafür, wie auf polnischem Gebiet und an der Grenze zwischen östlicher und westlicher Zivilisation immer wieder reale historische Entwicklungen mit historischen Mythen in Wechselwirkung traten. Wilna als die einzige Großstadt in den nordöstlichen Gebieten war einerseits ein Zentrum polnischer wie jüdischer Kultur und trug unter Juden die ehrfürchtige Bezeichnung »Jerusalem des Ostens«36. Andererseits war Wilna die historische Hauptstadt Litauens, bis ins 17. Jahrhundert aber dominiert von russisch-orthodoxen Kaufleuten und in der Folge Schauplatz sich ständig abwechselnder Russifizierung, Polonisierung und Litauisierung. Die Republik Litauen machte nach dem Ersten Weltkrieg ihre Ansprüche geltend, und es entstand ein Konflikt, der über mehr als 80 Jahre seine Virulenz bis in unsere Tage bewahrt hat37. Die Diskussionen um die »litauische Hauptstadt« betrafen eine Stadt, in der nach dem Ersten Weltkrieg die litauische Bevölkerung fast ausschließlich im agrarischen Umland angesiedelt war: Der Blick der aufkommenden litauischen Nationalbewegung richtete sich daher auf das lange zurückliegende goldene Zeitalter des Litauischen Großfürstentums, das im 14. Jahrhundert vor allem in der Auseinandersetzung mit der Kiever Rus' und dem Deutschen Orden zeitweise die Region zwischen Ostsee und Schwarzem Meer dominiert hat, das aber alles andere als ein litauischer Nationalstaat war38. Das Großfürstentum, von nationalen Historikern wie Mikola Ermalovic als weißrussischer Staat interpretiert, nimmt heute wiederum einen prominenten Platz bei der Suche der Weißrussen nach nationalen Abgrenzungsmöglichkeiten gegenüber dem »Großrussentum« ein39. In Polen betrauert man bis heute die Litauisierung und Sowjetisierung des Wilnagebietes im Zuge des Zweiten Weltkriegs. Denn Wilna verkörperte neben seiner tatsächlichen Bedeutung als polnische Stadt für die Polen teils verklärte Erinnerungen an den Doppelstaat der »Rzeczpospolita«, der nach dem Beitritt des Großfüron se
David E. Fishman, Russia's First Modem Jews. The Jews of Shklov, New York, London 1995; Daniel Beauvois, Lumières et société en Europe de l'Est. L'université de Vilna et les écoles polonaises de l'Empire Russe, Paris 1977. Vgl. im Überblick aus polnischer Sicht Aleksander Srebrakowski, Polacy w Litewskiej SRR 1944-1989, Toruri 2001, S. 23-53.
Vgl.
Vgl. jüngst
den leicht zugänglichen Essay des großen polnischen, den Kresy Wschodnie entstammenden und 30 Jahre im Exil arbeitenden Dichters und Nobelpreisträgers Czeslaw Milosz, Wilna, in: Osteuropa, 52 (2002), 9/10, S. 1165-1170, das Heft ist dem Thema »Litauen« gewidmet; außerdem Manfred Hellmann, Das Großfiirstentum Litauen bis 1569, in: Handbuch der Geschichte Rußlands, hrsg. von Manfred Hellmann, Gottfried Schramm und Klaus Zernack, Bdl/I, Stuttgart 1981, S. 718-851; Pawel Lojka, Die weißrussischen Territorien als Teil des Großfiirstentums Litauen (13.-16. Jahrhundert), in: Handbuch der Geschichte Weißrußlands (wieAnm. 33), S. 80-92. Mikola Ermalovic, Starazytnaja Belarus': Polacki i novaharodksi peryjady, Minsk 1990. Ermalovic versucht in einer ethnogenetischen Argumentationskette nachzuweisen, daß es sich bei den Weißrussen nicht um Slawen, sondern vielmehr um slawisierte Balten gehandelt habe. Vgl. Rainer Lindner, Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999.
22
Bernhard Chiari
stenturns Litauen zur Polnischen Adelsrepublik (Lubliner Union von 1569) die Rolle einer europäischen Großmacht gespielt hatte4". Nationale Deutungen gleichen angesichts solcher unübersichtlichen Verhältnisse dem Gang durch ein Mi-
nenfeld. Die meisten der hier aufgezählten Motive werden dem Leser in den Beiträgen dieses Abschnittes wieder begegnen. Frank Golczewski hat die Aufgabe übernommen, das Verhältnis der Heimatarmee zu den Juden darzustellen. Welche Emotionen dieses Thema bis heute in Polen auslöst, hat zuletzt die »Jedwabne-Debatte« gezeigt. Grundlage der Affäre waren antijüdische Ausschreitungen und die Ermordung jüdischer Einwohner durch ihre polnischen Nachbarn nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Juli 1941. Eine Veröffentlichung des namhaften polnisch-amerikanisch jüdischen Historikers Jan Tomasz Gross im Jahre 2000 verschaffte dem bis dahin wenig beachteten Vorfall im kleinen Dorf Jedwabne eine Zeitlang größte Aufmerksamkeit in der polnischen Öffentlichkeit41. An einer Diskussion, die zum Teil in Polemik und antisemitische Ausfalle mündete, beteiligten sich Fachhistoriker, Vertreter der Medien und der katholischen Kirche ebenso wie die Repräsentanten rechtsradikaler polnischer Gruppierungen42. Jedwabne steht dabei für eine grundsätzliche Frage: Haben die Polen ihren jüdischen Nachbarn während des Zweiten Weltkrieges in ausreichendem Maße beigestanden, und gibt es eine Duldung oder gar Beteiligung an der nationalsozialistischen »Endlösung der Judenfrage«? Frank Golczewski untersucht das Phänomen des Zweiten Weltkriegs vor dem allgemeinen Hintergrund der Rolle der Juden in der polnischen Gesellschaft. Er zeigt für den Zweiten Weltkrieg unterschiedliche Schauplätze und Situationen, Akteure und Fraktionen innerhalb des immens breiten weltanschaulichen Spektrums der Heimatarmee (und der jüdischen Untergrundorganisationen). Golczewskis Beitrag zum polnisch-jüdischen Verhältnis bietet keine »erlösende Kurzformel« so Ulrich Herbert mit Blick auf die Erklärung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik43 -, ermöglicht dem Leser aber einen differenzierten Einblick in die Problematik und in die laufenden Diskussionen. -
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Henads Sahanowitsch [= Genadz' Saganovic], Der Eintritt des Großfürstentums Litauen in die polnische Adeslrepublik: Weißrußland im 16. und 17. Jahrhundert, in: Handbuch der Geschichte Weißrußlands (wie Anm. 33), S. 93-105; Genadz' Saganovic, Narys gistoryi Belarus! ad starazytnasci da kanca XVIII stagoddzja, Minsk 2001. Jan Tomasz Gross, Sasiedzi. Historia zaglady zydowskiego miasteczka, Sejny 2000 (dt.: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001). Vgl. jüngst Wokól Jedwabnego, hrsg. von Pawel Machcewicz und Krzysztof Persak, Warszawa 2002; außerdem: Die »Jedwabne-Debatte« in polnischen Zeitungen und Zeitschriften, hrsg. von Ruth Henning (= TRANSODRA, Deutsch-polnisches Informationsbulletin, 23.12.2001, Deutschpolnische Gesellschaft Brandenburg), Potsdam 2001; vgl. Bogdan Musial, Thesen zum Pogrom in Jewabne. Kritische Anmerkungen zu der Darstellung der »Nachbarn«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, N.F., 50 (2002), 2, S. 381-411, und Frank Golczewski, Der JedwabneDiskurs. Bemerkungen im Anschluß an den Artikel von Bogdan Musial, in: ebd., S. 412-437. Vgl. Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Neue Forschungen und Kontroversen, hrsg. von Ulrich Herbert, Frankfurt a.M. 1998.
Die Heimatarmee als
Spiegelbild polnischer nationaler Identität
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Geschichtsbilder von der Heimatarmee in der polnischen
Nachkriegszeit
vierte, abschließende Abschnitt des Bandes ist der polnischen Nachkriegszeit gewidmet. Es geht um die Frage, wie der Mythos der Heimatarmee entstand, welDer
er in der Volksrepublik und nach dem Ende des Kommunismus spielte. Komorowski leitet diese Diskussion ein und fragt nach der militärischen Krsystgof Aktualität jener Form des Widerstandes, wie ihn die Armia Krajowa entwickelt und verkörpert hat. Die These, die während des Zweiten Weltkriegs von der Heimatarmee entwickelten Einsatzformen seien zur Lösung militärischer Aufgaben im 21. Jahrhunderts geeignet, wird sicherlich zu Diskussionen anregen. Sie zeigt aber, ebenso wie der folgende Beitrag von Andrej C^eslaw Zak zur militärischen Traditionspflege, welch hoher Stellenwert der Untergrundarmee in den polnischen Streitkräften bis heute zukommt. Bemerkenswert ist erstens, daß in der Armee Volkspolens schon relativ früh zusätzlich zur staatlich verordneten eine militärische »Parallelüberlieferung« wirksam war, welche die Armia Krajowa mit einbezog. Zweitens fällt auf, daß anscheinend die Verantwortlichen für politische Bildung und Traditionspflege nach der polnischen Unabhängigkeit zwar die Heimatarmee als Trägerin der polnischen Militärtradition im Zweiten Weltkrieg und von allgemeingültigen soldatischen Universaltugenden in den Mittelpunkt stellten, sich bei der Vermittlung aber weiterhin der Verfahren der Volksrepublik bedienten. Ein Beispiel für den ambivalenten Umgang mit der Armia Krajowa in der Nachkriegsära liefert auch Kr^ys^tqf Lesiakowski. Er behandelt das Beispiel des polnischen Generals Mieczyslaw Moczar, während des Krieges unter anderem Kommandeur der Volksarmee (AL) im Raum Kielce, der in den sechziger Jahren an der Spitze einer politisch inhomogenen Gruppe von Gefolgsleuten in Polen nach Macht und Einfluß strebte. Moczar und seine als »Partisanen« bezeichneten Anhänger suchten als radikale nationalistische Kommunisten ihre Klientel auch unter den Veteranen der Heimatarmee bzw. in deren halb- oder illegal operierenden Zusammenschlüssen und neigten dabei zu einer verdeckt antisowjetischen Haltung. Rafal Habielski versucht die Leistungen der Angehörigen der Heimatarmee einzuordnen, die nach dem Krieg im Exil lebten, dort die Erinnerung an die Heimatarmee wachhielten und sie mitunter auch verklärten. Tomas:? Markiewk^ nimmt den Leser mit auf einen Spaziergang zu den materialen Zeugnissen der Erinnerungskultur in Warschau. Markiewicz berichtet von den offiziellen Versuchen, nach Kriegsende der staatlich verordneten Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den kommunistischen Rettern Polens Denkmäler zu setzen und gleichzeitig dem kollektiven Gedächtnis der Warschauer Bevölkerung gerecht zu werden. Diese hatte Krieg und Warschauer Aufstand selbst miterlebt
che Rolle
-
und war darum nicht von allzu einfachen Propagandaformeln zu überzeugen, die der Heimatarmee ihre Verdienste als Trägerin des bewaffneten Widerstandes absprachen. Den Kampf um die Erinnerung kann der Leser anhand einiger Abbildungen und auf einer Übersichtskarte des heutigen Warschau nachvollziehen (vgl. Karte im Anhang).
Bernhard Chiari
24
Einen abschließenden, zentralen Themenblock bilden die Aufsätze von Rafal Wnuk, Edmund Dmitrów und Barbara Szacka. Wnuk untersucht den kommunistischen Mythos, die Generation der Heimatarmee-Kämpfer sei für die »falschen« politischen Ziele mißbraucht und nach dem Krieg verbraucht und »ausgebrannt« gewesen und damit unfähig, den notwendigen und zukunftsweisenden Umbau der polnischen Gesellschaft in Angriff zu nehmen, dessen sich dann die polnischen Kommunisten annahmen. Wnuks Untersuchung ist keine kollektive Biographie im wissenschaftlichen Sinne. Vor dem Hintergrund der polnischen Zwischenkriegszeit erzählt sie einzelne, gut dokumentierte Lebensgeschichten, die durch die Jahre im Untergrund und durch das Erlebnis der Armia Krajowa geprägt sind. Diese vermitteln solcherart eine Vorstellung von der inneren Konsistenz der Heimatarmee und auch von den Gründen für die Opferbereitschaft ihrer Mitglieder. Edmund Dmitrów faßt die polnische Historiographie und deren kontroverse Interpretationen von Krieg, Besatzung und Widerstand zusammen. Sein Aufsatz ist gleichzeitig ein Resümee dieses Sammelbandes. Mit soziologischen Methoden hat schließlich Barbara Szacka analysiert, welche Bedeutung die Armia Krajowa im polnischen kollektiven Gedächtnis der Nachkriegszeit einnahm, und wie sich ihr Stellenwert im Verlauf der kommunistischen und in der postsowjetischen Ara veränderte. Szacka schlägt dabei eine Brücke von der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu jenen nationalen Motiven der Zwischenkriegs- und Teilungszeit, bei denen auch dieses Buch seinen Ausgang nimmt. -
Antworten und
Fragen
Einleitend wurde danach gefragt, was die Heimatarmee war, und worin ihre Leistung für Polen und die polnische Gesellschaft bestand. Eine griffige Kurzformel läßt sich zur Beantwortung dieser Frage nicht finden. Die Armia Krajowa verkörperte tatsächlich den polnischen Widerstand und die polnische Nation, weil sie auf eine lange historische Tradition und auf zahlreiche Mythen zurückgreifen konnte, die sie in Verbindung mit den realen Kriegsereignissen selber zum Mythos werden ließen. Die Beiträge dieses Bandes sind methodisch wie von ihrem Erkenntnisinteresse her höchst unterschiedlich. Aber alle beschreiben sie unterschiedliche Aspekte ein- und desselben Phänomens. In ihrer Gesamtheit vermitteln sie eine Vorstellung von den Rahmenbedingungen, unter denen Widerstand im besetzten Polen möglich war. Diese waren geprägt von der menschenverachtenden Politik einer brutalen Besatzungsmacht, die Polen aus rassenideologischem Kalkül dem Untergang weihte. Hinzu kamen regional sehr unterschiedlich nationale und ethnische Spannungen sowie territoriale Fragen, welche ein guter Nährboden dafür waren, aus den Höhen eines idealen Widerstandsethos' in den Sumpf von Gewalt, Raub, Mord und ethnischen Säuberungen abzustürzen. Hiergegen war weder die Heimatarmee gefeit, die nach zwei Seiten hin einen chancenlosen Kampf zu führen hatte, noch irgendeine andere Widerstandsgruppe, welcher politischen, nationalen und weltanschaulichen Couleur auch immer. Diese Realität des Krieges —
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Die Heimatarmee als
Spiegelbild polnischer nationaler Identität
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scheint in vielen Beiträgen des Sammelbandes durch, auch wenn bei manchen Autoren die Erzählung von der Untergrundgesellschaft und ihren militärischen Leistungen im Vordergrund steht. Vieles ist in den vergangenen Jahren über narrative Konstruktionen geschrieben worden und darüber, wie aus dem Krieg das vielbeschworene »Kriegserlebnis« wird44. Im vorliegenden Buch kommt das Wort »Diskursanalyse« nur am Rande vor. Die meisten Autoren bedienen sich klassischer Methoden der Geschichtswissenschaft und ihrer Teildisziplinen, darunter Militär-, Diplomatie-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte45. Sie rekonstruieren Strukturen, Ereignisfolgen und Beziehungsgefüge. Für eine umfassende Synthese und Deutung des Phänomens »Armia Krajowa« fehlen bislang noch die Grundlagen. Diese für die weitere Diskussion über den Stellenwert der Heimatarmee zugänglich zu machen, ist ein Anliegen dieses Buches. Schließlich hat ein weiterer, sehr einfacher Grund die Herausgabe des Sammelbandes motiviert. Wer seinen Nachbarn kennenlernen möchte, sollte sich mit dessen Vergangenheit befassen. Dies gilt um so mehr, wenn, wie im Fall deutschpolnischer Nachbarschaft, das Jahrhunderte währende Nebeneinander und Miteinander auch Phasen fürchterlicher Auseinandersetzungen und Verbrechen aufweist, wie Krieg und Holocaust, aber auch die Vertreibungen der Nachkriegszeit. Während sich das NATO-Mitglied Polen bereit macht, der Europäischen Union beizutreten, nimmt der Dialog über diese Geschichte erst langsam Gestalt an. Dies, und hierfür sind vor allem die Aufsätze im dritten Abschnitt dieses Buches, aber auch im Kapitel über die polnische Nachkriegszeit ein Beispiel, gilt für Polen, die Ukraine und Weißrußland gleichermaßen. Es trifft aber auch auf Deutschland zu, wo die Historisierung des Krieges und seiner Geschichte, bezogen auf Polen, immer noch einen weiten Weg vor sich hat. Diese Historisierung zu befördern, ist der Sinn dieser Arbeit. Die Kenntnis der Perspektiven und Interpretationen der »anderen« wird hoffentlich die Diskussion und das Nachdenken darüber voranbringen, wo eigene Sichtweisen ihren Ursprung haben. Für diesen Prozeß sind Geschichte und Mythos der polnischen Heimatarmee ein gutes Beispiel. * * *
Chiari, Dr. phil., geb. 1965, wissenschaftlicher. Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Zeppelinstraße 127/128, 14471 Potsdam. Bernhard
E-mail:
[email protected]
Horn, Erlebnis und Trauma. Die narrative Konstruktion des Ereignisses in Psychiatrie Kriegsroman, in: Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenumbruch des Ersten Weltkrieges, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Wien 2000, S. 131-162, oder die einführenden Bemerkungen von Bruno Thoß zum Abschnitt »Erinnerungskulturen und Nachkriegszeiten«, in: Die Wehrmacht. Mythos und Realität (wie Anm. 2), S. 635-640. Vgl. Bernhard Chiari, Militärgeschichte. Erkenntnisgewinn und Praxis, in: Perspektiven der Historischen Friedensforschung. Frieden und Krieg, hrsg. von Benjamin Ziemann, Essen 2002, S. 286-302.
Vgl. und
Eva
I.
Die Heimatarmee und ihr historisch-militärisches Umfeld
Bernd Martin
Barrieren Brücken Barrikaden. Historische Perspektiven deutsch-polnischer Nachbarschaft im 19. und 20. Jahrhundert —
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Warschau, seit 1596 die Hauptstadt Polens, fiel in den letzten beiden Jahrhunder-
ten zusammen mit zentralen Teilen des Landes insgesamt dreimal unter deutsche Militärherrschaft. Beim ersten Mal schieden die Deutschen, allesamt preußische Beamte und Militärs, als aufrichtige Freunde der Polen. Als der preußische Militärgouverneur, General Ludwig v. Köhler, im November 1807 dem neuen polnischen Statthalter von Napoleons Gnaden, Józef Poniatowski, die Amtsgeschäfte übertrug und die Stadt verließ, huldigte ihm die »Warschauer Zeitung« mit den Worten: »Das von Güte und Milde geleitete Regiment dieses Beamten gewann ihm die allgemeine Liebe und Verehrung; er schied, begleitet von dem Segen und den guten Wünschen der Einwohner, denen er Herrscher und Freund zugleich war, um dafür ihre dauernde Dankbarkeit und Hochachtung zu finden1.« Beim zweiten Mal, genau 111 Jahre später am Ende des Ersten Weltkrieges, wurden die Deutschen, deren Gastrecht nach dem militärischen Zusammenbruch des Reiches abgelaufen war, aus der Hauptstadt des nunmehr wieder zu begründenden polnischen Nationalstaates hinauskomplirnentiert. Der neue Regierungschef Józef Pilsudski wurde noch schnell unter militärischem Ehrengeleit aus Mag1
Land der großen Ströme. Von Polen nach Litauen, Berlin 1996 (= Deutsche Geschichte im Osten Europas, 6), S. 188. Die folgenden Überlegungen fassen Gedanken und Interpretationen zusammen, die ich bereits in vorangegangenen Abhandlungen dargelegt habe. Zu nennen sind vor allem: a) Deutschland, Europa und Polen. Historische Hypotheken und zukunftsweisende Perspektiven, in: Polen und Deutsche, hrsg. von Zygmunt Zielinski, Lublin 1994, S. 204-230; polnische Fassung: Niemcy, Europa i Polska. Historyczna hipoteka i perspektywy na przyszlosc, in: Rola Niemiec w procesach rozwojowych Europy XIX/XX wieku, hrsg. von Antoni Czubiñski, Poznan 1995, S. 407-426; b) Der Warschauer Aufstand 1944, hrsg. von Bernd Martin und Stanislawa Lewandowska, Warschau 1999; polnische Fassung: Powstanie Warszawskie 1944, praca zbiorowa pod redakcja, Stanislawy Lewandowskiej i Bernda Martina, Warszawa 1999; c) Die internationale Lage im Sommer 1944: Interalliierte Zusammenarbeit Anfänge des Kalten Krieges, in: ebd., S. 39-56; d) Widziane z niemieckiej strony, in: Gazeta Wyborcza, 1.8.1999; Auszüge auf Deutsch unter dem Titel: Der Warschauer Aufstand 1944. In Deutschland verdrängt und vergessen -Trauma und Heldenepos in Polen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 49 (1999), 4, S. 43-45; e) Zum Verhältnis zwischen Deutschen und Polen im 19. und 20. Jahrhundert, in: ClausewitzProtokolle 3/2001, hrsg. vom Clausewitz-Zentrum Hamburg, S. 12-3Í; f) Masuren Mythos und Gesclüchte, 3. Aufl., Karlsruhe 2002; polnische Ausgabe: Mazury mity i historia, Warszawa 2000. In diesen Abhandlungen auch weiterführende Literatur, im folgenden werden nur Zitate belegt und einige weitere Titel angeführt.
Joachim Rogall,
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Bernd Martin
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deburger Festungshaft nach Warschau verbracht. Dann zog der deutsche Generalgouverneur Hans Hartwig v. Beseler nach friedlich verlaufener Entwaffnung der deutschen Garnisonstruppen mit diesen und seinen Stäben ab. Nachrufe auf eine segensreiche Tätigkeit der Deutschen in ihrer gut dreijährigen Besatzungszeit fanden sich nicht in der polnischen Presse, die vollauf mit der Bildung des neuen Staatswesens beschäftigt war. Doch zollten dem General insgeheim viele Polen, vor allem jüdischer Abstammung, für die in wenigen Jahren geleistete Aufbauarbeit Hochachtung. Beim dritten Mal, am 17. Januar 1945, flüchtete der deutsche GeneralgouverHans Frank »bei herrlichstem Winterwetter und strahlendem Sonnenschein«2, wie er gleichsam zur Erleichterung seines Gewissens dem Diensttagebuch anvertraute, aus dem Königsschloß in Krakau nach Westen, verflucht und gehaßt von einem ganzen Volk, das unter seiner Terrorherrschaft an den Rand der physischen Vernichtung gekommen war. Der oberste deutsche Statthalter war zur Inkarnation des Bösen, zum Symbol deutscher Untugenden geworden. Der deutsche Teufel wurde, obgleich neben Albert Speer der einzige Hauptkriegsverbrecher, der in Nürnberg zu seinen Untaten stand, vom allkerten Militärtribunal wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet. Aus polnischer Sicht war er ledigkch Anführer einer mörderischen Verbrecherbande gewesen, die alle in miktärischer oder ziviler Position im besetzten Polen tätigen Deutschen umfaßte und, nach Kriegsende, auch die sich noch in Polen aufhaltenden Deutschen, vor allem in den neuen Westprovinzen, einschloß. Deutsch wurde synonym für verbrecherisch, auch wenn der Begriff mit Rücksicht auf den neu geschaffenen sozialistischen deutschen Bruderstaat bald durch das Kunstwort »hitlerfaschistisch« abgelöst wurde. Nunmehr sollten alle Deutschen, die sich nicht zur neuen kommunistischen Weltordnung bekennen wollten oder konnten, als »Hitlerfaschisten« am polnischen Pranger beschimpft werden. Das Tischtuch zwischen Polen und Deutschen, zu dessen endgültigem Zerschneiden einst Generalgouverneur Frank seine Mitarbeiter ermahnt hatte, war tatsächneur
lich zerschnitten und blieb trotz sozialistischer Anknüpfungsbestrebungen von beiden Seiten der Oder-Neiße-Linie über zwei Jahrzehnte getrennt. Erste Fäden wurden in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre gesponnen doch Zerreißproben hielt diese behelfsmäßige Verbindung noch lange nicht aus. Erst mit der deutschen Wiedervereinigung und den beiden grundsätzlichen Abkommen mit Polen über die Endgültigkeit der Grenze und dauernde Freundschaft wurde das zerschnittene Tischtuch überhastet und oftmals von wohlmeinenden, aber unbeholfenen Händen ein wenig schief zusammengenäht. Auch wenn mit dem NATO-Beitritt Polens (1999) sogar ein Multinationales Korps Nordost in Szczecin (das nunmehr sogar auch amtlich wieder Stettin heißen darf) deutsch-polnisch(-dänisches) militärisches Miteinander demonstriert, besteht nach wie vor eine große Asymme-
trie in den
beidseitigen Beziehungen.
Hans Frank, Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen, hrsg. von Werner Präg und Wolfgang Jacobmeyer, Stuttgart 1975, S. 3.
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Selbst wenn der Kreis militärischen Einvernehmens nach zweihundert Jahren wieder geschlossen scheint, das herzliche Verhältnis zwischen vom Geist der Aufklärung gemeinsam erfaßten Preußen und polnischem, noch dazu meist deutsch bestimmtem Bürgertum, wie einst in Warschau um 1800, ist längst noch nicht wieder erreicht. Die mentalen Barrieren, in der Geschichte der wechselseitigen Beziehungen entstanden und politisch instrumentalisiert, und die Barrikaden, heiß umkämpft im Warschauer Aufstand 1944, stehen bislang einem normalisierten, alltäglich nachbarschaftlichen Verhältnis im Wege. Auch die Geschichtswissenschaft beider Länder hat die Vergangenheit im Sinne einer Gestaltung der Gegenwart benutzt und folglich laufend entstellt. Die deutsch-polnische Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte wird in Polen verständlicherweise nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs als Tal der Finsternis hingestellt, aus dem lediglich bei genauerem Hinsehen einige helle Punkte aufleuchten. Die polnische Seite thematisierte jahrzehntelang den ewigen deutschen Drang nach Osten3: Von Tannenberg 1410, der ersten entscheidenden deutschen Niederlage, führte eine Traditionslinie bis in das Jahr 1945, der endgültigen Niederlage der Deutschen. Kreuzritter und Angehörige der SS wurden aus dieser Perspektive miteinander gleichgesetzt und der erste Kanzler der Bundesrepublik im Ornat des Deutschen Ordens nur zu gern in diese Traditionslinie eingereiht. In Grunwald ist dieses Geschichtsverständnis 1960 zur 550-Jahr-Feier der Schlacht von kommunistischer Hand in Granit gehauen worden. Dieses Nationaldenkmal, im Sommer von polnischen Schulklassen und Touristen umschwärmt, hat den Sturz des Kommunismus bislang unbeschadet überstanden. In Deutschland wiederum lagen über jeder wissenschaftlichen Beschäftigung mit den historischen deutschen Ostgebieten die Schatten der Vertreibung von Millionen Deutschen und den dabei ums Leben gekommenen Menschen. Jede Analyse des deutsch-polnischen Verhältnisses aus deutscher Feder lief daher Gefahr, entweder als »Vertriebenenliteratur« vereinnahmt oder als propolnische »Liebedienerei« attackiert zu werden. Das Feld wurde daher in Deutschland bis vor zehn Jahren der amtlichen Geschichtsschreibung der westdeutschen Vertriebenenverbände oder sozialistischer Historiker in der DDR überlassen. Beide verbanden miteinander, wenn auch insgeheim, negative Klischees vom Nachbarland, wie das unausrottbare, schon von Friedrich dem Großen etwas eleganter formulierte Schlagwort von der »Maladie polonaise«. Die jüngste Debatte über ein Denkmal für die deutschen Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs mag als Ausläufer eines emotional befrachteten Dialoges mit Polen gelten. In dem Streit hat die polnische Seite mit ihrem Vorschlag, ein Denkmal für alle, deutsche wie polnische Vertriebene gemeinsam, in Breslau zu errichten, einen bemerkenswert nüchternen Standpunkt eingenommen. Die schlesische Hauptstadt mit 630 000 fast ausschließlich deutschen Bewohnern bei Kriegsbeginn hat schließlich als polnisches Wroclaw 1945 den größten Bevölke—
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Hartmut Boockmann, Der Deutsche Orden, 3. Aufl., Berlin 1989; Wolfgang Lippermann, Der Ordensstaat als Ideologie. Das Bild des Deutschen Ordens in der deutschen Geschichtsschreibung und Publizistik, Berlin 1979.
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zwischen Deutschen und Polen erlebt. Historisches Erinnern, in Denkmälern, kann glaubhaft nur in polnisch-deutschen Gemeinschaftswerken vermittelt werden. Nationale Denkmäler dienen in der Regel der Förderung eines einseitigen Geschichtsverständnisses oder lassen sich zumindest dafür mißbrauchen. Die Geschichte Polens der letzten zwei Jahrhunderte, bestimmt von Unfreiheit und Unfrieden, läßt sich kaum auf das preußisch-polnische bzw. deutsch-polnische Verhältnis reduzieren. Das Mkakel des Hauses Brandenburg und das Debakel der (Adels-)Republik Polen stehen nicht in einem ursächlichen Zusammenhang. Der Aufstieg Preußens zur deutschen Führungsmacht vollzog sich nicht, wie es unter dem Schlagwort der »negativen Polenpolitik«4 nur zu gern subsumiert wird, auf Kosten Polens. Die polnischen drei Teilungen brachten Preußen zwar einen territorialen Gewinn, vor allem die Verbindung mit Ostpreußen, stellten jedoch in wirtschaftlicher Hinsicht immer eine Belastung dar, die durch die nationalen Kämpfe des 19.Jahrhunderts noch schwererwog. Preußens Stärke basierte daher nicht, wie es polnische Schlagworte suggerieren, auf dem Landraub, sondern auf seiner wktschaftlichen Erstarkung in Schlesien und den erst 1815 erhaltenen Rhein-Ruhr-Territorien. Otto v. Bismarck als bestgehaßter Politiker Preußens vollzog die deutsche Einigung nach seinen Worten auf der Grundlage von Blut und Eisen, das heißt in Kriegen, in Wkklichkeit jedoch mit Hilfe von Eisen und Kohle, der schwerindustriellen Basis des Landes. Nach der dritten polnischen der endgültigen Teilung war die Hälfte des preußischen Staatsgebietes ursprüngliches Territorium der polnischen Republik, über ein Drittel der Einwohnerschaft bestand aus Polen. Die preußische Verwaltung in den neu hinzugewonnenen Gebieten »Neusüdostpreußens« scheint nicht übermäßig effizient gewesen zu sein, dennoch aber wirtschaftliche Verbesserungen auf dem Lande und das kulturelle Leben in den größeren Städten gefördert zu haben.
rungsaustausch Form
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Der aus Königsberg stammende Regierungsassessor, Komponist und Gespenstergeschichten-Erzähler E.T.A. Hoffmann wurde wegen bösartiger Karikaturen seiner Vorgesetzten, die er allesamt als Schlafmützen zeichnete, von Posen nach Plock an der Weichsel strafversetzt, von wo er schließlich nach Warschau gelangte. Dort verpaßte er in der preußischen Behördenresidenz, in der ulica Fréta zwischen Alt- und Neumarkt gelegen, den Juden Familiennamen nach Belieben, Lust und Laune. Die blaue Blume der Romantik fand sich vielgestaltig in den neuen jüdischen Namen wieder. Im wesentlichen widmete sich der preußische Regierungsbeamte der Förderung der Künste und des musikalischen Lebens in Warschau. Als die Preußen nach der Niederlage gegen Napoleon diese Gebiete verlassen mußten, wurde E.T.A. Hoffmann wie manch andere seiner Amtskollegen stellungslos ein —
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Klaus Zernack prägte dieses Schlagwort, siehe: Preußen Deutschland Polen. Aufsätze zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, hrsg. von Wolfram Fischer und Michael G. Müller, Berlin 1991; vgl. auch Zernacks grundlegende Studie aus östlicher Perspektive: Polen und Rußland. Zwei Wege in die europäische Geschichte, Berlin 1994; ähnlich im Ansatz: Martin Schulze-Wessel, Rußlands Blick auf Preußen. Die polnische Frage in der Diplomatie und der politischen Öffentlichkeit des Zarenreiches und des Sowjetstaates 1697-1947, Stuttgart 1995. -
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der sich 1919 nach Abtretung der Ostgebiete Preußens wiederholen antipolnische Ressentiments schüren half. Im Jahre 1806 schieden die Preußen anscheinend ohne Bitterkeit. Noch zur Zeit der Besetzung waren auf deutscher wie auf polnischer Seite Pläne erörtert worden, aus Preußen und Polen eine Doppelmonarchie nach dem Vorbild der Wettiner zu machen und auf diese Weise zumindest Zentralpolen ein hohes Maß an Unabhängigkeit unter dem Hohenzollernherrscher zu gewähren. Die preußischen Reformer rückten von dem Gedanken einer staatlichen Union erst einmal wieder ab, wollten jedoch den polnischen Landesteilen Autonomie unter der preußischen Krone einräumen. Polen als wirtschaftliche und kulturelle Einheit zu betrachten und den polnischen Landesteilen ein hohes Maß an Selbständigkeit zu geben, verpflichteten sich schließlich 1815 auf dem Wiener Kongreß die drei Teilungsmächte Preußen, Österreich und Rußland. Die dem Metternichschen monarchischen Prinzip verhafteten drei Ostmächte behandelten jedoch Polen rasch als Bindeglied, um die restaurative Ordnung im eigenen Lande wie in Mittel- und Osteuropa überhaupt zu stärken. Das gemeinsame Interesse an Polen und seiner Aufteilung blieb nahezu hundert Jahre lang, bis 1914, der Kitt, der die drei Monarchien zusammenhielt und den Osten Europas sowohl vor Kriegen als auch größeren revolutionären Erschütterungen bewahrte. Die polnische Frage wurde im 19. Jahrhundert zu einer außenpolitischen Allianzfrage der drei Ostmonarchien und keinesfalls eine ausschließlich auf Preußen und Bismarck reduzierte Problematik. Für nationalpolnische Einheitsbestrebungen blieb daher schon aus Gründen der Staatsräson der multiethnisch zusammengesetzten Monarchien wenig Spielraum. Die russische Autokratie reagierte auf den wiedererwachenden polnischen Nationalismus am heftigsten. Nach zwei blutig niedergeschlagenen polnischen Aufständen (1831 und 1863) wurde das sogenannte Kongreßpolen rücksichtslos russifiziert. Die russische Knute sorgte in diesen polnischen Teilen für Friedhofsruhe und verhinderte bis zum Weltkrieg auch weitgehend jegliche Form der Modernisierung. Der russische Teil Polens wurde auf den Status eines zentralrussischen Gouvernements gedrückt, die einstige europäische Metropole Warschau in den Rang einer russifizierten Verwaltungshauptstadt hin-
Vorgang,
sollte und
abgestuft. Die gewaltsame Beseitigung aller europäischen Bezüge der polnischen Hauptstadt sollte schließlich im Zweiten Weltkrieg erneut zum Hauptanliegen einer Besatzungsmacht werden, diesmal der deutschen. Eine ausdrückliche Weisung Adolf Hitlers sah die Umwandlung Warschaus in eine die Weichselübergänge sichernde deutsche Kleinstadt vor. Als diese Zielsetzungen Ende 1944 utopisch wurden, sollte die Stadt auf Befehl der deutschen Führung dem Erdboden gleichgemacht werden. Die Rote Armee übernahm im Januar 1945 ein Trümmerfeld, das sich für einen kommunistisch-sozialistischen Wiederaufbau geradezu anbot, bei dem die alte Verbindung zu Europa weiterhin gekappt gewesen wäre. Doch ein auch durch die Kriegsereignisse ungebrochenes historisches Nationalbewußtsein der Polen verhinderte es, daß
aus
Warschau ein stalinistisches Prunkstück wurde. Statt des-
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wurde mit dem historischen Wiederaufbau der Altstadt demonstriert, daß Porussischer Bevormundung zu Europa gehöre. Dieser Bezug auf ein freiheitliches Europa friedkch miteinander verbundener Nationalstaaten, heute die polnische Idealvorstellung von der Form einer nach Osten erweiterten Gemeinschaft, bildete im Völkerfrühling des Vormärz das einigende Band zwischen den deutschen Liberalen und den polnischen Freiheitskämpfern. Als Hort der Reaktion galt südwestdeutschen Bürgerlichen und polnischen, häufig adekgen Emigranten bei ihren Verbrüderungsfeiern, wie 1832 auf dem Hambacher Schloß, die russische Autokratie. Berlin und Wien erschienen den Demokraten beider Länder als russische Vorposten in Deutschland, um sowohl die nationale Einigung zu hintertreiben als auch alle Freiheitsbestrebungen im Keime zu ersticken. Doch diese »Polenschwärmerei«5 der deutschen Liberalen war letztlich unaufrichtig bzw. rein emotional, da sie nicht von einer Gleichrangigkeit beider Völker ausging. Die Deutschen feierten die polnischen Helden, um sich selbst in ihrem angestrebten Aufbegehren gegen die eigene Obrigkeit Mut zu machen. Die Polen waren den deutschen Liberalen Vorbilder im Kampf gegen die Reaktion, aber keine gleichrangigen Verbündeten. Als es in Deutschland selbst zu revolutionären Erhebungen im Jahre 1848 kam, wurden die östkchen slawischen Nachbarn als Störenfriede schnell fallengelassen. Fortan gingen der deutsche und der polnische Nationalismus ihre eigenen Wege, die jedoch im Falle einer Nationalstaatsgründung auch nur einer Seite einander kreuzen mußten. Denn zwischen Deutschen und Polen bestand im Osten, ganz anders als im Westen gegenüber Frankreich, keine klare ethnische Scheidelinie. Über eine Region von fast tausend Kilometern lebten bei wechselnder Dominanz Deutsche und Polen in einem weitläufigen Siedlungsraum nebeneinander. Polens Selbstdeutung als Messias unter den Völkern, das allein berufen sei, durch seinen Freiheitskampf auch die anderen unfreien Völker zu erlösen, erfuhr durch die Abspaltung der deutschen Liberalen eine Kräftigung. Polen stand nunmehr allein als Märtyrer da. Freiheitsideale der romantischen Literatur, die erstmals im griechischen Freiheitskampf anklangen (Lord Byron), wurden nunmehr auch auf Kampf und Leiden des polnischen Volkes übertragen. Polens populärster romantischer Dichter, Adam Mickiewicz, entdeckte 1832 die polnische Seele, die aus den toten polnischen Helden auferstanden sei, um eines Tages, in das polnische Volk zurückgekehrt, alle Völker Europas aus der Knechtschaft zu befreien. Das polnische Unabhängigkeitsstreben wurde fortan immer romantisch verklärt, der Kampf um des Kampfes willen ohne Hoffnung auf Sieg geführt, der Tod als gottgewolltes Martyrium verinnerlicht. Romantik und Religion blieben bei allen Erhebungen bis in die jüngste Zeit des politischen Wandels der 1980er Jahre (Solidarsen
len
trotz erneuter
Eberhard Kolb, Polenbild und Polenfreundschaft der deutschen Frühliberalen. Zur Motivation und Funktion außenpolitischer Parteinahme im Vormärz, in: Saeculum, 25 (1975), S. 111-127; siehe auch: Manfred Kittel, Abschied vom Völkerfrühling? National- und außenpolitische Vorstellungen im konstitutionellen Liberalismus 1848/9, in: Historische Zeitschrift, 275 (2002), 2, S. 333-383, zu den Polendebatten in der Paulskirche S. 357 ff.
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dem Streben nach persönlicher Freiheit und nationaler Unverwoben. Der von deutscher Seite im Zweiten Weltkrieg so geabhängigkeit wie im Warschauer Aufstand 1944, bewunderte Fanatismus fürchtete, aber auch, der Soldaten der Heimatarmee, auch in aussichtsloser Lage diszipliniert bis in den
nosc) aufs engste mit
Tod hinein zu kämpfen, gründete in einer religiös-romantischen Märtyrerideologie. Mit dem Funktionswandel des deutschen Nationalismus, der Abkehr der Liberalen in der großen Polendebatte der Paulskirche (24. bis 27. Juli 1848) von der europäischen Solidarität hin zum Prinzip des ethnisch geschlossenen Nationalstaates, war einem deutsch-polnischen politischen Ausgleich längst der Weg verbaut, bevor Bismarck in seiner antipolnischen Realpolitik die Konsequenzen daraus zog. Vor der Reichsgründung bahnte sich als Folge dieser liberal-nationalistischen Selbstzentrierung ein deutsches Überlegenheitsgefühl an, dem die Polen nunmehr als verdummtes Bauernvolk, von jüdischen Schacherern und einem leichtlebigen Adel ausgeplündert, in negativen Klischees entsprechen mußten. Schon in der Paulskirche waren aus liberalem Munde Worte zu vernehmen gewesen, die eine großdeutsche Mission gegen das Vordringen der Slawen auf dem Balkan, bis hin an den Bosporus, beschworen. Chauvinistisch-irrationales Gedankengut griff nunmehr auch im deutschen Bürgertum um sich. Träume einer preußisch-deutschen Weltgeltung reiften, die lange vor der Reichsgründung als Reflex eines irredentistischen Nationalismus zu sehen sind und nach 1871 den vermeintlich zu spät und zu kurz gekommenen Nationalstaat kompensieren halfen. Völkische Feindbilder entstanden, völkische Kampfverbände, wie etwa der Ostmarkenverein, formierten sich, um die in der Geschichte unterlegenen Polen hatten sie es doch nicht so weit gebracht wie die Deutschen in ihre Schranken zu weisen. Hatte Heinrich Heine das polnische Selbstbild von der Wiederauferstehung des Landes übernommen und den emphatischen Glaubenssatz »Polen ist noch nicht verloren« unterstrichen, so sprach Ernst Moritz Arndt, wortgewaltiger Poet deutscher Staatlichkeit, bereits 1848 abfällig vom »Polenlärm«. Mit Gustav Freytags Roman »Soll und Haben« (1855), der zum bürgerlichen deutschen Bildungskanon bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus gehörte, hatten die Stereotype vom unterlegenen Polen zusammen mit dem Schlagwort von der »polnischen Wirtschaft« literarische Geltung erfahren. Ein noch zehn Jahre zuvor schwärmerisch-positives Polenbild hatte sich vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse in ein negatives gewandelt. Im Zuge der deutschen Staatswerdung ging der deutsche Nationalismus in die Offensive und zwang die nach wie vor in einem geteilten Lande lebenden Polen in die Defensive. Der mit harten Bandagen ausgefochtene deutsch-polnische Nationalitätenkonflikt in der preußischen (Reichs-)Provinz Posen wurde von beiden Lagern aus ihrem Selbstverständnis heraus reaktiv geführt. Schließlich antworte man ja nur auf die Provokationen der »frechen Polen« oder der »selbstherrlichen Deutschen«6. Doch bei aller gegenseitigen Eskalation wurde die Auseinandersetzung in stärkerem Maße durch Berliner Verordnungen bestimmt als durch polnische Defensiv—
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Sabine Grabowski, Deutscher und polnischer Nationalismus. Der deutsche Ostmarkenverein und die polnische Straz 1894-1914, Marburg 1994.
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maßnahmen. Bismarcks Angriffe auf die katholische Kirche, die Sprachverordnungen und nicht zuletzt die Ansiedlungspolitik mußten die in der Provinz Posen zahlenmäßig dominierenden Polen herausfordern. Die polnische Seite begann, das preußisch-deutsche Vorgehen unter umgekehrten, nunmehr manchmal auch expansionistischen Vorzeichen zu kopieren. In der historischen Literatur der beiden späteren Nobellaureaten feierte das Bild von den preußischen Landräubern seit der Zeit des deutschen Ordens fröhliche Urständ. In dem Roman »Die Kreuzritter« von Henryk Sienkiewicz und in Schriften von Wladyslaw Reymont, wie dem fiktiven Tagebuch eines Posener Lehrers, wkd das Bild vom kriegslüsternen, aggressiven Deutschen gezeichnet. Die Lektüre dieser Schriften oder etwa das Schwur-Gedicht von Maria Konopnicka, unter dem Eindruck des Schulstreiks von 1902 verfaßt, gehört bis heute zum polnischen literarischen Bildungskanon7. Stereotypen entstanden auf beiden Seiten
bildungsbürgerlichen Elite beider Länder internalisiert, zu politischen Schlagworten, um die im Grunde unpolitischen und von den Nationalitätenkämpfen kaum berührten Massen in dem ethnischen Mischgebiet aufzuhetund
wurden,
von
der
zen.
In der Realität des Alltags hatte diese deutsch-polnische Auseinandersetzung keine vollständige Abschottung beider Länder oder etwa militante Ausschreitungen zur Folge, sondern förderte eher ein Konkurrieren, vor allem im Wktschaftsleben. Der hohe Entwicklungsstand der einst preußisch beherrschten polnischen Teilungsgebiete hat sich bis heute gehalten; die Posener bezeichnen sich noch immer gern als Preußen Polens. Auch die polnischen Wehrpflichtigen leisteten bis zum Ende der Monarchie ohne Murren ihren Wehrdienst ab und kämpften im Ersten Weltkrieg für einen Sieg des Deutschen Reiches. Selbst die polnischen Abgeordneten im Preußischen Landtag und ab 1871 im Deutschen Reichstag gaben sich in ihrem Abstimmungsverhalten, obwohl von Bismarck als Reichsfeinde gebrandmarkt, meist regierungskonform8. Dies trifft selbst für den späteren Insurgentenführer, Wojciech Korfanty, bei den schlesischen Aufständen zu, der über ein Jahrzehnt der polnischen Fraktion im preußischen Landtag vorstand. Auf höchster wie auf unterer Ebene war das Klima zwischen Deutschen und Polen in der Monarchie noch keinesfalls völlig vergiftet. Geifernde Nationalisten waren auf deutscher Seite vor allem unter den Großgrundbesitzern und der meist gegen ihren Willen in den Osten versetzten Beamtenschaft, häufig auch die zweite Garnitur der 7
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Maria Konopnicka (1842-1910), Rota (Schwur) 1910. Die extrem antideutsche dritte Strophe lautet: »Nicht mehr wird der Deutsche/uns speien ins Gesicht/Die Kinder uns nicht germanisieren/ Bald kommt der Waffen ehernes Gericht/Der Geist wird uns anführen/Blitzt nur der Freiheit Goldenes Horn zur Wehr!/Dazu verhelfe uns Gott der Herr.« Zit. bei Helga Hirsch, Die ewige preußische Gefahr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.1.2001; siehe auch Gregor W.
Strobe!, Die polnische »Preußenkrankheit« und ihre politische Instrumentalisierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 53/97 (1997), S. 21-33; polnischer revisionistischer Standpunkt: Witold Molik, Die preußische Polenpolitik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Überlegungen zu Forschungsstand und -Perspektiven, in: Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, hrsg. von Hans-Henning Hahn und Peter Kunze, Berlin 1999, S. 29-40. Demnächst erscheint eine Studie von Albert S. Kotowski (Bonn) zur polnischen Reichstagsfraktion.
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preußischen Bürokratie, zu finden. Auf polnischer Seite fochten die wenigen Akademiker in vorderster Front. Ob die polnische Selbstbehauptung nicht langfristig und auch zwangsläufig in einen Assimilationsprozeß übergegangen wäre, läßt sich aufgrund der Heiratsstatistiken mutmaßen. Jede zehnte Ehe war eine Mischehe und führte nicht selten zur Germanisierung des Partners. Im Vergleich zur Friedhofsruhe im russischen Teil Polens und der Nonchalance der Österreicher in Galizien nahm sich die preußische Herrschaft, die sich immerhin den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet fühlte, vorteühaft aus. Die Provinz Posen war zu Beginn des Weltkrieges wirtschaftlich hoch entwikkelt, das Analphabetentum nahezu beseitigt, und auch kulturell war sie auf der europäisch bestimmten Höhe ihrer Zeit. Die Polen in Posen waren gelehrige, bisweilen aufbegehrende Schüler der Deutschen gewesen, in der Provinz selbst entstand mehr oder minder eine Gleichrangigkeit beider Volksgruppen. Die Chancen für eine weitere Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses wie überhaupt einer polnischen Staatlichkeit waren bei Kriegsbeginn 1914 nicht vollends vertan. Trotz aller ideologischen Barrieren waren noch immer Brückenschläge möglich, zumal wenn es um die gemeinsame Befreiung der von russischer Seite unterdrückten Polen ging. Die deutsche Seite hat die Möglichkeiten einer positiven Polenpolitik im Ersten Weltkrieg nur zögerlich erkannt und bestenfalls halbherzig umgesetzt. Wohl fochten die polnischen Schützenverbände Józef Pilsudskis, des späteren Gründers und Sachwalters der Zweiten Republik, von Kriegsbeginn an tapfer in den Reihen der österreichisch-ungarischen Armee gegen den russischen Erzfeind. Doch zu einem großzügigen politischen Entgegenkommen konnten sich die Mittelmächte, weder einzeln noch vereint, in den ersten beiden Kriegsjahren durchringen, obgleich ihre Truppen militärisch nach überwältigenden Siegen (Tannenberg) das Feld beherrschten. So blieb es der russischen Seite vorbehalten, die Befreiung Polens vom deutschen Joch zu proklamieren, was angesichts der Zustände im ehemaligen Kongreßpolen und des Zurückweichens der schlecht geführten russischen Armee wenig glaubhaft erschien. Eine austro-pofnische Lösung scheiterte am Widerstand der Ungarn in Wien und grundsätzlichen Bedenken in Berlin gleichermaßen. Die Vereinigung aller polnischen Teilungsgebiete, und somit auch der Provinz Posen, im Rahmen der österreichischen Monarchie hätte eine trialistische Lösung vorausgesetzt, die Beförderung der Slawen zum dritten Staatsvolk, neben Deutschen und Ungarn. Auch das in deutschen liberalen Kreisen favorisierte Mitteleuropa-Konzept fand, wiewohl die zivüe Reichsleitung sich mit ihm hätte anfreunden können, nicht die Billigung der allgewaltigen deutschen Militärführung. Eine Vereinigung Polens unter der Krone der Wettiner, die das Land in Personalunion bereits zwei Generationen lang von 1697 bis 1764 zumindest nominell beherrscht hatten, im Rahmen einer mitteleuropäischen Zollunion wäre ebenso eine tragfähige Alternative gewesen, stieß jedoch auf wenig Gegenliebe in Wien und bei der deutschen Obersten Heeresleitung. Diese strebte eine Grenzregelung unter rein militärischen Gesichtspunkten an. Als Cordon sanitaire bzw. mögliches Aufmarschgebiet gen Osten —
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Bernd Martin
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sollte
aus
polnischen
Gebieten ein sogenannter Grenzstreifen
geschaffen werden,
wie er später mit dem nationalsozialistischen Mustergau Wartheland auch realisiert wurde. An einer polnischen Staatlichkeit war den Militärs kaum gelegen. Statt dessen sollte die des Landes mit Rußland offiziell beibehalten werden, um die Chancen eines Sonderfriedens nicht zu vereiteln und Polen weiterhin als möglichen »Kitt« in einem deutsch-russischen Nebeneinander zu benutzen9. Die deutsche Militärführung hat sich auch später, ob unter Hans v. Seeckt oder Walther v. Brauchitsch, immer für eine Teilung des Landes zwischen Deutschen und Russen ausgesprochen. Die einfachste Lösung erschien, wie so häufig, den Militärs als die beste. Die vierte Teilung Polens im September 1939 im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes entsprach vorrangig erneut militärischen Gesichtspunkten beider Seiten, wurzelte aber auch im historischen Gedankengut der Russen, nunmehr sowjetkommunistisch, und der Deutschen, nunmehr nationalsozialistisch überformt. Selbst die Sondierungen über einen möglichen Separatfrieden zwischen den wenige Jahre später zu ideologischen Todfeinden gewordenen Mächten hatten stets eine erneute Aufteilung Polens zum Ziel, um diesen beiden Seiten unbequemen Staat zu beseitigen. In der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes 1944 nicht ganz zu Unrecht als fünfte Teilung Polens bezeichnet arbeiteten Hitler und Stalin, aber auch das Militär beider Seiten einander in die Hände. Wenn schon der polnische Staat nicht zu vernichten war, dann sollte wenigstens seine Elite liquidiert und Warschau als Symbol polnischer Eigenstaatlichkeit zerstört werden. Im Sommer 1915 hatte sich den Polen in Warschau noch ein zukunftsträchtigeres Szenario geboten. Die militärisch geschlagenen Russen rückten als mutwillige Zerstörer polnischen Besitzes ab, die Deutschen wurden als Befreier begrüßt. Um die Polen für die Sache der Mittelmächte einzunehmen, knüpfte der deutsche Generalgouverneur in seinem Herrschaftsbereich, der den nördlichen Teil des russischen Polens umfaßte der südliche wurde zu einem Militärgouvernement Österreich-Ungarns an die preußische Polenpolitik in Posen an, ohne jedoch die Repressionsmaßnahmen zu übernehmen. Angesichts einer Analphabetenquote von über 70 Prozent setzte General Beseler auf Kulturpolitik, um die russifizierten Polen nach Europa zurückzuführen und damit für die deutsche Sache zu gewinnen. Die Warschauer Universität wurde in einem Festakt demonstrativ als polnisch-abendländische Bildungsstätte wieder eröffnet1", polnische Gymnasien in den Städten neu begründet und ein weit verzweigtes, behelfsmäßiges Volksschulwesen aufgebaut. Unterrichtssprache war selbstverständlich Polnisch. Auch die katholische Kirche, ehedem von der orthodoxen unterdrückt und an den Rand gedrängt, erhielt ihre alte, beherrschende Stellung zurück. Das bisweilen etwas forsche Auftreten der preußischen Mlitärverwaltung wurde zwar in polnischen Kreisen als Bevormundung verübelt, aber doch hingenommen.
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Immanuel Geiss, Der polnische Grenzstreifen 1914-1918, Lübeck 1960. Zeitgenössischer Bericht von Richard Bahr, Im besetzten Polen. Stimmungen und Eindrücke, Berlin 1916. Der neue polnische Rektor stellte seine auf polnisch gehaltene Rede unter den Leitsatz: »Wo Latein aufhört, hört Europa auf.«
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Hingegen stieß die Befreiung der Juden auf breites Unverständnis in der polniBevölkerung und förderte den polnischen Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit. Wie schon über hundert Jahre zuvor bei der letzten preußischen Besetzung wurden die im Russischen Reich rechtlosen Juden erfaßt und vollständig emanzipiert. Viele dieser von jahrhundertelanger Unterdrückung befreiter Ostjuden meldeten sich daraufhin freiwillig zum Arbeitseinsatz in der deutschen Rüstungsindustrie und wanderten in die Großstädte des Reiches ab. Dort stießen sie nicht selten auf eine emanzipierte, materiell gut gestellte, alteingesessene deutschjüdische Oberschicht, die alles daran setzte, die unliebsame Konkurrenz zu marginalisieren. Das Problem der Ostjuden, die häufig unter von daheim gewohnten ghettoähnlichen Bedingungen in den Elendsvierteln deutscher Großstädte hausten, entstand und förderte das primitive Klischee vom schmutzigen und stinkenden Juden, dessen sich die nationalsozialistische antisemitische Propaganda dann so erfolgreich bedienen konnte. Diese unliebsamen Folgen deutscher »kultureller Aufbauarbeit«" in Polen, von der Reichskanzler Theobald v. Bethmann Hollweg stolz dem Parlament berichtete, waren kaum absehbar. Hingegen ist der Berliner Regierung das über einjährige aus dem militärischen Sieg nicht die politischen Konsequenzen anzulasten, Zögern zu haben. Die Proklamation beider Kaiser über eine zukünftige polnische gezogen am 5. November 1916 kam zu spät und stellte als umstrittener Unabhängigkeit Kompromiß keine der beteiligten Seiten zufrieden. Der proklamierte selbständige polnische Staat sollte eine konstitutionelle Erbmonarchie sein, über eine eigene Armee verfügen und einer glücklichen Zukunft unter deutsch-österreichischem Schutz entgegensehen. Die genaue Bestimmung der Grenzen des Königreiches blieb allerdings vorbehalten. Als schließlich nur vier Tage später ein gemeinsamer Rekrutierungsaufruf an die männliche polnische Bevölkerung erging, hatte sich die Freiheitsproklamation selbst diskreditiert. Der Provisorische Staatsrat unter Einfluß von Pilsudski verweigerte bald die Zusammenarbeit mit den Mittelmächten, da er keine eindeutigen Kompetenzen besaß und entsprechende polnische Forderungen ignoriert wurden. Offensichtlich hatten es die deutschen Militärs nur auf die Gewinnung polnischer Soldaten abgesehen, um die Lücken in den eigenen Reihen zu schließen und die Ostfront zu entlasten. Im Brester Frieden mit der jungen Sowjetmacht übergingen die deutschen Militärs die polnischen Belange schließlich vollständig. Bei der Friedenskonferenz waren nicht einmal polnische Vertreter gehört worden. Statt dessen teilte die deutsche Militärführung in dem »Brotfrieden« mit der Ukraine das urpolnische Gebiet des Chelmer Landes, zwischen Lublin und dem Bug gelegen, dem neuen Verbündeten zu und schürte auf diese Weise den alten Gegensatz zwischen Polen und Ukrainern. Generalgouverneur Beseler vermochte den Spagat zwischen einem schen
»anmaßenden Polentum« und einem »gegen alles Polnische
Stenographische
Berichte über die
Verhandlungen
des Deutschen
von
vornherein
Reichstages,
22.
einge-
Sitzung
vom
5.12.1915, Bd 306, S. 428 f.; ferner Werner Conze, Polnische Nation und deutsche Politik im Ersten Weltkrieg, Köln 1958; Heinz Lemke, Allianz und Rivalität. Die Mittelmächte und Polen im
Ersten
Weltkrieg, Köln 1977.
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nommenen Deutschtum«12 nicht länger auszuhalten. Die deutsch-österreichische Besatzungsherrschaft in Polen war gescheitert. Mit der beginnenden militärischen Niederlage setzten die Polen ohnehin auf die Unterstützung der Westmächte, um mit der Niederlage der drei Teilungsmächte die polnische Selbständigkeit wiederzugewinnen. Das glücklose deutsche Intermezzo Polens war beendet und hatte schließlich dazu beigetragen, daß ein großpolnisches Staatswesen in Versailles entstand, das alle Anrainer nur herausfordern konnte. In Polen selbst blieb eine gemischte Erinnerung an eine deutsche Besatzung zurück, die wohl manchmal hart, aber meist
korrekt vorgegangen war und den Wiederaufbau des ehedem russischen Teils beschleunigen half. Dieses Bild vom deutschen Besatzungssoldaten sollte die Erwartungen der Polen beim erneuten Einrücken deutschen Militärs zwanzig Jahre später bestimmen eine krasse Fehleinschätzung, wie sich binnen weniger Tage im September 1939 herausstellte. Nach 123 Jahren der Unfreiheit entstand der polnische Staat auf der Versailler Friedenskonferenz unter erheblichen Geburtswehen in Form der Zweiten Republik neu. Die polnische Frage, insbesondere die nach den Grenzen des neuen Staates, hat die Koalition der Siegermächte wie gegen Ende des Zweiten Weltkrieges schwer belastet. Der britische Premierminister Lloyd George sah in einem um deutsche Gebiete vergrößerten Polen den zukünftigen Unruheherd eines erneuten Weltbrandes, während Frankreich im Bunde mit den polnischen Nationaldemokraten für ein Polen focht, das in seinen Grenzen auch im Westen über das Gebiet vor der ersten Teilung (1772) hinausgehen sollte. Aus nicht vorhandener Staatlichkeit, gewissermaßen aus dem Nichts, sollte über Nacht eine polnische Großmacht entstehen, die das »Dritte Europa« beherrschen soUte. In den aufgewühlten Diskussionen um Grenzen und Regierung (bei Kriegsende 1918 gab es immerhin drei davon in Warschau, Lublin und Paris) hatten die stärker nach Osten gerichteten Föderationspläne des Miktärführers und Vorsitzenden der polnischen Sozialdemokraten, Pilsudski, keine Chancen. Ungehemmt entlud sich ein ungefestigter Nationalismus in Wunschbildern eines großpolnischen Reiches. In Wkklichkeit wurde ein Land, das arm, schwach, zerrissen und ohne Freunde war, in den Strudel der europäischen Nachkriegsgeschichte gerissen. Die polnischen Kommunisten sollten nach 1945, als sie sich von dem Vorgängerstaat distanzierten, nicht ganz zu Unrecht vom »Experiment der Zweiten Repubkk« als einem »grandiosen Irrtum«13 sprechen. Die neue Republik war ein disparater Vielvölkerstaat und tatsächlich vom Augenblick ihrer Gründung an mit allen Nachbarstaaten verfeindet. Von den etwa 34 Millionen Einwohnern stellten die Polen als Staatsvolk lediglich zwei Drittel. Ein knappes Drittel waren nationale Minderheiten, zu denen aus polnischer Sicht die Juden (8,6 Prozent der Gesamtbevölkerung) gerechnet wurden. Die deutsche —
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Wolfgang Jacobmeyer, Die deutsch-polnischen Beziehungen in der Neuzeit als Konfliktproblem, in: Polen und Deutschland. Nachbarn in Europa, hrsg. von Hans-Henning Hahn [u.a.], Hannover 1996, S. 17-33, hier S. 18. Norman Davies, Im Herzen
Europas. Geschichte Polens, München 2000, S.
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Minderheit wurde infolge der raschen Abwanderung vieler Deutscher aus den Städten der Provinz Posen und Westpreußens rasch zur kleinsten (2,3 Prozent der Gesamtbevölkerung, 350 000 Personen), während die Ukrainer das stärkste und auch militanteste Kontingent (10,1 Prozent) ausmachten, gefolgt von der politisch unambitionierten weißrussischen Landbevölkerung, nach der Volkszählung von 1921 knapp eine Million Menschen14. Konfessionelle Gegensätze brachen nun mit unvermittelter Schärfe aus und förderten Vorstellungen von den Minderheiten als Abtrünnigen, die es mit allen Mitteln zu polonisieren und katholisieren gelte. Den meist deutschen Protestanten wurde wie den orthodoxen Ukrainern jedwede Fähigkeit, einmal loyale polnische Staatsbürger werden zu können, von vornherein
abgesprochen.
polnischen Behörden in den neuen Westgebieten die einstige preußische Germanisierungspolitik als barbarisches Verbrechen, um die offiziell angestrebte Entdeutschung zu legitimieren, so wurde die Polonisierungspolitik gegenüber den als minderwertig betrachteten slawischen Minderheiten als abendländisch-zivilisatorische Mission gefeiert. Der polnische Nationalismus, der nicht zufällig in Posen seine Hochburg fand, kopierte das einstige deutsche Vorgehen in seiner radikalsten Form (Ostmarkenverein) und maß mit zweierlei Maß. Das Verhältnis zwischen den beiden neu entstandenen Republiken, der polnischen und der von Weimar, war durch die neue Grenzziehung ohnehin erheblich belastet, wurde jedoch durch mutwillige nationalistische Agitation beider Seiten gezielt vergiftet15. Der Posener Aufstand von Ende 1918, von nationalpolnischer Seite als erster gelungener Freiheitskampf verklärt, wurde von deutscher Seite kaum als ein solcher wahrgenommen. Handelte es sich doch eher um eine gewaltsam vollzogene polnische Regierungsübernahme in der preußischen Provinz Posen, die ohnehin dem neuen Staat von den Siegermächten zugesprochen worden wäre. Die deutGeißelten die
schen Soldaten wurden entwaffnet und auf den Bahnhof eskortiert, um nach Deutschland abgeschoben zu werden16. Nur 21 Jahre später, als deutsche Soldaten erneut in Posen standen, wurde die nunmehr fast rein polnische Stadt zu einem Symbol deutsch-rassisch begründeter Vorherrschaft im Osten umfunktioniert. Als Gauhauptstadt des in das Reich eingegliederten »Mustergaus« Wartheland sollte der Hort des polnischen Nationalismus und Schauplatz deutsch-polnischer Volkstumskämpfe ein für allemal germanisiert werden. Der Umbau des kaiserlichen
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Werner Benecke, Kresy. Die weißrussischen Territorien in der Polnischen Republik, in: Handbuch der Geschichte Weißrußlands, hrsg. von Dietrich Beyrau und Rainer Lindner, Göttingen 2001, S. 153-165, hier S. 156. Roland Gehrke, Der polnische Westgedanke bis zur Wiedereinrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges. Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des europäischen Nationalismus, Marburg 2001; Gerhard Wagner, Die Weimarer Republik und die Republik Polen 1919-1932: Probleme ihrer politischen Beziehungen, in: Die deutsch-polnischen Beziehungen 1919-1932, hrsg. von Wolfgang Jacobmeyer im Auftrag der Gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchkommission, Braunschweig 1985, S. 35-47. Dietrich Voigt, Der großpolnische Aufstand 1918/19. Berichte, Erinnerungen, Dokumente, Marburg 1980.
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Schlosses in Posen zu Hitlers Führerresidenz im Osten17 sollte diesen endgültigen Sieg des Deutschtums über die inzwischen auf einen Sklavenstatus herabgedrückten slawischen Völker demonstrativ unterstreichen. Der deutsch-polnische Antagonismus erreichte seinen Höhepunkt in der deutschen Besatzungspolitik im Wartheland und in der militärischen Konfrontation im Warschauer Aufstand 1944. Die Grundlagen für diese deutsche, verbrecherische Politik des Hasses und die polnische Haltung unbeugsamer, antideutscher Selbstbehauptung waren in der Weimarer Republik und ihrem Konfrontationskurs gegenüber Polen gelegt worden. Deutsche Politiker aller Parteien, die Kommunisten eingeschlossen, hatten sich wiederholt gegen das neu entstandene Polen ausgesprochen. Die neue Republik wurde als »Versailler Bastard« (Reichskanzler Joseph Wirth) denunziert, deren Existenz für Deutschland unerträglich sei. Polen einte erneut seine Gegner. Selbst der in seiner Westpolitik auf Ausgleich mit Frankreich zielende Außenminister Gustav Stresemann konnte sich des Beifalls aller Fraktionen im Reichstag sicher sein, wenn er gegen polnische Übergriffe auf die deutsche Minderheit polemisierte. Auch im Völkerbund in Genf wurde der deutsche Standpunkt, von Stresemann beredt vorgebracht, meist von den Abgeordneten geteilt, wenn es um Verletzungen des Polen 1919 aufgezwungenen Minderheitenschutzvertrages ging. Hatte doch Polen um seine Ostgrenze 1920 einen Krieg mit der jungen Sowjetmacht geführt und im Friedensschluß die Grenze so weit über den polnischen Siedlungsraum nach Osten verschoben, daß diese Gebiete während der Zweiten Republik nur im permanenten Ausnahmezustand halbwegs zu kontrolkeren waren. Stalins spätere Politik der Rückführung (»Wiedervereinigung«) dieser Gebiete in den sowjetrussischen Staatsverband konnte sich daher auf willfährige Mitläufer und Kollaborateure stützen, die nicht allein die von allen Seiten drangsalierten Juden umfaßten. Die Zweite Republik wurde innerlich durch die Nationalitätenkämpfe zerrissen und war darüber hinaus auch überfordert, binnen weniger Jahre völlig unterschiedlich entwickelte Landesteile in einem Staatswesen zu vereinen. Der erste gewählte Staatspräsident, Gabriel Narutowicz, wurde von einem radikalen Nationalisten sogleich ermordet, da er mit den Stimmen der parlamentarischen Vertreter der nationalen Minderheiten gewählt worden war. Sein Nachfolger beugte sich dem nationalen Druck und bezeichnete die polnischen Grenzen in öffentkchen Reden als noch längst nicht endgültig. Erst der Putsch Pilsudskis bog dem chauvinistischen Nationalismus die Spitze ab. Der neue Ministerpräsident würdigte, um ein Zeichen der Entspannung zu setzen, die preußisch-deutsche Politik in Posen, die zu einer höheren Kultur und überlegenen Lebenshaltung in dieser Provinz und einem Ordnungssinn ihrer Bewohner beigetragen habe18. Doch solche Stimmen, Heinrich Schwendemann und Wolfgang Dietsche unter Mitarbeit von Bozena Górczyñska, Hitlers Schloß, erscheint Berlin 2003, poln. Ausgabe in Vorbereitung. Alfred Schickel, Deutsche und Polen. Em Jahrtausend gemeinsamer Geschichte, Bergisch-Gladbach 1984, S. 186; Wojciechowski am 29. April 1924 in Posen, Pilsudski ebendort am 26. Mai 1926.
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die auf Brücken zu den Deutschen verwiesen, blieben in Polen vereinzelt; umgekehrt waren solche Äußerungen in politischen Kreisen Weimars unvorstellbar. Die stärksten Verbindungen gab es jedoch nach wie vor im Kulturellen. Polnische Wissenschaftler, ob Historiker oder Mediziner, hatten in der Regel an deutschen Universitäten studiert, deutsche Methoden übernommen und für die Verbreitung deutschen Gedankenguts in akademischen Kreisen gesorgt. Der Weg Polens nach Europa führte im geistigen Leben der Nation eben über Deutschland und nicht über Frankreich oder England. Deutsch blieb, trotz aller politischer Feindschaft, die wichtigste Fremdsprache in akademischen und intellektuellen Kreisen. Der Besuch des frisch erkorenen Nobelpreisträgers Thomas Mann in Warschau im Jahre 1929 demonstrierte diese polnisch-deutsche Wahlverwandtschaft im geistigen Bereich nachdrücklich19. Der berühmte deutsche Autor wurde zum Archetypen des deutschen Literaten schlechthin, seine Hauptwerke Bildungsder gut polnischen intellektuellen Oberschicht. Die Wirkung von Thomas Mann hält über alle politischen Zäsuren in Polen und Deutschland in der polnischen Literatur bis heute an. Durch seine Emigration, sein bewußtes Distanzieren vom Nationalsozialismus im amerikanischen Exil und nicht zuletzt durch die literarische Thematisierung dieses Schicksals im »Doktor Faustus« sorgte Thomas Mann dafür, daß in Polen das »deutsche Thema« literarisch positiv besetzt blieb und sogar in der Zeit des Kommunismus Vorbildfunktion gewinnen konnte. Im politischen Bereich begann mit der von Pilsudski begründeten SanacjaSammlungsbewegung zur Gesundung Polens die Herrschaft der Obristen und damit zumindest indirekt die der Militärs. Die Offiziere hielten das Land zwar zusammen, verfielen aber mit ihren militärischen Denkmustern leicht ebenso unrealistischen Zielvorstellungen wie die Nationaldemokraten. Außenpolitik mit Augenmaß war nicht gerade ihre Stärke, wenn immer wieder der polnische Großmachtstatus betont wurde. Bei der angespannten Lage im Inneren des Landes bot sich die Außenpolitik jedoch als ein Feld an, die inneren Spannungen und den nationalen Überdruck nach außen abzulenken. Das polnische Offizierkorps wurde auch in der Zweiten Republik in überkommenen Traditionen einer höfisch-feudalen, längst untergegangenen Welt sozialisiert. Es bildete daher, dem hohen Offizierkorps der Reichswehr nicht unähnlich, eine standesbewußte Klasse, die einen Staat im Staate repräsentierte und für die Belange des Volkes wenig Interesse zeigte. Militärische Aufrüstung und Großmachtpolitik sollten daher auch in Polen vor sozialen Reformen rangieren. Das Gefühl militärischer Überlegenheit wurde von dieser Obristengruppe systematisch geschürt, im Offizierkorps verinnerlicht und schließlich in Planungen umgesetzt, die wie selbstverständlich davon ausgingen, in einem Konfliktfall mit dem Deutschen Reich in drei Tagen in Berlin zu stehen. Die Schaukelpolitik des Außenministers Józef Beck (1932-1939) zwischen Paris, Berlin und Moskau basierte auf dieser militärischen Prämisse der Unbesiegbarkeit. Auch als im Dritten Reich die Wehrmacht massiv aufgerüstet hatte, blieb der -
Hubert Orlowski, Das Bild des Deutschen in der land (wie Anm. 12), S. 118-129.
polnischen Literatur,
in: Polen und Deutsch-
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Glaube an einen kurzen Krieg mit Deutschland im polnischen Militär ungebrochen. Diese Verblendung der polnischen miktärischen Führung sollte sie im August 1939 zu grotesken Fehleinschätzungen und während des Feldzuges im September zu ebenso grotesken strategischen Fehlern verleiten. Die polnische Miktärführung hatte 1939 versagt, sollte dies erneut 1940 unter dem neuen Regierungschef im Exil Wladyslaw Sikorski beim Einsatz des polnischen Expeditionskorps in Frankreich tun, und schließlich, mit verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung, im Warschauer Aufstand. Das polnische Offizierkorps, auch und erst recht in der Armia Krajowa während des Zweiten Weltkrieges, war zu sehr vom Volk abgehoben, als daß es sich für dessen Schicksal interessierte. Die Truppen wurden ohne Rücksicht auf Verluste in den Heldentod getrieben, der wiederum entsprechend der verinnerlichten Märtyrerideologie der einzig richtige Tod für das polnische Vaterland war. Die Annäherung, die sich zwischen dem nationalsoziakstischen Deutschland und dem Polen Pilsudskis im Jahre 1933 vollzog und schließlich in einem Nichtangriffs- und Freundschaftsvertrag am 26. Januar 1934 mündete, verdankte sich realpolitisch einer vorübergehenden Kongruenz der Interessen, gründete aber auch auf den historischen Brücken zwischen beiden Ländern20. Den Pakt als Zweckallianz, Betrugsmanöver oder gar gezielte Kriegsvorbereitung abzutun, vermag vielleicht Hitlers Motivlage zu erklären, nicht aber die der polnischen Seite. Gemeinsamkeiten lagen in dem Streben nach nationaler Geschlossenheit unter einer diktatorischen Führung und in der Bekämpfung der gleichgesetzten Gegner, der Juden und Bolschewisten. Boykottbewegungen gegen die Juden und alle Planungen, dieses »verderbliche Volk« loszuwerden, erfreuten sich in beiden Ländern großer Beliebtheit. Der ursprüngkch auf deutsche antisemitische Kreise zurückgehende Plan, die europäischen Juden nach Madagaskar auszusiedeln, wurde sogar von der offiziellen polnischen Politik aufgegriffen und Frankreich auf diplomatischem
Wege präsentiert. Die Vorstellung, den polnischen Nationalismus und den deutschen nicht länger aufeinander zu hetzen, sondern statt dessen zu bündeln und gegen die Sowjetunion gemeinsam zu richten, besaß eine große Attraktivität. Nationalsozialistische Politiker wie Hermann Göring, Joseph Goebbels und Joachim v. Ribbentrop erfreuten sich in Warschau einer gewissen Wertschätzung und gaben sich bei vielen Besuchen die Kknke in die Hand. Galten sie doch alle wie Hitler selbst nicht als Vertreter des verhaßten Preußentums, sondern als gemäßigte Deutsche. Letztlich scheiterte jedoch ein Zusammengehen an der von deutscher Seite den Polen ver-
weigerten Gleichrangigkeit. Den von Berlin bei jeder Gelegenheit vorgebrachten Wunsch nach einer antikommunistischen Alkanz schlug Warschau aus. Ein Beitritt zum Antikominternpakt kam für die polnische Führung nicht in Frage. Hitler ging es nicht um Danzig, wie er selbst 1939 kurz vor Kriegsbeginn offen aussprach, es ging ihm aber auch nicht Marian
um
Polen. Sein Ziel
war
der Lebensraum im
Osten, in den russischen
Wojciechowski, Die polnisch-deutschen Beziehungen 1933-1938, Leiden 1971; Stanislaw
Zerko, Stosunki polsko-niemieckie 1938-1939, Poznan
1998.
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abhängiger Juniorpartner konnten die Polen bei der Eroberung und dieses Riesenraums von Nutzen sein. Doch die Hilfstruppe schien Befriedung notfalls auch entbehrlich und mußte aus Hitlers Sicht zerschlagen werden, sobald sie sich dem deutschen Drang nach Osten in den Weg stellte. Die 1934 von oben verordnete Annäherung zwischen beiden Ländern alle Pressekampagnen wurden sofort eingestellt konnte selbst unter optimalen Voraussetzungen nicht in wenigen Jahren greifen. Auf deutscher Seite blieben die abfälligen Klischees vom minderwertigen Polentum unterschwellig vorhanden und scheinen sogar von der Führung gezielt wachgehalten worden zu sein. Umgekehrt war die Situation ähnlich. Die Deutschen im Lande galten weiterhin als die gefährlichste Minderheit, deren Rechte bei jeder sich bietenden Gelegenheit beschnitten wurden21. Auch in der Kirchenpolitik kam es zu einer verhängnisvollen Spaltung zwischen polnischen und deutschen Mitgliedern der Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses. Die Volksdeutsche Minderheit in Polen radikalisierte sich, obgleich in den offiziellen Beziehungen Harmonie herrschte. Die Klischees und Stereotypen von den preußischen Landräubern und unerlösten Gebieten, z.B. Masuren, wirkten ebenfalls weiter fort. Im Moment einer politischen Konfrontation, wie sie 1939 von Hitler-Deutschland gesucht wurde, konnten daher auf beiden Seiten nach wie vor Feindbilder geläufige abgerufen werden. im kulturellen Bereich scheint es an einem guten Willen zur AnnäheLediglich In Berlin wurde 1935 ein Deutsch-Polnisches Institut zu nicht haben. rung gefehlt Drei Jahre später entstand in Warschau eine deutsch-polnische Gesellgegründet. schaft, die besonders im Bereich der akademischen Bildung und Forschung aktiv war. Selbst eine gemeinsame Schulbuchkommission wurde damals ins Leben gerufen. Das neue Medium Film eignete sich ebenfalls für Gemeinschaftsprojekte, die historischen Themen deutsch-polnischer Verbrüderung, etwa unter den Wettinern,
Weiten. Als
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gewidmet waren.
Selbst in der Literatur beider Seiten war eine Annäherung auszumachen. Der polnische Militärführer Pilsudski, der gemeinsame Entsatz des von den Türken belagerten Wien oder Polens patriotischer Musikheld Frédéric Chopin fanden als Sujets Eingang in die deutsche Belletristik. Umgekehrt konnten sich auch polnische Literaten der Faszination des völkisch geeinten Deutschlands und seines Führers nicht ganz entziehen. Einer der größten polnischen Poeten, Jaroslaw Iwaszkiewicz (1894-1980), dessen Hauptwerke allesamt nach dem Zweiten Weltkrieg ins Deutsche übertragen wurden, verfaßte sogar wohl eine Jugendsünde einen
Hymnus auf Hitler22.
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Die ohnehin engen Kontakte in der Wissenschaft wurden ebenfalls, vor allem auf der Ebene der Universitäten, weiter ausgebaut. Auf Einladung der Warschauer Hochschule sprach der Kronjurist der NSDAP und nachmalige Generalgouverneur von Polen, Hans Frank, mehrfach über das neue deutsche Recht und verAlbert S. Kotowski, Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919-1939, Wiesbaden 1998. Karina Pryt, Deutsch-polnische Kulturkontakte 1934-1939, ungedr. Magisterarbeit, Universität Freiburg i.Br. 2002.
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es dabei jedesmal nicht, der Freiheit des polnischen Volkes seinen Respekt zollen. Ob solche Auftritte nationalsozialistischer »Größen« in Polen kalkulierzu ter Zynismus waren, was aus der Retrospektive naheliegt, oder ob hier nicht Gemeinsames gesucht und auch gefunden wurde, bleibt wegen fehlender Forschungen schwer zu beurteilen. Sicherkch haben auf beiden Seiten gutgläubige und idealistisch gesonnene Intellektuelle an einen geistigen Brückenschlag unter autoritären
säumte
Auspizien geglaubt und entsprechend gehandelt. Um so größer war die Enttäuschung und um so radikaler der Schwenk in den polnischen Untergrund, als die im Schatten der vorrückenden Wehrmacht operierenden Einsatzgruppen bereits im September 1939 die polnische Intelligenz systematisch zu liquidieren begannen. Die Verhaftung der Krakauer Professoren anläßkch einer vorgetäuschten Wiedereröffnung der Jagiellonen-Universität (Oktober 1939) löste weltweite Proteste aus23, so daß die deutsche Besatzungsmacht
die meisten Inhaftierten wieder freilassen mußte. Solche Solidaritätsaktionen des Auslandes blieben freilich aus, als die polnischen Juden bereits Ende 1939 gettoisiert und systematisch entrechtet wurden. Bei dieser Judenhatz halfen Volksdeutsche gleichermaßen wie große Teile der einfachen polnischen Bevölkerung willig mit24. Eine neue Dimension bekam die Verfolgung der Juden durch polnische Mitbürger, freilich in den von der deutschen Besatzungsmacht vorgegebenen Bahnen, als im Zuge des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion die ostpolnischen Gebiete vom Joch des Kommunismus befreit wurden. Da die ortsansässigen Juden, zu polnischen Zeiten gesellschaftlich und materiell deklassiert, mit der kommunistischen Staatsmacht teilweise zusammengearbeitet hatten, entlud sich der »Volkszorn« in Pogromen. Das Massaker von Jedwabne25 dürfte kein Einzelfall gewesen sein. Die von deutscher Seite gewissermaßen erzwungene Verstrickung der Polen in den Völkermord an den Juden, bis vor wenigen Jahren konsequent negiert, ist nunmehr evident und spaltet das heutige Polen. Ob die von staatlichen und lokalen Stellen errichtete Gedenkstätte in Jedwabne von Dauer sein wird, darf angezweifelt werden, da (wohl ein Kompromiß) auf den Tafeln keine Täter genannt werden. Die Frage der Kollaboration stellt sich für Polen anders als etwa für das besetzte Frankreich. Wurden die Franzosen geradezu zur Unterstützung der deutschen Kriegsanstrengungen aufgerufen und leisteten meist freiwillig die erwünschte Mitarbeit, so unterbreitete die deutsche Besatzungsmacht in Polen erst
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Henryk Batowski, Nazi Germany and the Jagiellonian University (»Sonderaktion Krakau«, 1939), in: Polish Western Affairs, 19 (1978), 1, S. 113-120; vgl. auch Stanislaw Gawçda, Die Jagellonische Universität in der Zeit der faschistischen Okkupation, Jena 1981. Michael Alberti, Die Anfänge der »Endlösung«: Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939-1945, Phil. Diss., Freiburg i.Br. 2001 (erscheint in der Reihe des Deutschen Historischen Instituts Warschau »Quellen und Studien« bei Harrassowitz in Wiesbaden 2003). Jan Tomasz Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden in Jedwabne, München 2001; Günter Häufele, Polen 1939-1941. Ein Vergleich deutscher und sowjetischer Besatzungspolitik, ungedr. Magisterarbeit, Universität Freiburg i.Br. 1992.
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gar nicht ein solches Angebot26. Laut mehrfachen Anweisungen Hitlers sollten die Polen nicht einmal als abhängige Kollaborateure gewonnen werden, sondern, ihrer Führungsschicht beraubt, als billige Arbeitssklaven den deutschen Herren dienen. Lediglich auf der unteren Ebene des Besatzungsalltags lassen sich Ansätze einer Kollaboration finden, die meist allein von dem Willen zum nackten Überleben bestimmt war. Die verheerende Versorgungslage im Generalgouvernement, wo den polnischen Bewohnern offiziell etwa 700 Kalorien täglich zugeteilt wurden, zwang zu einem Überlebenskampf, in dem alle Mittel, angefangen von der Denunziation bis zur Beraubung, recht waren. Das Chaos der deutschen Besatzungspolitik und die gezielte Versklavung der polnischen Bevölkerung ließen diese zwischenmenschliche Normen und ethisches Handeln vergessen. Der zum Überleben notwendige Schwarzmarkt tat ein übriges, um unsolides Geschäftsgebaren, Betrug und Korruption zu fördern. Die Sitten verrohten, die Polen lebten von der Hand in den Mund. Im Grunde führte die deutsche Besatzungspolitik in Polen erst die »polnische Wirtschaft«, wie sie dem deutschen Stereotyp entsprach, tatsächlich ein. Da der gesellschaftliche Ausnahmezustand infolge der kommunistischen Experimente nach dem Krieg anhalten sollte, war den Polen von 1939 bis 1989, das heißt über 50 Jahre lang, ein Leben in normalen Bahnen verwehrt. Die von deutscher Warte gern verächtlich als typisch polnische Mentalität ausgemachten Eigenschaften des Nachbarvolkes jener vermeintliche Hang zur Arbeitsunlust, angebliche Trunksucht, Vorliebe für Tauschgeschäfte und nahezu angeborene Kleinkriminalität waren zum Teil eine Reaktion auf die deutsche Besatzungspolitik und mußten zum Überleben in einer Mangelgesellschaft nach 1945 weiter Verwendung finden. Die nationalsozialistische Polenpolitik im Zweiten Weltkrieg stand zwar in der Tradition eines außer Kontrolle geratenen deutsch-polnischen Volkstumskampfes, war aber durch ihre rassistische Fundierung auch quantitativ und qualitativ etwas Sie führte Neues. in letzter Konsequenz zur Verrohung eines ganzen Volkes völlig und verwandelte ein ganzes Land in ein Totenhaus. Betrug die Bevölkerung Polens in den Grenzen von 1939 34,8 Millionen Einwohner, so waren es 1945, bei der ersten Volkszählung nach dem Krieg, nur noch 23,9 Millionen. Der Schwund von über 10 Millionen geht zu großen Teilen, etwa 60 Prozent, auf Menschenverluste zurück, der kleinere Teil erklärt sich durch Abwanderung und die neuen Grenzziehungen. Nahezu eine Million Polen blieb nach dem Krieg im Westen, ihre im Osten, in Litauen und in Weißrußland verbliebene Zahl wird mit 1,2 Millionen angegeben. Die Bevölkerungsverluste bewegten sich in einer Größenordnung zwischen 5,5 und 6 Millionen Menschen, die große Masse von ihnen Zivilisten. Etwa jeder fünfte Pole, Greise und Kinder eingerechnet, hat den letzten Krieg nicht —
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Jan Tomasz Gross, »Jeder lauscht ständig, ob die Deutschen nicht schon kommen«. Die zentralpolnische Gesellschaft und der Völkermord, in: Deutsch-polnische Beziehungen 1939-1949, hrsg. von Wlodzimierz Borodziej und Klaus Ziemer, Osnabrück 2000, S. 215-233.
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überlebt. Mit dieser Todesrate liegt Polen vor allen anderen kriegführenden Ländern. Die polnische Nation stand vor ihrer physischen Vernichtung27. Höhe- und Scheitelpunkt dieser deutschen Mordpolitik war das deutsche Vorgehen gegen das aufständische Warschau im Sommer 194428. Der in völliger Verkennung der militärischen Situation an der Ostfront und der internationalen politischen Lage von der Führung der Heimatarmee ausgelöste Aufstand kostete schließlich über 150 000 Warschauer Zivilisten das Leben und endete mit einer vollständigen Zerstörung der Hauptstadt. Angesichts der schwachen Kräfte der Heimatarmee und ihrer völlig unzureichenden Bewaffnung konnte der Kampf gegen die Deutschen nur mit Hilfe der Zivilbevölkerung und schließlich auch zu deren Lasten aufgenommen werden. Der dilettantisch vorbereitete und militärisch schlecht geführte Aufstand, der ein Fanal polnischer Selbstbefreiung im Angesicht der auf Warschau anrückenden Roten Armee sein sollte, kam einem kollektiven Selbstmord der polnischen Elite gleich. Der Fehler der militärischen Führung der Heimatarmee lag weniger in der Tatsache, den Aufstand ausgelöst zu haben, als in dem Versäumnis, ihn nicht in aussichtsloser militärischer Lage rechtzeitig abgebrochen zu haben. Der Heldenkampf Warschaus zeichnete sicherlich das Volk aus und zeugte von ungebrochenem Widerstandswillen einer ganzen Nation, allerdings um den Preis des Untergangs. Die in kommunistischer Zeit vielgescholtene Heimatarmee (ihre Mitglieder wurden verfolgt und die Kämpfer lächerlich gemacht, etwa durch die Losung »Die Heimatarmee der Sudelgnom der Reaktion«29) erfährt seit der politischen Wende in Polen eine Aufwertung, die längst über das historisch vertretbare Maß hinausgewachsen ist. Die überall entstandenen Denkmäler, nicht zuletzt das realistische Großmonument in Warschau selbst, passen zu einer neuen nationalen Identifikation, nachdem die kommunistische zerfallen ist. Ob Denkmäler für die Armia Krajowa jedoch an Stätten angebracht sind, wo sie nie gewirkt hat, wie im ehemaligen Johannisburg (Pisz), sei dahingestellt. Die Gefahr einer historischen Verklärung der Heimatarmee und damit ihrer Instrumentalisierung für tagespolitische Zwecke scheint zumindest heute gegeben zu sein. Die deutsch-polnischen Beziehungen waren durch die verlustreichen Barrikadenkämpfe im Warschauer Aufstand auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt. Hitlers Polenpolitik galt bei Kriegsende als Synthese aller preußisch-deutschen, am polnischen Volk begangenen Untaten. Überkommene Feindbilder wurden nicht nur in Polen aus verständlichen Gründen in übersteigerter Form beibehalten, trotz der Niederlage sondern auch im besetzten Deutschland. Aus dem Bestreben heraus, die deutschen Verbrechen in Polen zu verdrängen und die deutsche Besatzungspolitik wenigstens teilweise zu rechtfertigen, bedienten sich —
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Zu den Verlustzahlen die Aufsätze
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von Albrecht Riehkers, Polen: Raum, Bevölkerung, Struktur, sowie von Wolfgang Jacobmeyer, Die deutsch-polnischen Beziehungen in der Neuzeit als Konfliktgeschichte, in: Polen und Deutschland (wie Anm. 12). Vgl. Literaturangaben in Anm. 1; ferner Wlodzimierz Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a.M. 2001. Edmund Dmitrów, Vergangenheitspolitik in Polen 1945-1989, in: Deutsch-polnische Beziehungen 1939-1945-1949. Osnabrück 2000, S. 235-264, hier S. 244.
Wirtschaft, Staat und Gesellschaft,
Brücken
Barrieren -
Barrikaden
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(westdeutsche Medien noch über ein Jahrzehnt lang des von der GoebbelsPropaganda eingehämmerten negativen Polenbildes. Polen galten als verschlagen, der polnische Widerstand wurde als bedenkenloses Banditentum diffamiert. Bestenfalls waren die Polen, nunmehr als antideutscher Vorposten fest im sowjetischen Griff, kregeleitete Idealisten gewesen, die ihr Schicksal unter kommunisti-
scher Herrschaft verdient hatten. Erst mit dem Posener Arbeiteraufstand gegen die kommunistische Unterdrückung 1956 begann sich allmählich das Bild von Polen im Westen zu wandeln. In der gemeinsamen Frontstellung gegen das nunmehr sowjetische »Reich des Bösen« kamen Deutsche und Polen ausgerechnet über Posen, den historischen Ort heftigster nationaler Auseinandersetzungen, einander wieder etwas näher3". Trotz eines langwierigen Aussöhnungsprozesses, der sowohl auf der obersten politischen Ebene als auch an der Basis verlief, bestehen zwischen Deutschland und Polen nach wie vor große Barrieren, halten die Klischees über den Nachbarn noch immer an. Ressentiments scheinen auf beiden Seiten kein Ende nehmen zu wollen. Alte Wunden platzen bei nur leichter Berührung auf und schüren Vorurteile sowie Mißverständnisse. Was die Schriftsteller auf beiden Seiten geleistet haben, nämüch die nationale Sicht der weitgehend negativ besetzten deutschpolnischen Vergangenheit zugunsten einer universalistisch-humanistischen Perspektive zu überwinden man denke an die Werke von Günter Grass, Siegfried Lenz und Horst Bienek auf deutscher Seite und die Schriften von Andrzej Szczypiorski, Jerzy Andrzejewski, Tadeusz Borowski und nicht zuletzt von Jan Józef Lipski auf Seiten der Polen —, das könnten die Historiker in Gemeinschaftsprojekten versuchen nachzuholen. Denn nur gemeinsam lassen sich national begründete und historisch verwurzelte mentale Barrieren zumindest allmählich abbauen. —
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Bernd Martin, Dr. phil, geb. 1940, Professor für Neuere und Neueste Geschichte Historischen Seminar der Universität Freiburg, 79085 Freiburg i.Br. E-mail:
am
[email protected].
Oliver Samson, Legenden, Lügen, Tatsachen. Zur deutschen Rezeption des Warschauer Aufstandes 1944-1970, ungedr. Magisterarbeit, Universität Freiburg i.Br. 2001; zur Rezeption in Polen Joanna Witkowski, Der Warschauer Aufstand als Politikum in der Volksrepublik Polen, ungedr. Magisterarbeit, Universität Freiburg i.Br. 2000.
Hans-Jürgen Bömelburg Die deutsche
Besatzungspolitik in Polen 1939 bis 1945
Polen war der Staat, der im Zweiten Weltkrieg am längsten vom »Dritten Reich« besetzt blieb: Fast fünfeinhalb Jahre konnte in Zentralpolen die neue nationalsoziakstische Ordnung erprobt und in verschiedenen Phasen umgesetzt werden. Bereits mit der Eroberung setzte eine radikale Umgestaltung von Wktschaft und Verwaltung ein, die durch neue Grenzziehungen, eine rassistisch geprägte Bevölkerungspolitik bis hin zur physischen Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen die gesamte polnische Gesellschaft umformte und die Lebensverhältnisse jedes einzelnen berührte. Erst mit wachsendem zeitkchen Abstand wird erkennbar, daß dies den radikalsten Bruch der polnischen Geschichte überhaupt darstellte: Der polnische Staat und die polnische Gesellschaft vor 1939 und nach 1945 stützen sich auf abweichende Strukturen und umfassen ein anderes Territorium sowie andere ethnische und gesellschaftliche Schichten. Die deutsche Besatzungspolitik, die im Zusammen- und Gegenspiel mit der sowjetischen Poktik für diesen radikalen Bruch verantwortkch war, stand deshalb nach 1945 im Zentrum polnischer Publizistik und zeithistorischer Forschung. Die Arbeiten darüber besaßen jedoch auch einen legitimierenden Charakter, da über das sowjetische Pendant nicht geschrieben werden durfte und die Zensur weite Bereiche verfälschte, etwa hinsichtlich der Träger der polnischen Widerstandsbewegung und des Warschauer Aufstands. Diese Publizistik und Geschichtsschreibung war stets politisiert und stand bis in die 1980er Jahre unter politischen Prämissen: Bewiesen werden sollte der struktureU zerstörerische und rassistische Charakter der deutschen Besatzungspolitik, während für etwaige Widersprüche und Grauzonen (Konflikte innerhalb der deutschen Besatzungsstrukturen, Alltagsgeschichte) sowie ein differenziertes Bild kaum Platz war. Nach 1990 wandten sich insbesondere jüngere Historiker von dieser Art von Geschichtsschreibung eher ab und »neuen Themen« wie der sowjetischen Besatzungspoktik oder der Geschichte der Volksrepublik Polen zu. Zur Zeit besteht die paradoxe Situation, daß sich mit dem Abschnitt der Zeitgeschichte, der zweifelsohne die radikalsten Veränderungen der polnischen Geschichte bedeutete, nur wenige jüngere polnische Historiker beschäftigen. Die umfangreiche ältere Literatur wird kaum kritisch durchgesehen und einer historiographischen Neubewertung unterzogen. Die deutsche und internationale Forschung, die nach 1990 von den unbegrenzt zugänglichen deutschen Archiven zur NS-Zeit profitiert, kann dies nur in bescheidenem Maße ausgleichen, da hier in der Regel SpezialStudien (meist als
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Dissertationen) zu bestimmten Aspekten der Besatzungspolitik unternommen werden, oft polnische Sprachkenntnisse fehlen und die umfangreiche polnischsprachige Literatur nicht verfügbar ist. So entstehen teilweise Beiträge ohne Berücksichtigung älterer substantieller polnischsprachiger Arbeiten zu ähnlichen Fragestellungen. Der vorliegende Beitrag möchte eine Übersicht über diese weiterhin unentbehrliche Literatur sowie über neuere Forschungstendenzen zur deutschen Besatzungspolitik geben und dazu beitragen, die angesprochene Lücke zu schließen1. Auf die Reaktionen und Handlungsstrategien in der polnischen Gesellschaft wird dagegen nicht eingegangen.
Forschungsstand Forschungslage ist unübersichtlich, da insbesondere in polnischer Sprache umfangreiche publizistische, autobiographische und wissenschaftliche Literatur vorliegt, die bereits 1945 einsetzte und deren bibliographische Erfassung mehrere zehntausend Einträge ergeben würde. Es soll nur auf einige prägende Merkmale dieser Literatur hingewiesen werden, die Folgen für die wissenschaftliche Beschäftigung wie den Forschungsstand hatten und noch haben. Die polnischsprachige Literatur zur deutschen Besatzungspolitik von 1939 bis 1945, die noch in der Volksrepublik Polen erschien, macht nach eigener grober Schätzung ca. 80 Prozent der Gesamtproduktion aus und ist durch lebensgeschichtliche Perspektive, Streichungen und Auslassungen durch Zensur und Selbstzensur sowie gezielte politische und ideologische Verzerrungen im Dienste kommunistischer Erinnerungspolitik nur mit Sach- und Vorkenntnissen benutzbar. Das politisch vorgegebene Muster des deutschen »Erbfeindes« mündete schließlich in der Volksrepublik Polen über weite Strecken in ein Schwarz-Weiß-Bild, in dem Grautöne und widerständige Details kaum Platz fanden. Auch diese Monotonie trug dazu bei, daß in den 1990er Jahren das Interesse an dem Forschungsgegenstand in Polen nachließ. Dahingegen erschienen in den letzten Jahren in großer Zahl lebensgeschichtliche Erinnerungen und literarische Aufarbeitungen. Angesichts der Bedeutung des Zweiten Weltkriegs für die Geschichte Polens ist jedoch absehbar, daß das derzeit geringe fachhistorische Interesse in der Zukunft von Phasen einer neuen Beschäftigung und Aneignung des Themas abgelöst werden wird. Die ältere polnischsprachige Literatur ist unersetzlich, da sie für einzelne Aspekte das Fundament jeglicher wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Thema bildet; ein Fundament, das jedoch streckenweise der Neubewertung bedarf2. Verdienstvoll ist insbesondere die Edition größerer Quellensammlungen3. Die Die eine
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Für eine kritische Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Hinweise möchte ich Jochen Böhler und Jerzy Kochanowski danken. Überblick bei Hans-Jürgen Bömelburg und Bogdan MusiaL Die deutsche Besatzungspolitik in Polen 1939-1945-1949. Eine Einfuhrung, hrsg. von 1939-1945, in: Deutsch-polnische Wlodzimierz Borodziej und Klaus Ziemer, Osnabrück 2000, S. 43 -111, hier S. 105 -111. Ebd., S. 106-108.
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Orientierung erschwert, daß zur Zeit auch bibliographische Überblicke nur eingeschränkt vorhegen4. Unterscheidbar sind in der polnischen Forschung mehrere Forschungsschübe, die jeweils auch eine wachsende Professionalisierung bedeuteten: unmittelbar 1945 bis etwa 1947/48; nach 1953/56 infolge der Lockerung von Zensur und politischen Vorgaben, was in die umfangreichen Gesamtdarstellungen von Czeslaw Madajczyk und Czeslaw Luczak mündete5; sowie in den 1980er Jahren erste Studien zur Alltagsgeschichte mit Auslotung auch der Grauzonen. Weiterhin kamen insbesondere biographische und prosopographische Studien vor aUem zur Opferund nur in Ausnahmen zur Tätergeschichte6, eine Reihe von abgewogenen und vertiefenden Studien von Wlodzimierz Borodziej7 sowie in den letzten zehn Jahren eine intensive Beschäftigung mit dem Völkermord an den Juden und dem polnisch-jüdischen Verhältnis hinzu. Die deutsche Forschung nahm sich der Deutschen Besatzungspolitik in Polen mehr als 15 Jahre nach Kriegsende erstmals umfassender an. Entgegen dem damals verbreiteten »Pathos der Nüchternheit« zeigen neuere Einblicke, daß bei Autoren wie Martin Broszat oder Gerhard Eisenblätter die eigene lebensgeschichtliche Verstrickung in die NS-Politik nicht vernachlässigt werden kann und vielfach in alleinige Schuldzuweisungen an Teile des Besatzungsapparats (SS- und Pokzeiapparat) und eine Entlastung anderer Gruppen wie der deutschen Zivilverwaltung und Gruppen von »Durchschnittsdeutschen« im »Generalgouvernement« (GG) mündete8. Es ist wohl kein völliger Zufall, daß fast zeitgleich erste Monographien in der DDR erschienen, die die QueUen der Gewalt im Rahmen der Faschismus—
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Den besten Zugriff liefern: Deutsch-polnische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart. Bibliographie 1900 -1998, hrsg. von Andreas Lawaty und Wieslaw Mincer, 4 Bde, Wiesbaden 2000; Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938-1945). Dokumentenedition, 8 Bde, hrsg. vom Bundesarchiv, Bd 8: Analysen, Quellen, Register, zusammengestellt und eingeleitet von Werner Röhr, Heidelberg 1996, zu Polen Auswahlbibliographie,
S. 646-681. Czeslaw Madajczyk, Polityka III Rzeszy w okupowanej Polsce, 2 Bde, Warszawa 1970, gekürzte deutsche Fassung: Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939-1945, Berlin 1987; Czeslaw Luczak, Polityka ludnosciowa i ekonomiczna hiderowskich Niemiec w okupowanej Polsce, Poznan 1979; vgl. vom selben Autor die umfangreichste Regionalstudie zum »Wartheland«: Pod niemieckim jarzmem (Kraj Warty 1939- 1945), Poznan 1996. Zu vielen Persönlichkeiten des polnischen Widerstands erschienen in den letzten 15 Jahren biographische Darstellungen, die hier nicht aufgezählt werden können. Im Bereich der Täterforschung vgl. die zuverlässige Studie zur NS-Verwaltung in Oberschlesien von Ryszard Kaczmarek, Pod rz^dami gauleiterów. Elity i instancje wladzy w rejencji katowickiej w latach 1939-1945, Katowice 1998. Die Täterforschung findet schwerpunktmäßig in der deutschen Forschung statt, da hierzu längere Arbeit in deutschen Archiven unabdingbar ist. Wlodzimierz Borodziej, Terror und Politik. Die deutsche Polizei und die polnische Widerstandsbewegung im Generalgouvernement 1939-1944, Mainz 1999 (Übersetzung der Dissertation des Autors aus dem Jahre 1985); ders., Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a.M. 2001. Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939- 1945, Frankfurt a.M. 1965 [Erstausgabe Stuttgart 1961]; Gerhard Eisenblätter, Grundlinien der Politik des Reiches gegenüber dem Generalgouvernement 1939- 1944, Diss., Frankfurt a.M. 1969. Zu Broszats Strategie einer »objektiven« Erforschung des Nationalsozialismus vgl. Nicolas Berg, Die Lebenslüge vom Pathos der Nüchternheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.7.2002. -
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théorie in der Großindustrie suchten9. Grauzonen des Sowohl-als-auch und die Teilhabe auch subjektiv anständiger Amtsträger an einer mörderischen Politik, kurz die alltägliche Brutalität der deutschen Besatzungspolitik, blieben in beiden Ansätzen weitgehend ausgespart1". Die neuere deutsche Forschung seit den siebziger Jahren schlug unterschiedliche Richtungen ein: Sie zeichnete den Zusammenhang zwischen auf Destruktion angelegter nationalsozialistischer Kulturpolitik und polnischer Widerstandsbewegung nach11, untersuchte die nationalsozialistische Erziehungs- und Schulpolitik12 und widmete sich insbesondere dem Zusammenhang von Besatzungspolitik und Völkermord an den Juden13. Die letzteren Arbeiten stehen überdies in der Tradition eines eigenständigen Forschungsschwerpunktes, zu welchem sich die internationale Holocaustforschung seit den 1980er Jahren entwickelte. Zwingend bildeten hier der Völkermord an den drei Millionen polnischen Juden sowie die Ermordung von 80 Prozent der jüdischen Opfer auf dem Territorium Vorkriegspolens Schwerpunkte. Allerdings krankte diese internationale Forschung lange Zeit daran, daß ältere grundlegende Arbeiten, die insbesondere im Umfeld des Jüdischen Historischen Instituts (ZlH) in Warschau bereits in den 1950er und 1960er Jahren entstanden waren14, aufgrund der Sprachgrenze kaum rezipiert wurden. Mit der zunehmenden Publikationspraxis in englischer Sprache und der Verbreitung von polnischen Sprachkenntnissen unter jüngeren Forschern verbessert sich die Situation, aller-
Berthold Puchen, Fragen der Wirtschaftspolitik des deutschen Faschismus im okkupierten Polen 1939 bis 1945, mit besonderer Berücksichtigung der IG Farbenindustrie AG, Habil.-Schrift, Berlin 1968, Druck nur in polnischer Fassung: Dzialalnosc niemieckiej IG Farbenindustrie AG w
von
Polsce, Warszawa
1973. Diese Feststellung soll nicht die Pionierleistung der erwähnten Arbeiten schmälern, begrenzt aber die Aussagefähigkeit dieser Darstellungen und die Anknüpfungsmöglichkeiten für die moderne
Forschung. Christoph Kleßmann, Die Selbstbehauptung einer Nation. Nationalsozialistische Kulturpolitik und polnische Widerstandsbewegung im Generalgouvernement 1939 -1945, Düsseldorf 1971. Georg Hansen, Ethnische Schulpolitik im besetzten Polen. Der Mustergau Wartheland, Münster, New York 1995; Hans-Christian Harten, De-Kulturation und Germanisierung. Die nationalsozialistische Rassen- und Erziehungspolitik in Polen 1939- 1945, Frankfurt a.M., New York 1996. Dieter Pohl, Von der »Judenpolitik« zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939-1944, Frankfurt a.M. [u.a.] 1993; ders., Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941-1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996; Thomas Sandkühler, »Endlösung« in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsaktionen von Berthold Beitz 1941 1944, Bonn 1996; Bogdan Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939-1944, Wiesbaden 1999. Artur Eisenbach, Hiderowska poütyka zaglady Zydöw, Warszawa 1961; Faschismus Getto Massenmord. Dokumentation über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des 2. Weltkriegs, hrsg. vom Jüdischen Historischen Institut in Warschau, Berlin 1961 (bis heute grundlegende Edition). Insbesondere die polnischsprachige Zeitschrift des ZIH, der »Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego« (ab 2001 unter dem Titel »Kwartalnik Historii Zydów«), enthält zahlreiche wichtige Studien. -
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dings stehen Forschungen zur allgemeinen Besatzungspolitik und zur Judenpolitik häufig wenig verbunden nebeneinander15. Ein weiterer Bereich, in dem neue Ergebnisse zu verzeichnen waren, sind vergleichende Arbeiten zur deutschen und sowjetischen Besatzung, die insbesondere an die Pilotstudien des amerikanischen Historikers Jan T. Gross anknüpfen können16. Gross baute diese Arbeiten zu vergleichenden mentalitätsgeschichtlichen Essays aus, in denen die ethnisch verorteten Feindbilder der fragmentierten Gemeinschaften unter den Besatzungsregimes rekonstruiert werden17. Auch das unmittelbare zeitliche Zusammenspiel und Ineinandergreifen zwischen sowjetischem und deutschem Terror geriet in den Bkck der Forschung18. Insgesamt ist jedoch die allgemeine Forschung zur deutschen Besatzung in den letzten fünfzehn Jahren durch einen gewissen StiUstand bezeichnet. Die Gründe hierfür können benannt werden: Die enorm ausgebaute Spezialforschung in Polen verlor nach 1989 ihre poktische Funktion und erscheint in einem normalen Wissenschaftsbetrieb infolge der eher traditioneUen Ansätze und Forschungstraditionen nicht anknüpfüngsfähig. Aus dem Wissenschaftsbetrieb der Volksrepubkk blieben eine sehr unübersichtkche Literaturlage sowie eine problematische Archivsituation zurück (zahkeiche schlecht erschlossene Streu- und Restbestände in deutschen, polnischen, aber auch in weißrussischen, ukrainischen sowie britischen und amerikanischen Archiven, häufige Archiwerlagerungen). Ein nationales Forschungszentrum besteht nicht, da das aus der »Hauptkommission zur Erforschung der Verbrechen gegen das Polnische Volk« (Glówna Komisja Badania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu) hervorgegangene »Institut des Nationalen Gedenkens« (Instytut Pamieci Narodowej) seine zentralen Aufgabenbereiche im »Sammeln und Verwalten von Urkunden und Schriftstücken der staatlichen Sicherheitsdienste vom 22. Juli 1944 bis 31. Dezember 1989, der Verfolgung von kommunistischen und Naziverbrechen sowie einer Bildungstätigkeit« sieht und zur Zeit kein eigenes Forschungsprogramm zur Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg durchführt19. Diese Lücke können jüngere deutsche oder angloamerikanische Arbeiten, die meist aus Dissertationen hervorgegangen sind, nur begrenzt ausfüllen, da den Autoren die nötigen Kenntoisse der polnischen Forschungslandschaft und die langjährige Forschungspraxis in polnischen Archiven fehlen. Die Rezeptionslücke zwischen der älteren polnischen und der internationalen Forschung bleibt so ten15
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Einführung in den Forschungsstand mit kommentierten literaturhinweisen: Dieter Pohl, Der Völkermord an den Juden, in: Deutsch-polnische Beziehungen 1939-1945-1949 (wie Anm. 2), S. 113-134. Jan T. Gross, Polish Society under German Occupation. The Generalgouvernement 1939-1944, Princeton 1979; ders., Revolution from Abroad. The Soviet Conquest of Poland's Western Ukraine and Western Belorussia, Princeton 1988. Jan T. Gross, Upiorna dekada. Trzy eseje o stereotypach na temat Zydów, Polaków, Niemców i komunistów 1939-1948, Kraków 1998. Bogdan Musial, »Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen«. Die Brutalisierung des deutschsowjetischen Kriegs im Sommer 1941, Berlin 2000. Informationen zur Tätigkeit des IPN und der Vorläuferorganisationen befinden sich auf der Homepage des IPN: www.ipn.gov.pl (teilweise auch in deutscher Sprache).
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denziell erhalten. Für die europäisch angelegte vergleichende Besatzungsforschung zum Zweiten Weltkrieg stellt die Sprachgrenze eine kaum überwindbare Hürde dar. Wechselseitige Anregungen sind eher selten, so daß oft Handbuchwissen vermittelt wird. Ein grundsätzliches und dauerhaftes methodisches Problem stellt die Verbindung der zersplitterten deutschen Aktenüberlieferung und der umfangreichen polnischen lebensgeschichtlichen (Opfer-)Erinnerungen dar, die in mehreren Schüben (Zeugenaussagen und Vorerhebungen der Hauptkommission, Erinnerungswettbewerbe sowie monographische Erinnerungen) entstanden. Hinzu tritt quantitativ weniger umfangreich, aber für die Erforschung von Verbrechen und Massenmorden von zentraler Bedeutung die Überlieferung deutscher Strafverfolgungsbehörden2". Diese Quellentypen müssen miteinander verbunden werden, wobei der Abwägungsprozeß im Falle einer widersprüchlichen und gegenläufigen Überlieferung immer wieder neue quellenkritische Probleme aufwirft. Einige Desiderata können nur benannt werden: Es fehlen Studien zum polnischen Dorf insbesondere im Generalgouvernement, in dem die dörfliche Gesellschaft und deren Mentalitäten zwischen Modernisierung, die durch die hohen Lebensmittelpreise gefördert wurde, und repressiver Besatzung beschrieben werden. Nicht systematisch dargestellt ist die NS-Bevölkerungspolitik der nationalen Entmischung, die nicht nur nach Polen, Juden und Deutschen segregierte, sondern in deren Gefolge auch ukrainische, russische, kaukasische und andere »Volkslisten« (Goralenvolk) entstanden, von deren Unterzeichnern konkrete Loyalitäten und Einstellungen erwartet wurden.
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Die Grundlagen der nationalsozialistischen Besatzungspolitik in Polen, der »Polenfeldzug« und die Militärverwaltung Die nationalsozialistische Politik vollzog kurz vor der Auslösung des Zweiten Weltkrieges im Frühjahr 1939 eine abrupte Kurswende gegenüber Polen, in dem das Deutsche Reich seit 1934 offiziell einen befreundeten Staat und potentiellen Bündnispartner gesehen hatte21. Für die Zeit vor 1939 liegen deshalb keine programmatischen Aussagen zu eventuellen nationalsozialistischen Zielen in Polen vor. Dennoch konnte 1939 in kurzer Zeit ein die Mehrheit der deutschen Bevölkerung überzeugendes »Feindbild Polen« geschaffen werden, das auf langfristig wirkende Faktoren zurückgreifen konnte: erstens einen Konsens unter den deutschen Eliten über die Ablehnung des polnischen »Saisonstaates«, der auf Kosten der preußischen Ostprovinzen errichtet worden sei, und zweitens eine in der Bevölkerung weit verbreitete negativ-abschätzige Vorstellung von den polnischen NachAuf der zentralen Ebene zugänglich in der Außenstelle Ludwigsburg des Bundesarchivs, Informationen und Anschrift: www.bundesarchiv.de. Vgl. Carsten Roschke, Der umworbene »Urfeind«. Polen in der nationalsozialistischen Propaganda 1934-1939, Marburg 2000.
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barn, die in Anlehnung an das Stereotyp von der »polnischen Wktschaft« als unterentwickelt und zivilisatorisch rückständig abqualifiziert wurden22. Auf diesen Vorstellungen konnte der Nationalsoziaksmus aufbauen, indem er sein rassistisch fundiertes negatives Slavenbild hinzufügte und seit 1939 offen vom »minderwertigen polnischen Volk« sprach23. Hider selbst entwickelte am 22. August 1939 programmatisch vor den Oberbefehlshabern der Wehrmacht seine biologistische Weltsicht und forderte: »Vernichtung Polens im Vordergrund. Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie [...] Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen24.« Hier wurde nicht nur die Beseitigung der staatlichen Existenz Polens, sondern die Vernichtung der polnischen Nation propagiert. Die Konsequenz aus dieser Forderung, nämlich die Erfassung, Verhaftung und schließlich Ermordung der polnischen Ekten, wurde seit Mai 1939 im SD-Hauptamt mit der Einrichtung der »Zentralstelle II P (Polen)« und seit Juk 1939 mit der AufsteUung der ersten »Einsatzgruppen« umgesetzt. Die Einsatzgruppen erhielten im August mündkche Befehle, die die »Ausschaltung« der polnischen Intelligenz anordneten, wozu im nationalsozialistischen Sinn vorrangig der kathoksche Klerus, Lehrer und Hochschullehrer, Funktionäre von politischen Verbänden, Ärzte, Apotheker, Offiziere, höhere Verwaltungsbeamte, Kaufleute, Großgrundbesitzer und Hochschulabsolventen zählten25. Diese Ziele wurden von Hider am 2. Okto-
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Hubert Orlowski, »Polnische Wirtschaft«. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit, Wiesbaden 1996, insbesondere die Kapitel »Weg, Schmutz, Öde Dimensionen polnischer Wirtschaft« und »Die Ordnung der Taxonomie im Nationalsozialismus«, S. 319 369. Das Rußlandbild im Dritten Reich, hrsg. von Hans-Erich Volkmann, Köln, Weimar, Wien 1994, mit Beiträgen zum Slavenbild des Nationalsozialismus. Programmatisch wurde dies gegenüber Polen in der Denkschrift »Behandlung der Bevölkerung der ehemaligen polnischen Gebiete nach rassenpolitischen Gesichtspunkten« vom 25.11.1939 ausgeführt. Abdruck in: Hiderowskie »prawo« okupacyjne w Polsce. Wybór dokumentów, hrsg. von Karol Marian Pospieszalski, Poznan 1952 (Documenta Occupationis, 5), S. 1 -28. Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945, Serie D, Bd 7, Baden-Baden 1956, Dok. Nr. 192 und 193, S. 167-172; quellenkritische Untersuchung: Winfried Baumgart, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VjZ), 16 (1968), S. 120-149; Interpretation und Einordnung: Wolfgang Jacobmeyer, Der Überfall auf Polen und der neue Charakter des Krieges, in: Der Warschauer Aufstand. 1. August 2. Oktober 1944. Ursachen Verlauf- Folgen, Warszawa, Hannover 1996, S. 7 29. Neuere Forschungen haben den Auftrag zum Massenmord an die »Einsatzgruppen« untermauert, wobei ärgerlich ist, daß durchweg auf einer selektiven Literaturbasis argumentiert wird. Gesamtdarstellung: Dorothée Weitbrecht, Der Exekutionsauftrag der Einsatzgruppen in Polen. Filderstadt 2001; hier nicht berücksichtigt: Michael Wildt, Radikalisierung und Selbstradikalisierung 1939. Die Geburt des Reichssicherheitshauptamtes aus dem Geist des völkischen Massenmords, in: Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. »Heimatfront« und besetztes Europa, hrsg. von Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann, Darmstadt 2000, S. 11 -41, sowie Alexander B. Rossino, Nazi Anti-Jewish Policy During the Polish Campaign: The Case of the Einsatzgruppe von Woyrsch, in: German Studies Review, (2001), 24, S. 35 54 (jeweils mit Hinweisen auf die ältere deutsche und angloamerikanische Literatur). In allen drei Arbeiten werden ältere Forschungen aus Polen, die bereits parallel zu ähnlichen Ergebnissen kamen, übergangen. Heranzuziehen sind: Kazimierz Radziwoiiczyk, »Akcja Tannenberg« grup operacyjnych Sipo i SD w Polsce jesieni^ 1939 r., in: Przegktd Zachodni, (1966), 5, S. 98-114; ders., Okupacyjny zarz^d i zbrodnie wojenne Wehrmächte podezas agresji na Polskç 1.9.-25.10.1939, in: Wojskowy Przegl^d Historyczny, 18 (1973), 2 (65), S. 98-141; Alfred Konieczny, W sprawie policyjnych grup operacyjnych Strecken...
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ber 1939 im kleinen Kreis bekräftigt: »Noch einmal müsse der Führer betonen, daß es für die Polen nur einen Herren geben dürfe und das sei der Deutsche, zwei Herren nebeneinander könne es nicht geben und dürfe es nicht geben, daher seien alle Vertreter der polnischen Intelligenz umzubringen. Dies klinge hart, aber es sei nun einmal das Lebensgesetz26.« Im weiteren führte Hitler aus, das Generalgouvernement müsse ein Reservoir für billige polnische Arbeitskräfte darstellen, die sich den deutschen Herren jederzeit unterzuordnen hätten. Programmatisch wurde die deutsche Besatzungspolitik in Polen somit bereits im September und Oktober 1939 festgelegt. Unter den »deutschen Herrenmenschen« sollte die »rassisch minderwertige« polnische Bevölkerung stehen, noch eine Stufe tiefer war die in Gettos gänzlich zu isolierende jüdische Bevölkerung angesiedelt. Aus der deutschen Propaganda der Jahre 1939/40 läßt sich ein Feindbild des polnischen Staates und der polnischen Bevölkerung filtern, das sich aus vier Komponenten zusammensetzte: 1. staatlich: Der polnische Staat sei eine künstliche Schöpfung der Ordnung von Versailles, unfähig zu einer eigenen Existenz, und störe die europäische Ordnung; 2. national: Die Polen seien eine verantwortungslose, unschöpferische Nation, die durch ihre Ansprüche Deutschland bedrohten und einen Herren benötigten, der sie führe; 3. ethnisch-rassisch: Die Bevölkerung sei »rassisch minderwertig«, »verjudet« und verkörpere »asiatischen Geist«; 4. biologistisch: Die polnische Überbevölkerung bedrohe den deutschen Nachbarn und müsse wegen ihres minderwertigen Charakters zurückgedrängt, deportiert und ihre Eliten vernichtet werden27. Mit der Entfesselung des Krieges baute die deutsche Besatzungspolitik im besetzten Polen ein Terrorsystem auf, das bis dahin für europäische Verhältnisse beispiellos war. Eine vergleichbare NS-Gewaltherrschaft gab es lediglich ab 1941 in Serbien und in den besetzten Gebieten der UdSSR. Die deutschen Besatzer wandten in Polen Terror an, um das Land zu »befrieden«, das heißt den Widerstandswillen zu brechen, und um eine bestimmte Gesellschaftsschicht (die polnische Intelligenz) oder Bevölkerungsgruppe (die Juden) zu vernichten. An geltende völkerrechtliche Normen hielt man sich nicht und wollte man sich auch nicht halten. Mit dem Überfall auf Polen praktizierten die deutschen Streitkräfte von den ersten Kriegstagen an eine Strategie, die auf Terror gegen die Zivilbevölkerung mittels Luftkrieg, die Ausweitung der Kriegführung auf Nichtkombattanten (Vorge—
bacha i von Woyrscha na Górnym Sla_sku we wrzesrüu i pazdzierniku 1939, in: Studia Sla_skie, 10 (1966), S. 225-270; weiterhin: Erhard Moritz und Wolfgang Kern, Aggression und Terror. Zur Zusammenarbeit der faschistischen deutschen Wehrmacht mit den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD bei der Aggression gegen Polen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 22 (1974), 12, S. 1314-1325 (Entstehung der Sonderfahndungslisten). Aktenvermerk Martin Bormanns über ein Gespräch bei Hider, an dem auch Hans Frank und Erich Koch teilnahmen, abgedr. in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (International Military Tribunal), Nürnberg, 14. Nov. 1945-1. Okt. 1946, 42 Bde, Nürnberg 1947-1949, hier Bd 39, S. 425-429. Nach Eugeniusz Cezary Kröl, Propaganda i indoktrynacja narodowego socjaHzmu w Niemczech 1919-1945. Studium organizacji, tresci, metod i technik masowego oddzialvwania, Warszawa 1999, S. 511-577 (zum Polenbild des Nationalsozialismus), hier S. 574-577.
Die deutsche
Besatzungspolitik in Polen 1939 bis 1945
59
hen gegen »Partisanen«) sowie in schwierigen Situationen auf die Erschießung von Geiseln und Kriegsgefangenen zurückgriff28. Diese Terrorakte hingen teilweise direkt oder indirekt mit den kriegerischen Auseinandersetzungen zusammen und hatten außer den Luftangriffen nicht in allen Fällen systematischen Charakter. Sie waren begründet in der vorhergegangenen und parallel laufenden antipolnischen und antijüdischen Hetze. Bald nach dem Abschluß der Kampfhandlungen ging der Terror aus den Reihen des Heeres zurück, zumal sich die Wehrmachtführung bemühte, ihn einzudämmen29. In der deutschen Forschung zum Zweiten Weltkrieg sind diese Gewalttaten gegenüber den Morden im Krieg gegen die Sowjetunion wenig behandelt worden, so daß, beispielsweise in der Diskussion um die Verbrechen der deutschen Wehrmacht, fälschlicherweise der Eindruck entstehen konnte, als habe ein »Vernichtungskrieg« von deutscher Seite erst 1941 -
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begonnen.
Kriegsverlauf ermordeten die Einsatzgruppen bereits in den ersten Kriegstagen polnische Zivilisten und polnische Juden. Mit Datum vom 3. September sind Anordnungen Himmlers überliefert, »polnische Aufständische« und »Partisanen« zu erschießen3". Das Datum zeigt, daß diese radikalen Befehle bereits vor dem Bekanntwerden polnischer Ausschreitungen gegen deutsche Zivilisten in Bromberg (3./4. September), die als »Bromberger Blutsonntag« in der Folgezeit propagandistisch ausgenutzt wurden, erteilt worden waren31. Im September und Oktober 1939 wurde die deutsche Politik gegen die polnische Intelligenz und die polnischen Juden weiter verschärft; im Zuge einer »völkischen Flurbereinigung« erging an die Amtschefs der Sicherheitspolizei der Befehl, »die führende Bevölkerungsschicht soll so gut wie möglich unschädlich gemacht Parallel
28
29
311 31
zum
Am Deutschen Historischen Institut (DHI) Warschau geht zur Zeit Jochen Böhler der Frage nach, inwieweit bereits im »Polenfeldzug« die Wehrmacht eine Mittäterschaft und Mitverantwortung für den Terror gegen die Zivilbevölkerung und die Exekutionen an Mitgliedern der polnischen Intelligenz und polnischen Juden trägt. Die Materialbasis bildet dabei eine Gegenüberstellung polnischer Zeugenaussagen und Memoiren sowie deutscher Kriegstagebücher, Feldpostbriefe und die Akten
zeitgenössischer kriegsgerichtlicher Untersuchungen. Vgl. www.dhi.waw.pl/Institutsprojekte. Helmut Krausnick, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der heitspolizei und des SD 1938 -1942, Frankfurt a.M. 1981, S. 76 79. Ebd., S.
Sicher-
44 f. Die Informationen über die Bromberger Ereignisse erreichten die deutschen Truppen erst nach Einnahme der Stadt am 5. September. Mit zutreffender Chronologie Wildt, Radikalisierung (wie Anm. 25), S. 27-30; dagegen irreführend Weitbrecht, Exekutionsauftrag (wie Anm. 25), S. 20-25. Die ältere Literatur zu Bromberg ist durch die propagandistischen nationalsozialistischen (Massenmord an Angehörigen der deutschen Minderheit) bzw. nationalpolnischen (Diversion bzw. Sabotage seitens der Minderheit) Argumentationen geprägt; benutzt werden können: Günter Schubert, Das Unternehmen »Bromberger Blutsonntag«. Tod einer Legende, Köln 1989; Wlodzimierz Jastrzebski, Der Bromberger Blutsonntag. Legende und Wirklichkeit, Poznan 1990. Zwei Forschungslücken fallen besonders deutlich auf: Es fehlt eine Darstellung, die die Bromberger Ereignisse (Ermordung von angeblichen deutschen »Diversanten«) mit dem strukturell ähnlichen Vorgehen der Wehrmacht (Ermordung von angeblichen polnischen »Partisanen«) vergleicht, sowie eine historiographische Untersuchung, die die publizistischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in den Kontext der Pflege von deutschem wie polnischem Feindbild in Polen wie Deutschland während des Kalten Krieges stellt. -
-
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werden«32. An den Massenmorden waren neben den Einsatzgruppen auch die insbesondere aus den Reihen der deutschen Minderheit rekrutierten Angehörigen des »Selbstschutzes« beteiligt33. Schwerpunkte des Terrors lagen in der Region um Bromberg, in Pommerellen und im Kulmer Land, wo Kommandos der Sicherheitspokzei, der Danziger NSDAP und des »Selbstschutzes« Jagd auf angebliche »Deutschenfeinde«, Angehörige der polnischen Intelkgenz und Juden machten. Im Umfeld dieser ersten Terrorwelle erfolgten in Danzig-Westpreußen und im Wartheland Mordaktionen an geistig und körperkch Behinderten, in denen die deutsche Besatzungsmacht nur »überflüssige Esser« sah. So wurden die Insassen der psychiatrischen Krankenhäuser in Westpreußen und im Wartheland Opfer von Massenhinrichtungen34. Neuere Forschungen ergaben, daß insgesamt über 7700 Menschen bereits zwischen September 1939 und Frühjahr 1940 im Rahmen dieser »Euthanasie«-Morde erschossen oder durch Gas ermordet wurden35. Insgesamt wkd die Zahl der von Angehörigen der Wehrmacht, der Einsatzgruppen und des »Selbstschutzes« bis zum Ende der Militärverwaltung am 25. Oktober 1939 Ermordeten auf 12 000 bis 20 000 Personen geschätzt36. Diese Dimension des Terrors hatte Michael Wildt vor Augen, als er über den Herbst 1939 schrieb: »In Polen lernten die SS-Führer, die später im RSHA für die >Endlösung
großen Räumen< zu denken und radikal bis hin zum Massenmord zu handeln37.« Die Rolle der deutschen Militärverwaltung und der von ihr eingesetzten »Chefs
der Zivüverwaltung« bis zu ihrer Ablösung am 25. Oktober 1939 ist durch die Studie von Hans Umbreit präzise beschrieben worden38. Die in der Wehrmacht Verantwortlichen suchten zwar teilweise den bedenkenlos angewandten Terror vor allem mit Blick auf die Stimmung in der polnischen Bevölkerung zu mildern und gerieten hier in Konflikte mit dem SD und den Einsatzgruppen, so etwa Generaloberst Johannes Blaskowitz, doch dominierte der Versuch, in Fragen der nationalsozialistischen Volksrumspolitik, der wirtschaftlichen Ausplünderung des Landes und des Terrors wegzusehen und alle Verantwortung abzulehnen. Bereits die ersten zwei Monate der deutschen Kriegführung und Militärbesatzung in Polen besaßen so den Charakter einer grundlegenden Zäsur: Durch Brutalität und Terror wurden Möglichkeiten einer Verständigung oder eines geregelten Zusammenlebens zwischen Deutschen und Polen unter der deutschen Besatzung dauerhaft zerstört. Die im September 1939 einsetzenden Massenmorde vergifteten das Klima vor Ort und machten der polnischen Bevölkerung sehr rasch klar, daß die deutsche Besatzung die Vernichtung der gesamten polnischen Nation zum Ziel hatte.
Die deutschen VerwaltungsStrukturen und die Grundzüge der Besatzungspolitik Der grundsätzliche Beschluß über die Aufteilung des polnischen Territoriums in verschiedene administrative Einheiten fiel in den nationalsozialistischen Planungen im Sommer 1939 im Umfeld des Hitler-Stalin-Paktes. Konkrete Überlegungen auf verschiedenen Ebenen blieben jedoch unkoordiniert. Nach Kriegsbeginn wurde am 8. September die Einrichtung der Militärbezirke für Westpreußen, Posen, Lodz und Krakau sowie der Abschnitte Südostpreußen und Oberschlesien festgelegt, ohne daß dies eine präjudizierende Wirkung für die spätere territoriale Aufteilung besessen hätte. In Hitlers Weisung Nr. 4 vom 25. September war »die endgültige politische Gestaltung des ehemaligen polnischen Gebietes« aus außenpolitischen Erwägungen heraus noch unklar. Grundsätzlich standen sich in den internen Auseinandersetzungen die Anhänger einer Wiederherstellung der deutschen Ostgrenze von 1914 und die Befürworter weitergehender Annexionsforderungen gegenüber, die vor allem wehrwirtschaftlich und geopolitisch begründet wurden. Die Idee 37
Wildt, Radikalisierung (wie Anm. 25),
S. 41; vgl. auch Michael Wildt, Generation des UnbedingFührungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. Hans Umbreit, Deutsche Militärverwaltungen 1938/39. Die militärische Besetzung der Tschechoslowakei und Polens, Stuttgart 1977; Stanislaw Nawrocki, Hiderowska okupacja Wielkopolski w okresie zarza_du wojskowego. Wrzesieri pazdziernik 1939 r., Poznan 1966. Umbreit war die Arbeit von Nawrocki nicht bekannt, und er benutzte auch nicht die in den Staatsarchiven (AP) Poznan und Lodz erhaltenen Bestände zu den »Chefs der Zivilverwaltungen«, so daß beide Arbeiten parallel benutzt werden müssen. ten.
38
Das
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62
Hans-Jürgen Bömelburg
eines »polnischen Reststaates« verfolgte die deutsche Seite seit Anfang Oktober 1939 nicht mehr weiter; damit blieb jede Möglichkeit einer Verständigung mit Teilen der polnischen Eliten ausgeschlossen39. Die Ziele der deutschen Besatzung lagen seitdem in der Verhinderung jegkcher Form polnischer Staatkchkeit. Die Entscheidungen zur territorialen Aufteilung vom 8. Oktober beinhalteten die Annexion von 91 974 Quadratkilometer fast 50 Prozent des dem Deutschen Reich zufallenden polnischen Territoriums mit rund 10 Millionen Einwohnern, die zu über 90 Prozent sich nicht als Deutsche fühlten. Dabei wurden vier Verwaltungseinheiten geschaffen, die bis 1945 Bestand hatten und die deutsche Politik gegenüber Polen mit prägten: der Reichsgau Danzig-Westpreußen (21 237 Quadratkilometer, 1939 ca. 2,15 Millionen Einwohner), der die bis 1918 preußische Provinz Westpreußen und Teile Großpolens mit Bromberg bzw. die Wojewodschaft Pommerellen von 1938 umfaßte; der Reichsgau Wartheland (43 943 Quadratkilometer, ca. 4,2 Milkonen Einwohner), der den überwiegenden Teil Großpolens und größere zentralpolnische Gebiete mit Kutno, Kalisz und Lodz darstellte; die nach Ostpreußen eingegliederten »südostpreußischen« Gebiete, der »Regierungsbezirk Zichenau« (Ciechanów), ein erhebkcher Teil des historischen Masowiens, der (ehemals ostpreußische) Kreis Soldau und das Suwalkigebiet, insgesamt 16 144 Quadratkilometer, sowie die nach Schlesien eingegliederten »ostoberschlesischen« Gebiete (10 578 Quadratkilometer, ca. 2,5 Milkonen Einwohner), die jedoch nicht nur aus dem bis 1914 deutschen Ostoberschlesien, sondern auch aus weiteren Territorien wie dem Teschener Land, Zywiec (Saybusch) und dem D%browabecken bestanden. Vom Altreich unterschied sich die Zivilverwaltungsstruktur in den eingegliederten Gebieten vor akem dadurch, daß die Parallelstrukturen von Territorial- und Parteiverwaltung weitgehend aufgehoben wurden. Die beiden »Reichsgaue« verbanden Merkmale einer preußischen Provinz bzw. eines Landes mit denen eines Parteibezkks der NSDAP (»Gau«). Das Oberhaupt dieser Einheiten war Reichsbeamter (Reichsstatthalter) und Parteifunktionär (Gauleiter) zugleich und auch auf niedrigerer Ebene waren Verwaltungs- und Parteiämter wie NSDAP-Kreisleiter und Landrat in einer Hand vereint. Bei der Besetzung kamen fast ausschließlich Parteigenossen zum Zuge, so daß noch stärker als im Altreich NSDAP- und SSFunktionäre einen direkten Zugriff auf die Zivilbevölkerung besaßen. Sowohl unter den obersten Verwaltungsbeamten (Reichsstatthalter Albert Forster und Arthur Greiser, Gauleiter Erich Koch) wie auch auf der Landratsebene dominierten durchweg nationalsozialistisch eingestellte Personen. Eine demonstrativ zur Schau getragene Unerbittkchkeit stellte den Schlüssel zur Karriere im Besatzungsregime dar. Lediglich in Ostoberschlesien scheinen unter Oberpräsident Josef Wagner und dessen Stellvertreter Fritz-Dietlof von der Schulenburg bis 1940 auch konservative Kandidaten zum Zuge gekommen zu sein4". —
-
Detaillierte Darstellung der verschiedenen Etappen der deutschen Deutsche Militärverwaltungen (wie Anm. 38), S. 85 272. Kaczmarek, Pod rz^dami gauleiterów (wie Anm. 6). -
Militärverwaltung: Umbreit,
Die deutsche
Besatzungspolitik in Polen 1939 bis 1945
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Bei den annektierten Territorien handelte es sich um die wirtschaftlich am höchsten entwickelten Gebiete Polens. Im Verlauf der Grenzziehung wurde keinerlei Rücksicht auf historische Grenzen oder die Wohnsitze der deutschen Minderheit genommen41. In Zentralpolen verlagerte sich die deutsche Grenze um 100 bis 200 Kilometer über die Grenzen von 1918 hinaus nach Osten. Die Annexion eines großen Teils des polnischen Staatsgebiets besaß sowohl wirtschaftliche wie volkstumspolitisch-geopolitische Gründe. In diesen beiden Belangen wurde in den eingegliederten Gebieten eine andere Politik als im Generalgouvernement verfolgt: Wirtschaftlich erfolgte die Eingliederung der wichtigsten Industriegebiete Polens (Ostoberschlesien, Lodz) wie auch der landwirtschaftlich am weitesten entwickelten Regionen (Großpolen). Die bestehenden Industrieanlagen, insbesondere die Berg- und Stahlwerke Ostoberschlesiens, sollten sofort übernommen, für die deutsche Kriegführung genutzt und nach Möglichkeit ausgebaut werden; die landwirtschaftliche Produktion sollte für die Versorgung des Reichs intensiviert und das Arbeitskräftepotential zum Nutzen der deutschen Wirtschaft ausgebeutet werden. Die restlichen zentralpolnischen Territorien (95 743 Quadratkilometer, 24,6 Prozent des polnischen Vorkriegsterritoriums, ab Sommer 1941 nach Einverleibung des Distrikts Galizien 145 180 Quadratkilometer, mit 12,1 Millionen Einwohnern im März 1941 bzw. 17,7 Millionen im Februar 1942) wurden zum »Generalgouvernement« zusammengefaßt, dessen Status weitgehend unklar war und das von der deutschen Zivilverwaltung je nach Situation als »deutsches Kolonialgebiet« oder als »letzter Ausläufer einer unmittelbar nach Reichsmethoden geführten Verwaltung« interpretiert wurde. An der Spitze stand Generalgouverneur Hans Frank (Stellvertreter bis Mai 1940 Arthur Seyß-Inquart, dann Josef Bühler) mit der in Krakau angesiedelten »Regierung des Generalgouvernements«; die mittlere Instanz bildeten die Distriktsverwaltungen Warschau, Lublin, Radom und Krakau (sowie ab 1941 Lemberg) mit einem Gouverneur (Distriktschef) an der Spitze des »Amts des Distrikts«; als untere Instanz bestanden die Kreis- und Stadthauptmannschaften, die als vollstreckende Organe der Deutschen Besatzungspolitik vor Ort fun-
gierten42.
Mit der Einrichtung des Generalgouvernements wurden mehrere Ziele verfolgt: Einerseits ermöglichte die in den Augen der NS-Planer befristete Belassung eines »Polenreservats« eine Politik der brutalen Entmischung der Bevölkerung, indem die polnische und jüdische Bevölkerung der ins Reich eingegliederten Gebiete schnellstmöglich ins Generalgouvernement vertrieben werden sollte. Militär—
—
Erlaß des Führers über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete vom 8.10.1939, abgedr. in Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (wie Anm. 23), S. 84-88; zu den wirtschaftlichen Kriterien: Werner Röhr, Zur Wirtschaftspolitik der deutschen Okkupanten in Polen 1939- 1945, in: Krieg und Wirtschaft. Studien zur deutschen Wirtschaftsgeschichte 1939-1945, hrsg. von Dietrich Eichholtz, Berlin 1999, S. 221-251, hier S. 223 f. mit Zahlenangaben. Zu den Verwaltungsstrukturen und der Zivilverwaltung im GG vgl. Eisenblätter, Grundlinien (wie Anm. 8); Hans Frank, Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939-1945, hrsg. von Werner Präg und Wolfgang Jacobmeyer, Stuttgart 1975, hier die Einleitung; Musial, Deutsche Zivilverwaltung (wie Anm. 13), S. 23-79; Bömelburg/Musial, Deutsche Besatzungspolitik (wie Anm. 2), S. 71 -84.
Hans-Jürgen Bömelburg
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strategisch
hatte die
Region
die Funktion eines Glacis und
Aufmarschgebiets
zu
erfüUen, in dem ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung größere Truppenbewe-
konnten. Die wktschaftkchen Ziele im Generalgouzunächst ganz unklar: Die deutsche Verwaltung unterschätzte vor dem Hintergrund des traditioneUen Stereotyps der »polnischen Wktschaft« das Wktschaftspotential der Region und sah eine wktschaftkche Deindustrialisierung (Demontage) sowie die Nutzung des Arbeitskräftereservoks vor, was angesichts von Arbeitszwang und deutsch-polnischem Gegensatz schnell zu Razzien zwecks Rekrutierung von Arbeitskräften und zur Zwangsarbeit führte. Grundsätzlich wird aus diesem Überbkck über die deutsche Besatzungsverwaltung erkennbar, daß im besetzten Gebiet keine Aufsichtsverwaltung wie in Teilen Westeuropas oder im besetzten Skandinavien, sondern eine rein deutsche (in den eingegliederten Gebieten) oder auf der mittleren und oberen Ebene ausschließhch deutsche (Generalgouvernement) Zivilverwaltung etabliert wurde: Polen durften keine leitenden Positionen bekleiden, und es durfte auch keine autonomen Bereiche polnischer Instanzen geben; die polnische Bevölkerung wurde einem Sonderrecht (Polenstrafrecht) unterworfen43. Für eine polnische Selbstverwaltung war lediglich im Generalgouvernement und dort auf lokaler Ebene Platz. Gemeindevorsteher-, Schulzen- oder Bürgermeisterämter in kleineren Städten wurden von Polen besetzt. In größeren Städten stand ein deutscher Bürgermeister oder Stadthauptmann an der Verwaltungsspitze, wobei infolge von dessen fehlenden Sprachkenntnissen die tatsächliche Amtstätigkeit oft polnische Stellvertreter wahrnahmen44. Erhalten bkeb auch die polnische Ordnungspolizei, der jedoch in übergeordneten und politischen Fragen sowie gegenüber deutschen Staatsbürgern keinerlei Kompetenzen belassen wurden45. Angesichts der auf kurzfristige Ausbeutung und langfristige Germanisierung eingesteüten deutschen Besatzungspolitik war die Stellung der in der Verwaltung beschäftigten Polen prekär: Sie befanden sich zwischen allen Fronten; auf der einen Seite standen die deutschen Besatzungsbehörden mit ihren Befehlen, auf der anderen Seite die Interessen der polnischen Bevölkerung sowie die Forderungen des polnischen Widerstands. Im Interesse der deutschen Besatzungsbehörden lag
gungen
durchgeführt werden
vernement waren
—
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Majer, »Fremdvölkische« im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard 1981. Zur Tätigkeit der nationalsozialistischen Sondergerichte: Gerd Weckbecker, Zwischen Freispruch und Todesstrafe. Die Rechtsprechung der nationalsozialistischen Sondergerichte Frankfurt/Main und Bromberg, Baden-Baden 1998; Edmund Zarzycki, Eksterminacja i dyskryminacja. Dzialalnosc hitierowskich s^dów okrçgu Gdañsk-Prusy Zachodnie w latach 1939- 1945, Bydgoszcz 1981; ders., Dzialalnosc hiderowskiego Sqdu Specjalnego w Bydgoszczy w latach 1939 1945, Warszawa 1987. Die Tätigkeit der polnischen Lokalverwaltungen und der hier tätigen polnischen Angestellten ist schlecht erforscht, da die Betroffenen nach 1945 verständlicherweise das Interesse hatten, ihren eigenen Tätigkeitsbereich als möglichst eingeschränkt zu beschreiben. Einige Einblicke ermöglichen die Aufzeichnungen des polnischen Bürgermeisters von Czçstochowa (Tschenstochau), der direkt den deutschen Stadthaupdeuten unterstand: Stanislaw Rybicki, Pod znakiem lwa i kruka. Fragmenty wspomnieri z lat okupacji, 2., erw. Aufl., Warszawa 1990 [Erstausgabe 1965|. Adam Hempel, Pogrobowcy klçski. Rzecz o policji »granatowej« w Generalnvm Gubernatorstwie Diemut
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1939-1945, Warszawa
1990.
Die deutsche
Besatzungspolitik in Polen 1939 bis 1945
65
polnische Lokalverwaltung für sich zu gewinnen, was oft durch Strafandrohungen, Erpressungen und »Belohnungen« geschah, so daß die Lokalverwaltungen in einer Grauzone von Gewaltandrohung, Korruption und Kollaboration tätig waren. Im Generalgouvernement wurden die als »antipolnisch« angesehenen Verwaltungsangestellten und Funktionsträger seit 1942 zum bevorzugten Ziel von Anschlägen des polnischen Widerstands, so daß sich diese Personengruppe nach Möglichkeit jeglicher Aktivitäten enthielt, um nicht zwischen den verschiedenen Forderungen zerrieben zu werden46. Die deutschen Verwaltungsangestellten rekrutierten sich auf mittlerer und höes, die
herer Ebene fast ausschließlich aus reichsdeutschem Personal, da die Vertreter der deutschen Minderheit nicht über die nötigen formalen Qualifikationen verfügten, keine ausreichende Protektion besaßen und gegen entsprechende Bewerber oft Sicherheitsbedenken vorgebracht wurden. Dieses Personal war häufig in erster Linie an einer eigenen schnellen Karriere interessiert und besaß keinerlei Landesund Sprachkenntnisse. Gegenüber dem durchschnittlichen deutschen Verwaltungspersonal dominierten überzeugte Nationalsozialisten, die sowohl von den Verwaltungsspitzen infolge der Verschmelzung von NSDAP und deutscher Verwaltung bevorzugt wurden wie auch selbst ein größeres Interesse an einer Tätigkeit in den »im Volkstumskampf stehenden« oder »volksfremden« Territorien hatten47. Diese landes- und sprachunkundige Verwaltung blickte durchweg abwertend und geringschätzig auf die polnische Bevölkerung, die, als zivilisatorisch niedrigerstehend (»polnische Wirtschaft«) angesehen, durch Ge- und Verbote zahllose Beschränkungen erfuhr. So herrschte in den eingegliederten Gebieten teilweise Grußzwang gegenüber deutschen Uniformträgern und Beamten, und es gab Geschäfte, Stadtparks und Verkehrsmittel »Nur für Deutsche«. Bei der polnischen Bevölkerung verstärkten diese im Alltagsleben einschneidend spürbaren Maßnahmen den Haß und die Ablehnung gegen die deutschen Besatzer und begünstigten die Entstehung einer polnischen Parallelgesellschaft, von der die anwesenden Deutschen ausgeschlossen blieben. Indirekt beförderte diese Segregation auf allen Ebenen auch den polnischen Widerstand, da jegliche vermittelnden Zwischenschichten durch den deutschen Zugriff desavouiert und zerrieben wurden, so daß Leszek
Gondek, Polska karzaca 1939-1945. Polski podziemny wymiar sprawiedliwosci w okresie okupacji niemieckiej, Warszawa 1988. Prosopographische Stadien liegen nur für wenige Gruppen vor; für die Kreis- und Stadthauptleute: Musial, Deutsche Zivüverwaltung (wie Anm. 13), S. 79-100, 379-400; für die oberschlesischen Beamten: Kaczmarek, Pod rza_dami (wie Anm. 6), S. 197-211, weiter 225-242. Die in der Literatur häufig erhobene These, die deutschen Verwaltungsangestellten im Osten seien schlechter qualifiziert oder in höherem Maße »kriminell« gewesen, ist kaum quantifizierbar bzw. wurden bisher keine Versuche zu einer Quantifizierung unternommen. Die Argumentationsfigur verliert auch vor dem Hintergrund einer allgemeinen Korruption im Nationalsozialismus an Gewicht. Vgl. Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt a.M. -
Überlegung,
2001. Treffender erscheint die daß ein erheblicher Ten der Kompetenz von Verwaltungspersonal in der Kenntnis regionaler und örtlicher Strukturen besteht. Fehlen diese Kenntkeinernisse, und werden weiterhin vor dem Hintergrund eines generellen lei Versuche zu einer Aneignung solchen Wissens unternommen, so ist das Personal zwingend
Überlegenheitsgefühls
unqualifiziert.
66
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noch die Option für die deutsche Besatzungsherrschaft oder den polnischen Widerstand verbheb. Die deutschen Besatzungsorgane zerfielen in drei voneinander weitgehend unabhängige und in vielen Bereichen miteinander konkurrierende Verwaltungen: die Zivilverwaltung, den SS- und Polizeiapparat sowie die Wehrmacht48. Neben der bereits skizzierten Zivilverwaltung besaßen der SS- und Polizeiapparat wie die Wehrmacht eigene Hierarchien und Befehlsstränge und betrieben auch eine eigene Besatzungspoktik. Der SS- und Polizeiapparat unterstand in den eingegliederten Gebieten und im Generalgouvernement Höheren SS- und Pokzeiführern (HSSPF). Ihnen waren die Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS), die Befehlshaber der Ordnungspolizei (BdO) sowie die SS- und Pokzeiführer unterstellt. Formal gesehen unterstanden die HSSPF persönlich den Reichstatthaltern bzw. dem Generalgouverneur Frank einerseits wie auch dem Reichsführer SS Heinrich Himmler andererseits. De facto besaß jedoch die Einbindung in die SS- und Polizeihierarchie erheblich größeres Gewicht, so daß tendenziell zwischen aUen Leitern der Zivilverwaltung und den HSSPF Konflikte zu verzeichnen waren. Sachlich lag diesen Konflikten zugrunde, daß die HSSPF in erster Linie in den Kategorien des Volkstums- und Rassenkampfes dachten, während die Zivilverwaltung auch eine langfristige Befriedung und Perspektiven einer ebensolchen Ausbeutung im Auge haben mußte49. Die Wehrmacht spielte nach dem Ende der Miktärverwaltung zunächst nur eine untergeordnete Rolle und konnte ledigkch in den kriegswichtigen Rüstungsbetrieben (vor aUem in Ostoberschlesien, aber auch im Industrierevier in Zentralpolen in der Umgebung von Kielce und Radom) dkekte Vorrechte bewahren. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 wuchsen die Kompetenzen der Wehrmacht, da die polnischen Territorien dkektes Aufmarsch- und Nachschubgebiet wurden. Ab 1942 kamen die im Generalgouvernement stationierten Wehrmachteinheiten auch bei der Partisanenbekämpfung, bei Razzien und »Befriedungsaktionen« zum Einsatz, insbesondere in der Region um Zamosc. Mit dem Zurückweichen der Front auf die polnischen Territorien ab Sommer 1944 verstärkte sich der Einfluß der Wehrmachtinstanzen; die Besatzungspoktik, in wachsendem Maße von Chaos und Improvisation geprägt, veränderte sich dadurch jedoch nicht grundlegend. Insgesamt konnte die Wehrmacht in den von ihr beherrschten Bereichen teilweise mäßigend auf das Besatzungsregime einwirken; die wenigen Juden, die die deutsche Besatzung überlebten, gelang dies zum größten Teil in den Rüstungsbetrieben der Wehrmacht. Dem steht jedoch die Verantwortung für Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, die »Partisanenbekämpfung« sowie in der letzten Kriegsphase für die blutige Niederschlagung des Warschauer Aufstannur
überblick für das GG bei Bömelburg/Musial, Deutsche Besatzungspolitik (wie Anm. 2), S. 7-75. In der Literatur dominiert bis heute ein personalistischer Zugang, der die Differenzen als Konflikte zwischen einzelnen Personen beschreibt; prosopographischer Überblick zu den HSSPF: Ruth Bettina Birn, Die höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter im Reich und in den besetzten Gebieten, Düsseldorf 1986.
Besatzungspolitik in Polen 1939 bis 1945
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Bruch zahlreicher Normen der Kriegführung gegen die
Zivilbevölkerung
Die deutsche
des
unter
gegenüber5".
sind keine ausgeprägten Phasen zu erken1939 und 1945 keinen Veränderungen aus der internationalen politischen Lage und der Situation Sichtbar sind unterlag. des kriegführenden Deutschlands resultierende begrenzte Kurswechsel und teilweise taktische Zugeständnisse51, die folgende Einteilung nahelegen: 1939-1940: eine deutsche Besatzungspolitik, die durch Terror sowie schnelle und kurzsichtige wirtschaftliche Ausplünderung eine gänzliche Unterordnung des besetzten Landes erreichen will; 1941-1943: Die besetzten polnischen Territorien werden zu einem militärischen Auf- und Durchmarschgebiet, in dessen Gefolge der Völkermord an den polnischen Juden ausgeführt und die endgültige ethnische Neuordnung Osteuropas durch den Generalplan Ost und das Zamosc-Projekt vorbereitet wird; 1944-1945: Das Heranrücken der Front und die Einbeziehung in die totale Mobilmachung legen der deutschen Besatzungspolitik einerseits taktische Zugeständnisse nahe, etwa durch publizistische Angebote in der kontrollierten Presse oder geheime Sondierungen beim polnischen Widerstand über mögliche gemeinsame Interessen. Zugleich erfolgt allerdings endang den Imperativen der deutschen Kriegführung im Osten eine Zerstörung der gesamten technischen Infrastruktur des Landes sowie im Anschluß an den Warschauer Aufstand die gezielte Vernichtung der zentralen Kultur- und Kunstgüter Polens. Wichtiger als die chronologischen sind die grundsätzlichen regionalen Unterschiede in der deutschen Besatzungspolitik: Während in einigen eingegliederten Gebieten der Akzent auf einer raschen Germanisierung unter Erhaltung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und technischen Infrastruktur lag (Ostoberschlesien, teilweise auch Danzig-Westpreußen), dominierte im Wartheland und im Regierungsbezirk Zichenau eine Politik der ethnischen Segregation mittels Deportation und Ermordung der polnischen Juden und der polnischen Intelligenz. Noch brutaler wurde diese Politik im Generalgouvernement durchgeführt, wo ihr in vieler Hinsicht ein klares Ziel fehlte, während andererseits die Anwesenheit eines polnischen Untergrundstaates und einer Widerstandsbewegung von der Besatzungspolitik als Vorwand oder vielmehr Auslöser für großangelegte Terror- und »Befriedungs«-Maßnahmen herhalten mußte. In den östlichen Regionen des polnischen Staates (Wilnagebiet, westliches Weißrußland, Wolhynien, Ostgalizien), die erst ab dem Sommer 1941 von deutschen Truppen besetzt wurden, suchte die deutsche In der deutschen
nen, zumal die
Besatzungspolitik
Grundeinstellung zwischen
Die Rolle der Wehrmacht ab dem Oktober 1939 wurde (im Unterschied zur Rolle in der Sowjetunion) niemals Gegenstand größerer Forschungen. Die folgende Literatur kann als Arbeitsgrundlage dienen: Rolf-Dieter Müller, Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zu-
sammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS, Frankfurt a.M. 1991; zum Warschauer Aufstand jetzt als deutschsprachige Einführung: Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944 (wie Anm. 7); zum Vorgehen des deutschen Militärs weiterhin unentbehrlich Hanns von Krannhals, Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a.M. 1962. Dazu liegt jetzt eine umfangreiche Darstellung vor: Tomasz Glowiriski, O nowy porzadek europejski. Ewolucja hitlerowskiej propagandy politycznej wobec Polaków w Generalnym Gubernatorstwie 1939-1945, Wroclaw 2000.
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die ethnischen Konflikte, z.B. zwischen Polen und Ukrainern oder zwischen Polen und Litauern, zu instrumentaksieren, um so als Schiedsrichter zwischen einander bekämpfenden Gruppierungen eine prekäre Machtbasis aufrechterhalten zu können.
Besatzungspolitik
Die
Wktschaftspolitik
Entsprechend der regionalen Differenzierung gestaltete sich insbesondere die Wktschaftspolitik in den einzelnen deutschen Verwaltungseinheiten sehr unterschiedlich52. In den ins Reich eingegliederten Gebieten, wo ca. vier Fünftel insbesondere der polnischen Schwerindustrie angesiedelt waren53, wurden sämtkche höheren Beamten aus den Wktschafts- und Verwaltungsbetrieben entfernt. Zugleich wurden private Banken, Fkmen und Grundbesitzer nichtdeutscher Nationalität enteignet und das Vermögen in den Besitz der staatkchen deutschen Treuhandverwaltung überführt. Die Haupttreuhandstelle Ost (HTO) zwecks »Erfassung des Vermögens des polnischen Staates [...] und Privatvermögen polnischer und jüdischer Hand« am 19. Oktober 1939 gegründet erhielt das alleinige Recht, Beschlagnahmen und Enteignungen polnischen Vermögens durchzuführen54. Enteignungen des Vermögens polnischer Staatsbürger ließen sich mit der »Polenvermögensordnung« vom 17. September 1940 problemlos umsetzen. In ihrer Aufgabenstellung und Struktur war die HTO eine neue Form wktschafthcher Lenkung, welche die Erfassung, Verteilung und Ausnutzung des polnischen Eigentums steuerte. Dabei erreichte die Tätigkeit der Beschlagnahme und Umverteilung giganti—
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sche Ausmaße: Bis Ende 1941 hatte die HTO 214 000 Immobiken, 38 000 Industrieobjekte sowie Wertpapiere beschlagnahmen lassen; Ende Februar 1942 waren in der Landwktschaft 897 000 Wktschaften mit einer Gesamtfläche von 8,1 Millionen Hektar enteignet worden55. Nutznießer und Begünstigte dieser Enteignungen waren deutsche Unternehmen, reichsdeutsche Neusiedler, Volksdeutsche Aktivisten wie auch oft ohne eigenes Dazutun die Volksdeutschen Umsiedler, die aus dem Baltikum oder aus Osteuropa in den ins Reich eingegliederten Gebieten angesiedelt wurden. Die zweite Säule der NS-Wktschaftspoktik bildete die intensive Ausbeutung der Landwktschaft, da aus den eingegkederten Gebieten die Versorgung der deutschen Bevölkerung im Westen aufrechterhalten werden sollte. Eine drastische Politik kam in dieser Hinsicht im Wartheland zum Tragen, da Großpolen als Agrarüberschußgebiet galt: Die vorhandenen agrarischen Großbetriebe wurden —
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Überblick: Röhr, Zur Wirtschaftspolitik (wie Anm. 41).
Zur Wirtschaftspolitik gegenüber der polnischen Schwerindustrie: Alfred Sulik, Przemysl ciçzki rejencji katowickiej w gospodarce Trzeciej Rzeszy (1939 1945), Katowice 1984. Gründungserlaß abgedr. in Europa unterm Hakenkreuz (wie Anm. 4), Bd 2: Die faschistische Okkupationspolitik in Polen 1939-1945, Dokumentenauswahl und Einleitung von Werner Röhr, -
Berlin 1989, S. 132 f. Eine Monographie zur HTO fehlt bislang. Zahlen: Röhr, Zur Wirtschaftspolitik (wie Anm. 41), S. 235.
Die deutsche
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Besatzungspolitik in Polen 1939 bis 1945
an NS-Eliten und hohe Offiziere vergeben, die mittelbäuerlichen Betriebe erhielten Volksdeutsche Umsiedler, und auf den schlechtesten Böden in den »Polenreservaten« wurde die polnische Landbevölkerung konzentriert56. In Danzig-Westpreußen und Südostpreußen erfolgte die Abschöpfung der Agrarproduktion in erster Linie durch Ablieferungskontingente landwirtschaftlicher Produkte; diese mildere Form der Ausbeutung gab der polnischen Bevölkerung größere Spielräume zur Sicherung der eigenen Existenz. Die Politik der Ausbeutung und des Hungers gegenüber der ortsansässigen Bevölkerung erwies sich als durchaus erfolgreich: 1942/43 erbrachte allein das Wartheland drei Millionen Tonnen Getreide (13 Prozent des Solls für das Deutsche Reich) und 30 Prozent der Zucker-
durchweg
produktion57. Im Generalgouvernement beschränkte sich die deutsche Wirtschaftspolitik dagegen zunächst auf die Ausbeutung und Ausplünderung des Landes unter Abtransport aller für die deutsche Kriegswirtschaft wichtigen Vorräte und Maschinen. Die Region sollte als agrarisch geprägtes Hinterland des Großdeutschen Reichs nur billige Arbeitskräfte liefern, wobei der Grundsatz galt, daß der Besatzungsapparat aus dem Lande finanziert werden müsse. Währungspolitisch wurde durch den Zudruck polnischer Währung (Zloty) ohne Gegendeckung die schnell wuchernde Besatzungsbürokratie finanziert. Steuererhöhungen, Kriegsabgaben sowie Sonder- und Strafzahlungen sollten die Kosten für die Stationierung und Besoldung von Wehrmacht und Polizei sowie für das aus militärischen Gründen notwendige Verkehrswegebauprogramm decken58. Die Folgen dieser kurzfristigen Ausbeutungspolitik erwiesen sich rasch als verheerend: Die Währungspolitik löste eine Hyperinflation aus. Deutsche Gegenmaßnahmen wie Preisstopps, Kontrollen gegen »Wucher« und die Rationierung der Lebensmittel führten zu einem Verschwinden der Waren aus den Geschäften und zur Entstehung eines enormen Schwarzmarktes, auf den zudem ein wachsender Teü der polnischen und jüdischen Bevölkerung zur Deckung des Existenzminimums angewiesen war59. Aufgrund der katastrophalen wirtschaftlichen Konsesuchten die deutschen Behörden ab 1940 gegenzusteuern und im Genequenzen eine Kernstruktur aufrechtzuerhalten. Diese stützte sich ab dem ralgouvernement Sommer 1941 insbesondere auf Versorgungs- und Rüstungsbetriebe der Wehr36
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Darstellung aus der Perspektive der polnischen Dorfgesellschaft: Warty 1939-1945, Poznan 1996. Zahlen nach Röhr, Zur Wirtschaftspolitik (wie Anm. 41), S. 243.
Tadeusz
Janicki, Wies
w
kraju
Übersicht über die Wirtschaftspolitik im GG bei Bömelburg/Musial, Deutsche Besatzungspolitik (wie Anm. 2), S. 78-85; Eisenblätter, Grundlinien (wie Anm. 8), S. 110-130, 306-313. Zum Banken- und Finanzwesen: Franciszek Skalniak, Bank Emisyjny w Polsce 1939-1945, Warszawa 1966; ders., Polityka pieniçzna i budzetowa tzw. Generalnego Gubernatorstwa narzedziem finansowania potrzeb III Rzeszy, Warszawa 1976. Der Berliner Historiker Ingo Loose bereitet zu dem Thema gerade eine Monographie vor. Zu den Sonder- und Strafzahlungen: Andrzej Dmitrzak, -
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kontrybucje w okupowanej Polsce 1939 1945, Poznan 1983. Luczak, Polityka ludnosciowa (wie Anm. 5), S. 535-566; Czeslaw Luczak, Polska i Polacy w drugiej wojnie swiatowej, Poznan 1993, S. 270-277. Zahlreiche Beobachtungen finden sich in den Tagebüchern des Wirtschaftswissenschaftlers Ludwik Landau, Kronika lat wojny i okupacji, Hitlerowskie
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Bde, Warszawa 1962 f.
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macht, die die Wirtschaft des Generalgouvernements immer stärker in die Kriegswktschaft des »Dritten Reichs« integrierten. In der Rüstungswirtschaft wurden in wachsendem Ausmaß polnische und jüdische Zwangsarbeiter eingesetzt60. Das Territorium des Generalgouvernements, bis 1939 wegen der ungünstigen Bodenverhältnisse ein agrarisches Zuschußgebiet, verwandelte sich infolge der Repressions- und Vernichtungspolitik unter deutscher Besatzung ab 1941 in ein Exportgebiet: Die Rationen für die polnische und jüdische Bevölkerung waren so niedrig angesetzt, daß diese für die Überschüsse hungerten. Zudem schrieb die deutsche Verwaltung den Bauern durch Zwangskontingente hohe Lebensmittelablieferungen vor, die vielfach mit Zwangsmitteln (Plünderungen, physische Gewalt, Strafexpeditionen) erzwungen wurden. Schließlich machte der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung ab 1941 Nahrungsmittel frei, die nun ins Reich exportiert werden konnten. Die Ausbeutung der polnischen Landbevölkerung und der Völkermord an den Juden trugen in erheblichem Maße dazu bei, daß im Deutschen Reich bis 1945 die Lebensmittelversorgung gesichert blieb61. Einen gesonderten Aspekt der deutschen Wktschafts- und Bevölkerungspolitik in den ins Reich eingegliederten Gebieten wie im Generalgouvernement büdete die massenhafte Anwendung von Arbeitszwang und Zwangsarbeit vor Ort oder durch Deportationen nach Deutschland. Schätzungen gehen von rund 2,8 Milkonen Zwangsarbeitern aus aUen Territorien des polnischen Staates aus, wobei schwerpunktmäßig die agrarisch strukturierten (Regierungsbezkk Zichenau, Wartheland, Generalgouvernement) betroffen waren62. So hatte das Wartheland durch die Deportationen einen Bevölkerungsschwund von 12,2 Prozent zu verzeichnen; die deutsche Verwaltung wollte hier die »überflüssige« Bevölkerung loswerden. Aus dem Regierungsbezirk Zichenau wurden Zwangsarbeiter insbesondere zur Arbeit auf ostpreußische Bauernhöfe verschickt63. Als Indikator kann der Warenwert der Lieferungen aus dem Generalgouvernement für die deutsche Kriegswirtschaft gelten: 12 550 000 RM (Oktober 1940), 26 860 000 (Oktober 1941), 42 686 000 (Oktober 1942), 58 950 000 (Oktober 1943), 86 084 000 RM (Mai 1944). Zahlen nach Bömelburg/Musial, Deutsche Besatzungspolitik (wie Anm. 2), S. 79; Eisenblätter, Grundlinien (wie Anm. 8), S. 313. Zur Hugo Schneider AG (HASAG), einem Leipziger Unternehmen, das zum größten Rüstungslieferanten im Generalgouvernement aufstieg, und der Ausbeutung jüdischer Zwangsarbeiter vgl. Felicja Karay, Death Comes in Yellow. Skarzysko-Kamienna Slave Labor Camp, Amsterdam 1997. Konkrete Beispiele und Statistiken bei Bömelburg/Musial, Deutsche Besatzungspolitik (wie Anm. 2), S. 79 84. Das Kalkül der nationalsozialistischen Ernährungs- und Vernichtungspolitik wurde zuletzt umfassend bei Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, Hamburg 1998, dargestellt. Weiterhin sind folgende polnische Studien heranzuziehen: Czeslaw Rajca, Walka o chleb 1939-1944. Eksploatacja rolnictwa w Generalnym Gubernatorstwie, Lublin 1980. Bis heute nicht überholte Gesamtdarstellung: Wladyslaw Rusinski, Polozenie robotników polskich w czasie wojny 1939-1945 na terenie Rzeszy i »obszarach wcielonych«, 2 Bde, Poznan 1949 und 1955; wichtigste Dokumentensammlungen: Polozenie polskich robotników przymusowych w Rzeszy 1939- 1945, hrsg. von Czeslaw Luczak, Poznan 1975 (Documenta Occupationis, Praca Polaków hiderowskim 9); przymusowa 1939-1945, hrsg. von Alfred pod panowaniem Konieczny und Herbert Szurgacz, Poznan 1976 (Documenta Occupationis, 10). Bohdan Kozieit-Poklewski, Zagraniczni robotnicy przymusowi w Prusach Wschodnich w latach II wojny swiatowej, Warszawa 1977. -
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Die deutsche
Besatzungspolitik in Polen 1939 bis 1945
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Während 1939 noch freiwillige Rekrutierungen vorkamen, wurden ab 1941 verstärkt Polinnen und Polen zum Arbeitseinsatz durch deutsche Vermittlungsstellen zwangsverpflichtet. Als sich bei deutschen Stellen auf entsprechende Bekanntmachungen kaum mehr Arbeitskräfte meldeten, und auch die polnische Lokalverwaltung angesichts des wachsenden Widerstands der Betroffenen keine Arbeitskräfte mehr stellte, griffen die deutschen Besatzungsorgane zu Razzien und Verhaftungen auf offener Straße. Eine neue Welle von Verschleppungen löste die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes aus. Die Lebensbedingungen in den Industriebetrieben im Reich wurden zuletzt auf der Basis von Aktenüberlieferungen und lebensgeschichtlichen Interviews mit den Opfern sorgfältig erforscht64. Wesentlich schlechter bekannt ist die Zwangsarbeit vor Ort sei es in deutschen Firmen oder von Treuhändern verwalteten Betrieben, sei es in der Landwirtschaft bei deutschen Bauern oder für die Wehrmacht und die Zivilverwaltung, in Arbeitslagern bei Verkehrsprojekten (Baudienst) und der Auslagerung von Wirtschaftsbetrieben. Besonders in den Arbeitslagern herrschten oft menschenverachtende Arbeitsbedingungen infolge von katastrophalen sanitären Zuständen und unzureichender Lebensmittelversorgung65. Auch die deutsche Besatzungswirtschaft wies in den bis 1939 polnischen Territorien erhebliche Unterschiede auf; grundsätzlich muß die Politik in den ins Reich eingegliederten Gebieten von derjenigen im Generalgouvernement und in den ostpolnischen Territorien unterschieden werden. Während in ersteren eine Erhaltung des wirtschaftlichen Potentials und eine Eingliederung in die deutsche Wirtschaft unter radikaler Entfernung der polnischen Eigentümer und wirtschaftlichen Eliten durchgeführt wurde, unterlag die Wirtschaftspolitik im Generalgouvernement erheblichen Schwankungen, die von einer rücksichtslosen Raubwirtschaft (1939/40) bis zu einer Nutzbarmachung der Ressourcen für die Kriegswirtschaft des Deutschen Reichs reichten. In allen Fällen blieben jedoch die Interessen der Eigentümer und der polnischen Bevölkerung unberücksichtigt, so daß der in deutschen Quellen wie in der Forschung verwandte Begriff einer »Kolonialwirtschaft« berechtigt ist. -
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Methodische Pionierstudie: Valentina Maria Stefanski, Zwangsarbeit in Leverkusen. Polnische Jugendliche im LG. Farbenwerk, Osnabrück 2000; Karl Liedke, Gesichter der Zwangsarbeit. Polen in Braunschweig 1939- 1945, Braunschweig 1997. Polnische Selbstzeugnisse: Dziecinstwo i mlodosc ze znakiem »P«. Wspomnienia, hrsg. von Bohdan Koziell-Poklewski und Bohdan Lukasiewicz, Olsztyn 1982; zweisprachige Ausgabe zu nach dem Warschauer Aufstand verschleppten Warschauerinnen: Angela Martin, »Ich sah den Namen Bosch.« Polnische Frauen als KZ-Häftlinge -
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in der Dreilinden Maschinenbau GmbH, Berlin 2002. Der Einsatz von Zwangsarbeitern in Ostoberschlesien ist wenig erforscht, grundlegend Alfred Sulik, Volkstumspolitik und Arbeitseinsatz. Zwangsarbeiter in der Großindustrie Oberschlesiens, in: Europa und der »Reichseinsatz«. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, hrsg. von Ulrich Herbert, Essen 1991, S. 106-126. Zur Zwangsarbeit im oberschlesischen Bergbau bereitet Valentina Maria Stefariski eine Studie vor. Zwangsarbeitslager: Józef Marszalek, Obozy pracy w Generalnym Gubernatorstwie w latach 1939- 1945, Lublin 1998 (mit Übersicht über die ältere Literatur); Mscislaw Wróblewski, Sluzba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie 1940 1945, Warszawa 1984. -
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Lebensraumpolitik: Völkermord an den Juden, Deportationen, »Einsiedlungen« und »Germanisierung« Die jüdische Bevölkerung wurde seit Ende 1939 unter erniedrigenden Umständen in nur für Juden vorgesehene Hunderte von Arbeitslagern und in Kleingettos konzentriert. In den Lagern und Gettos leistete sie Zwangsarbeit für deutsche Betriebe und die Zivilverwaltung. Die Unterbringungs- und Ernährungsbedingungen sowie die Behandlung durch die deutschen Wachmannschaften gestalteten sich so katastrophal, daß Schätzungen von Zehntausenden jüdischer Opfer akein in den Lagern im Wartheland ausgehen66. Seit 1940 ließen hier die Deutschen die jüdische Bevölkerung in größeren Gettos in einigen Städten sammeln, insbesondere in Lodz; das dortige Getto bestand fast vier Jahre vom April 1940 bis zum Sommer 1944. Im Generalgouvernement wurde die jüdische Bevölkerung aus dem regulären Wktschaftskreislauf ausgeschlossen, in die schlechtesten Wohnbezirke verdrängt und zur Zwangsarbeit herangezogen. Erst nachdem die Pläne einer territorialen Aussiedlung (»Madagaskar-Plan«) bzw. von »Judenreservaten« (»Nisko-Plan«, »Judenreservat« im Distrikt Lublin) aufgegeben worden waren67, erfolgte auch im Generalgouvernement und im Regierungsbezkk Zichenau 1941/42 die vollständi-
Errichtung »jüdischer Wohnbezkke«. Da einerseits die Gettos überquollen, Abschiebungen nicht mehr mögkch waren und andererseits SS und Zivilverwaltung ihren Ehrgeiz daran setzten, die Region möglichst schnell »judenfrei« zu machen, entstanden im Sommer und Herbst 1941 im Wartheland und im Generalgouvernement Konzepte zum Völkermord an den noch in der Region lebenden Juden68. Zugleich begannen die Planungen und der Bau der Vernichtungslager in Kulmhof (Chelmno nad Nerem) im Wartheland sowie Belzec, Sobibór und schließlich Treblinka im Generalgouvernement69. Parge
Luczak, Pod niemieckim jarzmem (wie Anm. 5), S. 41 -51.
Jansen, Der Madagaskar-Plan. Die beabsichtigte Deportation der europäischen Juden nach Madagaskar, München 1997; Magnus Brechtken, »Madagaskar für die Juden«. Antisemitische Idee und politische Praxis 1885-1945, München 1998; Pohl, Judenpolitik (wie Anm. 13), S. 47-51; Christian Gerlach, Failure of Plans for an SS Extermination Camp in Mogilew, Belorussia, in: Holocaust and Genocide Studies, 11 (1997), S. 60-78; Peter Longerich, Der ungeschriebene Befehl. Hider und der Weg zur »Endlösung«, München, Zürich 2001, S. 78-85 (Übersicht über die Reservatspläne). Wartheland: Ian Kershaw, Improvised genocide? The Emergence of the »Final Solution« in the »Warthegau«, in: Transactions of the Royal Historical Society, 6th Series (1992), S. 51 -78; Peter Witte, Two Decisions concerning the »Final solution« to the Jewish Question. Deportations to Hans
Lodz and mass murder in Chetmno, in: Holocaust and Genocide Studies, 9 (1995), S. 293-317. Eine Freiburger Dissertation von Michael Alberti beschreibt detailliert die Entstehung der Völkermordpläne im Wartheland und wird 2003 in der Reihe »Quellen und Studien des Deutschen Historischen Instituts Warschau« erscheinen. Generalgouvernement: Bogdan Musial, The Origins of »Aktion Reinhard«. The Decision-making Process for the Mass Murder of the Jews in the Generalgouvernement, in: Yad Vashem Studies, 28 (2000), S. 113-153. Die Geschichte der Vernichtungslager wurde erst in den letzten Jahren u.a. durch archäologische Ausgrabungen näher erforscht. Vgl. zu Kulmhof: Janusz Gulczyñski, Obóz smierci w Chelmnie nad Nerem, Konin 1991; Mówi^ swiadkowie Chelmna, hrsg. von Shmuel Krakowski, Konin,
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allel dazu wurden die Juden im Distrikt Galizien durch Massenerschießungen und Deportation in das Vernichtungslager Belzec ermordet70. Der Völkermord an den Juden muß auch im Kontext des deutsch-polnischen Verhältnisses berücksichtigt werden, denn die brutale Enteignung, Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der Juden fand vor den Augen der deutschen und polnischen Zivilbevölkerung statt. Die Konsequenzen für das alltägliche Zusammenleben können nur thesenhaft nachgezeichnet werden: Die Vernichtung einer ganzen Bevölkerungsgruppe mit Männern, Frauen und Kindern bewirkte eine Brutalisierung der Täter, zu der als mittelbare Zuarbeiter, Profiteure und Mitwisser die Masse der in der Region lebenden Deutschen zählte, wie auch eine Abstumpfung der Mehrheit der polnischen Bevölkerung, die die Vernichtung der jüdischen Nachbarn sah, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Mehr noch: Die polnische Bevölkerung, die zu einem erheblichen Teil das herrenlose jüdische Eigentum übernahm, wurde ebenfalls zu Teilhabern eines Verbrechens, das möglichst schnell verdrängt werden mußte71. Schließlich herrschte in der ebenfalls verfolgten und in ihrer Existenz bedrohten polnischen Bevölkerung die Überzeugung vor, nach der Vernichtung der Juden käme die Reihe an sie. Denn eine zentrale Erfahrung auch der polnischen Bevölkerung bildete die dauernde Bedrohung durch Deportationen, Vertreibungen und massenhaften Terror. Die ins Reich eingegliederten Gebiete waren ausschließlich als »Heimstätte für Deutsche« vorgesehen; das Generalgouvernement sollte als Auffanggebiet dienen, wofür allerdings keinerlei strukturelle Voraussetzungen geschaffen wurden. In der Umsetzung der Bevölkerungspolitik verbanden sich Germanisierung, BeLodz 1996; zu Belzec: Michael Tregenza, Belzec Death Camp, in: Wiener Library Bulletin, 30 (1977), S. 8-25; ders., Christian Wirth a pierwsza faza »Akcji Reinhard«, in: Zeszyty Majdanka, 14 (1992), S. 7-28; ders., Belzec okres eksperymentalny. Listopad 1941 -kwiecieñ 1942, in: ebd., 21 (2001), S. 165-209. Forschungsüberblick zu Sobibór: Robert Kuwalek, Obóz zaglady w Sobiborze w historiografii polskiej i obcej, in: ebd., 21 (2001), S. 115-165; Jules Schelvis, Vernichtungslager Sobibór, Berlin 1998 [Erstausgabe 1993]. Vgl. Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung (wie Anm. 13); Sandkühler, »Endlösung« (wie Anm. 13). Das Schlüsseldokument zum Mord an den galizischen Juden, der Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei Lemberg, liegt jetzt in einer zweisprachigen Edition vor: Friedrich Katzmann, Rozwiazanie kwestii zydowskiej w dystrykcie Galicji. Lösung der Judenfrage im Distrikt Galizien, hrsg. von Andrzej Zbikowski, Warszawa 2001. Der Literaturwissenschaftler Kazimierz Wyka erfaßte diesen Sachverhalt bereits 1945 in dem Essay »Gospodarka wylaczona« (Die ausgegliederte Wirtschaft): »Aber eine viel kompliziertere Frage ist es, ob die Formen, in der sich diese Beseitigung [der jüdischen Bevölkerung] vollzog, und die Art und Weise, in welcher unsere Gesellschaft sie ausnutzte und ausnutzt, wirklich moralisch gerechtfertigt und anzunehmen waren. Und, selbst wenn ich dieses nur für mich sage und niemanden finde, der es wiederholte, werde ich immer sagen: Nein und hundertmal nein. Die Art und Weise und die Hoffnungen waren schändlich, demoralisierend und voll niedriger Antriebe. Der wirtschaftlich-moralische Standpunkt des Durchschnittspolen gegenüber der Tragödie der Juden sah nämlich so aus: Die Deutschen, die die Juden umbrachten, begingen ein Verbrechen. Wir haben das nicht getan. Für dieses Verbrechen werden die Deutschen bestraft werden, die Deutschen beschmutzten ihr Gewissen, aber wir, wir ziehen daraus jetzt nur Nutzen und werden in Zukunft Nutzen daraus ziehen, ohne unser Gewissen zu belasten, ohne unsere Hände mit Blut zu beschmutzen. Es ist schwer, sich ein abstoßenderes moralisches Beispiel vorzustellen, als diese Auffassung unserer Gesellschaft.« Zit. nach Kazimierz Wyka, Zycie na niby. Szkice z lat 1939-1945, Warszawa 1957, S. 130-131. -
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Völkerungsverschiebungen und der Mord gesamten jüdischen Bevölkerung, wobei
an den polnischen Eliten wie an der der Zusammenhang zwischen diesen Maßnahmen oft übersehen oder zumindest nicht in seiner ganzen Totalität wahrgenommen wkd. Bereits im Zuge der ersten NS-Maßnahmen im Herbst 1939 kam es zu wilden Austreibungen insbesondere in Danzig-Westpreußen. Ausgesiedelt wurden vor allem polnische Zuwanderer aus der Zwischenkriegszeit. Die erste »planmäßige« Massendeportation fand in der ersten Dezemberhälfte 1939 im Wartheland statt: Innerhalb von 17 Tagen traf 87 838 Polen und Juden die Aussiedlung ins Generalgouvernement. In den Anweisungen über mitzunehmende persönliche Habe hieß es: »Pro Pole ein Koffer mit Ausrüstungsstücken (kein sperrendes Gut), vollständige Bekleidung, pro Pole eine Decke (keine Betten), Verpflegung für 14 Tage [...) Es können pro Person 20 Zloty mit in das Generalgouvernement genommen werden72.« In der Reaktät fanden wilde Austreibungen statt, Straßenzüge und Dörfer wurden von Polizeieinheiten umstellt, und die Bevölkerung mußte binnen einer Stunde ihre Wohnungen räumen. Im Wartheland kefen diese Aussiedlungen 1940 in Abhängigkeit von den Transportkapazitäten der Reichsbahn weiter, um Platz für deutsche Umsiedler zu schaffen. Im Herbst 1940 kamen Vertreibungen aus anderen Territorien hinzu: In Ostoberschlesien wurden im Rahmen der »Saybusch-Aktion« vom 23. September bis zum 14. Dezember 1940 17 413 Polen deportiert73. Im Regierungsbezkk Zichenau fanden erste Umsiedlungen im November und Dezember 1940 innerhalb des Regierungsbezkks statt; an Stelle der 36 900 »verdrängten« Polen wurden 7460 Volksdeutsche angesiedelt. Hinter dem beschönigenden Terminus der »Verdrängung« verbarg sich eine Vertreibung aus Häusern und Wohnungen, wobei die Betroffenen sich ohne Unterstützung auf die Straße gesetzt fanden. Insgesamt wurden bis zum 15.3.1941, als es der Verwaltung des Generalgouvernements und der Wehrmacht angesichts fehlender Unterbringungsmögkchkeiten und Transportkapazitäten gelang, die Vertreibungen vorläufig zu stoppen, mindestens 365 000 Einwohner der eingegliederten Gebiete ins Generalgouvernement deportiert. Dort fanden die Vertriebenen zumeist keine Versorgung vor, so daß viele zur Zwangsarbeit ins Reich kamen oder unter katastrophalen Bedingungen lebten, die durch die polnischen und jüdischen Selbsthilfeorganisationen nur gelindert werden konnten. Da ab dem Frühjahr 1941 Abschiebungen nach Osten nicht mehr mögkch waren, wandte die deutsche Zivilverwaltung nun andere Methoden an: Sie enteignete polnische Bauern, die dann als Landarbeiter auf ihrem ehemaligen eigenen Hof oder in der Nachbarschaft verbheben. Teilweise wurden sie auch in Regionen ausgesiedelt, die als »fremdvölkische Reservate« noch eine begrenzte Zeit bestehen sollten, bzw. erfolgte die Einweisung in Wohnungen, in
der
die jüdische Bevölkerung gelebt hatte. Als »Treuhänder« für die enteigImmobilien fungierten Deutsche, wobei diese erhebliche Spiekäume besa-
zuvor
neten
Zit. nach Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik (wie Anm. 8), S. 94. Alfred Koniecznv, Wysiedlenia ludnosci polskiej powiatu zywieckiego w 1940 in: Studia Slaskie, 20 (1971), S. 231-249.
r.
(Saybusch-Aktion),
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ßen: Sie konnten die enteignete polnische Bevölkerung auf deren ehemaligen Gütern belassen oder für deren rasche Deportation sorgen. Im Wartheland wurden zwischen I.April 1941 und 31. Dezember 1943 ca. 280 000 Menschen innerhalb des Warthegaus umgesiedelt und 180 000 zur Zwangsarbeit ins Reich verschickt. Teilweise wurden die enteigneten Polen in Industriegebieten auch in Arbeitslager oder »Polenlager« eingewiesen: In Ostoberschlesien wurden bis 1942 21 Lager errichtet, wo 9000 Polen geschlossen Zwangsarbeit leisten mußten. Zahlen über Lagerinsassen liegen zum Wartheland vor, wo die Deutschen in Polizeigefängnissen, Arbeitserziehungs- und Jugend verwahrlagern 50 000 Personen bei niedrigsten Lebensmittelrationen festhielten. Insgesamt sah die Umsetzung der Bevölkerungsverschiebungen in den eingegliederten Gebieten typologisch unterschiedlich aus. Als ein Extremfall kann das Wartheland gelten, wo von 1939 bis 1945 von den Aussiedlungen, Lagereinweisungen, Deportationen und »Verdrängungen« über 50 Prozent der Bevölkerung betroffen waren74. Am wenigsten von den Verschiebungen berührt war der Regierungsbezirk Zichenau; wegen der kleinbäuerlichen Struktur und der schlechten Böden hieß man nur wenige Deutsche sich dort ansiedeln. Weniger stark war auch die Bevölkerung des ostoberschlesischen Industriegebiets von den Aussiedlungen betroffen, da diese als Arbeitskräfte in der Schwerindustrie zur Verfügung stehen sollten. Eine Mittelstellung nimmt Danzig-Westpreußen ein, wo nach den Massenausweisungen die verbliebene Bevölkerung zwangsweise eingedeutscht wurde. In den eingegliederten Gebieten, insbesondere im Wartheland, wurden ab Herbst 1939 »Volksdeutsche« von den Behörden »eingesiedelt«, wobei es sich um Minderheiten aus Ostmittel- und Osteuropa handelte, die im Zuge der deutschsowjetischen Abkommen »Heim ins Reich« geholt werden sollten. Auch hierbei blieben die Bedürfnisse der Betroffenen zur Gänze unberücksichtigt; sie bildeten zunächst Opfer der NS-Politik, bevor sie durch die Ansiedlung in ehemals polnischen und jüdischen Häusern und Wohnungen auch zu Nutznießern dieser Politik wurden75. Diese Enteignungen der polnischen und Ansiedlungen von deutscher Bevölkerung vergifteten das Klima zwischen den beiden Gruppen zusätzlich. Das Generalgouvernement war zunächst als Aufnahmegebiet der deportierten Polen und Juden vorgesehen, wobei die deutsche Besatzungsverwaltung keinerlei Maßnahmen zur Versorgung der ohne Hab und Gut Deportierten unternahm. In der zweiten Jahreshälfte 1941 entwickelten jedoch Reichssiedlungshauptamt und SS Pläne, im Süden des Distrikts Lublin in der Region um Zamosc eine deutsche
Jerzy Marczewski, Hiderowska koncepcja polityki kolonizacyjno-wysiedleñczej i jej realizacja w »Okrçgu Warty«, Poznan 1979. Insgesamt wurden bis Januar 1944 ca. 370 000 »Volksdeutsche Umsiedler« vor allem aus den baltischen Staaten, aus Wolhynien, Bessarabien und der Ukraine angesiedelt, davon 245 000 im Wartheland, 58 000 in Danzig-Westpreußen, 40 000 in Ostoberschlesien und 10 000 im Regierungsbezirk Zichenau. Zahlen nach Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik (wie Anm. 8), S. 134. Vgl. auch Janusz Sobczak, Hitlerowskie przesiedlenia ludnosci niemieckiej w dobie II wojny swiatowej, Poznan 1966 (NS-»Rücksiedlungen« der deutschen Bevölkerung; erste Monographie zu dem Thema, in der deutschen Literatur kaum beachtet), sowie Janusz Wróbel, Przemiany ludnosciowe spowodowane polityka, okupanta hiderowskiego w tzw. regencji lódzkiej w latach Warszawa 1989. -
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zwischen den »nordischen« baltischen Staaten und dem »deutschbesiedelten Siebenbürgen« zu errichten76. Diese Pläne wurden ab November 1941 durch die Aussiedlung polnischer Dörfer in die Tat umgesetzt; bis zum
»Siedlungsbrücke«
Sommer 1943 wurden in der Region Zamosc ungefähr 110 000 polnische Bauern was konkret die Deportation in »Polenreservate« oder die Flucht der Betroffenen bedeutete. Vor aUem die Vertreibungen im Bereich Zamosc führten zu einem deutlichen Anwachsen des polnischen Widerstands, da die vertriebenen Bauern, sei es aus materieller Not, sei es im Bewußtsein der Ausweglosigkeit ihrer Lage, die Untergrundeinheiten in der Region verstärkten77. Die Vertreibungen in der Region Zamosc standen im größeren Zusammenhang des 1940/41 in der Dienststelle des Reichskommissars für die Festigung des Deutschen Volkstums und im Reichssicherheitshauptamt konzipierten »Generalplans Ost«, der, 1942/43 zum »Generalsiedlungsplan« weiterentwickelt, die Deportation von 30 bis 45 Milkonen Polen, Ukrainern und Russen vorsah78. Diese Planungen erfaßten das gesamte Gebiet des polnischen Staates von 1939 und sprachen für die Nachkriegszeit der polnischen Bevölkerung jegliches Existenzrecht ab. Im Rahmen der deutschen Besatzungspoktik wurden sie nur in der Region Zamosc und im Wartheland ansatzweise realisiert, schürten aber durch die Radikaktät der Umsetzung den Eindruck, die NS-Politik plane auch den Völkermord an der polnischen Bevölkerung. Die systematische Ermordung der polnischen Ekten wurde im Generalgouvernement im Mai/Juni 1940 wiederaufgenommen, als in der »Außerordentlichen Befriedungsaktion« (»AB-Aktion«) ca. 4000 bis 6500 Menschen ums Leben kamen. Zugleich wurden etwa 20 000 Personen in Konzentrationslager deportiert79. Ähn-
vertrieben,
Zur Kennzeichnung des Denkstils vgl. das Schreiben des SS-Hauptsturmführers Hellmut Müller Otto Hoffmann, Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes, vom 15.10.1941: »Der Gedanke des Brif [Odilo Globocnik] ist nun, aus einem Teilstück heraus die Deutschbesiedlung des gesamten Distrikts Lublin durchzuführen und darüber hinausgehend [...] im Anschluß an die nordisch bzw. deutschbesiedelten baltischen Länder über Distrikt Lublin einen Anschluß an das deutschbesiedelte Siebenbürgen herzustellen. Er will so im westlichen Zwischengebiet das an
verbleibende Polentum siedlungsmäßig >einkesseln< und allmählich wirtschaftlich und biologisch erdrücken.« Zit. nach Zamojszczyzna Sonderlaboratorium SS. Zbiór dokumentów polskich i niemieckich z okresu okupacji hiderowskiej, hrsg. von Czeslaw Madajczyk, 2 Bde, Lublin 1977, hierBd 1, S. 29-31. Zu Zamosc liegt keine deutschsprachige monographische Darstellung vor, heranzuziehen sind: Janina Kielboñ, Migracje ludnosci w dystrykcie lubelskim w latach 1939 -1944, Lublin 1995; Materialy do dziejów Zamojszczyzny w latach wojny 1939-1945, hrsg. von Zygmunt Klukowski, 4 Bde, Zamosc 1946 f; Zygmunt Klukowski, Dziennik z lat okupacji Zamojszczyzny (1939-1944), hrsg. von Zygmunt Maiikowski, Lublin 1958 (eng! Ausgabe: Diary from the years of occupation 1939-1944, ed. by Andrew Klukowski and Helen Klukowski-May, Urbana, Chicago 1993); Nachtrag der zensierten Teile: Zygmunt Klukowski, Dziennik 1944-1945, Lublin 1990. Das Tagebuch ist eine erstrangige Quelle fur die Alltagsgeschichte der Region in der Besatzungszeit. Grundlegende Aktenedition: Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, hrsg. von Czeslaw Madajczyk, München 1994; Darstellung: Der »Generalplan Ost«. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, hrsg. von Mechthild Rössler und Sabine Schleiermacher, Berlin 1993. Frank, Diensttagebuch (wie Anm. 42), S. 202 f., 211 -214; zum Hintergrund Eisenblätter, Grundlinien (wie Anm. 8), S. 173-178. Die Zahl von 4000 Opfern geht auf eine Bemerkung Hans -
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Besatzungspolitik in Polen 1939 bis 1945
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liehe Massenverhaftungen erfolgten in den eingegliederten Gebieten in mehreren Wellen: im Wartheland im April/Mai 1940 (5000 Verhaftete), in Ostoberschlesien im Oktober 1941 (1000 Verhaftete)8". Ab 1942 konzentrierte sich im Generalgou-
der Terror gegen Bevölkerungsgruppen, die ihre Ablieferungspflichten nicht erfüllten oder im Verdacht standen, mit dem polnischen Untergrund zusammenzuarbeiten, durch »Vergeltungsaktionen« für Anschläge gegen deutsche Beamte oder die Volksdeutsche Bevölkerung. Im Januar 1943 fand eine neue Verhaftungs- und Deportationswelle statt. Zwischen Oktober 1943 und Februar 1944 wurden wöchentlich allein in Warschau 3000 Personen ermordet. Eine neue massive Terrorwelle löste der Warschauer Aufstand im August 194481 sowie der überhastete und Züge eines Zusammenbruchs annehmende deutsche Rückzug im Winter 1945 aus: Kurz vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen ermordeten die Deutschen zu großen Teilen die in den Lagern in Lublin, Mlawa und Plock einsitzenden Gefangenen. In Radogoszcz bei Lodz wurden am 17./18. Januar 1945 über 900 Insassen des dortigen Gefängnisses hingerichtet82. Andere Lager wurden in »Todesmärschen« evakuiert, bei denen ein großer Teil der Häftlinge umkam83. Die »Germanisierung«, die durch Zwangsmaßnahmen begleitete und oft von materiellen Vorteilen unterstützte Eindeutschung eines erheblichen Teils der polnischen Bevölkerung, verlief in einer Grauzone zwischen Freiwilligkeit, Opportunismus und massivem Druck von seiten der deutschen Verwaltung mit deutlichen regionalen Abweichungen und entzieht sich einer Schwarz-Weiß-Darstellung, da die individuelle Situation der Betroffenen berücksichtigt werden muß. Grundsätzlich nötigte die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik allen Bewohnern des besetzten Polen ein ethnisches Bekenntnis ab, womit besonders die Angehörigen gemischter Familien und ein großer Personenkreis, der sowohl Bezüge zur deutschen wie zur polnischen Kultur aufwies, unter Druck gesetzt wurden. Die Selektionskriterien für die Germanisierung verbanden »rassische« mit psychologischen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kriterien. Da dieses Kriterienbündel äußerst unscharf war, verfolgten die Regionalverwaltungen je nach Situation und Tagesbedürfnissen eine unterschiedliche Politik. Ausgeschlossen blieb nur die allein nach rassistischen Kriterien eingestufte jüdische Bevölkerung. vernement
Franks, Diensttagebuch (wie Anm. 42), S. 214, zurück. Madajczyk, Poütyka III Rzeszy (wie 5), Bd 2, S. 237, spricht von 6500 Opfern. Madajczyk, Polityka III Rzeszy (wie Anm. 5), Bd 2, S. 237 f.; Luczak, Pod niemieckim jarzmem
Anm. 80 81
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83
(wie Anm. 5), S. 38 f. Siehe dazu den Beitrag von Wlodzimierz Borodziej in diesem Band. Antoni Galiáski, Zbrodnicza likwidaeja wiçzienia w Radogoszczu 17-18 I 1945 r., in: Biuletyn Glównej Komisji, (1989), 1, S. 64-70. Im Regierungsbezirk Zichenau z.B. bei der Evakuierung des KZ in Soldau, vgl. Aleksander Drwçcki und Ryszard Juszkiewicz, Zbrodnie hitierowskie w powiecie przasnyskim w latach 1939-1945, in: Eksterminacja ludnosci polskiej w okresie okupaeji hitierowskiej: wyniki badari osrodków terenowych, Warszawa 1979, S. 5-63, hier S. 17-22. Eine Einführung mit Verweisen auf die umfangreiche polnische Literatur liefert Daniel Blatman, Die Todesmärsche Entscheidungsträger, Mörder und Opfer, in: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager Entwicklung und Struktur, hrsg. von Ulrich Herbert, Karin Orth und Christoph Dieckmann, Göttingen 1998, Bd 2, S. 1063-1092. -
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Als Beispiel für ein erzwungenes politisches Bekenntnis kann in Ostoberschlesien die Einwohnererfassung vom 17. bis 23. Dezember 1939 gelten, wo unter Androhung der Aussiedlung für diejenigen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit annahmen, 95 Prozent der Bevölkerung sich zu diesem Schritt bereit erklärten. Bei der Planung der Erfassung spielte in Kreisen der NS-Verwaltung auch die Vorstellung eine RoUe, »Wasserpolen und Slonsaken« seien »abstammungsmäßig polonisierte Deutsche«, die für das Deutschtom zurückgewonnen werden müßten. Die oberschlesische Regionalverwaltong schlug deshalb vor, diese Bevölkerung als deutsche Staatsangehörige anzusehen84. Dagegen bildete im Wartheland die erste Einrichtung einer »Deutschen Volksliste« im Oktober 1939 vor allem eine Konsequenz der dortigen Nationalitätenpolitik, die von den Volkstomskampfprinzipien der »Polenabwehr« geleitet war: Das Privileg der Aufnahme in die »Deutsche Volksliste« sollten nur diejenigen erhalten, die sich aktiv für das Deutschtom eingesetzt hatten bzw. unzweifelhaft eine deutsche Herkunft nachweisen konnten. Kontingente der Aufzunehmenden wurden auf der Basis von »geheimen Volkszählungen« durch die deutsche Minderheit im Zwischenkriegspolen festgelegt. Bis Mai 1940 enthielt die »Deutsche Volksliste« im Wartheland deshalb nur zwei Gruppen: »Bekenntnisdeutsche« und »Deutschstämmige«. Eine Ausdehnung der Eindeutschung war nicht vorgesehen, da damit eine »Unterminierung der Position des Deutschtums und Gefahr für die Partei«85 verbunden sei. Solche differierenden Vorstellungen erforderten eine Abstimmung auf der Ebene der für die »Festigung des deutschen Volkstoms« zuständigen Zentralbehörden, die durch Heinrich Himmlers »Erlaß für die Überprüfung und Aussonderung der Bevölkerung in den eingegliederten Ostgebieten«86 vom 12. September 1940 und endgültig durch die »Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten«87 vom 4. März 1941 erfolgte. Grundsätzkch war die Volkslistenzugehörigkeit nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit gleichzusetzen, da die nationalsozialistische Gesetzgebung zwischen »Reichsbürgerrecht«, welches nur die Personen besaßen, die am 1. September 1939 auf dem Reichsterritorium lebten, und »Deutscher Staatsangehörig-
schlage deshalb vor, alle Oberschlesier als deutsche Volkszugehörige und damit als deutsche Staatsangehörige anzusehen, die sich jetzt zum Deutschtum bekennen, sofern im Einzelfalle keine besonderen Bedenken dagegen bestehen.« Brief des Polizeipräsidenten in Kattowitz an den Oberpräsidenten Wagner vom 16.1.1940, abgedr. in Polozenie ludnosci w Rejencji Katowickiej w latach 1939- 1945, hrsg. von Waclaw Dlugoborski, Poznan 1983 (Documenta Occupationis, 11), f.
84
»Ich
85
Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik (wie
S. 10
Anm. 8), S. 122 f. Zur Entstehung der »Deutschen Volksliste« im Wartheland: Karol Marian Pospieszalski, Niemiecka lista narodowa w »Kraju Warty«, Poznan 1949 (Documenta Occupationis Teutonicae, 4), S. 15-130, sowie mit neuerer Literatur Michael G. Esch, »Gesunde Verhältnisse«. Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939-1950, Marburg 1998, S. 229-246. RFSS und RKF vom 12.9.1940, abgedr. in Polozenie ludnosci (wie Anm. 84), S. 21 25. Hiderowskie »prawo« okupacyjne (wie Anm. 23), S. 119-122. Zusätzlich heranzuziehen ist: »Grundsätze und Ausführungsbestimmungen zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch ehemalige polnische und Danziger Staatsangehörige« vom 13.3.1941, in: Polozenie ludnosci (wie Anm. 84), Bd 11, S. 38 49. -
86 87
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Besatzungspolitik in Polen 1939 bis 1945
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keit« unterschied. Von den insgesamt vier Gruppen der »Deutschen Volksliste« erhielten lediglich die Gruppen 1 und 2 automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit, Gruppe 3 erhielt diese bis zum 31. Januar 1942 nur auf individuellen Antrag, anschließend automatisch mit einer zehnjährigen Widerrufsfrist88. In die Gruppe 1 sollten »Volksdeutsche« aufgenommen werden, die in Polen vor 1939 ansässig waren, sich durch »Bekenntnis zum Deutschtum« hervorgetan hatten bzw. aus dem Baltikum, der Sowjetunion und Südosteuropa ausgesiedelt worden waren. Gruppe 2 umfaßte deutschsprachige Staatsbürger Polens, die sich vor 1939 nicht aktiv zum »Deutschtum« bekannt hatten. Die Gruppe 3 sollte und Polens umfassen. »deutschstämmige« »eindeutschungsfähige« Staatsbürger Mitglieder dieser Gruppe waren aus führenden Lebensbereichen des »Dritten Reichs« ausgeschlossen und konnten keine NSDAP-Mitgliedschaft, kein Beamtenverhältnis und keine leitenden Positionen einnehmen, erhielten jedoch steuerliche Privilegien und Zulagen. Männliche Mitglieder der Gruppe 3 unterlagen ab Mai 1941 der Wehrpflicht. In Gruppe 4 sollten »deutschstämmige Personen [...], die politisch im Polentum aufgegangen sind« eingetragen werden; diese Gruppe, auch als »Renegaten« bezeichnet, besaß kein Recht auf Urlaub, erhielt niedrigere Lebensmittelrationen und wurde mit der »Polenabgabe« belastet; für Kinder war nur der Besuch der Grundschule vorgesehen. Bereits aus diesem kurzen Durchgang wird sichtbar, wie sehr sich bei der Rekrutierung zur »Deutschen Volksliste« politische (»Bekenntnis zum deutschen Volkstum«), ethnische und soziale (Abstammung, »rassische Eignung«) Kriterien miteinander vermischten, die in detaillierten Fragebögen überprüft werden sollten. In der Praxis handhabte die Verwaltung in den einzelnen Gebieten die Richtlinien entsprechend den eigenen ideologischen Vorstellungen und den politischen und wirtschaftlichen Bedürfnissen. Im Reichsgau Wartheland diente die »Deutsche Volksliste« einer strikten Ausgrenzung, so daß die Zahl der aufgenommenen Personen klein blieb und sich auf die »Volksdeutsche« Bevölkerung beschränkte. Die Masse der polnischen Bevölkerung wurde diskriminiert, und begrenzte Vergünstigungen für die benötigten polnischen Arbeitskräfte wie die Gründung eines »Verbands der Leistungspolen« im Wartheland am 22. Dezember 1942 fanden keinen Anklang. Dagegen wurden in Danzig-Westpreußen und in Ostoberschlesien unter Druck durch Androhung der Ausweisung und Enteignung große Gruppen der polnischsprachigen Bevölkerung sowie die von der NS-Bevölkerungspolitik als eigenständige Gruppen erachteten Kaschuben und Oberschlesier in die »Deutsche Volksliste« aufgenommen. Im Generalgouvernement war der Anteil der sich zum Deutschtum bekennenden Volksdeutschen Bevölkerung mit etwa 100 000 Personen weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung relativ gering. Bis 1941, als nach dem Überfall auf die Sowjetunion der »Endsieg« in greifbare Nähe gerückt schien und auch das Generalgouvernement zu deutschem Siedlungsgebiet gemacht worden war, wurden hiervon etwa 25 000 Personen in die ins Reich eingegliederten Gebiete umge—
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Marek Romaniuk, Podzwonne goszcz 1993, S. 47 50. -
okupacji.
Deutsche Volksliste
w
Bydgoszczy (1945-1950), Byd-
Hans-Jürgen Bömelburg
80
siedelt. Ab 1942 suchten die deutschen Behörden den Anteil der deutschen Bevölkerung zu erhöhen und führten zu diesem Zweck die Kategorie der »Deutschstämmigen« (analog zu den Gruppen 3 und 4 der Volksliste) ein, in der im Som-
mer 1943 etwa 100 000 Personen registriert waren. Die privilegierte Behandlung wie bessere Entlohnung und höhere Lebensmittelzuteilungen bildete Anreize, sich eintragen zu lassen, und schuf eine Grauzone zwischen Germanisierung und Kollaboration89. Insgesamt verschärfte die nationalsoziakstische Bevölkerungspolitik die Gegensätze zwischen den ethnischen Gruppen und schuf neue, kaum zu überwindende Trennknien.
Deutsche
Besatzungspoktik, Alltagsleben und polnischer Widerstand
Die Gesellschafts- und Kulturpolitik im besetzten Polen zielte darauf ab, dessen polnischen Charakter durch Ausrottung oder Deportation der Intelkgenz, durch die Auflösung oder Germanisierung aller Universitäten und Schulen, durch die Konfiszierung der polnischen Bibkotheken und die Einstellung der polnischen Presse zu vernichten. In den eingegliederten Gebieten wurden keinerlei polnischsprachige Presseerzeugnisse geduldet, im Generalgouvernement nur eine zensierte polnischsprachige Presse mit einer Mischung von Propaganda und Unterhaltung auf niedrigem Niveau9". Diese umfassende »kulturpolitische« Zielsetzung griff kontinuierkch in das Alltagsleben der gesamten Bevölkerung und die zwischenmenschlichen Beziehungen ein und löste Veränderungen in den EinsteUungen der polnischen Mehrheit zu der als dominant auftretenden deutschen Minderheit und
deren Kultur aus. Ein Ziel bestand in der kulturellen Entwurzelung der polnischen Bevölkerung: Die Zerstörung bzw. Schließung der polnischen Bibliotheken, Denkmäler, Museen und aller Objekte, die deutkch und symbolträchtig an die polnische Vergangenheit der Territorien erinnerten, sollte die Polen ihrer Ausdrucksmöglichkeiten berauben und atomisiert dem Zugriff der deutschen Verwaltung aussetzen91. Intensiviert wurde dieser Prozeß durch die Einstehung des höheren und die Einschränkung des gesamten Schulwesens; »Polenschulen«, die jedoch ohne ihre teüweise ermordeten oder deportierten Lehrer selten funktionierten, waren nur vom 9. bis zum 14. Lebensjahr vorgesehen. Hinzu kam noch die weitgehende Einstellung katholischer Seelsorge insbesondere in Danzig-Westpreußen und im Wartheland, wo nur einzelne katholische Geistliche ihr Amt ausüben konnten92. Im General—
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89 90 91
Madajczyk, Polityka III Rzeszy (wie Anm. 5), Bd 1, S. 453 Vgl. den Beitrag von Lars Jockheck in diesem Band.
457. -
Übersichten über die Verluste polnischer Kulturgüter: Straty bibliotek polskich w czasie II wojny bearb. von Barbara Bieñkowska, Warszawa 1994; Straty wojenne. Malarstwo olejne, pástele, akwarele utracone w latach 1939-1945 w granicach polskich po 1945 r., Poznan 1998;
swiatowej,
Informator o stratach bibliotek i ksicgozbiorów domowych na terytoriach polskich okupowanych latach 1939-1945 (bez ziem wschodnich), Poznan 2000. Bernhard Stasiewski, Die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten im Wartheland 1939-1945, in: VjZ, 7 (1959), S. 46-74. w
92
Die deutsche
gouvernement
war
pressionen blieb die schen Hochschulen
Besatzungspolitik in Polen 1939 bis
81
1945
in dieser Hinsicht die Situation erheblich günstiger; trotz ReSeelsorge intakt, und im Hochschulbereich wurden die techniteilweise zu »Technikerschulen« degradiert mit deutscher
Unterrichtssprache fortgeführt93. Ein weiterer Schritt zur Verwirklichung des Vorhabens war die lebensweltliche Trennung zwischen Deutschen und Polen. Die Politik einer kulturellen Germanisierung vertrat den »Grundsatz der klaren Trennung von deutschem und polnischem Volkstum«. In allen Lebensbereichen wurden deutsche und polnische Bevölkerung »entmischt«: Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel für Polen war nur mit Genehmigung zulässig; Geschäfte wurden in mit hochwertigerem Ange—
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bot ausgestattete »Deutsche Geschäfte« und »Polnische Geschäfte« unterteilt; auf den öffentlichen Märkten herrschten getrennte Marktzeiten für deutsche und polnische Nutzer, bei den Gaststätten eine Trennung in solche, die »Für Polen verboten« und solche, die »Nur für Polen zugelassen« waren, und in manchen Orten bestanden Polizeistunden nur für die polnische Bevölkerung. Mit Flugblättern wurden Maßregeln zur strikten Trennung von Deutschen und Polen der deutschen Bevölkerung eingeimpft94. Die Ausgrenzung und Marginalisierung der polnischen Bevölkerung mündete vielerorts in eine schikanöse Verwaltungspraxis: So bestand im Wartheland eine Grußpflicht der polnischen Bevölkerung gegenüber deutschen Uniformträgern; erstere hatten »durch Abnehmen der Kopfbedeckung bzw. durch Verbeugung zu grüßen«95. In einigen Kreisen wurde die Ausgrenzung öffentlich sichtbar gemacht, etwa durch eine Verordnung vom 15. November 1940 zur »Kennzeichnung der Bevölkerung in Stadt und Kreis Leslau« im Wartheland, »um eine vollständige Trennung zwischen dem deutschen und dem polnischen Bevölkerungsteil herbeizuführen«: »deutsche Uniformträger«, »deutsche Abzeichenträger« (»Wer im Stadt- und Landkreis Leslau künftig ohne Abzeichen angetroffen wird, gilt als Pole«); »fremdvölkische Abzeichenträger« (Ukrainer); »Zivilisten ohne Erkennungszeichen« (Polen); »gelber Fleck« (Juden)96. An dem skizzierten allgemeinen Bild sind regionale Differenzierungen vorzunehmen: In Ostoberschlesien verhielt sich die deutsche Verwaltung aus pragmatischen Gründen gegenüber der polnischen Bevölkerung zurückhaltender, da diese als Arbeitskräfte benötigt wurden. Eine flexiblere Politik gegenüber der als eindeutschungsfähig angesehenen polnischen Bevölkerung führte zum Verzicht auf eine »Grußpflicht der Polen gegenüber Hoheitsträgern von Staat und Partei« wie in den anderen eingegliederten Gebieten. Der Gebrauch der polnischen Sprache im —
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Janina Kazimierska, Politechnika warszawska w latach okupacji hiderowskiej, in: 150 lat wyzszego szkolnictwa technicznego w Warszawie 1826-1976, hrsg. von Edward Domanski [u.a.], Warszawa 1979, S. 109- 123. Für die Kontakte mit den deutschen Besatzungsbehörden und die Aufrechterhaltung des Unterrichts zahlten die Hochschullehrer einen hohen Preis. International bedeutende Wissenschaftler wie Jan Czochralski (1885-1953) oder Mieczyslaw Wolfke (1883-1947) wurden nach 1945 der Kollaboration beschuldigt und konnten nur im Ausland weiter lehren. Abdruck eines solchen NS-Merkblatts bei Schenk, Hitlers Mann (wie Anm. 36), S. 186. Verordnung Kreisleiter Konin Marguli, abgedr. in Hiderowskie »prawo« okupacyjne (wie Anm. 23), S. 301 f.
96
Schulpolitik als Volkstumspolitik. Quellen zur Schulpolitik der hrsg. von Georg Hansen, Münster, New York 1994, S. 38 40. -
Besatzer in Polen
1939-1945,
Hans-Jürgen Bömelburg
82
halböffentlichen Bereich wurde toleriert97. Besonders drastische Züge nahm die Ausgrenzung dagegen im Wartheland an, wo die polnische Bevölkerung bis 1945 ca. 80 Prozent der Bevölkerung stellte. Hier formuherte 1943 Arthur Greiser in einem Rundschreiben an alle Behörden die Konsequenz der lebensweltkchen Aufspaltung der Gesellschaft: »Es gibt zwischen dem Deutschen und dem Polen keine
Gemeinschaft98.« Im Generalgouvernement zeichnete sich die alltägliche deutsche Besatzungspolitik insbesondere durch ihre Unberechenbarkeit und den Wechsel zwischen Repression und Duldung aus. Die geringere Anwesenheit deutscher Beamter und deutscher Bevölkerung sowie die sprunghafte, widersprüchkche und korrupte deutsche Wktschaftspoktik ermöglichten Nischen, in denen die lokale polnische Verwaltung und manche Gesekschaftsgruppen sich allerdings stets unter dem Damoklesschwert deutscher Repressionen einrichten konnten99. Dies betraf insbesondere die bäuerlichen Schichten, die teilweise von den hohen Lebensmittelpreisen auf dem Schwarzmarkt profitierten, sofern es ihnen gelang, die behördlich vorgeschriebenen Abheferungskontingente niedrig zu halten. Die gewaltsamen Aushebungen zur Zwangsarbeit und die verächtliche und zynische Einstellung der deutschen Verwaltung schmiedeten jedoch auch das polnische Dorf in seiner Gegnerschaft zum Besatzungsregime zusammen100. Wesentkch schlechter sah die Position der Stadtbevölkerung aus, die den hohen Schwarzmarktpreisen ausgeliefert —
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war.
Eine polnische Selbsthilfeeinrichtung, die als Ersatz für die fehlende Sozialpolitik des Besatzungsregimes wenigstens die größten Härten mildern wollte, wurde von den deutschen Behörden nur im Generalgouvernement zugelassen. Der der auch internationale Hauptfürsorgerat (RGO), Hilfsgelder verwaltete, suchte durch eine eigene Sozialpolitik (Lebensmittel- und Bekleidungshilfen, Speisungen), eine Betreuung einsitzender polnischer Häftlinge sowie durch Eingaben und Gespräche mit den deutschen Besatzungsbehörden die Situation der polnischen Bevölkerung zu verbessern. Insbesondere durch das Engagement namhafter polnischer Persönlichkeiten z.B. Graf Adam Ronikier oder in Gakzien Gräfin Karolina Lanckoroñska gelang es in manchen Fällen, Verbesserungen zu bewirken101. -
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Kaczmarek, Pod rz^dami (wie Anm. 6), S. 46 75. Reichsstatthalter im Wartheland Greiser an alle Behörden, 23.2.1943, abgedr. in Schulpolitik (wie Anm. 96), S. 83 f. Wyka, Zycie na niby (wie Anm. 71), S. 111: »Die Deutschen erwiesen sich als durch und durch korrupt. Es nahmen alle, von den untersten Chargen bis zur Parteispitze. Das Korruptionssystem entwickelte sich rasch zu einem zwar nicht schriftlich festgehaltenen, aber zu einer zweiseitigen und eingehaltenen Absprache. Dem regelmäßig bezahlenden Butterproduzenten, Bäcker oder -
Müller bereitete man >keine SchweinereienNowy Kurier Warszawskk29!« Im Dezember gleichen Jahres verbreiteten Mitglieder der Polnischen Volks- und Unabhängigkeitsaktion (PLAN) FlugVon den ersten von
1941, zitiert nach: W kraju i na emigracji. Materialy z londyñskiego archiwum miniJanusz Gmitruk, Zygmunt prof. Stanislawa Kota (1939-1943), ausgewählt und bearb. von einer Hemmerling und Jan Salkowski, Warszawa 1989, S. 242: »Zur Wahrung entsprechenden Hai1940 bis Juni
stra
tang der Öffentlichkeit instruieren die durch mich ernannten Vertrauensmänner für die einzelnen Lebensbereiche die am nächsten stehenden Gruppen und geben für die Öffentlichkeit eine einheitliche Position gegenüber dem Okkupanten vor. Angesichts der sehr schwierigen materiellen Lage und der sich daraus ergebenden inneren Resignation mancher Leute ist diese Angelegenheit sehr subtil und schwierig zu realisieren. Man muß oftmals gewisse Kompromisse eingehen und andererseits übereifrige Gruppen bremsen, die schon zum gegenwärtigen Augenblick den aktiven Kampf [...] führen möchten. In der gegenwärtigen Form beschränkt sich dieser Kampf auf den im Rahmen des Möglichen betriebenen stillen Boykott der Anordnungen des Okkupanten, das Appellieren an die Würde gegenüber dem Feind, die Aufrechterhaltung des geheimen Bildungssystems usw.; als zweite Phase sind die Verstärkung der Sabotageaktionen und öffentliche Demonstrationen vorgesehen und erst in der dritten Phase Diversionsakte und aktive Erhebungen.« Salmonowicz, Polskie pañstwo podziemne (wie Anm. 6), S. 132. Polska vom 15.10.1939. Pobudka vom 16.11.1939. —
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Konzept und Organisation des »zivilen Kampfes«
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blätter ähnlichen Inhalts: »Frauen, die mit den Deutschen gesellschaftliche Beziehungen unterhalten, teilen wk mit, daß es noch freie Plätze in öffentlichen Häusern [gemeint sind Bordelle] gibt.«
Bedeutung im Besatzungsalltag Bereits in den ersten Monaten der Okkupation finden wk einen Wiederhall der hier auszugsweise zitierten Richtknien in der Presse wieder. Beispielsweise rät »Polska Zyje« im Januar 1940 zum Boykott von deutschen Veranstaltungen, Theatern, Kinos, Lokalen, Presseerzeugnissen und Büchern: »Es liegt auf der Hand, daß es geboten ist, gegen alles Deutsche den schärfsten Boykott anzuwenden und wie die Pest zu meiden, ganz besonders aber alles, was deutsche Propaganda ist, denn nur Gift und Verderben bringt uns diese Propaganda3".« Einige Monate später stellte die gleiche Zeitschrift fest: »An jedem Ort und zu jeder Zeit muß der Feind auf unserem Boden unversöhnlichen Widerstand, unseren allumfassenden Boykott antreffen. Organisiert diesen Boykott, verbreitet seine Losungen, bezieht alle Polinnen und alle Polen gleich welchen Standes und Alters ein. Seid selbst bei jedem Schritt Vorbild [...] Unser unerschütterlicher Gemeinschaftswille gibt uns die Kraft zum Überleben und erschwert das Leben für den Feind. Von Mund zu Mund sok zwischen allen Polen die Losung des Kampfes und des Widerstandes weitergeteagen werden: >Boykott gegen den Interventenc31.« Mit der Schaffung des Referats für zivilen Kampf im BIP übernahm der »Biuletyn Informacyjny« informell eine dominierende Propagandarolle. Chefredakteur war der bekannte Pfadfinderaktivist Aleksander Kamitiski »Kamyk«, »Hubert«. Der und die »Biuletyn Informacyjny« propagierte popularisierte beim ZWZ erarbeiteten Konzeptionen und führte auf seinen Druckseiten den zivilen Kampf. »Die militärische Führung im Inland und alle politischen Gruppierungen beziehen einen einheitlichen Standpunkt [...]: Unter den gegenwärtigen Bedingungen und zur gegenwärtigen Zeit ist eine Aufstandsaktion ebenso unangebracht wie Sabotage mit militärischem Charakter. Der heute aus derartigen Aktionen zu erzielende Gewinn würde nicht einmal teilweise die Opfer aufwiegen, die die Öffentkchkeit für diese Aktionen zu tragen hätte32.« Um sich einmal klar zu machen, welch zentraler Stellenwert dem zivilen Kampf in dieser Zeitschrift zukam, seien einige Texte zitiert: »Wie bekannt, haben die Okkupanten eine Verordnung über die Zweisprachigkeit von Schildern und Aufschriften erlassen. Es ist zu beachten, daß eine Reihe von Institutionen, besonders solche, die nichts mit dem Handel zu tun haben (z.B. Schulen), das Aushängen von zweisprachigen Schildern vermeiden können, indem sie überhaupt keine aushängen. Es gilt auch die Pflicht, Übereifrige zu verdammen, die deutsche Aufschriften riesig groß gestalten.« Oder: »Das ist der Abgrund. Wk stellen fest, daß 30 31
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Zyje vom 25.1.1940. Zyje vom 1.5.1940. Biuletyn Informacyjny vom 1.9.1940. Polska Polska
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Piotr Majewski
sich anonyme und nicht anonyme Anzeigen und Denunziationen bei der deutschen Pohzei durch Abschaum der polnischen Gesellschaft aus verschiedenen sozialen Schichten häufen. Denunziert werden Soldaten, die sich verborgen haben, Unabhängigkeitskämpfer, vermeintliche Kolporteure, Räume von konspkativen Treffen etc. Die Denunziantenkanaülen kann man nur durch brutalste Reaktion seitens der polnischen Öffenthchkeit in den Griff bekommen. Die Denunzianten müssen wissen, daß es Mittel und Wege gibt, sie zu entdecken, und daß die Abrechnung mit ihnen gnadenlos sein wkd33.« Der zivüe Kampf konnte sich in patriotischen Kundgebungen oder Boykottaktionen äußern. Die Gemeinsame Regierungsdelegatur (Zbiorowa Delegatura Rz%du)34, die vom 3. Juh bis 13. September 1940 bestand und eng mit den konspkativen miktärischen Strukturen verbunden war, hatte neben der Veröffentlichung der »Gebote des Augenblicks« in mehreren Zeitschriften am 27. Juh die polnische Öffenthchkeit zu einer patriotischen Demonstration am 31. August und 1. September, dem Jahrestag des Kriegsausbruches, aufgerufen. »Wk geben die Aufträge der Vertretung der Polnischen Exüregierung bezügüch des Verhaltens [...] am Jahrestag des Überfalls wieder«, lesen wk im »Biuletyn Informacyjny«35. Die geplante Demonstration soüte sich wie folgt gestalten: »a) Am 1. September soüte sich jeder aüer Unterhaltungen und Vergnügungen enthalten, in keine Kinos, Theater und Vergnügungslokale gehen, b) Am 31. August und am 1. September kauft niemand Zeitungen des Schlangengezüchts, c) Am 1. September von 14 bis 16 Uhr sollte man es unterlassen, auf die Straße zu gehen36.« Die Beschreibung der tatsächlichen Ereignisse finden wk in den Erinnerungen des Soziahsten Zygmunt Zaremba, einem der Führer der Polnischen Sozialistischen Partei/Bewegung »Freiheit, Gleichheit, Unabhängigkeit« (PPS-WRN): »Im Laufe der gesamten Okkupation bis zum Warschauer Aufstand hatte die Bevölkerung nur einmal [sie!] Gelegenheit zu einer öffentlichen Manifestation. Das war eine Demonstration zum ersten Jahrestag des Krieges. Das Projekt war in unserem Bereich entstanden und Kazimierz Puzak hatte es zur Sitzung des Mehrparteienausschusses [Politisches Verständigungskomitee, PKP] mitgebracht, wo die Demonstration aus zwei Gründen für gut befunden wurde: Sie ermöglichte es, die Effektivität der konspkativen Organisationen zu prüfen und bot zugleich die Chance, der Öffenthchkeit die eigene Haltung deutheh zu machen [...] Den Verlauf beobachtete ich von den Fenstern eines Hauses aus, von dem aus der plac Zbawiciela und die angrenzenden Straßen einzusehen waren. Schon um halb zwei begann 33 34
35 36
Biuletyn Informacyjny vom 5.12.1940. Stefan Korboñski, Polskie pañstwo podziemne, Paris 1975, S. 40 f. Biuletyn Informacyjny vom 3.8.1940. Biuletyn Informacyjny vom 23.8.1940: »Mehrere konspirative Organisationen und Zeitschriften haben Hinweise zur Haltung der Öffentlichkeit am 1. September gegeben, die anders lauten als jene der Vertretung der Regierung. Das ist zweifellos eine Folge der Schwierigkeiten der konspirativen Presse und der Tatsache, daß die Instruktionen der Delegatur der Regierung nicht rechtzeitig alle erreicht haben. Die Redaktion des >Biuletyn< wendet sich an die erwähnten Zeitschriften und Organisationen mit dem kameradschaftlichen Appell, ihre Hinweise zu korrigieren. Eine Ergänzung der Anregungen der Vertretung wäre zulässig, hingegen ist die Herausgabe von widersprechenden Hinweisen eine schädliche Tat.«
Konzept und Organisation des »zivilen Kampfes«
311
einem Ameisenhaufen gleichende Platz mit seinen sechs Ausfallleeren. Um zwei waren auf den Straßen nur noch Militärs und einige wenige Zivihsten unterwegs, die man für Volksdeutsche oder deutsche Beamte halten konnte. Der Aufruf war allen Polen zu Ohren gekommen, und die Öffenthchkeit hatte in voller Solidarität darauf geantwortet. Ebenso gelang weitgehend der zweite Teil der Manifestation, der im Boykott der polnischsprachigen deutschen Presse bestand. Nach den Berichten unserer Einrichtung, der die Zeitongsvertriebsleute von >Ruch< angehören und die den Decknamen >Pod razemk trägt, war der Verkauf von Presseerzeugnissen an den im Aufruf bezeichneten Tagen sehr deuthch gesunken, was die deutschen Vertriebschefs mächtig aufregte. Die Manifestation am 1. September 1940 hat sehr viel zur Verbesserung der Stimmung in jenen schweren Tagen beigetragen, die ansonsten stark durch die unaufhörlichen Siege Hitlers geprägt waren37.« Die häufigste Form, in der man seine Haltung gegen die Besatzung offenbarte, ohne sich drastischen Repressahen auszusetzen, war der spontane Boykott. Diesen wandte jeder Bürger in seinem spezifischen Lebensbereich an, er wurde aber im Grunde zentral von den Organen des zivilen Kampfes oder von Autoritäten im jeweiligen Umfeld empfohlen und organisiert38. Einige Beispiele seien hier zur Veranschaulichung der schwierigen Situation dargestellt: Der Boykott des Zirkus Busch. Die Deutschen hatten die Warschauer Vorstellungen des Zkkus durch eine Reklamekampagne vorbereitet. Am 26. Juh rief das »Biuletyn Informacyjny« zur Besuchsverweigerung auf und wiederholte den Appell in der darauffolgenden Ausgabe. Der Zkkus schlug seine Zelte am Kosciuszko-Ufer auf. Die Vorstellungen dauerten bis zum 11. August, ohne größeres Interesse zu wekken, obwohl versucht worden war, die Veranstaltung publik zu machen: durch Verschiebung der Sperrstunde auf Mitternacht und Einrichtung von zusätzhchem Straßenbahnverkehr. Der Boykott kann als gelungen betrachtet werden39. Der Boykott von Registrierungsverordnungen. Die deutschen Besatzungsbehörden im Generalgouvernement hatten am 18. August 1940 eine Verordnung über die Registrierung von Kulturschaffenden beim Propagandaamt erlassen. Der Termin lief am 30. September ab. Nur wer sich registrieren heß, konnte eine Genehmigung zur Berufsausübung, die sogenannte Erlaubniskarte, erhalten. Die Leitung des Bundes Polnischer Bühnenkünstler (ZASP) konnte sich in der zweiten Augusthälfte nicht zu einem völhgen Verbot der Registrierung durchringen und bezog es nur auf Theaterschauspieler. Dies tat man angesichts der schwierigen materiellen Lage der sich der
straßen
37 38
39
sonst
zu
Zaremba, Wojna (wie Anm. 9), S. 210 f. Tomasz Szarota, Okupowanej Warszawy dzieri powszedni, Warszawa 1988, S. 216: »Nicht viel auszurichten vermochten die Appelle der konspirativen Presse, die die Warschauer zur Einschränkung der Ausgaben für den Verbrauch von >Luxuslebensmitteln< aufriefen. Die Schrift >Polska Zyje< veröffentlichte im Dezember 1940 Angaben über den Kauf von Kuchen; es stellte sich heraus, daß dafür am ersten Weihnachtsfeiertag in Warschau rund 100 000 Zloty ausgegeben worden waren. Ein anderes Mal veröffentlichte die Redaktion des >Biuleryn Informacyjny< einen Artikel, in dem man den Luxus angeprangerte. In einem Feuilleton schrieb Aleksander Kamiñski unter dem Titel >Fresserei und Hungers, daß in den Warschauer Restaurants die Rechnung für ein Abendessen für drei bis vier Personen oft an die 2000 Zloty betrug.« Szarota, Okupowanej Warszawy (wie Anm. 38), S. 403.
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312
um ihnen beispielsweise zu ermöglichen, ihren Lebensunterhalt mit Auftritten in Cafés zu verdienen. Für viele von ihnen stellten solche Auftritte eine Haupteinnahmequelle dar*'. Ein bedeutender Teil weniger bekannter Künstler ließ sich auf eine Zusammenarbeit mit den Okkupanten ein und setzte sich dankt dem Druck der Organe des zivilen Kampfes und auch der konspkativen Justiz aus. Letztlich ließen sich 1356 Schauspieler und 1412 Musiker registrieren41. Ein Kinoboykott schließlich startete bereits im Dezember 1939. Als erste betrieb die konspkative Organisation PLAN diese Initiative und führte einen »Gasangriff« auf das Kino »Napoleon« (später »Apollo«, ab 1942 nur für Deutsche). Die Aktion gelang, das Kino wurde zeitweilig geschlossen. Anfang 1940 erschien ein Kinoverbot in der konspkativen Presse. Es stellte eine der Grundfesten des zivilen Kampfes dar. Ab Anfang 1941 beschäftigte sich die Organisation für Kleinsabotage »Wawer« mit der Antikinoaktion. Damals kam die Losung auf: »Nur Schweine sitzen im Kino, was reicher ist, ist im Theater«, angebracht an öffentkchen Plätzen oder auch auf dem Rücken von Kinobesuchern. Am nachhaltigsten aber waren die Gasanschläge auf Kinos, die gewöhnlich dazu zwangen, die Vorstellung abzubrechen. In Ausnahmefällen wurden auch Brände in Kinos verursacht. Ein gewichtiges Argument bei der Boykottaktion war die öffentkche Bekanntgabe von Daten über die deutschen Gewinne aus dem Kartenverkauf. Anfang 1941 betrugen diese Einnahmen in Warschau monatlich 32 000 Zloty42. Die in der illegalen Presse veröffentlichten Berichte zum Kinoboykott belegen allerdings dessen vollständiges Scheitern in der Praxis43. Kinobesuche blieben während der gesamten Zeit der Okkupation beliebt, auch unter den konspkativen Militärs. Das ergab sich vor allem aus dem begrenzten Zugang zu anderen Formen von Unterhaltung, zumal das illegale Kulturschaffen in seinem Wesen elitär war. Die Masse der Menschen hatte keine große Auswahl hinsichtlich ihrer Freizeitgestaltung. Der schreckkche Besatzungsalltag machte aber ein Ausspannen unerläßlich. In den Jahren 1942 und 1943 fiel die Koordinierung des zivilen Kampfes in die Zuständigkeit der Delegatur der Regierung. Folgende Grundsätze galten in Abstimmung mit dem ZWZ-AK:
Künstler,
40
Salmonowicz, Polskie paristwo podziemne (wie Anm. 6), S. 131; Szarota, Okupowanej Warszawy
41
Szarota, Okupowanej Warszawy (wie Anm. 38), S. 112 f., 120-125. Ebd., S. 105. Ebd., S. 111: Die Ermittlung der Besucherzahlen trifft im okkupierten Warschau auf große
42 43
(wie Anm. 38), S.
110.
Die an und für sich einzigen nutzbaren Zahlenangaben wurden in einem interBulletin der AK veröffentlicht (»Informacja Biez^ca« vom 16.06.1942). Dort erfahren wir, daß die Warschauer Kinos im Januar 1940 von 116 000 Menschen besucht wurden, im Januar 1941 von 230 000 und im Januar 1942 von 501 000 Kinogängern. Im Jahr 1938 gab es in Warschau 70 Kinos und 15 372 000 Besucher, was pro Kino einen Monatsdurchschnitt von 18 300 ausmacht. Unter Berücksichtigung der Anzahl der Warschauer Kinos in den Jahren 1940 bis 1942 erhalten wir folgende Besucherzahlen pro Kino: Januar 1940 19 333 Besucher, Januar 1941 16 786 Besucher, und Januar 1942 35 538.
Schwierigkeiten. nen
-
-
-
Konzept und Organisation des »zivilen Kampfes«
313
»a) es ist nicht zuzulassen, daß die Anstrengungen der Bevölkerung, um den Deutschen zu schaden, zersplittert werden, oder daß sich der Haß der polnischen Öffentlichkeit in für sie unerwünschte oder gefährliche Richtungen entlädt; b) alle bewaffneten Anstrengungen sind gemäß den Grundsätzen der in der Illegalität wirkenden polnischen Behörden auszurichten; c) das aktive Handeln des ZWZ-AK ist zu erleichtern, indem in der Öffentlichkeit Stimmungen geweckt werden, die bewaffnete Aktivitäten befürworten; d) es ist zu verhindern, daß es infolge der deutschen Repressalien und der sich ändernden internationalen Situation zu einer moralischen Resignation in der Bevölkerung kommt.« Die genannten Ziele wurden umgesetzt durch: »a) Sabotageakte in der Industrie und im Verkehr im Zusammenwirken mit den
Berufsorganisationen; b) Vernichtung von Listen
von Personen, die für die Arbeit im Reich und zur in den »Baudienst« vorgesehenen sind, Desorganisation des AbEinberufung und der transports Einberufung; c) Anwendung aller Mittel, um sich der Abreise und der Deportation zur Arbeit ins Reich zu entziehen; d) »Kleinsabotage« Steaßensabotage, tägliche Kleinaktionen gegen den Okkupanten, Anprangerung von Personen, die die Anweisungen der »maßgebenden Kreise« mißachten; e) völlige Abgrenzung von den Deutschen im täglichen Leben; f) Hilfeleistung für die polnische Bevölkerung durch Polen, die in von den Deutschen ins Leben gerufenen Einrichtungen und Büros beschäftigt sind; g) Vollstreckung der Urteile, die in die Zuständigkeit der zivilen Sondergerichte fallen, gegen Verräter und deutsche Agenten44.« Wie schon erwähnt, reichen die Anfange des Apparats für den zivilen Kampf in das Jahr 1940 zurück. Mitte 1941 wurde unter Leitung von Stefan Korboriski45 mit der Ausarbeitung von Detailinsteuktionen für den zivilen Kampf begonnen. Sie umfaßten: »1) die allgemeine Aktion, 2) Sonderaktionen, die von einzelnen sozialen und beruflichen Gruppen und SSS-Organen [Deckname des ZWZ] durchzuführen sind46.« —
Die Leitung des
Untergrundkamp fes (KWP)
Mitte 1943 kam es zu wesentlichen Veränderungen in den Kompetenzen und in der Organisation der Leitung des Zivilen Kampfes (KWC). Sie wurde dem Oberbefehlshaber der Armia Krajowa unterstellt und war somit Bestandteil der militärischen Konspiration. Die neu geschaffene Struktur die sogenannte Leitung des —
44
45 46
Sily Zbrojne w Drugiej Wojnie Swiatowej, Bd 3: Armia Krajowa, London 1950, S. 455. Salmonowicz, Polskie pañstwo podziemne (wie Anm. 6), S. 121 -125. Grabowski, Delegatara Rzadu (wie Anm. 26), S. 112; Instrukcje Walki Cywilnej (wie Anm. 15), Polskie
S. 89-109.
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314
Untergrundkampfes (KWP) war ein Organ mit bedeutend umfassenderen Kompetenzen und einer komphzierteren Organisation als die KWC. Die Veränderungen vollzogen sich auch vor dem Hintergrund politischer Zwistigkeiten und Kompetenzrangeleien zwischen der Delegatur der Regierung und der Hauptkommandantur der Heimatarmee47. Die Leitung des Untergrundkamp fes (KWP) entstand am 15. Juh 1943 und führte bis dato existierende Organisationselemente zusammen. Als initiierendes, begutachtendes und vollziehendes Organ wirkte dort auch das Zentralkomitee des Gesellschaftlichen Widerstands (OS, früher Hauptkommission für Zivilen Kampf), das aus Vertretern der Parteien, die die Politische Landesverttetong bildeten, sowie aus Vertretern der Gesellschaftlichen Selbstverteidigungsorganisation (SOS) bestand. Eine analoge Organisationsstruktor exi-
stierte auf Bezkksebene48. Nach Ansicht vieler Autoren wollte die Hauptkommandantur der Heimatarmee die KWC unter ihre Kontrolle bekommen. So meint etwa Jerzy J. Terej: »Im Frühjahr 1943 schrieb Rowecki nicht mehr von der KWC als von einer gemeinsamen Aktion des >Regierungsabgesandten und der Armeec An ihrer Stelle fanden sich Bemerkungen über Kritik der Öffenthchkeit, die der ineffektiven Tätigkeit der KWC galt, und schheßhch tauchte eine recht hart formulierte Forderung auf: >Der KWK müssen alle Zentren der privaten Initiative (die KWC war also schon eine private Initiative) auf dem Gebiet des ganzen Landes unterstellt werden. In diesem Kampf muß es zu einer vollen Einheit von Leitung und Führung kommen49.« Terej führt weiter aus, daß die Unterstellung der KWC unter die Hauptkommandantur eine Art Kompensationsgeschäft gewesen sei. Die Hauptkommandantur übergab dabei der Delegatur die militärisch organisierte Administration, das sogenannte Portefeuille, die sich wiederum in Konkurrenz zu der von der Delegatur geführten Ersatzadministration befand. Letztendhch stand also an der Spitze der KWP der Oberbefehlshaber der Heimatarmee, General Tadeusz »Bór« Komorowski. Sein Vertreter wurde der Chef des Stabes der Hauptkommandantur, Oberst Tadeusz »Grzegorz« Pelczyñski, darüber hinaus gehörten ihr an: der Chef für Diversion der Hauptkommandantur, anfänglich Oberst August Emil »Nil« Fieldorf, ab März 1944 Oberstleutnant Jan Mazurkiewicz »Radoslaw«, sowie der Leiter des BIP der Hauptkommandantur, Oberst Jan Rzepecki, und der bisherige Chef der KWC, Stefan Korboñski. Kompetenz- und Tätigkeitsbereich waren bedeutend weiter gefaßt als in der KWC. Im folgenden soll das Hauptaugenmerk auf die Problematik des zivilen Kampfes gelenkt werden, der lediglich einen Ausschnitt aus den Interessen und täghchen Arbeiten der KWP darstellte. In der Arbeit der reorganisierten Organe lassen sich folgende Prioritäten erkennen: Ausbau des Gerichtswesens, wirksamere Umsetzung der Rechtsspre47
48
Instytutu Historii Polskiej Akademii Nauk, Kolekcja KWC, KWP [A IH PAN], Plan Akcji Oporu, Znaczenie Walki Podziemnej. A IH PAN, Schemat organizacyjny; AKWD (wie Anm. 16), Bd 2, S. 427 f.; vgl. Jerzy Janusz Terej, Na rozstajach dróg. Ze studiów nad obliczem i modelem Armii Krajowej, Wroclaw 1980, Archiwum
S. 216-218.
49
Organisationsmeldung Nr. 190, in: Terej, Na rozstajach dróg (wie Anm. 48), S. 214 f., 218.
Konzept und Organisation des »zivilen Kampfes«
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chung, Ausbau der Strukturen vor Ort außerhalb des Generalgouvernements, Ausweitung von Propagandaaktionen und organisatorischen Maßnahmen, soziale Hilfe und Mobilisierung der Öffentlichkeit unmittelbar vor oder während eines Aufstandes und schließlich die laufende Koordinierung der Aktivitäten, die innerhalb des Polnischen Untergrundstaates und der mit ihm verbundenen politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen anerkannt waren5". Normen und ihre Kontrolle
Die theoretische und praktische Ablehnung der politischen, Rechts- und Wirtschaftsordnung der Besatzer war Grundvoraussetzung für die polnischen konspirativen Institutionen. Die Schaffung und Durchsetzung eines Normensystems ergab sich aus der Notwendigkeit, die Autorität der polnischen Behörden und die langfristigen nationalen Interessen zu verteidigen, die üblicherweise der Kategorie der Staatsräson zugerechnet werden. Wesentlicher Grund für den Aufbau dieses Systems und den Ausbau des Justizapparates war auch eine Erscheinung, die mit der Zeit für alle Besatzungsgesellschaften zum Charakteristikum wird, nämlich die Demoralisierung. Unter den Bedingungen der Okkupation erschwert diese immer das Handeln der konspirativen Kräfte und übt einen zersetzenden Einfluß auf jene gesellschaftlichen Gruppen aus, die nicht an der konspirativen Tätigkeit beteiligt sind und sich den konspirativen Machtorganen und ihren Autoritäten gegenüber loyal verhalten sowie bei einem Aufstand zur Zusammenarbeit bereit sind. Die im folgenden zitierte Auswahl von Rechtsvorschriften war die Grundlage für die Rechtspflege. Besonders interessant sind hierbei die Festlegungen der der KWP unterstehenden Gerichtskommissionen für den zivilen bzw. Untergrundkampf, deren Tätigkeit im weiteren ausführlicher behandelt wird. Im »Biuletyn Informacyjny« Nr. 18 vom 7. Mai 1942 erschien unter dem Titel »Zehn Gebote des zivilen Kampfes« folgender Text: »1) Polen kämpft gegen den Feind nicht nur außerhalb der Landesgrenzen, sondern auch in seinen gegenwärtig okkupierten Gebieten. 2) Bis zum Beginn der bewaffneten Abrechnung ist der zivile Kampf Ausdruck des Krieges auf polnischem Gebiet. 3) Die Teilnahme am zivilen Kampf ist Pflicht jedes polnischen Bürgers. 4) Grundgebot und Pflicht ist die Achtung der rechtmäßigen polnischen Behörden in der Emigration und der Gehorsam gegenüber den Anordnungen der maßgebenden Organe im Inland. 5) Gebot des zivilen Kampfes gegen den Okkupanten ist es, dessen Verfügungen und Aufrufe zu boykottieren, ihm jegliche Aktion [...] zu erschweren sowie einen absoluten Boykott in den kulturellen, gesellschaftlichen und Handelsbeziehungen durchzusetzen. 6) Überall dort, wo einem Nächsten, einem Polen Verderben oder Elend drohen, gilt die Notwendigkeit, ihm die Solidarität der Gesellschaft und Unterstützung zu erweisen. 7) Das Gefühl der nationalen Ehre ist auf höchstem Niveau zu wahren, und gemäß dieser Ehre gilt es sich zu verhalten. 8) In Fällen, A IH
PAN, Zamierzenia organizacyjne.
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festgestellt wkd, daß ein Pole von den für ihn geltenden Verhaltensmaßregeln abweicht, muß eingegriffen werden, sei es durch Zureden, durch Mahnungen, gesellschaftlichen Boykott oder schkeßkch durch Registrieren der Vorfalle und deren Übermittlung an die entsprechenden polnischen Einrichtungen. 9) Gegen Abweichler und Abtrünnige ist der Boykott wie gegen den Feind sowie ihre Registrierung als Verräter anzuwenden. 10) Pflicht jedes Polen ist die Sorge um die Erhaltung und Bewahrung des Polentums in jeder, also in humanitärer, kultureller und materieller Form als jener Kräfte, die zur Erringung der Freiheit und zum Wiederaufbau des Vaterlandes gebraucht werden. Polen! Der Grad, in dem wk uns wo
diesen Grundsätzen und Geboten unterordnen, wkd der Prüfstein unseres staatsbürgerlichen Wertes für künftige Generationen sein. Denkt daran, daß wk in den Tagen der Freiheit alle Rechenschaft über unsere heutige Position und unsere Taten ablegen werden müssen.« Im Einklang mit den obigen Instruktionen stand das Dokument »Kodex der staatsbürgerlichen Moral«. Tomasz Szarota setzt sein Entstehungsdatum auf den Ausgang des Jahres 1941 an51. Es war ein Ergebnis der Zusammenarbeit der KWC mit dem Justizdepartement der Delegatur der Regierung. In einem nicht veröffentlichten Kommentar zum Kodex schrieben seine konspkativen Autoren: »Aufgabe des Kodex ist es, den in der Öffentlichkeit erkennbaren Prozeß zu bremsen, daß einerseits von bestimmten Rechtsnormen, deren Verletzung sensu stricto eine Straftat darstellt, und andererseits von bestimmten ethischen Normen abgewichen wkd, die in dieser Zeit des Kampfes für jeden Polen verbindlich sein sollten. Es geht somit um die Markierung der rechtkchen und ethischen Grenzen, die ein Pole nicht überschreiten darf. Aus diesen Gründen bewegt sich der Kodex gewissermaßen auf zwei Ebenen: der rechtlichen und der ethischen. Es ist zu unterstreichen, daß die rechtliche Ebene umfassender ist als diejenige, die die bisherige Gesetzgebung vorsah (hauptsächlich das Strafgesetzbuch von 1932). Diese Erweiterung ist durch das Spezifikum der gegenwärtigen Bedingungen hervorgerufen [...] Der entworfene Kodex ist in nicht geringem Maße als Instrument der Propaganda und Erziehung gedacht [...] Diese Momente machen es erforderlich, daß die Normen knapp, verständkch, klar und bündig sind [...] In dem Willen, das gesteckte Ziel zu erreichen, hat man den Kodex so formuliert, daß in der Öffentlichkeit die Überzeugung entsteht, daß eine Autorität existiert, die nicht nur moralische Werte verkörpert, sondern auch eine Kraft im Sinne eines harten, aber gerechten Drucks darstellt, der bei Notwendigkeit eingesetzt wkd [...] Den Kodex ausschließlich als Erziehungsinstrument zu gestalten, hätte den Zweck verfehlen und die Überzeugung wecken können, daß das formulierte Recht eine Fiktion und ein Ausdruck der Schwäche ist. Das gewinnt besondere Bedeutung, wenn man das Mißverhältnis in Betracht zieht, das in den Köpfen der Allgemeinheit bei einer Gegenüberstellung des harten Rechts, wie es vom Okkupanten angewandt wkd, mit der Milde
Szarota, Okupowanej Warszawy (wie Anm. 38),
S. 509 f.; Leszek Gondek, Polska karz^ca 1939-1945. Polski podziemny wymiar sprawiedliwosci w okresie okupacji niemieckiej, Warszawa 1988, S. 142; vgl. Pawel Maria Lisiewicz, W imieniu Polski Walczacej, Warszawa 1988, S. 71.
Konzept und Organisation des »zivilen Kampfes«
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des Rechts des sich verteidigenden Volkes entstehen würde52.« Die im Kodex beschriebenen Straftaten Verrat an der polnischen Nation und verschiedene Formen des Dienstes für den Okkupanten lagen in der Zuständigkeit der Gerichtskommissionen für den zivüen bzw. Untergrundkampf53. Es ist nicht klar, ob der Kodex allgemein akzeptiert wurde, selbst bei den Eliten der Konspkation. KWC und KWP erheßen eine Reihe konkreter Verordnungen, Aufrufe und Appelle zu Einzelanlässen. Dabei ging es immer darum, gezielt für gesellschaftliche Aktivitäten zu mobilisieren: für die Sabotage des deutschen Baudienstes; die Nichteinhaltung der offizieüen Einkommens tarife; ein Verbot für Polen, für die Arbeit in Deutschland zu werben; die Ankündigung von Repressahen bei übereifriger Zusammenarbeit mit dem Okkupanten; Aufrufe zur Anprangevon von die für den Freikauf der Deportation Lösegelder erpreßLeuten, rung -
—
ten54. Zu den bereits vorgestellten Sammlungen von Propagandaempfehlungen und durch die Justiz sanktionierten Normen kamen im August 1943 die »Weisungen« (Nakazy), die in Krakau, dem zweitwichtigsten Zentrum des polnischen konspirativen Lebens, durch Tadeusz Seweryn von der Bezkksleitong des Untergrundkampfes (KWP) in Zusammenarbeit mit dem BIP des Bezkkes vorbereitet worden waren55. Die Autoren der »Weisungen« stellten fest: »Aktiver Schutz des Menschen in Polen gilt für alle. Es darf sich also niemand der Fürsorge für Ausgesiedelte, für verwundete Soldaten, Häfthnge und deren Familien entziehen. Wer viel hat, soll viel geben. Der Krieg darf für niemand ein Glücksumstand sein, um ein Vermögen zu machen, wenn es ringsum Tränen und Not gibt. Hinweg mit Eigennutz und Feigheit, wenn es nötig ist, Hilfe zu leisten für materiell ruinierte Angehörige hingerichteter Gefangener oder für Leute, die von den Besatzungsbehörden wegen ihrer Unabhängigkeitstätigkeit verfolgt werden oder die sich vor der Gestapo verbergen [...] Ein Pole, der dem Lager des Kämpfenden Polen angehört, geht in keine Theater und Kinos, deren Programm den Forderungen der deutschen Propaer zu nicht ist, Konzerten, Rennen und deutschen Sportverganda angepaßt geht Wer Form in der deutschen Propaganda, der deutschen kgendeiner anstaltungen. Wissenschaft, deutschen wissenschaftlichen Einrichtungen oder der Presse dient, stellt sich außerhalb des Kämpfenden Polens [...] Wir boykottieren, verdammen und bestrafen: dienstbeflissene Typen, die bereit sind, auf jeden Wink des Okkupanten die Flure deutscher Ämter zu wischen und sich mit ihrer sklavischen Unterwürfigkeit bei ihnen anzubiedern; Frauen, die mit Deutschen Akten und mit ihnen in öffentliche Einrichtungen und Lokale gehen; Leute, die Deutsche zu Besuchen oder Familienfeiern einladen; Leute, die den Deutschen die Organisation von Vergnügungen erleichtern und dafür agitieren, daß polnische Frauen daran teilnehmen; Leute, die mit Übereifer Befehle der deutschen Behörden ausführen, 52 53
34
55
Szarota, Okupowanej Warszawy (wie Anm. 38), S. 510. Salmonowicz, Polskie pañstwo podziemne (wie Anm. 6),
wy (wie Anm.
S. 135
38), S. 511 f. Salmonowicz, Polskie pañstwo podziemne (wie Anm. 6), S. Lisiewicz, W imieniu (wie Anm. 51), S. 58-60.
f.; Szarota, Okupowanej
136 f.
Warsza-
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die für Bürger des polnischen Staates Unglück bringen. Wk verdammen und bestrafen Personen, die den Okkupanten über ihm nicht bekannte dienstliche Tatsachen oder über wichtige Bereiche der staatsbürgerhchen Arbeit vor dem 1.9.1939 und während der Okkupation informieren; Personen, die öffenthch die deutsche Organisation, Stärke, Widerstandsfähigkeit und Selbstsicherheit preisen und damit die Haltung der polnischen Öffenthchkeit negativ beeinflussen; Personen, die das polnische Volk öffenthch verhöhnen oder verunglimpfen [...] sowie Personen, die unter Ausnutzung der ihnen durch den Okkupanten eingeräumten Macht die polnische Bevölkerung quälen, indem sie ihr Lebensmittel entziehen, Lösegelder erpressen oder insgesamt ihr Dasein in der Unfreiheit erschweren56.«
Rechtsprechung im Untergrund Die Plage des Banditentums während des Krieges nahm Überhand. Neben Berufskriminellen waren es demoralisierte Abteüungen im Untergrund, die sporadisch kriminelle Handlungen begingen und oft unter dem Vorwand des Requkierens Hab und Gut der Landbevölkerung raubten. Das führte zu Korrektiven in der Praxis der Rechtsprechung. Am 31. Januar 1944 erschien in der Untergrundpresse ein Kommunique, in dem »allgemeinkrkninelle Verbrechen« angeprangert wurden. Der Abgesandte der Regierung Stanislaw Jankowski ließ darin verlauten: »[Ich] habe angewiesen, daß die konspirativen Sicherheitsorgane, gestützt auf organisierte gesellschaftliche Kräfte, unverzüglich den Kampf gegen die Verbrecher, die die polnische Bevölkerung peinigen, aufzunehmen haben. Im Zusammenhang damit haben die zivilen Sondergerichte auch Befugnisse zur Verfolgung krimineller Straftaten und zur Verhängung von Strafen bis hin zur Todesstrafe erhalten. Verbrecher, die bei Banditentum und Erpressung auf frischer Tat ertappt werden, werden unverzüglich an Ort und Stelle hingerichtet. Die Namen der Verurteilten werden in der Tagespresse bekanntgemacht57.« Die konspirative Justiz stützte sich auf Verordnungen und Verfahrensweisen sowohl aus der Zeit vor dem Kriege als auch auf solche, die während der deutschen Besatzung entstanden waren. Die Gerichtskommissionen als die Organe, die die Normen des zivilen Kampfes umsetzten, waren ein Novum der Okkupationszeit und fanden erst durch die Leitung des Untergrundkampfes (KWP) ihre rechtliche Fixierung. In seinem Befehl Nr. 165 vom 6. Juh 1943 legte der Befehlshaber der Heimatarmee den Platz der KWP innerhalb der konspkativen Justiz präzise fest und machte ihre Gerichtskommissionen für die Bekämpfung von Vergehen »geringeren Gewichts« verantwortlich58. Als Konsequenz wurde in jedem Inspektorat eine lokale KWP berufen. An ihrer Spitze standen der Inspekteur, also der örtliche Kommandeur der Heimatarmee, und ein ihm zugeteilter »zivüer Vertreter« als Verantwortlicher für Fragen des Gesellschaftlichen Widerstands (OS). Der 36 57
38
Gondek, Polska karza_ca (wie Anm. 51), S.
66 f.
Gondek, Polska karzaca (wie Anm. 51), S.
166.
Rzeczpospolita Polska vom 7.2.1944; Biuletyn Informacyjny vom 17.2.1944.
Konzept und Organisation des »zivilen Kampfes«
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belastendes Material über polnische Bürger zu samdie sich die Sicherheit der »Streitkräfte im Inland«, also der Heimatmeln, gegen an und dieses den richteten armee, Inspekteur zu übergeben; man betrieb solcherart ein sogenanntes Verfahren in Zuständigkeit der Militärischen Sondergerichte. Der Abgesandte sollte auch gegen Polen, die das polnische Recht mißachteten, Material sammeln und die Anklageschrift erstellen, die anschließend an den Vorsitzenden des Zivüen Sondergerichts oder der Gerichtskommission zu übergeben war. Er trat sowohl vor Gericht wie vor der Kommission als Staatsanwalt auf und war zur Sicherung der Gerichtsakten und zur Organisation der Ausführung der Urteile verpflichtet59. Nach Bildung der KWP entstand eine »Ordnung für die Gerichtskommissionen des Untergrundkamp fes«, welche deren sachliche und formale Kompetenzen sowie die Verfahrensweisen erfaßte. Sitze der Kommissionen waren die Inspektorate, obgleich sie in der Praxis zuweüen auch auf der Ebene der Gebiete zusammentraten. Die Richter ernannte der Bezirksleiter des Untergrundkampfes (also der Kommandant des Bezirks der Armia Krajowa) in Abstimmung mit dem Inspekteur und dem Vertreter für den Gesellschaftlichen Widerstand (dem ehemaligen Chef der KWC). Der Vorsitzende der Gerichtskommission leistete seinen Eid vor dem zuständigen Starosta (sprich dem Bevollmächtigten der Regierung auf der vom Vorsitzenden während die beiden Richter Kreisebene), vereidigt wurden. Vertreter von war Amts der für den Gesellschaftlichen WiderAnkläger wegen stand bei der Bezirksleitung der KWP, Berufungsinstanz die Gerichtskommission der Bezirksebene. Die Tätigkeit der Kommission war geheim, ihre Sacharbeit bezog sich auf Bürger mit polnischer Nationalität und polnischer Staatsbürgerschaft. Bei der Bildung jeder Kommission wurde im Detail deren territorialer und personeller Wirkungsbereich festgelegt. Nicht in die Zuständigkeit der Kornrnissionen fielen Verfahren wegen Landesverrat und Straftaten, die im Strafgesetzbuch von 1932 enthalten waren, sowie Verfahren gegen Angehörige von Unabhängigkeitsorganisationen, die über eigene interne Gerichte verfügten60. Die Verfahren waren zweistufig und bestanden in Vor- und Urteilsverhandlung. Die Vorverhandlung galt der Prüfung der Anträge des Anklägers und der Zuständigkeit der jeweiligen Kommission. Oft entschied man, daß ein Antrag zu ergänzen sei. Auf der Sitzung zur Urteils findung wurde nach dem Vortrag des Vorsitzenden der Antrag des Anklägers in dessen Abwesenheit verhandelt. Nach der Erörterung sprach die Kommission das Urteil, und der Ankläger erhielt den Auftrag zur Ausführung. Die Kommissionen entschieden auf der Grundlage der eingebrachten Beweise. Zeugen oder Sachverständige waren nicht geladen. Als Beweise dienten schriftliche Einschätzungen von Personen mit Expertenstatus, Originaldokumente oder Kopien, Fotografien usw. Die Urteile der Kommissionen wurden mit einfacher Mehrheit gefallt. Die Richter waren unabhängig und ließen sich von ihrem Gewissen und den Grundsätzen des Zivilen Kampfes leiten. Der Antrag des Anklägers war nicht zwingend erforderlich. Die Kommissionen konn-
Abgesandte war verpflichtet,
59 "
Ebd., S. Ebd., S.
167. 135.
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Piotr
Majewski
selbst Verfahren einleiten, Urteilssprüche ergingen gewöhnlich schriftlich mit einer kurzen Begründung und »gemäß dem Willen der Regierung der Republik Polen«61. Was die auferlegten Strafen angeht, so war die schwerste der Ehrentzug (Infamia); er bedeutete den Ausschluß aus der polnischen Gesellschaft und wurde als individuelle Strafe verhängt. In ihrer Wkksamkeit reichte die Infamia in die Zukunft, in die Zeit nach dem Ende der Okkupation, und verhieß beispielsweise Berufsverbot nach dem Krieg. Die nächste Strafe war die Rüge, also eine öffentliche Anprangerung von Handlungen und Haltungen einzelner Personen oder von Gruppen in der Presse. Es folgten der Verweis bzw. die Ermahnung meist in Form sogenannter Ermahnungsbriefe für Personen oder Gruppen wegen ungehörigen Verhaltens. Sie stellten gleichzeitig die Anwendung härterer Maßnahmen in Aussicht. Die Strafen waren je nach Schwere des Vergehens bemessen. Bei Zweifeln an deren Berechtigung wurde grundsätzlich die leichtere Strafe verhängt, ausgenommen waren Wiederholungstaten. Wenn das Material des Anklägers unvollständig war, beließ man es bei einer Ermahnung. Bei einem Irrtum der Richter oder bei begründetem Verhalten des Verurteilten konnte die Kommission die Ehre des Verurteilten wiederherstellen. Hierüber war die Öffentlichkeit in Publikationen der konspkativen Presse zu informieren. Der Ehrentzug bedeutete die Aberkennung der bürgerkchen Ehrenrechte, etwa den Verlust des aktiven und passiven Wahkechts für gesetzgebende Körperschaften, Selbstverwaltungsorgane und öffentliche Institutionen, des Rechts auf Mitwirkung in der Rechtspflege, des Rechts auf die Ausübung von Ämtern und Funktionen, den Verlust von bereits erworbenen Ehrentiteln und Auszeichnungen, die Ausschließung des Erwerbs neuer. Die Rüge wurde ebenfalls als eine empfindliche Strafe erachtet, und ihre Veröffentlichung in der illegalen Presse unter Angabe von Zeit und Umständen der Rechtsverletzung galt als obligatorisch. Bei der Ermahnung handelte es sich um ein erstes Eingreifen der Justiz in das staatsbürgerliche Verhalten. Sie bedurfte der Schriftform, und ihre Veröffentlichung hing jeweils von der Entscheidung der Kommission ab62. Bei der Gestaltung des als Alternative zum Okkupationsrecht geschaffenen Normensystems spielten nicht nur die Organe des Polnischen Untergrundstaates eine wesentliche Rolle, sondern ebenso Initiativen politischer Organisationen und anderer Gruppierungen. Diese Praktiken waren ein Zeugnis für die Anpassung der Normen an die Realität des Besatzungsalltags. Für die Bevölkerungsmehrheit, die Angehörigen der Intelligenz ausgenommen, bkeb der von den Gerichtskommissionen verhängte Ehrentzug freilich zumeist rein theoretisch und unverständlich; die Bauernbataklone verliehen daher dieser Strafe fallweise durch Verbindung mit Auspeitschen einen realeren Charakter. Solche Praktiken fanden nicht nur auf dem ten
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Tomasz Strzembosz, Akcje zbrojne podziemnej Warszawy 1939-1944, Warszawa 1978, S. 174; Kazimierz Moczarski, Zapiski, Warszawa 1990, S. 23-32; Anna Rószkiewicz-Litwinowiczowa, Trudne decyzje, Warszawa 1991, S. 77; Gondek, Polska karzaca (wie Anm. 51), S. 136. Gondek, Polska karzaca (wie Anm. 51), S. 138; vgl. APP, Pismo okólne Nr 1. Znaczenie Walki Podziemnej, 15.3.1944.
Konzept und Organisation des »zivilen Kampfes«
321
Land
Anwendung, auch Kazimierz Bagiñski und Wincenty Bryja von der Volkspartei (SL) sanktionierten die körperlichen Züchtigungen und erarbeiteten Richtlinien für ihre Anwendung. Der Abgesandte der Regierung bestätigte diese, und damit hatten sie Gültigkeit für die Gerichtskommissionen des Kämpfenden Po-
lens. Anhand der Quellen läßt sich feststellen, daß 1943/44 sehr häufig Fälle von Auspeitschen und Kahlscheren vorkamen, ein Teil davon ganz gewiß in Selbstjustiz vollzogen. Belegt ist auch, daß nicht alle Urteile der Kommissionen veröffentlicht wurden. Wie Wladyslaw Sieroszewski angibt, haben allein im Bezkk Krakau von Mitte April bis Mitte Juk 1944 die Kommissionen 83 Verfahren gegen 84 Personen behandelt. Davon traf 28 Personen die Strafe Ehrentzug, 13 Personen erfuhren eine Rüge und zehn eine Ermahnung, 30 Verfahren wurden einem zivüen Sondergericht übergeben, und zwei Personen sprach man frei63. Nach Auswertung von Presseveröffentlichungen (»Biuletyn Informacyjny«, 1. Februar 1943 bis 31. Juh 1944) stellte Sieroszewski fest, daß von 142 veröffenthchten Urteüssprüchen 40 übereifriges Handeln die Besatzungsbehörden betrafen, und zwar insbesondere von Pohzisten der »blauen Polizei«64 sowie von Mitarbeitern der Finanz- und Arbeitsämter. In 36 Fäüen ging es um Bestechhchkeit und Vorteilnahme, bei 21 um intime Beziehungen mit Angehörigen des Okkupationsregimes, bei weiteren 21 um Verletzungen der nationalen Würde, bei 19 um Diebstahl und Zueignung von öffentlichem Eigentum, bei 19 um Zusammenarbeit mit den Besatzern auf wissenschaftlichem, kulturellem und künstlerisckem Gebiet, bei elf um die Verfolgung der polnischen Bevölkerung, bei zehn um Verstöße gegen das Polentum, bei weiteren zehn um Zuträgerei von geringerer Bedeutung (wegen illegalen Handels, Wohnens ohne Anmeldung usw.), bei acht um Casinobesuche und bei drei um Defätismus65. Im folgenden sind einige Beispiele dafür genannt, welche Vergehen zum »Ehrverlust« führen konnten. Die Aufzählung vermittelt gleichzeitig eine Vorstellung vom Besatzungsalltag, der für die Masse der Polen nickt nur Widerstand und 63
Waclaw
Sieroszewski, Przyczynek do historii Wojskowych S^dów Specjalnych, in: Dzieje Naj(1974), 6, S. 82, 84; Lisiewicz, W imieniu (wie Anm. 51), S. 146. Gemeint sind Angehörige der polnischen Hilfspolizei, die, in der Bevölkerung verhaßt, als Kollaborateure häufig das Ziel von Partisanenaktionen wurden. Sieroszewski, Przyczynek do historii (wie Anm. 63), S. 82, 87; Gondek, Polska karzaca (wie Anm. 51), S. 200: »Hier einige Beispiele für besonders drastische staatsbürgerliche Illoyalität. Der leibliche Bruder eines polnischen Abtrünnigen suchte seine Chancen bei der Bewerbung um den Posten eines Dolmetschers beim Postamt damit zu untermauern, daß sein Bruder ein [...] deutscher Spitzel sei. In einem Antrag an die deutschen Behörden auf Rückkehr aus der Internierung in Rumänien, der von dem Obersten der Polnischen Armee Antoni Lukas (vor dem Kriege wohnhaft in Warschau, ulica Narbutta 58) eingereicht wurde, schrieb dieser vom >Heimweh< nach der Hauptstadt geplagte Offizier von seinem Verständnis für die neue Ordnung in Europa und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den Deutschen. Ein bekannter polnischer Rechtsanwalt, der eine Mandantin wegen Totschlags des eigenen Bruders verteidigte, beantragte bei den deutschen Gerichten eine erneute Prüfung der Sache, die zuvor rechtskräftig von einem Gericht der Zweiten Republik entschieden worden war. In einem anderen Fall erheischte ein Mitarbeiter der Warschauer Straßenbahnbetriebe Gerechtigkeit bei den deutschen Behörden und legte Berufung gegen eine Entscheidung der polnischen Disziplinarkommission ein.« nowsze,
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322
Piotr
Majewski
Glücksspiele, Geldspenden für die Ausrüstung der Wehrmacht, provokative Verwendung der deutschen Sprache, »öffenthche Ausstellung und Küssen eines Porträts von Adolf Hitler«, Entsendung der Kinder in eine deutsche Schule, ungerechte Verteilung von Lebensmittelkarten, Denunzieren polnischer Arbeiter an die deutschen Behörden, Erzwingung von Fügsamkeit durch Androhung der Deportation in ein Lager, Teilnahme an Razzien und Straßendurchsuchungen, Melden von illegalen Schlachtungen, Berufung auf deutsche Blutsbande oder gesellschaftliche Beziehungen mit Deutschen, Bestechung, ÜberKampf
beinhaltete:
eifer und Mißbrauch beim Eintreiben von landwktschaftlichen Pflichtablieferungen, Verunglimpfung des Polnischen Staates, seiner Behörden und Symbole, Hilfeleistung beim Abtransport von Polen zur Arbeit im Reich, Überredung von Polen zur Eintragung in die Volkshste, Zusammenarbeit mit deutschen Propaganda-
organen66.
Besonders zu würdigen ist die Tätigkeit des Büros für Information und Propaganda (BIP) der Hauptkommandantur im Bereich des zivilen Kampfes67. In den Vordergrund der Aktivitäten des BIP rückten mehr und mehr die Propagandaund Erziehungsarbeit, die Wahrung von Gehorsam und Disziphn gegenüber den Anordnungen der polnischen Behörden, die Bekämpfung der feindhchen Propaganda und die Diversionstätigkeit beim Feind sowie zugleich die umfassende Information über die Tätigkeit der polnischen Behörden. Entsprechungen des zentralen BIP wirkten bei den einzelnen Bezkkskommandanturen. Außer dem bereits wiederholt genannten »Biuletyn Informacyjny«, der im Jahr 1944 eine Auflage von rund 42 000 Stück erreichte68, redigierte das BIP Meldungen der für die anderen konspkativen Zeitschriften bestimmten »Agencja Prasowa« (Presseagentur). Die örthchen BIP gaben eigene Schriften heraus69.
Ausbhck Die vorgestellten Konzeptionen und Formen des zivüen Kampfes blieben trotz ihrer Weiterentwicklung und Differenzierung in den Jahren der Okkupation grundsätzlich bis zum Jahr 1945 gültig. In einem schwer überprüfbaren Maße trugen sie dazu bei, der Demoralisierung entgegenzuwirken. Sie schränkten die Neigung bedeutender sozialer Gruppen zur Anpassung ein. Immer war der zivile Kampf als Vorbereitung für die »höchste« Form des Kampfes, den bewaffneten Aufstand, gedacht. Die Besatzungsreahtät und die Politik der Okkupanten führten jedoch dazu, daß er
zeitweise zur dominierenden Form des Widerstands wurde. Die Pflicht zur Führung des zivilen Kampfes oblag in unterschiedhchem Umfang allen Institutionen 66
67 68
69
Gondek, Polska karzaca (wie Anm. 51), S. 166 f. Mazur, Biuro Informacji (wie Anm. 1). Marek
Ney-Krwawicz, Armia Krajowa, Warszawa 1993, S. 121. Lewandowska, Prasa okupowanej Warszawy 1939-1945, Warszawa 1992; NeyKrwawicz, Armia Krajowa (wie Anm. 68), S. 125 f.; zur Untergrundpresse vgl. auch den Beitrag von Lars Jockheck im vorliegenden Sammelband. Stanislawa
Konzept und Organisation des »zivilen Kampfes«
323
Untergrundstaates. Auch die der deutschen Besatzungsmacht unterstehende, legale Administration besaß eigene konspirative Strukturen. Militärische Erhebungen konnten so auf eine breite gesellschaftliche Basis gestellt werden. Wie ist die Bedeutung des zivüen Kampfes einzuordnen? Auf diese Frage sollte
des Polnischen
mit Blick auf all die vielen »Kowalskis« (im Deutschen etwa die »Müllers und Meiers«) antworten, über die Tomasz Szarota in seiner vielfach zitierten Publikation »Okupowanej Warszawy dzien powszedni« (Der Alltag im besetzten Warschau) geschrieben hat. Die Tätigkeit des Polnischen Untergrundstaates richtete sich an eben diese »Kowalskis«, also an die passive, schwankende Mehrheit, von deren Unterstützung der Erfolg des allgemeinen Aufstandes und die zukünftige Gesellschaftsordnung des befreiten Staates entscheidend abhingen. Der Polnische Untergrundstaat mußte nicht die Aktivisten der Konspiration von bestimmten Haltungen überzeugen. Er ging vielmehr gegen kriminelle Randgruppen vor. In bezug auf die »Kowalskis« wandte er das erklärende Gespräch sowie reichlich praktizierte Repressalien an. Ein Mindesterfolg war erreicht, wenn die Adressaten passiv blieben. Weil sie die möglichen Konsequenzen kannten, konzentrierten sie sich lieber auf ihre Privatangelegenheiten und hielten sich zurück, wenn sie den Okkupanten gefälligem Handeln zuneigten. Für so manchen bedeutete diese Zurückhaltung das man
Überleben.
* * *
Piott Majewski, M.A., geb. 1971, Doktorand an der Universität Warschau; Kustos in der Historisch-archivalischen Abteilung im Königsschloß Warschau, pl. Zamkowy 4, 00-277 Warszawa. E-mail: [email protected].
Übersetzung aus dem Polnischen von Bernd Kurze, Wehrbereichsverwaltung Ost, Strausberg.
Janusz Marszalec Leben unter dem Terror der Besatzer und das Randverhalten von Soldaten der Armia Krajowa Der Wissenschaftler, der sich mit dem Verhalten der Soldaten im Widerstand während des Zweiten Weltkrieges beschäftigt, trifft auf zahkeiche Probleme methodologischer Art. Das erste Problem besteht im Fehlen einer breiten und reichhaltigen Quellenbasis. Die zweite Schwierigkeit erwächst aus der jahrelangen wissenschaftkchen Vernachlässigung des Verhaltens von Soldaten sowie soziologischer und psychologischer Prozesse der Kriegszeit. Dies ist drittens verbunden mit dem Mangel an geeigneten Methoden, derartig komplexe Sachverhalte zu beurteüen und zu bewerten. Unvermeidkch betritt der Historiker, der die dramatischen Entscheidungen der Beteiligten an der Konspkation von 1939 bis 1945 untersuchen möchte, den morastigen Boden morakscher Urteüe. Er kann häufig auch nicht
dem Vorwurf der Subjektivität entgehen. Teks scharfe Kritik richtet sich außer gegen die Historiker auch gegen Schriftsteller und Publizisten, für die der Krieg eine Quelle literarischer Inspkation ist. Es geht hier keineswegs nur um Schriften wie die zynischen und durch politische Einflußnahme verzerrten »Rojsty« von Tadeusz Konwicki1, sondern ebenso um Bücher wie das Anfang der neunziger Jahre populäre »Do piachu« (Bis in den Sand) von Tadeusz Rözewicz2. Der Schriftsteker zeigt auf wenigen Seiten das Drama eines jungen Partisanen »Walus«, der wegen Gewaltverbrechen verurteilt und von Kameraden hingerichtet wkd. Die Szene unterscheidet sich vokkommen von den bekannten romantischen Genres der Literatur. In Übereinstimmung mit den Kritikern Rözewicz', die ihm vorwarfen, die Partisanenwkkkchkeit mit Bkck auf den kterarischen Nutzen deformiert zu haben, muß man dem Autor dennoch Mut zuschreiben. Das Drama von »Walus« und denen, die ihn im Namen des polnischen Untergrundstaates exekutieren, handelt von einem zentralen Aspekt der Besatzungsrealität, über den sonst bis heute geschwiegen wkd. Dieser Beitrag soll das Randverhalten (zachowania marginalne)3 von Soldaten der Heimatarmee unter den Bedingungen der Besatzung zeigen. Bereits an dieser 1
2 3
Tadeusz Konwicki, Rojsty, 4. Aufl., Warszawa 1991 [Erstausgabe 1956]. Rojsty ist ein polonisiertes litauisches Wort und bedeutet »Sumpfgebiete«. Vgl. die Werkauswahl von Tadeusz Rözewicz, Teatr, Krakow 1988. Ganz bewußt gebrauche ich im folgenden den Ausdruck »Verhalten« und nicht den verbreiteten Begriff »Haltung« (postawa), der eine ganze Reihe von Verhaltensweisen umfaßt, die weltanschaulich motiviert sind.
Janusz Marszalec
326
Steüe sei darauf hingewiesen, daß es nicht möghch ist, die Quahtät des polnischen Widerstandes aufzuzeigen, ohne den Maßstab und die Eigenart des deutschen sowie des sowjetischen Terrors auf polnischem Boden zu kennen. Ausgangspunkt soü die Frage sein, welchen Einfluß die Brutalität des Krieges auf die Psyche des Soldaten hatte. Der AUtag der Jahre 1939 bis 1945 erzeugte Terror; Tod und brutale Gewalt waren aügegenwärtig. Der Terror schuf das Feld für rassische und nationale Unterdrückung. Zudem htt der einzelne unter der fehlenden Unterstützung durch Staat und Körperschaften. Der Krieg kompromittierte und zerstörte die Mechanismen der Rechtsprechung, er brachte Armut und Hunger, Hoffnungslosigkeit und schheßhch eine fundamentale Unsicherheit gegenüber der sich Polen nähernden Roten Armee, die gleichzeitig als Befreierin und neue Besatzungsmacht gesehen wurde. Die Okkupation war eine Zeit des morahschen Verfaüs von Teüen der polnischen Geseüschaft, geschuldet dem blutigen Terror von Deutschen und Angehörigen der sowjetischen Armee, die aüe morahschen sowie rechtlichen Prinzipien brachen. Zu den Heimsuchungen, welche die Städte, aber vor aüem die Dörfer trafen, gehörte die Bandenkriminaktät. Man sagt, daß in Warschau auf eine Aktion des Untergrunds mehrere bewaffnete Bandenangriffe kamen. Zu diesem dunklen Büd sollte man ein größeres als das bislang vermutete Ausmaß der Koüaboration polnischer Bürger mit dem deutschen System hinzufügen, vor aüem im Bereich »schmutziger« Wirtschaftsinteressen. Besonders häufig waren auch Fäüe, in denen Polen mit deutschen Behörden zusammenarbeiteten und beispielsweise alte Rechnungen, die sie mit ihren Nachbarn zu begleichen hatten, nun mit Hufe der Besatzungsmacht einlösten4. Derartige Ereignisse sind kaum zu quantifizieren, die vorhandenen Daten beziehen sich meist auf die Stadt Warschau. Ein Bericht der Delegatur der Regierung (DR) aus dem Jahr 1942 macht deutlich, daß das »Warschau, das sich amüsiert, laviert, kleinen Geschäftchen mit den Besatzern nachgeht, im Casino spielt, Unsinn treibt, vorkriegsmäßig ißt, Geld in Mengen zum Fenster hinauswkft und das Ende des Krieges nicht herbeisehnt«, ledighch fünf Prozent der Gesamtheit der Einwohner ausmachte. Anderen Queüen zufolge soüen »Unregelmäßigkeiten jeghcher Art« etwa zehn Prozent der Bevölkerung betroffen haben5. Im AUtagsleben gab es etwas, das dem einzelnen und der Gesellschaft erlaubte, die Besatzungszeit mit Würde zu überstehen: an erster Steüe rehgiöse Werte sowie den humanitären Glauben an den Sieg über das Böse. Beides bildete das Fundament des Untergrundstaates, aus ihnen bezogen seine Angehörigen die notwendige Kraft. Im Bereich der inneren Sicherheit war dieser Staat, dessen politische Führung im Exü lebte, aber weder in der Lage, seine Bürger gegen den Terror zu schützen, noch die Geißel des Bandenunwesens wkksam zu bekämpfen6. Die polnische Geseüschaft erfuhr häufig auch keine reale und ständige Unterstützung 4
3 6
In erheblichem Ausmaß betraf die Zusammenarbeit mit den sowjetischen Behörden die jüdische, weißrussische und ukrainische Bevölkerungsgruppe. Der Anteil von Kommunisten polnischer Nationalität im Staatsapparat war demgegenüber unerheblich. Warszawy dzieñ powszedni, Warszawa 1988, S. 541 544. Vgl. Tomasz Szarota, Hier geht es in erster Linie um das Staatliche Sicherheitskorps (PKB), die der Delegatur der Regierung unterstehende Geheimpolizei.
Okupowanej
-
Leben
unter
dem Terror der Besatzer
durch die staatlichen Behörden, betreffend etwa die Untergrundschulen, die einem kleinen Teil der Kinder und Jugendlichen genutzt werden konnten. Die Eliten, die sich hinter Decknamen verbargen, bezogen ihre Autorität
327 nur
von
aus
einer allgemeinen Unterstützung der Idee eines freien Polens sowie aus der Legitimität der Anordnungen des Untergrundstaates. Die Basis für die Moral der Menschen bildeten zwei zentrale Anweisungen: der »Kodex der staatsbürgerlichen Moral« und der »Kodex des Polen«. Nach Tomasz Strzembosz blieb Polen vor allem dank dieser Untergrundkodices und der Arbeit des Justizwesens das erspart, was sich in anderen besetzten Ländern ereignete nämlich ein dramatischer Verlust der Fähigkeit, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden, zwischen richtigem und verwerflichem Handeln7. In Polen bestraften Gerichte den Verrat mit dem Tod. Die führende Rolle hierbei übernahmen militärische und zivile Sondergerichte, die der polnischen Exilregierung in London unterstanden. Die Gerichte des zivüen Kampfes (später Untergrundgerichte) urteilten über weniger schwere Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten. Sie fällten keine Todesurteile und arbeiteten hauptsächlich mit moralischen Mitteln wie Verweis, Tadel oder Anprangerung in der Untergrundpresse. Dies waren sehr verletzende Strafen, insbesondere unter Angehörigen der Intelligenz. Frauen, die sich in Begleitung von Deutschen zeigten, wurden durch das Rasieren des Kopfes erniedrigt. Sogar die, die sich nicht mit dem Untergrundstaat identifizierten und dessen Existenz ignorierten, fürchteten den langen Arm des Gesetzes, was außergewöhnlich wichtig für die moralische Konstitution der Gesamtgesellschaft war8. An dieser Stelle stellt sich die Frage nach der moralischen Verfassung der Soldaten im Untergrund und später der aufständischen Armee, die während der »Operation Burza« den offenen Kampf aufnahmen9. Junge Widerstandskämpfer und Aufständische waren Teil der Gesellschaft und unterlagen somit auch denselben Einflüssen, hervorgerufen durch die Bedingungen des Krieges. Es scheint, als seien Kriegsteilnehmer, die mit der Waffe in der Hand dem Terror gegenüberstanden, einer schnelleren und tiefergehenden Demoralisierung ausgesetzt gewesen als Nicht-Kombattanten. Der militärische Führer und Erzieher Tadeusz Zawadzki »Zoska« beispielsweise notierte in seinem Tagebuch, die Soldaten der Diversion benötigten mehr Erziehungsarbeit als irgend jemand sonst1". Tomasz Strzembosz analysierte die psychologischen und soziologischen Prozesse in den Städten und schloß seinen bahnbrechenden Aufsatz wie folgt: -
»Neben der psychischen Abnutzung und der physischen Überforderung |unter den Soldaten des bewaffneten Kampfes, J.M.] gab es eine Verminderung des ethischen Urteilsvermögens. Der Kampf, der unter den Bedingungen des Partisanenkriegs in den Städten geführt wurde, bedrohte die jungen Kriegsteilnehmer mit dem Verlust der Moral, vor dem sie nur ein festgefugtes Wertesystem und das strenge Respektieren der Gesetze
Tomasz
Strzembosz, Rzeczpospolita podziemna. Spoleczeñstwo polskie a pañstwo podziemne 1939-1945, Warszawa 2000, S. 216; vgl. auch den Beitrag von Piotr Majewski im voriiegenden
Sammelband. 8 9
10
Vgl. ebd. Vgl. hierzu den Aufsatz von Grzegorz Mazur in diesem Sammelband. Anna
Borkiewicz-Celiñska, Bataüon »Zoska«, Warszawa 1990, S.
465.
328
Janusz Marszalec
und moralischer Prinzipien bewahren konnten. Nur ein kleiner Schritt trennte das Töten der Feinde der Heimat vom blutigen Begleichen persönlicher Rechnungen. Der Geldbeschaffung für die Organisation war die Suche nach dem eigenen materiellen Nutzen sehr nahe, insbesondere dann, wenn der Betreffende unterernährt und schlecht gekleidet war. Handstreiche und Hinterhalte, deren Ablauf äußerlich an die aus Filmen bekannten >Gangsterüberfälle< erinnerte, konnten sich stets in gewöhnliches Banditentum verwandeln, und in einigen Gebieten wurde diese Bedrohung tatsächlich zur Realität. Dieser Sachverhalt war bei allen im Untergrund agierenden Gruppierungen bekannt und mußte den schärfsten Widerstand der militärischen Führung hervorrufen. Diese bestrafte Soldaten des bewaffneten Kampfes, die ihre Kompetenzen überschritten oder wiederholt Verbrechen begangen hatten, mit dem Tod. Im Verhältnis zur Anzahl der Gruppen war das jedoch eine Randerscheinung, und man muß feststellen, daß das Gros der Kämpfer bis zum Schluß eine moralische Haltung bewahrte, die höchsten Respekt verdient11.« Diese Einschätzung trifft auch auf die Gruppen der Heimatarmee in den Wäldern zu, obwohl jene eine ganz und gar andere Art des Einsatzes praktizierten als die
Angehörigen des städtischen Untergrundes. Sie führten einen offenen Kampf und wandten dabei typische Partisanenmethoden an, die den überlegenen Gegner überraschen soüten. Im Vergleich zu den Städten gab es bedeutend weniger moralische Extremsitoationen wie die Liquidierung von Frauen oder unbewaffneten Menschen. Freilich ereigneten sich überaü blutige Vergeltungsaktionen. Im Wald war der Befehlshaber der einzige Wächter über die Disziphn. Unter den Bedingungen des abgesetzten Kampfes und bei schlechten Verbindungen zur übergeordneten Führung war dieser im Grunde die einzige Autorität und letzte Instanz, die über sämtliche disziplinarischen (und morahschen) Fragen entschied. Er exekutierte auch die Urteüe der müitärischen Sondergerichte. War eine schneüe und entschlossene Entscheidung (bei Vergewaltigungen, Beschlagnahmungen) notwendig, führte er eine solche mitunter durch ein von ihm kurzfristig einberufenes Feldgericht herbei. In größeren Partisanengruppierungen verfolgte die Feldgendarmerie (zandarmeria polowa) Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten der Heimatarmee-Soldaten. So waren während der 63 Tage des Warschauer Aufstandes sieben Züge der Feldgendarmerie im Einsatz. Im Gegensatz zu disziplinarischen Vergehen (z.B. verspätete Rückkehr aus dem Urlaub oder übermäßiger Alkoholgenuß), bei denen die Befehlshaber ein großes Maß an Toleranz zeigten, wurden Verbrechen streng bestraft, während des Warschauer Aufstandes etwa für widerrechtliche Beschlagnahmungen oder Diebstahl Todesurteüe verhängt. Vollkommen anders ging es bei kaum überwachten Partisanentrupps kleinerer politischer Gruppierungen zu, die aus Juden oder sowjetischen Flüchtlingen aus den Gefangenenlagern bestanden. Diese Gruppierungen, die nicht mit den Strukturen des Untergrundes verbunden waren
und sich auch nicht auf famihäre oder nachbarliche Kontakte stützen
konnten, paßten sich dem brutalen Rhythmus des Krieges an und raubten rücksichtslos, um in einem ihnen fremden Gebiet überleben zu können. Tomasz Strzembosz, Spoleczne i psychologiczne problemy zolnierzy warszawskiej dywersji, in: Rocznik Warszawski 1976, Bd 14, S. 268; Wiederabdruck in ders., Oddzialy szturmowe konspiracyjnej Warszawy, 2. Aufl., Warszawa 1983, S. 456 f.
Leben unter dem Terror der Besatzer
329
die Frage nach der Moral der Heimatarmee-Soldaten zu beantworten, muß man die ideologische Disposition der Gruppierungen berücksichtigen, die vor akem aus jungen Menschen bestanden. Bei der Analyse ihrer Mentalität sollte nicht vergessen werden, daß es sich um eine Armee von Freiwilligen und Aufständischen handelte, die niemals ein typisches Garnisonsleben geführt hatten. Obwohl die Armia Krajowa bunt zusammengewürfelte Uniformen trug, waren ihre Angehörigen doch hochmotiviert und in ihren Handlungen gleichermaßen eigenständig wie rational. Trotz der Allgegenwart von Blut und Tod zeigten sich kaum Abstumpfungserscheinungen. Dies beweisen Berichte von Personen, die an Liquidierungen teknahmen. Zusammenhalt und Gruppenideologie sowie die Erziehungsarbeit des Befehlshabers hemmten die Demoralisierungsprozesse. Waldtrupps und Gruppen des bewaffneten Widerstandes bildeten schkeßkch gemeinsame Verbände, um die physische und seeksche Durchhaltekraft zu stärken. Ihre Mitglieder unterstützten sich gegenseitig und halfen sich über schwierige Zeiten hinweg. Opferbereitschaft, Uneigennützigkeit und Patriotismus kennzeichneten sie. Die Heimatarmee widersetzte sich in ihrer Masse der Demoralisierung, obwohl einzelne Angehörige schwere Verbrechen begingen. Es scheint, daß sich hier jahrelange Erziehung durch Famike und Staat auswirkte, außerdem die Schaffung einer ideologischen Einheit, die sich auf eine solide staatsbürgerkche und patriotische Basis stützen konnte. Was die Einsatzbereitschaft oder die Moral der Trupps betrifft, zählten die Pfadfinder zu den am meisten geschätzten. Die militärische Führung setzte sie nicht nur im Rahmen größerer militärischer Aktionen, sondern auch für Liquidierungen ein. Die Tatsache, daß diese Elite die »schmutzige Arbeit« durchführen mußte, war kein Zufak. Die Organisatoren des Untergrundstaates begriffen sehr schnell, daß nur moraksch gefestigte Soldaten in der Lage waren, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wenn
man
versucht,
Am Rande der Legende Der Nachholbedarf der Forschung, was die Handlungen und die Moral der Soldaten im Widerstand und hier insbesondere deren »dunkle Seiten« anbetrifft, bemißt sich in Jahrzehnten. Marxistische Historiker beschränkten sich auf positivisti-
Grundlagenforschung zu Struktur und Erfolgsbkanz des Untergrunds und verunglimpften dabei das Verhalten der Heimatarmee-Soldaten. Den Durchbruch brachten erst die vergangenen drei Jahre, als grundlegende Aufsätze von Piotr Niwitiski, Ryszard Smietanka-Kruszelnicki und Rafal Wnuk erschienen, die für die Zeit nach 1944 das Problem des »Bandenunwesens« im unabhängigen Untergrund sche
Janusz Marszalec
330
behandelten12. Über die Soldaten des antideutschen Widerstandes während des Warschauer Aufstands handelt mein Buch aus dem Jahre 199913. Unter den literarischen Arbeiten zum Thema, von denen uns lange Zeit dringend »abgeraten« wurde (so seinerzeit jedenfaüs der polnische Dichter und Nobelpreisträger Czeslaw Milosz), soüte man zumindest den wegweisenden Aufsatz »Gesellschaftspathologien aus der Zeit der Hider-Besatzung« von Stanislaw Salmonowicz erwähnen14. Dieser Schriftsteüer, der das komphzierte Büd gesellschaftlicher Einstellungen skizziert, fordert nicht weniger als einen aügemeinen Paradigmenwechsel von der Ereignisgeschichte hin zu einer Historiographie der Mentalitäten. Im Zeitraum
1943/44 büdete sich der Untergrund struktureü und ideologisch heraus und führte den aktiven Kampf gegen den Feind. Bei der folgenden Skizze zur Kontroverse um negative Haltungen und Einstellungen innerhalb des Widerstandes, hier vor aüem der Heimatarmee, konzentriere ich mich auf den antideutschen Widerstand, der erhebhch besser dokumentiert ist als das Vorgehen gegen die sowjetische Okkupation zwischen 1939 und 1941. Bezüghch der Vorgänge nach 1944, als die Jagd der sowjetischen Sicherheitsdienste auf Menschen begann, die mit der Heimatarmee und dem Untergrund in Verbindung standen, sei auf die oben genannten Publikationen in polnischer Sprache verwiesen. Um den Unterschied deutlich zu machen, möchte ich hinzufügen, daß die Umgestaltung der antideutschen Konspkation in eine antisowjetische von einer großen psychischen Krise begleitet war. Sie war verbunden mit dem Wegfallen des übergeordneten Entscheidungszentrums (Auflösung der Heimatarmee im Januar 1945 sowie der Behörden des Untergrundstaates im Juh 1945), der Müdigkeit der Menschen, die viele Jahre im Untergrund verbracht hatten, und damit zusammenhängend mit dem Verlangen, endhch wieder ein normales Leben zu führen. Jene, die in den Wäldern gebheben waren und dort auf ein Zeichen warteten, in einen Existenzkampf für die Freiheit zu ziehen, oder jene, die sich vor den brutalen Aktionen der Sowjets und »polnischer« Sicherheitsorgane dorthin gerettet hatten, unterlagen noch in weit stärkerem Maße der Demoralisierung als in der Zeit des Kampfes gegen die Deutschen. Deswegen kann man besonders für die Nachkriegszeit vom Problem der »Bandenkriminahtät« (bandytyzm) sprechen. Ich benutze absichtkch nicht den Ausdruck »Bandenunwesen« (bandycenie sic) von Niwiñski und Smietanka-Kruszelnicki, welcher einen allgemeinen, andauernden und unveränderlichen Zustand beschreibt. Meiner Ansicht nach war dem nicht so. Die Demoralisierung —
—
Niwiñski, Problem »bandycenia sic« czlonków konspiracji na przykladzie wybranych StrukOkregu AK Wilno 1944-1948, in: Polska walka, opozycja, niepodleglosc, Sandomierz 2000, S. 143- 153; Ryszard Smietanka-Kruszelnicki, Problem »bandycenia sic« podziemia na przykladzie Kielecczyzny, in: Polska 1944/45-1989. Studia i Materialy, Bd 4, Warszawa 1999, S. 61-70; Rafal Wnuk, Problem bandytyzmu wsród zolnierzy antykomunistycznego podziemia w Polsce (1944-1947), in: Komunizm, ideología, system, ludzie, hrsg. von Tomasz Szarota, Warszawa Piotr tur
2001, S. 67-79.
Janusz Marszalec,
Ochrona porz^dku i bezpieczeñstwa publicznego w powstaniu warszawskim, Warszawa 1999. Stanislaw Salmonowicz, Patologie spoleczne okresu okupacji hiderowskiej, in: Czasy Nowozytne, 2(1997), 3, S. 21-36.
Leben
unter
dem Terror der Besatzer
3.31
betraf einzelne und Gruppen, aber nicht ganze Verbände. Historikern und Zeitzeugen erscheinen diese Jahre nach 1945 sogar noch viel komplizierter und undurchsichtiger als die Kriegszeit15. Von zentralem Erkenntnisinteresse sind häufig vorkommende Verbrechen wie Bandenkriminalität, illegale Beschlagnahmungen, Hinrichtungen und die Selbstjustiz sowie Vergeltungsaktionen an der Zivilbevölkerung. Die Konsequenzen des Komorowski-Befehls vom 15. April 1943 sowie vieler, von diesem unabhängiger Befehle einzelner Kommandeure zum Kampf gegen »Banden« sind ein zentrales Forschungsdesiderat. Sie führten zur Liquidierung von Hunderten Personen, die man für das »Bandenunwesen« verantwortlich machte, häufig verbunden mit dem Vorgehen gegen sowjetische, polnische kommunistische und jüdische Partisanen-
gruppen16.
In diesem Artikel werde ich mich nicht mit den geheimen Verhandlungen beschäftigen, die in Wilna und Nowogródek zwischen der Armia Krajowa und den Deutschen geführt wurden. Diese sind ein Beweis für den Pragmatismus der Befehlshaber und kein Zeugnis für den Willen zur Kollaboration mit dem Feind. Die Gespräche wurden auf Befehl der Hauptkommandantur im März 1944 abgebrochen. Dennoch erlaubten die getroffenen Vereinbarungen eine Zeidang, den Konflikt mit den sowjetischen Partisanen durchzustehen, und ermöglichten zahlreichen Angehörigen der Heimatarmee, sich vor der unaufhaltsam vorrückenden Roten Armee nach Westen in Sicherheit zu bringen. Auf diese Weise bewahrten die Befehlshaber Hunderte von Soldaten vor dem Tod und der Deportation nach Sibirien17. Die genannten Ereignisse waren keine Sonderfalle, sondern Lösungsansätze für den voraussehbaren Konflikt mit einer neuen Besatzungsmacht. Die Entscheidungen der militärischen Führer sollte man nicht einfach als unehrenhaft für einen polnischen Offizier abtun. Vergleichbare Gespräche und »Beziehungen« mit den 15
Als
Beleg mag die große gesellschaftliche Kontroverse um den »ausgestoßenen Soldaten« dienen den antikommunistischen Partisanen des Widerstandes nach 1944. Ohne Verbindung zum kommunistischen Regime war er der Brutalität sowie der Entfesselung eines Bürgerkriegs angeklagt. Die damals erhobenen Beschuldigungen haben bis heute ihre Wirksamkeit behalten und dies trotz entsprechender Gerichtsurteile der neunziger Jahre, welche die Entscheidungen stalinistischer Gerichte, die Soldaten des unabhängigen Untergrundes betreffend, als gegenstandslos um
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und widerrechtlich einstuften. Schärfste Kritik bei den früheren Helfern des kommunistischen Aufbaus in Polen rief beispielsweise eine Fotoausstellung des Instituts des Nationalen Gedenkens (IPN) über Major Zygmunt Szendzielarz »Lupaszka« hervor. Die Kritiker »Lupaszkas« beteten geradezu die Lügen der PRL-Propaganda nach. Vgl. zahlreiche Leserbriefe an die Redaktion der »Gazeta Pomorska« vom Januar 2002. Gegen die Benennung einer Straße in Gdansk nach »Lupaszka« protestierte 1993 selbst der damalige stellvertretende Wojewodschaftsvorsitzende, der einem nichtkommunistischen Milieu entstammte. Der Plan fand seine Realisierung erst 2001 (vgl. J. Borzyszkowski, Pisma Gdañskiego Srodowiska Zolnierzy AK Okrçgu Wileñskiego do Prze16
17
wodniczacego Rady Miasta Gdañska, 25.3.1993. Kopie im Besitz des Verfassers). Vgl. Befehl von General »Bór« vom 31.8.1943, in: Armia Krajowa w dokumentach 1939-1945 |im weiteren AKWD], Bd 3, Wroclaw, Krakow 1990, S. 92, wo es heißt: »befehle ich die Bekämpfung der Räuberbanden, die unsere Bevölkerung ausrotten, ohne Ansehen ihrer Nationalität und ihrer Bezeichnung«; vgl. ebenso Depesche vom 14.10.1943, in: ebd., S. 156 f. Tomasz Karwat, Zgrupowanie Stolpeckie AK w okresie czerwiec 1943-lipiec 1944, Lublin 1994, unveröff.
Magisterarbeit an der Katholischen Universität Lublin.
Janusz Marszalec
332
Deutschen führten bzw. unterhielten auch die Nationalen Streitkräfte (NSZ) in den Zentealbezkken des Landes. Und auch hier, entgegen der kommunistischen Propaganda, bedeuteten sie nicht das Überlaufen auf die Seite des Feindes, sondern waren ein Mittel zum Zweck: sie dienten der Rettung von Menschenleben. Als Beispiel soll die Person Wladyslaw Kolacitiskis »Zbik« dienen, PartisanenBefehlshaber aus der Region um Kielce, dem es durch Vereinbarung eines temporären Waffenstikstandes mit den Deutschen gelang, Polen aus den Händen der Gestapo zu befreien. In der Historiographie der Volksrepublik wurden die Strukturen und Entscheidungsträger der Heimatarmee und insbesondere ihr Aufklärungsapparat ausschkeßlich negativ dargestellt. Die Arbeit des Nachrichtendienstes im Untergrund gegen die Behörden eines fremden Landes und solche waren sowohl die Polnische Arbeiterpartei (PPR) als auch ihre bewaffneten Formationen Volksgarde (GL) und Volksarmee (AL) ist jedoch kein Makel, sondern vielmehr ein Beweis von Umsicht der Führung des Untergrundstaates. Schließlich sei darauf verwiesen, daß sich die Tätigkeit des polnischen Sicherheitsdienstes nicht ausschließlich und in jener Form auf die Bekämpfung der Kommunisten konzentrierte, wie dies später die marxistische Historiographie darstellte. Die Heimatarmee bediente sich weder des Mittels der Provokation, um die kommunistischen Strukturen zu schädigen, noch übergab sie Mitglieder der Polnischen Arbeiterpartei an die Gestapo. Liquidierungen sowjetischer Spitzel, die innerhalb der Heimatarmee enttarnt wurden, sind hingegen bekannt18. Krieg und Terror beeinflußten die Psyche der Widerstandskämpfer. Verschwiegen werden dürfen jedoch auch nicht die für reguläre Armeen so typischen Phänomene wie Desertion, Alkoholmißbrauch und Geheimnisverrat. Dabei kamen Desertionen am seltensten vor. Bei den Soldaten im Widerstand handelte es sich um Freiwklige, die bereit waren, notfalls große Opfer zu bringen. Die Mißachtung von Vorschriften und auch ernstere Verstöße muß man hingegen als bei allen Widerstandsgruppen akgemein verbreitet akzeptieren. Dies bedeutet keinesfalls, daß sie aktägkch waren; derartige Vorfäke riefen allerdings stets Verunsicherung und Verbitterung bei der Zivilbevölkerung hervor, so beispielsweise während des Warschauer Aufstandes 1944. Bei der Beurtekung der zumeist jungen und jugendlichen Teilnehmer am Kampf gegen die Besatzer sollte man sich nicht die Perspektive der Gegenwart zu eigen machen, sondern die der Moral nicht eben förderlichen Rahmenbedingungen des Totalen Krieges berücksichtigen; die angesprochenen Randerscheinungen werden dann verständlicher. Unabdingbar ist auch die Kenntnis der Besatzungsrealität unter den Sowjets und später den Deutschen. Ungeeignet ist jedoch ein Vergleich der Widerstandsbewegungen in den westeuropäischen Ländern mit dem —
—
Etwa Edward Gola und Edward Metzger, Offiziere der polnischen Streitkräfte, die ein Untergrundgericht wegen Spionage für die Sowjetunion zum Tode verurteilte; vgl. Robert Bielecki und Juliusz Kulesza, Przeciw konfldentom i czolgom, Warszawa 1996, S. 27-29. Pawel Lisiewicz, Wimieniu Polski Podziemnej, Warszawa 1988, S. 225, glaubt nachweisen zu können, daß es sich um
ein Fehlurteil handelte.
Leben
unter
dem Terror der Besatzer
333
polnischen Untergrund. Das Erscheinungsbüd der Heimatarmee sowie die von ihr verkörperte Form der Konspkation hatten mit jener im Westen praktizierten nur wenig gemeinsam. Die Mehrzahl der Teünehmer am Untergrundkampf waren von großem Patriotismus und Ideahsmus durchdrungen. Erst in zweiter Linie treten weniger ruhmreiche Aspekte für die Motivation junger Widerstandskämpfer hinzu: Abenteuerlust und das Verlangen nach extremen Erfahrungen. Es ist schwer zu beurteüen, welchen Platz beispielsweise das Gefühl der Rache einnimmt, das sicherhch
dem schnelleren Aufbau der Strukturen des Widerstandes diente und seine Wkksamkeit erhöhte. Es scheint jedoch, als dürfte man Rachegefühle, wkksam im Sinne eines Katalysators, nicht überschätzen. Denn schon zu Beginn der deutschen Besatzungszeit, als der Terror noch nicht massiv und systematisch war, kam es zur Büdung zahkeicher Organisationen, die den Kampf für eine Wiedererrichtung des polnischen Staates führten. Gleichwohl war die persönhche Rache eine deutkche Motivation für Soldaten im Widerstand. Dies sieht man am Beispiel jüdischer Partisanen, die sich freiwillig meldeten, um Todesurteüe zu voüsttecken. Zum Abschluß meiner Eingangsüberlegungen bediene ich mich der ein wenig abgewandelten Argumentation von Anna Pawelczyñska, die das Verhalten von Häftlingen in Konzentrationslagern analysierte19. Bewertungen der Moral von Soldaten des Widerstandes sind dann begründet, wenn wk sie in Bezug setzen zu jenen Normen, die unter den Bedingungen von Besatzung und Aufstand Bestand hatten und sich unter diesen Umständen auch als zentral erwiesen. Dies ging jedoch vielfach einher mit der Relativierung der allgemein anerkannten Werte sowie einer Vermischung von Gut und Böse, zwischen denen vor aüem junge Menschen nicht mehr eindeutig unterscheiden konnten20. Eine zusammenfassende Darsteüung des Verhaltens und der Probleme, die mit den Erlebnissen der Widerstandskämpfer verbunden waren, übersteigt die Möglichkeiten des Historikers. Dieses Thema bedarf zudem genauerer und detaillierterer Untersuchungen. Zahkeiche Einzelaspekte, die aus Spezialstodien oder aügemeinen Abhandlungen bekannt sind, müssen noch überprüft werden. Man soüte aber schon heute den Versuch wagen, zumindest die Grundprobleme aufzuzeigen. Die »gewöhnhche« Kriminalität Der Prozeß der
Demoralisierung, der zur Bandenkriminalität führte, ist charakteristisch für Einzelpersonen oder Gruppen, jedoch niemals für geschlossene Verbände des unabhängigen Widerstands. Robert Bielecki und Juhusz Kulesza schrieben, daß die Geschichte der Diversionsabteüungen durchaus Vorfäüe kenne, wo
die Diszipkn gebrochen wurde. Ihre Untersuchungen warfen einen Schatten auf Hunderte Soldaten21. Am häufigsten kamen Ausschreitungen vor wie Requkierun19 2(1
21
Anna Pawelczyñska, Wartosci a przemoc, Warszawa 1995, S. Vgl. Wnuk, Problem bandyryzmu (wie Anm. 12), S. 68.
131.
Vgl. Bielecki/Kulesza, Przeciw konfidentom (wie Anm. 18), S 25.
Janusz Marszalec
334
gen von Lebensmitteln, Diebstahl, Schlägereien und sporadische Vergewaltigungen. Bewaffnete Raubüberfäüe sind für zahkeiche Abteüungen der Heimatarmee, der Bauernbataülone (BCh), der NSZ und der Volksarmee bekannt. Verurteüte Soldaten wurden geprügelt und im Faüe eines Kapitalverbrechens nach kurzem Prozeß (mitunter auch ohne Prozeß) auf der Steüe hingerichtet, häufig vor den Augen der betroffenen Bauern. Nur rasches und rücksichtsloses Durchgreifen der lokalen Kommandeure ermöglichte es, die Unterstützung der Dorfbewohner zu sichern, die unentbehrlich war für das Durchhalten des Partisanenkampfes. Daß erzieherische Maßnahmen in einigen Fähen zur Resozialisierung der demoralisierten Personen führten, macht Rafal Wnuk am Beispiel der in die Heimatarmee integrierten Bandengruppe von Jan Kedra »Blyskawica« deutlich. Einige Mitglieder dieser Gruppe hatten sich im Verlauf der geschüderten Kämpfe in zuverlässige Soldaten verwandelt. Andererseits sind die von Wnuk analysierten Vorgänge auch ein Beispiel für typisch pathologische Verhaltensweisen des Untergrundes. Ein Soldat, der in Konflikt zu seinem Kommandeur oder den Untergrundgerichten geriet, wechselte häufig einfach die Formation (in diesem Vorfaü zu den Bauernbataiüonen), um dann möglicherweise nach dem Krieg Karriere in den Organisationen Volkspolens zu machen22. Es scheint, daß innerhalb der Städte etwas andere Kximinalitätsmuster anzutreffen waren, hauptsächhch aufgrund anderer Formen des Widerstandskampfes. Aber auch dort, ähnhch wie innerhalb der Gruppen in den Wäldern, waren es patriotische aber demoralisierte Einheiten, die entsprechende Verhaltensweisen an den Tag legten. Es kam zu Diebstählen in den Häusern getöteter Personen, zu Überfäüen auf Volksdeutsche mit Hufe der Dienstwaffe sowie immer wieder zu aüen möglichen Formen von Bereicherung und Mißbrauch, meist ohne daß die Kommandeure davon wußten. Schheßhch gab es nicht wenige Personen, die quasi an der Peripherie der Organisation Dienste als nützhche Informanten und Unterhändler verrichteten und dabei auch »schmutzige Arbeit« übernahmen. Ein Beispiel für diesen Typus ist Czeslaw Mekiñski »Kapitän Gryf Pomorski«, der vor dem Warschauer Aufstand ein geschätzter und fähiger Mitarbeiter der Gegenspionage des Warschauer Bezkks der Heimatarmee war. Im ersten Aufstandsmonat erlangte eine von ihm geführte Truppe demorahsierter Jugendhcher traurige Berühmtheit. Mekiñskis Männer, die damals formeü zur Heimatarmee eingezogen worden waren, verhafteten »Volksdeutsche«, folterten sie und forderten Lösegeld. Die Vorfäüe wurden bekannt und die 18 Mann starke Truppe Mekiñskis von der Gendarmerie festgenommen, fünf Männer und Mekiñski selbst nach kurzem Prozeß erschossen. In Anbetracht der Schwere der Vorwürfe lehnte der Warschauer Bezkkskommandant der Heimatarmee ein Gnadengesuch ab und bestätigte das Todesurteü selbst für den jüngsten (und am stärksten belasteten) 18jährigen Angeklagten »Madzia«23. Ein anderes aufschlußreiches Beispiel für die Demoralisierung junger mutiger Menschen ist der Fall von Andrzej Poplawski »Sudeczko«. Poplawski war zu—
—
Vgl. Wnuk, Problem bandytyzmu (wie Anm. 12), S. 69 f. Marszalec, Ochrona porzadku (wie Anm. 13), S. 140 f.; Klarname von »Madzia« unbekannt.
Leben unter dem Terror der Besatzer
335
nächst Soldat der Spionageabwehr des Warschauer Bezirks der Heimatarmee, rekrutierte später jedoch einen eigenen Trupp und begann damit, bewaffnete Überfälle durchzuführen. Die ganze Zeit über blieb er jedoch in Kontakt mit Personen, die verschiedenen Widerstandsorganisationen angehörten, und erledigte für sie »schmutzige Arbeit«. Es waren die Leute von »Sudeczko«, die Ludwik Widerszal und Jerzy Makowiecki ermordeten, hierauf wird im folgenden noch einzugehen sein. Der Tod Poplawskis war ebenso tragisch wie sein Leben. Er wurde von eigenen Leuten im Juli 1944 getötet. Die Mitglieder seiner Gruppe nahmen am Warschauer Aufstand in den Reihen von Spezialtrupps teil, deren Vorgesetzter, Wincenty Kwieciriski »D-3«, Chef der Spionageabwehr des Bezirks war24. Der Fall Poplawskis ist ein weiterer Beweis dafür, daß sogar demoralisierte Einheiten, die in funktionierende organisatorische Strukturen eingebunden waren und von der übergeordneten Führung überwacht wurden, zu wertvollen Soldaten der Untergrund-Armee werden konnten. Diese These bestätigt ebenfalls die Biographie von Tadeusz Towarnicki »De Vran«, »Naprawa«, einem der mutigsten Widerstandskämpfer. Towarnicki wurde zum ersten Mal verhaftet, als er mit einer Gruppe von zwölf Soldaten auf eigene Faust ohne sich dem Bund für den bewaffneten Kampf (ZWZ) unterzuordnen einen Handstreich ganz im Stil der ehemaligen Steeifgruppen (zagoñczyki) durchführte. Sein privater Partisanenkampf wurde als bewaffnete Bandenaktion eingestuft. Das Untergrundgericht, dem er vorgeführt wurde, berücksichtigte jedoch die patriotische Motivation Towarnickis und stellte die Untersuchung ein. Das zweite Mal beschäftigte sich das Gericht mit ihm, als er einen Teü des Geldes, das er im Verlauf eines nicht genehmigten Überfalls auf das Kaufhaus Meinl in Warschau entwendet hatte, unter seinen Kameraden verteilte. Der Bezirkskommandant hob zwei Todesurteile wieder auf, die gegen Towarnicki verhängt worden waren. »Naprawas« Verdienste im Kampf überwogen in diesem Fall erneut die Konsequenzen der Tat25. Der tapfere Soldat fiel als Held am ersten Tag des Warschauer Aufstands. Seine Handlungen legen moralische Normen offen, die dazu führten, daß er sich für die einfachsten Lösungen entschied: als es kein Geld für die Erhaltung der Soldaten gab, nahm er es sich von den Deutschen, auch gegen den Willen der —
—
übergeordneten Führung.
An dieser Stelle wird die Problematik der
Mittelbeschaffung überdeutlich, die sie nicht überleben konnte. Es sind neben den bereits erwähnten Taten »Sudeczkos« weitere, noch weitaus fragwürdigere Beispiele für das Ausnutzen dieser Notwendigkeit bekannt, und immer wieder behaupteten die Täter, Geld für Organisationen des Widerstands auftreiben zu müssen. Die Führung der Heimatarmee bekämpfte solche »wilden« Methoden freilich mit aller Entschiedenheit. so
notwendig war, daß der Untergrund ohne
Anna Rószkiewicz-Litwinowiczowa, Trudne decyzje. Kontrwywiad Okregu Warszawa AK 1943-1944. Wiçzienie 1949-1954, Warszawa 1991,S. 81. Wladyslaw Sieroszewski, Przyczynek do historii wojskowych sadów specjalnych, Warszawa 1974, Typoskript, Archiwum Wojskowego Instytatu Historycznego [im weiteren AWIH|, Rembertów, 111/50/66, S. 44; vgl. auch Bielecki/Kulesza, Przeciw konfidentom (wie Anm. 18), S. 25.
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336
Illegale Beschlagnahmungen Armeen unter den Bedingungen des Krieges In der Situation des Partisanenkrieges waren sie eine conditio sine qua non für die Durchhaltefähigkeit der Untergrundarmee. Tatsache ist jedoch, daß die Realitäten des Krieges den Mißbrauch förderten, verübt im Kampf für die Unabhängigkeit. Es ist schwierig das Problem zusammenfassend darzustellen und zu bewerten. Ich möchte aber die These wagen, daß der Vorwurf des Mißbrauchs die Mehrheit, wenn nicht sogar alle Partisanengruppen betraf. Besonders starke Verdachtsmomente für die Eigenmächtigkeit von Beschlagnahmungen gab es während des Warschauer Aufstands. Viele entsprechende Beschuldigungen waren freilich übertrieben worden, und ein Tek der Requkierungen ging auf das Konto gewöhnlicher Banditen, die sich als Soldaten ausgaben. Die Eigenmächtigkeiten unter den Bedingungen des Aufstandes fallen deswegen so sehr ins Auge, weil der Kampf damals unter strenger Kontrolle der militärischen Führung, der Feldgendarmerie sowie von Sondergerichten geführt wurde. Dies zeigt, daß wilde Beschlagnahmungen in der Natur des Krieges liegen und sich kaum unterbinden lassen. Wann war eine Beschlagnahmung überhaupt legal? Vermutlich in jenem Moment, wenn sie für das Durchhalten der Truppe unentbehrkch und zusätzlich in einem Dokument festgehalten wurde. Beschlagnahmungen auf »humane« Weise, ohne Verletzung allgemeiner Vorschriften, und in Anwesenheit eines lokalen Behördenvertteters, etwa eines Gemeindevorstehers, waren ein Ausdruck für die Integrität des jeweikgen Befehlshabers. Andererseits ist klar, daß beispielsweise Gutsbesitzer selbst Requkierungen in der oben geschilderten Weise als nicht legal betrachteten, da sie ihnen Schaden zufügten. Beschlagnahmungen waren aber tekweise die einzige Möglichkeit um Nahrung aufzutreiben, um die Durchhaltefähigkeit der Streitkräfte sicherzustellen. Vernünftige und moralische Kommandeure versuchten sie auf ein Mindestmaß zu begrenzen und sie für die Bewohner des Gebietes, in dem sie gerade operierten, mögkchst wenig belastend durchzuführen. Die diesbezüglichen Vorschriften eisern zu befolgen war notwendig, um, wenn nicht die aktive Unterstützung der lokalen Bevölkerung zu erlangen, so doch wenigstens ihre Neutralität zu wahren. Maßlosigkeit und Gewaltanwendung in der Beschlagnahmungspraxis führten mitunter zu starken Konflikten und waren sogar der Grund dafür, daß ausgeplünderte Bauern deutsche Razzien auf die Partisanengruppen hetzten. Die Beschlagnahmungen waren eine zwingende Notwendigkeit, welche die Befehlshaber schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse zu rationalisieren versuchten. Ohne die Unterstützung der Einwohner hätten die Partisanen nicht überleben können. Das Bild der damaligen Verhältnisse wäre aber nicht vokständig, verschwiege man die Tatsache, daß viele Grundbesitzer und wohlhabende Gutsherren die Partisanen freiwillig versorgten. Schkeßkch versuchten die Angehörigen des Widerstandes, die Last der Requkierungen auf den Feind abzuwälzen. Für den Partisanenkampf in den Küstenregionen zählten zu den wichtigsten diesbezüglichen Zielen die Landgüter und Vermögen der Deutschen, im Generalgou-
Beschlagnahmungen,
die
reguläre
durchführen, sind eine Notwendigkeit.
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dem Terror der Besatzer
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die Dörfer deutscher Siedler, von Deutschen verwaltetes Vermögen Eigentum von Personen, die mit Deutschen in Verbindung zu stehen schienen. In den polnischen Ostgebieten hingegen führte man Requkierungen vor allem bei jenen Gutsherren durch, die mit den sowjetischen Machthabern sympathisierten, sowie bei einem Teil der ukrainischen und htauischen Bevölkerung, die für ihre antipolnische Einsteüung bekannt war. Gleichzeitig war man darum bemüht, die eigene Bevölkerung vor Requkierungen durch andere Partisanenformationen oder Banden zu schützen. In manchen Gebieten machten es starke Partisanenverbände den deutschen Besatzern unmöghch, die landwirtschaftlichen Güter der Bauern zu erfassen; sie behielten dann einen Teü der Nahrung für sich. Mit diesem Modeü konnten sich die meisten Einwohner abfinden, weil sie eher ihre eigenen Leute ernährt sehen woüten als die Deutschen. Es scheint, daß sich innerhalb von zwei Jahren Partisanenkrieg vielerorts ein modus vivendi herauskristallisierte, der als zentrale Leistung den Schutz vor wüden Überfäüen von Banditen und anderen »Fremden« beinhaltete, zu denen Sowjets, Juden, mitunter polnische Kommunisten und nicht identifizierbare Gruppen von außerhalb zählten. Die meisten Beschlagnahmungen führten solche Formationen durch, denen die materielle Unterstützung politischer Förderer vorenthalten bheb, und ebenso Gruppen, die lediglich über eine schwache Verwurzelung in der jeweiligen Region verfügten. Dies betrifft in erster Linie die sowjetischen Partisanen, die auf fremden Boden und in einer ihnen feindhchen Umwelt operierten, sowie jüdische Gruppen, die aus Flüchtlingen verschiedener Teüe Polens bestanden. Die Requkierungen, die sie durchführten, besaßen zwar den Charakter brutaler Raubüberfäüe, waren jedoch andererseits häufig der einzige Weg, um im physischen Sinne zu überleben. Die Partisanenformationen der Bauernbataülone, der Heimatarmee und der Nationalen Streitkräfte versuchten in der Regel, die Requkierungen von Nahrungsmitteln und anderen materieüen Gütern zu legahsieren, indem sie sie genau erfaßten und quittierten. Dies ermächtigte die Besitzer, die entstandenen Kosten nach dem Krieg zurückzufordern. In vielen Fäüen entschädigte man die Bauern auch dkekt mit Geld oder revanchierte sich nach erfolgreichen Plünderungen mit Gütern des Feindes. Trotzdem gab es immer wieder Ausschreitungen und Mißverständnisse. Beschlagnahmungen waren während des Krieges ein behebter Vorwand, um persönhche Rechnungen zu begleichen. So hielten manche Soldaten geradezu Ausschau nach mit ihnen zerstrittenen Nachbarn oder nahmen erhebhch mehr, als sie brauchten. Diese Vorgehensweise läßt sich vor aüem in Gebieten beobachten, in denen die ukrainische Minderheit lebte. Hier wurden den Bauern häufig nicht nur Nahrung, sondern ebenso landwktschaftliche oder andere Geräte und selbst Kinderbekleidung weggenommen. Dies trifft vor allem auf Formationen zu, die aus rasch mobilisierten, meist in ihren Heimatdörfern untergebrachten Jugendhchen der Umgebung bestanden. Wenn Soldaten Hunger htten oder längere Zeit ohne Auftrag waren, häuften sich derartige Zwischenfälle. Während des Warschauer Aufstandes führten erst die lange Dauer militärischer Operationen und die Verschlechterung der Lebensmittelversorgung zu eigenmächtigem Verhalten. In der ersten Augustwoche hörte man von keinerlei illegalen vernement
oder
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Beschlagnahmungen. Später begannen die (meist bewaffneten) Ordnungskräfte, verstärkt Fäüe von Nahrungsmittekaub zu registrieren. Um das Übel einzudämmen, wurden spezieüe Gruppen (grupy eksploatacyjno-rekwizycyjne) mit Erfassung und Requkierung beauftragt26. Anordnungen der übergeordneten Führung wurden vielfach mißachtet, obwohl bei Nichtbefolgung die Todesstrafe drohte. Die Soldaten nutzten neben ihrer Überlegenheit auch die Tatsache aus, daß die gültigen Vorschriften in der Bevölkerung meist unbekannt waren. Man nahm hauptsächhch Nahrung und Kleidung in Beschlag. Ein hungriger und zerlumpter Soldat war zu Taten und Verhaltensweisen fähig, die er unter normalen Umständen nicht akzeptiert hätte. Viele waren der Ansicht, die Zivübevölkerung soüe aufhören, in Friedenskategorien zu denken und
statt dessen ihr Hab und Gut mit der Armee teüen. Zahlreiche Soldaten kritisierten auch die rigorosen Beschlagnahmungsvorschriften. Solche Argumente der jungen Aufständischen bheben jedoch vor den Gerichten, die wüde Requkierungen sehr streng behandelten, unberücksichtigt. Dies erfuhr beispielsweise auch Oberleutnant Neronowicz-Szpüewski »Reckman«, der sich einer gefälschten Quittung bediente, um Nahrung von der Zivübevölkerung zu erpressen. Szpüewski wurde von einem Warschauer Untergrundgericht zum Tode verurteüt. Derartige Vorfäüe ereigneten sich hauptsächhch in Stadtteüen, wo keine schweren Kämpfe stattfanden. In der Altstadt und an anderen Stellen, wo sich der deutsche Vorstoß konzentrierte, fehlte die Zeit, um über Eigentumsrechte nachzudenken bzw. um Mißbrauch zu verfolgen. Mit Bhck auf die schlechte Quellenlage zum Warschauer Aufstand ist eine Quantifizierung und abschheßende Bewertung der angerissenen Probleme fast unmöghch. Aus verschiedenen Pohzeiberichten wird deutlich, daß etwa die Bevölkerung auf dem Gebiet des VIII. Gerichtsbezkks des Staatlichen Sicherheitskorps (PKB) in der ulica Sliska, Zlota und Sienna in der nördhchen Stadtmitte 20 Fähe ülegaler Beschlagnahmungen meldete. Im Bezkk Stadtmitte der Heimatarmee standen andererseits nur drei von insgesamt 70 verhängten Todesurteüen mit dem Tatbestand der wüden Requkierung in Zusammenhang. Diese bescheidene Statistik berechtigt nicht dazu, weitgehende Schlüsse zu ziehen. Es ist jedoch klar, daß das Ausmaß des Mißbrauchs weder das Gebäude der Inneren Sicherheit ins Wanken brachte, noch das Vertrauen in die Armee ernstkch beeinträchtigen konnte.
Liquidierungen Zu den Erscheinungen der Kriegs- und Besatzungszeit gehörten auch rechtswidrige Hinrichtungen, die man als Selbstjustiz bezeichnen kann. Sie sind nicht ausschließlich auf die kriegsbedingte Demoralisierung zurückzuführen, sondern ebenBefehl »Monters«
11.8.1944 sowie der Bezirksdelegatur der Regierung vom 16.8.1944 außerdem die Befehle einzelner Befehlshaber, die diese Anweisung »Monters« unterstreichen und präzisieren; vgl. zahlreiche Beispiele bei Marszalec, Ochrona porz^dku (wie Anm. 13). vom
(AWIH 111/48/34, k. 2); vgl.
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dem Terror der Besatzer
339
so auf den rechtkchen Rahmen des Widerstandskampfes oder einfach auf die Abwesenheit von Recht. Bevor sich auf den verschiedenen organisatorischen Ebenen Untergrundgerichte ausgebildet hatten, Fakten verschiedene, kurzfristig einberufeaus der Sicht des gesekschaftlichen und nationalen Interesne Standgerichte die ses notwendigen Entscheidungen über die Hinrichtung von Spitzeln. Ihnen gehörten einzelne Kommandeure, aber auch Soldaten an. Als dann in der Folge militärische und zivüe Sondergerichte entstanden, bearbeiteten sie ihre Fälle sorgfältig und gemäß den festgelegten Verfahren; bei der Beweisaufnahme standen sie unter großem Zeitdruck. Oftmals wurden Angeklagte noch vor der Gerichtsentscheivon Leuten getötet, die eine legale Beendigung des Verfahrens nicht erwarten konnten. Sie rechtfertigten sofortige Exekutionen häufig durch den Hinweis auf die Gefährdung der »Sicherheit«. Bei sofortigen Hinrichtungen kam es jedoch immer wieder zu Irrtümern und Mißbrauch sowie zum Begleichen persönkcher Rechnungen. Eigenmächtige Erschießungen waren keine Ausnahme. So wurden während der ersten Tage des Warschauer Aufstands sofortige Exekutionen von Verdächtigen durchgeführt. Die Tendenz wuchs noch in dem Maße, in dem sich die Angst vor Spionage und Diversion ausweitete. Die Opfer waren stets »Volksdeutsche« oder jene, die mit den Besatzern in Kontakt standen. Es sind einige Fälle »wilder« Exekutionen bekannt, die aufständische Pateoulken durchführten. Die Höchststrafe verhängten kurzfristig zusammengetretene Offiziergerichte, die dabei versuchten, ihren Entscheidungen einen legalen Charakter zu verleihen. Allzuoft kam es dabei jedoch zu klaren Fehlurteken. Hierzu zählt beispielsweise die Hinrichtung von Wanda Kronenberg, bei der man Dokumente fand, die scheinbar ihre Zusammenarbeit mit der Gestapo bewiesen, aber höchstwahrscheinlich für die polnische oder britische Spionageabwehr gedacht waren. Kronenberg starb in unmittelbarer Nähe einer Straßensperre, an der man sie gestellt hatte. Den Befehl hierzu ertekte Major Wladyslaw Abramowicz »Litwin«. Er rechtfertigte seine überstürzte Entscheidung mit dem Fehlen von Gerichten in seinem Abschnitt, was den Tatsachen entsprach. Viele ähnliche Vorfalle aus dem Umfeld des Warschauer Aufstands sind bekannt. Zu den dramatischsten gehörte die Hinrichtung von mehr als zehn »Volksdeutschen«. Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei einer der erschossenen Personen um die Mutter eines Aufständischen. Hinrichtungen von Gefangenen waren allerdings für die gesamte Partisanenbewegung charakteristisch. Während des Warschauer Aufstands blieben sie freikch Ausnahmefälle, die wahrscheinkch hauptsächlich in der Zeit bis zum 4. August auftraten. Spontane Gefangenenerschießungen in der Partisanenkteratur immer wieder beschrieben finden eine Erklärung in der sogenannten Angsttheorie, fußend auf der Vorstellung vom »Angsttausch«. Dieser Begriff aus der Miktärpsychologie impkziert, daß ein Soldat, der sich im Zustand eines Angstschocks befindet, auch dann tötet, wenn es keine dkekte Notwendigkeit hierzu gibt27. Es ist schwierig, mit dem »Angsttausch« auch die Tötung von Verwundeten zu erklären, über die beispielsweise ein Angehöriger der NSZ aus dem Kielce-Gebiet berichtet. Das Bkd von Soldaten, die ein -
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dung
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Marszalec, Ochrona porzadku (wie Anm. 13), S. 298.
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Schlachtfeld durchqueren und in Gegenwart ihres Befehlshabers alle noch Lebenden erschießen, ist schockierend. Allerdings handelt es sich um eine Ausnahmeerscheinung des polnischen Untergrundkampfes28. Bei den Waldpartisanen war die Hinrichtung von Gefangenen oft eine Frage des Überlebens, weü sie vor Auskundschaftung und Verrat schützte. Besonders für junge Angehörige des Untergrundes waren die Befehle der Kommandeure zur Tötung von Gefangenen oder Spionageverdächtigen (auch Frauen) zunächst ein Schock. Im Verlauf des Krieges änderte sich ihre Auffassung. Die meisten gewöhnten sich an den Tod. Sie lernten, rücksichtslos nach den Gesetzen des Waldes (Anna Pawelczyriska) zu kämpfen und ihr Überleben zu sichern. Partisanenformationen, die aufgelockert im Gelände operierten und ihre Stützpunkte in den Dörfern und Wäldern ständig wechselten, hatten häufig gar keine Möglichkeit, Gefangene aufzunehmen. Die Hinrichtung von Gefangenen war allerdings nicht die Norm. Wir kennen eine ganze Reihe von Vorfallen, wo man Angehörige der Wehrmacht, aber auch litauische und sowjetische Gefangene wieder freiließ. Meist wurde über ihr Schicksal lageabhängig entschieden. Wenn ein Kommandeur glaubte, daß die Freüassung von Gefangenen der Truppe nicht schade, entschloß er sich meistens dafür. Mehrfach führte diese Großzügigkeit polnischer Partisanen zum Verrat und einer für die Katastrophe beteiligten Verbände. Unter den Bedindes offenen militärischen gungen Kampfes in Wilna im Frühjahr und Sommer 1944 ließen örtliche Befehlshaber der Heimatarmee wiederholt Gefangene der Wehrmacht und der Litauischen Polizeibataillone (LVR) General Povilas Plechavicius' frei. Besonders letztere, die für brutale Verfolgungen der Polen verantwortlich zeichneten, konnten kaum mit Müde rechnen. Zu ihrer Hinrichtung schritt man meist noch rascher als zu der deutscher Soldaten29. Das Gefangenenproblem löste man während des Warschauer Aufstands durch die Einrichtung entsprechender Lager. Dies hob die dem Partisanenkampf inhärente Notwendigkeit auf, Gefangene auf der Stelle zu töten. Jene, die es wagten, dies trotzdem zu tun, setzten sich dem Vorwurf der bewaffneten Eigenmächtigkeit aus. Als Beispiel hierfür kann die Anfang September 1944 erfolgte Hinrichtung von rund 40 deutschen Gefangenen aus Powisle stehen. Die Tragödie ereignete sich unter den extremen Bedingungen des Rückzugs und unter starkem feindlichen Artilleriebeschuß. Die Wachsoldaten, denen es nicht gelang, den Überblick über die ihnen anvertraute Marschkolonne zu behalten (unter den Gefangenen befanden sich SS-Angehörige), und die einen Teü der flüchtenden Gefangenen töteten, wurden dafür nicht zur Verantwortung gezogen. Die militärische Führung wertete die Tat nicht als Kriegsverbrechen: sie sei vielmehr in einer Notsituation begangen worden3". Ein weniger bekannter Vorfall ist der Tod von 57 Gefangenen im Warschauer Stadtteü Wola. Diese sollten zur Vergeltung für Mordaktionen in Wola erschossen werden, kamen dann letztlich aber durch deutsche Fliegerbomben 28 29
30
Wladyslaw »Zbik« Kolaciriski, Miedzy mlotem a swastyka,, Warszawa 1991, S. 188. Vgl. Olgierd Christa, U »Szczerbca« i »Lupaszki«, Warszawa 1999, S. 77, 82; Jaroslaw nowski, Okrçg Wileñski ZWZ-AK w latach 1939-1945, Warszawa 1996, S. 238. Marszalec, Ochrona porz^dku (wie Anm. 13), S. 297.
Wolko-
Leben
unter
dem Terror der Besatzer
341
um31. Die
apokalyptische Vision des Ereignisses, die Hans Krannhals, ein deutscher Historiker des Warschauer Aufstandes, beschrieb, fand keine Bestätigung in den Queüen. Eine unbestreitbare Tatsache ist jedoch die gnadenlose Hinrichtung von Teilnehmern an deutschen »Befriedungsaktionen«, von SS- und PolizeiangeSoldaten der Russischen Nationalen Befreiungsarmee (RONA) und andehörigen, rer sogenannter Ostformationen. Abgesehen von einzelnen Vergeltongsaktionen kam es jedoch während des Aufstandes auf polnischer Seite zu keinen massiven Verstößen gegen geltende Rechtsnormen und das Kriegsvölkerrecht. Es scheint, als heße sich dieser Befund auch auf die übrigen Gebiete der Repubhk übertragen, mit Ausnahme von Wolhynien, Ostgalizien und dem Zamosc-Gebiet, wo die Situation durch den polnisch-ukrainischen Konflikt erschwert wurde. Eigenmächtigkeit und das Begleichen persönlicher Rechnungen auf eigene Faust waren hier weit verbreitet. Politische Morde Bei der Erforschung des Widerstandes im besetzten Polen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als sei der Impuls für extremistische Handlungen von politischen Gruppen ausgegangen, die sich außerhalb des Einflußbereichs der Heimatarmee und der Delegator der Regierung befanden, und zwar am linken wie am rechten Rand des politischen Spektrums. Jene politischen Morde, die die größte Bekanntheit erlangten, waren die Tötung von zwei herausragenden Offizieren des Büros für Information und Propaganda (BIP) der Hauptkommandantur der Heimatarmee, sowie weiterer Personen, die der hnksextremen, von Kommunisten infiltrierten Demokratischen Partei (SD) nahestanden. Am 13. Juni 1944 kamen Jerzy Makowiecki und seine Frau sowie Ludwik Widerszal bei einem Anschlag durch die Gruppe des bereits genannten »Sudeczko« ums Leben. Die Ermordung initiierte eine bis heute nicht identifizierte extremistische Gruppe, die den demokratischen Radikahsmus Makowieckis und Widerszals um so mehr haßte, je weiter sich die Rote Armee der polnischen Grenze näherte32. Jahrelang wurden die NSZ für das Verbrechen verantwortlich gemacht, was die Queüen aber bislang nicht bestätigt haben33. Es ist zu vermuten, daß die Männer »Sudeczkos«, die den Anschlag ausführten, sich gar nicht bewußt waren, ein heimliches Werkzeug versteckter Auftraggeber zu sein, die sich als Mitarbeiter der Spionageabwehr und der Delegator der Regierung ausgaben und »Sudeczko« mit der Ermordung von an31
Ebd.
32
Strzembosz, Rzeczpospolita podziemna (wie Anm. 7), S. 317. Ryszard Nazarewicz, Z ponurych kart okupacyjnych historii. Morderstwa polityczne
33
czach
demokratycznych,
(1986), 2, S. 74-89.
na
dziala-
Zeszyty Historyczno-Polityczne Stronnictwa Demokratycznego, Eine andere Auffassung vertritt Leszek Gondek, Polska karzaca 1939-1945, f.
1988, S. 75 Der Mord war seiner Ansicht nach die Rache am BIP für dessen Einmiin die inneren Angelegenheiten der Nationalen Streitkräfte, verbunden mit dem Über-
Warszawa
schung
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von
Obersdeutnant »Lesiriski« zur Heimatarmee.
Janusz Marszalec
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gebhchen V-Männern der Gestapo beauftragten34. Ebenfaüs in diesem Zusammenhang steht die Auslieferung von zwei weiteren Angehörigen des BIP an die Gestapo, Marceh Handelsman und Haiina Krahelska35. Beide gehörten der Demokratischen Partei (SD) an, die Männern wie Wlodzimierz Lechowicz, einem vielgesichtigen Verschwörer, eine Heimstatt bot36.
Mord und Denunziation waren nicht nur in den genannten Fällen und im Zentrum des polnischen Untergrundstaates eine Form »brudermörderischer« Verbrechen. Sie ereigneten sich auch an der Peripherie, im Rahmen der Ausbildung der Konspkation und der Vereinigung von Untergrundgruppen mit der Heimatarmee; dies belegen etwa das Beispiel von Czeslaw Mekiñski »Kapitän Gryf Pomorski« sowie die Morde in den Reihen des BIP und die damit in Zusammenhang stehende Verdächtigung der NSZ. Die teüweise undurchsichtigen Verhältnisse des Widerstandes und die häufig fehlende Kontroüe von außen heßen eine Atmosphäre entstehen, in der man leicht der Zusammenarbeit mit feindhchen Behörden verdächtigt wurde. AU diese Faktoren sowie politische und ethnische Spannungen führten zu einem gefährlichen inneren Kampf. In Pommern, wo während der Besatzung die von der Heimatarmee unabhängige Geheime Miktärorganisation Greif von Pommern (Tajna Organizacja Wojskowa Gryf Pomorski) entstand, kam es im Jahre 1943 zu einer existenziellen Krise, ausgelöst durch den Mord am Kommandanten der Organisation, Józef Gierszewski37. Der Anschlag war, ähnhch wie die Morde an Widerszal und anderen, als Hinrichtung von Spitzeln getarnt. Die Initiative ging von Józef Dambko aus, einem Rivalen Gierszewskis um die Führung von »Gryf« und vehementen Gegner einer Vereinigung mit der Heimatarmee. Der Mord, begangen von einem kaschubischen Verschwörer mit Wissen der Führung, und der eskaherende Konflikt schädigten den Ruf des Widerstandes in Pommern und führten außerdem zum Austritt von Oberst Josef Wrycz aus der Organisation, der dort bis zu diesem Zeitpunkt uneingeschränkte Autorität genossen hatte. Allein die geschickte Kanalisierung der unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Fleimatarmee und des Untergrundstaates garantierten, daß es zu keinen existenzieüen inneren Kämpfen und vernichtenden Konflikten kam. Als Bestätigung der These von Verbrechen an Angehörigen der Untergrundgeseüschaft, darunter Mitglieder extremer, nationalistischer Gruppen, kann auch die Ermordung des ukrainischen Professors Andrij Lastovec'kyj in Lemberg dienen. In diesem Faü insttumentaksierten geheime Auftraggeber einige Männer der Warschauer Diversionsleitong der Armia Krajowa (KEDYW), die überzeugt waren, 34 35
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37
Moczarski, Zapiski, hrsg. von Andrzej Krzysztof Kunert, Warszawa 1990, S. 176. Andrzej Krzysztof Kunert, Slownik biograficzny konspiracji warszawskiej 1939-1944, Warszawa Kazimierz
1987, Bd 1, S. 103 f. Lechowicz war Chef der Dienststelle des Staatlichen Sicherheitskorps (PKB) in Warschau und stellvertretender Leiter der Bezirksführung des Untergrundkampfes in der Stadt Warschau sowie gleichzeitig ein herausragender Offizier des Geheimdienstes im Führungsstab der Volksgarde/ Volksarmee. Zur Biographie Lechowicz' vgl. Marszalec, Ochrona porz^dku (wie Anm. 13), S. 349. Krzysztof Komorowski, Konspiracja pomorska 1939-1947. Leksykon, Gdansk 1993, S.57-59.
Leben
unter
dem Terror der Besatzer
343
einen gefährlichen Feind der Polen zu beseitigen. Dies entsprach akerdings nicht den Tatsachen38. Im Rahmen der Erforschung der polnisch-ukrainischen Beziehungen stößt man auf eine ganze Reihe bis heute ungeklärter Mordfalle (etwa die Fäke Ivan Pasternaks, Mykola Sttutyns'kyj, Jakiv Vojnarovs'kyj und M. Pohotovs'kyj)3Geh und erledige sie.< L. und P. verheßen das Haus und wir bheben [...] Nach einiger Zeit [...] hörte ich einige einzelne Schüsse, aber ich habe nicht gesehen, wer auf wen geschossen hatte. Später aber erzählte P. mk und den anderen Pohzisten, daß er und [...] W. die Juden erschossen hätten, die verhaftet worden waren. Nach den Schüssen kehrte L. allein ins Haus zurück und sagte zu Zaprucki, daß die Juden erledigt seien24.« Die Unterschrift Zapruckis findet sich auf einem erbeuteten deutschen Dokument aus dem Staathchen Archiv des Oblast' Brest (GABO). Es handelt sich um einen Bericht über die Erschießung von vier Juden durch die Pohzei im Dezember 194225. In Nowa Mysz wurde im Sommer 1942 eine Getto-Liquidierung durchgeführt. Ein ehemahger Pohzist erzählte: »Deutsche kamen aus Baranowicze und brachten ein litauisches Mordkommando mit. Die einheimische Pohzei eskortierte die Juden zum Sammelpunkt. Die Aktion wurde vom Polizeichef [Zaprucki] geleitet. Er gab an, daß er ein Weißrusse sei. Der SD-Offizier war Leutnant Amelung. Nowa Mysz wurde von einer Postenkette umzingelt, so daß die Juden nicht entfliehen konnten. In der Stadt gab es einen Marktplatz mit einer Feuerwehrstation, die als Sammelpunkt diente. Die einheimische Pohzei wurde aus den umhegenden Stützpunkten versammelt [...] Die Juden wurden von der Feuerwehrstation weggebracht und hinter einer Baumgruppe erschossen. Mehrere hundert Leute, vielleicht 600 insgesamt, sind erschossen worden26.« 23
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Hauptkommission (HK) SWSz [Gericht Szczecin] 77, Bl. 1697-1713, W.W., im Januar 1971; Bl. 1736-71, J.R., Aussage vor Gericht im Januar 1971, und Bl. 1840-44, B.L., am 24.3.1971; I ZH KPP 50/93, B.B., Aussage am 10.8.1994.
HK SWSz 69, Bl. 96 f., B.B. am 24.11.1962. GABO, fond 995, opis' 1, delo 4, Bl. 456, Bericht vom 5.12.1942. WCU, D6104.
Polen in der einheimischen
Hilfspolizei
361
Tötung mehrerer Juden während dieser Aktion und in den folgenden einheimische Polizisten berichten auch andere Augenzeugen27. Der durch Tagen Exekutionsplatz sei von einer starken Postenkette geschützt gewesen. Die Deutschen hätten die Erschießung mit Maschinengewehren gegen einen möglichen Partisanenüberfall gesichert28. Nach der Aktion habe mindestens ein polnisches Mitglied der Schutzmannschaft ein ehemals jüdisches Haus übernommen29. Angehörige der polnischen Widerstandsbewegung innerhalb der Schutzmannschaft in Nowa Mysz beteiligten sich auch an Repressalien gegen den sowjetischen Untergrund. Diese Maßnahmen schlössen die Erschießung der Eltern bekannter Partisanen ein3". Nach dem Krieg wurden mehrere ehemalige Schutzmänner aus Nowa Mysz durch polnische Gerichte verurteilt. Eine vorsichtige Auswertung dieser Unterlagen unter Berücksichtigung erbeuteter deutscher Dokumente aus der Besatzungszeit bestätigt die aktive Beteikgung polnischer Schutzmänner an den verschiedenen Straf- und Mordaktionen der Schutzmannschaft gegen die einheimische Bevölkerung. Eine weitere Hochburg der Polen war die Pokzei der Stadt Iwieniec im Forst von Naliboki. Viele ihrer Mitglieder sind später zur polnischen »Legion« übergelaufen, die unter dem Befehl von Zdzislaw Nurkiewicz stand. Von den 54 Mitgliedern der »Legion« waren 28 bereits 1941 in die Polizei oder den örtlichen Selbstschutz eingetreten31. Nach dem Krieg standen in Polen mehrere »Legionsmitglieder« vor Gericht. In einem Fall lautete die Anklage sowohl auf Beteikgung an der Ermordung von Juden in Iwieniec als Polizist als auch auf Mord an sowjetischen Partisanen und ihren Famiken als »Legionär«32. Einige Angeklagte stritten eine ckrekte Beteiligung an den Judenerschießungen ab. Dennoch gab es einen Zeugen, der aussagte, daß die polnischen Polizisten aus Iwieniec an der Aktion im Sommer 1942 zumindest als Absperrposten beteiligt gewesen seien. Er sprach auch von deren aktiver Teilnahme bei der Erschießung sowjetischer Partisanen33. Ein weiterer Zeuge, angeblich für die Armia Krajowa im Wilnagebiet tätig, sagte aus, daß Nurkiewicz nicht alle Zenttalbefehle befolgt habe und dafür bestraft worden sei34. Die umfangreichen Ermittlungsakten über die polnische »Legion« bei der Hauptkommission werfen ein interessantes Licht auf die komplizierten örtlichen Verhältnisse um Iwieniec während des Krieges, wenn sie in diesem Fall auch mit beVon der
27
HK SWB [Gericht Bromberg] 221, Bl. 115, Aussage von M.P. am 23.1.1964, und Bl. 41, Aussage EL. am 20.6.1963. HK SWSz 69-78. HK SWO 12, Aussage von A.W. KGB-Archiv Belarus' (UKGB), Akte Nr. 25547, Archiv Nr. 16890, Aussage des Angeklagten F.A.M., August 1957. Chiari, Alltag (wie Anm. 12), S. 292 f. HK SSWr [Gericht Wroclaw] 79, Trial of P.K. in 1961, Act of indictment. Ebd., Bl. 105, Aussage des Beschuldigten P.K. am 21.11.1961, und Bl. 120, Aussage des Zeugen Z.B. Ebd., Bl. 117. von
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Martin Dean
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sonderer Vorsicht zu behandeln sind und mit anderen Quellen verglichen werden müssen35. In der Stadt Slonim lebte ebenfalls eine beträchthche Anzahl von Polen. Ein jüdischer Überlebender erinnert sich: »[Nach der Ankunft der Deutschen] wurde die weißrussische Pohzei aus jungen Männern aus Slonim und den umkegenden Dörfern, einschließlich einiger Polen, zusammengestellt«36. Ein ehemaliger Partisan heferte eine ausführliche Beschreibung von deren Tätigkeit: »Die weißrussische Pohzei arbeitete eng mit den Deutschen zusammen und führte die deutschen Befehle aus. Ihre Uniformen waren schwarz, sie trugen eine weiße Armbinde mit der Aufschrift >Polizei< [Schutzmannschaft] darauf. Ich glaube, sie hatten runde schwarze Mützen. Die Kragen und Manschetten waren, glaube ich, braun. Die meisten von denen, die in die Pohzei eingetreten sind, waren ortsansässige Leute Polen und Weißrussen, keine Juden. Unter denen, die eingetreten sind, waren unterschiedlichste Männer vertreten. Manche lungerten einfach herum und hatten keine Beschäftigung. Sie traten in den Polizeidienst ein, um etwas Geld zu bekommen. Insgesamt waren vielleicht 200 bis 300 Männer in der weißrussischen Pohzei in Slonim und den umhegenden Dörfern. Sie arbeiteten wie andere Pohzisten, aber nur für die Deutschen. Ich nehme an, daß sie ihre Befehle ausführen mußten37.« In einem der polnischen Prozesse in den sechziger Jahren, die zumeist ausführlicher waren als jene Verfahren, die kurz nach dem Krieg stattfanden, gab der Zeuge J.R. umfangreiche Informationen über das Polizeipersonal in Slonim. Er behauptete, bei der Pohzei hauptsächhch als Schneider gearbeitet zu haben. Er nannte mehr als zehn Polen, einige davon Unterführer, die mit ihm in der Pohzei dienten. Seiner Meinung nach seien die einheimischen Pohzisten während der antijüdischen Aktionen in Slonim und den umhegenden Gebieten vorwiegend als Absperrposten eingesetzt worden. Der Zeuge wies ausdrücklich auf zwei polnische Schutzmänner hin, die Juden ermordet hätten. Da es kein Ermittlungsverfahren gegen die genannten Männer gab, ist es unwahrscheinlich, daß diese Beschuldigungen dazu gedacht waren, den Zeugen selbst zu entlasten38. Die Beteihgung von einem der genannten polnischen Schutzmänner an der Eskortierung der Juden in Richtung des Hinrichtongsorts bestätigte ein weiterer, unabhängiger Zeuge, der kein Pohzist war39. Angebhch wurde Ende 1943 ein polnischer Pohzeikommandant aus Slonim getötet, der sich als polnischer Widerstandskämpfer getarnt und versucht hatte, zu den Partisanen überzulaufen. Es kann angenommen werden, daß die Pohzei in —
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[Gericht Zielona Gora] 20-26, Investigation of Zdzislaw Nurkiewicz (mehr als 1000 insgesamt); vgl. auch Polish Underground Study Trust Archive, London, Memoiren von Stanislaw Giisiewski u.a.; Jacek Trznadel, Drobiazg, in: Arka, 49 (1994), 1, S. 159-166, sowie die Berichte der deutschen Verwaltung, der sowjetischen Partisaneneinheiten, der Armia Krajowa HK SWZG
Seiten
36
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oder jüdischer Überlebenden für den Raum Iwieniec. WCU, D7852, L.I.A., Aussage am 25.9.1995. WCU, V.A.F., Aussage am 28.9.1995. HK SWZG 29, J.R, Aussage am 6.10.1962. Ebd., M.B., Aussage am 16.11.1962.
Polen in der einheimischen
Slonim in einer ähnlichen Weise wie in Nowa
grund infiltriert war4".
Hilfspolizei
363
Mysz durch den polnischen Unter-
Der Schutzmannschaft-Einzeldienst in den besetzten Ostgebieten zählte bis Dezember 1942 mehr als 100 000 Mitglieder und wurde danach weiter ausgebaut41. In den ehemaligen ostpolnischen Gebieten des heutigen Weißrußlands waren zirka 10 000 Schutzmänner im Dienst, davon wahrscheinlich etwa 15 Prozent Polen. Eine Analyse der Angehörigen der verschiedenen Polizeieinheiten und des weißrussischen Selbstschutzes im Gebiet Slonim enthüllt, daß sich unter mehr als 300 namentlich festgestellten Personen knapp zehn Prozent wahrscheinlich polnischer Nationalität befanden. Die Mitglieder der einheimischen Schutzmannschaft im Gebiet Baranowicze, die im Juni 1944 eine Gesamtstärke von 2263 hatte, waren vorwiegend rund 75 Prozent Weißrussen (Orthodoxe)42. Dazu kamen noch ca. 20 Prozent Polen (Kathokken), die den Säuberungen in den Jahren 1941 bis 1942 entgangen waren, und ein geringer Anteil Russen und Tataren (jeweils weniger als fünf Prozent)43. Im Gebiet Brest-Litowsk waren die Ukrainer mit ca. 70 Prozent sehr stark vertreten. Der Anteü der Polen betrug hier etwa 20 Prozent der Schutzmannschaft, zusammen mit wenigen Russen und Weißrussen. Der Gendarmerie-Gebietsfuhrer in Brest-Litowsk berichtete am 5. Dezember 1942 von der Erschießung zweier polnischer Schutzmänner in Domaczewo durch den Sicherheitsdienst (SD), da sie angebkch Mitgüeder der polnischen Widerstandsbewegung waren44. Diese Meldung, die auch von einheimischen Zeugen bestätigt wurde, demonstriert sowohl die Aktivitäten von polnischen Widerstandsgruppen innerhalb der Schutzmannschaft als auch sehr strenge deutsche Maßnahmen bei Entdeckung oder Verrat konspirativer Betätigung. Ein Bericht des polnischen Untergrundes, zum gleichen Zeitpunkt (Ende Dezember 1942) verfaßt, beweist jedoch gleichzeitig die aktive Rolle der einheimischen Poüzei bei der Liquidation des Brester Gettos, an der viele Polen teilnahmen: »Brest. Die Liquidation der Juden dauert seit dem 15. Oktober an. Während der ersten drei Tage wurden ungefähr 12 000 Personen erschossen. Der Hinrichtungsort ist Bronna Göra. Momentan werden versteckte Juden Hquidiert. Die Liquidation wurde von einer mobüen Tötungseinheit des SD und der einheimischen Polizei organisiert. Zur Zeit >erledigen< die einheimischen Polizeimannschaften, in der Polen einen großen Prozentsatz bilden, die restiichen Juden. Sie sind dabei oft eifriger als die Deutschen. Das Vermögen der Juden wird teilweise benutzt, um die -
Ebd., J.R., Aussage
-
am 6.10.1962; Alpert Nachum, The Destruction of Slonim Jewry, New York 1989,5.35-37. Rossijskij Gosudarstvennyj Voennyj Archiv (RGVA, früher Centr Chranenija Istorikodokumental'nych Kollekdi, ehem. »Sonderarchiv«), fond 1323, opis' 2, delo 267, Bericht über den Kräfteund Kriegseinsatz der Ordnungspolizei im Jahre 1942, 1.2.1943. Chiari, Alltag (wie Anm. 12), S. 164. Dean, Collaboration (wie Anm. 4), S. 74. Bundesarchiv (BArch), R 94/7, Gendarmerie-Gebietsführer Brest-Litowsk, Ereignisbericht vom
5.12.1942.
Martin Dean
364
Häuser und Büros der Deutschen
auszustatten.
Die resthchen Sachen werden
versteigert45.«
Nicht alle Schutzmänner, die als Polen identifiziert werden konnten, sind freiwährend der ersten Monate der Besatzung in die Pohzei eingetreten.
willig
Nach dem Sommer 1942 gab es mehr oder weniger zwangsweise Rekrutierungen, um die Pohzei im Kampf gegen die Partisanen zu verstärken. Wenn die Einstellung von Schutzmännern erst nach den Liquidierungen der Gettos erfolgte, hatten sie mit der Judenverfolgung meistens nicht dkekt zu ton. —
—
Kriegsverbrecherprozesse als historische Quelle Um das Ausmaß der Kollaboration von Polen mit den Deutschen und ihrer Beteihgung an Kriegsverbrechen gegen die jüdische Bevölkerung genauer zu bestimmen, ist eine Analyse der polnischen Nachkriegsprozesse gegen Personen aus den ehemahgen polnischen Ostgebieten erforderlich. Im Jahre 1993 lagerten Prozeßakten gegen fast 500 Personen aus den Gebieten des heutigen Weißrußland und der Ukraine in den Archiven der Hauptkommission in Warschau, wo die Akten auch erfaßt wurden46. Folgt man den Kurzbeschreibungen der Dokumentationen, so waren im Rahmen der Nachkriegsprozesse 46 (der insgesamt 495 der Kollaboration beschuldigten) Personen eines Verbrechens gegen Juden angeklagt. Eine genauere Untersuchung der vollständigen Akten bestätigt eindeutig, daß diese Zahl nicht der Reahtät entspricht. In mehreren Fällen ist die Kurzbeschreibung nur allgemeiner Natur, während die Akten Verbrechen gegen Juden belegen. Mehr als die Hälfte der Beschuldigten (160 von insgesamt 273) in den Fällen aus dem heutigen Weißrußland waren Polen, die in der einheimischen Pohzei (Schutzmannschaft) dienten. Von diesen waren über 25 Prozent (41 Personen) wegen Verbrechen gegen Juden angeklagt. Die Zahlen sind verhältnismäßig niedrig. Es gab jedoch sicherhch eine weitaus größere Anzahl von Polen, die in der Schutzmannschaft tätig waren und entweder in der Sowjetunion angeklagt wurden, zu Kriegsende in den Westen flohen, im Krieg fielen oder einer Anklage entgingen47. Von besonderer Aussagekraft ist die hohe Zahl von Prozessen gegen einheimische Pohzisten im Verhältnis zu anderen «
46
47
Nowych (AAN), Warschau 202/III/7 Bd 1, Bl. 187, Bericht des polnischen Untergrundes 252/A-l, 17.12.42. Zu der aktiven Beteiligung der einheimischen Polizei bei den Suchaktionen nach der Gettoliquidierungen in Wolhynien vgl. Spector, The Holocaust of Volhynian Jews (wie Anm. 9), S. 176. Aufstellung der Hauptkommission, angefertigt von Elzbieta Kobierska-Motas, über Prozesse in Polen nach 1945 wegen »Kriegsverbrechen« in den ehemaligen ostpolnischen Gebieten (Weißrußland und Ukraine), 1993. Die Liste ist nicht vollständig, da einige Prozeßakten zu dieser Zeit außerhalb von Warschau archiviert wurden. Die Prozesse gegen Personen (etwa 30 Fälle) aus den heutigen litauischen Gebieten sind nicht berücksichtigt, da der Anteil von Polen in der einheimischen Polizei dort sehr gering war. Zu den Nachkriegsschicksalen der einheimischen Polizisten aus dem Rayon Mir vgl. Dean, Collaboration (wie Anm. 4), Tabelle 8.1, S. 155. Archiwum Akt
Polen in der einheimischen
Hilfspolizei
365
Beschuldigungen, wie zum Beispiel der Tätigkeit in der einheimischen Verwaltung, Verfahren gegen Zivilisten, die wegen Denunziation angeklagt wurden, oder gegen Angehörige des SD sowie der Kriminalpokzei. In bezug auf die polnische Kollaboration mit den Deutschen in den besetzten, ehemals polnischen Ostgebieten war die einheimische Polizei weitaus die wichtigste Institution, sowohl hinsichtlich der Zahl ihrer Mitglieder als auch der polnischen Beteiligung am Holocaust. Von weiteren rund 50 polnischen Verurteilten, die nicht in der einheimischen Polizei dienten, wurden nur etwa zehn (anhand der Kurzbeschreibungen) hauptsächlich wegen antijüdischer Aktivitäten angeklagt. Die nicht unerhebkche Diskrepanz zwischen den Zahlen für Weißrußland (181 bis 200 Polen von insgesamt 273 Beschuldigten) und denen für die Ukraine (51 Polen, insgesamt 222 Angeklagte) verlangt eine Erklärung. Wie oben bereits bemerkt wurde, waren die deutschen Besatzungsbehörden in Weißrußland stark auf Polen angewiesen, um die Führungspositionen in der einheimischen Verwaltung und der Polizei zu besetzen, da es an gut ausgebildeten Weißrussen für diese Stellen mangelte48. In der Ukraine konnte man leichter einheimische Bewerber finden. Hinzu kam, daß 1941 zahkeiche Angehörige der ukrainischen Elite aus der Westukraine den deutschen Besatzungstruppen folgten. Den Deutschen standen hingegen nur wenige weißrussische Emigranten zur Verfügung. Zudem sollte man die schlechten Beziehungen zwischen Polen und Ukrainern in Wolhynien und Galizien in Bettacht ziehen. Im Jahr 1943 kam es sogar zu einer offenen Auseinander-
setzung zwischen Ukrainern und Polen in diesen Gebieten49. Eine weitere Erklärung für die weitaus kleinere Zahl von Ermittlungen gegen Polen aus der Ukraine liegt wahrscheinlich in der Tatsache, daß es nach dem Krieg kaum eine Zusammenarbeit zwischen dem ukrainischen Komitee für Staatssicherheit (KGB) und den polnischen Behörden gab. Vergleicht man diese Kooperation mit Weißrußland, so fällt auf, daß die polnischen Kontakte zum weißrussischen KGB deutlich besser entwickelt waren50. An dieser Stelle seien einige grundsätzliche Bemerkungen zu den polnischen Nachkriegsprozessen gestattet. Wie Jan Gross bezüglich der Ermittlungen im Fall Jedwabne argumentiert, habe es sich in erster Linie um Kriminalermittlungen ohne poktische Motivation gehandelt51. Aus diesem Grund sind die dort getroffenen Aussagen über die Beteikgung von Polen und anderen Nationalitäten an den Kriegsverbrechen der Deutschen meist durchaus glaubwürdig52. Etwas mehr Vorsicht ist dort angebracht, wo polnische Partisanen wegen der Ermordung von 48
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31 32
Siehe z.B. BA-MA, RH 26-707, Bl. 15, Kommandantur des Sicherungs-Gebietes Weißruthenien (Kdo. 707. Infanteriedivision), Abt. Ic, 8.1.1942. Vgl. die Beiträge von Grzegorz Motyka und Timothy Snyder in diesem Band. Ich danke Ray Brandon, der die Auswertung vieler Akten zu dieser Fragestellung durchgeführt hat. Gross, Nachbarn (wie Anm. 1), S. 28-33. Vgl. v.a. Bogdan Musial, NS-Kriegsverbrecher vor polnischen Gerichten, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 47 (1999), 1, S. 25-56, insbes. 48-56. Musial vergleicht die Prozesse gegen NSVerbrecher direkt mit anderen »politischen« Prozessen gegen Opponenten der kommunistischen
Regierung.
Martin Dean
366
sowjetischen Partisanen angeklagt wurden, weil es hier möglicherweise einen gewissen politischen Druck gab. Jedoch waren in den meisten polnischen Fällen die Umstände der ursprünglichen Anklage und die Beweisführung durchaus vergleichbar mit den allkerten Kriegsverbrechertribunalen in Deutschland und anderen Ländern zu dieser Zeit53. Ein sehr wichtiger Punkt ist, daß fast immer, wenn die Anklage auf Mitgliedschaft in der Pohzei lautete, wenig Zweifel an diesem Umstand an sich aufkamen. Häufig findet man in den Archiven deutsche Dokumente mit den Namen der Beschuldigten. Außerdem gab es genug Aussagen von anderen ehemahgen Pohzisten oder Nachbarn, um den Tatbestand der Kollaboration mit den Deutschen einwandfrei zu beweisen. Wichtiger für die Bewertung der Tätigkeit des Beschuldigten waren vielmehr das Datum des Eintritts in die Pohzei und die Frage der Freiwilligkeit. Dkekte Augenzeugenberichte über Kriegsverbrechen, wie z.B. die persönliche Beteiligung an der Erschießung von Juden, sind relativ selten. Nur exzessive Täter konnte man gelegentlich mit Hufe mehrerer zuverlässiger Augenzeugen überführen. In den meisten Fähen gab es eher allgemeine Information über die Teilnahme an »Partisanen-Aktionen« oder die E^skortierung von Opfern (einschließlich Juden) zur Erschießung. Viele Zeugen waren selber belastet und früher bereits verurteilt worden. Die zentrale Frage zielte nicht auf die Tatsache der Kollaboration an sich; man wollte vielmehr feststellen, ob der Beschuldigte aktiv an den deutschen Repressahen mitgewkkt hatte oder so eine häufige Aussage der Angeklagten lediglich ein passiver Mitläufer gewesen war. Leider konnten die polnischen Behörden nur in den seltensten Fällen Ermittlungen dkekt am Tatort durchführen. Sie waren daher auf die Mitarbeit ihrer weißrussischen Pendants angewiesen und konnten erst in den späteren Prozessen weißrussische Zeugen nach Polen vorla—
—
den. In vielen Fällen stellte die Staatsanwaltschaft im Rahmen der Rechtshilfe Auszüge aus weißrussischen Ermittlungsakten zur Verfügung. Es ist schwierig, ein allgemeines Bild der Strafmaße der polnischen Gerichte zu skizzieren, da es erhebliche Differenzen von Faü zu Faü gab. Viele Verurteilte erhielten zwischen fünf und 15 Jahre Gefängnis für den Tatbestand der Kollaboration in der Pohzei, die meistens mit der Beteihgung an »Partisanen-Aktionen« und der Eskortierung von Juden oder anderen Gefangenen verbunden war. Nach Amnestien oder frühzeitigen Entlassungen wurden viele Strafen nur zur Hälfte oder sogar in geringerem Ausmaß verbüßt. Höhere Strafen erhielten hauptsächhch diejenigen, die Führungspositionen innehatten oder wegen dkekter Beteihgung an Greueltaten (als Exzeßtäter) überführt wurden. Ein gutes Beispiel ist ein Ermittlungsverfahren gegen drei Schutzmänner aus der Stadt Sielec in der Nähe von Pruzana in Weißrußland. Alle drei waren Polen; alle drei wurden in den sechziger Jahren für die persönliche Beteihgung an Tötungsaktionen und Repressahen der Pohzei zu fünf bis sieben Jahren Gefängnis verurteüt ohne Hinzuziehung von Augenzeugen. Die einheimische Pohzei von —
Vgl. auch Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941 -1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996, S. 392.
Polen in der einheimischen
Hilfspolizei
367
jedoch bei der Eskortierung von Juden während einer Gettoliquidierung eingesetzt. Im Laufe der Ermittlungen entdeckten die polnischen Behörden wesentlich mehr belastendes Material gegen einen vierten Schutzmann, S.B., angeblich auch Pole. Zwei Augenzeugen berichteten, S.B. habe Juden erschossen. In einem Fall soll er eine Gruppe von sieben Juden in einer Grube hinter der Schule der Stadt ermordet haben. S.B. äußerte angebkch, es habe keinen Sinn, die Juden Sielec
war
nach Bereza Kartuska zu eskortieren, da die Deutschen sie dort sowieso nur erschießen würden. Der Täter war in Polen nicht auffindbar54. Viele Bestrafungen fielen jedoch erstaunlich milde aus55. Zum Beispiel wurde ein Schutzmann aus Stolpce in Weißrußland 1954 ledigUch zu zwei Jahren Haft verurteilt, obwohl er an der Liquidierung des Gettos in Stolpce teilgenommen haben soll; schon nach einem Jahr kam er wieder frei56. Dagegen verurteilte man einen weiteren polnischen Schutzmann der Stadt Disna 1965 wegen seiner Beteikgung an der Liquidation des Gettos und weiteren Tötungsaktionen gegen Partisanen und Ziviksten zum Tode. Seine Strafe wurde kurz danach in 25 Jahre Gefängnis umgewandelt, von denen er tatsächkch fast 16 Jahre abbüßte57. Ein polnischer Schutzmann der Stadt Mizocz im Gebietskommissariat Zdolbunów in der Ukraine, ebenfalls wegen der Tötung von Juden angeklagt, wurde 1963 in Polen zum Tode verurteilt. Er starb jedoch erst 1971 im Gefängnis58. Die Aussagen von Beschuldigten und anderen Zeugen geben nur wenige EinbHcke in die Motivation der polnischen Täter und bedürfen eines sehr vorsichtigen Umgangs. Die pokzeiliche Vernehmung eines ehemakgen polnischen Schutzmannes aus Baranowicze, 1994 in England durchgeführt, enthüllt einige Aspekte der Mentalität polnischer Kollaborateure. Sein Vater war früher Beamter in der Stadtverwaltung in Wolkowysk. Die Famüie mußte 1939 nach der sowjetischen Besatzung den Wohnort wechseln und nach Baranowicze umziehen, um der drohenden Deportation nach Sibirien zu entgehen. Der Mann sagte aus, daß die Russen und Deutschen beide Feinde Polens gewesen seien. Jedoch seien die Deutschen »besser« gewesen als die Russen. Er diente in einem mobilen Pokzeiverband (Jagdzug der Schutzmannschaft) und nahm an einigen Aktionen gegen Partisanen teil. Der Vernommene konnte sich nur an wenige Namen polnischer Kollegen in der Pohzei erinnern, während er die seiner weißrussischen Kameraden vollständig vergessen hatte59. Eine Akte aus dem Archiv des Oblast' Brest deutet darauf hin, daß er wahrscheinkch schon im Januar 1942 in der Stadtpokzei von Baranowicze diente, was bedeutet, daß er freiwilkg in die Pokzei eingetreten sein muß6". Weitere Zeugen berichteten von der aktiven Beteikgung des Jagdzuges »Baranowicze« an Repressaken gegen Partisanenfamiken, insbesondere bei der Verbrennung von Zivik34
Siehe HK SWSz 68.
55
Vgl. Musial, NS-Kriegsverbrecher (wie Anm. 52), S. 47 f. HK SWGd [Gericht Gdansk] 27.
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HK SWGd 53-54. HK SWOl [Gericht
Olsztyn]
36 37.
WCU, Vernehmung durchgeführt am 18.1.1994. GABO, fond 995, opis' 1, delo 5, Bl. 21 f., Liste der Polizei in Baranowicze im Januar 1942. -
368
Martin Dean
sten in einer Scheune in Nowe Siolo in der Nähe von Turzec, Rayon Mk, am Ende der Besatzungszeit61. Diese Bemerkungen zum schwierigen Thema der Kollaboration von Polen mit den Deutschen in Ostpolen und zu ihrer dkekten Beteihgung an der Ermordung von Juden können lediglich einen ersten Einbhck in das umfangreiche Material des Archivs der ehemahgen polnischen Hauptkommission vermitteln. Die ausführliche Auswertung dieser wichtigen Quellen steht noch aus. Ausgehend von der eingangs zitierten Debatte um die Ereignisse in Jedwabne, möchte ich die Aufmerksamkeit vor allem auf die Rolle von Polen im Schutzmannschaft-Einzeldienst lenken. Die Mehrzahl der verurteilten »polnischen Kriegsverbrecher« dienten in diesen deutschen Einheiten. Viele weitere sind durch Emigration oder Tod der Justiz entkommen. Obwohl die genannten Quellen sicherhch einige methodische Probleme mit sich bringen, besteht in den meisten Fällen kein Zweifel daran, daß die Beschuldigten tatsächhch im Dienst der Deutschen standen. Wie oben erwähnt, waren trotz der allgemeinen deutschen Ablehnung und des Mißtrauens gegenüber den Polen mindestens zehn Prozent der Schutzmannschaft in Weißrußland polnischer Nationalität. Die aktive Beteüigung der Schutzmannschaft an der Liquidierung der Gettos in weiten Teüen der ehemahgen Kresy Wschodnie im Laufe der Jahre 1942 und 1943 ist an anderer Stelle ausführlich geschildert worden62. Die Rolle der polnischen Untergrundbewegung bei der Unterwanderung der Schutzmannschaft harrt hingegen noch der Erforschung, um das Ausmaß und die Quahtät der polnischen Koüaboration sowie die Verantwortlichkeit von Organisationen und Einzelpersonen behutsam und in sachlicher Weise klären zu können.
* * *
Martin Dean, Dr. phil, geb. 1962, Applied Research Scholar am Center for Advanced Holocaust Stuckes, United States Holocaust Memorial Museum (USHMM), 100 Raoul Wallenberg Place, SW Washington, DC 20024. E-mail: [email protected].
Vgl. vor allem die Prozeßakten gegen Stanislaw Boguszewicz, abgeschlossen, Bl. 27-37, Aussage von P.K. am 7.8.1967. Vgl. Dean, Collaboration (wie Anm. 4), S. 78-104.
Gericht in Zielona Góra, 1974
Jerzy Myszor Die katholische Kirche und die Heimatarmee Die polnische Geistlichkeit stand in Zeiten nationaler Unterdrückung nicht abseits der großen Ereignisse1. Dies trifft auch auf die Tekung Polens im Jahre 1939 zu.
Während der Okkupation vertraten die Bischöfe, von einigen wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, eine oppositionelle Haltung gegenüber der Besatzungsmacht. Der Grad der Ablehnung war allerdings nicht nur durch die Erfahrungen der Kkche aus der Vergangenheit, das Alter und persönliche Charakterzüge der einzelnen Bischöfe geprägt, sondern auch historisch durch deren Herkunftsorte, d.h. ihre Ausbildung und Tätigkeit vor der Wiedergeburt Polens nach dem Ersten Weltkrieg. Die Bischöfe, die zur älteren Generation gehörten, schätzten die Chancen des militärischen Widerstands, nachdem die polnische Armee zerschlagen worden war und es an Hkfe von außen fehlte, insgesamt realistischer ein als Vertreter der niederen Geistlichkeit. Ein beträchtlicher Teil des niederen Klerus, welcher sich an Aktivitäten der Untergrundbewegung beteiligte, tat dies spontan, ohne dabei auf mögliche Konsequenzen zu achten. Insgesamt war die kathoksche Kkche in Anbetracht ihres universellen Auftrages stets bestrebt, ihre Handlungen an die herrschenden Rahmenbedingungen anzupassen. Für diese Aussage finden sich zumindest in der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts zahkeiche Belege. Es ist nicht bekannt, ob bestimmte Gruppen den bewaffneten Kampf aus grundsätzlichen Überlegungen mehr ablehnten als andere (etwa Bischöfe mit »preußischer Tradition« wie Stanislaw Adamski oder Teodor Kubina) was zumindest für die erste Zeit des Krieges faktisch zutrifft. Die Kritiker des bewaffneten Kampfes bauten wohl mehr darauf, daß die »biologische Substanz des Volkes« überleben müsse, als die Freiheit durch eine militärische Aktion zurückzugewinnen. Boleslaw Kominek, der engste Berater des Bischofs von Katowice Stanislaw Adamski (später Erzbischof von Wroclaw und Kardinal), brachte viele Jahre später die folgenden Zeilen zu Papier: »Wk waren uns bewußt, daß man die Menschen nicht massenhaft zu blindem Heroismus und in die Vernichtungslager drängen durfte, weil die Besatzungszeit lang hätte dauern können. Es ging darum, diese Zeit um jeden Preis zu überstehen2.« Das Verhältnis von Bischof Adamski zu den Besatzungsbe—
Hanna Dylagowa, Duchowieristwo katolickie wobec sprawy narodowej (1764-1864), Lublin 1981, S. 149-152. Archiwum Archidiecezji Katowickiej [Archiv des Erzbistums Katowice, im weiteren AAK], Erzbischof Boleslaw Kominek, Biografía szczególowa [Ausführliche Biografíe], Typoskript, S. 13, ohne Signatur.
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von einigen seiner Zeitgenossen ziemhch kritisch bewertet wird, schloß Widerstand gegenüber den Okkupanten nicht aus. Das Problem bestand vielmehr in der Auswahl der Methoden sowie in der Bewertung der Möghchkeiten und ihrer Folgen. Es steht außer Zweifel, daß keiner der Bischöfe als Verräter zu bezeichnen ist, selbst dann nicht, wenn er bewaffnetes Vorgehen für aussichtslos hielt. Aber gab es eine Grenze für den Kompromiß, und wenn ja, wo lag diese?
hörden, welches
Das Verhältnis der kirchlichen Hierarchie zu den Besatzungsbehörden ersten Reaktionen der kkchlichen Hierarchie und der Geisthchkeit auf den Einmarsch der deutschen Truppen waren unterschiedlich. Die traditionelle kkchliche Lehre erlegte dem Klerus für die Zeit eines Krieges weitestgehende Vorsicht sowie eine Rohe als Vermittler und Schhchter im Umgang mit den Besatzungsbehörden auf. Eine solche Position war um so mehr verständhch und in den ersten Monaten der Besatzungszeit erforderlich, als nach der Emigration der polnischen Regierung und der Zerschlagung der zivilen Verwaltung die Kkche die einzige kompakte und einflußreiche Organisation darstellte, welche trotz der Unterdrükkungsmaßnahmen im Prinzip (von einigen wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, welche das Erzbistum Gnesen und das Bistum Kulm betrafen) unversehrt gebheben war. Die Erfahrungen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges wie auch aus allen vorherigen Kriegen hatten gezeigt, daß es in erster Linie darum gehen mußte, die soziale Fürsorge auszubauen und Anarchie sowie unkontrollierte und wenig durchdachte Racheakte zu vermeiden, so heldenhaft diese im Einzelfall auch sein mochten. Am 28. August 1939, also in einem Augenbhck, wo es ganz offensichtlich war, daß der Ausbruch des Krieges unmittelbar bevorstand, verwies Bischof Adamski in einem vertraulichen Rundschreiben den Klerus und die Gläubigen seiner Diözese auf die folgende Sachlage: »Im Faüe eines feindhchen Überfalls sei daran erinnert, daß nach dem Völkerrecht die Besetzung eines bestimmten Gebietes durch feindhche Truppen die Zugehörigkeit dieses Gebietes zum ursprünglichen Staat weder aufhebt noch zeitweilig außer Kraft setzt. Die ortsansässigen Bewohner bleiben weiterhin Bürger dieses Staates. Eine Änderung der Staatsangehörigkeit kann nur durch internationale, rechtskräftige Friedensverträge erfolgen3.« In seinem Rundschreiben vom 7. September 1939, das heißt einige Tage nach dem Einmarsch der Deutschen in Katowice, schrieb er, daß sich der Klerus und die Gläubigen streng nach den Anweisungen der »gegenwärtigen Behörden« zu richten hätten, soweit dies mit dem Kkchenrecht und dem eigenen Gewissen zu vereinbaren sei. Die Priester wurden beauftragt, jedwede Anweisungen der Behörden, so-
Die
weit diese nicht morahsch verwerflich seien, entgegenzunehmen, selbst dann, die einzelnen Anweisungen im Widerspruch zueinander stünden4. Auch in
wenn 3 4
AAK, Regimen Dioecesis, vol. 2, VAI987-39, vertrauliches Rundschreiben vom 28.8.1939. Jerzy Myszor, Stosunki Kosciól a pañstwo okupacyjne w diecezji katowickiej 1939-1945, wice
1992, S. 41.
Kato-
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Hirtenbriefen anderer Bischöfe (Jan Kanty Lorek, Konstanty Dominik, Teodor Kubina, Adam Stefan Sapieha, Czeslaw Kaczmarek) sind die Sorge um das Schicksal der Bevölkerung sowie Appelle an die Vernunft zu verspüren. Diese gebot es, sich den von den Besatzungsbehörden erlassenen Rechtsakten unterzuordnen, die eine Begrenzung der Anarchie bezweckten, hervorgerufen durch die Kampfhandlungen entlang der sich verschiebenden Frontknie5. In zwei Briefen von Bischof Kaczmarek sowie von Bischof Dominik finden wir darüber hinaus die Aufforderung, sich jedweder Akte der Gewalt gegen die Besatzer zu enthalten6. Der Grat zwischen Gehorsam gegenüber den Machthabern und ihren Behörden, welche Ordnung in das öffentliche Leben bringen, und übertriebener Loyahtät (sprich: Serviktät) ist ziemkch schmal. Und in Abhängigkeit von vielen Faktoren, wobei hier sicher auch die poktischen Ansichten der Mitgkeder der Delegatur der Londoner Regierung und deren Bewertung der Rolle der Kirche eine beträchtliche Rolle spielten, war diese Trennknie doch recht dehnbar. Mitgkeder der Delegatur beispielsweise, welche aus den antiklerikal eingestellten Kreisen der Volkspartei (SL) sowie der Polnischen Soziakstischen Partei (PPS) stammten, kritisierten die Poktik von Bischof Adamski gegenüber den Besatzungsbehörden im Bistum Katowice zunächst heftig. Später waren weniger scharfe Töne zu hören, und Adamski wurde nun als »Opportunist in gutem Glauben« bezeichnet. Anders gesagt, man bezichtigte ihn der poktischen Naivität. Eine deutliche Neigung zum harten Urteilen hatten auch jene Poktiker, welche sich aus den unterschiedkchsten Gründen außerhalb von Polen befanden. Zu ihnen gehörte, wenn wir nur die kirchkchen Kreise in Betracht ziehen, Bischof Józef Gawkna, der dem SanacjaLager nahe stand. Realistischer beurteilte Priester Zygmunt Kaczyriski die Poktik Adamskis. Kaczyriski verüeß Polen erst im Dezember 1939 und hatte mit eigenen Augen gesehen, unter welchen Bedingungen die Bevölkerung im besetzten Polen leben mußte. Für die Bewohner Schlesiens wiederum waren die Entscheidungen des Bischofs von poktischem Reaksmus gekennzeichnet. Man nahm an, daß seine Kenntnisse über die Geschichte dieser Region und über die kompkzierten polnisch-deutschen Beziehungen aus ihm einen flexiblen Poktiker gemacht hätten, der durch seine Entscheidungen mögkcherweise jene Akte des Terrors verhindern konnte, die es beispielsweise in bezug auf die Geistkchkeit des Bistums Kulm gegeben hatte. Ein deutkcheres Beispiel für den Unterschied zwischen Loyaktät und Anbiederung wird in der Gestalt des Bischofs der Diözese Podlaska, Czeslaw Sokolowski, sowie in der des apostokschen Administrators in Wilna, Bischof Mecislovas (Mieczyslaw) Reinys, sichtbar. Sokolowski, der nach dem Tod von Bischof Henryk Przezdziecki am 27. Juni 1940 zum apostokschen Administrator für die Diözese Siedice (Podlaska) ernannt wurde, ist nach einhelliger Meinung von Historikern der einzige polnische Bischof, dem vorzuwerfen ist, daß er die Grenzen der Loya5
Jerzy Wolny, Arcybiskup Adam Stefan Sapieha w obronie narodu i Koscioia polskiego w czasie II wojny swiatowej, in: Ksiçga Sapiezynska, hrsg. von Jerzy Wolny und Roman Zawadzki, Bd 2,
6
Wolny, Arcybiskup Adam Stefan Sapieha (wie Anm. 5), S. 225.
Krakow 1986, S. 224-228.
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htät überschritten und die Forderungen der Besatzungsbehörden übereifrig erfüllt habe. Unter anderem heß er zu, daß Kirchenglocken requiriert wurden und sogenannte Kontingentheferungen erfolgten. Er verbot eine Zusammenarbeit mit dem Hauptfürsorgerat (RGO) und suspendierte in einem Fall einen Kaplan, welcher der Heimatarmee angehörte, vom Dienst. Er erhielt dafür einen strengen Verweis durch die Behörden des polnischen Untergrundstaates. Tadeusz Frechowicz erklärt die willfährige Haltung Sokolowskis übrigens mit den Erlebnissen aus den ersten Wochen der Besatzungszeit7. Schwieriger zu bewerten ist die Haltung von Erzbischof Reinys. Die polnischen im Wilnagebiet beurteüten seine Tätigkeit sehr negativ. So machte sich Reinys unter der polnischen Geisthchkeit zum Beispiel dadurch unbeliebt, daß er die Verwendung der polnischen Sprache in der Kirche einschränkte. Außerdem traf er zahkeiche Entscheidungen, die auf eine Diskriminierung des Polentums in Litauen hinaushefen. Die Ermahnungen, welche Reinys vom vatikanischen Staatssekretär Kardinal Luigi Maghone erhielt, verhallten ungehört. Erzbischof Reinys konnte auf die Unterstützung der litauischen Priester bauen, welche nach einer Einschätzung von Tadeusz Krahel8 und Cyprian Wilanowski9 in vielen Fällen mit den Besatzungsbehörden, darunter selbst der Gestapo, kollaborierten. Einige von ihnen, welche die polnische Bevölkerung besonders heftig vor den Kopf stießen, bekamen die entschlossene Reaktion der Heimatarmee zu spüren. Ambrozius Jakavonis, der Gemeindepfarrer von Jeczmieniszki, kooperierte bei der Aussiedlung der Polen aus der Gemeinde Podbrzezie eng mit der litauischen Pohzei. Er verschuldete zahkeiche Verhaftungen sowie den Tod von mehr als 30 Bewohnern der Gemeinde Podbrzezie, zum Teil Soldaten der Heimatarmee. Nach Abschluß des Untersuchungsverfahrens, durchgeführt vom Militärs ondergericht des Heimatarmee-Bezkks Wüna, wurde Jakavonis um den 24. April 1944 im Pfarrhaus von Soldaten des sogenannten Liquidierungstrupps des Bezkks Wilna der Heimatarmee verhaftet und auf Grundlage des Urteils des mihtärischen Sondergerichts erschossen10. Auch die Seelsorge der Armia Krajowa bewertete Erzbischof Reinys äußerst negativ. In seinem Brief an Kardinal Maghone rückte er die Aktivitäten der Heimatarmee-Abteilungen, welche auf dem Gebiet des Generalkommissariats Litauen operierten, in ein schlechtes Licht. In diesem Zusammenhang äußerte er sich u.a. wie folgt: »Geheime polnische Mükärverbände treiben in den Wäldern ihr Unwesen, sie überfallen Polizeistationen und Beamte sowie Litauer und Deutsche. In diesen Militärverbänden dienen sogenannte Kapläne, d.h. Priester polnischer
Untergrundbehörden
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8
9
Diecezja podlaska, in: Zycie religijne w Polsce pod okupacji hitlerowsk^ 1939-1945, hrsg. von Zygmunt Zieliñski, Warszawa 1982, S. 436. In seinem Tagebuch verteidigt Roman Soszyñski den Bischof, in: Pamietniki, relacje. Kosciól katolicki na ziemiach Polski w czasie II wojny swiatowej, Bd XV, Heft 1, hrsg. von Franciszek Stopniak, Warszawa 1988, S. 188 f. Tadeusz Krahel, Archidiecezja wileñska, in: Zycie religijne w Polsce pod okupacja. 1939-1945. Metropolie wileñska i lwowska, zakony, Katowice 1992, S. 34. Cyprian Wilanowski, Konspiracyjna dzialalnosc duchowieñstwa katolickiego na Wileñszczyznie Tadeusz Frechowicz,
w
10
latach 1939-1945, Warszawa 2001, S. 86.
Ebd., S.
87.
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welche ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung die ihnen anvertrauten Kirchengemeinden im Stich gelassen haben [...] Solche Miktärverbände kann man nicht als reguläre polnische Truppen anerkennen, da sie sich wegen ihrer nicht gesicherten Existenz durch Raubzüge über Wasser halten11.« Die Tatsache, daß Reinys die Miktärseelsorge im Feldeinsatz bzw. zumindest einen Teil der Militärpfarrer nicht anerkannte, hatte weitreichende Konsequenzen. 1944 suspendierte Reinys einige Miktärpfarrer des Bezkks Wilna der Heimatarmee vom Dienst, so zum Beispiel Aleksander Grabowski aus Postawy, Boleslaw Jaskólski aus Grauzyszki, Wiktor Gogolinski aus Gródek sowie Jan Laska aus Zadziew. Es handelte sich um jene Priester, welche von einer Verhaftung durch die Gestapo und die litauische Geheimpolizei Sauguma bedroht waren und sich bei Partisanenabteilungen versteckt hielten. Die Priester nahmen die gegen sie verhängte Suspendierung nicht an. Jaskólski erklärte in seinem Schreiben an Erzbischof Reinys, daß er als Militärpfarrer, der noch durch Erzbischof Jalbrzykowski ernannt worden war, einzig und allein der Gerichtsbarkeit des Feldbischofs unterstehe12. Analog stellte sich die Lage in Ostgalizien und in Wolhynien dar. Ob man sich mit dem ukrainischen Volk identifizierte und ob man willens war, die Polen mit allen möglichen Methoden aus der Ukraine zu entfernen, wobei selbst eine intensive Zusammenarbeit mit den Deutschen in Kauf genommen wurde, beeinflußte dort das Verhalten der Geistlichkeit. Eine weitere Trennlinie bildete die Zugehörigkeit zum lateinischen oder griechisch-katholischen Ritus. Die Haltung des Metropoliten der Unierten Kkche, Andrzej Szeptycki, zu den ukrainischen Morden an der polnischen Bevölkerung ist bis heute nicht endgültig geklärt. Nachdem Erzbischof Boleslaw Twardowski diesbezügkch an ihn appelliert hatte, erließ er zwar diverse Aufrufe und Hktenbriefe, in denen er denjenigen, die politisch motivierte Morde begehen würden, die Exkommunikation androhte; die Frage, ob er dies mit aller Entschiedenheit getan hat, ist jedoch strittig. Einige griechisch-katholische Priester hetzten jedenfalls in ihren Predigten von der Kanzel gegen die Polen13. Wk kennen zahkeiche Fälle, in denen sich polnische Priester trotzt der extrem schwierigen Bedingungen einer Bedrohung sowohl durch die sowjetischen Truppen als auch durch die ukrainischen Nationalisten und später durch die Deutschen an konspkativen Aktionen beteiligten und Menschen über die Grenze nach Rumänien schleusten14. Polnische Priester ergriffen auch selbst die Initiative zur Verteidigung der polnischen Bevölkerung gegen ukrainische Nationalisten. Einer der bedeutendsten Vertreter dieser Gruppe, die sich nicht scheute, die Waffe
Volkszugehörigkeit, [...]
—
—
Schreiben von Erzbischof Reinys an Kardinal Maglione vom 21.6.1944, in: Actes et Documents du Saint Siège relatif à la seconde guerre mondiale, 3. Le Saint Siège et la situation religieuse en Pologne en dans les Pays Baltes, Deuxième partie, Città del Vaticano 1965-1967, Nr. 567, S. 871. Vgl. Wilanowski, Konspiracyjna dzialalnosc (wie Anm. 9), S. 92 f. Waclaw Urban, Droga krzyzowa archidiecezji lwowskiej w latach II wojny swiatowej 1939-1945, Wroclaw 1983, S. 31; vgl. Józef Anczarski, Kronikarskie zapisy lat cierpien i grozy w Malopolsce Wschodniej 1939-1945, Krakow 1996, S. 296, Fußnote 45; Adam Kubasik, Arcybiskupa Andrzeja Szeptyckiego wizja ukraiñskiego narodu, paristwa i cerkwi, Lwow, Krakow 1999, S.
135-142,150-173. Urban, Droga krzyzowa archidiecezji (wie Anm. 13), S. 37.
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in die Hand zu nehmen, war Roman Daca »Longin« (1905-1944), Mihtärpfarrer des Gebiets Lemberg. Zur Zeit der ukrainischen Morde an den Polen stellte er die regionale Partisanenabteilung »Nowosielce« auf, die unter seiner Führung in zahlreichen Ortschaften die Bevölkerung gegen die Deutschen und gegen die Abteilungen der Ukrainischen Aufständischenarmee (UPA) verteidigte. Die UPA verhängte wegen dieser Aktivitäten ein fünffaches Todesurteil gegen ihn15. Der Kapuzinermönch und Verwalter der Kirchengemeinde in Ostróg, Pater Remigiusz Krane, übernahm bei der Verteidigung der Stadt gegen die Überfalle ukrainischer Nationalisten die Führung der Freiwilligenverbände. Das Kloster und die Kapuzinerkkehe mit dem angrenzenden Gebäude des Priesterseminars sowie das städtische Gefängnis, wo Tausende Einwohner Zuflucht gesucht hatten, wurden zu Verteidigungsstellungen. Die Freiwilligenverbände hielten die Stadt fast drei Wochen lang16. Die Leitung der kathohschen Kirche im Erzbistum Lemberg traute sich nicht, die Besatzungsbehörden um Hufe bei der Aufklärung der von Ukrainern an Polen verübten Morde sowie um die Bestrafung der Täter zu bitten. Dies war insofern begründet, als den Deutschen daran gelegen war, Zwietracht unter den einzelnen Volksgruppen zu schüren17. Das Verhältnis der kathohschen Kirchenführung zur Teilnahme des Klerus am Widerstand, insbesondere zur dkekten Einbindung in die Strukturen der Heimatarmee, entzieht sich dem verallgemeinernden Urteil. Im Bericht des Abgesandten der Londoner Exikegierung in Polen, Stefan »Grot« Rowecki, aus dem Jahre 1942 ist die folgende bemerkenswerte Einschätzung enthalten: »In der Masse ist der Klerus patriotisch eingestellt. In den Predigten tauchen oft antideutsche Akzente auf. Die Geisthchen in den Ordensgemeinschaften sind dabei aktiver als die Laienpriester. Trotz bestehender Verbote hält der Klerus an seiner einstigen Sozialarbeit unter dem ehemahgen Personal fest. In bezug auf die Regierung und die SSS [gemeint ist die Heimatarmee, J.M.] ist er loyal, wobei es Befürchtungen bezüghch freimaurerischer Einflüsse gibt; zum polnisch-sowjetischen Vertrag steht er positiv18.« Mitunter ging die Haltung des Klerus über bloße »Loyalität« hinaus. Es ist bekannt, daß etwa der Bischof der Diözese Lomza, Stanislaw Lukomski »Rybak«, ab 1942 Angehöriger der Armia Krajowa war. Als Ordinarius diente er im Stab des Heimatarmee-Bezkkes Bialystok (Abteüung VI, Büro für Information und Propaganda) und wurde im August 1944 mit dem Goldenen Verdienstkreuz mit Schwertern sowie im Dezember 1944 mit dem Tapferkeitskreuz ausgezeichnet19. 15 16 17 18
Anczarski, Kronikarskie zapisy (wie Anm. 13), S. 299, Fußnote 51. Jerzy Duchniewski, Kapucyni, in: Zycie religijne w Polsce (wie Anm. 7), S. 610-612. Jerzy Wçgierski, W lwowskiej Armii Krajowej, Warszawa 1989, S. 102. Postawa polityczna spoleczeñstwa polskiego. Raport Delegata [Die politische Einstellung der polnischen Gesellschaft. Bericht des Abgesandten|, Studium Polski Podziemnej, London [etwa 1942], Akte 14, Position 83. SSS (Stowarzyszenie Samoobrony Spolecznej, auch Stowarzyszenie Samopomocy Spolecznej [Vereinigung der gesellschaftlichen Selbstverteidigung bzw. Selbsthilfe|), ein Kryptonym für den Bund für den bewaffneten Kampf (ZWZ), umbenannt am 14.2.1942 in Heimatarmee auf Geheiß des Oberbefehlshabers der Polnischen Streitkräfte im Westen (PSZ), General Wladyslaw Sikorski. Witold Jemielity, Diecezja fomzyñska, in: Zycie religijne w Polsce, Metropolie wileñska (wie Anm. 8), S. 76. —
19
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Der bereits eingangs mehrfach erwähnte Bischof Stanislaw Adamski von Katowice, der im Februar 1941 aus seiner Diözese vertrieben wurde, ließ sich in Warschau nieder und fand Anschluß an die Miktärseelsorge im Untergrund. Diese gruppierte sich um die Sankt-Anna-Kirche. Innerhalb des Polnischen Untergrundstaates erfreute sich Adamski großer Autorität. Ein Beleg hierfür ist, daß ihm das Amt des Ehrenvorsitzenden des Gesellschaftkchen Rates (Rada Spoleczna) übertragen wurde, welcher als beratendes Organ beim Westbüro in Warschau fungierte. Im Rahmen der Tätigkeit der Schlesischen Delegatur spielte der wie Zbyszko Bednorz vermutet nicht ohne Beteikgung von Bischof Adamski berufene »Bevollmächtigte der Delegatur für kirchkche und soziale Angelegenheiten im Bereich der Wojewodschaft Schlesien und Oppeln« eine wichtige Rolle. Vielleicht auf Empfehlung von Adamski, jedoch gewiß mit dem Wissen seines Bischofs wurde der ebenfalls schon genannte Boleslaw Kominek, Referent der Verwaltung des Bistums Katowice, im Herbst 1940 mit dem Mandat betraut211. Das Verhältnis Adamskis zur Widerstandsbewegung ist wahrscheinkch auch für die übrigen polnischen Bischöfe typisch. Im Zeitraum zwischen September 1939 und Februar 1941 riet er als amtierender Bischof von Katowice von einer Beteikgung des Klerus an der Widerstandsbewegung ab, wobei es ihm hier wohl in erster Linie um die Sicherheit der Priester ging. Unter Verweis darauf, daß die eigentkche Aufgabe der Kirche in der Seelsorge bestehe, hatte er den Priestern ein Engagement in der Widerstandsbewegung zwar nicht ausdrückkch verboten, wollte aber nichts darüber wissen, anscheinend auch aus Gründen des Selbstschutzes. Wenn jedoch seine Hilfe erforderkch war, so versetzte er Priester, denen die Verhaftung drohte, schnell zu anderen Dienststellen. In Exteemfällen riet er ihnen auch zur Flucht in das Reichsinnere. Zweifellos verfügte Walenty Dymek, der Weihbischof von Posen, ebenso über enge Verbindungen zur polnischen Widerstandsbewegung. Dies belegen polnische sowie deutsche Quellen. Nach Edward Serwaiiski hat der Bischof bei sich Leute aus der Untergrundbewegung empfangen, die ihn über die Tätigkeit des Widerstandes informierten und von ihm Berichte zur Lage der kathokschen Kirche in Posen erhielten21. Mit Sicherheit hatte auch der Ordinarius von Lodz, Wlodzimierz Jasinski, von der konspirativen Seelsorge Kenntnis. Er stand nämkch mit dem Kommandeur des Heimatarmee-Bezirkes, Oberstleutnant Stanislaw Juszczakiewicz, in Verbindung. Diese Kontakte brachen ab, als die Besatzungsbehörden im Mai 1941 den Bischof internierten22. Eine besondere Rolle im besetzten Polen spielte der Meteopokt von Krakau, Erzbischof Adam Stefan Sapieha. Dies folgte schon aus der Ausnahmestellung, welche er innerhalb des polnischen Episkopats besaß, nachdem der Primas von Polen, August Hlond, Polen verlassen hatte. Die konspkative Miktärorganisation —
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Zbyszko Bednorz, Lata krecie i orlowe, Warszawa 1987, S. 113 f. Kazimierz Smigiel, Rola Kosciolów chrzescijaáskich w Kraju Warty, in: Kosciól katolicki na ziemiach Polski w czasie II wojny swiatowej. Materialy i Studia, Bd III, Heft 2, hrsg. von Franciszek Stopniak, Warszawa 1978, S. 376, Fußnote 106. Marek Budziarek, Diecezja lódzka, in: Zycie religijne w Polsce (wie Anm. 7), S. 396.
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Krakau, bereits gegen Ende September 1939 gegründet, nahm Kontakt zu Erzbischof Sapieha auf. Es ist bekannt, daß sich der Leiter des Stabes der Organisation des Weißen Adlers (OOB), Obersdeutnant Ludwik Muzyczka, und der Metropolit von Krakau getroffen haben. Es gibt auch Erkenntnisse über ein Treffen zwischen Sapieha und General Michal Tokarzewski-Karaszewicz, dem Oberbefehlshaber des Dienstes für den Sieg Polens (SZP). Tokarzewski bat nicht nur um moralische Unterstützung der konspirativen Tätigkeit, sondern stellte auch Forderungen nach konkreter Hilfe23; diese Unterstützung blieb nicht aus.
in
Die
Delegatur der Exkregierung in Polen und die Militärseelsorge
Die
Delegatur der Exilregierung in Polen wies Kkchenfragen nach dem Vorkriegsmodell dem Departement für Bildung und Kultur zu. Dieses Departement entstand im Januar 1941; die Leitung bis zum Jahre 1945 hatte Czeslaw Wycech »Sadowski« inne. Gegen Ende 1942 wurden durch Entscheidung des Abgesandten der Londoner Exkregierung in Polen, Stefan Rowecki, das Departement für Bildung und Kultur und das Departement für Bildung und Schulen der Westgebiete, Deckbezeichnung »Poczekalnia« (Wartesaal), zusammengelegt; »Poczekalnia« leitete Maksymilian Rode (Romuald Mariaticzyk)24. Im Departement für Kkchenfragen entstand ein Ausschuß von Vertretern des Klerus, der die gesamte polnische katholische Geistlichkeit gegenüber den Behörden des Untergrundstaates repräsentieren sollte. Vorsitzender war nach einhelliger Meinung von Historikern Franciszek Pauktiski, ein Pallotiner-Pater und Rektor der Pallotiner-Kkche in der Dluga-Straße in Warschau25. Außer Paulitiski waren die Priester Oberst Tadeusz Jachimowski, Oberst Jerzy Sienkiewicz, Roman Mielinski sowie der Jesuitenpater Edmund Elter Mitglieder des Gremiums. Ständige Verbindungsperson zwischen dem Departement für Kkchenfragen und dem Ausschuß war der ehemalige Ministerpräsident der Republik Polen (1921/22) Antoni Poni-
kowski. Nach dem Tod von Franciszek Paukñski im Mai 1943 wurde Tadeusz Jachimowski zum Vorsitzenden des Ausschusses von Vertretern der Geistlichkeit ernannt26, später auch Józef Baron sowie Antoni Hlond »Chlondowski«, der Bruder des Primas von Polen. Nach der Ermordung von Jachimowski während des Warschauer Aufstandes übernahm Pater Edmund Elter die Führung27. In der zweiten Jahreshälfte 1940 entstand auf Initiative von Elter ein Zentrum zur Koordinierung der Arbeit der Militärpfarrer, welche in den konspirativen Or23 24
23 26 27
Vgl. Wolny, Arcybiskup Adam Stefan Sapieha (wie Anm. 5), S. 372. Waldemar Grabowski, Delegatura Rzadu Rzeczypospolitej na Kraj, Warszawa 1995, S. 113-115. Jan Kot, Pallotyni polscy w walce z okupantem hitlerowskim w okresie II wojny swiatowej, in: Kosciól katolicki (wie Anm. 21), Bd XIV, Heft 7, Warszawa 1985, S. 160. Andrzej Krzysztof Kunert, Slownik biograficzny konspiracji warszawskiej 1939-1944, Bd 1, Warszawa 1987, S. 86 f. Stanislaw Podlewski, Wierni Bogu i Ojczyznie. Duchowienstwo katolickie losc Polski w II wojnie swiatowej, Warszawa 1975, S. 282.
w
walce
o
niepodleg-
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ganisationen tätig waren. Diese Koordinierungsstelle erhielt die Bezeichnung »Organisation des Polnischen Klerus« (OKP). Die Schirmherrschaft übernahm der Metropolit von Krakau, Erzbischof Sapieha28. Die Organisation des Polnischen
Klerus war mit dem weiter oben genannten Ausschuß der Geisthchkeit verbunden29. Die OKP sollte die Geisthchen im Kriege in vielerlei Hinsicht unterstützen. Unter anderem bestand ihr Auftrag darin, sie durch Vertiefung ihrer religiösen Kenntnisse innerlich zu stärken und all jenen Angehörigen der Untergrundbewegung innere Festigung zu bieten, zu denen die Mihtärpfarrer Zugang fanden. Darüber hinaus gewährte die Organisation den Männern und Frauen im Widerstand materielle Unterstützung. Sie verfügte über Außenstellen in den Diözesen Warschau, Krakau, Sandomierz, Siedice, Czçstochowa, Kielce sowie Lomza. Die Funktionäre nahmen daneben Kontakte zu Geisthchen auf, die in den dem Reich einverleibten Gebieten tätig waren. In Krakau gehörte die Mehrheit der OKP-Mitgheder Ordensgemeinschaften an. Treffen in der Stadt fanden im Dominikanerkloster statt, außerdem im Karmeliterkloster sowie im Kloster des Jesuiten-Ordens. Während dieser Versammlungen wurden die neuesten Informationen aus Rundfunksendungen sowie jene Neuigkeiten ausgetauscht, welche per Kurier aus London kamen30.
Die
Seelsorge in den Streitkräften
Die Angehörigen des Klerus, die nach erfolgter Mobilmachung zur polnischen Armee gehörten, wechselten als Seelsorger quasi ganz natürlich in die Armia Krajowa über. Trotz der Niederlage während des Septemberfeldzuges kam es in formeller Hinsicht zu keiner Unterbrechung der Mihtärseelsorge. Der Feldbischof der Polnischen Armee, Józef Gawhna, welcher Polen am 8. September 1939 verlassen hatte, ernannte den Priester Major Stefan Kowalczyk zum Generalvikar für Polen. Die Ernennung Kowalczyks fand allerdings unter Bedingungen statt, die kurze Zeit später Anlaß dafür bieten sollten, daß die Kurie beim Metropoliten seine Vollmachten in Frage stellte. Die Kurie erkannte die Ernennung nicht an und begründete dies damit, daß das bischöfliche Siegel auf der Ernennungsurkunde fehle31. Nach Aufsteüung der Hauptkommandantur des Bundes für den bewaffneten Kampf (ZWZ) am 30. Juni 1940 wurde die Organisation der Seelsorge in Angriff genommen. Mitte 1941 gab es innerhalb des ZWZ bereits eine eigene Abteüung, welche Priester Oberst Tadeusz Jachimowski »Budwicz« leitete. Am 28. August 1942 28
Janusz Odziemkowski, Duszpasterze podziemnej armii, Warszawa
29
3» 31
in: Polskie
1996, S. 197-205.
duszpasterstwo wojskowe,
Jan Stcpieñ, Wspomnienia z lat okupacji, in: Udzial kapelanów wojskowych swiatowej, hrsg. von Julian Humeñski, Warszawa 1984, S. 288. Ebd.
Odziemkowski, Duszpasterze podziemnej
armii
(wie Anm. 28), S.
197.
w
drugiej wojnie
Jerzy Myszor
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wandte sich General Rowecki an den Obersten Befehlshaber der Streitkräfte mit der Bitte, Bischof Gawhna möge Jachimowski zum Obersten Kaplan und Leiter der Seelsorge für die Streitkräfte in Polen ernennen32. Am 11. Dezember 1942 übermittelte Oberst Michal Protasewicz an Rowecki die Information, daß der Generalvikar der Polnischen Armee in Abwesenheit von Bischof Gawhna Jachimowski mit der Übernahme dieser Funktion beauftragt habe33, und am 5. Februar 1943 übernahm Jachimowski die Amtsgeschäfte34. Rowecki beauftragte ihn, sich zu Erzbischof Adam Stefan Sapieha zu begeben35. Nach Auffassung von Jerzy haben sich und der Erzbischof zwischen dem 1. September Jachimowski Wolny 1942 und dem 5. Februar 1943 tatsächhch getroffen. Direkte Kontakte zwischen Sapieha und Mihtärpfarrern habe es hingegen nicht gegeben. Wenn er von ihnen besucht wurde, habe es ersterer nicht zugelassen, daß man ihm über die Lage und die Aktivitäten der betreffenden Verbände berichtete36. Nach Auffassung von Jan Pochopieñ, seinerzeit Mihtärpfarrer bei der Heimatarmee, geschah dies aus Sorge um das Wohl der Konspkation. Am 5. Februar 1943 erheß Jachimowski den Befehl Nr. 1, der viele Fragen in bezug auf die Mihtärseelsorge der Heimatarmee regelte. Der Mihtärseelsorgedienst basierte auf Statuten, die vom Heihgen Stuhl am 27. Februar 1926 bestätigt worden waren. Die spezifischen Bedingungen der Besatzungszeit machten es erforderlich, daß die Mihtärpfarrer absolute Geheimhaltung übten und auf die Aufzeichnung ihrer seelsorgerischen Handlungen möglichst verzichteten. Die Verwendung von Personennamen war zu vermeiden, an ihre Stelle traten Decknamen und -bezeichnungen. Der Oberste Kaplan der Streitkräfte in Polen entschied, daß sämthche zur Mihtärseelsorge abgeordneten Kapläne mit den Methoden der konspkativen Arbeit vertraut gemacht werden soüten. Dieser Auftrag erging an die Dekane der einzelnen Gebiete und Bezkke der Heimatarmee. Der Oberste Kaplan war als einzige Instanz dazu befugt, Ernennungen für die Mihtärseelsorge gleich welcher Art vorzunehmen. Ein Mihtärpfarrer mußte vom zuständigen Bischof zur Ausübung seiner seelsorgerischen Tätigkeit bei der Truppe entsprechend bewerden. Die Auswahl der Militärpfarrer erfolgte vor allem unter den vollmächtigt Mihtärgeisthchen der Vorkriegszeit. Wenn ein ziviler Kaplan zum Militärdienst einberufen wurde, so bekam er die Rechte eines Mihtärpfarrers lediglich für die Dauer seines Einsatzes verhehen. Kriegsbedingt war das Vorhandensein einer entsprechenden Personakeserve erforderlich. Der Dekan eines bestimmten Gebietes bzw. Bezkkes der Armia Krajowa sollte eine Liste geeigneter Personen er—
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Schreiben von Rowecki an Sikorski vom 28.8.1942, in: Armia Krajowa w dokumentach 1939-1945 [im weiteren AKWD], 6 Bde, London 1970-1989, hier Bd 2, London 1973, S. 300. Schreiben von Protasewicz an Rowecki vom 11.12.1942, in: ebd., S. 379. Marek Ney-Krwawicz, Komenda Glówna Armii Krajowej 1939- 1945, Warszawa 1990, S. 83; vgl. Franciszek Stopniak, Tajna organizacja polskich kapelanów wojskowych w latach II wojny swiaziemiach na Polski czasie w II Kosciól katolicki towej. wojny swiatowej. Materialy i Studia, Heft 1, Warszawa 1973, S. 239. AKWD (wie Anm. 32), Bd 2, S. 434, Dok. Nr. 396. Wolny, Arcybiskup Adam Stefan Sapieha (wie Anm. 5), S. 376.
Die katholische Kirche und die Heimatarmee
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stellen. Dort schienen vor allem jene Geistlichen auf, welche schon vor dem Krieg der Reserve angehört hatten37. Stefan Kowalczyk unterstellte sich Jachimowski und war bis zum Ende der Untergrundaktion als Dekan des Bezirkes Warschau der Heimatarmee tätig. Es ist verwunderkch, daß Bischof Gawkna erst am 27. Juk 1943 Jachimowski zum Generalvikar ernannte. Diesem war das Recht eingeräumt worden, Miktärpfarrer für die Verbände der Heimatarmee zu ernennen, ohne die Namen der entsprechenden Kandidaten einreichen zu müssen. Gleichzeitig stellte Gawkna klar, daß es in bezug auf Fragen der Miktärseelsorge keine rechtkche Grundlage für eine Einflußnahme Zygmunt Kaczytiskis gebe, d.h. durch den Minister für Glaubensangelegenheiten und Öffentkche Bildung im Kabinett von Stanislaw Mikolajczyk38. Wie sich herausstellte, wurde die Londoner Regierung bezügkch der Lage in Polen aus zwei unterschiedlichen QueUen bekefert. Neben den Informationen, welche Jachimowski übermittelte, bekam sie auch Meldungen von Kaczyriski. Letzterer baute in Polen ein eigenes Informantennetz auf und berichtete auch dem Heiligen Stuhl auf eigene Faust, d.h. unter Umgehung von Bischof Gawkna39. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß nach der Ernennung von Jachimowski General Rowecki organisatorische Verfügungen für dessen Geschäftsbereich als Oberster Kaplan getroffen hat. Aufgrund eines Erlasses des Leiters des Seelsorgedienstes entstand die Feldkurie der Heimatarmee4". Der Oberste Kaplan hatte seinen Sitz im Städtischen Sankt-Rochus-Krankenhaus neben der Warschauer Universität41. Er verfügte innerhalb der Stadt über drei Kontaktadressen. Eine befand sich am Mirowskiplatz 18, eine weitere in der Warschauer Schule für Kran-
kenpflegepersonal (Chalubinski-Straße),
wo
Jachimowski Rekgionsunterricht
er-
teüte, die dritte im Stadtbezirk Zokborz. Am Mirowski-Platz fanden über eine gewisse Zeit Versammlungen der Miktärdekane statt. In speziell konstruierten Geheimverstecken lagerten die Dokumente der Miktärkurie, wobei ein Teil dieser Unterlagen unmittelbar vor dem Beginn des Warschauer Aufstandes in Kellerräumen ein Versteck fand42. Das Hauptquartier der Heimatarmee erhielt einen eigenen Miktärpfarrer43. Zur Zeit des Warschauer Aufstandes, konkret ab dem 7. August 1944, war der Jesuitenpater Tomasz Rostworowski in dieser Funktion tätig44. Die Referate der Feldkurie arbeiteten mit den Stabselementen der Hauptkommandantur zusammen, darunter auch mit dem Büro für Information und 37 38 3Sammlung und Aufbewahrung von Material, das die AK glorifiziert und die [kommunistische! AL herabwürdige, zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.« Zit. nach Adam Borkiewicz, Powstanie Warszawskie 1944, 3. Aufl., Warszawa 1969, S. 13-16. Emilia Plater (1806-1831), Teilnehmerin des polnischen Novemberaufstands 1830/31, kämpfte in einer Partisanenabteilung und fiel im Kampf gegen die russische Annexionsmacht. Noch heute ist eine der zentralen Straßen Warschaus nach ihr benannt. Vgl. Mala Encyldopedia Powszechna, Warszawa 1995, S. 657, und Kobieta i swiat polityki, hrsg. von Anna Zarnowska und Andrzej Szwarc, Warszawa 1994, S. 16. Im folgenden wird versucht, die Darstellung mit biographischen Angaben zu vertiefen. Dabei werden die bereits hinreichend bekannten Personen, wie zum Beispiel Tadeusz »Bór« Komorowski oder Stefan »Grot« Rowecki, ausgespart. Die Angaben zu den weiblichen Militärs sind allerdings oft lückenhaft oder ungenau überliefert. Selbst in den neuesten deutsch-polnischen Veröffentlichungen zum Warschauer Aufstand kom-
Vgl.
Frauen-Soldaten nicht vor. Siehe z.B. Der Warschauer Aufstand 1944, hrsg. von Bernd Martin und Stanislawa Lewandowska, Warszawa 1999, oder Borodziej, Der Warschauer Aufstand (wie Anm. 7), S. 19. Hier wird lediglich erwähnt, daß auch Frauen der AK angehört hatten. In beiden Veröffentlichungen firmieren Frauen unter dem Schlagwort »Zivilbevölkerung«. Natali Stegmann, Die Töchter der geschlagenen Helden. »Frauenfrage«, Feminismus und Frauenbewegung in Polen 1863-1919, Wiesbaden 2000. Stegmann weist nach, daß dieses Muster bereits für Emilia Plater nach dem Januaraufstand galt. Plater stand nicht etwa für die Wehrhaftigkeit der men
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Frauen als Kombattanten
389
Erscheinung der polnischen Unabhängigkeitskämpfe oder verstießen sie zu sehr gegen ihre gesellschaftlich festgelegte Rolle, um sie nach dem Krieg zu Heldinnen können? Traditionell wurde den Polinnen die Rolle der »Mutter der »Matka Polka«11, zugeschrieben. Diese »Mutter Pohn« symbohsierte der Nation«, eine Frau, die den schwierigsten Anforderungen gewachsen war, die ihren persönlichen Ehrgeiz mit den Bedürfnissen der Allgemeinheit in Einklang brachte und in Aufopferung für Vaterland und Heimat lebte12. Zusätzlich forderte die religiöse Tradition die Bereitschaft für Opfer und Entsagung. Die vorrangige Identifikation mit der Nation verhinderte nachhaltig die Solidarisierung mit dem eigenen Geschlecht13. Der nationale Widerstand diente in Polen bis in die Nachkriegsära als Surrogat einer Frauenbewegung nach westeuropäischem Muster. Die F'rauen erwarteten für ihr nationales Engagement nur symbohsche Vergütung, wie etwa ein hohes gesellschaftliches Prestige und eine wichtige Position innerhalb der Familie14. Deshalb kamen sie der Erwartung entgegen, ausschließhch »unterstützende Kämpfer« und »stille Heldinnen« zu sein15. Sanitäterinnen und Meldegängerinnen wurden zwar ehrenvoll in die Reihen der Armia Krajowa aufgenommen, mit diesem Akt ließen sich die Frauen-Soldaten unter ihnen allerdings wieder in die Position von mükäriscken Hilfskräften verweisen. Am Beispiel der polnischen Soldatinnen läßt sich nachweisen, daß deren Einsatz im Warschauer Aufstand über unterstützende Funktionen hinausging; sie waren die Seele und das Rückgrat des Widerstandes und beteihgten sich wie ihre männhchen Kameraden an den mihtärischen Auseinandersetzungen. Bis zum Oktober 1941 war der militärische Hilfsdienst der Frauen in der Vorgängerorganisation der Heimatarmee, dem Dienst für den Sieg Polens-Bund für den bewaffneten Kampf (SZP-ZWZ), nur durch mündhche Anweisungen aus der Hauptkommandantur geregelt16. Der erste schrifthche Befehl von Stefan »Grot« Rowecki, Kommandant der SZP-ZWZ im Lande, verbesserte den rechthchen Status der erklären
zu
polnischen Frau, sondern ihr »jungfräulicher Tod [...] wurde als Opfer auf dem Altar des Vaterlandes interpretiert und diente der Legitimierung des nationalen [nicht aber des weiblichen, K.H| Kampfes.« Ebd., S. 44. Vgl. auch Die polnische Frau in der Gegewartskultur, hrsg. von Walter Koschmal, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 49; Ingrid Strobl, »Sag nie, du gehst den letzten Weg.« Frauen im bewaffneten Widerstand gegen den Faschismus und deutsche Besatzung, Frank-
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furt a.M. 1989, S. 28 und 326. Begriff geht auf ein gleichnamiges Gedicht des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz zurück. Vgl. Adam Mickiewicz, Lyrik polnisch und deutsch, Leipzig 1978, S. 154 f. Die Matka Polka ist in Anlehnung an die schwarze Madonna von Czçstochowa die Verteidigerin der Nation, die ihren Sohn der Freiheit des Vaterlandes opfert. Vgl. Stegmann, Die Töchter (wie Anm. 11), S. 42. Kobieta i swiat polityki (wie Anm. 8), S. 37; Die polnische Frau (wie Anm. 10), S. 8. Bianka Pietrow-Ennker, Über Nihilistinnen und Mütter der Nation. Die Anfänge der Frauenbewegung Rußlands und Polens im Vergleich (19. Jahrhundert). Vortrag, gehalten an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg am 25.11.1998, Mitschrift im Besitz der Verfasserin; Natali Stegmann, Die polnische Frauenbewegung im Nationalbildungsprozeß 1905-1919, in: Inter finitimos, 12 (1997), S. 3-6; dies., Die Töchter (wie Anm. 10). Die polnische Frau (wie Anm. 10), S. 72. Kobieta i swiat polityki (wie Anm. 8), S. 69. Elzbieta Zawacka, Szkice z dziejów wojskowej sluzby kobiet, Toruii 1992, S. 226. Der
Katja Höger
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Frauen in den militärischen Verbänden17. Dieser Befehl Nr. 51 vom 30. Oktober 1941 stellte fest, daß Frauen, die aktiven Militärdienst im Bereich der Konspiration leisteten, wie ihre männlichen Kollegen Soldaten im Angesicht des Feindes waren. Frauen, die sich freiwillig zum Kriegsdienst meldeten, wurden durch diesen Befehl zu gleichberechtigten Mitgliedern der polnischen Armee. Der Befehl Nr. 59 vom 25. Februar 1942 legte den genauen Aufgabenbereich des Kriegsdienstes für Frauen in der Konspkation fest. Wichtig war hier vor allem, daß Frauen-Soldaten befugt wurden, alle Funktionen zu erfüllen. Im Notfall und bei entsprechender fachlicher Ausbildung für die gegebene Position sollten sie männkche Kameraden in allen Bereichen vertreten können. Eine weitere Dkektive der Hauptkommandantur vom 9. April 1942 schuf hierfür eine eigene Abteilung18. Der Befehl änderte die Bezeichnung für den militärischen Hkfsdienst der Frauen in Frauenkriegsdienst (Wojskowa Sluzba Kobiet, WSK); Frauen galten nun als keine bloßen Hilfskräfte mehr19. Der Befehl Nr. 59 führte zur Einrichtung des WSK-Referats in der Abteilung I der Hauptkommandantur unter Leitung von Maria »Mka« Wittek2"; das Ziel bestand darin, Frauen-Soldaten auf einen Aufstand vorzubereiten21. Dabei unterstand die Abtekung Frauenkriegsdienst der Hauptabteilung Organisation22. Sie war dankt ein integraler Bestandteil des Militärs und führte die Anwerbung, Registrierung und Zuweisung weiblicher Soldaten an die Einheiten der Heimatarmee durch23. Die WSK betreute das Sanitäts- und Meldewesen, die Bereiche Sabotage, Diversion, Spionage, Spionageabwehr, Propaganda, Verwaltung, Intendantur sowie den Wach-, Transport- und Feuerschutzdienst, die Flugabwehr (OPL) und schließlich den weitläufigen Bereich der Soldatenhilfe (PZ)24. Später zählten auch explizit die Teilnahme am Aufstand und Kampf zu den Aufgaben der WSK25. Die
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Vgl. ebd., S. 129 und 130, 226 und 227.
Kazimierz Malinowski, Kobiety-zolnierze AK, in: Wiçz, (1968), 2, S. 106-114, hier S. 108 f. Zawacka, Szkice (wie Anm. 16), S. 226. Maria Wittek (1899-?), weiblicher General, Pseudonym: Mira; seit 1919 in der Polnischen Militärorganisation (POW) und der Polnischen Armee (WP); 1921 Übertritt in die Freiwillige FrauenLegion (Ochotnicza Legia Kobiet); 1928-1935 oberste Kommandantin der Militärischen Vorbereitung der Frauen (PWK). 1939-1945 ("hefin des militärischen Frauenkriegsdienstes (WSK) im Oberkommando der SZP, später in der Hauptkommandantur des ZWZ und der AK; 1949 interniert; Mitbegründenn der Kommission für Frauengeschichte (Komisja Historii Kobiet przy Tow. Milosników Historii w Warszawie). Vgl. Nowa Encyklopedia Powszechna [im weiteren NEP|, 12 Bde, Warszawa 1962-1970, hier Bd 6, S. 813. By nie odeszlv w mrok zapomnienia. Udzial kobiet polskich w II wojnie swiatowej, Warszawa 1976, S. 83. Krannhals, Der Warschauer Aufstand (wie Anm. 3), S. 24 f.; vgl. auch den Beitrag über das politische Erscheinungsbild des Bundes für den bewaffneten Kampf-Heimatarmee von Grzegorz Mazur im vorliegenden Sammelband. Malinowski, Kobiety-zolnierze (wie Anm. 18), S. 109; Elzbieta Ostrowska »Ela«, Wojskowa Sluzba Kobiet w Powstaniu, in: Powstanie Warszawskie. 1 sierpnia 2 pazdziernika 1944. Sluzby w walce, hrsg. von Romuald Sreniawa-Szypiowski, Warszawa 1994, S. 77. Vgl. Ostroska, Wojskowa Sluzba Kobiet (wie Anm. 23), S. 77; Slawomir Fojcik, Zolnierze AK »Kryska«, Warszawa 1994, S. 44-77. Malinowski, Kobiety-zolnierze (wie Anm. 18), S. 109 f. -
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Frauen als Kombattanten
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WSK bildete mehr als 10 000 Frauen aus26; insgesamt standen im okkupierten Polen 35 000 bis 40 000 Frauen unter müitärischem Eid. Der Oberbefehlshaber setzte mit einem »Dekret für den freiwilligen Frauenkriegsdienst« die Änderung des Rechtsstatos der Frauen-Soldaten auch bei der Exikegierung durch. Das Dekret wurde am 23. Oktober 1943 von Präsident Stanislaw Mikolajczyk unterzeichnet. Wesenthch war hier die Aussage: »Frauen-Soldaten haben die selben Rechte und Pflichten wie die Männer27.« Das Dekret fand seinen Niederschlag im Befehl Nr. 129 General Komorowskis vom 18. Januar 1944, der damit den gleichberechtigten Status von Frauen in der Armee anerkannte. Der Befehl Nr. 871 setzte die verschiedenen schheßhch noch während des Warschauer Aufstands zu Frauen sie konndie im Militärdienst erreichen vermochten; fest, Dienstgrade ten in der Armia Krajowa bis zum General aufsteigen und die höchste militärische Auszeichnung, den Orden »Vktuti Militari«, verhehen bekommen28. —
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Fors chungs stand
Quellenlage zum Thema kann als gut bezeichnet werden. Unveröffenthchte Quellen lagern im Archiv des Polnischen Untergrunds (APP) in Warschau, etwa Artikel der polnischen Untergrundpresse29. Gedruckte Quellen bieten die dreibändige Quellensammlung zur Zivilbevölkerung3" und die Sammelbände von Andrzej Krzysztof Kunert zum Warschauer Aufstand. Daneben existieren Literatur-, Gedicht- und Liedersammlungen sowie Tagebücher. Forschungsliteratur außerhalb Polens wird man wahrscheinlich vergeblich suchen; in dem von Walter Koschmal herausgegebenen Sammelband zur Rolle der Frau in der polnischen GegenwartsDie
kultur31 findet man vereinzelt Hinweise zum Einsatz der Pohnnen im nationalen Widerstand seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den Aktivitäten der Solidarnosc in der kommunistischen Ära Polens; Abhandlungen zum Warschauer Aufstand in englischer Sprache bieten die Werke von Joanna Hanson und Janusz Kazimierz Zawodny, der als einziger auch unmittelbar auf Einsätze bewaffneter Soldatinnen eingeht32. Die polnische Forschungshteratur zum Thema ist zahkeicher. Genannt seien die Reihe der Kommission für Frauengeschichte (Komisja Historii Kobiet) in Warschau, darunter vor allem der Sammelband »By nie odeszly w mrok zapom26
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Zofia Wankowicz, Kombatantki, in: Kultura, (1954), 10, S. 77-98, hier S. 85, Anm. 3, und (1954), 12, S. 154 f.; Janusz Kazimierz Zawodny, Nothing But Honour. The Story of the Warsaw Uprising 1944, London 1978, S. 44. Wankowicz, Kombatantki (wie Anm. 26), S. 94, Anm. 1. Beispiele: Maria »Mira« Wittek (wie Anm. 20), NEP, Bd 6, S. 813; Wanda »Lena« Gertz, ausgezeichnet mit dem Orden »Virtuti Militari« und dem Tapferkeitskreuz, ebd., Bd 2, S. 514; zu Gertz
auch Andrzej Krzysztof Kunert, Slownik biograficzny konspiracji warszawskiej 1939-1944, 3 Bde, Warszawa 1987-1991, hier Bd 2, S. 57; zu Gertz vgl. auch Fußnote 49 in diesem Beitrag. Die hier verwendeten Artikel befinden sich in Kopie im Privatarchiv der Verfasserin. Ludnosc cywilna w Powstaniu Warszawskim, 3 Bde, Warszawa 1974. Die polnische Frau (wie Anm. 10). Joanna K. Hanson, The Civilian Population and the Warsaw Uprising of 1944, Cambridge 1982; Zawodny, Nothing But Honour (wie Anm. 26).
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nienia« (Damit sie nicht in die Dunkelheit des Vergessens geraten)33 oder die Skizze des Frauenkriegsdienstes von Elzbieta Zawacka34. Für die Darstellung der einzelnen Bereiche des Untergrundkampfes in Warschau ist vor allem der Sammelband »Powstanie Warszawskie. 1.VIII.-2.X.1944. Sluzby w walce«35 von 1994 hilfreich. Grundlage für die beiden letzten Kapitel meines Beitrags bilden ein Buch Jadwiga Podrygallos von 199636 sowie ein Artikel über das Frauen-Diversionsund Sabotage-Bataillon (DYSK)37. Zahkeiche Hinweise sind zwei Büchern Janusz Kazimierz Zawodnys von 1978 und 1994 entnommen38. Die polnische Forschungskteratur bildet eine hervorragende Zusammenstellung von Daten und Fakten. Sie läßt allerdings mit Bkck auf die Frauenforschung methodische Defizite erkennen39. Diesbezügkch sind neben Stegmann die Arbeiten von Bianka Pieteow-Ennker und Ingrid Steobl von zentraler Bedeutung. Strobl hat die theoretische Auseinandersetzung mit der Problematik von Frauen im Widerstand vorangetrieben4". Gleiches gilt für Walter Koschmals Sammelband41 und das Werk »Kobieta i swiat poktyki«42. Polnische Frauen konnten immer nur dann in gesellschaftkch oder poktisch entscheidende Positionen aufsteigen, wenn der Staat in seinem Bestand bedroht war. Die Beteikgung der Poknnen an den Unabhängigkeitskämpfen diente seit dem 19. Jahrhundert als Surrogat der Frauenbewegung. In ihrem nationalen Kampf orientierten sie sich außergewöhnkch stark an männkchen Normen43. Der Warschauer Aufstand stellt in dieser Entwicklung den Höhepunkt dar. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zumindest die Frauen-Sodaten der Armia Krajowa nicht als Heldinnen gefeiert, sondern verschwanden trotz ihrer außergewöhnkchen Leistungen, die im folgenden geschildert werden sollen, aus poktischen Gründen wieder aus dem Bkckwinkel der Öffentlichkeit.
Frauen in den
Kampfunterstützungs- und Kampftruppen
Der weibkche miktärische Widerstand innerhalb der Armia
Krajowa spielte im Warschauer Aufstand eine wichtige Rolle44. Rein praktische Gesichtspunkte machten einen massiven Einsatz von Frauen-Soldaten notwendig. Für den ge33 34 33
By nie odesziy (wie Anm. 21). Zawacka, Szkice (wie Anm. 16). Powstanie Warszawskie. Sluzby w walce (wie Anm. 23).
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Jadwiga Podrygallo, Ach, te dziewczeta. DYSK we wspomnieniach i relacjach, Warszawa 1996. Anna Gajowniczek und Tomasz Strzembosz, Zarys historü oddzialu »DYSK«, in: Rocznik War-
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Janusz
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szawski, Bd XV, Warszawa 1979. szawa
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Kazimierz
Zawodny, Uczestnicy i swiadkowie Powstania Warszawskiego. Wywiady, War-
1994; ders., Nothing But Honour (wie Anm. 26).
Stegmann, Die Töchter (wie Anm. 10), S. 13 f. Strobl, Sag nie (wie Anm. 10); Pietrow-Ennker, Über Nihilistinnen (wie Anm. 13). Die polnische Frau (wie Anm. 10). Kobieta swiat poktyki (wie Anm. 8). Stegmann, Die Töchter (wie Anm. 10), S. 241 f. und 236. Siehe auch den Beitrag von Wlodzimierz Borodziej in diesem Band.
Frauen als Kombattanten
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planten Befreiungsschlag gegen die deutsche Übermacht wurden so viele Kräfte wie möghch benötigt. Die rigorose Besatzungspohtik, gekennzeichnet von Unterdrückung, Menschenjagden und Massenexekutionen, hatte in Warschau viele Menschen in den Untergrund und in die Konspkation getrieben. Nach einem Register des Stadtbezkksreferats der WSK Warschau lag die Gesamtzahl der in der Heimatarmee ausgebüdeten und vereidigten Frauen Ende Juh 1944 bei 797545. Davon befanden sich im Sanitätsdienst 3184, im Verwaltungsdienst 1103, im Meldewesen 867, im Bildungsdienst 1334 und im Wachdienst 732 Frauen. Zu dieser Zahl registrierter Frauen-Soldaten kam noch eine weitere Gruppe, die nicht unmittelbar der WSK angehörte, sich aber aktiv am Aufstand beteiligte. Dabei handelte es sich um weibhche Angehörige der Aufklärung und Spionageabwehr, der Propaganda und der Soldatenhilfe im Rahmen des Büros für Information und Propaganda (BIP). Außerdem waren in diesem Register keine Frauen aufgeführt, die in den Kampfeinheiten dienten. Frauen, die aufgrund ihrer Berufsausbüdung im Aufstand tätig waren, wie Ärztinnen und Krankenschwestern, wurden ebenfalls nicht in der WSK registriert, gleichfalls nicht diejenigen Frauen, die sich im letzten Augenblick vor Aufstandsausbruch der Konspkation anschlössen und keine Ausbildungs- oder Dienstzeit nachweisen konnten. Schheßhch waren in diesem Register auch jene Frauen nicht verzeichnet, die dem großen, fachlich gut ausgebildeten und erfahrenen Führungsstab in der Hauptkommandantur angehörten. Insgesamt verfügte die Heimatarmee für den Aufstand Ende Juh 1944 über mehr als 10 000 ausgebildete weibhche Kräfte. Damit wäre jeder vierte Soldat
weiblichen Geschlechts gewesen und nicht, wie Komorowski in seinen Erinnerungen schrieb, nur ein Siebtel der Armia Krajowa46. Zusätzhch gab es eine große Anzahl von Frauen, die nach Ausbruch der Kampfhandlungen spontan das Militär, die Zivilverwaltong und das Sanitätswesen unterstützten, ohne sich in der WSK erfassen zu lassen. Frauen konnten in der Hauptkommandantur der Heimatarmee leitende militärische Positionen übernehmen, allerdings nur in den Bereichen, in denen sie den Befehl über Frauen hatten. Während des Aufstands stand Maria »Mira« Wittek in der weibkchen Militärhierarchie an oberster Stelle47. Die Abteilung Nachrichtenund Meldewesen in der Hauptkommandantur stand unter der Führung von Janina Karastiówna)48. Der Hauptkommandantur unterstanden unmittelbar acht militäri45 46
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Ostrowska, Wojskowa Sluzba Kobiet (wie Anm. 23), S. 78, und Fojcik, Zolnierze AK (wie Anm. 24), S. 77. Tadeusz Bór-Komorowski, The Secret Army, New York 1951, S. 208, sprach von 40 000 Soldaten und 4200 Frauen. Zawodny, Nothing But Honour (wie Anm. 26), S. 46, schließt sich der Schätzung an. Laut Ostrowska, Wojskowa Sluzba Kobiet (wie Anm. 23), S. 78, waren es jedoch über 10 000 Frauen und damit ein Viertel der AK. Andrzej Kunert, Rzeczpospolita walcz^ca. Powstanie Warszawskie 1944. Kalendarium, Bd 3, Warszawa 1994, S. 382-392; Romuald Sreniawa-Szypiowski, Organizacja Armii krajowej w Warszawie, in: Powstanie Warszawskie. Sluzby w walce (wie Anm. 23), S. 9-23. Janina Karasfiówna) (1903-1948), weiblicher Major, Pseudonyme: Jadwiga Berg, Bronka, Haka. 1939 organisierte und leitete sie das konspirative Meldewesen und das Sekretariat des Oberkommandos des SZP; seit 1941 Chefin der Abteilung Nachrichten- und Meldewesen der Hauptkommandantur (KG) des ZWZ-AK. Nach dem Warschauer Aufstand geriet sie in deutsche Kriegsge-
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Katja Flöger
Spezialeinheiten, von denen eine ausschließkch aus Frauen zusammengesetzt und von Major Wanda »Lena« Gertz49 geleitet wurde. Dabei handelte es sich das Frauen-Diversions- und Sabotagebataillon (DYSK), das sich vor allem mit
sehe war um
Sprengstoffanschlägen beschäftigte. Die Anordnung der folgenden Kapitel über den Einsatz der Frauen-Soldaten in den Dienststellen und Kampfeinheiten der Armia Krajowa erfolgt unter dem Gesichtspunkt der Einsatzhöhe. Zu Beginn stehen Bereiche, in denen Frauen traditionell tätig waren, wie das Sanitäts-, Propaganda- und Nachrichtenwesen. Die Kanalführerinnen werden in einem eigenen Kapitel abgehandelt. Zum Schluß erfolgt eine Untersuchung der rein miktärischen Einsätze von Frauen-Soldaten im Diversions- und Frontbereich.
Sanitäterinnen
(Sanitariuszki)
Die überwiegende Mehrzahl der Frauen war während des Warschauer Aufstands im Sanitäts- und Rettungswesen eingesetzt5". Hier engagierten sich neben den Sanitäterinnen des Frauenkriegsdienstes (WSK) und des medizinischen Fachpersonals besonders Ordensschwestern und Nonnen51. Eine große Bedeutung hatte das Rote Kreuz, das sich nicht nur um die medizinische Versorgung kümmerte, sondern auch die späteren Evakuierungen der Zivilbevölkerung und die Betreuung der Menschen in den Durchgangslagern übernahm52. Bei den diesbezüglichen Verhandlungen spielte die Vizepräsidentin des Polnischen Roten Kreuzes (PCK), Gräfin Maria Tarnowska53, eine herausragende Rolle54. Die leitenden Positionen
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fangenschaft. Nach ihrer Befreiung 1945 ging sie nach Großbritannien und wurde dort Mitbegründerin des AK-Kreises; gestorben 1948. NEP (wie Anm. 20), Bd 3, S. 275. Wanda Gertz (1896-1958), weiblicher Major, Pseudonym: Lena; verfügte bereits über Kriegserfahrung aus dem Ersten Weltkrieg und dem Polnisch-Russischen Krieg; von 1919 bis 1922 Ander 1922 Polnischen Armee In hatte sie als Leutnant, später als (WP). den Jahren 1920gehörige Oberleutnant das Kommando über das II. Wilnaer-Bataillon der Freiwilligen-Frauen-Legion; danach Mitbegründerin sowie Ausbildungsleiterin der PWK; seit 1939 in SZP, später in ZWZ-AK; von 1942 bis 44 Organisatorin und Kommandantin der Fraueneinheit DYSK in den Spezialeinheiten (KEDYW) der AK. Im Warschauer Aufstand erreichte sie den militärischen Dienstgrad eines Majors und wurde später mit der höchsten militärischen Auszeichnung »Virtuti Militari« und dem Tapferkeitskreuz geehrt; 1944/1945 in deutscher Kriegsgefangenschaft, gestorben 1958 in der Emigration. NEP (wie Anm. 20), Bd 2, S. 514; Kunert, Slownik biograficzny (wie Anm. 28), Bd 2, S. 57 f. Zawodny, Nothing But Honour (wie Anm. 26), S. 48. Hanson, The Civilian Population (wie Anm. 32), S. 250. Ebd., S. 96; Zawodny, Nothing But Honour (wie Anm. 26), S. 275. Maria Aniela Tarnowska (1880-1965), Organisatorin des Polnischen Roten Kreuzes (PCK); seit 1927 Mitglied des PCK-Vorstands; mehrere militärische Auszeichnungen, z.B. das Tapferkeitskreuz. Das Polnische Biographische Archiv (PAB), aus dem diese Daten entnommen sind, bietet veraltete Daten, vgl. Polskie Archiwum Biograficzne [auf Mikrofilm| (PAB), bearb. von Gabriele Baumgartner und Dieter Hebig, München 1992, Bd 1, S. 550. Die jüngst erschienene, autobiograSchrift von phische
nicht mehr
Maria Tarnowska
herangezogen werden.
»Wspomnienia«,
Warszawa
2002, konnte für diese Arbeit
Frauen als Kombattanten
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des Sanitätsdiensts im Rahmen der Heimatarmee waren wie in den meisten anderen Bereichen mit Männern besetzt55, das medizinische Personal war aber überwiegend weibhch. Auch unter den Ärzten befanden sich zahkeiche Frauen56; insgesamt schätzt man deren Anteil im Sanitätsdienst auf 70 bis 80 Prozent57. Die Rolle der Frau als Sanitäterin im Krieg war eine traditioneüe und selbstverständliche. Sanitäterinnen befanden sich normalerweise zwar an der Front, aber nicht in unmittelbarer Nähe zum Feind. Sie versorgten Verwundete und standen unter dem Schutz des Roten Kreuzes. Im Warschauer Aufstand hingegen unterschied sich ihre Situation grundlegend von der an anderen Kriegsschauplätzen. Zum einen gab es keine Front, von der sich Frauen fernhalten und hinter die sie sich zurückziehen konnten, zum anderen beschossen die Deutschen systematisch Krankenhäuser und -Stationen. Die schlimmsten Verbrechen an der Zivilbevölkerung wurden im Warschauer Aufstand wie im folgenden gezeigt wkd an den Patienten und am Personal der Aufstandskrankenhäuser verübt. Die Bedingungen, unter denen in den Krankenhäusern und Feldlazaretten gearbeitet werden mußte, waren entsetzhch. Einen Eindruck von den Zuständen während des Aufstands vermitteln die botos im Bildteil dieses Bandes. Die Zahl der Verwundeten und Kranken stieg ins Unermeßliche. Hierauf konnte die medizinische Versorgung nicht eingerichtet sein. Besonders tragisch wkkte sich der Wassermangel aus. Wasserwerke, Filter und Pumpen befanden sich in den Händen der deutschen Truppen, die die Wasserversorgung für die aufständischen Stadtviertel unterbrachen. Ebenso mangelte es an Verbandsmaterial und Desinfektionsmitteln. Die hygienischen Bedingungen waren für eine medizinische Versorgung denkbar schlecht. Der Mangel an qualifizierten Ärzten und Krankenschwestern trug zu einer hohen Sterblichkeitsrate der Patienten bei58. Die vielen freiwilligen Helfer, die sich im Verlauf des Aufstands zur Verfügung stellten, waren oft nicht genügend ausgebüdet. Die Arbeitsbedingungen in den medizinischen Einrichtungen wurden besonders unmenschlich durch die Tatsache, daß die deutschen Einsatzkräfte das Symbol des Roten Kreuzes nicht achteten59; die Wehrmacht eröffnete das Feuer mitunter sogar auf Sanitäterinnen, die versuchten, Verwundete zu evakuieren60. Unter diesen Bedingungen erhielten dennoch die Männer als erste den Befehl zum Rückzug, während Frauen weiter die Versorgung der Verwundeten sichern sollten. Sie —
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Krannhals, Der Warschauer Aufstand (wie Anm. 3), S. 288; Hanson, The Civilian Population (wie Anm. 32), S. 96 und 196, und Bór-Komorowski, The Secret Army (wie Anm. 46), S. 336. Romulald Sreniawa-Szypiowski, Sluzba sanitarna w Powstaniu, in: Powstanie Warszawskie. Sluzby w wake (wie Anm. 23), S. 88. Halina Krahelska, 28 dni ostrego dyzuru, in: Perspektywy, (1974), 39, S. 39 f., hier S. 40. By nie odeszly (wie Anm. 21), S. 271. Allerdings ist die Zahl 2000, die in diesem Zusammenhang genannt wird, wohl zu niedrig. Allein im Sanitätsdienst der Stadtbezirkskommandantur waren über 3000 Frauen registriert. Ostrowska, Wojskowa Sluzba Kobiet (wie Anm. 23), S. 78. Ebd., S. 96. »Szpital pod kulami. Wróg nie szanuje Czerwonego Krzyza.« Biuletyn Informacyjny, Warszawa, 7.8.1944, Nr. 44 (260), S. 4 (Quelle im Archiwum Polski Podziemnej, APP). Zawodny, Nothing But Honour (wie Anm. 26), S. 48.
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galten als weniger gefährdet, was der Reaktät des Aufstands nicht entsprach. Viele bkeben freiwilkg und verloren ihr Leben. Die deutschen Truppen sowie »fremdvölkische« Hilfskontingente gingen mit großer Bestiaktät gegen die Schutzbedürftigen und ihre Betreuer vor. Das RotKreuz-Krankenhaus in Powisle wurde bereits am zweiten Aufstandstag niederge-
brannt61. Eine Sanitätsstation in der nördlichen Innenstadt im Gebäude der Polnischen Sparkasse (PKO) war mehrfach von Luftangriffen betroffen. Am 5. August drangen SS-Angehörige in ein Krankenhaus im Stadtteil Wola ein und erschossen die Arzte auf der Stelle, Pflegepersonal und Patienten später in einer Halle im Stadtteil Moczydlo62. Ein Inferno richteten deutsche Kampftruppen auch im Sankt-Lazarus-Hospital im gleichen Stadtteil an, als sie die Kknikpavillons mit Granatfeuer belegten und die Fkehenden erschossen. Am 11. August brach die SSSturmbrigade RONA (Russische Nationale Befreiungsarmee) in das Krankenhaus in der ulica Uniwersytecka (Ochota) ein, vertrieb Ärzte und Krankenschwestern und erschoß diejenigen, die nicht fliehen konnten. In Czerniaków wurde ein Lazarett Mitte September von den Deutschen restlos zerstört. Im Verlauf der Überfalle auf Krankenhäuser kam es zur Vergewaltigung von Nonnen, Sanitäterinnen, Helferinnen und Patientinnen63. Frauen, die sich verweigerten, wurden erschossen; dennoch hielten viele bis zu ihrem eigenen Tode bei den Patienten aus, verbrannten mit ihnen oder starben unter den Trümmern der zerbombten Gebäude. Frauen in der Propaganda- und Pressearbeit
Pubkzistische und propagandistische Arbeit von Frauen war im polnischen Untergrund eine Selbstverständkchkeit. Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Polinnen in diesem Bereich eine starke Position inne. Deshalb war es nicht verwunderkch, daß zahkeiche Frauen in den Organen des Büros für Information und Propaganda (BIP)64 und der Propagandaabteilung der Delegatur der Regierung (DR) mitarbeiteten65. Die Herausgabe des Hauptpresseorgans »Biuletyn Informacyjny« der Armia Krajowa bzw. des BIP besorgte Jan Rzepecki66. Aleksander Ka61
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Siehe im folgenden: Walczace dzielnice Warszawy. 1.8.-2.10.1944, hrsg. vom Zwiazek Powstañców Warszawskich [Bund der Warschauer Aufständischen!, Warszawa o.J., S. 65 67. Laut Hanson, The Civilian Population (wie Anm. 32), S. 88, und By nie odesziy (wie Anm. 22), S. 273, wurden dort 2000 Menschen erschossen. Hanson, The Civilian Population (wie Anm. 32), S. 90; siehe z.B. auch Ludnosc cywilna (wie Anm. 30), Bd 1, S. 252. Grzegorz Mazur, Biuro Informacji i Propagandy w Powstaniu, in: Powstanie Warszawskie. Sluzby w walce (wie Anm. 23), S. 132 und 135. -
Grzegorz Mazur,
Biuro Informacji i Propagandy SZP-ZWZ-AK 1939-1945, Warszawa 1989, S. 322-366; ders., Biuro Informacji i Propagandy w Powstaniu (wie Anm. 64), S. 130-144; Powstanie Warszawskie w historiografía i literaturze 1944- 1994, Lublin 1996, S. 137-144. Im folgenden vgl. Witold Grabski, Prasa Powstania Warszawskiego 1944, Warszawa 1996, S. 13; »Zofia Kossak«, hrsg. vom Muzeum Niepodlegfosci w Warszawie/Fundacja Archiwum Polski Podziemnej 1939-1956, Warszawa 1992, S. 37; Mazur, Biuro Informacji i Propagandy w Powstaniu (wie Anm. 64), S. 132 und 135; Ludnosc cywilna (wie Anm. 30), Bd 3; Wladyslaw Bartos-
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redigierte es in Zusammenarbeit mit Maria Straszewska. Andere Untergrundzeitschriften, deren Mitherausgeber das BIP war, wurden ebenso in dessen Druckereien hergesteüt und durch eine gemeinsame Kolportageabteilung verteilt. Hierzu gehören zum Beispiel die Informationsschrift der Heimatarmee »Warszawa Walczy«, die Slawomir »Jaskólski« Dunin-Borkowski zusammen mit Haiina »Nowicka« Auderska67 redigierte, oder das kathohsche Blatt »Prawda« bzw. die »Barykady Powisla«, die unter Mitarbeit von Zofia Kossak-Szczucka68 entstanden. Die Kolportageabteilung der Hauptkommandantur leitete Wanda »Lena« Kraszewska-Ancerewicz; sie war allerdings formal einem Offizier unterstellt69. In der ersten Augusthälfte zählte die Zentrale Kolportageabteilung ungefähr 45 Mitarbeiterinnen, die weitere Kolporteurinnen zur Verteüung ülegaler Druckerzeugnisse einsetzten7". Der Radiosender »Blyskawica« der Hauptkommandantur strahlte zwischen 9. August und 4. Oktober 1944 in Warschau zahkeiche Sendungen aus71. Als Stellvertreterin des Programmchefs arbeitete Zofia »Ewa« Rutkowska. Den Mihtärischen Gesellschaftsdienst (WSS) rief Antoni Nowak-Przygodzki72, der miñski
zewski, Konspiracyjne czasopismiennictwo kulturalne w kraju w latach 1939-1945. Zarys informacji, in: Twórczosc, (1961), 10, S. 81-102; Christoph Kleßmann, Die Selbstbehauptung einer
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Nation. Nationalsozialistische Kulturpolitik und polnische Widerstandsbewegung im Generalgouvernement 1939-1945, Düsseldorf 1971; Stanislawa W. Lewandowska, Polska konspiracyjna prasa informacyjno-polityczna 1939-1945, Warszawa 1982; Lucjan Dobroszycki, Studies of the Underground Press in Poland 1939-1945, in: Acta Poloniae Histórica, 7 (1962), S. 96-102. Haiina Auderska (1904-?), Schriftstellerin, Pseudonym: Nowicka; Redakteurin der Informationsschrift der AK »Warszawa Walczy« und Teilnehmerin der Akcja »N«; nach dem Krieg schriftstellerisch tätig. NEP (wie Anm. 20), Bd 1, S. 269. Zofia Kossak-Szczucka, (1890-1968), Schriftstellerin. Im Warschauer Aufstand redigierte sie die »Prawda«, schrieb Artikel für den »Biuletyn Informacyjny«, die »Barykady Powisla« und erarbeitete Beiträge für »Radio Polskie«. Zofia Kossak (wie Anm. 66), S. 6-11, und Polski Slownik Biograficzny [im weiteren PSB], 25 Bde, Krakow [u.a.] 1935-1996/7, Bd 14, S. 251-255. Mazur, Biuro Informacji i Propagandy w Powstaniu (wie Anm. 64), S. 140. Stanislawa W. Lewandowska, Frauen im Warschauer Aufstand 1944. Vortrag im Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg am 11.11.1996, S. 7 f. Die Abschrift des Vortrags befindet sich im Privatarchiv der Verfasserin; Lilka Maria, in: Tydzieñ, 24.8.1944, Nr. 70, S. 2 f. (Quelle im APP). Im folgenden siehe: Mazur, Biuro Informacji i Propagandy w Powstaniu (wie Anm. 64), S. 138, und Józef Maciej Kwiatkowski, »Blyskawica«. Radio w Powstaniu, in: Powstanie Warszawskie. Sluzby w walce (wie Anm. 23), S. 145-153; Lewandowska, Vortrag (wie Anm. 70), S. 5 und 8; Powstanie Warszawskie w historiografii i literaturze 1944-1994, Lublin 1996, S. 137 und 139; Józef Maciej Kwiatkowski, Radio w konspiracji 1939-1945, in: Radio i Telewizja (RTV), (1974), 46, S. 10; Zbigniew »Krzysztof« Swiçtochowski, Dziennik z Powstania, in: Dzieje Najnowsze (1984), 3/4, S. 167-189; ders., Mówi »Blyskawica«. Z pamiçtnika spikera powstañczej rozglosni, in: Za Wolnosc i Lud, (1957), 8, S. 9, 14; Zygmunt Ziólek, Radiostacja powstañcza »Blyskawica«, in: ebd., (1958), 2, S. 16-18; ders., W sprawie radiostacji »Blyskawica«, in: Zycie i Mysl, (1966), 10, S. 144 f.; Stanislaw Ozimek, Glossa do dzialalnosci powstañczej radiostacji fonicznej AK »Blyskawica«, in: Dzieje Najnowsze (1984), 3/4, S. 157-168; Mieczyslaw Ubysz, »Blyskawica«.
nadawcza Armii Krajowej w Warszawie 8.8.-4.10.1944 roku, in: Zycie i Mysl, (1966), 7/8, S. 128-135, und Wieslaw Machejko, Sladami »Blyskawicy«, in: Odglosy, (1978), 34, S. 3. Antoni Michal Nowak-Przygodzki (1897-1959), Major, Pseudonyme: Aha, Jerzy, Opel, Zosik; ab Januar/Februar 1944 Stellvertreter des BIP-Chefs Aleksander »Hubert« Kamiñski, später Chef des BIP für den Bereich Warschau. Während des Aufstands initiierte er die Gründung des WSS und der Pfadfinder-Feldpost. Vgl. Kunert, Slownik biograficzny (wie Anm. 28), Bd 3, S. 119-121.
Stacja
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Kommandant des BIP für den Bereich Warschau, ins Leben73. Dessen Aufgabenfeld umfaßte die gemeinschaftliche Organisation der zivilen Selbstverwaltungsund Selbsthilfeorgane, die Schaffung von Verbindungen zwischen Militärführung und Zivilbevölkerung sowie die Nachrichtengewinnung über die Situation und die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung. Hier sollten Frauen den Kampfgeist von Militär und Zivkbevölkerung aufrechterhalten. Die Abteilung versuchte, der Warschauer Bevölkerung Hilfe und Unterstützung in jeder Form zukommen zu lassen. In der gesonderten Abteilung Soldatenhilfe (PZ) des BIP sammelten sich in Zusammenarbeit mit der WSK zahkeiche weibliche Soldaten der Heimatarmee unter der Leitung von Hanna »Ludwika« Lukaszewicz74. Die Frauen dieser Abteilung, die sogenannten Pezetki, versuchten, die Soldaten und die Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln und lebensnotwendigen Dingen zu versorgen. Ebenfalls zu ihren Aufgaben gehörten die Pflege und Verpflegung von Invaliden, Inhaftierten, ehemaligen Lagerinsassen und Ausgebombten. Allein in der Innenstadt gab es neun Soldatenlokale, in denen sich die Kämpfer ausruhen, erholen und stärken konnten. Dort organisierten die »Pezetki« kulturelle Veranstaltungen und Auftritte polnischer Künstler; Wandzeitungen und aktuelle Fotos informierten über den Verlauf des Aufstands. Die Abteilung Kultur- bzw. Kunstpropaganda organisierte das kulturelle Leben in der aufständischen Stadt75. Bis zum 22. August 1944 veranstaltete sie 35 Konzerte allein für die Soldaten. In der Theater- und Musikgruppe des BIP engagierten sich polnische Berühmtheiten wie Danuta »Mlynarzówna« Szaflarska-Ekierowa76, Mka Zimiñska-Sygietyñska77 oder die Geigerin Irena Dubiska78. Auch andere Künstler und Künstlerinnen stellten sich in den Dienst der Propaganda und kämpften dort »mit Hilfe von Bleistiften, Kohle, Kreide oder Meißeln79.«
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Mazur, Biuro Informacji i Propagandy
w Powstaniu (wie Anm. 64), S. 136, und Lewandowska, Vortrag (wie Anm. 70), S. 9. Mazur, Biuro Informacji i Propagandy w Powstaniu (wie Anm. 64), S. 137, sowie Hanna Wentlandtowa und Janina Sikorska, Sluzba Pomóc Zolnierzowi w Powstaniu. Podwydzial BIP-u KGAK in: Powstanie Warszawskie. Sluzby w walce (wie Anm. 23), S. 183-194. Powstanie Warszawskie w historiografii i literaturze (wie Anm. 71), S. 140 und 142; Mazur, Biuro Informacji i Propagandy w Powstaniu (wie Anm. 64), S. 136 f., und Janina Jaworska, Sztuka w okresie Powstania, in: Powstanie Warszawskie. Sluzby w walce (wie Anm. 23), S. 173; Jan Ciecierski, W tajnym teatrze wojskowym, in: Pamietnik Teatralny, (1963), 1-4, S. 136-141; Stanislaw Marczak-Oborski, Polskie zycie teatralne podczas II wojny swiatowej. Kronika 1939-1945, in:
ebd., S. 56-63. Danuta Szaflarska-Ekierowa Anm. 20), Bd 6, S. 158.
(1915-?), Schauspielerin, Pseudonym: Mlynarzówna.
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(wie
Mira Zimiñska-Sygietyñska (1901-1997), Schauspielerin und Regisseurin; trat auf allen wichtigen Bühnen Polens auf, spielte in zahlreichen Spielfilmen und führte selbst Regie. NEP (wie Anm. 20), Bd 6, S. 1024. Irena Dubiska (1899-1989), Geigerin und Pädagogin, ab 1918 Lehrerin am Warschauer Konservatorium. NEP (wie Anm. 21), Bd 2, S. 135. »Walczyli nie tylko bronia^ ale i za pomoca. olówka, wçgla, kredek lub dtutka«. Jaworska, Sztuka w okresie Powstania (wie Anm. 75), S. 173.
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Der Film- und Fotodienst des BIP spielte für die Propaganda eine wichtige Rolle80. Vierzig Foto-Kriegsberichterstatter und -berichterstatterinnen waren für den Fotodienst tätig. Presse-Kriegsberichterstatterinnen wie Hakna »Nowicka« Auderska oder Hanna »Helena« Olechnowicz waren offiziell dem Pressebüro der Propagandaabteilung unterstellt, arbeiteten aber mit den Fotografen und Fotogra-
finnen eng zusammen. Ihre Reportagen erschienen in der Aufstandspresse und in zwei Buchbänden. Der erste, »Warszawa twierdza« (Die Festung Warschau), entstand in Zusammenarbeit von Auderska und Olechnowicz und wurde am 2. August 1944 veröffentkcht. Der zweite erschien unter dem Titel »Na barykadach Warszawy« (Auf den Barrikaden Warschaus) am 9. August 1944. Die Delegatur der Regierung verfügte ebenfalls über eine Propagandaabteilung. Hier wurde beispielsweise die Zeitung »Rzeczpospokta Polska« herausgegeben. Ein wichtiges Medium war »Radio Polskie«81. Dessen Leitung hatte Edmund Rudnicki inne, der dort bereits in der Vorkriegszeit Musikdirektor war. Das StudioBüro führte die stellvertretende Programmchefin Maria Ponikowska82. Sie bewahrte heimkch Texte von 122 polnischen und 46 engkschen Sendungen bis zu ihrem Tod auf; ihr Privatarchiv enthält wertvolles Quellenmaterial. Mit diesen Beispielen ist eine andere wichtige Aufgabe angedeutet, der sich eine Vielzahl der Frauen im und nach dem Aufstand widmeten. Sie dokumentierten die Geschehnisse nicht nur in der Untergrundpresse, sondern verarbeiteten sie auch in hieratischer Form. Zunächst sind hier die Tagebuchaufzeichnungen bekannter polnischer Schriftstellerinnen wie Zofia Nalkowska83 oder Maria Dabrowska84 zu nennen, ebenso solche von weibkchen Aufständischen wie Wanda Przybylska85, Teresa Sulowska-Bojarska oder Irma Zembrzuska und vielen mehr86. Auch Gedichte, Lieder und kterarische Texte entstammen der Feder polnischer Autorin-
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Ebd., S. 137 und 154-157; Powstanie Warszawskie w historiografii i literaturze (wie Anm. 71), S. 140-142; Lewandowska, Vortrag (wie Anm. 70), S. 11; Waclaw Zdzarski, Sluzba filmowa i fotograficzna Armii Krajowej, in: Zycie i Mysl, (1966), 7/8, S. 136-144; Zygmunt Ziólek, Filmy z powstania warszawskiego, in: Za Wolnosc i Lud, (1957), 8, S. 10. Kwiatkowski, Radio w konspiracji (wie Anm. 71); ders., »Tu mówi powstañcza Warszawa.« Dni Powstania w audycjach Polskiego Radia i dokumentach niemieckich, Warszawa 1994; Mazur, Biuro Informacji i Propagandy w Powstaniu (wie Anm. 64), S. 138 f., und Kwiatkowski, Blyskawica
(wie Anm. 71), S. 145-153. Maria Ponikowska (1894-1969), Mitarbeiterin von »Radio Polskie«, die Statistiken und Dokumente zu den Sendungen sammelte und archivierte; Pseudonym: Maria. PSB (wie Anm. 68), Bd 28/3, S. 497 f. Zofia Nalkowska (1884 -1954), PSB (wie Anm. 68), Bd 22/3, S. 496 500. Maria Dabrowska ( 1889 -1965), NEP (wie Anm. 20), Bd 2, S. 32 f. Wanda Przybylska (1939-1944), ein Mädchen aus Warschau, das als Freiwillige am Aufstand teilnahm und ihrer älteren Schwester im Sanitätsdienst half; sie fiel einem deutschen Angriff auf den Stadtteil Powisle am 4.9.1944 zum Opfer. Slownik uczestniczek watki o niepodleglosc Polski 1939-1945, Warszawa 1988, S. 332. Zofia Nalkowska, Dzienmki 1939-1944, Warszawa 1996; Maria Dabrowska, Tagebücher 1914-1965, ausgewählt und hrsg. von Tadeusz Drewnowski, Frankfurt a.M. 1989; Wanda Przybylska, Czastka mego serca, Warszawa 1964; Teresa Sulowska-Bojarska, Codziennosé. Sierpieñ-wrzesieñ 1944, Warszawa 1993; Irma Zembrzuska, Z Warszawa. w sercu. Fragmenty pamiçtnika 1944-1947. Wiersze 1941 -1948, Warszawa 1996. -
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nen87. Die sicherlich berühmteste
von ihnen ist Krystyna Krahelska88. Die fast unüberschaubare Memokenkteratur, auf die im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden kann, enthält ebenfalls zahkeiche Beiträge polnischer Autorinnen. Zum großen Teü sind es erneut die polnischen Frauen, die das nationale Gedächtnis und die kultureUe Tradition bewahrt haben und noch heute überhefern.
Meldegängerinnen und Nachrichtenmädchen (Lqezniczki) Das Verbindungs- und Nachrichtenwesen war für den Warschauer Aufstand von größter Bedeutung. Die Koordination der mihtärischen Aktivitäten stand dabei an
vorderster Stelle. Hier zeichneten sich zahkeiche Frauen aus, die aus allen Gesellschaftsschichten stammten. Die meisten der im Meldewesen des Warschauer Aufstands eingesetzten Mädchen waren kaum älter als zwanzig Jahre89. Die Meldegängerinnen9" mußten die Informationen durch die umkämpfte Stadt transportieren. Zu den Aufgaben gehörte auch, die Befehle und Anweisungen der mihtärischen Führungskräfte aufzuzeichnen und zu chiffrieren oder eingegangene Meldungen zu dechiffrieren. Im Bereich der Nachrichtenübermittlung waren außerdem Funim Einsatz, um die Verbindungen und Telefonistinnen kerinnen, Telegrafistinnen der am Aufstand beteihgten Einheiten aufrechtzuerhalten; Janina Karastiówna) organisierte das konspkative Meldewesen auf höchster Führungsebene91. Auch bei der Stadtbezkkskommandantur mußten Kontakte zwischen den über- und untergeordneten Dienststellen, etwa zwischen Hauptkommandantur und Stadtviertelkommandantoren, sowie zu den Führern der Kompanien und Züge gehalten wer87
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Siehe dazu: Krystyna Krahelska, Wiersze, bearb. von Bogdan Ostromecki, Warszawa 1978; Krzysztof Kamil Baczyñski, Wiersze, Bialystok 1984; Piesni Powstania Warszawskiego, Auswahl und Einleitung von Stanislaw Ryszard Dobrowolski, Bialystok 1984 (S. 17 die Hymne des Aufstands »Hej, chlopcy bagnet na broñ« von Krystyna Krahelska); Poezja Powstañczej Warszawy. Antología, Auswahl und Bearbeitung von Izabella Klemiñska, Warszawa 1994 (z.B. S. 85, 87, 88 usw.); Teresa Boguslawska, List, bearb. von Janina Sikorska, in: Mówi^ Wieki. Magazyn historyczny, (1959), 8, S. 28-31; Testament powstañczej Warszawy. Antología dokumentów i tekstów historycznych, bearb. von Marian Drozdowski, Warszawa (z.B. S. 158); Anna »Swir« Swirszczyñska, Budowalam barykadç, Krakow 1984; Halina Auderska, Dopóki zyjemy, in: Dialog, 4 (1956), S. 2-37; Maria Echaust, Krystyna Krahelska, in: Barbakan Warszawski, (1974), 1/2, S. 27-29; Rozkaz dla Warszawy, in: Biuletyn Informacyjny, Warszawa, 9.8.1944, Nr. 46 (254) (Quelle im APP). Krystyna Krahelska (24.3.1914-1/2.8.1944), Dichterin, die im besetzten Warschau als Krankenschwester in einem Untergrund-Krankenhaus arbeitete und Mädchen zum Sanitätsdienst ausbildete. Die Hymne des Warschauer Aufstands, »Hej, chlopcy bagnet na broñ« (Hej, Jungs, das Bajonett auf die Waffen, vgl. Anm 87), stammt aus ihrer Feder wie auch andere bekannte Lieder, Texte und Gedichte. Sie starb am ersten Tag des Aufstands durch eine tödliche Schußwunde. Slownik uczestniczek walki (wie Anm. 85), S. 211 f. By nie odeszly (wie Anm. 21), S. 96. »Meldegängerin« und »Nachrichtenmädchen« sind im folgenden als synonyme Begriffe aufzufassen.
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Andrzej Krzysztof Kunert, Rzeczpospolita Walcz^ca: Powstanie Warszawskie
Warszawa
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den92. Im Nachrichtenwesen der Stadtbezkkskommandantur waren im Juli 1944 insgesamt 776 Frauen und Mädchen im Einsatz93. Dem Meldewesen standen unterschiedkche Korrimunikationsrnittel zur Verfügung. Mit Hilfe des Funkverkehrs, telegrafischer und telefonischer Verbindungen, Radiosendern und der persönlichen Informationsübermittlung94 konnte die militärische Leitung des Aufstands die Kampfhandlungen koordinieren. Als aber die Stunde »W«, d.h. der Beginn des Aufstands, gekommen war, brachten verschiedene Ereignisse das technische Verbindungsnetz fast zum Zusammenbruch. In den ersten Aufstandstagen fiel ein Teil der Nachrichten- und Funkeinrichtungen in deutsche Hand. Deshalb waren für den Verlauf des Aufstands die Meldegängerinnen und Nachrichtenmädchen von besonderer Bedeutung95; die Konspkation war auf ein funktionierendes Verbindungsnetz angewiesen. Frauen setzten sich als Meldegängerinnen ständiger Gefahr aus. Die Wohnung einer Meldegängerin mußte als Treffpunkt zur Verfügung stehen. Eine Meldegängerin hatte stets bereit zu sein und sich an Plätzen aufzuhalten, wo sie leicht für einen Einsatz abgerufen werden konnte. Solange sie in der Konspkation aktiv war, durfte sie niemals untertauchen, da das nicht nur die Verbindung zwischen ihr und ihrer Dienststelle, sondern auch zwischen einzelnen Untergrundgruppen unterbrochen hätte. Die Tatsache, daß Details ihres Privatlebens vielen Personen bekannt sein mußten (z.B. der Aufenthaltsort), verstärkte das Risiko entdeckt zu werden; Verhöre unter Folter vermochten Verhafteten jederzeit Informationen über Meldegängerinnen zu entlocken. Die Luftangriffe hatten die Stadt in Schutt und Asche gelegt und das Stadtbild völlig verändert. Trotzdem mußten die Boten-Frauen ihren Weg durch die Trümmer finden. Meistens bewegten sie sich durch Gebäude, durch Erd- und Kellergeschosse, wo Durchgänge immer wieder von Trümmern versperrt waren und zur Fortsetzung des Botengangs erst freigeräumt werden mußten. Meldegängerinnen transportierten geheime Dokumente oder Waffen, die bei einer deutschen Kontrolle das Leben kosteten. Ihre Anwesenheit war selbst an den gefährlichsten Kampfschauplätzen notwendig. Viele Frauen trugen ständig Gift bei sich und waren angewiesen, es im Falle einer Verhaftung sofort einzunehmen96. Wurden sie von der Gestapo festgenommen, bedeutete das Folter, bestialische Behandlung in den Gefängnissen und Todesstrafe97. Die Heimatarmee wollte Verhören unter Folter vorbeugen, bei denen möglicherweise Informationen preisgegeben würden. In vielen Berichten werden der Heldenmut und die Opferbereitschaft der Meldegängerinnen hervorgehoben. Die Verlusttate unter ihnen war extrem hoch; sie lag manchmal bei bis zu 50 Prozent einer Einheit98. Trotzdem gab es nie Mangel an 92 93 94
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386. Kazimierz Malinowski »Mirski«, Lacznosc w Powstaniu, in: Powstanie Warszawskie. walce (wie Anm. 23), S. 26. By nie odeszly (wie Anm. 21), S. 91. Malinowski, Lacznosc w Powstaniu (wie Anm. 93), S. 31 33. Zawodny, Nothing But Honour (wie Anm. 26), S. 45-47. Bór-Komorowski, The Secret Army (wie Anm. 46), S. 59 und 146. Zawodny, Nothing But Honour (wie Anm. 26), S. 47.
Ebd., S.
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Diese konnten häufig nicht mehr ausgebildet werden und wußten sich tarnte und schützte, was wiederum die Verluste erhöhte. Dennicht, noch mußte die Führung auch auf ungelernte Kräfte zurückgreifen. Dem unermüdlichen Einsatz der Frauen und Mädchen ist es zu verdanken, daß der Warschauer Aufstand trotz immenser Probleme auf diesem Gebiet letzthch doch ein zentral geführtes Unternehmen bheb99. Die Frauen selbst betrachteten ihren Einsatz als Meldegängerinnen zum Teü sehr kritisch. Viele Frauen kritisierten, daß sie zu mihtärischen Hilfsdiensten eingesetzt wurden, die zwar an Gefahr dem bewaffneten Kampf in nichts nachstanden, aber nicht das gleiche Ansehen genossen. Sie erlangten selten hohe militärische Ränge oder Dienstgrade und kaum besondere Ehren für ihren Heroismus1"". Das Nachrichtenwesen behielt den Stellenwert des mihtärischen Hilfsdienstes, der weniger Bedeutung hatte als der eigenthche Kampf. Faktisch bildeten die Frauen im Nachrichten- und Meldewesen jedoch das Rückgrat des Warschauer Aufstands. Ihr Einsatz war für die Heimatarmee von größtem Nutzen und von entscheidender Bedeutung.
Freiwilligen. wie
man
Kanalführerinnen
(Kanalarki)
Nicht nur der Ausfall technischer Hilfsmittel erschwerte die Verbindung zwischen den einzelnen Abteilungen der Heimatarmee und den Stadtteilkommandanturen, sondern auch die baldige Isolierung der einzelnen Aufstandsgebiete. Mokotów und Ochota im Süden und Zohborz im Norden wurden von der Altstadt und Innenstadt durch deutsche Truppen abschnitten. Die wesenthche Aufgabe bestand nun darin, die Verbindungen zwischen den Stadtteilen wiederherzustellen. Aus der Erfahrung des Warschauer Ghettoaufstandes von 1943 wußte die Führung der Armia Krajowa um den unschätzbaren Wert der Abwasserkanäle für das Nachrichtenwe-
sen1"1. Für den Warschauer Aufstand gewann der Einsatz von Kanalgängern und Kanalgängerinnen größte Bedeutung. Die Initiatorin dieser Idee war die WSKReferentin der Nachrichtenabteilung für Mokotów, Elzbieta »Ela« Gross(ówna)Osttowska. Dkekt zu Beginn des Aufstands wurde die Telefonverbindung mit Mokotów unterbrochen und konnte bis zur Kapitulation dieses Stadtteils nicht wiederhergestellt werden1"2. Deshalb mußte auf den Botenverkehr ausgewichen werden. In der Nacht vom 5. auf den 6. August schaffte es »Ela« zum ersten Mal, mit Hilfe einer erfahrenen Meldegängerin durch die Abwasserkanäle von der In99 11,11
101 102
Lewandowska, Vortrag (wie Anm. 70), S.
Zawodny, Nothing
5. Anm. 26), S. 45. Es gab hier einige Ausnahmen, wie z.B. Meldegängerinnen mit dem Tapferkeitskreuz. Siehe auch By nie odeszly (wie
But Honour
(wie
Auszeichnungen von Anm. 21), S. 99. By nie odeszly (wie Anm. 21), S. 98. Elzbieta Ostrowska
»Ela«, L^cznosc kanalowa w walcz^cej Warszawie, Sluzby w walce (wie Anm. 23), S. 42-44.
in: Powstanie Warszawskie.
Frauen als Kombattanten
403
nenstadt nach Mokotów zu gelangen103. Diese Verbindungsknie führte direkt unter dem Gestapo-Hauptquartier in der aleja Syucha hindurch und war deshalb äußerst gefährhch. Die ersten Patrouillen hatten zur Orientierung nur den Stadtplan Warschaus und versuchten, unter den ihnen bekannten Straßen hindurchzulaufen1"4. Leutnant »Ela« arbeitete zusammen mit dem Leiter der Nachrichtenabteilung der Stadtbezirkskommandantur, Kazimierz »Lech« Larys105, die Organisation des Kanalverkehrs systematisch aus. Ingenieure und Kanalarbeiter erstellten Pläne des Abwassersystems106. Mit Hilfe dieser Karten gelang es dann erfahrenen Meldegängerinnen, den regelmäßigen Austausch von Meldungen sicherzustellen. Die Kanäle erlangten große Bedeutung für die Versorgung. Die dort eingesetzten Patrouillen transportierten Waffen, Munition, Lebensmittel und Medikamente für die Krankenhäuser1"7. Im Verlauf des Aufstands wurden immer häufiger Evakuierungen von Einheiten der Armia Krajowa durch die Kanäle notwendig, bei denen Frauen die Rolle der Kanalführerinnen übernahmen1"8. Diese leiteten die Soldaten zu jenen Stellen, an denen sie wieder sicher an die Oberfläche gelangen konnten. Diesem Zwecke dienten besondere Einheiten, die aus ca. 25 Personen bestanden, mehr als die Hälfte von ihnen Frauen1"9. Die »Kanalarki« hatten die Aufgabe, neue Durchgänge und Routen zu erkunden sowie Hindernisse und Blokkaden aus dem Weg zu räumen. Der Verlauf des Aufstands machte sogar den aufwendigen Transport von Kranken und Verwundeten durch die Abwasserkanäle
notwendig11".
Der Dienst in den Abwasserkanälen war besonders schwierig. Kleinwüchsige Frauen und Mädchen wurden hier bevorzugt, da sie besser durch enge Passagen kriechen konnten als größere Personen. Bedenkt man, daß sich die »Kanalarki« meist über Stunden auf allen Vieren durch Abwässer, Ungeziefer und Ratten in völliger Dunkelheit und unter Sauerstoffmangel in den Kanälen fortbewegten, kann man sich vielleicht eine Vorstellung von der physischen und psychischen Belastung machen, der sie ausgesetzt waren111. Das Gas, das durch die Verwesung von Leichen frei wurde, keß manche Frauen für mehrere Tage erbknden. Nach Gängen, die bis zu sechs Stunden dauern konnten, kollabierten die Mädchen oft aufgrund von Erschöpfung und Sauerstoffmangel. Wenn Kanaltrupps sich im unterirdischen Verbindungsnetz verkefen, bedeutete das meistens den Tod, denn nur selten gelang es, sie wieder aus deutschem Territorium zu befreien. 103 104 103
""'
1(17 108
105 110 111
Ebd., S. 34 und 46. Ebd., S. 46.
Kazimierz Larys (1906-1976), Berufsoffizier, Pseudonyme: Adwokat, Bazant, Elaborant, Lech, Nalçcz. Nach der polnischen Kapitulation wurde er in das Offizierlager Murnau gebracht. Dort befreiten ihn 1945 Angehörige der allüerten Streitkräfte. Danach schloß er sich den polnischen Streitkräften in Italien und Großbritannien an; gestorben am 5.7.1976 in New York. Kunert, Slownik biograficzny (wie Anm. 28), Bd 1, S. 107. Malinowski, Lacznosc w Powstaniu (wie Anm. 93), S. 34. Ebd., S. 51; Zawodny, Nothing But Honour (wie Anm. 26), S. 48. Bór-Komorowski, The Secret Army (wie Anm. 46), S. 300 f. Lewandowska, Vortrag (wie Anm. 70), S. 3. Bór-Komorowski, The Secret Army (wie Anm. 46), S. 300. Ebd., S. 302; Lewandowska, Vortrag (wie Anm. 70), S. 3.
404
Katja Höger
Zunächst entging den deutschen Truppen der Einsatz von Meldegängerinnen dkekt unter ihren Stellungen, doch trotz Geheimhaltung gelangten entsprechende Informationen schon bald in die Hände des Feindes112. Von diesem Zeitpunkt an ging die Wehrmacht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die »Kanalarki« vor113. Deutsche Posten sicherten die Einstiegslöcher und setzten beim kleinsten Geräusch Granaten oder Rauchbomben ein. Die Soldaten schleuderten Minen und Tränen- oder Giftgasdosen in die Schächte114. Sie blockierten die Durchgänge mit Trümmern und Zementsäcken. Wenn Kanalführerinnen diese aus dem Weg räumten, wurden sie mitunter von den dahinter angestauten Wassermassen mitgerissen und getötet. Außerdem hängten die deutschen Soldaten entsicherte Handgranaten in die Kanäle, die bei der geringsten Berührung explodierten. Eine spezieüe Bekämpfungsmethode wurde erst im Lauf des Aufstands entwickelt; dabei leiteten die Gegner Treibstoff in die Tunnels und zündeten ihn an. Unter diesen unmenschhchen Bedingungen leisteten die »Kanalarki« einen wesenthchen Beitrag für den Aufstand. Allein die Nutzung der Stadtkanäle machte es möghch, von deutschen Truppen besetztes Territorium zu überwinden .
Frauen-Sprengbataillone (Mnerki) Frühjahr 1942 entstand eine Frauen-Diversions- und Sabotage-Abteilung (DISK, später DYSK)116. Wanda »Lena« Gertz war die Initiatorin und Kommandantin dieser Einheit117. Zu Beginn stellte sie DYSK aus fünf Sektionen mit jeweils sechs Frauen zusammen. Die Aufgabe der Truppe bestand darin, kriegswicktige Kommunikationsmittel und Transportwege, wie Straßen, Eisenbahnlinien und Brücken, durch Minensprengungen zu zerstören. Außerdem sollte sie im Bereich des Meldewesens und der Nachrichtenbeschaffung eingesetzt werden118. Dabei nutzte die Armia Krajowa die Tatsache aus, daß Frauen unter der Aufsicht der deutschen Besatzungsmacht größere Handlungsfrekäume als Männer hatten119. Sie erregten beim Feind weniger Verdacht und fanden leichteren und unauffälhgeren Zugang zu den Zielpunkten der Sabotage. Die Abteilung wurde im Verlauf des Krieges ausgebaut und bestand bald aus drei verschiedenen Einheiten: der Minenoder Diversionsabteilung, der Sabotageabteilung und der Nachrichtenabteilung. Sie war zusammen mit verschiedenen Männerbataillonen direkt der HauptkommanIm
dantur unterstellt12".
112
113 1.4
1.5 110 117 118 119
120
Bór-Komorowski, The Secret Army (wie Anm. 46), S. 297. By nie odeszly (wie Anm. 21), S. 98. Bór-Komorowski, The Secret Army (wie Anm. 46), S. 301. Lewandowska, Vortrag (wie Anm. 70), S. 3. Anna Borkiewicz-Celiñska, Kobiety w dywersji, in: Wiçz, (1976), 10, S. 110-115, hier S. Gajowniczek/Strzembosz, Zarys histoni (wie Anm. 37), S. 427.
Ebd., S. 429. Strobl, Sag nie (wie Anm. 10), S. 114 f. Podrygallo, Ach, te dziewczcta (wie Anm. 36), S.
5.
110.
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Frauen als Kombattanten
Eine militärische Ausbildung bereitete die Frauen gründlich auf ihre Aufgaben Sie gkederte sich in einen allgemein militärischen und einen speziellen fachlichen Teil. Letzterer betraf vor allem die Diversion feindlicher Kommunikationsmittel121. Die Dauer der Ausbildung betrug für Frauen ein volles Jahr. Sie beinhaltete neben der Schulung in Minensprengungen und Sabotage auch Sanitäts- und Kraftfahrzeugkurse. Sehr wichtig war es für die Frauen der Abteilung DYSK, den Aufbau der deutschen Armee kennenzulernen. Die Art und Weise, wie die Kommunikation der Besatzungsmacht funktionierte, war sowohl für Erkundungsaufträge als auch für Diversionsakte von Bedeutung. Mit Hilfe von Losungsworten konnten Angehörige der Heimatarmee in besetztes Terrain eindringen122. Ein zentrales Aufgabengebiet lag in der gezielten Zerstörung der deutschen Infrastruktur in Warschau und Umgebung. Voraussetzung dafür waren Kenntnisse über die Konstruktion der Brücken, Eisenbahnlinien und Verkehrswege, um Ansatzpunkte für eine effektive Zerstörung zu finden. In Sabotageakten sollten Telefonleitungen gekappt und Transportwege unterbrochen werden. Die Handhabung von Waffen trainierte man mit den Frauen der Abteilung in einer Wohnung in der Nähe des
vor.
plac Narutowic^a123.
Die militärische Vorbereitung der Frauen macht deutlich, welche Möglichkeiten der Heimatarmee für ihren Einsatz offenstanden. Die Realität des Aufstands sah dann allerdings ganz anders aus. Für die Ausrüstung des weiblichen Diversionsbataklons DYSK reichten die Waffen nicht124. Deshalb wies man die Frauen anderen Abteilungen zu und setzte sie in den übkchen Verwendungen als Meldegängerinnen und Kanalführerinnen ein. Die Bettoffenen selbst bedauerten diese Tatsache wohl in den meisten Fällen. Am schlimmsten empfanden sie den Umstand, daß sie sogar ihre persönlichen Waffen an männliche Kameraden abgeben mußten und so nicht einmal mehr sich selber verteidigen konnten125. Während des Aufstands beteiligten sich die Frauen von DYSK an besonders gefährlichen Unternehmen. Sie versahen etwa nächtliche Lotsendienste für die Flugzeuge der polnischen Luftwaffe und der Alliierten. Diese warfen Versorgungsund Waffenpakete für die Aufständischen über den Warschauer Friedhöfen ab, die die Frauen dann zwischen den Gräbern einsammelten und zu Verteilungspunkten transportierten126. Manchen reichte dies nicht aus. Sie wollten am bewaffneten Kampf teilnehmen, für den sie ausgebildet worden waren, und versuchten, an die Front zu gelangen127. Fallweise setzte die Armia Krajowa Frauen auch im Rahmen von Angriffsoperationen ein. Ein achtzehnjähriges Mädchen sprengte zum Beispiel die Tür zu einer deutschen Pokzeistation und ermöglichte ihrer Einheit, dort ein—
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zudringen128. 121 122
123
124 125 I2 127 128
Borkiewicz-Ceüriska, Kobiety (wie Anm. 116), S. Ebd., S. Ebd.,S. Ebd., S.
111.
114. 113. 115.
Podrygallo, Ach, te dziewczçta (wie Anm. 36), S. 81. Ebd., S. 81. Ebd, S. 91 f.
Zawodny, Nothing But Honour (wie Anm. 26), S. 46.
Katja Höger
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Frauen im bewaffneten
Kampf
Die Heimatarmee ließ unter den Bedingungen des Aufstandes, d.h. einem akuten Waffenmangel, den Einsatz von Frauen im bewaffneten Kampf nicht zu129. Auf eine entsprechende Aussage Komorowskis berufen sich die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen zum Einsatz von Frauen im Warschauer Aufstand. Von 40 000 männlichen Aufständischen waren vieüeicht 1500, höchstens aber 2500 bewaffnet, d.h. nur vier bis sechs Prozent der gesamten Armee Angesichts dieser Tatsache den weibhchen Soldaten das Tragen die der Armia Führung Krajowa untersagte von Waffen und wies sie an, diese an männliche Kameraden abzugeben. In der Untergrundpresse wurde der diesbezügliche Befehl mehrfach erwähnt und erläutert: »Auf diesen Stand der Dinge [den allgemeinen Waffenmangel, K.H.] machte die AK-Kommandantur des Bezkks Warschau aufmerksam und erheß den Befehl Nr. 21 vom 22. [08.1944], laut dem alle sich in den Händen von Frauen-Soldaten befindenden Schußwaffen den Abteilungen in der ersten Frontlinie abzutreten waren. Nur in Ausnahmefällen des Boten- oder Nachrichtendienstes können die Stadtviertel-Kommandanten und nur für die Zeit der Dienstausübung die Bewaffnung der Frauen-Soldaten erlauben131.« Dieser Befehl bedeutet aber zumindest, daß Frauen vor dem 22. August 1944 Waffen getragen haben. Weibhche Soldaten waren in Kampfeinsätze verwickelt132, und viele versuchten an ein Gewehr oder einen Revolver heranzukommen133. Besaßen sie eine Waffe und schlössen sie sich freiwillig den kämpfenden Einheiten an, wurde von ihnen erwartet, daß sie diese auch einsetzten134. Daß solche Fälle allgemeine Bilder von Weiblichkeit nicht in Frage stellten, zeigt eine andere Episode. Während des Aufstands kam es in der Untergrundpresse zu Auseinadersetzungen über eine Gruppe von Frauen, die sich angeblich während oder zwischen den Kampfhandlungen durch ein besonderes Auftreten und dem Zurschautragen von Waffen wichtig machten. Sie wurden als »Motylki« (Schmetterhnge) bezeichnet und den »guten« weibhchen Soldaten als schlechtes Beispiel gegenübergestellt. Unter dem Titel »Dienst kein Spiel« war zu lesen: »Mit den ersten Schüssen kamen die Frauen-Soldaten aus dem Untergrund der Konspkation. Ein fünfjähriger Dienst im Angesicht des Feinds hatte sie abgehärtet und ihnen die redhch verdiente Achtung der Kameraden eingebracht. Gerade ihre gute Arbeit im Zeitraum der Konspkation öffnete die Armee für alle Frauen, die sich meldeten. Viele von ihnen haben, auch ohne Einbindung in Organisationen, unbekannt, in Bescheidenheit und dennoch aktiv, die Unabhängigkeitsbewegung .
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129
130 131
Bór-Komorowski, The Secret Army (wie Anm. 46), S. 252. Zawodny, Nothing But Honour (wie Anm. 26), S. 26. Rzeczpospolita Polska, Warszawa, 23.8.1944, Nr. 34 (Sródmiescie Pólnoc); vgl. in ähnlicher Form: Barykada, Pismo codzienne AK Sródmiescie Poludnie, Warszawa, 24.8.1944, Nr. 13, S. 2 (beide Quellen im APP). Zawodny, Uczestnicy i swiadkowie (wie Anm. 38), S. 294. Zum Beispiel wurde Aniela »Elzbieta« Sienkiewicz von Vorgesetzten als Meldegängerin, Sanitäterin und Frontsoldatin eingesetzt. Zawodny, Nothing But Honour (wie Anm. 26), S. 42. Ebd., S. 46. -
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Frauen als Kombattanten
Frauenkriegsdienst (WSK), im Soldatenhilfsdienst (PZ), im Luft- und Brandschutz, in der Bürgerwehr, die anderen als Sanitäterinnen in den medizinischen Versorgungspunkten, als weibkche Intendanturoffiziere und als Meldegängerinnen an der Front. Die Erinnerung an sie wird nicht verlöschen. Aber es gibt auch andere. Da sieht man rötkche, toupierte Haarschöpfe, hautenge Hosen, hohe Absätze, rot lackierte Finger- und Fußnägel, sorgfältig geschminkte >Gesichtchen< und ungeheuere >kämpferische< Bewegungen. Bisweilen was schon an ein Verbrechen grenzt hängt an einem eleganten Gürtel ein glänzendes Futeral mit einer Pistole. Eine Pistole, die nie gebraucht werden wird, obwohl es uns so an Waffen mangelt. Die Warschauer >Schmetterlinge< spielen >Aufstandzu zeigen< und sich gedankenlos auszuleben. Leere Köpfe und Herzen. Geschminkte Puppen ohne Seele und Vaterland. Sie werfen einen Schatten auf den guten Ruf der Frauen in der Konspiration, auf ihren ungeheuren Beitrag zur Befreiungsarbeit. Im kämpfenden Warschau ist kein Platz für ein Maskerade-Spiel. Daran sollten die >Schmetterknge< denken135.« Dieser Artikel ist sehr bemerkenswert, vor allem deshalb, weil er wie eine Presseschau der »Rzeczpospohta Polska« vom 23.8.1944 zeigt keinen Einzelfall darstellt136. In den Artikeln wird zunächst der ideale weibkche Untergrundsoldat beschrieben. Die kämpfende Frau soll bescheiden, sogar namenlos sein, aktiv, unbegrenzt opferbereit, todesmutig, der Sache restlos ergeben und mit Gottverteauen kämpfend. Diese Frauen wurden wieder in die Rolle der »stillen Heldinnen« gedrängt, in den Hintergrund des heldenhaften männkchen Kampfes; sie dienten sozusagen als Kuksse des heroischen Aufstands137. Dies männkche Bestreben spiegelt sich noch heute in der Überkeferung biographischer Daten durch die Sekundärliteratur. Lexikonartikel zu weibkchen Aufstandsteilnehmerinnen gibt es selten, die vorhandenen Angaben sind oft lückenhaft und unzureichend138. Das Bild, das von den negativen Heldinnen des Aufstands gemalt wird, ist ebenfalls sehr aufschlußreich: Frauen mit roten, struppigen Haaren und großer erotischer Ausstrahlung, gepaart mit einem starken, selbstbewußten, fast bedrohlichen Auftreten. Das erinnert an mittelalterkche Hexenbeschreibungen, an die Beschwörung eines männkchen Angstbildes. Solange die Frauen im Hintergrund bkeben, solange sie Kuksse waren, sich für die große gemeinsame Sache opferten und dafür keine besondere Anerkennung, keinen Heldenruhm und Heldenkult verlangten, solange waren sie akzeptiert und wurden hofiert. Brachen sie aus dieunterstützt. Heute arbeiten die einen im
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137
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Warszawa walczy, Warszawa, 13.8.1944, Nr. 32 (Sródmiescie, Wola), Quelle im APP. »Glosy prasy: Kwiaty i chwasty powstania.« Rzeczpospolita Polska, Warszawa, 23.8.1944, Nr. 34 (106) (Sródmiescie Pólnoc), Quelle im APP. In der Forschungsliteratur findet sich allerdings kein einziger Hinweis auf die »Schmetterlinge«. Die Kombattantinnen, mit denen ich persönlich sprach, baten mich, das Phänomen gar nicht zu erwähnen, um dem guten Ruf der anderen Frauen-Soldaten nicht zu schaden. Bescheidenheit war eines der geforderten Charaktermerkmale der Frauen-Soldaten, Bescheidenheit und Demut gegenüber der Sache. »Kobieta-zolnierz«, in: Wolna Polska, Warszawa, 30.8.1944, Nr. 116, S. 4. Ausnahmen stellen hier nur der Slownik uczestniczek walki (wie Anm. 85) sowie Polski Slownik Biograficzny (wie Anm. 68) dar.
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sem Muster aus, wurden sie zu verdammenswerten Geschöpfen, die männliche Aggressionen hervorriefen. Daß solche Wesen, die die »moralische Haltung« der Untergrundarmee bedrohten, als »Unkraut« bezeichnet wurden, das »mit der Wurzel ausgerissen werden muß«, war Ausdruck dieser Aggressionen.139 Natürlich sollen hier keine Frauen glorifiziert werden, die den Warschauer Aufstand für ihre extravagante Selbstdarstellung nutzten und unnötiges Aufsehen erregten. Möglicherweise handelte es sich bei den »Schmetterhngen« auch einfach um
Warschauer Prostituierte. Und natürlich soll der Heldenmut der »stillen Hel-
dinnen«, die sich in ihre Rolle fügten und namenlos starben, nicht geschmälert werden. Doch bleibt einfach die Frage offen, ob es nicht einen Weg gegeben hätte, die patriarchalischen Strukturen der Heimatarmee und vielleicht sogar der schen Gesellschaft in Frage zu stellen und aufzubrechen.
polni-
Schlußbettachtung gezeigt wurde, machten sich Frauen im Zweiten Weltkrieg im Kampf um die Unabhängigkeit des polnischen Staates verdient. Ihre Leistungen waren außergewöhnlich. Im Warschauer Aufstand gaben sie als Sanitäterinnen dem Grauen ein menschlicheres Gesicht, retteten Menschenleben und unterstützten damit Kampfkraft und Mut. Die Arbeit der Frauen in der Presse und Propaganda diente der Information der Warschauer Bevölkerung. Eine wesenthche Aufgabe war die Verbesserung der Stimmung unter Zivüisten und Soldaten durch kulturelle Veranstaltungen und menschhche Flüfeleistungen. Durch Dokumentation und Archivierung Wie
der Geschehnisse übernahmen sie zum wiederholten Mal die Rolle der Bewahrerinnen des kulturellen Erbes, die sie seit dem 19. Jahrhundert innehatten. Im mihtärischen Bereich waren die Nachrichtenmädchen, Meldegängerinnen und Kanalführerinnen von unschätzbarer Bedeutung. Sie trugen die Infrastruktur des Aufstandes und sorgten dafür, daß dieser trotz widriger Umstände ein zentral geführtes Unternehmen bheb. Frauen kämpften auch trotz des späteren Verbots neben ihren männhchen Kameraden als Frontsoldatinnen. Diesen Einsatz beschränkte die Führung der Heimatarmee aufgrund des allgemeinen Waffenmangels. Dabei ging sie in traditioneller Manier über die Interessen, die Fähigkeiten und das Engagement der Frauen-Soldaten hinweg. Wie die Auseinandersetzung um die »Schmetterhnge« zeigt, war die Frau dazu bestimmt, ein stilles, bescheidenes und unauffälhges Heldentum zu leben. Sie sollte die heroische Kuhsse eines nationalen Desasters abgeben, das durch ihr Opfer in noch größerem Glänze erschien. Natah Stegmann veranschaulicht, daß die Polinnen die heilbringende Funktion der weibhchen Moral bzw. Sitthchkeit hochhalten sollten14". Frauen, die sich wie die »Schmetterhnge« verhielten, drohten, laut Aufstandspresse, das »morahsche Lot der aufständischen Armee« aus dem Gleichge-
139 140
Vgl. Anm. 135. Stegmann, Die Töchter (wie Anm. 10), S. 240.
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Frauen als Kombattanten
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wicht zu bringen. Zu ihrem selbstbewußten, erotischen Auftreten kam die Tatsache, daß sie sich der männlichen Anordnung widersetzten und ihre Waffen nicht abgaben. Eine solche Verhaltensweise war im Empfinden der Polen und sicher auch der meisten Polinnen skandalös. Für das Wohl der Nation hatten Frauen und Männer gemeinsam zu kämpfen und das natürlich unter männlichem Oberbefehl. Daß einige wenige Frauen in die Führungskader der Heimatarmee aufstiegen, tut diesem Muster keinen Abbruch. Weibliche Führung war nur in den Bereichen mögkch, in denen ausschließlich Frauen dienten. Die polnischen Frauen opferten zu allen Zeiten eigene Ideale den kollektiven Interessen des Unabhängigkeitskampfes. So gingen feministische und emanzipatorische Forderungen bis in die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts im Kampf für ein selbstbestimmtes Polen auf. In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts begannen sich Frauen in der Solidarnosc zu engagieren. Diese Bewegung bestand schließlich zur Hälfte aus Frauen, die allerdings wie gewohnt im Hintergrund blieben. Ihre politische Repräsentanz trug wieder einmal nur symbolischen Charakter141. Im Zusammenhang mit der Solidarnosc kennt man lediglich die Namen der großen politischen Führer, wie zum Beispiel jenen Lech Walçsas. Die Frauen übernahmen gemäß der bisherigen Tradition die Rollen ihrer Männer, wenn diese inhaftiert, interniert oder verfolgt wurden. Sie verteilten klegale Flugblätter oder sammelten Mitgliedsbeiträge ein142. Frauen engagierten sich im zivken Widerstand gegen den kommunistischen Staat und die sowjetische Einflußnahme. Frauen und Männer erreichten in Polen endlich ihr gemeinsames Ziel, nämlich die Schaffung eines freien demokratischen Staates. In diesem Sinn kann man die polnische Widerstandsttadition nach eineinhalb Jahrhunderten als erfolgreich betrachten. Die polnische Frauenbewegung steht hingegen erst am Anfang. -
* * *
Katja Höger, Studienassessorin, geb. 1971, Gymnasiallehrerin für Deutsch und Grab, Römerplatz 9, 76530 Baden-
Geschichte an der Klosterschule Vom Hl. Baden. E-mail: [email protected].
Die
polnische Frau (wie Anm. 10), S. 8. Helga Hirsch, Frauen, in: Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe, hrsg. von Ewa Kobyliñska, Andreas Lawaty und Rüdiger Stephan, München 1992, S. 258.
Waldemar Bednarski
Das Gesicht des Krieges in der Gemeinde Kotlice (Kreis Zamosc) 1939 bis 1945 In den Jahren der Zweiten Repubhk gehörte die Gemeinde Kothce zum Kreis Tomaszöw Lubelski. Ihre Fläche betrug insgesamt 11 962 Hektar, das heißt annähernd 100 Quadratkilometer, darunter 10 569 Hektar Nutzfläche, 1050 Hektar Waldfläche und 343 Hektar Brachland. Auf dem Gemeindegebiet gab es neun Landgüter von jeweils über 100 Hektar Ackerfläche sowie 2536 Bauernwktschaften von sehr unterschiedhcher Größe. Sehr schwach entwickelt war das Straßennetz; es existierten nur etwas mehr als vier Küometer befestigte Straßen die Verbindung von Kotkce nach Dub und 66 Kilometer unbefestigte Wege. Die Gemeinde hatte zwei Motormühlen, zwei Wassermühlen, zwei Windmühlen, zwei Ziegeleien, zwei Branntweinbrennereien, einige Öl- und Schrotmühlen sowie acht genossenschafthche Lebensmitteüäden. Außerdem befanden sich in jedem Dorf Schuster- und Schneiderwerkstätten, die hauptsächhch von Juden geführt wurden, sowie zahlreiche Schmieden, die sich neben dem Beschlagen von Pferden auch mit der Reparatur von landwirtschaftlichem Gerät beschäftigten. Alles in aüem gehörte die Gemeinde Kothce zu den eher begüterten Gemeinden im Kreis Tomaszöw1. Amthchen Angaben zufolge zählte die Gemeinde 1938 7802 Einwohner, in der Mehrzahl Polen2. Nur in einigen Dörfern überwog die ukrainische Bevölkerung, die dem polnischen Staat und dem polnischen Volk gegenüber feindhch gesonnen war. An sieben öffentlichen Schulen lernten 1309 Schüler. Der Lehrkörper bestand Personen. aus 23 gut ausgebüdeten und bezahlten Folgende geseüschaftregelmäßig -
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2
Der folgende Bericht von Waldemar Wojciech Bednarski zu den Knegsereignissen in der Gemeinde Kotlice stützt sich größtenteils auf die Erinnerungen von Zeitzeugen. Der Verfasser verzichtet auf eine quellenkritische Analyse dieses problematischen Materials. Der Aufsatz vermittelt dennoch ein plastisches Bild von den Auswirkungen des Krieges auf die polnischen Dörfer. Daneben bietet er dem deutschen Leser eine Vorstellung von der patriotischen Erinnerung an den Widerstand, sowie sie im Genre der Partisanenmemoiren festgeschrieben wurde (Anm. des
Hrsg.). Vgl. Haushalt
der Gemeinde Kotlice für 1938/39, S. 48 f. In den einzelnen Ortschaften der Gemeinde wurden folgende Einwohnerzahlen registriert: Czesniki 1721 Einwohner, Dub Dorf 707, Dub Siedlung 539, Honiatycze 692, Honiatyczki 443, Kotlice 1213, Marysin 524, Niewirków Dorf— 978, Niewirków Siedlung 286, Perespa Dorf— 581, Perespa Siedlung und Rudka 188, vgl. ebd., S. 54. Vgl. auch Privatarchiv Waldemar W. Bednarski in Pulawy (u.a. Dokumente des Vaters Feliks Bednarski, Sekretär der Gemeindeverwaltung in Kotlice in den Jahren —
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1933-1943).
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Waldemar Bednarski
412
liehe Organisationen waren in Kotkce aktiv: die Meeres- und Kolonialkga (LMK) und die Liga für Luftverteidigung des Staates (LOPP); in Honiatycze gab es den Landwktschafthchen Zirkel (Kólko Rolnicze) und den Landjugendverband (Kolo Mlodziezy Wiejskiej)3. Außerdem zeigten in der Gemeinde sechs Abteüungen der Freiwilligen Feuerwehr großes Engagement.
Kriegsvorbereitongen und sowjetische Besatzung Im Juh 1939 begann das Gemeindeamt Kothce mit routinemäßigen Vorbereitungen für den Kriegsfall. Die Behörden prüften und vervoüständigten die Mobümachungspläne, musterten armeetaughehe Pferde, benannten Melder für die einzelnen Ortschaften und teüten Fuhrwerke ein, die Futter für die Kavaüerie kefern soüten. Während der aügemeinen Mobilmachung erfüüte das Gemeindeamt vorbüdlich aüe gesteüten Aufgaben. Es herrschte Optimismus, und niemandem kam es auch nur in den Sinn, daß eine militärische Niederlage und eine Katastrophe für den Staat bevorstehen könnten. In der dritten Septemberdekade des Jahres 1939 kam der Krieg in die Gemeinde Kotkce. Die aus Richtung Chelm und Hrubieszów kommenden Truppen der Nordfront versuchten, der Einschließung im Abschnitt Zamosc-Tomaszów zu entgehen, um sich der Armee von General Kazimierz Sosnkowski (Befehlshaber der Südfront) anzuschheßen. Verbände dieser Gruppierung griffen Zamosc, Labunie, Majdan Krynicki, Tarnawatka und Tomaszöw an, erreichten aber nicht die gewünschten Erfolge. Vom 20. bis 23. September fand bei Czesniki, Bozy Dar und Niewkków eine dreitägige blutige Schlacht gegen deutsche Truppen statt. Trotz einiger taktischer Erfolge endete die sogenannte Zweite Schlacht von Tomaszöw des Feindes und der Angriffe der Roten angesichts der gewaltigen Armee aus östlicher Richtung mit einer Niederlage und der Kapitulation der Grup-
Überlegenheit
pierung. Lediglich der Kavaüeriegruppe unter Brigadegeneral Wladyslaw Anders gelang es, die deutsche Einkreisung zu durchbrechen. Sie wurde erst bei Sambor von der Roten Armee zerschlagen. Vor der Kapitulation zerstörten die Soldaten die schweren Waffen oder machten sie unbrauchbar und versteckten viele Handwaffen und Munition in den Wäldern. Diese Waffen büdeten später die Erstausstattong der Partisanenverbände. Entsprechend dem geheimen Zusatzprotokoü des deutsch-sowjetischen Vertrages vom 23. August 1939 kam die Gegend um Zamosc unter sowjetische Besatzung. Unter der Aufsicht der Roten Armee entstanden aus Ukrainern, Juden und der polnischen Dorfarmut in Kotkce ein Dorfsowjet und eine Rote Miliz, die sogenannten Armbindenträger (sie führten rote Hoheitsabzeichen an den Ärmeln). Diese erhielten weitreichende Befugnisse. An der Spitze des Dorfsowjets stand Kazimierz Prokop, der seine Tätigkeit mit der »Enteignung« reicher Bauern sowie der Verhaftung des Gemeindevorstehers, Mieczyslaw Wiñski, und dessen Sekre3
Haushalt
(wie Anm. 2), S. 50 f.
Das Gesicht des
Krieges in der Gemeinde Kotlice
413
tärs, Fekks Bednarski,
begann. Die Festgenommenen saßen im Schulgebäude von Koniuchy, einem ukrainischen Dorf, ein, wo sie voker Angst darauf warteten, daß die jungen Ukrainer der Roten Mikz ihre Drohungen wahr machen würden. Die Inhaftierten
rettete
ein alter Ukrainer
namens
Fedczenko, der den
nervösen
»Jungs« erklärte, daß der Krieg noch nicht vorüber sei und wer heute töte, morgen
selbst getötet werde. Doch nicht überall gewann die Vernunft die Oberhand. In dem vier Kilometer vom Gemeindesitz Kotkce entfernten Dorf Dub, wo es eine römisch-kathoksche Pfarrei gab, ermordete eine Gruppe ukrainischer Kommunisten aus Kotlice, Dub, Moniatycze und Sniatycze am 26. September 1939 unter Führung des bereits erwähnten Kazimierz Prokop den Pfarrer des Ortes, Wiktor Mozejko, zwei katholische Geistliche, den Organisten sowie den Dorfschulzen Boleslaw Pioteowski. Es kam auch zu Morden an polnischen Soldaten, die nach den Gefechten bei Tomaszów der Gefangenschaft entgangen waren und sich auf dem Weg nach Hause befanden. Diese erste sowjetische Besatzung des Gebietes Zamosc währte nur kurz. Auf der Grundlage des deutsch-sowjetischen Abkommens vom 28. September 1939 zogen sich die Rote Armee und mit ihr viele Hobby-Kommunisten, darunter auch Prokop, hinter den Bug zurück4. Die deutsche
Besatzung
Im Oktober 1939 nahm das Gemeindeamt auf Weisung der deutschen Behörden seinen Dienst wieder auf. Die Gemeinde Kotkce wurde verwaltungstechnisch dem Kreis Zamosc angeschlossen. Es begann die fünf Jahre dauernde deutsche Okkupation. Die Besatzungsmacht ordnete unter Androhung der Todesstrafe eine sofortige Abgabe aker Schuß- und Hiebwaffen, militärischer Ausrüstungsgegenstände sowie der Radioapparate an. Trotzdem konnten viele Waffen versteckt werden, ebenso einige Radios, die anfangs die einzige Quelle für Informationen aus der freien Welt waren. Nur langsam wich die ungeheure Verbitterung, die die Dorfbevölkerung nach der erlittenen Niederlage ergriffen hatte. Die Einwohner beschuldigten die staatkchen Machtorgane, Polen »verkauft« zu haben. Beim mühsamen Kampf gegen die Demoraksierung halfen vor akem Soldaten, die es geschafft hatten, der Gefangenschaft zu entkommen und in ihre Heimatdörfer zurückzukehren. Bereits im Oktober 1939 entstanden in der Gemeinde Kotlice auf Initiative von Dr. Józef Roman Rybicki, Deckname »Andrzej« (auch »Maciej«), dem ehemakgen Direktor des Staatkchen Gymnasiums und Lyzeums »Bartosz Glowacki« in Tomaszów, die 1969 erzählte mir Benek Borowski, Sohn eines reichen Bauern aus Kotlice, vom weiteren Schicksal Prokops. 1944 sei dieser nach Polen zurückgekehrt und habe seinen ständigen Wohnsitz in Wroclaw genommen, wo er angeblich eine wichtige Funktion bekleidete. Ganz zufällig soll ihn ein Einwohner von Kotlice auf der Straße getroffen und dies an entsprechender Stelle gemeldet haben. Einige Zeit danach habe ein lokales Revolverblatt die Nachricht gebracht, daß ein gewisser Prokop vom Balkon eines Hochhauses gefallen und auf der Stelle tot gewesen sei. Auf diese Weise sei er für seine »revolutionäre Tätigkeit« in Kotlice im September 1939 bestraft worden, vgl. Waldemar Wojciech Bednarski, Szkolne lata, in: Tomaszów, Tomaszów Tomaszów Lubelski 1995, S. 99. ...,
414
Waldemar Bednarski
ersten Keime einer Untergrundorganisation mit dem Namen Dienst für den Sieg Polens (SZP)5. Am 27. Oktober 1939 fand in Honiatycze, in der Scheune des Dorfschulzen Franciszek »Krzemieñ« Kkszcz, die Vereidigung der ersten Mitglieder statt. Beim Aufbau der Untergrundbewegung in Kotkce machte sich vor allem Major Antoni Duleba verdient. Er nutzte die Unterschlupfmöglichkeiten bei den Bauern in den Dörfern Kazimierówka und Niewirków und baute zielstrebig Kontakte zu ehemaligen Soldaten auf, die in den umliegenden Dörfern wohnten. Zum Jahreswechsel 1939/40 begann er gemeinsam mit dem Fähnrich der Kavallerie Bronislaw Piettuszyñski, einem Lehrer aus Niewkków, dem Fahnenjunker Waclaw Kkszcz aus der Siedlung Dub sowie dem Unteroffizier Edmund »Lis« Ploñski aus Honiatycze mit der Organisation von SZP-Zeken in den Gemeinden Kotkce, Tyszowice und Komarów6. Auf Antrag von Major Duleba ermächtigte die Führung des Bereichs Tomaszów Lubelski im Juni 1940 Fahnenjunker Kkszcz zur Aufstellung eines Sturmzuges mit dem Decknamen »Orlik« und übergab ihm das Kommando. Kkszcz hatte im Jahre 1938 das Gymnasium in Tomaszów Lubelski mit dem Abitur abgeschlossen, seinen Wehrdienst in einer Fähnrichschule geleistet und als Unteroffizier am Septemberfeldzug tekgenommen. Er verstand sich angeblich, weil er selbst vom Lande stammte, gut mit den Bauern, die ihm volles Vertrauen entgegenbrachten. Sein Stekvertreter wurde Ploñski, Berufsunteroffizier der Polnischen Armee. Im Unterschied zum Zugführer soll er phlegmatischer und ein wenig eingebkdet gewesen sein, doch dafür ein hervorragender Organisator. Er besaß hohes Ansehen unter der Jugend von Honiatycze. Ähnlich gut war die personelle Besetzung der drei Kampfsektionen, aus denen sich anfangs der Sturmzug »Orlik« zusammensetzte. Zum Führer der ersten Sektion, die im Dorf Kazimierówka agierte, ernannte man Unteroffizier Józef Kaczoruk, »Kiwi«, »Ryszard«, Absolvent der Berufsunteroffizierschule in Nisko. Die zweite Sektion, disloziert in der Siedlung Dub und in Kotkce, leitete Unteroffizier Alfred Thor, Sohn eines reichen Landwirtes aus Niewkków. Er war Absolvent einer Musikschule in Zamosc. Während seines Wehrdienstes hatte er eine Ausbkdung im Gendarmerie-Ausbildungszentrum in Grudzia_dz absolviert und im September in der 23. Infanteriedivision gekämpft. Verwundet in den Kämpfen bei Tomaszów, geriet er in sowjetische Gefangenschaft, aus der er fliehen konnte. Nach der Ermordung des Organisten Wentlandt durch die Ukrainer übernahm er die Organistenstelle in der Pfarrkirche von Dub. Neben seiner Verwendung als Führer einer Sektion war er bis zur Beendigung der Kriegshandlungen gleichzeitig verantwortlich für Spionage und Spiona-
Józef Roman Rybicki (1901-1986), Doktor der Philosophie, übernahm im Januar 1938 die Stelle des Direktors des Staatlichen Gymnasiums und Lyzeums »Bartosz Glowacki« in Tomaszów Lubelski; ab 1943 Chef der Diversionsieitung der Heimatarmee (KEDYW) für den Bezirk Warschau, 1944 Aufständischer; ausgezeichnet mit dem Orden Virtuti Militari; Mitglied der demokratischen Opposition in der Volksrepublik Polen; 1976 Gründungsmitglied des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR), vgl. Andrzej Krzysztof Kunert, Slownik biograficzny konspiracji warszawskiej 1939-1944, 3 Bde, Warszawa 1987-1991, hier Bd 3, S. 151 -156. Hryniewiecki, My z Zamojszczyzny, Warszawa 1988, S. 14.
Witold
Das Gesicht des
Krieges in der Gemeinde Kotlice
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Unterfeldwebel Ignacy »Tur« Bajwoluk, Führer der Sektion in Honiatycze, hatte seinen Wehrdienst im 2. Berittenen Schützenregiment in Hrubieszów geleistet7. Wesenthch später kam es zur Aufstellung einer vierten Kampfsektion in
geabwehr.
unter der Leitung von Wladyslaw »Kozak« Smieciuszewski8, Absolvent einer Unteroffizierschule und angeblich ein mutiger und tapferer Soldat9. Die Aktivitäten der Untergrundbewegung in Kothce beschränkten sich nicht einzig auf den Sturmzug »Orhk«. Basisarbeit leistete ein »Kampftrupp«, dessen wichtigste Aufgabe darin bestand, wehrdienstfähige Männer für den aügemeinen Aufstand gegen die Besatzer zu registrieren. Der Führer des Kampftrupps in der Gemeinde Kotkce war der Lehrer und Leutnant Adam »As« Fidecki. »Die überwiegende Zahl der Bauern«, erinnert sich Witold Hryniewiecki, »wußte nichts von ihrer Erfassung. Aus Sicherheitsgründen woüte man sie nicht verfrüht in die Konspkation einweihen. Dennoch befanden sich auf dieser Liste Bauern, bei denen man sich sicher sein konnte, daß sie im Ernstfall kämpfen würden1".« Aufgebaut aus konspkativen Dreier- und Fünfergruppen, besaß »Orlik« anfangs nur eine geringe Kampfkraft und war nicht in der Lage, ernsthafte Aktionen gegen die Deutschen zu führen. Es fehlte vor aüem an Waffen, Munition und Sprengstoff. Lücken machten sich in der Ausbüdung der Soldaten bemerkbar, die sich völlig anderen Bedingungen gegenübersahen als in der regulären Armee. Es war erforderlich, leistungsfähige konspkative Verbindungen von Grund auf aufzubauen und einen Informationsdienst in Form von Zeitungen zu organisieren. Auch die Einrichtung eines Kundschafterdienstes war notwendig". Mit Beginn des Jahres 1941 begannen die deutschen Vorbereitungen für einen Angriff auf die Sowjetunion. In der Gemeinde Kothce starteten die Baudienstabteüungen in der Nähe des Friedhofes in der Siedlung Dub, auf dem sich ein Fliegerbomben- und Munitions depot befand, den Bau eines Flugplatzes und von Baracken für das Personal. Außerdem besserten sie die Zufahrtsstraßen zur Grenze mit der UdSSR aus. Auf Weisung der deutschen Behörden organisierten die Dorfschulzen Hand- und Spanndienste. Tagtäghch steüten sie mehrere Dutzend Fuhrwerke und Leute für den Bau von Rasenpisten bereit12. Bei den Straßenarbeiten war eine beträchtliche Anzahl Männer jüdischer Nationalität beschäftigt, die in der Nähe von Kotkce im Landgut Michalówka gemeinsam mit ihren Familien in Kasernen untergebracht waren13.
Rozdoly
—
7
Ebd.
8
Jan Grygiel, Zwi^zek
10 'i 12 13
—
Walki Zbrojnej Armii Krajowej w obwodzie zamojskim 1939-1944, Warszawa 1985, S. 248. Die Dienststelle der Heimatarmee Kotlice, deren erster Organisator Leutnant Stanislaw »Gniadosz« Kleszczyriski war, gehörte zum Raum Skierbieszów, der die drei Gemeinden Nowa Osada, Skierbieszów und Kotlice umfaßte. Anfangs war Oberleutnant Piotr »Koñ« Zlomaniec Führer des Raumes Skierbieszów, in den Jahren 1943 und 1944 hatte Kleszczyñski diese Funktion inne,
vgl. Hryniewiecki, My z Zamojszczyzny (wie Anm. 6), S. 24. Hryniewiecki, My z Zamojszczyzny (wie Anm. 6), S. 18. Ebd.
Ebd., S.
25.
F.rinnerungen des Gemeindesekretärs in Kotlice, Feliks Bednarski. Privatarchiv des Autors.
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Waldemar Bednarski
Den deutschen Flugplatzbau leitete ein überaus eleganter und taktvoller älterer Herr mit dem Dienstgrad Oberst, im Zivüleben Besitzer einer Zigarrenfabrik. Er wohnte im Gebäude des Gemeindeamtes. In Gesprächen mit den Beamten erzählte er, daß er während des Ersten Weltkrieges in der Gegend gewesen sei und in der Nähe von Koniuchy gekämpft habe. Die Soldaten des Flugplatzdienstes verhielten sich anständig, und es kam zu keinerlei nennenswerten Konflikten mit der polnischen Bevölkerung. Vielleicht lag das in gewisser Weise an der Persönkchkeit des noblen Obersten. Im Juni 1941 tauchten auf dem Feldflugplatz in Dub die ersten Jagdflugzeuge vom Typ »Messerschmitt« auf, die nach dem Beginn der Kriegs han dlungen die vom Flugplatz Labunie aus startenden Bomber sicherten. Angesichts der großen Anzahl deutscher Truppen im Gebiet um Zamosc, die sich auf den Angriff auf die UdSSR vorbereiteten, sowie wegen der schwachen Ausrüstung des Sturmzuges mußten dessen bewaffnete Aktivitäten auf die Liquidierung von Spitzeln und »blauen« Pokzisten14 sowie auf die Erbeutung von Waffen und Geld beschränkt bleiben. Am 20. Juni 1941 mißlang in Perespa ein Anschlag auf den griechisch-orthodoxen Pfarrer Bober, der akes haßte, was polnisch war. Während der Septemberkämpfe hatte er einige polnische Soldaten ermordet und anschließend aktiv mit den Deutschen zusammengearbeitet. Das Urteil sokte von drei Führern der Sturmabteüungen voksteeckt werden: »Die Sturmsoldaten betraten den Vorbau des Pfarrhauses, die Tür war geschlossen. Nachdem heftig an der Tür gerüttelt wurde, öffnete die Haushälterin des Popen. Die Attentäter drangen rasch in das Zimmer ein, in dem Bober saß. Sie sagten, in wessen Auftrag sie handelten und befahlen ihm hinauszugehen. Das Urteü wokten sie im Wald vokstrecken. Nachdem der Pope begriffen hatte, worum es ging, konnte er sich von den Attentätern überraschend losreißen. Er verkroch sich in einem Kekerraum. >Rust< und >Wenda< kefen zum Keller und gaben ein paar Schüsse ab. Sie zielten von oben ckrekt auf den Kopf des Deknquenten. Der Auftrag war erfükt, das Urteil vollstreckt15.« Das glaubten die Attentäter, doch der Pope hatte überlebt und ledigkch ein Auge verloren. Nach der Endassung aus dem Krankenhaus übernachtete er nicht mehr im Pfarrhaus, sondern wechselte ständig in Häuser, wo er unter dem Schutz von Ukrainern stand. Mit einem Mißerfolg endete auch der Versuch, die »blauen« Pokzisten des Wachpostens in Kotkce zu erschießen, d.h. den Kommandanten Szostowicki und den Pokzeiwachtmeister Czyz. Beide waren den Einwohnern der Gemeinde verhaßt, wek sie die Anweisungen der Besatzungsbehörden allzu eifrig befolgten. Beim ersten Versuch (imjuk) in Czesniki konnten die Polizisten fliehen. Am 19. November 1941 erfolgte der zweite Anschlag. Auf dem Bahnhof in Koniuchy trafen Szostowicki zwei Schüsse aus nächster Nähe, doch er bkeb am Leben. Ein unbeteikgter Kutscher, der 70jährige Antoni Kapusta aus Kotkce, Großvater eines der At-
14
15
Gemeint sind Angehörige der polnischen Hilfspolizei, die, in der laborateure« häufig das Ziel von Partisanenaktionen wurden. Hryniewiecki, My z Zamojszczyzny (wie Anm. 6), S. 26.
Bevölkerung verhaßt, als
»Kol-
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tentäter, starb hingegen durch die Kugeln. Nach diesem Vorfaü wechselte Szostowicki in ein anderes Gebiet16. Um an Geld zu kommen, führten die Untergrundkämpfer Enteignungsaktionen durch. Einen mutigen Überfall auf den Kassierer der Genossenschaft »Spolem« in Zamosc verübte Leutnant Stanislaw »Wenda« Gumowski, wobei er eine Mappe mit 60 000 Zloty entwendete. Schußwaffen wurden gelegentlich bei der Entwaffnung einzelner deutscher Soldaten und »blauer« Pohzisten aufgetrieben, am häufigsten aber durch Kauf. In späteren Jahren (1943/44) erlangte man von Flugzeugen abgeworfene Waffen, oder man erbeutete sie bei Kämpfen gegen deutsche Verbände und ukrainische Nationalisten. Soldaten der nationalen Untergrundbewegung in Kothce halfen auch sowjetischen Kriegsgefangenen, die aus den Lagern geflohen waren. Sie machten es ihnen leichter, sich in die Gebiete jenseits des Bug durchzuschlagen oder sich in polnischen Dörfern zu verstecken. Damit retteten sie ihnen das Leben, denn gefaßte Flüchtlinge wurden von den Deutschen sofort erschossen. Die Zusammenarbeit mit sowjetischen Partisanenabteüungen, die über den Bug kamen, gestaltete sich in dieser Zeit korrekt. Es kam zu gemeinsamen Aktionen gegen deutsche Verbände und gegen Verbände der Ukrainischen Aufständischenarmee (UPA). Zunehmend traten dann die Unterwanderung und Auskundschaftong der polnischen nationalen Untergrundbewegung in den Vordergrund und ersetzten das Zusammenwkken gegen einen gemeinsamen Feind. Das Paradebeispiel hierfür ist die Haltung der sowjetischen Partisanen während der Juni-Kämpfe in der Puszcza Solska im Jahre 1944. Trotz unstrittiger Erfolge der Sturmgruppen bei Sabotage- und Spionageaktionen (Anschläge auf Eisenbahnstrecken, Überfäüe auf Liegenschaften, Branntweinbrennereien und Zuckerfabriken) führten im Jahre 1941 zu große Selbstsicherheit und Alkoholmißbrauch sowie die sogenannte Wisman-Affäre zu einem großen Rückschlag. Anfang des Jahres war ein geheimnisvoüer, unbekannter Mensch mit Decknamen »Wisman« aus Sosnowiec nach Zamosc gekommen. Er wurde alsbald Kommandant der Stormverbände vor Ort und zeigte viel Energie bei der Liquidierung von Denunzianten sowie bei der Planung von Handstteichunternehmen, deren Ziel darin bestand, Volksdeutschen »die Haut zu punktieren«, so ein konischer Ausdruck für die Verhängung der Prügelstrafe. »Wisman« beschlagnahmte Versorgungsgüter, ohne sie bei seinen Vorgesetzten abzurechnen, und erhielt hierfür eine Abmahnung. Dann plante er eine Reise nach Warschau, um Geld heranzuschaffen. Gemeinsam mit ihm fuhren zwei seiner Soldaten sowie seine Ehefrau Magda. In der Hauptstadt versüßte sich die Gruppe ihr Leben mit dem Besuch von Nachdokalen. In der Bar »Aquarium« an der uhca Marszalkowska kam es zu einer Schießerei, die von dem anmaßend auftretenden »Rust«, so ein weiterer Deckname Wismans, provoziert wurde; drei deutsche Offiziere starben dabei. Den
Sturmtrupp-Soldaten
aus
Zamosc
gelang
zwar
die
Flucht, doch
die Pohzei kam
Szostowiecki wurde nach Kriegsende verhaftet und in Zamosc vor Gericht gestellt. Die Einwohner von Kotlice konfrontierten ihn mit einer langen Liste von Vorwürfen. Er wurde verurteilt und verbüßte eine Gefängnisstrafe. Nach der Freilassung lebte er in Narol.
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Waldemar Bednarski
ihnen mit Hkfe eines Rikschafahrers, der auf die versprochene hohe Belohnung erpicht war, auf die Spur und verhaftete binnen kurzer Zeit die gesamte Gruppe. »Rust« erklärte sich bereit, um den Preis der Freilassung seiner Ehefrau die anderen Mitglieder der Organisation in Zamosc zu verraten. So verhaftete und liquidierte die Gestapo über 30 Soldaten der Untergrundbewegung. Aus kgendwelchen Gründen gab »Rust« die Adressen der Sturmsoldaten aus der Kotkcer Gruppe »Orkk« nicht preis. Vielleicht wollte er auf diese Weise seine Ehefrau schützen, die nach der Entlassung aus dem Gefängnis eine Zeit in dieser Gemeinde lebte. Auf jeden Fall erhielten alle Mitgkeder neue Decknamen und die Gruppe »Orlik« die Bezeichnung »Wikkna«. »Rust« und seine Ehefrau wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet17. Ein Problem stekten die »Eindeutschungspläne« der Besatzer im Gebiet Zamosc dar. Anfangs trug die Aktion den Charakter völliger Freiwilligkeit, doch alsbald gingen damit Erpressung und physische Gewaltanwendung einher. Den deutschen Plänen zufolge sollten die Gebiete nach der Aussiedlung der Polen eine »Bastion des Deutschtums im Osten« werden. In ausgesiedelte polnische Dörfer brachte man »Volksdeutsche« aus Bessarabien, Bulgarien sowie aus dem Kreis Radom. Die Untergrundbewegung versuchte, den Deutschen die Durchführung der Werbeaktion sowie die Germanisierung des Gebietes zu erschweren. Eine »Orlik«Gruppe aus Kazimierówka erhielt beispielsweise den Befehl, die deutsche Schule in Antoniówka bei Komarowo zu beseitigen; sie verprügelte daraufhin die in der Schule versammelten Volksdeutschen. Das brachte die erwünschte Wkkung, denn die in heftigen Schrecken Versetzten erklärten öffentkch, daß sie »durch und durch Polen« seien. Die Schule hörte auf zu bestehen, und der Lehrer reiste mit dem Personal am 18. April 1942 nach Lubkn ab. Im Dezember 1942 begannen Massenaussiedlungen auch in der Gemeinde Kotkce. Den Anfang machten die Dörfer Bozy Dar, Czesniki, Niewkków und die Siedlung Niewkków, am 22. Dezember folgte das Dorf Kotlice18. Die Einwohner waren rechtzeitig gewarnt worden. Die Mehrzahl schaffte es, in andere Gegenden zu ziehen, wo es keine Umsiedler gab, die man aufgrund ihrer Hautfarbe als »Schwarze« bezeichnete (zum Verlauf der Umsiedlungen vgl. den Beitrag von HansJürgen Bömelburg in diesem Sammelband). Tragisch war dagegen das Schicksal der Alten und Gebrechlichen, die in ein Übergangslager nach Zamosc gebracht wurden, wo viele von ihnen starben. Nach der Räumung von Kotkce fanden die jungen Leute aus dem Sturmzug »Wiklina« Unterschlupf in Honiatycze, Kazimierówka, Perespa und Dub, aber auch diese Dörfer erwartete ein ähnliches Schicksal. Hier herrschten Unruhe und
Wojciech Bialasiewicz, Afera Wismana, Lublin 1985, S. 40; Hryniewiecki, My z Zamojszczyzny (wie Anm. 6), S. 36; Grygiel, Zwiazek Walki Zbrojnej (wie Anm. 8), S. 58. Die Verteidigung des Gebietes Zamosc hatten Verbände der Bauernbataülone, der Heimatarmee und der Volksgarde (GL) übernommen. Die Kämpfe dauerten mehrere Monate. Es kam zu größeren Gefechten bei Roza, Wojda und Zaboreczne und zu Vergeltungsaktionen gegen Ortschaften, die von deutschen Siedlern bewohnt waren. Kraft und Entschlossenheit der Partisanenverbände zwangen die Deutschen zur Beendigung ihrer Aussiedlungsaktion. Die Siedler verließen die Region im Juli 1944.
Das Gesicht des
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Nervosität, was sich auch auf die Flüchthnge aus Kotkce übertrug. Äußeres Anzeibei den chen dieser Stimmung waren Alkoholmißbrauch, Arbeitsunlust und
eine merkliche Verringerung der Disziphn. Das führte zu unüberlegten Entscheidungen und in der Folge zu einer Vielzahl unnötiger Tragödien. Anfang Januar 1943 organisierten einige Mitglieder des »Wikkna«-Zuges, ohne dies vorher mit dem Führer abgestimmt zu haben, einen Überfall auf das ukrainische Dorf Krynka, um Lebensmittel zu erbeuten. Ein reicher Landwirt, dem ein Sack Erbsen gestohlen worden war, meldete das der ukrainischen Pohzeiwache in Werbkowice. Am 6. Januar nahm diese Verhaftungen unter den gezwungenermaßen in Honiatycze lebenden Einwohnern von Kothce vor. Versuche, die Inhaftierten zu befreien, schlugen fehl. Nach einer Überprüfung der Vorfäüe wurde Józef »Ryszard« Kaczoruk als Zugführer des »Wikhna«-Zuges eingesetzt, der die Eigenmächtigkeit der Kotkcer Gruppe unterband und eiserne Disziphn einführte. 1943 unternahmen Partisanenverbände Aktionen gegen die besiedelten Dörfer in der Absicht, fremde Elemente zu beseitigen und das Gebiet den rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben. Ende Januar beteiligte sich der Zug »Wikhna« gemeinsam mit Soldaten des Bereichs Hrubieszów an einer Vergeltongsaktion. Unter Ausnutzung des Überraschungseffekts brannten sie das Dorf Cieszyn nieder und töteten angebhch 160 umgesiedelte Volksdeutsche und 150 SS-Leute, die sich zur Genesung in Cieszyn aufhielten. Während des Rückzuges geriet der »Wikkna«-Zug in eine schwierige Lage, als er überraschend von herannahenden deutschen Verstärkungen angegriffen wurde. Als die Soldaten psychisch zusammenzubrechen drohten, gelang es nur mit vorgehaltener Waffe, einige von ihnen an der Flucht zu hindern19. Der Zug »Wikkna« befreite sich erfolgreich aus dem deutschen Zugriff, und die deutschen Einheiten zogen sich schheßhch nach Wohca Uchañska zurück. Nht einem Mißerfolg endete dagegen die Teünahme der Soldaten von »Wikkna« an den Kämpfen bei Lasowce am 4. Februar 1943. Ein eilig zusammengestellter Zug unter der Führung von Kazimierz »Zegota« Lukasiuk wurde zerschlagen und erlitt blutige Verluste. Mehr als 30 junge Burschen fielen. Später verhafteten Pohzisten Bronislaw »Przybleda« Kapusta in der Nähe des Waldes von Borowina. Sie merkten schnell, daß sie jemanden aus Kothce gefaßt hatten. Nach einem ersten Verhör sperrten sie ihn in die Arrestanstalt der Gemeinde, »von wo aus es ihm gelang, eine Nachricht über seine Verhaftung nach Kazimieröwka zu schicken und die Leute von Kotkce zu warnen, vorsichtig zu sein. Doch diese nahmen die Nachricht nicht ernst20.« Am 24. Februar 1943 ritten Gendarmen aus Kothce (Göring, Schoü und Kowalski) nach Kazimieröwka und erschossen zwei Soldaten von »Wikkna«. Stefan »Dolçga« Sobiñski und Antoni »Lechita« Kapusta versuchten nach Honiatycze zu fliehen. Etwa auf halber Strecke wurde »Dolçga« erschossen. »Lechita« wurde verhaftet, ins Gefängnis von Hrubieszów gebracht und kurz darauf getötet21. Einige »Wikkna«-Leuten
-
—
19 20 21
Hryniewiecki, My z Zamojszczyzny (wie Anm. 6), S. 69. Ebd., S. 78. Ebd., S. 80. seinen
TLine völlig andere Version der Ereignisse gibt Gemeindesekretär Feliks Bednarski in Erinnerungen wieder. 1943 sei ein beurlaubter polnischer Kriegsgefangener, Einwohner
Waldemar Bednarski
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Zeit später nahmen Gendarmen unter »Wikkna«-Mitgkedern, die sich in Hrubieszów aufhielten, weitere Verhaftungen vor. Nach diesen Ereignissen war die Moral der Soldaten des Sturmzuges »Wikkna« so tief gesunken, daß sie im April 1943 die Teknahme an einem Vergeltungsschlag auf das Dorf Huszczka verweigerten. Es ist zu vermuten, daß einer der wichtigsten Gründe dieses beispiellosen Vorfaks der Druck der Famiken war, die um ihr Leben bangten und Angst vor am 5. Juni 1943 war der Zug seitens der Deutschen hatten. Erst Repressaken »Wikkna« erneut in eine Vergeltungsaktion gegen Siedler in Siedliski eingebunden. Ein unbestreitbares Verdienst der polnischen nationalen Untergrundbewegung war der kompromißlose Kampf gegen die morakschen Verfakserscheinungen der Okkupation22. Zu den größten Plagen gehörten zahkeiche Diebesbanden, die aus kriminellen Elementen und Angehörigen gesekschaftkcher Randgruppen bestanden und oftmals 1939 aus den Gefängnissen entlassen worden waren. Die gut bewaffneten Banditen verübten Raubüberfäke und mordeten ake, die sich ihnen in den Weg stellten. Gleichzeitig untergruben sie die Autorität der konspkativen Organisationen, wek sie sich in der Regel als Angehörige des Untergrundes ausgaben. Die Führer der nationalen Untergrundbewegung keferten ihnen einen erbarmungslosen Kampf. Im September 1943 erteüte Jan »Norbert« Turowski, Kommandant der Sturmverbände im Gebiet Zamosc, den Befehl an Alfred »Zych« Thor, eine Razzia gegen Banditen und Diebe in der Gegend um Bondyrz zu veranstalten, wo die Einwohner besonders zu leiden hatten. Die Steafexpedition in Gruppenstärke, von zwei Ortskundigen geführt, stieß in die Verstecke vor, die sich in Guciów, und den angrenzenden Dörfern befanden. Die folgende Schkderung Bondyrz erlaubt einen Einbkck in das Geschehen: »>Norbert< gab dabei die ausdrückliche Anweisung, niemanden zu töten, sondern lediglich Vorbereitungen zu Exekutionen vorzutäuschen (Einschüchterung, Stockschläge, Ausheben von Gräbern u.a.). Zu Beginn suchte die Gruppe eine Hütte auf, deren Besitzer zusammen mit zwei Söhnen Diebereien verübte. Prügel richteten nichts aus, und erst während die Söhne Gruben ausheben mußten, gingen dem Vater die Nerven durch, und er zeigte ein Versteck, aus dem drei Gewehre, Munition und Granaten auftauchten. In einem zweiten Versteck gab der Verdächtige freiwillig ein Gewehr ab. In der letzten Hütte zog man unter dem Bett ein hübsches Mädchen hervor, das kein allzu reines Gewissen hatte. Es stellte sich heraus, daß sie im Arbeitsamt im Zamosc arbeitete. Ihr wurde der Dienstausweis weggenommen. Den Delinquenten wurde das Versprechen abgenommen, mit ihrem schändlichen Treiben Schluß zu machen23.«
zum festgesetzten Zeitpunkt in das Stammlager zurückgekehrt. GenKotlice hätten sich daraufhin in sein Dorf begeben, um ihn zu verhaften. Als ein Beobachtungsposten von »Wiklina« die herannahenden Deutschen erkannte, sei er davon ausgegangen, daß die Mitglieder von »Wiklina« geholt werden sollten. Er sei also aus seiner Hütte herausgerannt und habe das Feuer eröffnet. Es bestehe der Verdacht, daß die Partisanen ziemlich betrunken gewesen waren. So beschrieb der Gendarm Göring, der die tödlichen Kugeln auf Sobiriski »Dolçga« abfeuerte, meinem Vater den Verlauf der Ereignisse. Józef Marszalek, Wies a partyzantka na Lubelszczyznie, in: Z problemów nauczania historii najnowszej, hrsg. von Wojciech Czajka und Jan Maüdziuk, Lublin 1987, S. 264 f. Hryniewiecki, My z Zamojszczyzny (wie Anm. 6), S. 92. von
Kazimierówka, nicht
darmen
22
23
aus
Das Gesicht des
Gleichzeitig gingen Angehörige
Krieges in der Gemeinde Kotlice
des
vor, indem sie deren Gerätschaften
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Untergrundes gegen iüegale Schnapsbrenner Hersteüung von Wodka zerstörten, um die
zur
Jugend vor der Trunksucht zu schützen. In der Praxis war das eine schwer zu erfüllende Aufgabe. Wodkagenuß und zwar in großen Mengen war in allen Partisanenverbänden aügemein gebräuchhch, denn er erleichterte das Balancieren an —
—
der Schweüe zwischen Leben und Tod. Probleme gab es auch mit den eigenen Leuten. Jan »Sowa« Dübel aus dem »Wikkna«-Zug, ein überzeugter Partisan und Voüstrecker von Todesurteüen gegen Spitzel und Gestapo-Leute, war einer von denen, die auf den krimineUen Pfad gerieten. Wegen Waffenhandel erhielt er die Todesstrafe, doch die Voüstteckung des Urteüs bheb aus, weü er dem Zugführer das feierliche Versprechen gab, daß sich derartiges niemals wiederholen werde. »Norbert«, der Kommandant der Stormverbände, annullierte das Urteü. »Sowa« hielt Wort und erfüüte bis zum Ende der Kriegshandlungen die Weisungen der Vorgesetzten in vorbüdhcher Weise. 1945 geriet er aüerdings erneut auf die schiefe Bahn. Als er mit einer Gruppe gleichgesinnter Kumpane damit begann, Bauern auszurauben, verurteüte ihn die Untergrundbewegung erneut zum Tode. Das Urteü wurde in seiner Wohnung in Kothce in Anwesenheit seines blinden Vaters und seiner kranken Mutter vollstreckt.
Der
Kampf an zwei Fronten
Im Jahre 1943
gehörte die Bedrohung der polnischen Bevölkerung durch ukrainische Nationalisten zur Spezifik der südöstlichen Gebiete des Lubliner Landes. Ukrainer nahmen in der SS-Division »Galizien« und als Angehörige der Ukrainischen Pohzei aktiv an den verbrecherischen Handlungen der Besatzer teü. Nach Kothce drangen ständig beunruhigende Informationen über Gewalttätigkeiten und Morde an Einwohnern in den jenseits des Flusses Huczwa gelegenen Dörfern. Das hatte fatalen Einfluß auf die Stimmung der Bevölkerung, die sich wie auf einem Vulkan fühlte. Die ständige Angst beschreibt Witold Hryniewiecki in seinen Erinnerungen: »Im Spätherbst 1943 näherte sich die Welle bestialischer Überfalle ukrainischer Nationalisten auf die polnische Bevölkerung langsam aber sicher den Gebieten, in denen >Wiklina< aktiv war. Fast jede Nacht beobachteten wir den Feuerschein am Himmel, der von schrecklichen Schicksalen polnischer Familien kündete. Immer häufiger fuhren durch unsere Gebiete Kolonnen unglücklicher Flüchtlinge, die ihr ganzes Hab und Gut auf Fuhrwerke geladen hatten und zusammen mit ihren Kindern einfach ihr Heil in der Flucht suchten. Das war ein wahrhaft gespenstischer Zug, und es blutete einem das Herz beim Anblick dieser Heimadosen. Und wie viele unserer Brüder und Schwestern blieben für immer in ihren Gehöften und tränkten den heimatlichen Boden mit ihrem Blut? Die Erzählungen der Flüchtlinge weckten Entsetzen, und es fiel anfangs schwer, ihnen zu glauben. Nach Aufforderung des Führers der ukrainischen Nationalisten, Bandera, hatten seine Landsleute mit der Ermordung von Juden, Polen und Russen begonnen. Auf diese Weise strebten sie die Schaffung einer eigenständigen Ukraine< an. Bei der Liquidierung der Juden halfen ihnen die Deutschen. Später begannen die beses-
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Waldemar Bednarski señen Nationalisten mit der Ermordung ihrer polnischen Nachbarn. Opfer dieses Wahnsinns wurden Bewohner polnischer Gehöfte, Siedlungen und Dörfer. Kein Pole entging diesen Pogromen und dem Gemetzel. Der vor Haß verrückte Mob hatte weder Mideid mit Alten noch mit Säuglingen, ganz zu schweigen von Kindern, Frauen und Männern. Ein Nachbar ermordete den anderen, und es passierte sogar, daß ein ukrainischer Ehemann seine polnische Frau und der Sohn seine Mutter tötete24.«
Die Bedrohung seitens der nationakstischen ukrainischen Banden wuchs nicht nur für den »Wikkna«-Zug, sondern auch für das Inspektorat der Heimatarmee in Zamosc. Das Inspektorat schätzte den Ernst der Lage richtig ein und traf eine Entscheidung, die die Kommandanten der Bereiche Tomaszów und Zamosc verpflichtete, die Verbände des Bereichs Hrubieszów dabei zu unterstützen, die ukrainischen Gruppen in Sahryñ, Werbkowice, Uhrynów und Szychowice zu vernichten. Am 10. März 1943 überfielen über 2000 Soldaten der Heimatarmee die ukrainischen Stützpunkte in Sahryñ, Uhrynów, Szychowice und Lasków. Bei dieser Vergeltungsaktion wurden Sahryñ, Szychowice und Lasków zerstört und niedergebrannt. Es gelang allerdings nicht, Uhrynów und Werbkowice zu besetzen, weil deutsche Verbände die ukrainischen Nationaksten unterstützten25. Ungeachtet gewisser Erfolge der Heimatarmee ließen die Verbände der UPA nicht von den Morden an der polnischen Bevölkerung ab. Der nächste Schlag richtete sich gegen die ukrainischen Nationalisten in Beresc. Am 16. März 1943 besetzten Verbände der Heimatarmee, unter denen sich ein Tek einer »Wikkna«-Kompanie befand, dieses Dorf und zerstörten es. Der ukrainische Stützpunkt wurde liquidiert. Damit ging für die umliegenden polnischen Dörfer und Siedlungen ein Alptraum zu Ende26. In der letzten Märzdekade 1943 kam es zu einer dkekten Bedrohung des Stützpunktes des »Wikkna«-Zuges. Am 23. März überfielen Angehörige der UPA unter Ausnutzung eines Schneesturms überraschend die polnische Siedlung Frankamionka. Sie ermordeten jeden, der ihnen begegnete, und brannten Wohnhäuser und Wirtschaftsgebäude nieder. Soldaten des »Wikkna«-Zuges ekten zu Hkfe und schlugen in einem verzweifelten Gegenangriff die Ukrainer zurück. Diese Tat der jungen Sturmsoldaten bedeutete jedoch die Enttarnung des Zuges »Wikkna« sowohl gegenüber den Deutschen als auch gegenüber den ukrainischen Nationalisten. Hryniewiecki stekt die kompkzierte Situation wie folgt dar: »Weil in den Dörfern Honiatycze und Honiatyczka viele Ukrainer lebten, mußte Klartext gesprochen werden. Aus diesem Grunde schlug >Ryszard< (Leutnant Józef Kaczoruk, Chef der >W'iklinaRyszard< einige Monate zuvor Wasyl Dudka, einem Ukrainer mit höchster Autorität im Ort, persönlich das Leben gerettet hatte, was Anlaß zur Hoffnung auf eine Einigung gab. Wasyl Dudka wußte genau, daß unser Ziel die Bekämpfung der Deutschen ist, der Kampf gegen die ukrainischen Nationalisten dagegen
24 25
26
Ebd., S. 96 f. Jerzy Markiewicz, Partyzancki kraj, Lublin 1980, S. 146-161. Hryniewiecki, My z Zamojszczyzny (wie Anm. 6), S. 111.
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Krieges in der Gemeinde Kotlice
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notgedrungen geführt werden soll [...] Die Gespräche dauerten etliche Wochen. Erst Anfang Mai stimmten die Ukrainer der Zusammenarbeit mit uns zu und legten als Beweis dafür ihre Waffen nieder. Die Bedingungen wurden zu Papier gebracht und von beiden Seiten unterschrieben. Nach der Unterzeichnung der Vereinbarung beteiligten sich alle Bewohner unseres Gebiets an den Wachen und Feldposten. Einige Wochen später wurden diese Vereinbarung wie auch die Loyalität der Vertragspartner während eines Überfalls ukrainischer Nationalisten einer Feuerprobe unterzogen. Die bodenständigen Ukrainer verhielten sich unterschiedlich: Ein Teil lief zum Feind über, die Mehrzahl verhielt sich neutral, doch es gab auch welche, die entsprechend dem geschlossenen Abkommen bei uns blieben und aktiv am Kampf teilnahmen. Einige von ihnen blieben mit dem >WiklinaRan< angehetzt und meldete, daß die Deutschen Kurs auf Kazimierówka nehmen [...] Die Morgendämmerung brach bereits herein, als sich aus Dub eine lange deutsche Wagenkolonne näherte. Dahinter fuhr in einer Britschka Franz Stalla, >Hund und Schwein in einer Person< wie wir ihn nannten29. Der Feind fuhr in Richtung unseres am weitesten nach Westen vorgeschobenen Feldpostens und überraschte die Unsrigen. Als die Überfallenen merkten, mit welcher Übermacht sie es zu tun haben, zogen sie sich rasch zurück in der Hoffnung, in größerer Stärke bis zu >Ryszard< zu gelangen. Erst dann hätten sie die Möglichkeit gehabt, dem angreifenden Feind die Stirn zu bieten insbesondere, da >Ryszard< über zwei leichte Maschinengewehre verfügte. Der Rückzug unseres Feldpostens verlief ungeordnet und in Panik. Allerdings ist zu betonen, daß viele aus der Gruppe versuchten, die Deutschen aufzuhalten. Die Leute rannten im Schutz des Straßengrabens im Gänsemarsch, und immer wieder wandte sich einer um und feuerte auf die näher kommenden Verfolger. Schließlich drang einer der Gendarmen in den Graben ein und gab einen langen Feuerstoß aus seiner Maschinenpistole ab. Drei unserer Leute fielen sofort, und noch mal so viele wurden schwer verwundet. >Leszczyna< (Wladyslaw Torbacz), der von den ihn verfolgenden Deutschen eingeholt worden war, wurde auf bestialische Weise ermordet. Einen anderen, >Nik< (Mieczyslaw Borkowski), der am Brustkorb schwer verletzt worden war, malträtierten sie mit eisenbeschlagenen Schuhen. Einer der Gendarmen wollte prüfen, ob er noch lebte, und stellte sich auf seinen Brustkorb. Als dem Verwundeten das Blut aus dem Mund strömte, dachte er, es sei sein letzter Atemzug, versetzte ihm noch einen Tritt und lief den anderen nach. Diese Ereignisse, die blitzartig aufeinander folgten, passierten in dem Moment, als >Zych< (Alfred Thor) als Diensthabender des Verbandes vor Tagesanbruch gerade eine Gruppe in Richtung des von den >BulbaZych< und dem herbeigeeilten >Ryszardplanmäßig< in Richtung Rudka abzuziehen. Obwohl die Unsrigen nur eine Handvoll Leute waren, warteten sie nicht ab, bis die Deutschen wieder zur Besinnung —
—
Franz Stalla, Verwalter des Vorwerks in Dub, Slowake, aus Österreich stammend; bekannt als grausamer Sadist, Mord u.a. an Tadeusz Marcóla, einem Soldaten der Untergrundbewegung aus Bozy Dar. Sein Gesicht sei rot-blau vom Wodka gewesen; von seinem russischen Scharfschützengewehr habe er sich niemals getrennt, Erinnerungen Feliks Bednarski. Privatarchiv des Autors.
Das Gesicht des
Krieges in der Gemeinde Kotlice
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kamen und gingen schnell wie ein Wkbelsturm zum Angriff über. Die Deutschen ergriffen auf der ganzen Linie jämmerlich die Flucht. Sie zogen sich noch ungeordneter zurück als das kurz zuvor die Polen getan hatten, die jetzt fast buchstäblich dem Feind im Nacken saßen. Schließlich versteckten sich die Deutschen hinter den Bäumen und begannen auf unsere Leute zu feuern [...] Die Deutschen hatten es trotz der Panik, die sie ergriffen hatte, nicht versäumt zu plündern. Unsere Leute erwischten einen Deutschen in dem Augenblick, als er gerade versuchte, einem toten Kameraden die Stiefel auszuziehen. Einen hatte er schon geschafft, doch den zweiten kriegte er nicht ab. Angesichts eines Partisanengewehrs riß er sofort die Hände nach oben und begann weinerlich darum zu bitten, ihn am Leben zu lassen. Das half ihm aber nichts. Er erhielt die verdiente Strafe für Plünderung. Man fand bei ihm mehrere Uhren und Portemonnaies, die er unseren Soldaten gestohlen hatte. Wk hatten empfindliche Verluste erlitten sechs Tote einschließlich der Sanitäterin [...] Zwei Schwerverwundete wurden ins Lazarett nach Tomaszöw Lubelski gebracht [...] Indessen kam zu uns ein Aufklärer, der uns mitteüte, daß die Deutschen von Rudka weg nach Dub und Kotlice gezogen seien, von wo sie nach Zamosc telefoniert und von der Wehrmacht Verstärkungen angefordert hätten [...] Wk waren also sicher, daß der Feind beabsichtigte, noch am selben Tage Vergeltung zu üben. Denn auch er hatte hohe Verluste erlitten. In Erwartung des Angriffs bezog >Ryszard< im Wald von Kotlice -
Stellung.
Nach 16 Uhr wimmelte es auf den Feldern um den Wald von Kotkce aus Richtung Süden und Westen von schwarzen und grauen deutschen Uniformen. Unter ihnen waren auch bewaffnete zivüe Volksdeutsche sowie Wehrmachtsoldaten, die auf zwei Lastwagen aus Zamosc angerückt waren. Auf dem ersten fuhr der Verwalter von Dub und wies den Weg. Als sie bis auf einige hundert Meter an den Wald herangefahren waren, wendeten erst einmal praktischerweise die Fahrzeuge in Richtung des Rückweges. Dann rückten die Soldaten auf die Stellungen der Partisanen vor. Nach einigen Salven jedoch zogen sie es vor, nach Dub zurückzukehren. Sie kamen noch einmal in größewieder. Nachdem sie zwei Hütten niedergebrannt hatten, rückten sie im rer Stärke Schutz des Rauchs vor. Den westlichen Teü des Waldes verteidigte Oberleutnant >Czarus< (Sergiusz Konopa), der Rest sicherte den Zugang von Süden. Nachdem unsere Leute den Feind auf etwa 150 Meter herangelassen hatten, beschossen sie ihn mit allen zur Verfügung stehenden Waffen. Der Angriff der Deutschen scheiterte auf der ganzen Linie [...] Wk waren bemüht, unsere am Morgen gefallenen Kameraden in so großer Anzahl wie möglich zu rächen. Diese Hoffnung gab uns Kraft. Wir schössen pausenlos, ohne Luft zu holen, und das mit gutem Erfolg. Die Deutsche hielten unserem Feuer nicht stand, obgleich ihnen zwei Flugzeuge zu Hilfe kamen, die uns mit den Bordwaffen beschossen. Der Feind begann sich zurückzuziehen, und der Rückzug artete alsbald in panische Flucht aus [...] Die Verluste der Deutschen betrugen an diesem Tage 36 Tote und Verwundete30.« -
-
siegreichen Gefecht bei Kazimieröwka wählte der Führer des »Wiklina«-Zuges zeitweiligen Standort den Wald von Tyszowce, weü das dortige Gelände gute Bedingungen für die Verteidigung gegen einen Überraschungsangriff bot. Das machte eine Neuorganisation des Verbandes notwendig; zudem waren Nach dem
als
Alfred Thor »Zych« und Zbigniew Uchnast »Wojciech Mohort«, Bitwa o Kazimierówkc, in: Janusz Peter, Tomaszowskie za okupacji, Tomaszöw Lubelski 1991, S. 167; die Schilderung ist in gekürzter Fassung wiedergegeben.
Waldemar Bednarski
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viele Freiwikige hinzugekommen und der bisherige Zug zu Kompaniestärke angewachsen. Chef der Sturmkompanie »Wikkna« wurde »Ryszard«, sein Stellvertreter Feldwebel Alfred »Zych« Thor. Der zweiwöchige Aufenthalt im Wald von Tyszowce, die Ausbildung der neu aufgenommenen Jugendkchen sowie zusätzliche Ausrüstung schweißten den Verband zusammen, der zu dieser Zeit 120 Soldaten zählte. Einen wichtigen emotionalen Faktor bildeten die im Lager organisierten Feierlichkeiten anläßlich des Nationalfeiertages. Pfarrer Kolszut zelebrierte eine Feldmesse, die Soldaten empfingen die heikge Kommunion. Das Präsentieren der Gewehre beim Verlesen des Evangeliums und der Wandlung sowie das Singen des Liedes »Gott schütze Polen« verstärkten die patriotische Stimmung auf dieser ungewöhnlichen Feier31. Die letzte
Kriegsphase
Im Mai 1944 erhielt die Aufklärung des Bereichs Tomaszów der Heimatarmee wertvolle Informationen über Stärke und Stationierung ukrainischer Verbände sowie über deren Vorbereitung auf einen Angriff gegen polnische Stellungen im Abschnitt Tyszowce^Laszczów-Jarczów. Dies ermöglichte es, dem Feind zuvorzukommen. In den ersten Junitagen waren an der 50 Kilometer langen polnischukrainischen Front erbitterte Kämpfe entflammt. Auftrag der Gruppierung Tomaszów der Heimatarmee war es, Ulhówek einzunehmen, was gleichbedeutend gewesen wäre mit dem Durchbrechen der Stekungen der UPA, der Öffnung des Weges tief in das feindkche Hinterland, der Zerschlagung der feindkchen Kräfte und ihrer Zurückdrängung nach Osten32. Die polnische Offensive endete unter schweren Verlusten (71 Tote und 100 Verwundete) vor Ulhówek und Rzeczyca. Obwohl der polnische Plan gescheitert war, erzielten die Verbände Tomaszóws insofern einen Erfolg, als sie eine ukrainische Offensive in die Tiefe des Gebietes Zamosc vereitelten und die Linie am Fluß Huczwa behaupteten. Das bedeutete natürlich nicht das Ende der Kämpfe, doch die weiteren Handlungen der UPA bestanden aus Stoßttuppunternehmen auf Gebiete, die von der Heimatarmee kontrolliert wurden33. An den Junikämpfen gegen die ukrainischen Nationalisten nahm auch die Kompanie »Wikkna« tek. Die Leute aus Kotkce sokten verhindern, daß ukrainische Verbände aus dem Raum Mircze—Malków in die Kämpfe bei Ulhówek eingriffen. In der Nähe des Dorfes Dabrowa kam es zu einem Gefecht und zur Vernichtung eines ukrainischen Feldpostens. Der Kampf gegen einen Verband der Wehrmacht, der dieses Dorf besetzt hielt, endete angesichts der gravierenden zahlenmäßigen und Feuerüberlegenheit des Feindes mit dem Rückzug.
Hrymewiecki, My z Zamojszczyzny (wie Anm. 6), S. 159. Markiewicz, Partyzancki Kraj (wie Anm. 25), S. 365. Waldemar Wojciech Bednarski, Zbrodnie ukraiñskich nacjonalistów spod znaku OUN-UPA na Zamojszczvznie w latach 1944-1947 w raportach starostów powiatowych, in: Na Rubiezy, (2000), 43, S. 28.
Das Gesicht des
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Wegen der Observierung des Waldes bei Tyszowce durch AufklärungsflugzeuTyp Ju-88 und Spähtrupps änderte »Ryszard« den Standort der »Wikkna«-
ge
vom
34
Hryniewiecki, My z Zamojszczyzny (wie Anm. 6), S. 239.
und verlegte sie in den Wald bei Hrubieszów. Die Einheit nahm im Dorf Czartoria Quartier. Die Bauern empfingen die Partisanen überaus herzhch, und diese revanchierten sich, indem sie ihnen bei der Arbeit auf den Höfen zur Hand gingen. Die Idyüe währte aüerdings nicht lange. Vom 10. bis 16. Juni 1944 führten deutsche Truppen im Gebiet Zamosc eine große Operation durch, um die frontnahen Gebiete von Partisanenverbänden zu säubern. Zu dieser Zeit stand die Rote Armee bereits am Bug. Im Zuge der brutal geführten »Befriedungsaktion« brannten die deutschen Einsatzkräfte Dörfer nieder, ermordeten die Bewohner oder brachten sie in Gefängnisse und Konzentrationslager. Der Chef der »Wikkna«-Kompanie verheß das gastfreundliche Czartoria und schlug das Lager im Wald bei Swidniki auf. Am 12. Juni 1944 begannen die deutschen Truppen mit der »Befriedung« der Dörfer um Grabowiec (Kreis Hrubieszów). Den Schutz der Zivübevölkerung übernahm die Heimatarmee aus dem Kreis Hrubieszów. In einem kritischen Moment kam die »Wikkna«-Kompanie den Leuten aus Hrubieszów zu Hufe, indem sie in den Rücken des Feindes stieß34. Nach der Schlacht bei Czartoria zogen sich die Partisanenverbände von »Ryszard«, »Zbik« (Wojciech Szarzyñski) und »Wilk« (Roman Sznydel) in den Wald um die Siedlung Józefin zurück und hofften auf eine längere Erholungspause. Schneü aber zeigte sich, daß die ganze Gegend von deutschen Truppen eingeschlossen war. Die Bedrohung machte es notwendig, so schneü wie möghch aus dem Kessel auszubrechen, doch herrschte diesbezüglich Uneinigkeit unter den Kommandanten. Aüein »Ryszard«, der Chef von »Wikkna«, sprach sich entschieden dafür aus, sich aus der Einkreisung zu befreien und schaffte das auch nach Einbruch der Nacht. Mit einer Katastrophe endete das Schicksal der in der feindlichen Umklammerung verbhebenen Verbände, als deutsche Truppen am 15. Juni 1944 zum massierten Angriff unter Einsatz von Panzern übergingen; nur wenige Soldaten der Verbände von »Zbik« und »Wük« konnten entkommen. In der dritten Juni-Dekade verlegten die Deutschen Verbände in die Wälder bei Zwierzyniec. Weü keine Chance bestand, den in der Puszcza Solska Kämpfenden zu Hufe zu kommen, traf »Ryszard« die Entscheidung, zum Stützpunkt in Rozdoly die dort Waffen mitzunehmen und in die Gemeinde zurückzukehren, gelagerten Kothce zu bringen. Aus Kampfverbänden, die im Wirkungsbereich von »Wikhna« operierten, formierte man drei Reserve-Züge35. Am Tag, bevor die Rote Armee in das Gebiet Zamosc einmarschierte, war eine starke und ziemhch gut ausgebüdete Infanteriekompanie aufgesteüt worden. Sie wurde in das Regiment der Heimatarmee OP-9 Zamosc eingegüedert, das unter dem Kommando von Major Stanislaw »Adam« Prus stand. Am 22. Juh 1944 zogen sich die deutschen Truppen unter dem Ansturm der Roten Armee aus den Gebieten um Zamosc zurück. Drei Tage später konzentrierte »Ryszard« seine Kompanie im Dorf Kazimieröwka36.
Kompanie
35
36
Ebd., S. Ebd., S.
191. 197.
Waldemar Bednarski
428
Der
sowjetische Einmarsch
Entsprechend den Grundsätzen des Planes »Burza« enttarnten sich die zivüen und militärischen Behörden der Heimatarmee und traten vor den Sowjets als die rechtmäßigen Hausherren des Gebietes auf. Den Standortdienst sollten die Verbände OP-9, darunter auch Partisanen aus der Kompanie in Kotkce, wahrnehmen. Unter dem Jubel der Bevölkerung marschierten die Soldaten von »Wikkna« in die
Kreisstadt ein, meldeten sich beim Landrat Antoni Wiçcek, der im Namen der Londoner Regierung agierte, und stekten sich ihm zur Verfügung. Sie erhielten den Auftrag, Schutz- und Ordnungsdienste in der Stadt wahrzunehmen. Ein aus der Kotheer Kompanie entsandter Zug nahm an den Feierkchkeiten zur Ehrung der Opfer des deutschen Völkermordes in der Rotunde von Zamosc teü37. Die Freude der Soldaten der Untergrundbewegung währte nur kurz. Am Tag nach den Feierkchkeiten entwaffneten die Sowjets die polnischen Verbände in Zamosc und lösten sie auf. Der NKVD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten), der nun faktisch die Macht in den »befreiten« Gebieten ausübte, nahm gemeinsam mit den Sicherheitsdiensten des Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung (PKWN) Massenverhaftungen unter den Soldaten der Heimatarmee vor. Viele von ihnen (vor akem Offiziere) wurden erschossen und Zehntausende in die UdSSR verschleppt38. Dies bittere Schicksal bkeb auch Soldaten von »Wikkna« aus Kotkce nicht erspart. Am 31. Oktober 1945 verhaftete man Leutnant Józef Kaczoruk zusammen mit acht Untergebenen im Kreis Labunie39. Im Gefängnis Heß er sich von Vertretern der »Volksherrschaft« überzeugen und erteilte den Befehl zur Enttarnung. Viele Soldaten des Verbandes »Wiklina« verkeßen daraufhin die Untergrundbewegung, doch ein Teü von ihnen kehrte aus Angst vor Verhaftung und Deportation erneut zur konspkativen Tätigkeit zurück: in die Reihen der neuen Organisation unter der Bezeichnung »Widerstandsbewegung ohne Krieg und Diversion-Freiheit und Unabhängigkeit« (Ruch Oporu Bez Wojny i DywersjWolnosc i Niezawislosc, WiN)40. Artilleriebastion, in Kreisform gebaut, projektiert und errichtet 1831 durch Oberst Ignacy Pradzyriski; während der Okkupation Gefängnis und Hinrichtungsstätte vieler Tausender polnischer Patrioten. Kämpfer der Heimatarmee aus dem Kreis Tomaszów wurden in der Mehrzahl in den Lagerkomplex Nr. 270 in Borovici (bei Novgorod) gebracht, vgl. Zwiazek Walki Zbrojnej Armia Krajowa w Obwodzie Tomaszów Lubelski, hrsg. von Ireneusz Caban, Lublin 1997, S. 360. Im Lager in Jogla befanden sich die Kämpfer der Heimatarmee gemeinsam mit deutschen und japanischen Kriegsgefangenen und verrichteten dort Sklavenarbeit fast ohne Verpflegung, vgl. die Erinnerungen des Soldaten der Heimatarmee Antoni »Korczak« Leszczyiiski, der 1944-1946 in Jogla inhaftiert war. Rotunde:
Privatarchiv des Autors. Rafal Wnuk, Konspiracja akowska i poakowska na Zamojszczyznie od lipea 1945 do 1956 roku, Zamosc 1993, S. 79. Diese Organisation stützte sich auf Organisationsstrukturen der Heimatarmee und der Streitkräfteführung. In ihren programmatischen Leitlinien sah sie in demokratischen Parlamentswahlen den einzigen Weg zum Aufbau einer gerechten Ordnung in Polen, vgl. Maciej Roman Bombicki, AK i WIN przed sa_dami speejalnymi, Poznan 1993, S. 20; Informator o nielegalnych antypañstwowych organizaejach i bandach zbrojnych dziaiajacych w Polsce Ludowej w latach 1944-1956, Lubknl993,S. 65.
Das Gesicht des
Krieges in der Gemeinde Kotlice
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Repressahen der kommunistischen Machthaber trafen jedoch nicht nur ehemahge Soldaten der nationalen Untergrundbewegung, sondern auch diejenigen Dörfer, die die Rekrutierungsbasis für die Kompanie »Wikkna« gebüdet hatten. Darunter litt vor aüem Kotkce. Man verlegte das Gemeindeamt nach Niewkków; Die
die Gemeinde wurde nicht elektrifiziert, bheb ohne feste Straße und neue Schule. Noch in den sechziger Jahren sah Kothce aus wie vor dem Krieg und hatte damit neben den hier geschilderten katastrophalen Zerstörungen auch noch die »Bestrafung« durch das neue Regime zu ertragen. —
* * *
Waldemar Bednarski, Dr.
Übersetzung Strausberg.
aus
phil., geb. 1932, ul. Polna 31 m 51, 24-100 Pulawy.
dem Polnischen
von
Sabine
Hahn, Wehrbereichsverwaltung Ost,
Lars Jockheck
»Terroristen« »Agenten« »Opfer«. Der polnische Widerstand und die Heimatarmee in der Presse-Propaganda des »Generalgouvernements« »Banditen«
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Das Polen-Bild der nationalsozialistischen Propaganda war mehrfach Kehrtwenden taktischen Kalküls unterworfen. Im Kampf um die Macht hatte es sich für die NSDAP zunächst als nützhch erwiesen, die Haß-Klischees, wie sie im deutschpolnischen »Propaganda-Krieg« seit 1919 aus fast aüen politischen Lagern der Weimarer Repubhk verbreitet worden waren, durch verbale Radikalität und rassistische Untertöne noch zu übertrumpfen1. Seit Ende 1933 jedoch hatte sich im Zeichen der Annäherung zwischen den Regimen in Berhn und Warschau der von
den Nationalsozialisten stetig ausgebaute staathche und parteieigene PropagandaApparat in einer breit angelegten, wenn auch nicht friktions freien Kampagne um eine Aufhellung des Polen-Bildes in den deutschen Medien bemüht2. Im folgenden soü in zwölf Abschnitten versucht werden, einen speziellen Aspekt dieses unsteten Polen-Bildes zu analysieren, nämhch die Darstellung des polnischen Widerstands und der Heimatarmee in der Presse-Propaganda des sogenannten Generalgouvernements (GG), des größten, nicht unmittelbar annektierten Teüs der im September 1939 unter Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilten Zweiten Polnischen Repubhk. Dabei wkd zuerst auf jene Elemente des Polen-Büds der Zwischenkriegszeit einzugehen sein, an die im Sommer 1939 angeknüpft wurde, um dann die Propaganda der ersten Kriegswochen, die aügemeinen Ziele und Mittel der Propaganda-Politik im GG und die Darsteüung von Widerstand und Resistenz der polnischen Bevölkerung in den Jahren 1940 bis 1942 Siehe Peter
Fischer, Die deutsche Publizistik als Faktor der deutsch-polnischen Beziehungen 1919-1939, Wiesbaden 1991; die Arbeit hat ihren Schwerpunkt in der Zeit der Weimarer Republik. Zu den Funktionen des wechselseitigen Propagandakampfes vgl. Karol Fiedor, Janusz Sobczak und Wojciech Wrzesiriski, Obraz Polaka w Niemczech i Niemca w Polsce w latach miedzywojennych i jego rola w kszaltowaniu stosunków miedzyparistwowych, in: Sobótka, 33 (1978), S. 163-189. Die Breite der
Kampagne
zugunsten
Polens, befördert durch
eine im Februar 1934 in Berlin
ausgehandelte deutsch-polnische »Vereinbarung zur Bildung der öffentlichen Meinung«, wird nachgezeichnet bei Carsten Roschke, Der umworbene »Urfeind«. Polen in der nationalsozialistischen Propaganda 1934-1939, Marburg 2000. Zum spannungsreichen und unvollkommenen Nachvollzug der neuen Polenpolitik in der NS-Parteipresse vgl. Lars Jockheck, Der »Völkische Beobachter« über Polen 1932-1934. Eine Fallstudie zum Übergang vom »Kampfblatt« zur »Regierungszeitung«, Hamburg 1999.
Lars Jockheck
432
Darstellung des Warschauer Aufstands in einer Extra-Beilage zur Auslandszeitschrift der Wehrmacht »Signal« vom September 1944 (Ausschnitt) © VG Bild-Kunst, Bonn 2003
behandeln. Die drei folgenden Abschnitte stellen die Reaktionen der Propaganda auf die verstärkten Aktivitäten des polnischen Untergrunds seit 1942 dar. 1944 erreichten die Aktionen des Untergrunds und der Heimatarmee ihren Kulminationspunkt, und die Propaganda antwortete mit einer zu
großangelegten Kampagne,
die in zwei weiteren Abschnitten behandelt wkd. Abschließend soll versucht werden, die wesentkchen Tendenzen der Propaganda des deutschen Besatzungsim GG über den Widerstand zusammenzufassen und kurz auf regimes polnischen die schwierige Frage der Wkkungen dieser Propaganda einzugehen. Das weitgehend negative Polen-Bild der deutschen Öffentlichkeit in der Zeit zwischen den Weltkriegen war wesentlich geprägt von den teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen um die deutsch-polnische Grenze während der ersten Nachkriegsjahre. Anknüpfend an das alte Kkschee vom anarchischen polnischen »Hasardeur« war der in »Banden« organisierte »Insurgent« seit den Tagen der schlesischen Aufstände (1919-1921) fester Bestandteil eines ganzen Bündels abwertender kollektiver Bilder über Polen, aus dem sich nahezu die gesamte öffentliche Meinung in Deutschland bis 1933 immer wieder bedient hatte. In der zeitgenössischen Karikatur findet sich dieses Zerrbild des Polen besonders einprägsam gezeichnet: Nachlässig uniformiert oder in »Räuberzivk«, struppig und oft bettunken wütet hier der »wilde Hasardeur«, der »brutale Insurgent« oder der »mörderische Bandit« gegen »friedliche Deutsche«3.
I
grundlegend: Tomasz Szarota, Polak w karikaturze niemieckiej 1914-1944. Przyczynek do stereotypów narodowych, in: ders., Niemcy i Polacy. Wzajemne postrzeganie i stereotypy, Warszawa 1996, S. 101 -137, hier bes. S. 113; für Beispiele aus der NS-Parteipresse vgl. Jockheck, Beobachter (wie Anm. 2), S. 64, 67 und 70. Zur Abbildung: Hans Liska, So fing es an, in: Signal Extra. Das Vorspiel zum dritten Weltkrieg, S. [3]; wiederabgedruckt in: Signal 1944/45. Eine kommentierte Auswahl abgeschlossener, völlig unveränderter Beiträge aus der PropagandaZeitschrift der Deutschen Wehrmacht, Bd 5, Hamburg 1977, S. 91. Bei Eugeniusz Cezary Król, Dazu
badán
-
»Agenten« »Opfer«
»Terroristen«
»Banditen« -
-
433
-
Dieses Bild gewalttätiger polnischer »Banden« überstand unbeschadet auch die Zeit des propagandistischen Werbens um Polen von Ende 1933 bis zum Frühjahr 1939, da es nach offiziellem Eingeständnis »aus dem deutschen Sprachgebrauch nicht auszumerzen sei«4 und darin waren sich neue nationalsozialistische und alte konservative Ekten einig im Interesse des »deutschen Ostens« auch gar nicht verschwinden sollte. Als im Frühjahr 1939 das taktische Werben um Polen als »Juniorpartner« für die Kriegspläne im Osten endgültig scheiterte5, fiel es der deutschen Propaganda deshalb nicht schwer, ihre kurzfristig vorbereitete, erst im August 1939 mit voller Gewalt durchgeführte »große pubkzistische Aktion gegen Polen«6 nahtlos an das Bild deutschfeindkcher polnischer »Banden« anknüpfen zu lassen. Zur Einstimmung auf den Krieg brauchte nur das aus den deutsch-polnischen Auseinandersetzungen vor 1933 überkommene Propaganda-Arsenal reaktiviert zu werden. Besonders deutkch wird dies an den im Mai 1939 anlaufenden Wiederauflagen jener antipolnischen Literatur, deren Restexemplare mit Rücksicht auf das Werben um Polen 1934 eingestampft worden waren. So erlebte allein Friedrich Wühelm v. Oertzens »Das ist Polen« im Sommer 1939 drei Neuauflagen. In der Erstauflage 1932 war wie in den Neuausgaben von polnischen »Aufständischen« in Ostoberschlesien als von »hungrigen, bösartigen Ratten« zu lesen, die immer wieder in »Banden« die friedkche deutsche Minderheit terrorisierten7. Bekanntlich waren es schheßlich in den Abendstunden des 31. August 1939 auf deut—
—
Propaganda i indoktrynacja narodowego socjalizmu w Niemczech 1939-1945, Warszawa 1999, S. 638, wird die zugehörige deutschsprachige »Signal«-Ausgabe, deren Einlage »Signal Extra« der Verfasser im Original nicht auffinden konnte, auf den 15.9.1944 datiert. Am 1.10.1944 begründete die Hauptabteilung für Propaganda in der Regierung des Generalgouvernements (HAP), Hein Schlecht, in einem Fernschreiben an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP), Abt. Propaganda], Oberregierungsrat Schäffer, daß die Einlage der ersten »Signal«-Ausgabe in polnischer Sprache habe beschlagnahmt werden müssen, »da sie das Warschauer Thema in zur Zeit nicht zulässiger Form behandelte«, Bundesarchiv Berlin (BArch), R 55, 1206, -
Bl. 310. So reagierte die deutsche Seite auf eine polnische Beschwerde über die Wortwahl deutscher Publikationen während der Konsultationen vom 17.-19.6.1936 über die Weiterentwicklung der »Vereinbarung zur Bildung der öffentlichen Meinung« (siehe Anm. 2); siehe das deutsche Protokoll, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PA), Deutsche Gesandtschaft/Botschaft in Warschau, P III 4 k, Bd 1. Zum grundlegenden taktischen Kalkül der Polenpolitik Hitlers bis zum Frühjahr 1939 siehe Günther Wollstein, Hiders gescheitertes Projekt einer Juniorpartnerschaft Polens, in: Universitas, 38(1983), S. 525-532. Die Kampagne war als solche auf der Pressekonferenz des RMVP erstmals in Anweisung Nr. 1281 vom 3.5.1939 angekündigt worden, NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation, Bd 7: 1939, Teilbd 2: Quellentexte Mai bis August, hrsg. von Hans Bohrmann und Gabriele Toepser-Ziegert, bearb. von Karen Peter, München |u.a.j 2001, S. 411. Zur propagandistischen Einstimmung auf den Angriff gegen Polen allgemein siehe Jutta Sywottek, Mobilmachung für den totalen Krieg. Die propagandistische Vorbereitung der deutschen Bevölkerung auf den Zweiten Weltkrieg, Opladen 1976, bes. S. 209-237, sowie Fischer, Pubkzistik (wie Anm. 1), S. 214-219. Siehe Fischer, Publizistik (wie Anm. 1), S. 216. Die Zitate aus FJriedrich] W[ilhelm] von Oertzen, Das ist Polen, 1.-3. Aufl. (1.-15. Tsd.), München 1932, S. 209, finden sich in der 4.-6. Aufl. (16.-40. Tsd.), München 1939, auf S. 196 f. Dieses Buch spielte auch in der Propaganda im »Generalgouvernement« eine Rolle, siehe Anm. 43.
Lars Jockheck
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schem Gebiet inszenierte Scheinüberfalle solch vorgebhcher »Banden schlesischpolnischer Insurgenten«8, die den von Hitler selbst angekündigten letzten »propagandistischen Anlaß zur Auslösung des Krieges« lieferten9. Die Propaganda der ersten Kriegswochen
Diese Linie
Kämpfe in Polen fort, indem die militärische durch welche die deutschen Soldaten zogen, Dörfern, polnischen
setzte
Propaganda als »Festungen
vor
sich während der
der Franktireures [!]« warnte oder Mißhandlungen deutscher Soldaten und der deutschen Minderheit sowie die fortwährende Gefahr durch »polnische Banden« in den düstersten barben schilderte1". Daneben gab es nur wenig neue Motive, die erst in der Folgezeit deuthcher hervortreten soüten: nämhch die angebhche Mitschuld Englands am »Aufputschen« der polnischen Zivilbevölkerung; auf England konzentrierte sich schheßhch auch die deutsche Kriegspropaganda nach der abzusehenden Niederlage Polens; des weiteren die Behauptung, die »Franktireurbanden« kämpften nicht allein gegen die Deutschen, sondern »plünderten auch rücksichtslos das eigene Land und schonten selbst das Leben ihrer polnischen Volksgenossen nicht«11. Mit dem Bild der Friedensfeinde und Verbrecher rechtfertigte die deutsche Propaganda auch vor den Polen das brutale Vorgehen gegen Zivihsten: Zwar sei es eine Aufgabe der deutschen Soldaten, »neue Brücken der Verständigung zwischen Polen und Deutschen« zu bauen, doch müßten erst »die Fanatiker, Hetzer, banalisierten und der Abschaum ausgerottet werden«12. Die bereits von deutschen Propaganda-Fachleuten gelenkte polnischsprachige Presse legte ihren Lesern mit einem Ausbhck auf drohende Gegenmaßnahmen des deutschen Regimes einerseits, 8
9
lu
Überfallen siehe Alfred Spieß und Heiner Lichtenstein, Das Unternehmen Tannenberg, Wiesbaden, München 1979, bes. S. 23-31 und 59-65 zu den Bemühungen, die Überfalle wie Angriffe polnischer »Insurgenten« aussehen zu lassen. Zweite Ansprache Hitlers vor den Höheren Befehlshabern der Wehrmacht am 22.8.1939, Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945 (ADAP), Serie D, Bd VII, Dok. 193, S. 172; zur Umsetzung in der NS-Propaganda siehe Jürgen Runzheimer, Der Überfall auf den Sender Gleiwitz im Jahre 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VjZ), 10 (1962), S. 408-426, hier Zu diesen
S. 408 f. Polnische Dörfer an unseren Vormarschstrassen, in: Soldaten-Zeitung, Krakauer Ausgabe (SZ), Nr. 23, 20.9.1939, S. 4; Drei Wochen in polnischer Kriegsgefangenschaft, in: SZ, Nr. 35, 3.10.1939, S. 2. Diese Zeitung war ein Produkt der im Krieg gegen Polen erstmals eingesetzten Propaganda-Kompanien (PK) der Wehrmacht, die in Zusammenarbeit mit dem RMVP im Win-
1938/39 konzipiert worden waren. Englands Schuld, in: SZ, Nr. 38, 5.10.1939, S. 2; Die Feldgendarmen hatten harte Arbeit, ebd. Zadania zolnierza niemieckiego [Die Aufgaben des deutschen Soldaten], in: Ilustrowany Kuryer ter
11 12
Codzienny,
Krakow (IKC), Nr. 246, 14.9.1939, S. 2; in diesem Artikel wird eine Ausgabe der SZ zitiert, die der Verfasser nicht auffinden konnte. Hier wie im folgenden stammen aile Überset-
aus dem polnischen Original vom Verfasser. Zu deutschen Verbrechen an Zivilisten im September und Oktober 1939, die auch unter dem Vorwand von »Bandenkämpfen« gerechtfertigt wurden, siehe Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981,
zungen
S. 42-62.
»Banditen«
»Agenten« »Opfer«
»Terroristen« —
—
435
-
aber andererseits auch auf soziale Befriedung nahe, jeghchen Widerstand gegen die Besatzer aufzugeben: »Einen Dauerzustand des Kampfes und des Bürgerkrieges aufrechterhalten? Auf diese Weise dienen wir dem polnischen Volk sicherhch nicht. Das würde Unruhe, Unsicherheit in Permanenz bedeuten. Es gäbe weder Arbeit noch Brot. Nur verbrecherische Elemente zögen aus solch einer Lage Vorteile. Erfolge gegen die Deutschen heßen sich so nicht erreichen. Im Gegenteil, die deutschen mihtärischen und Polizeibehörden zwänge dies notwendigerweise zu Repressionen. Das Volk verlangt und braucht zuallererst ruhige, geregelte Verhältnisse, die ihm die Möglichkeit zur Rückkehr zu seinen Arbeitsplätzen und zum ruhigen Verdienen seines täglichen Brotes geben würden [...] Der polnische Bauer, der Arbeiter oder Handwerker kennt keinen nationalistischen Größenwahn13.« Die Doppelsttategie der deutschen Propaganda seit den ersten Kriegstagen wkd bereits anhand dieser wenigen Zitate deuthch: Einerseits sollten die deutschen Besatzer von engeren Kontakten zur angebhch gefährlichen polnischen Zivilbevölkerung abgehalten werden. Gleichzeitig aber wurde ihnen zur Beruhigung des Gewissens nahegelegt, ihr hartes Vorgehen gegen sogenannte Banditen diene nicht nur der eigenen Sicherheit, sondern überhaupt der Befriedung des Landes, was letztlich auch den Polen nutze. Andererseits erging an die Polen die Warnung, keinen Widerstand gegen die deutsche Besatzung zu leisten. Indem dabei besonders die Bauern, Arbeiter und Handwerker als im Grunde friedhebend angesprochen wurden, suggerierte man im Umkehrschluß, nur die früheren Ehten Polens hätten ein Interesse an fortgesetztem Widerstand gegen die Deutschen. Tatsächlich gab sowohl die an Deutsche wie die an Polen gerichtete Propaganda der »völlig unfähigen und verantwortungslosen polnischen Staats führung«14, den »Hasardeuren und Deserteuren«15, die Schuld an den mihtärischen und zivilen Opfern im Krieg. Sie habe aus dem Land eine »Märtyrer-Fabrik« machen wollen16. Die Polen wurden gewarnt, den aus dem Exü fortgesetzten Widerstands-Appellen ihrer Regierung zu folgen. Es lohne sich nicht, eine Generation zu opfern, um wiederzuerlangen, was im Krieg verloren worden sei, denn die deutsche Macht werde nicht noch einmal wie 1918/19 zusammenbrechen: »schlecht ist eine Politik, die glaubt, man müsse einen schlechten Zustand bekämpfen, obschon es infolge des Kampfes noch schlechter werden kann. Für die Herren Raczyhski und Sikorski in Paris ist gut >Krieg führenBanditen< bezeichnet werden, ahnt zumindest die unglaubhche Verworfenheit dieser Untermenschen eines gewesenen Staates, der dieser Landplage nie Herr zu werden mochte69.« In der polnischsprachigen Presse wurden die »Banden« grundsätzhch im gleichen Sinne behandelt wie in der deutschsprachigen Propaganda; allerdings wurde das Thema stärker bagatelhsiert. Auch hier heßen die Berichte nur ausnahmsweise erkennen, daß nicht alle »Banden« kriminelle Absichten verfolgten7". Daneben gab es jedoch charakteristische Unterschiede zu den Berichten in der deutschsprachigen Presse. Vor allem wurde häufiger, aber meist nur knapp berichtet, zumal über getötete oder exekutierte »Banditen«, was offenbar abschrecken sollte. Auffällig häufig auch wurden bis in den Sommer 1942 Juden als Opfer von Überfällen pol-
nischer »Banden« erwähnt und dabei teüs detailliert die Beute in Form hoher Geldbeträge und erhebhcher Sachwerte beschrieben, was implizit Juden als »Kriegsgewinnler« denunzierte und damit Teil jener bereits erwähnten Strategie der 66
67
Alfred Finke, F'inke war als
zuständig. [Alfred F'inke], S. 5
68
Einzug deutscher Ordnung auch in Stanislau, in: KrZ, Nr. 194, 20.8.1941, S. 5. gelernter Journalist und Reserveoffizier der Polizei für deren Pressearbeit im GG
f., hier S.
5.
Banditennester
bei 30 Grad
ausgehoben
unter
70
in:
KrZ, Nr. 33, 8.2.1942,
Bgm. |Günther Bergemann], Flüchtlinge, Banden, Juden so fing es an, in: KrZ, Nr. 254, 26.10.1940, Beilage »Das erste Arbeitsjahr im Generalgouvernement«, S. 18. Polizei auf Banditenjagd, in: KrZ, Nr. 260, 4.11.1941, S. 5. »Bandyci zrabowali przeszlo 40 000 zlotych« [Banditen raubten mehr als 40 000 Zloty|, in: GK, Nr. 22, 28.1.1942, S. 3. Dieser Artikel z.B. erwähnte das ungewöhnliche Detail, die »Banditen« hätten eine mit »Jçdrus« gezeichnete »Quittung« hinterlassen. »Jçdrus« war das Pseudonym von Wladyslaw Jasiriski, der die 1943 in die AK integrierte Gruppe »Odwet« (Vergeltung) geführt hatte. Das davon abgeleitete Wort »Jcdrusie« bezeichnete auch allgemein Soldaten des polnischen Untergrunds, vgl. Andrzej Krzvsztof Kunert, Ilustrowany przewodnik po Polsce Podziemnej -
69
Null,
-
1939-1945, Warszawa 1996, S. 492 und 539.
Lars Jockheck
448
»Zersetzungspropaganda«
war, die verhindern
sollte, daß sich im GG eine ge-
schlossene Front gegen die Besatzer hätte bilden können71. Deutscher Terror und Deutsche
polnischer Gegen-»Terror«
Opfer der »Banden« wurden im Laufe dieser Kampagne nur zu Beginn
erwähnt, ebenso alle Strafmaßnahmen, die über den Kreis der
an den Taten unmittelbar Beteiligten hinausgingen. Die Gründe für diese Beschränkungen liegen auf der Hand: Fielen Reichsbürger oder mit den deutschen Besatzern kollaborierende »Volksdeutsche« einem Verbrechen zum Opfer, so konnte das leicht als eine politische Aktion begriffen werden, gerade wenn die Presse die Tat stark herausstellte. Die Befürchtungen auf deutscher Seite gingen dahin, daß eine solche Berichterstattung die Polen in ihrem Widerstandswillen hätte bestärken können weshalb solchen Taten in der Regel massenhafte Exekutionen auf dem Fuß folgten72. Über diesen Massenterror freilich durfte mit Rücksicht auf das Bkd der deutschen Besatzungsherrschaft im neutralen und feindlichen Ausland schon seit Ende 1939 in der Presse des GG grundsätzlich nicht mehr berichtet werden. Derartige Meldungen hätten schwarz auf weiß beweisen können, welches Terror-Regime die deutschen Besatzer in Polen errichtet hatten73. Deshalb wurde der Versand der Presse aus dem GG ins Ausland im übrigen auch später restriktiv gehandhabt74. —
71
72
Im Sinne dieser Strategie müsse die Propaganda im GG »gleichzeitig anti- und projüdisch sein, solange es noch Juden im Generalgouvernement gibt«, habe dabei aber alles zu unterlassen, was »gemeinschaftsbildend« wirken könne, so Prel, Vorwort (wie Anm. 25), S. VIII. Vgl. z.B. Jedenascie wyroków smierci w Rzeszowie [Elf Todesurteile in Rzeszów], in: GK, Nr. 258, 6.11.1940, S. 4; Zaszyte w butach 4500 zlotych zrabowali bandyci [In Schuhen versteckte 4500 Zloty raubten Banditen], in: GK Nr. 110, 13.5.1942, S. 3. Für den hier umrissenen Zeitraum ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen, die vielfach zeigen, wie Kriminelle sich die faktische Rechtlosigkeit der Juden gegenüber den Behörden des GG zunutze machten, vgl. z.B. Bezczelnosc bandytów nie zna granic |Die Frechheit der Banditen kennt keine Grenzen], in: GK, Nr. 233, 5.10.1940, S. 5; Bandyci przebrani za policjantów |Banditen als Polizisten verkleidet|, in: GK, Nr. 148, 28.6.1942, S. 3. Siehe PA, R 60691, Anlage zum Schreiben von Regierungsrat Dr. Schiedermayer (Reichsministerium des Innern) an Gesandtschaftsrat von Scheliha (Auswärtiges Amt, AA) vom 5.3.1940 mit entsprechenden Befürchtungen u.a. in bezug auf die Meldung »Mord an einem Volksdeutschen Bürgermeister«, in: KrZ, Nr. 48, 27.2.1940, S. 2. Für die Tat waren in dem Artikel wie üblich »polnische Banditen« verantwortlich gemacht worden; »mehrere der Tat dringend verdächtige Gestalten« seien festgenommen worden. Von insgesamt 600 Inhaftierten wurden 190 am 26.2.1940 erschossen, siehe Andrzej Krzysztof Kunert, Rzeczpospolita Walczaca. Styczeri grudzieri 1940. Kalendarium, Warszawa 1997, S. 102. Siehe BArch, R 58, RSHA, 1021, Bl. 61 f.: Die Behörden des GG selbst hatten über das RSHA für die Beschlagnahme der KrZ, Nr. 17, 1.12.1940 im Reich gesorgt, da der Artikel »Polnischer Polizist von Juden ermordet« (S. 1) über die erste Massenexekution in Warschau berichtet hatte. 53 Menschen mußten sterben, weil in ihrem Haus ein Verbrecher einen Polizisten getötet hatte; vgl. Andrzej Krzysztof Kunert, Rzeczpospolita Walczaca. Wrzesieri grudzieri 1939. Kalendarium, Warszawa 1993, S. 179. Siehe BArch, R 58, 1021, Bl. 56-58: Noch im Oktober 1942 versuchte das RSHA, die Lieferung der KrZ an einen Interessenten in Schweden wegen dessen möglicher »politischer Unzuverlässigkeit« zu verhindern. -
73
-
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»Agenten« »Opfer«
»Terroristen«
»Banditen«
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Die abschreckende Wirkung, die Exekutionen oder ihre Androhung erzielen sollten, versuchten die Besatzungsbehörden fast nur noch über Plakate zu erreichen, die im Vergleich zu Zeitungsartikeln viel schwerer zu dokumentieren waren75. Von dem Prinzip, weder Morde an Deutschen noch die folgenden Hinrichtungen in der Presse-Propaganda zu thematisieren, wurden nur äußerst selten Ausnahmen gemacht. Das war der Fak, als am 7. März 1941 eines der ersten von einem im Warschauer Untergrund tätigen ZWZ-»Kriegssondergericht« ausgesprochenen Todes-
urteile an dem »Volksdeutschen« Schauspieler und Theaterleiter Igo Sym vollstreckt worden war. Die Zeitungen im GG verbreiteten daraufhin eine Drohung der deutschen Behörden, die »in größerer Zahl« genommenen Geiseln zu erschießen, falls die Polen nicht binnen dreier Tage die Namen der Täter offenbarten76. Nach Ablauf der Frist wurden die Drohungen in allgemeiner Form wiederholt: »Die in diesem Zusammenhang zitierten Organe weisen darauf hin, daß die deutschen Behörden scharfe Maßnahmen für nötig erkannt haben, die im Falle der Wiederholung ähnkcher Verbrechen noch weiter verschärft werden. Wer einen Deutschen tötet wurde uns erklärt tötet zugleich eigene Landsleute77.« Allerdings fanden sich diese Drohungen allein in der polnischsprachigen Presse, während die auch im Reich verbreitete »Krakauer Zeitung« über den Vorfall nur sehr zurückhaltend berichtete78. So wurde die terroristische Antwort der deutschen Besatzer auf die Tat nur jenen öffentkch bekannt gemacht, an die sie gerichtet war: den Polen im GG; und so konnten die Nerven der Deutschen im GG wie die ihrer Angehörigen im Reich geschont werden, indem all das eine mögkchst diskrete Behandlung erfuhr, was auf die für Leib und Leben der Besatzer und ihrer Kollaborateure immer gefährkcher werdenden Verhältnisse hinwies. Eine weitere Ausnahme wurde gemacht, als im Oktober 1943 in einer einmakgen Aktion Listen wegen »illegaler Tätigkeit« zum Tode Verurtekter in der polnischsprachigen Presse des GG erschienen. Dazu erging die Mittekung, die ersten der genannten Personen seien bereits hingerichtet worden, die folgenden Verurteilten dagegen zur Begnadigung vorgesehen. Für jeden weiteren Gewaltakt gegen Deutsche werde jedoch bei einer bestimmten Anzahl dieser Verurteilten vom Gnadenakt abgesehen. Darum hege es für die »nichtdeutsche Bevölkerung im eigenen Interesse«, durch »entsprechendes Einwirken auf irregeleitete Individuen —
75
76
77
—
Siehe Stanislaw Dabrowa-Kostka, Hiderowskie afisze smierci, Krakow 1983, bes. S. 19. Die Dokumentation konzentriert sich auf Plakate zu den öffentlichen Exekutionen im »Distrikt Krakau« ab Oktober 1943, bildet aber auch zahlreiche weitere Plakate ab, vgl. z.B. das früheste Beispiel vom 20.9.1939 für eine nach Tötung eines Reichsbürgers in Krakau angedrohte Geiselerschießung, ebd., S. 59. Igo Sym zamordowany [Igo Sym ermordet|, in: GK Nr. 57, 9.3.1941, S. 4; zur Tötung Syms vgl. Prawdziwa historia Polaków. Ilustrowany wypisy zródlowe 1939-1945, Bd 1: 1939-1942, bearb. von Dariusz Baliszewski und Andrzej Krzysztof Kunert, Warszawa 1999, S. 314 f. Jak zginal Igo Sym? [Wie kam Igo Sym um?), in: GK Nr. 59, 12.3.1941, S. 4. Hervorhebung im Original. Bemerkenswert ist, wie sich die Redaktion in den Formulierungen vom Inhalt des Artikels distanzierte. Die durch Aktionen wie die Tötung Syms beabsichtigte Einschüchterung von Kollaborateuren funktionierte also. Siehe Gff. [Robert Greift], Igo Sym beigesetzt, in: KrZ, Nr. 59, 14.3.1941, S. 5. —
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Lars Jockheck
450
oder durch Meldung verdächtiger Personen« weitere Anschläge zu verhindern79. Im Oktober 1943 war die »Verordnung zur Bekämpfung von Angriffen gegen das deutsche Aufbauwerk im Generalgouvernement« in Kraft getreten, mit der durch öffenthch angekündigte und an öffenthchen Orten vollzogene Exekutionen »angesichts der überhandnehmenden Frechheit der Polen strenge Exempel statuiert« werden sollten. Damit kam Generalgouverneur Frank Forderungen der Polizeiund SS-Führung nach, die verlangt hatte, ihr Vorgehen gegen immer mehr um sich greifende »Bandenüberfälle« müsse jetzt auch »propagandistisch untermauert« werden8". In der Folgezeit geschah dies allerdings nicht mehr über die Presse, sondern nur noch mittels Plakaten und Durchsagen über den in den größeren Städten eingesetzten Lautsprecher-Rundfunk81. Es bheb damit bei den beiden hier skizzierten Ausnahmefällen, in denen die Propaganda im GG zum äußersten Mittel griff und die terroristischen deutschen Herrschaftsmethoden über die polnischsprachige Presse im GG in einschüchternder Absicht publik machte. Zwischen den beiden hier skizzierten bähen lag ein Zeitraum von mehr als zwei Jahren, in denen die verschiedenen Gruppierungen im polnischen Untergrund ihre Aktionen unter anderem mit Anschlägen auf Deutsche und Kollaborateure nach und nach soweit forciert hatten, daß die Machthaber im GG sich vor ernste Problemen gestellt sahen. Die Angst um Leib und Leben zehrte zusehends an den Nerven der Besatzer, während gleichzeitig im polnischen Untergrund der Widerstandswille wuchs82. Verschwunden war das Hochgefühl vom Herbst 1941, in dem die beiden führenden deutschen Bürokraten im GG, Generalgouverneur Frank und sein Staatssekretär Josef Bühler, vollmundig verkündet hatten, die Pohzei habe so erfolgreich »den böswilligen Elementen unter der polnischen Bevölkerung« begegnen und »jeghche Sabotage der kriegswichtigen Operationen« verhindern können83, daß »das Generalgouvernement mitten im Kriege ein wkkkch befriedetes Gebiet« geworden sei84.
Wyroki smierci za zamachy na dzielo odbudowy [Todesurteile für Anschläge auf das Aufbauwerk], in: GK Nr. 255, 31.10.1943, S. 3. Auch hier distanzierte sich die Redaktion vom Text, den sie als Mitteilung des »Führers der SS und Polizei im Distrikt« in Anführungszeichen setzte, vgl. Anm. 77.
Frank, Diensttagebuch (wie Anm. 21), S. 734, Eintrag vom 27.9.1943 über eine Besprechung zur »Sicherheitslage« mit Zitaten von F'rank und SS-Oberführer Walter Bierkamp, Befehlshaber der Sicherheitspolizei im GG. Die entsprechenden Plakate dokumentiert für den »Distrikt Krakau« fast vollständig D^browaKostka, Afisze (wie Anm. 75). Siehe z.B. Ausführungen von Polizei-Befehlshaber Bierkamp auf der oben, Anm. 80, erwähnten Besprechung: »In erhöhtem Maße würden auch Überfälle auf Deutsche gemacht |...| Dadurch werde der Mut der Deutschen [...] stark herabgedrückt. Das habe wieder Rückwirkungen auf die Widerstandsbewegung und die Festigung der Stimmung bei den Polen.« Frank, Diensttagebuch
(wie Anm. 21), S. 734.
Josef Bühler, Zwei Jahre Generalgouvernement, in: KrZ, Nr. 251, 25.10.1941, S. 1 f., hier S. 1. Dr. Frank: Das Generalgouvernement als Schule neuen ostpolitischen Denkens, in: KrZ, Nr. 253, 27.10.1941, S. 1 f., hier S. 2; vgl. den Leitartikel »Druga rocznica zalozenia Generalnego Gubernatorstwa |Zweiter Jahrestag der Gründung des Generalgouvernements]«, in: GK, Nr. 252, 26.10.1941, S. 1, in dem es etwas vorsichtiger hieß, es habe sich eine »Stabilisierung der Verhältnisse im Generalgouvernement auf allen Gebieten vollzogen«.
»Banditen«
»Agenten« »Opfer«
»Terroristen« —
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An dieser Illusion wurde ohnehin nicht lange festgehalten, denn von »weitgehend konsolidierten Verhältnissen« konnte im GG allenfalls im Vergleich mit den weiter östhch gelegenen »Reichskommissariaten« die Rede sein85. Daß »weiter draußen die Verhältnisse weit schlimmer« seien, war jedoch ein schwacher Trost86. Denn schon seit Frühjahr 1941 fanden sich in den Anzeigenspalten der »Krakauer Zeitung« immer öfter Nachrufe auf Deutsche, die durch »Mordbanden« ihr Leben »für die Zukunft des Großdeutschen Reichs« hatten lassen müssen87. Im Laufe der Zeit ghch sich der Inhalt dieser meist von amtlicher Seite veranlaßten Anzeigen immer mehr dem der Todesanzeigen für Frontsoldaten an. So hieß es im Dezember 1941 im Nachruf der »Generaldkektion der Ostbahn« für den bei »einem feigen Überfall einer polnischen Bande zum Opfer« gefallenen Reichsbahnbettiebswart Friedrich Müller: »Auch ergab sein Leben für Führer und Volk88.« Schließlich »fielen« in der Diktion dieser Anzeigen sogar Sachbearbeiter und Postbeamte »in treuer Pflichterfüllung im Dienste für Führer und Vaterland«89. Die weit mehr als hundert ähnhch lautenden Todesanzeigen in den Jahrgängen 1942 und 1943 der »Krakauer Zeitung« erfaßten allerdings nur einen Bruchteil der tatsächhchen Todesopfer unter den deutschen Besatzern und ihren »Volksdeutschen« Kollaborateuren9". Zudem enthielten sie seit Frühjahr 1942 keine weiteren Angaben mehr zu den Umständen, unter denen die Betroffenen zu Tode gekommen waren der Hinweis, sie seien »gefallen«, mußte genügen91. Angesichts der verheerenden psy—
Krüger, Die Schleuse des Ostens, in: KrZ, Nr. 5, 8.1.1942, S. 1 f., hier S. 2, über das GG im Vergleich zu den »Reichskommissariaten Ostland und Ukraine«. Von dort könne politisch motivierte »Sabotage« befürchtet werden, siehe Gerhard Haller, Neues Leben am einstigen Sowjet-
85
Ernst
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Josef Tobias, Das Generalgouvernement vom Dnjepr aus gesehen, in: KrZ, Nr. 253, 25.10.1942, S. 3 f., hier S. 3: »Da ist es schon geradezu friedlich meist im hiesigen Lebensraum, wenn man Vergleiche zieht.« Zitate aus der Todesanzeige der »Hauptabteilung Forsten in der Regierung des Generalgouvernements« für einen Revierförster, in: KrZ, Nr. 174, 27.7.1941, S. 19. Der Text der Anzeige zeigt, wie sehr die »Banden«-Terminologie inzwischen verinnerlicht worden war, denn der Förster war, so eine an gleicher Stelle veröffentlichte »Amtliche Bekanntmachung« der Polizei, wohl einem Einzeltäter zum Opfer gefallen. Nachruf, in: KrZ, Nr. 291, 10.12.1941, S. 8. Hervorhebung L.J. Daß die Anzeigen meist von amtlichen Stellen stammten, erklärt sich dadurch, daß nur wenige Reichsbürger Angehörige ins GG mitgenommen hatten. Siehe z.B. die Nachrufe auf den offenbar »Volksdeutschen« »Sachbearbeiter der Abteilung Wirtschaft beim Gouverneur des Distrikts Lublin [...] Johann Kolodziej«, in: KrZ, Nr. 302, 22.12.1942, S. 6, oder einen Oberpostsekretär (»fiel im Dienst für Fuhrer und Reich«), in: KrZ,
87
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91
Drahtzaun, in: KrZ, Nr. 42, 19.2.1942, S. 5.
Nr. 1,1.1.1943, S. 15. Frank sprach Ende 1943
zu Adam Graf Ronikier, dem Vorsitzenden der »Rada Glówna Opiekuricza« (Hauptfürsorgerat), vorwurfsvoll von »fast 1000 Deutschen« als Opfer der »nationalen bzw. kommunistischen Widerstandsbewegung«, siehe Frank, Diensttagebuch (wie Anm. 21), S. 743, Eintrag vom 23.10.1943. Selbst für hohe Beamte der Besatzungsverwaltung wurde keine Ausnahme gemacht: Dem »im Einsatz für Führer und Reich« »gefallenen« Regierungsdirektor Curt Hoffmann, Leiter der »Abteilung Arbeit im Amt des Distrikts Warschau«, wurde nur mit einer Todesanzeige der »Hauptabteilung Arbeit« gedacht, KrZ, Nr. 88, 11.4.1943, S. 15; über die Umstände der Todes gab es keinen Aufschluß. Hoffmann war von AK-Kämpfern am 9.4.1943 getötet worden, siehe Kunert, Przewodnik (wie Anm. 70), S. 197.
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chologischen Wkkungen eines um sich greifenden Gegen-»Terrors« von Seiten verschiedener Lager des polnischen Untergrunds92 wollte die Propagandaführung im GG die Nerven der Leser offenbar nicht noch durch Details belasten, sondern verwies relativierend auf das Sterben an der Front93. Nicht nur in den Todesanzeigen wurde die Sprache der Propaganda im GG seit 1942 kriegerischer. Generalgouverneur Frank hatte bereits zu Jahresbeginn für die Deutschen im GG seine »grundsätzliche Haltung dahin präzisiert, daß es in diesem Nebenlande des Reiches schlechterdings nur Kriegsdienst gebe«94. F'rank appellierte an die »soldatischen Tugenden« seiner Bürokraten, da sie im GG »auch an einer Front« stünden, gemeinsam mit Wehrmacht, Polizei und SS95. Im Frühjahr 1942 sollten durch die Schaffung von »SA-Wehrbereitschaften« nun auch die Reichsbürger im GG wenigstens in lockerer Form an eine paramilitärische Organisation gebunden werden96, während dies auf weit straffere Weise mit einem »Nachwuchs von Volksdeutschen Vorkämpfern« im kasernierten »Sonderdienst« zur Entlastung von Polizei und SS schon seit dem Frühjahr 1940 versucht worden war97. Ein Jahr später wurden dann auch die älteren Jahrgänge der »Volksdeutschen« zum »Wehrbereitschaftsdienst« erfaßt und bei »Bewährung« in spezielle SA-Einheiten aufgenommen, um sie in ein »Bollwerk des Deutschtums im Osten« einzufügen98. In »Propagandamärschen« zogen die so aufgefüllten Einheiten der Parteigarde nun von Zeit zu Zeit durch die Städte des GG, damit »der Bevölke—
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In Reaktion auf die Aktivitäten besonders der kommunistischen Widerstandsgruppen wollte die AK ab Sommer 1942 ihre Zurückhaltung den Deutschen im G G gegenüber aufgegeben, um die eigene »Kampfmoral« zu heben und »Moral und Kraft« des Gegners auf die Probe zu stellen, siehe die Depesche Nr. 528 des Führers der AK Stefan Rowecki, an den Oberbefehlshaber Sikorski vom 24.7.1942, zit. in: Prawdziwa historia Polaków (wie Anm. 76), Bd 1, S. 618. Seit Anfang 1943 war in Befehlen Roweckis von »Terror« als Mittel der »Vergeltung« gegen Besatzer und Kollaborateure die Rede, siehe z.B. seinen Befehl Nr. 252 vom 13.3.1943, ebd., Bd 2: 1943-1944, Warszawa 1999, S. 950-952, hier S. 950 f. Zur Wirkung solcher Aktionen aus Sicht der deutschen Polizei im GG siehe Anm. 82. Auch im Reich wurde vom RMVP schon seit Kriegsbeginn aus psychologischen Gründen in Zahl, Plazierung und Inhalt der Anzeigen für Gefallene eingegriffen, siehe Jürgen Hagemann, Die Presselenkung im Dritten Reich, Bonn 1970, S. 54 und 58 f. Ernst Krüger, Auf den Schanzen, in: KrZ, Nr. 13, 16.1.1942, S. 1 f., hier S. 1, unter Berufung auf F'rank. Dr. Frank: »Noch nie ist der Weichselraum so sachlich und gerecht regiert worden«, in: KrZ, Nr. 92, 19.4.1942, S. 1. Siehe Auszüge aus der Frank-Rede zur Gründung der »SA-Einheit Generalgouvernement«: Die SA als Vorbild im Generalgouvernement, in: KrZ, Nr. 93, 21.4.1942, S. 4; vgl. Ski. [Werner Sieredzki], Jeder deutsche Mann wird wehrbereit, in: KrZ, Nr. 106, 6.5.1942, S. 5: »Körperliche Ertüchtigung« und »Wehrbereitschaft« spielten beim monatlichen »Mindestdienst« von drei Terminen eine Nebenrolle; im Vordergrund stand vielmehr »politische Erziehung«, also Propaganda,: »Es wird damit jedem deutschen Mann klargemacht, warum er sich einzusetzen hat.« Ein Nachwuchs von Volksdeutschen Vorkämpfern, in: KrZ, Nr. 281, 27.11.1942, S. 5, mit Auszügen aus einer Rede Franks vor Rekruten eines »Ersatzbataillons des Sonderdienstes des Generalgouvernements«, die an 28 Gefallene der Einheit im »heldischen Ringen um die Sicherheit dieses Gebietes« erinnerte und mit dem Appell endete: »Bleibt Deutsche, werdet Soldaten!« Zur Entstehung des Sonderdienstes siehe Gerhard Eisenblätter, Grundlinien der Politik des Reiches gegenüber dem Generalgouvernement 1939-1945, Frankfurt a.M. 1969, S. 141 f. Volksdeutsche in Wehrbereitschaft, in: KrZ, Nr. 77, 30.3.1943, S. 5. -
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rung unmißverständkch vor Augen geführt wurde, daß die SA marschiert«99. Mit solch martiakschen Aktionen wollten die Besatzer den Polen, aber auch sich selbst beweisen1"", daß ihre »innere Kraft ungebrochen« sei: »Möge das fremde Volkstum um uns mit was für Parolen auch immer arbeiten, kein Deutscher fürchtet sich davor1"1.« Doch markige Sprüche konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß es selbst Generalgouverneur Frank als dem führenden Propagandisten der NSDAP im GG zunehmend schwerer fiel, die »Handvoll deutscher Männer und Frauen«, die über eine »Milkonenmasse fremden Volkstums« herrschen sollte, »immer wieder emporzureißen über jeden Opfertod«1"2. Angesichts einer um sich greifenden »Angstpsychose« genügte es nicht länger, in miktärischen Metaphern des »opferbereiten Einsatzes« der Deutschen als der »tapferen Soldaten dieses Raumes«, die gegen »Mord und Terror« weiter ihre »eroberte Stellung« hielten, zu gedenken1"3. Im Sommer 1943, auf der »Generalmitgliederversammlung« zum »Tag der NSDAP im GG«, sprach Frank das heikle Thema erstmals vor großer Öffentlichkeit vergleichsweise schonungslos an und gab zu, daß im GG »viele Deutsche der Verwaltung, des Staates, der Pokzei und der Partei unter den Anschlägen eines feindsekgen Untermenschentums gefallen« seien. Er versprach diesen »unseren inneren Frontopfern ein würdiges Gedenken«. Dabei hatte Frank seine Rede noch mit den übkchen großen Tönen begonnen: »Wir fürchten nicht nur nichts, sondern wissen, daß jeder Widerstand gegen die deutsche Aufbauarbeit gebrochen wird, und daß jeder Terror gegen uns sich gegen die Terroristen selbst wenden wird.« Er endete mit der vagen Aussicht, SA, SS und Pokzei träten weiter für die Sicherheit des Landes ein und keßen die Deutschen »in zunehmendem Maße erkennen, daß hier niemand ungestraft gefährdet werden kann«1"4. Es zeugte von den wahren Macht-
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SA-Sturm »Feldherrnhalle« allen voran, in: KrZ, Nr. 95, 20.4.1943, S. 8, über einen ersten »eindrucksvollen Propagandamarsch der 30 SA-Stürme durch die Straßen Warschaus«. Nicht zuletzt um die »Angstpsychose, die bei den Deutschen im Lande bestehe, mit allen Mitteln |zu] bekämpfen« hatte Hauptabschnittsleiter Georg Stahl auf einer Arbeitssitzung der »Regierung des GG« am 15.4.1943 seitens der Parteiführung im GG vorgeschlagen: »Durch gesteigerte Aktivität in Versammlungen, Aufmärschen usw. müsse dem fremden Volkstum gezeigt werden, daß sich die Deutschen stark genug fühlten.« Frank, Diensttagebuch (wie Anm. 21), S. 643 f. Die Kräfte von 1939 triumphieren auch in Zukunft, in: KrZ, Nr. 232, 28.9.1943, über die »Herbstwettkämpfe der SA im Generalgouvernement« mit Zitaten aus einer Rede von »Obergeneralarbeitsführer Dr. Decker« in Warschau, wo der anschließende »Propagandamarsch« der SAMannschaften aus dem ganzen GG wieder mit »großem Interesse« verfolgt worden sei. r)ie Parole des Parteiappells lautet: »Kampf«, in: KrZ, Nr. 174, 23.7.1943, S. 5, über eine Rede Franks vor dem Organisationsstab zum »Tag der NSDAP im GG«. Der Deutsche ist sich der Opfer der Front bewußt, in: KrZ, Nr. 147, 22.6.1943, S. 5; Bericht über eine Rede Franks auf einer »Großkundgebung der NSDAP« in Warschau. Zur »Angstpsychose« unter den Deutschen im GG siehe Anm. 100. Kein Sturm kann das Deutschtum des GG erschüttern, in: KrZ, Nr. 195, 16.8.1943, S. 1 f. Hervorhebung LJ. Es kennzeichnet die in der Presse-Propaganda genommenen Rücksichten, daß die drohenden Passagen der Rede gemildert worden waren. Im Rede-Protokoll hatte es geheißen: »Wir fürchten uns vor den Fremdvölkischen dieses Raumes nicht nur nicht, sondern wir wissen, daß, wenn irgendwie gegen die deutsche Aufbauarbeit dieses Raumes Widerstand geleistet werden sollte, nicht die Deutschen, sondern die Polen das Land veriießen und daß jeder Terror gegen —
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Verhältnissen innerhalb des Regimes, daß Frank nicht einmal zwei Monate später dem Drängen der SS- und Pohzeiführung nachgab und die erwähnte »Verordnung zur Bekämpfung von Angriffen gegen das deutsche Aufbauwerk« erheß. Auch der Generalgouverneur machte sich in der Folge zum Sprachrohr dieser durch öffentliche Massen-Exekutionen propagandistisch nach außen gekehrten Potenzierung der Gewaltpolitik im GG: »Wer glaubt, hier das deutsche Leben in Gefahr bringen zu können, soü wissen, daß er sein eigenes Nationalleben hundertfach in Gefahr
bringt1"5.«
Gewaltpolitik und Kollaborations-Appelle Noch im Juni 1943 hatte Frank in einer ausführlichen Denkschrift an Hitler zur Lage im GG gerade auch »Massenverhaftungen und -Erschießungen [!] durch die deutsche Pohzei unter Anwendung des Systems der kumulativen Verantwortung« für den wachsenden Widerstand der Polen verantwortlich gemacht1"6. Franks wortreiche, aber folgenlose Einwände gegen diese Art von Gewaltpolitik waren zunächst allein dem machttechnischen Kalkül entsprungen, daß sich das »polnische Problem« für die immer weniger absehbare Dauer des Krieges nicht mit Hilfe der Methode »16 Millionen Polen 16 Millionen Nackenschüsse« lösen lasse, da die deutsche Kriegsmaschinerie nun einmal ohne die Mitarbeit der Polen im GG nicht funktioniere. Frank forderte daher bereits im Frühjahr 1942, die Propaganda müsse »zum mindesten so tun, wie wenn das Generalgouvernement eine Art Schutzbereich im großdeutschen Raum ist«, weshalb die Polen in der für sie bestimmten »sogenannten Presse« nicht länger »wie Schweine, sondern als Europäer und Menschen behandelt werden« müßten1"7. Im Sinne dieser nur der äußeren Form, nicht etwa dem dahinter sich verbergenden Geist nach »neuen« Haltung der Propaganda im GG appelherte die Presse ab dem Frühjahr 1942 an die Polen, ihre »mit der Wkkhchkeit nichts gemein habenden Träume und Phantasien« endhch aufzugeben, um jetzt auch ihren »Nutzen aus der gegenwärtigen Übergangsphase des Vorfrühlings einer neuen Welt zum Erreichen einer angemessenen Position in dieser neuen Ordnung« zu ziehen. Allerdings falle ein »neues Europa« nicht vom Himmel, sondern die Polen müßten
uns
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II,
Die toten Helden geben uns Mut zum Zukunftsglauben, in: KrZ, Nr. 271, 12.11.1943, S. 5, Wiedergabe einer Ansprache Franks auf einer »Feierstunde der NSDAP zum 9. November |1923|«.
T)et Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof; Nürn14. Nov. 1945-1. Okt. 1946, 42 Bde, Nürnberg 1947-1949, hier Bd 26, Dok. 437-PS, Geheimer Bericht Franks an Hitler vom 19.6.1943, S. 14-37, hier S. 20. Frank, Diensttagebuch (wie Anm. 21), S. 488 f., Eintrag zur »Pressebesprechung« vom 14.4.1942. Schon seit Frühjahr 1940 hatte sich Frank vielfach mit ähnlichen Worten und gleichem Kalkül gegen eine Polen-Politik in Form eines »gigantischen [...] Ausrottungsfeldzuges« ausgesprochen: »Wir können schließlich nicht 14 000 000 Polen umbringen.« Ebd., S. 128, Eintrag vom 2.3.1940.
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deutsche, sondern das polnische Leben hier enden lassen würde.« BArch,
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sich ihre Position darin »erarbeiten«1"8. Falls sie sich jedoch den deutschen Plänen nun auch den Polen ein Platz in einer von »Harmonie und Verständnis gemeinsamer Interessen« geprägten europäischen Solidargemeinschaft1"9 versprochen: »Heute ist keine Zeit mehr zu zögern, keine Zeit für den Versuch, einen Abgang vom einfachen, durch die neue Ordnung vorgegebenen Weg zu suchen. Je schneller die polnische Gesellschaft ihre neuen Aufgaben versteht, [...] desto einfacher und rascher gelangt sie zum vollen Bürgerrecht in der neuen Ordnung der Dinge11".« Diesen neuen Tönen entsprechend legte die deutsche Presse im GG den Besatzern Mäßigung im Umgang mit der »nicht immer freundhch gesinnten Bevölkerung« nahe. Als »Exponent des Deutschtums und des besten europäischen Willens« solle der Deutsche im GG sich »in maßvoller Haltung« der »Emporführung der ihm anvertrauten Menschen« widmen111. Die zahkeichen KollaborationsAppelle an die Polen unter dem bewußt nie konkretisierten Schlagwort vom »neuen Europa« erreichten ihren Höhepunkt im Frühjahr 1943, als Frank eine Rede an ins Reich fahrende polnische Arbeiter zum Anlaß nahm, die Bewohner des GG in das »neue Europa« aufzunehmen: »Ihr wißt, daß jeder auf seine Weise kämpft für das neue, erst entstehende Europa, dessen Bürger den Weg einer mutigen und gesunden Entwicklung gehen. Zu diesem neuen Europa gehört auch die Bevölkerung die auf dem Gebiet des Generalgouvernements wohnt112.« In den Augen der Fachleute für die polnischsprachige Presse in der Propaganda-Führung des GG war die ganze Kampagne zu dieser Zeit längst gescheitert, eben weil sie um jenes nie konkretisierte Schlagwort kreiste, den »leeren und für alle Polen einigermaßen inhaltslosen Begriff des neuen Europa«, während die Bevölkerung von »praktischen Auswirkungen wenig verspüren könne«113. Die von
unterordneten, wurde
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i'1
Kulisy czasu [Kulissen der Zeit], in: GK, Nr. 70, 25.3.1942, S. 1 f., hier S. 1. So die Beschreibung der »neuen Ordnung« im Leitartikel »Ideowe wytyczne nowej Europy« pdeelle Leitlinien des neuen Europas], in: GK, Nr. 90, 20.4.1942, S. 1 f. W dniu urodzin Führera [Am Tag des Führergeburtstags], in: GK, Nr. 91, 21.4.1942, S. 1 f., hier S. 2. Hervorhebung im Original. Albert Dorscheid, Der richtige Weg, in: KrZ, Nr. 186, 8.8.1942, S. 1 f. Daß sich trotz dieser neuen Signale an die Polen am Grundsatz der Terror-Herrschaft nichts änderte, hatte Frank bereits am 18.3.1942 gegenüber führenden Funktionären der NSDAP im GG signalisiert: Es müsse auch weiter »alles, was sich noch an polnischer Führungskraft zeigt, immer wieder mit rücksichtsloser Energie vernichtet werden. Das braucht man nicht an die große Glocke zu hängen, es geschieht stillschweigend.« Frank, Diensttagebuch (wie Anm. 21), S. 479. Gen[neralny] Gubernator zegnai dwutysicczny transport |Der Generalgouverneur verabschiedete den zweitausendsten Transport], in: GK, Nr. 62, 16.3.1943, S. 1 f., hier S. 2. Hervorhebung im Original. Zur Unterstützung dieser Kampagne wurden auch Stimmen aus der Reichsregierung zitiert; vgl. als auffälligstes Beispiel die Ende 1942 in der polnischsprachigen Presse veröffentlichten Auszüge des Goebbels-Leitartikels »Die Vision eines neuen Europas« aus der Berliner Wochenzeitung »Das Reich«, Nr. 49, 6.12.1942, S. 1 f.: Wizja nowej Europy, in: GK, Nr. 288, 9.12.1942, S. 1. Auch hier fehlte aber jede konkrete Zukunftsperspektive: »Es ist verständlich, daß die uns vorschwebende europäische Solidarität einer Reihe von kriegsbedingten Belastungen ausgesetzt ist, die mit dem Ende des Krieges von selber wegfallen werden.« BArch, R 52II, 201, Bl. 132-142, Eintrag über eine »Presse-Besprechung« bei Frank am -
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23.2.1943, hier Bl. 134 f., mit dem Diskussionsbeitrag von Karlheinz Fenske, dem Chefredakteur der offiziellen polnischsprachigen Presseagentur »Telepress«, der sich zum Sprachführer scharfer Kritik an der bisherigen Polen-Propaganda machte. Vgl. den Teilabdruck dieser Passage in Frank, Diensttagebuch (wie Anm. 21), S. 625.
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Frank dem entgegengehaltene Hoffnung, die Reichsregierung werde der Propaganda im GG durch einen Bruch mit dem »bisherigen System der Ausrottung, der Ausbeutung und Diskriminierung« neue Möglichkeiten eröffnen, um doch noch »die Polen auf die deutsche Seite zu ziehen«114, erfüllte sich nicht. Vielmehr wurde F'rank Ende März 1943 vom Chef der Reichskanzlei, Hans-Heinrich Lammers, im Auftrag Hitlers beschieden, eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Politik, »um Wort und Wkkkchkeit miteinander in Übereinstimmung zu bringen«, könne in der gegenwärtigen militärischen Lage des Reiches nur als »ein Zeichen der Schwäche« verstanden werden und daher »sogar zu einer Belebung der polnischen Widerstandsbewegung führen«115. Dennoch bemühte sich Frank gerade unter Hinweis auf die Aktivitäten des polnischen Untergrunds und der dankt verbundenen wachsenden Gefahr für das Leben der Deutschen im GG auch weiterhin, bei Hitler seine Forderung durchzusetzen, »die gesamte Politik gegenüber den Polen einer aufhellenderen Umformung zu unterziehen«116. Der Forderung, angesichts eines Widerstands, dem nicht länger »mit Schlagworten oder Propagandaaktionen oder ähnlichen Mitteln« zu begegnen sei, einen nach außen wkksamen Wandel der Politik im GG herbeizuführen, war freilich kein Erfolg beschieden, denn Hitler war grundsätzkch nicht bereit, dieser Argumentation zu folgen117. Daß Frank sich dann schließlich doch nicht nur mit der Fortsetzung, sondern sogar mit einer Verschärfung der von ihm vielfach verbal angegangenen Gewaltpolitik einverstanden erklärte, wollte er im Oktober 1943 in einer internen Informationsveranstaltung für die Presse-Propagandisten im GG als eine vorübergehende, krisenbedingte Abweichung von seiner politischen Linie verstanden wissen. Deshalb stehe in der Außendarstellung seiner Politik wie bisher die »pflegliche Behandlung der in unserem Interesse arbeitenden Fremdvölkischen« im Vorder114
115
Frank, Diensttagebuch (wie Anm. 21), S. 625. BArch R52II, 281, Bl. 17 f., Abschrift eines Schreibens Lammers' an Frank vom 25.3.1943. Frank hatte sich in seinen Hoffnungen auf ein geheimes Rundschreiben über die »Behandlung der europäischen Völker« bezogen, daß Joseph Goebbels als Reichspropagandaleiter der NSDAP am 15.2.1943 an die Gau- und Reichsleiter sowie die Gaupropagandaleiter gesandt hatte. Aus diesem Schreiben, daß v.a. die Propaganda gegenüber der Bevölkerung der besetzten sowjetischen Gebiete auf eine neue Basis zu stellen versuchte, hatte Frank besonders hervorgehoben, es müsse alles unterlassen werden, »was die notwendige Mitarbeit der Ostvölker und damit auch nur im geringsten den Sieg gefährden kann« und dies als Argument für seine Auffassung genommen, daß »eine Politik mit Revolvern, Kugeln und Konzentrationslagern nicht zum Ziel führen« könne wodurch sich die SS- und Polizei-Führung im GG zu einer Intervention veranlaßt sah, »da die Polen in der Änderung der politischen Linie [...] zweifellos das größte Schwächeeingeständnis seit Bestehen des Generalgouvernements sehen werden und ihr Widerstandwillen einen ungeheuren Auftrieb erhält«. Aktenvermerk von SS-Obersturmbannführer Franz Heim zur PresseBesprechung am 23.2.1943 (siehe Anm. 113); Instytut Pamiçci Narodowej, Najwyzszy Trybunal Narodowy, Procès Józefa Bühlera, Bd 10, Bl. 167-171, hier Bl. 168 und 171. Abschrift eines Schreibens Franks an Lammers vom 20.4.1943, in: Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, Teil 1 bearb. von Helmut Heiber, München |u.a.] 1983, 107 01082-107 01084, hier 107 01083. Vgl. Franks ernüchternde Aussicht auf einer Arbeitssitzung der »Distriktsverwaltung Radom« (nachdem die vom Generalgouverneur lang geforderte Aussprache mit Hitler Anfang Mai 1943 stattgefunden hatte), es wäre »vielleicht eine Änderung der gesamtpolitischen Einstellung noch möglich«, BArch, R 52 II, 202, Bl. 349-350, Eintrag vom 26.5.1943. -
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grund: »wenn ich in den letzten Tagen zu deutkch sichtbaren, nach außen in Erscheinung tretenden exemplarischen Strafen und Erschießungen die Afokmacht gegeben habe, dann nur, um zu zeigen, daß ich auch anders kann.« Fur die zu befürchtenden Folgen wusch Frank seine Hände in Unschuld: »Immerhin können daraus Verdüsterungen kommen, die wir eben in Rechnung ziehen müssen. Die Schuld trifft nicht uns, sondern jene Marodeure, die ohne Rücksicht auf die Volkskraft der Polen versuchen, uns in Situationen zu bringen, die uns die Ergreifung solcher Maßnahmen nahelegen.« Die Linie für den propagandistischen Umgang mit den öffentkch vollzogenen deutschen Gewaltakten gab Frank gleich mit vor, indem er behauptete, sie richteten sich gegen die »ausschkeßkch noch von den Kommunisten getätigten Exzesse«118. Mobiksierung antisowjetischer und antisemitischer Ressentiments Tatsächkch arbeitete die Propaganda im GG von nun an mehr und mehr mit dem Versuch, antikommunistische Ressentiments und die Ängste der polnischen Bevölkerung vor der näher rückenden Roten Armee zu mobiksieren. Die antisowjetische Propaganda hatte bereits seit Anfang 1943 immer größeren Raum eingenommen. Vor allem die Entdeckung der Massengräber kriegsgefangener polnischer Offiziere bei Katyn hatte gerade die polnischsprachige Propaganda des GG vom Frühjahr bis zum Spätsommer 1943 mit großer Intensität ausgebeutet119. Der Grundton dieser an das zuvor propagierte Bild des »neuen Europa« anknüpfenden Kampagne war es, das Reich als einzige Macht erscheinen zu lassen, die ganz Europa und damit auch die Polen vor den am Beispiel Katyn ausgemalten Gefahren einer sowjetischen Gewaltherrschaft schützen könne. Eine Verbindung zwischen der Sowjetunion und dem polnischen Untergrund wurde dabei nur imphzit hergesteht, wie etwa in Franks Rede zum »Führergeburtstag« am 20. April 1943: »Ich nehme an, daß sich gerade aus diesem Erlebnis von Smolensk [Katyn hegt bei Smolensk, L.J.] heraus der loyale, d.h. der weitaus überwiegende Teil der fremdvölkischen Bevölkerung des Generalgouvernements noch intensiver als bisher in der Arbeit für die gemeinsame europäische Sache im Dienste des Krieges betätigen wird. Seit Smolensk sind viele Voraussetzungen geschaffen, das Verhältnis zwischen den Deutschen und den Fremdvölkischen auch im Generalgouvernement günstiger und aufgeschlossener zu gestalten, als es viekeicht bisher der Fall war [...] Im übrigen aber sei allen unverbesserkchen, vor allem unter dem Einfluß von Feinden stehenden Übeltätern gesagt: In nichts wird die Energie der deutschen Führung dieses 118
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BArch,
R 52 II, 208, Bl. 1095-1106, Empfang für die Presse des GG und die Mitarbeiter des Pressechefs der Regierung bei Frank am 23.10.1943, hier Bl. 1099-1102. Einen Tag später ordnete I'rank an, diese »strenge Linie« sei »der polnischen Bevölkerung noch einmal bekannt zu geben«, ebd., Bl. 1134; siehe Anm. 79. Siehe John P. Fox, Der Fall Katyn und die Propaganda des NS-Regimes, in: VjZ, 30 (1982), S. 462-499; zu den Inhalten der Katyn-Propaganda im GG vgl. Glowiriski, Porzadek (wie Anm. 30), S. 304-325.
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nachlassen, mit Unruhestiftern und Verbrechern aller Art so rücksichtslos und nachdrücklich wie nur möghch fertig zu werden12".« Eindeutig wurde ein Zusammenhang zwischen Widerstand im GG und den militärisch-politischen Zielen der Sowjetunion zu dieser Zeit allenfalls in temporär und lokal beschränkten Propaganda-Aktionen konstruiert. Das war etwa der ball, als die deutsche Propaganda in Warschau im Zusammenhang mit dem GhettoAufstand einen Kampfbegriff der polnischen Rechten, das Antisemitismus und Antikommunismus vereinende b'einbüd der angeblich landesverräterischen »zydokomuna« Quden-Kommune), aufgriff und gegen den Untergrund instrumentalisierte. In einem Plakat »An die Bevölkerung Warschau [!]« vom 13. Mai 1943 hieß es u.a.: »In letzter Zeit wurde eine ganze Reihe von Mordanschlägen in dem Gebiet der Stadt Warschau verübt. Hinter diesen Anschlägen stand dieselbe Hand, deren Werk die Massengräber der polnischen Offiziere in Katyn sind. All diese kommunistischen Banditen haben ihren Unterschlupf in dem ehemaligen jüdischen Wohnbezkk Warschaus gefunden und sind dort weitgehender Hilfe begegnet. Der ehemahge jüdische Wohnbezkk wurde dankt zum Nest aller Anhänger der bolschewistischen Ideologie, die mit allen Mitteln versucht, Unruhe und Zersetzung innerhalb der Bevölkerung zu verbreiten. Der ehemahge jüdische Wohnbezkk wkd vernichtet und mit ihm gleichzeitig die Hoffnung der Kommune, die sich in dem Gedanken wiegte, daß die Tage der Blutherrschaft des bolschewistischen Systems auch einmal in diesem Lande kommen werden121.« Auch die zweite größere antisowjetische Propaganda-Kampagne des Jahres griff den polnischen Untergrund nicht unmittelbar an, sondern bewegte sich im Gefolge von Katyn in den seit Frühjahr 1943 eingefahrenen Geleisen. Die vom Oberkommando der Wehrmacht Mitte November bekanntgegebene Tatsache, daß bei Kämpfen in der Nähe von Smolensk einige hundert Polen in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, deutete die deutsche Propaganda in ein bewußtes Überlaufen eines Großteils der Mannschaften einer ganzen mihtärischen Einheit, der in den Reihen der sowjetischen Streitkräfte kämpfenden polnischen Division »Tadeusz Kosciuszko«, um, und stilisierte sie zur »ersten wirklich großen politischen Demonstration der Polen in diesem Krieg«. Sie wurde als »polnische Antwort auf Katyn« den »papiernen Protesten« der polnischen Exil-Politiker gegenübergestellt: Während die Soldaten sich in einem mutigen Schritt auf die deutsche Seite gestellt hätten, hätten die angebhehen Interessenvertteter Polens im Ausland
Raumes
Das Generalgouvernement ist ein Stück des werdenden Europas, in: KrZ, Nr. 96, 21.4.1943, S. 3 f., hier S. 4. Hervorhebung L.J. Mit gleichem Wortlaut: »Okrzyk bolosci rozlega sie po calym kraju« |»Ein Schmerzensschrei geht durchs ganze Land«], in: GK, Nr. 95, 23.4.1943, S. 1. BArch, R 102 I, 3, Bl. 30. Das Plakat war von Distriktgouverneur Ludwig Fischer unterzeichnet und mit dem SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei, Jürgen Stroop, abgestimmt. Stroop hatte in seinem Bericht über die »Vernichtung des ehemaligen jüdischen Wohnbezirks« vom 16.5.1943 den Ghetto-Aufstand als eine gemeinsame Aktion von »Juden« und »polnischen Banditen« dargestellt, siehe die Dokumentation dieses Berichts: Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr [photomechan. Nachdruck], mit einem Vorw. von Andrzej Wirth, Neuwied |u.a.| 1960, bes. S. 4-11.
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die Konsequenzen aus der Entdeckung der ziehen122. Massengräber Katyn Erst im groß aufgezogenen »Weihnachtsaufruf des Generalgouverneurs an die polnische Bevölkerung«, mit dem Ende 1943 das nächste Kapitel der antisowjetischen Propaganda im GG begann, wurde jedweder Akt des Widerstandes gegen die deutsche Herrschaft im GG als dkekt oder indkekt sowjetischen Interessen dienend gebrandmarkt. Frank hatte seinen Aufruf bewußt als »Ausgleich negativer Maßnahmen in Gestalt der Erschießungen von Angehörigen der polnischen Widerstandsbewegung« konzipiert123. Darum versuchte er, den neuesten Massenterror seines Regimes nicht mehr nur negativ als Drohung einzusetzen, sondern unter Aufnahme der aus zahüosen Frank-Auftritten bekannten Dichotomie der vielen »loyalen« und der wenigen »illoyalen« Polen den Terror gegen wenige positiv als Schutz der Mehrheit vor der sowjetischen Gefahr darzustellen: »Mit vereinten Kräften haben augenblicklich Bolschewisten, Engländer und Amerikaner die Inszenierung einer neuen Phase im sogenannten Nervenkrieg begonnen [...] Mit allen Mitteln wird versuckt, Unzufriedenheit und Haß unter der Bevölkerung zu verbreiten, um auf diese Weise die durch volles Vertrauen gekennzeichnete Zusammenarbeit weiter Schichten mit den Behörden unmöghch zu machen [...] Um diese Millionen von anständigen, schwer arbeitenden Menschen vor allen zersetzenden Einflüssen zu schützen und diesen breiten Schichten nicht nur Ruhe und Ordnung zu gewährleisten, sondern auch die Sicherheit des Lebens bei Erfüllung der von ihnen übernommenen Pflichten, Zwingt die Kraß des Faktischen die Behörden dazu, sich mit ganzer Entschiedenheit und unter Anwendung aller notwendigen Mittel jedem Akt des Terrors und der Sabotage entgegenzustellen, wie sie von skrupellosen Agenten und Provokateuren inszeniert werden [...] Es ist einfach unmöghch, sich die eventuellen böigen eines bolschewistischen Sieges im Osten Europas vorzustellen. Die fruchtbare Erde, die sich an Weichsel und Bug erstreckt, genau wie die stillen Talgründe der Karpatenkette, würden zur Kulisse des blutigsten Dramas, denn die mörderische Geißel des Bolschewismus träfe vor allem Millionen Polen (...] Möge jeder Bürger angesichts der großen historischen Entscheidungen die heihge Pflicht begreifen, zusammenzuarbeiten zur Gründung einer unerschütterhchen Front der Seelen und Herzen, gerichtet gegen die nichtswürdige Zersetzungsarbeit des Kommunismus.« Frank forderte die Polen auf, angesichts der von der Sowjetunion ausgehenden Gefahr die »schändhchen Aktionen aller fremden Agenten und Provokateure zu demaskieren, die skrupellos versuchen, die Leichtgläubigkeit auszunutzen«, denn die »Abgesandten Moskaus« verstünden sich auf raffinierteste Weise zu tarnen, nicht nur als »Verteidiger so genannter Interessen des Proletariats«, sondern auch »unter der Maske ehrenwerter Bürger mit nationalen Überzeugungen« oder sogar »unter dem Mantel der Gottesdiener«124. Mit diesen Worten unterstellte er erstmals dem gees
nicht gewagt, Moskau von
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gegenüber
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Odpowiedz na Katyn pie Antwort auf Katyn], in: GK Nr. 276, 26.11.1943, S. 1. BArch, R 52 II, 209, Bl. 1287, Eintrag vom 10.12.1943. Odezwa z okazji Swi^t [Aufruf zu den Feiertagen], in: GK, Nr. 300, 24.12.1943, S. 1 f. Hervorhebungen im Original; vgl. Dr. Frank an die polnische Bevölkerung, in: KrZ, Nr. 307, 24.12.1943, S. 2, wo Frank eine Zusammenfassung des als »ein politischer Weihnachtsaufruf« bezeichneten
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Widerstand von links bis rechts, sowjetischen Interessen zu sei es aus Überzeugung oder aus politischer Blindheit. er diese Kampagne startete, war sich Frank darüber im klaren, daß »die Propaganda im Fall Katyn keine durchschlagende Wkkung gezeigt habe«125. Denn alle bisherigen Versuche der deutschen Propaganda im GG, antikommunistische oder damit zusammenhängende antisemitische Ressentiments unter den Polen zu nutzen, hatten an dem von der polnischen Untergrund-Propaganda immer wieder benutzten Umstand gekrankt, daß sich deutsche und sowjetische Methoden der Gewaltherrschaft durch Massenterror zum Verwechseln ähnkch sahen126. Dieses Grundproblem war den deutschen Propagandisten im GG durchaus bewußt, und nicht zuletzt deshalb hatten sie seit langem mehr Betätigungsspiekaum für polnische Kollaborateure gefordert, denen sie eine höhere Glaubwürdigkeit und dankt breitere Resonanz bei ihren Landsleuten zutrauten127. samten
dienen Als
polnischen
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Propaganda von Polen für Polen Erst mit der »Aktion Berta« begann Anfang 1944 die intensive Einbeziehung polnischer Kollaborateure in die antisowjetische Propaganda. Durch eine große Vielfalt propagandistischer Mittel sollte der Eindruck hervorgerufen werden, als komme aus den Reihen der Polen selbst ein immer stärkerer Impuls, die bisher geübte Resistenz oder gar den Widerstand gegen den deutschen Herrschaftsanspruch zugunsten einer gemeinsamen Abwehr der angeblichen sowjetischen Bedrohung aufzugeben. Bei dieser und folgenden Aktionen arbeitete die federführende Hauptabteilung Propaganda in der Regierung des GG (HAP), wie die ehemalige AVP inzwischen hieß, sowohl bei der Kontrolle der Inhalte wie bei der Auswahl und geeigneter polnischer Propagandisten eng mit der SS- und Poli-
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Textes bietet. Zu der Frankschen Dichotomie der vielen Loyalen und der wenigen Illoyalen siehe Anm. 57 f. BArch, R 52 II, 209, Bl. 1287, Eintrag vom 10.12.1943. Daß die Aktivitäten der deutschen Propaganda vor dem Hintergrund der Entdeckung der Gräber von Katyn nicht völlig wirkungslos waren, zeigten Bemühungen des polnischen Untergrunds, auf vielfältige Weise eine Gegen-Propaganda zu entfalten. Dazu gehörte z.B. ein nachgemachtes Plakat der »Hauptabteilung Propaganda in der Regierung des GG«, das im Zusammenhang mit der Propaganda-Reise einer Gruppe von Polen nach Katyn im April 1943 ankündigte, es werde »in nächster Zeit ein analogischer [!] Ausflug nach dem Konzentrationslager in Auschwitz für ein Komitee [!] aller im GG beheimateten Volksgruppen organisiert«, siehe die Reproduktion in Prawdziwa historia Polaków (wie Anm. 76), Bd 2, S. 1019. Vgl. z.B. Äußerungen des Pressechefs der Regierung des GG, Emil Gassner, auf der PresseBesprechung vom 23.2.1943 (siehe Anm. 113 bis 115): »Viele Argumente gegen den Bolschewismus könnte man aber nicht ausnutzen, weil sich aus ihnen eine Reihe von Analogien ergebe, und die Polen viele antibolschewistische Erwägungen einfach gegen das deutsche Regime wendeten (...) Von deutscher Seite müsse der Versuch unternommen werden, die Polen zur Gestaltung ihrer Presse in stärkerem Maße heranzuziehen. Man müsse den Polen eine politische Zeitschrift geben; Erwägungen darüber seien seit einem halben Jahre im Gange, ohne bis jetzt praktische Formen angenommen zu haben [...] In der Gestaltung der Meinungsentwicklung sollte man nicht mehr zu ängstlich vorgehen.« Frank, Diensttagebuch (wie Anm. 21), S. 624 f.
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zeiführung im GG und dem RSHA zusammen, da diese propagandistischen Aktivitäten nicht zuletzt auf den polnischen Untergrund zielten, indem sie »nationale« gegen »kommunistische Banden« ausspielen sollten. Neben dem Antisemitismus und weiterhin auch dem Gedanken des »Neuen Europa« stand dabei der »Antibolschewismus« als das wichtigstes Mittel dieser Propaganda eindeutig im Vorder-
grund128.
Wie schon bei den Kampagnen des Jahres 1943 lag auch diesmal allen Aktiobloß taktisches Kalkül zugrunde; die propagierte Gemeinsamkeit zwischen Polen und Deutschen hatte für die poktische Praxis keine wesentkchen Folgen darauf hatte Hitler bestanden. Vielmehr war es laut Generalgouverneur Frank das Hauptziel, die angebkch ideologisch indifferente Masse der Polen bei der Arbeit für die deutsche Kriegsmaschinerie zu halten und sie nicht zu »Rekruten der Widerstandsbewegung« werden zu lassen. Für diese Aufgabe wollte Frank die »sicherkch kleine Gruppe der wirklich echten Freunde des Reiches« einspannen, während Kräfte aus dem polnischen Untergrund nur »im schlimmsten Fall für eine getarnte Mitarbeit« in Frage kämen denn grundsätzkch gelte dieser Gruppe der »Todfeinde der Deutschen« weiter der »Kampf bis zur Vernichtung«129. Die beiden wichtigsten polnischen Kollaborateure, derer sich die deutsche Propaganda bei diesen Aktionen bediente, waren der Literat Jan Emil Skiwski und der Pubkzist F'ekks Burdecki. Gemeinsam verfaßten sie neben zahkeichen anderen Propaganda-Texten vor allem den größten Ted der Zeitschrift »Przelom« (Der Umbruch), die der äußeren Form, den Intervallen und (scheinbar) wechselnden Orten ihres Erscheinens, aber auch der Sprache und den Inhalten nach deutkch dem Vorbild der Untergrundpresse folgte. Mit diesem, im Vergleich zur übrigen polnischsprachigen Propaganda intellektuell anspruchsvok gemachten Blatt, das als »Poktische Zweiwochenschrift« auftrat, wollte die Propagandaführung nun endkch auch jene Gruppe unmittelbar beeinflussen, die sie bislang grundsätzkch nicht ckrekt hatte ansprechen dürfen: die polnische Intelkgenz, in ihren Augen auch weiterhin der Hauptträger des Widerstandes gegen das deutsche Regime13". Anders als in der bisherigen polnischsprachigen Presse konnten sich die Leitartikel im »Przelom« ausdrückkch auf traditionelle Diskurse des polnischen Nationalismus beziehen, die Nationaldichter und Nationalhelden zitieren, ja sogar miktärische Leistungen der deutschen Kriegsgegner würdigen und deutsche Verbrechen an den Polen andeuten um schließlich auch auf diesem Wege zum längst nen
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die Diskussionen über Mittel und Wirkungen der »Aktion Berta« auf der »[Distrikts-] Gouund Hauptabteilungsleitersitzung« am 16.2.1944 sowie die »Besprechung der Gründung einer Polnischen Antibolschewistischen Liga« zur Fortführung und »Auswertung« der »Aktion Berta« am 17.2.1943, Frank, Diensttagebuch (wie Anm. 21), S. 802 f., 806-808. Vollständiges Protokoll zur »Besprechung der Gründung einer Polnischen Antibolschewistischen Liga« am 17.2.1944 (siehe Anm. 128), BArch, R 52 II, 213, Bl. 351-358, hier Bl. 354-356. Die konziseste Darstellung der Programmatik, die Burdecki und Skiwski in »Przelom« und vielen anderen Publikationen dieser letzten Phase der deutschen Propaganda im G G propagierten, findet sich nach wie vor bei Lucjan Dobroszycki, Die legale polnische Presse im Generalgouvernement 1939-1945, München 1977, S. 184-193. Zu den Persönlichkeiten der beiden Publizisten vgl. Klaus-Peter Friedrich, Publizistische Kollaboration im sog. Generalgouvernement, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 48 (1999), S. 50-89, hier S. 71-75.
Vgl.
verneur-
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bekannten Schluß zu gelangen, daß den Polen unabhängig von ihrer Haltung zu den deutschen Besatzern angesichts der sowjetischen Bedrohung nichts übrig bleibe, als sich auf die Seite Deutschlands zu stellen: »Polen! Zur Verteidigung des ewigen Lebensrechts unserer Nation ist das erste Gebot der Stunde, daß wk diszipliniert und einig seien, das zweite nicht minder wichtige Gebot, daß wk die Einheit Europas bewahren, jenes Europas, für dessen Kultur und Zivilisation ungezählte Generationen unserer Ahnen gearbeitet und gekämpft haben [...] Ich wende mich vor aüem an all jene, für die der Krieg eine einzige Abfolge von Qualen und Entsagungen war und ist, an die Mütter und brauen, in deren Augen die Tränen über den Verlust der Männer und Söhne noch nicht getrocknet sind, an die Brüder und Schwestern, die das harte Los des Umsiedler-Schicksals durchleben! Ich rufe jene zur Besinnung, die bisher glaubten, sie dienten der polnischen Sache durch Sabotage und die Organisation von Anschlägen! Das ist nicht der Weg! Noch einmal rufe ich Euch zum Kampf um eine bessere Zukunft der Polen und ein vereintes Europa131!« Nur im »Przelom« war es möghch, Einsatz und Ergebnisse des bewaffneten Widerstandes gegen die Deutschen zu erörtern um mit konischen Spitzen gegen die Geisteshaltung einer »Nation von Selbstmördern« anzugehen, jeden antideutschen »Terror«-Akt der »Wegbereitung für den Triumph Stalins« zu zeihen, zugleich aber aüzu grobe Thesen der deutschen Propaganda zu differenzieren: »Handelt es sich [bei der Motivation von Anschlägen auf die deutschen Besatzer, LJ.| um eine kommunistische Provokation? Sie bewkkt zweifelsohne viel. Aber man kann nicht alles mit der kommunistischen Provokation erklären. Hier wkkt noch ein anderer, gefährlicherer weil innerer Faktor. Das unbeherrschbare Element aufgepeitschter Gefühle. Es ist wkd man einwenden ein Zeichen für die Lebenskraft einer Nation. Zugegeben, aber diese Lebenskraft trägt den Bazillus des Todes in sich [...] Man muß den Zeiger verstellen. Er muß sich umkehren in die Richtung der heute größten Gefahr, die von Osten heranzieht [...] Ein Hineinlassen der Sowjets ins Herz Europas durch das polnische Tor wäre unwiderruflich [...] Wir halten sie nicht mit unseren bloßen Körpern auf, aufhalten können sie nur diejenigen, die über Waffen verfügen und damit bis zum letzten zu kämpfen bereit sind. Wk müssen ihnen ein sicheres und hilfreiches Hinterland bereiten132.« In dieser Argumentation war Widerstand gegen die Deutschen als Okkupanten zwar verständlich und in den ersten Kriegsjahren vielleicht berechtigt; Widerstand gegen die deutschen Soldaten als Verteidiger der »Sache eines vereinten Europas« aber war »Verrat an der polnischen Sache«: »Darum lautet die Parole des Tages: Den Untergrund verlassen133!« Verghchen mit diesen neuen Formen der Propaganda gingen die Veränderungen in der offiziösen polnischsprachigen Tagespresse des GG längst nicht so weit. Zwar kamen hier ebenfalls vermehrt (angeblich) polnische Stimmen zu Wort, in -
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131 132 133
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Feliks Burdecki, Rodacy! [Landsleute!|, in: Przelom, Nr. 1, 17.4.1944, S. 1 -4, hier S. 4. J[an| E[mil] Skiwski, Cena krwi |Der Preis des Blutes|, in: Przelom, Nr. 1, 17.4.1944, S. 2 f. Feliks Burdecki, Za nasza. sprawç [Für unsere Sache|, in: Przelom, Nr. 3, 2.6.1944, S. 2 f., S. 3.
hier
»Banditen«
»Agenten« »Opfer«
»Terroristen« -
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denen auch einmal Kritik an den deutschen Besatzern anklang (»die Meinungen der Polen über die Deutschen sind geteüt«), die sich aber eindeutig gegen jene abgrenzten, deren Aktionen »auf die Interessen der Polen selbst abzielen, aber nur den Bolschewisten Nutzen bringen.« Als »typisches Beispiel für solche Elemente« wurde ein Mann geschildert, der »in jedem Gespräch seine patriotischen Überzeugungen unterstrichen« und sich dabei über die »Grausamkeit der Deutschen beklagt« habe: »Eines Tages kam die Pohzei und nahm ihn mit. Viele sagten, er sei unschuldig, doch was stellte sich heraus: Er war Jude und zweifellos ein Moskauer
Agent134.«
Erstmals berichteten diese Zeitungen auch ausführlich über einen Anschlag, für den politische Motive unterstellt wurden und heßen dabei Polen als die eigentlichen Opfer erscheinen: »Es wurde berichtet, daß als Ergebnis des Anschlags, abgesehen von nur einer Person deutscher Nationalität, ausschließlich Polen getötet oder verletzt wurden. Diese von Individuen, die mit diesem Anschlag politische Katastrophe, hervorgerufen Unruhen entfachen wollten, rief nicht nur unter den Passagieren, sondern auch bei der örthchen Bevölkerung riesige Erregung hervor. Diese Erregung war um so größer, als trotz der entsetzlichen Schmerzensschreie der Verwundeten und trotz ^er /Ä polnisch vorgebrachten Bitten um Hilfe, die Trümmer der Waggons aus dem nächtlichen Dunkel beschossen wurden135.« Die auf ein Massenpubhkum zugeschnittenen polnischsprachigen Tageszeitungen folgten also weiterhin dem offiziellen Propaganda-Bild vom Widerstand als Ergebnis der »Untergrund-Arbeit fremder Agenten« und als Werk von Elementen, »die gegen die Interessen ihres eigenen Volkes für fremdes Geld dort eine blutige Saat säen woüen, wo das Gesetz einer gemeinsamen Arbeit im Dienst gemeinsamer Interessen die Stunde zu regieren hat«136. Diese Kräfte bezeichnete Frank noch Anfang Juh 1944 wie gehabt als eine »verschwindende Minderheit«, der »unerbitthch« entgegengetreten werde, denn die »härteren Nerven« seien auf deutscher Seite137. —
»Niema mowy o kompromisie z zydokommva« [»Von einem Kompromiss mit der JudenKommune kann keine Rede sein«], in: GK Nr. 13, 18.1.1944, S. 1 f. Hervorhebung im Original. Der Artikel brachte Ausschnitte aus Briefen, die das »Echo auf den des Generalgouverneurs« darstellen sollten. Zum Schlagwort von der »Juden-Kommune« siehe Anm. 121, zum »Weihnachts-Aufruf« Franks Anm. 124. Zamach na poci^g osobowy na torze Warszawa-Siedlce [Anschlag auf Personenzug auf der Strekke Warschau-Siedice], in: GK Nr. 30, 6.2.1944, S. 3. Hervorhebungen im Original. Etwa zur gleichen Zeit, in der Nacht vom 29. zum 30.1.1944, hatte ein Anschlag der AK dem Sonderzug Hans Franks gegolten. Rzeczywistosci nie zmieni podziemna robota obcych agentów [Die Untergrund-Arbeit fremder Agenten ändert nicht die Wirklichkeit], in: GK Nr. 33, 10.2.1944, S. 1 f; vgl. Führung im Verantwortungsbewußtsein vor Europa, in: KrZ, Nr. 35, 9.2.1944, S. 3 f. Die im wesentlichen gleichlautenden Artikel brachten lange Ausschnitte einer Rede Franks vor ausländischen Journalisten in Berlin am 7.2.1944, die Hitler zuvor gelesen, als »wirklich sehr gut« bezeichnet und auf den Punkt gebracht hatte: »Die Polen sollen arbeiten, der deutsche Soldat wird sie mit ganz Europa gegen den Bolschewismus verteidigen.« Frank, Diensttagebuch (wie Anm. 21), S. 789, Eintrag vom 6.2.1944. Regierungssitzung in Krakau, in: KrZ, Nr. 175, 9.7.1944, S. 2; vgl. Generalny Gubernator dr Frank o bieza_cej chwili |Generalgouverneur Dr. Frank zur gegenwärtigen Zeit], in: GK, Nr. 159, 11.7.1944, S. 1.
Feiertag-Aufruf
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Erst im August 1944 fand infolge des Warschauer Aufstands die neue Form der Propaganda auch in einer großen polnischsprachigen Zeitung Eingang. Nachdem die offiziöse Presse des GG den Aufstand zwei Wochen lang mit keiner Silbe erwähnt hatte, erschien am Nachmittag des 15. August im »Goniec Krakowski« ein außergewöhnlicher Leitartikel, der auch in Sonderdrucken verbreitet wurde.138 Es war und blieb für die offiziöse Presse im GG einmalig, daß in diesem Artikel das deutsche Besatzungsregime als ein Übel für die Polen dargestellt wurde, wenn auch wohlgemerkt als kleineres Übel im Vergleich zur sowjetischen Herrschaft. Zugestanden wurde, daß sich unter den sozialen Gruppen im GG die »sog. Intelligenz« in der »wohl schlimmsten Situation« befunden hätte, dafür seien aber »übermäßige persönliche wie auch poktische Ambitionen« verantwortkch, die sie »auf den Weg der klegalen Arbeit geführt hat, wo sie auf die harte Repression der deutschen Behörden treffen mußte.« Im übrigen gehe es sogar den polnischen Gefangenen in Auschwitz immer noch besser, als es Hunderttausenden schon 1939 bis 1941 von den Sowjets verschleppten Polen ergangen sei. Allgemein hieß es über den polnischen Untergrund und den Terror der deutschen Besatzer in einer eigentümlichen Mischungen von relativierender Rechtfertigung und Drohung: »Die schmerzlichste Seite der deutschen Herrschaft waren die Repressionen und die vorbeugenden polizeilichen Mittel. Aber erinnern wk uns, daß die Deutschen in ein im Krieg besiegtes Land eingezogen waren, daß die Haltung der Bevölkerung ausgesprochen feindselig war (was sich zu Beginn des Krieges in einer Reihe von Gewaltakten ausgedrückt hatte), [daß] stets eine antideutsche Agitation aufrecht erhalten wurde, die sogar auf den bewaffneten Kampf abzielte. Im Ausland nahmen die Polen überall an Kriegshandlungen gegen die Deutschen teil, sogar an den Bombenangriffen auf die deutsche Zivilbevölkerung. Hand aufs Herz, hätten zum Beispiel polnische Behörden, wenn sie einen Teil Deutschlands besetzt hätten und ständig mit antipolnischer Arbeit zu tun gehabt hätten, anders auftreten können? Um so mehr, als das hiesige Gebiet Etappen- und Aufmarschraum für einen so mörderischen Krieg wie den Krieg mit den Sowjets war. Jede Verhaftung hatte zumindest eine lockeren Verbindung mit kgendeinem Flugblatt, mit kgendeinem Radio, mit irgendeinem vergrabenen Karabiner oder mit dem Mord an Deutschen, und jede Razzia mit kgendeinem Stichtag zum >AufstandBefehlAKwdziecznosci< Stalina [Ein Dokument der »Dankbarkeit« Stalins]«, in: GK, Nr. 81, 6.4.1944, S. 1, war erstmals von sowjetischen Befehlen die Rede gewesen, »polnische >Partisanen< zu liquidieren«; damals aber noch ohne die AK namentlich zu erwähnen.
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eigenen Grenzpfählen aufgehängt worden seien141. Nachrichten dieser Art fügten dem schon länger propagierten Bild, der gesamte Widerstand arbeite den Sowjets in die Hände, eine neue Komponente hinzu: Diese Zusammenarbeit bewahre den national gesinnten Teil des Untergrunds nicht davor, Opfer seines skrupellosen sowjetischen »Verbündeten« zu werden, sobald er seine Schuldigkeit im Kampf gegen die Deutschen getan habe. Hinter solchen Schilderungen sowjetischer Übergriffe gegen polnische Untergrundkämpfer stand auf deutscher Seite die Hoffnung, einige Teile der »nationalen Widerstandsbewegung« für den »antibolschewistischen Kampf« gewinnen zu können142. Dem Muster des durch politischen Unverstand am eigenen Schicksal schuldigen Opfers folgte im wesenthchen auch die propagandistische Darstellung des Warschauer Aufstandes143. Zusammen mit dem gleichzeitig vor allem in der Nähe Krakaus vorangetriebenen Bau von Verteidigungswällen, an dem große Teile der polnischen, aber auch der deutschen Bevölkerung der Stadt mehr oder minder freiwillig teünahmen, war der Aufstand der wichtigste Aufhänger für die Propaganda an und über die Polen während der letzten Monate der deutschen Herrschaft. Die Propaganda-Führung konnte nicht zuletzt dank der unermüdlichen Aktivitäten weniger polnischer Kollaborateure noch einmal ihr ganzes Arsenal aufbieten: Rundfunk, Film, Flugblätter, Broschüren, zahlreiche neue Zeitschriften und Redner streuten ihre Botschaften bis zum Winter 1944/45 in bisher nicht Masse und Breite unter die Bevölkerung. Zu diesen Maßnahmen gehörten scheinbar illegale Aktionen, mit denen die Methoden der UntergrundPropaganda nachgeahmt wurden. Dadurch sollten gerade auch der polnische Untergrund und seine Anhänger erreicht werden im engen Zusammenwirken mit der SS- und Pohzeiführung und nun auch der Wehrmacht144.
gekannter
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Bolszewicy wieszaj^ Polaków [Die Bolschewisten hängen Polen auf], in: GK Nr. 187, 12.8.1944, S. 1.
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BArch, R 55, 1206, Bl. 5 f., Vertrauliches Fernschreiben des Leiters der HAP, Wilhelm Ohlenbusch, an die Abt. Propaganda] im RMVP, Oberregierungsrat Schäffer, vom 1.8.1944; vgl. BArch, R 55, 1459, Bl. 6 f., Rundschreiben Schäffers vom 3.8.1944 an die Reichspropagandaämter »im Osten«, betr. »Propaganda unter den Polen«, mit Richtlinien des RSHA für das GG und
die annektierten Ostgebiete, u.a. das »Verhalten der Sowjets in den von ihnen wieder besetzten Gebieten« in der polnischsprachigen Propaganda zu behandeln. Zu den Leitlinien siehe Oliver Samson, Die deutsche Auslandspropaganda: Werben um eine antibolschewistische Front?, in: Der Warschauer Aufstand 1944, hrsg. von Bernd Martin und Stanislawa Lewandowska, Warschau 1999, S. 254-270. Der Beitrag behandelt auch die Propaganda des GG, stellt allerdings die Kompetenzen schief dar, ebd., S. 261 f.: Weder »pro forma« das »Ost-Ministerium unter Rosenberg« noch das OKW oder gar das AA trugen hier irgendeine unmittelbare Verantwortung. Zu den (umstrittenen) Kompetenzen für den Propaganda-Apparat im GG, der formal sowohl dem RMVP wie Frank unterstand, s.o. Anm. 23. BArch, R 55, 1206, Bl. 83 f.: In einem Bericht des Leiters der HAP, Ohlenbusch, an die Abt. Pro. im RMVP, Schäffer, vom 22.8.1944 wurden die Mittel der »antibolschewistischen Propaganda« auf bis dahin 12 Mio. Flugblätter, 8 Mio. Broschüren und 800 000 Plakate beziffert. Weiter war von »fingierten illegalen Flugschriften« gegen die »Partisanen« und den laufenden Einsätzen des »drahtlosen Dienstes, der Lautsprecheranlage, des Senders, des Filmeinsatzes und des gesamten aktiven Propaganda-Apparates« die Rede. Die »Sprachregelung für die Propaganda« werde von der HAP »im engen Kontakt mit der Wehrmacht und den Organen des Höheren SS- und Polizei-
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»Terroristen«
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Die spektakulärste der von der deutschen Propaganda nachgeahmten illegalen Aktionen war die Verteilung einer angeblich im Untergrund »verbesserten« Ausgabe des »Goniec Krakowski« am 1. September 1944, wobei der Schein bis hin zur Form der Kolportage gewahrt wurde. Diese Aktion knüpfte an ähnliche Unternehmen des polnischen Untergrunds in Warschau und Krakau vom Vorjahr an, nur daß diesmal hinter den vorgeblich unter »nicht wenig Gefahren« verfaßten Texten der Kollaborateur F'eliks Burdecki steckte145. Hauptmittel der Propaganda war auch in diesem Fall die Gegenüberstellung einer drohenden »bolschewistischen Knechtschaft« und der deutschen Besatzung Polens: »Erinnern wk uns immer und unaufhörlich: wk haben zwei Feinde: die Deutschen und die Bolschewisten. Erstere verlassen schon unser Land, sind bereits stark geschwächt. Die zweiten rücken erst ein und stehen auf dem Gipfel ihrer Macht, sie schleichen sich in die Mitte unserer Gesellschaft und sind deshalb viel bedrohkcher146.« Aus dieser Perspektive erschien der Warschauer Aufstand als »schrecklicher Fehler« und die »Verschwendung weiterer Kräfte und weiteren teuren polnischen Blutes« als »ein nationales Verbrechen«. Die sich daraus ergebende Forderung an die Aufständischen und ihre Anhänger war klar: »Wir polnischen Nationalisten und Antikommunisten wenden uns an die Brüder und Landsleute in Warschau mit einem inständigen Appell: Stellt baldmöglichst und zu für uns möglichst ehrenvollen Bedingungen diesen hoffnungslosen und für uns so verlustreichen Kampf ein. Der Rest des Landes verharre bei Schmerz und Trauer in Ruhe.« Die »Lehre aus dem tragischen Warschauer August-Aufstand« könne nur die Annahme »unserer Mission« sein, »die Vorbereitung der uns erwartenden Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus«147. In der Propaganda der Kollaborateure waren die Warschauer Aufständischen »getreu ihren Befehlen, von der Welt betrogen, im Glauben an die gute Sache der polnischen Nation«, zwar im Kampf mit dem falschen Gegner gefallen, und doch könnte »ihr Blut die Saat eines besseren Morgen sein«148; nämlich wenn es gelänge, jetzt die »Mauer der polnisch-deutschen Mißverständnisse zu zerbrechen«, um polnische und deutsche Kräfte in Ostmitteleuropa gegen die »Verräter« der polnischen Nation und Europas, allen voran Moskau, zu vereinen149; darum auch die Krokodil s tränen über den Tod »Tausender Soldaten der AK, Soldaten, derer wir
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führers unter Berücksichtigung der täglich einlaufenden politischen und propagandistischen Informationen des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda festgelegt.« Powrócimy [Wir kehren wieder], in: GK, Nr. 205, 2.9.1944 [schein-illegale Ausgabe], S. 2; zur Urheberschaft Burdeckis siehe Wladyslawa Wójcik, Prasa gadzinowa Generalnego Gubernatorstwa 1939-1945, Krakow 1988, S. 213 f. Burdecki verbreitete seine Thesen auch in fünf Rundfunkreden von x\ugust bis Dezember 1944, wobei die Texte vom RSHA kontrolliert wurden, siehe die Fernschreiben zwischen HAP (Hein Schlecht) und RMVP, Abt. Pro. (Schäffer), BArch, R55, 1206, Bl. 153-214. Tu mówi Polska podziemna |Hier spricht Untergrund-Polen], in: GK Nr. 205, 2.9.1944 (schein-
illegale Ausgabe], S. 2. O sierpniowym powstaniu warszawskim |Über den Warschauer August-Aufstand], in: GK, Nr. 205, 2.9.1944 |schein-illegale Ausgabe], S. 3. Czesc polegtym powstaricom Warszawy |Ehre den gefallenen Aufständischen Warschaus!, 'n: Przelom, Nr. 11, Oktober 1944, S. 1, in Form einer Gedenkanzeige. Feliks Burdecki, Droga na wschód [Der Weg nach Osten], ebd., S. 1 f.
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»Die AK in Stalins Obhut«. UnterZeile in russißziertem Polnisch: »Du bis AKIer? Na, das ist schön. Wir haben für euch eine eigene Methode. Bei uns herrscht für alle Gleichheit sei es an der Mauer, sei es am Ast, an der gleichlangen Schnur.« —
noch bedurft hätten zur Verteidigung unseres Landes vor dem w bolschewistischen Eindringling150.« ¡f Daß der polnische Untergrund ¿ nicht bereit war, solchen Suggesti2 onen zu folgen, sondern im Wider1) stand gegen die Deutschen bis z„ zuletzt den »satanischen Parolen« aus London treu blieb, war aus AK pod opieka Stalina. Ty akakist? Nu wot prekrasno. der Sicht dieser Handvoll KollaS My dla was mamy metodç wiasna. równost to wsiem murku, U przy czy •g borateure »Dummheit« und ein równym sznurku. Czy na gatçzl. Zeichen von »Wahnsinn«, denn je mehr polnisches Blut »im sinnlosen Kampf mit den Deutschen vergossen« werde, »um so weniger Arbeit wkd in der Zukunft der NKWD haben«151. Infolgedessen konzentrierte sich die offiziöse Presse ab Spätsommer 1944 zwar mehr und mehr auf die Heimatarmee in der Rolle des Opfers sowjetischen »Verrats« und sowjetischer Verfolgungen152 und berichtete über jedes Anzeichen von Widerstand der Armia Krajowa gegen die sowjetische Besatzung153, machte jedoch «
ñas
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[Am Scheideweg], in: Na szaricach, Nr. 3, November 1944, S. 1 f., hier S. 1. Auch dieses »Informationsblatt für die Arbeiter an den Gräben« der deutschen Verteidigungsanlagen bei Krakau wurde hauptsächlich von Feliks Burdecki verfaßt, siehe Wójcik, Prasa (wie Anm. 145), Na rozdrozu...
S. 232.
J]an] E[mil] Skiwski, Glupota czuwa podlosc tez [Die Dummheit bleibt wach die Bosheit auch], in: Przelom, Nr. 1/2, Januar 1945, S. 2 f. Zur Abbildung: AK pod opiek^ Stalina [Die AK in Stalins Obhut], in: Na szaricach, Nr. 3, November 1944, S. 8. Vor allem die polnischsprachige Propaganda des GG stellte Soldaten der AK als »Opfer« des angeblich »jüdischen Bolsche-
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wismus« dar. Siehe z.B. Angielski publicysta o tragedii Warszawy [Englischer Publizist zur Tragödie Warschaus], in: GK Nr. 203, 31.8.1944, S. 1; Stahn prowokuje Polaków [Stalin provoziert die Polen], in: GK Nr. 264, 10.11.1944, S. 1; W Lublinie bolszewicy utworzyli obóz koncentracyjny dla A.K [In Lublin errichteten die Bolschewisten ein KZ für die AK], in: GK, Nr. 272, 19.11.1944, S. 1; NKWD panuje na okupowanych przez bolszewików terenach polskich [Der NKVD wütet in den besetzten polnischen Gebieten], in: GK Nr. 281, 30.11.1944, S. 1. Zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit beriefen sich diese Artikel häufig auf die polnische Exil-Presse und andere ausländische Zeitungen und Zeitschriften. Siehe: W Lubelszczyznie szaleje propaganda bolszewicka |Im Lubliner Raum tobt die bolschewistische Propaganda], in: GK Nr. 217, 16.9.1944, S. 1; Lubelski »Komitet Wyzwolericzy« silnie atakuje polski rza_d emigracyjny w Londynie [Das Lubliner »Befreiungskomitee« greift die polnische Emigrations-Regierung in London scharf an], in: GK, Nr. 222, 22.9.1944, S. 1; Zamiary bolszewików wobec Polaków |Die Absichten der Bolschewisten gegenüber den Polen], in: GK, Nr. 231, 3.10.1944, S. 1; Na tylach sowieckiego frontu powstala polska organizacja antybolsze-
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nach den »tragischen Warschauer Erfahrungen« und der Kapider miktärischen tulation Spitze der Heimatarmee noch gegen die Deutschen vor»als gewöhnkche Banditen angesehen, die zu Unrecht würden gehende Gruppen einer dem Schild faktisch unter aufgelösten Formation auftreten«154. Letztkch bkeb aus deutscher Perspektive das machten gelegentliche Abweichungen von der neuen Propagandaknie nach dem Warschauer Aufstand deutkch der gesamte polnische Untergrund weiter ein und dasselbe »chauvinistischbolschewistische Gesindel«155. Denn bis in die Tage ihres endgültigen Abzugs hinein galt für die Besatzer im GG, daß »der Deutsche dieses Raumes immer auf der Hut sein« müsse ob die Gefahr von »chauvinistischen Elementen« oder anderen »Banden der verschiedensten Schattierungen« drohte, machte dabei keinen Unterschied156.
zugleich deutlich,
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Tendenzen und Wkkungen der Propaganda gegen den polnischen Widerstand Allen Wechseln im taktischen Kalkül zum Trotz bkeb die Propaganda bis zum Schluß ihrem grundlegenden Bkd vom polnischen Widerstand gegen das deutsche Regime als dem Werk »verbrecherischer Banden« treu. An das überkommene, infolge der Grenzkämpfe nach dem Ersten Weltkrieg aktuaksierte deutsche Klischee des streitsüchtigen polnischen »Hasardeurs« und »Insurgenten« anknüpfend157, hatte es die deutsche Propaganda jahrelang beherrscht. Dabei wurde so-
[Im Rücken der sowjetischen Front entstand eine polnische antibolschewistische Organisation], in: GK, Nr. 239, 12.10.1944, S. 1; Dalsza przymusowa mobilizacja na Lubelszczyznie [Weitere Zwangsmobilisierung im Lubliner Raum], in: GK, Nr. 274, 22.11.1944, S. 1. Diese Artikel kolportierten v.a. sowjetische Anwürfe gegen die AK, so den Vorwurf der Kollaboration mit den
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Deutschen und des Untergrund-Kampfes gegen Einheiten der Roten Armee. Katastrofa warszawska nie moze wiecej sic powtórzyc [Die Warschauer Katastrophe kann sich nicht mehr wiederholen], in: GK, Nr. 262, 8.11.1944, S. 1. Der Artikel zitierte vom gleichfalls offiziösen »Nowy Kurier Warszawski« eine längere, »aus offizieller Quelle stammende« Erklärung unter dem Titel »Kriegsgefangene wird es nicht geben«. Zum direkten und indirekten Zitat als Mittel der Distanzierung von Inhalten siehe Anm. 77 und 79. Erich Filiinger, Warschau das Ende einer Illusion, in: KrZ, Nr. 260, 10.10.1944, S. 8. Die HAP (Hein Schlecht) hatte zu diesem PK-Bericht in einem Fernschreiben vom 11.10.1944 an das RMVP, Abt. Pro. (Schäffer), u.a. unter Hinweis auf obiges Zitat kritisch bemerkt, »die Polen« hätten ihn »recht übel genommen«, BArch, R 55, 1206, Bl. 315. Dennoch stellte die zuständige Abt. DP (Deutsche Presse) im RMVP die von Schäffer noch bekräftigte Kritik, »daß ähnliche Entgleisungen [...] unsere ganze Polenpolitik unmöglich machen« infrage und fand an dem Artikel nichts zu beanstanden, ebd., Bl. 316, Hinweis Schäffers an die Abt. DP vom 13.10.1944 mit Randbemerkungen vom 15.10.1944. Herbert Urban, Im Schatten der Front, in: KrZ, Nr. 328, 28.12.1944, S. 1 f., hier S. 1. Dieser Leitartikel befaßte sich vor allem mit dem andauernden »Terror« der »Banden« gegen das Haupttransportmittel des deutschen Rückzugs, die Eisenbahn. Die Anfänge dieses Klischees reichen weit über die Zwischenkriegszeit (siehe die Anm. 1, 3, 4, 7-9) zurück zur Kehrseite des infolge der polnischen Aufstände im 19. Jh. popularisierten Bild des »edlen Polen«, siehe Hubert Orlowski, »Polnische Wirtschaft«. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit, Wiesbaden 1996, S. 191-214, hier S. 208. -
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wohl in der Propaganda wie in der blutigen Wkkkchkeit des deutschen Massenterrors gegen die polnischen Vorkriegs-Eliten vor allem die Intelligenz für den politisch motivierten Widerstand der Polen verantwortlich gemacht. War der bewaffnete Widerstand zunächst fast stillschweigend unter kriminellem »Banditentum« subsumiert und damit bagatellisiert worden, so hatten die verstärkten Aktivitäten aus dem polnischen Untergrund vor allem in Form von Attentaten zur Folge, daß ab Mitte 1942 sowohl zur Schonung der Nerven der Besatzer, aber auch um nicht zu Nachfolgetaten anzuregen, über diesen polnischen Gegen-»Terror« so gut wie nicht mehr berichtet wurde. Erst seit Ende 1943 war wieder mehr vom bewaffneten Widerstand der Polen als dem Werk von durch die deutschen Kriegsgegner inspkierten die Rede »Agenten«, deren Aktivitäten vor allem den »Bolschewisten« nützten. Dieses Bild vom Widerstand fügte sich ein in die deutschen Versuche, nunmehr auch die Polen mittels Unterstreichung gemeinsamer antikommunistischer und antisemitischer Ressentiments und vagen Versprechungen auf ein »neues Europa« verstärkt zur Stützung einer »gesamteuropäischen Abwehrfront« gegen den sowjetischen Vormarsch in Anspruch zu nehmen158. Die unmittelbare Einspannung von Kollaborateuren für die polnischsprachige Propaganda erlaubte es 1944 schheßhch sogar einzuräumen, daß Ursachen für das Anwachsen des Widerstandes auch in der deutschen Politik im GG zu suchen seien um so das deutsche Regime nationalistisch, antikommunistisch und antisemitisch denkenden Polen als »kleineres Übel« gegenüber einer drohenden sowjetischen Vorherrschaft glaubwürdiger andienen zu können. Daran anknüpfend wurden die »national gesinnten« polnischen Untergrundkämpfer und namentlich die Heimatarmee nach dem Scheitern des Warschauer Aufstandes als »Opfer« vor allem der sowjetischen Kriegführung und Politik dargestellt und hierüber die Möghchkeit eines gemeinsamen »antibolschewistischen Abwehrkampfes« suggeriert. Die Wkkung dieser Propaganda auf die Hauptzielgruppe der Polen kann angesichts einer nationalsozialistischen Politik, die grundsätzlich und von Anfang an auf terroristische Machtdemonsttationen und Propaganda als Mittel der »Zersetzung« statt der Werbung setzte, als eher gering veranschlagt werden obschon für gesicherte Aussagen hier schhcht die Quellenbasis fehlt. Sie ist aber wie das taktische Kalkül dieser Propaganda stets im Kontext der Kriegslage zu sehen. Hier gibt die polnische Gegen-Propaganda Hinweise, daß besonders die antisowjetische Komponente der deutschen Propaganda ab 1943 als gefährhch angesehen wurde, da sie am ehesten auf Resonanz unter den Polen treffen konnte. Ganz anders sah es natürlich in bezug auf das deutsche Pubhkum aus. Hier deckte sich das Propaganda-Bild vom polnischen Widerstand weitgehend mit elementaren Teilen des tradierten kollektiven Polen-Bildes dieser Konsens verstärkte ohne Zweifel die Wkkungsmöghchkeiten der Propaganda. Trotzdem gaben die relativ große Breite —
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Zu ähnlichen Tendenzen in der deutschen Sicht auf die französische Widerstandsbewegung schon ab Herbst 1941 siehe Jean Solchany, Das deutsche Bild der Resistance, in: Repression und Kriegsverbrechen. Die Bekämpfung von Partisanenbewegungen gegen die deutsche Besatzung in West- und Südeuropa, hrsg. von Ahlrich Meyer, Berlin, Göttingen 1997, S. 25-42, hier S. 32 f.
»Agenten« »Opfer«
»Terroristen«
»Banditen« -
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und Dauer, mit der die nationalsozialistische Propaganda auf Polen und Deutsche im GG einwirken konnte, ihr eine Wkkungsmacht, die nicht bagatellisiert werden sollte gerade in Hinblick auf die einfachen, eingängigen und ständig wiederholten Bilder, allen voran dem der »Banditen«159. -
Jockheck, M.A., geb. 1968, wiss. Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr Hamburg, 22039 Hamburg. E-mail: [email protected] Lars
Gewiß nur ein winziges Indiz dafür, aber wohl kein Zufall ist, daß die Bezeichnung »Banditen« für die Warschauer Aufständischen vom August 1944 sowohl von einzelnen Deutschen wie auch Polen verwandt wurde, als sie sich von diesem Geschehen in ihrem Leben bedroht sahen, siehe die Dokumentation von Tagebuchnotizen zweier im Warschauer Zentrum eingeschlossener Deutscher aus dem August 1944 bei Krzysztof Kosiiiski, Marcin Kula und Pawel Sowinski, Trzy pokolenia, in: Polska Niemcy Europa. Ksiega Jubileuszowa z okazji siedemdziesia.tej rocznicy urodzin Profesora Jerzego Holzera, hrsg. von Katarzyna Karaskiewicz, Warszawa 2000, S. 285-303, hier S. 285-291, und ein Zitat aus Interviews mit ehemaligen Aufständischen zur Stimmung unter den von Kämpfen betroffenen polnischen Zivilisten bei J|anusz| K|azimierz] Zawodny, Nothing But Honour. The Story of the Warsaw Uprising, 1944, London 1978, S. 158. —
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Anke
Stephan
»Banditen« oder »Helden«? Der Warschauer Aufstand in der Wahrnehmung deutscher Mannschaftssoldaten Heinrich
Himmler, Reichsführer SS, reagierte prompt, als
die polnische Heimateinen 1944 in Warschau Aufstand August gegen die deutsche Besatam auslöste: Noch selben befahl daß die gesamte Bevölkerung er, zungsmacht Tag Warschaus ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht zu erschießen und die Stadt dem Erdboden gleichzumachen sei, um »Europa zu zeigen, was es bedeutet, einen Aufstand gegen Deutsche zu unternehmen«1. Infolge dieses Befehls begingen die in Warschau eingesetzten Verbände systematisch Massaker an der Zivilbevölkerung, vergewaltigten, plünderten, steckten ganze Häuserblöcke in Brand und erschossen die Bewohner. »Die in den Rücken gefallenen Banditen bezahlen mit der Zerstörung ihrer Hauptstadt«, notierte der 23jährige Wehrmachtssoldat Heinz Stechbarth, der in Warschau zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt war, in sein Tagebuch2. Am 2. Oktober 1944 kapituherten die Aufständischen nach völkerrechthchen Bedingungen und bekamen zugesichert, daß sie gemäß der Genfer Konvention als Kriegsgefangene behandelt würden. Beeindruckt verfolgte der Tagebuchschreiber Stechbarth die mihtärische Übergabe Warschaus und den Marsch der Aufständischen in die Gefangenschaft: »Ein Bild, das uns Achtung abzwingt«, schrieb er am 5. Oktober 1944. »Alle die nationalbewußten Polen [...] marschieren zackig daher, ebenso zackig sind ihre Kommandos3.« Die Widersprüchhchkeit der deutschen Haltung Vernichtongsbefehl und totale Zerstörung vs. Kapitolationsbedingungen nach Kriegsvölkerrecht spiegelt die beiden Pole wider, zwischen denen sich die nationalsozialistische Besatzungspolitik in Polen seit Anfang 1943 bewegte4: Auf der einen Seite hielten führende armee am
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3 4
Der Himmler-Befehl liegt als Quelle zwar nicht vor, wird aber von mehreren Augenzeugen in ähnlichem Wordaut überliefert. Das Zitat stammt von Dr. Hartlieb, Stabsarzt der Brigade Dklewanger, zit. nach Hanns von Krannhals, Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a.M. 1962, S. 309. Bundesarchiv (BArch), ZSg 122/5, Tagebuch Heinz Stechbarths, Eintrag vom 8.9.1944 (S. 31). Ebd., 5.10.1944 (S. 47). Vgl. Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, Frankfurt a.M. 1965, S. 191 f.; Gerhard Eisenblätter, Grundlinien der Politik des Reiches gegenüber dem Generalgouvernement 1939-1945, Phil. Diss., Frankfurt a.M. 1969; Czeslaw Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939-1945, Berlin 1987; Christioph Kiessmann, Die deutsche Kriegführung im Osten und die Besatzungspolitik in Polen: Revisionsbestrebungen angesichts drohender in:
Niederlagen,
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Stephan
Nationalsozialisten wie Heinrich Himmler mit Judenvernichtung, Partisanenkrieg, grausamen Vergeltungsmaßnahmen und Massenhinrichtungen ungebrochen an der NS-Ideologie fest. Andererseits traten Vertreter der Zivilverwaltung, des Propagandaministeriums und Teile der Wehrmacht dafür ein, die Polen durch Zugeständnisse für eine »antibolschewistische Front« im Kampf gegen die Rote Armee
gewinnen5. Die Behandlung der Armia Krajowa nach Genfer Konvention stellte ein solches Zugeständnis dar. Weit entfernt von den Überlegungen der Führungsebene waren auf deutscher Seite diejenigen, die im Warschauer Aufstand Befehle ausführten: die Soldaten der Wehrmacht. In aussichtsloser Lage mußten sie nach der militärischen Katastrophe vom Sommer 1944 im Rücken der Front den Aufstand bekämpfen, während auf der anderen Seite der Weichsel die weit überlegene Rote Armee die Flußüberquerung vorbereitete. Die Weichsel sollte unbedingt gehalten werden, denn sie war das letzte große Hindernis vor dem Reichsgebiet. Aber statt die sowjetischen Brückenköpfe zu bekämpfen, rang ein Teil der Frontsoldaten in zähen Kämpfen mit den Aufständischen tage- und wochenlang um einzelne Sttaßenzüge oder Häuserblocks. Wie erlebte ein durchschnittlicher deutscher Mannschaftssoldat den Warschauer Aufstand »unten, wo das Leben konkret war«6? Welches Feindbild hatte er? Wie nahm er sein Gegenüber, die Armia Krajowa, wahr? Welchen Eindruck gewann er vom Leben der Zivilbevölkerung? War er mit Himmler und Hitler von der grundsätzlichen Minderwertigkeit des Slawentums überzeugt? Oder war er aus pragmatischen Gründen dazu geneigt, die Polen in eine »antibolschewistische Front« einzureihen? Welche Auswkkungen hatten NS-Ideologie und Propaganda auf seine Wahrzu
nehmung? Mein Beitrag versucht, ausgehend von diesen Fragen, einen Einblick in die Gedankenwelt deutscher Mannschaftssoldaten zu liefern7. Anhand der Vorstellungen vom Feind (Heimatarmee) und der feindlichen Umgebung (Warschau) sollen ihre Wahrnehmungsmuster, Werte, Ideale und ihre Ideologie analysiert werden. In den letzten Jahren wurde in der Forschung viel darüber diskutiert, welches nun der Beitrag der Mannschaftssoldaten zum nationalsozialistischen Vernichtungskrieg Der Warschauer Aufstand 1944, hrsg. von Bernd Martin und Stanislawa Lewandowska, Warschau 1999, S. 72-79; Heinrich Schwendemann, Die Kapitulation: Deutsche Vergeltungsmaßnahmen und deutsches Werben um eine antibolschewistische Front, in: ebd., S. 234-253, sowie den Beitrag von Bernhard Chiari in diesem Band. Exemplarisch: Generalgouverneur Hans Franks Denkschrift an den »Führer«, veröffentlicht in: Nacht über Europa. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938-1945), hrsg. von Wolfgang Schumann und Ludwig Nestler, Bd 2: Die faschistische Okkupationspolitik in Polen, Köln 1989, Dokument Nr. 150, S. 271 ff. Zit. nach Wilhelm R. Beyer, Stalingrad unten, wo das Leben konkret war, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine von unten, hrsg. von Wolfram Wette, 2. Aufl., München, Zürich 1995, S. 240-254. Dieser Beitrag geht hervor aus: Anke Stephan, Zwischen Vernichtungsfeldzug und Genfer Konvention. Die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes von 1944 durch die Deutschen. Unveröffentlichte Zulassungsarbeit zum Staatsexamen im Fach Geschichte, Universität Freiburg i.Br. 1998.
Militärgeschichte
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gewesen sei8. Am Beispiel der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes wird deutkch, daß die Befehlsempfänger nicht nur aufgrund der miktärischen Diszipkn und des strengen Gehorsams zu ausführenden Organen der nationalsoziakstischen Führung wurden, sondern auch selbst als Träger der Ideologie und Teil der gigantischen Destruktionsmaschine handelten. Die hier untersuchten Themenbereiche die Eindrücke vom Kampfplatz Warschau, die Auseinandersetzung mit den Zielen der Heimatarmee, die Wahrnehmung der eigenen Truppe sowie der Soldatinnen und Soldaten der Armia Krajowa zeigen aber auch, daß die Wehrmachtssoldaten die Deutungsangebote der nationalsoziakstischen Ideologie und Miktärpropaganda nicht einfach übernahmen, sondern daß ihre Wahmehmungsmuster bedeutend komplexer und vielschichtiger waren als die Propagandabilder.
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Forschungsstand, methodische Vorüberlegungen, Quellenlage Es ist kein Zufall, daß die Perspektive des »Landsers« bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes bislang gänzkch unerforscht blieb. Lange Zeit dominierten in der Miktärgeschichtsschreibung »Haupt- und Staatsaktionen«9, große Schlachten, große Männer, taktische und technische Fragen. Damit machte sich die Forschung eine Perspektive zu eigen, welche die unteren Ränge des Miktärs1" ledigkch als »Befehlsempfanger«, »Verschiebemasse« oder gar »Kanonenfutter« ansah". Es herrschte die Vorstellung, der einfache Soldat führe ohnehin nur aus, was von oben vorgegeben werde12. Seitdem nun, angeregt von Aktagsgeschichte13 und Kul8
Omer Bartov, Hiders Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek bei Hamburg 1995; Stephen G. Fritz, Flitlers Frontsoldaten. Der erzählte Krieg, Berlin 1998; Klaus Latzel, Deutsche Soldaten nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn [u.a.] 1998. Eine lesenswerte Rezension der genannten Beiträge liefert Thomas Kühne: Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg und die »ganz normalen Deutschen«. Forschungsprobleme und Forschungstendenzen der Gesellschaftsgeschichte des Zweiten Weltkrieges. Erster Teü, in: Archiv für Sozialgeschichte (ASG), 39 (1999), S. 580-662; ders., Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg im kulturellen Kontinuum des 20. Jahrhunderts. Forschungsprobleme und Forschungstendenzen der Gesellschaftsgeschichte des Zweiten Weltkrieges. Zweiter Teü, in: ASG, 40 (2000), S. 440-486. Wolfram Wette, Militärgeschichte von unten. Die Perspektive des »kleinen Mannes«, in: Der Krieg des kleinen Mannes (wie Anm. 6), S. 9-47, hier S. 9. Eine Ausnahme bilden die Untersuchungen über Fahnenflüchtige und die deutsche Müitärjustiz von Manfred Messerschmidt und Franz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienst des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987. In bezug auf den Zweiten Weltkrieg sind damit die 99,7 Prozent der 20 Millionen Wehrmachtsangehörigen gemeint, die keinen höheren Offiziersrang (vom Major an aufwärts) besaßen, also Mannschaften, Unteroffiziere und niedere Offiziersdienstgrade, die nicht zur Führungselite zähl-
Vgl.
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ten.
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Wette, Militärgeschichte von unten (wie Anm. 9), S. 9. Vgl. Fritz, Hitlers Frontsoldaten (wie Anm. 8), S. 18.
Stellvertretend für viele: Alf Lüdke, Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a.M., New York 1989; ders., Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Geschichte. Ein Grundkurs, hrsg. von Hans-Jürgen Goertz, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 557-578; speziell für den Nationalsozialismus: Die Reihen fast ge-
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Stephan
turwissenschaft14, auch in der Mihtärgeschichte Forschungsarbeiten den Kriegsalltag aus der Perspektive des »kleinen Mannes« untersuchen, hat sich dieses Bild
Zum Verständnis von Kriegen und ihren Funktionsmechanismen ersich als fruchtbar, danach zu fragen, wie das Verhältnis einfacher Soldaten zum Herrschaftssystem aussah, welchen Anteil sie an den Strukturen hatten und wie diese wahrgenommen wurden. Da jede Armee ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, die sie hervorbrachte, wkd hier ein Beitrag zur Erforschung historischer Pro-
gewandelt15. weist
es
zesse
geleistet16.
Für die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg heißt das konkret: Wenn die Wehrmachtssoldaten für Hitler und den Nationalsozialismus kämpften, so müssen sie sich in kgendeiner Weise mit seiner Ideologie, zumindest aber mit dem Ziel und Zweck des Krieges, auseinandergesetzt haben. Weiterhin heißt dies auch, den »kleinen Mann« in der Armee in seiner Doppelrolle als Täter und Opfer zu fassen17. Der Wehrmachtssoldat war Teü eines gewaltigen Vernichtongsapparates. Indem er im Auftrag eines verbrecherischen Regimes tötete und zerstörte, half er zwangsläufig (aus eigener Überzeugung oder wider Willen), dessen Ziele zu verwkkhchen. In seiner Opferrolle war der Mannschaftssoldat durch den Zwang, Befehle widerspruchslos zu akzeptieren, psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt, der Angst, dem Hunger und der Kälte. Wenn sich Historikerinnen und Historiker nun daranmachen, den AUtag und die Mentahtät des einfachen Soldaten zu erforschen, sind sie zunächst vor das Problem gesteht, geeignete Quellen aufzutreiben. Den Kriegstagebüchern der Müitärführung sind die unteren Ränge in der Regel keiner Erwähnung wert. Insofern ist man auf die Äußerungen von Soldaten selbst angewiesen. Im Gegensatz zu früheren Kriegen, wo die Soldaten zumeist Analphabeten waren, hat man bei Forschungen zur Wehrmacht den großen Vorteil, daß es sich um eine weitgehend alphabetisierte Armee handelte, deren Angehörige eine beträchtliche Zahl von Selbstzeugnissen hinterlassen haben: Feldpostbriefe, Tagebuchaufzeichnungen, Erinnerungen und Erzählungen. Eine Schwierigkeit besteht allerdings darin, diese aufzufinden18, denn solche Quellen werden in den Archiven in der Regel nicht systematisch erfaßt und aufbewahrt. So gleicht die gezielte Suche nach Zeugnissen
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schlössen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, hrsg. von Detlev Peukert und Jürgen Reulecke, Wupptertal 1981. Vgl. Heiko Haumann und Martin Schaffner, Überlegungen zur Arbeit mit dem Kulturbegriff in den Geschichtswissenschaften, in: uni nova. Mitteilungen aus der Universität Basel, 79 (1994), S. 19-34. Exemplarisch: Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und der Friedenserziehung, hrsg. von Peter Knoch, Stuttgart 1989; Kain, wo ist Dein Bruder? Was der Mensch im Zweiten Weltkrieg erleiden mußte dokumentiert in Tagebüchern und Briefen, hrsg. von Hans Dollinger, Frankfurt a.M. 1987. Vgl. Fritz, Hitlers Frontsoldaten (wie Anm. 8), S. 20. Vgl. Wette, Militärgeschichte von unten (wie Anm. 9), S. 14. Zur Quellenproblematik ebd., S. 21. -
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bestimmten Kriegsereignissen häufig der nach einer Stecknadel im Heuhaufen: Funde sind meistens Zufallstreffer19. Entsprechend konnten nur drei schriftliche Zeugnisse aus dem Warschauer Aufstand ausfindig gemacht werden: das persönhche Kriegstagebuch Heinz Stechbarths, das dieser dem Bundesarchiv Anfang der sechziger Jahren zur Verfügung stellte20; die Erinnerungen Hans Thiemes, aufgezeichnet unmittelbar nach Kriegsende auf der Basis von Tagebuchnotizen21; 13 Feldpostbriefe Paul Schumanns an seine Familie22 nebst einer selbst verfaßten Satire über den Warschauer Aufstand23. Weitere Selbstzeugnisse aus Warschau fanden sich ebensowenig in den einschlägigen Queüensammlungen24 wie im Bundesarchiv-Mihtärarchiv oder in der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart25. Die schriftlichen Zeugnisse wurden ergänzt zu
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einzige verstichwortete Sammlung von Feldpostbriefen und persönlichen Tagebüchern oder Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg befindet sich in der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart (Sammlung Sterz). Im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg (BA-MA) ist nur ein Bruchteil dieser Quellen systematisch geordnet. Feldpostbriefe werden des weiteren noch gesammelt im Niedersächsischen Staatsarchiv in Osnabrück und im Landeshauptarchiv in Koblenz. Vgl. dazu Wolf Dieter Mohrmann, Die Sammlung, von Feldpostbriefen im Niedersächsischen Staatsarchiv Osnabrück. Gedanken zu Genese, Quellenwert und Struktur, in: Kriegsalltag (wie Anm. 15), S. 25-39, bzw. Joachim Dollwett, Menschen im Krieg. Bejahung und Widerstand? Eindrücke und Auszüge aus der Sammlung von Feldpostbriefen des Zweiten Weltkrieges im Landeshauptarchiv Koblenz, in: Jahrbuch für Westdeutsche Landesgeschichte, 1.3 (1987), Die
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S. 279-322. Das Institut für Kommunikationswissenschaft, Medienwissenschaft und Musikwissenschaft der TU Berhn baut derzeit in Kooperation mit dem Museum für Kommunikation, Berlin, eine neue Feldpostbriefsammlung unter Leitung von Katrin Kilian auf. Geplant ist eine systematische Erfassung, Digitalisierung und Transkription von Feldpost sowie eine Datenbank. Weitere Informationen mit Links und Literaturliste auf der Website unter www.feldpostarchiv.de. Tagebuch Stechbarth (wie Anm. 2). Auf der ersten Seite der Abschrift ist vermerkt, das Stechbarth sein Tagebuch zunächst im Original zur Verfügung stellte, dieses aber wieder zurückgegeben wurde. Die Kopie im Bundesarchiv ist ungekürzt. Hans Thieme, Erinnerungen eines deutschen Stabsoffiziers an den Warschauer Aufstand, in: Der Warschauer Aufstand (wie Anm. 4), S. 301-307. Der zweite Erinnerungsbeitrag in diesem Band (Hasso Krappe, Der Warschauer Aufstand in der Erinnerung eines Offiziers der Wehrmacht, S. 293 296) wurde für diese Untersuchung nur am Rande herangezogen, weil der Autor sich erstens weitgehend auf militärische Aspekte beschränkt und zweitens Sekundärliteratur in breiterem Umfang hinzugezogen hat. Name geändert. Feldpostbriefe Paul Schumanns, Privatarchiv Astrid Irrgang, welche die Briefe im Rahmen einer Hausarbeit auswertete; vgl. Astrid Irrgang, Der Warschauer Aufstand in den Feldpostbriefen des P.S. ein mentalitätsgeschichtlicher Versuch, SS 1996, Kopie in meinem Privatbesitz. Die Arbeit wird an der Universität Freiburg i.Br. derzeit zur Dissertation erweitert. Die Satire trägt den Titel »Kampf im Dschungel« (im weiteren: Satire). Vgl. Hans-Joachim Schröder, Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten, Tübingen 1992; »Ich will raus aus diesem Wahnsinn«. Deutsche Briefe von der Ostfront 1941-1945. Aus sowjetischen Archiven, hrsg. von Anatoly Golovchansky, Wuppertal 1991; Dollinger, Kain (wie Anm. 15); Das andere Gesicht des Krieges, hrsg. von Ortwin Buchbender und Reinhold Sterz, München 1982; Kriegsbriefe gefallener Studenten, hrsg. von Hans und Walter Bahr, Tübingen, Stuttgart 1952. Die Sammlung Sterz in der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart enthält zwar vier Briefe aus dem Warschauer Aufstand, aber da es sich jeweils nur um kurze Notizen handelt und da sie alle -
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durch Interviews mit den ehemaligen Wehrmachtssoldaten Hans Klein und Georg Färber26. Trotz intensiver Suche erklärten sich nicht mehr Veteranen zum Interview bereit, was unter anderem mit den Diskussionen um die Wehrmachtsausstel-
lung zusammenhängt. Zeugnisse aus Warschau sind aber auch deswegen rar, weil die gegen den Warschauer Aufstand eingesetzten Wehrmachtsverbände, die zur 9. Armee gehörige 19. und 25. Panzerdivision, während des Aufstandes und vor allem in den Kämpfen mit der Roten Armee danach immens hohe Verluste erlitten
haben27. Da die untersuchten Selbstzeugnisse verschiedenen Gattungen angehören, ist es vonnöten, sich im Vorfeld der Untersuchung mit dem jeweikgen Quellenwert auseinanderzusetzen. Im allgemeinen werden Briefe und Tagebücher als wertvollere Zeugnisse eingeschätzt als Zeitzeugeninterviews, denn: »Der Tagebuch- und Briefschreiber weiß im allgemeinen nicht, ob das, was er im Augenblick für wichtig hält, bezogen auf den weiteren Verlauf seines Lebens tatsächlich wichtig ist28.« Allerdings stellt sich bei Feldpostbriefen die Frage, inwieweit Zensur und Selbstzensur den Aussagewert schmälern. Die Briefe Paul Schumanns lassen erkennen, daß der Schreiber sich von der Zensur vermutlich wenig beeinflussen ließ, denn die Briefe sind im Hinblick auf die Kriegslage insgesamt von sehr pessimistischer Stimmung geprägt und enthalten (vorsichtige) Kritik an der deutschen Herrschaft in Polen. Wolfram Wette weist darauf hin, daß die Briefeschreiber sich mit zunehmender Verzweiflung und Verschlechterung der Lage immer weniger an die Zensurvorschriften hielten29. Selbst wenn Zeitzeugenbefragungen weniger unmittelbar sind als Tagebücher oder Briefe und Geisteshaltung und Ideologie weniger eindeutig erkennen lassen (die damalige Einstellung zum Geschehen wkd oftmals als überholt dargestellt3"), sind sie in ihrem Ertrag für die historische Forschung nicht zu unterschätzen. Sie haben beispielsweise den Vorteil, daß die befragten Personen die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis zu anderen Erlebnissen in Bezug setzen können. Selbst verschiedenen Autoren stammen, wurde darauf verzichtet, sie in die Quellenanalyse mit aufzunehmen. Namen geändert. Die Interviews wurden Anfang 1998 geführt. Färber berichtet in seinem Interview davon, daß von seiner zur 25. Panzerdivision gehörigen 500 bis 600 Mann starken Abteilung nur etwa 32 Kameraden aus den Gefechten mit der Roten Arvon
mee am
Warka-Brückenkopf »rausgekommen« seien.
Schröder, Die gestohlenen Jahre (wie Anm. 24), S. 163. Wolfram Wette, Die Stimme des »kleinen Mannes«. Ausgewählte Feldpostbriefe deutscher Soldaten, in: Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, hrsg. von Wolfram Wette und Gerd Ueberschär, Frankfurt a.M. 1992, S. 80 f., hier S. 80. Zur Arbeit mit Feldpostbriefen im allgemeinen liegt mittlerweile eine Fülle von Forschungen vor: Latzel, Deutsche Soldaten (wie Anm. 8); ders., Tourismus und Gewalt. Kriegswahrnehmung in Feldpostbriefen, in: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 -1945, hrsg. von Hannes Heer und Klaus Naumann, Hamburg 1995, S. 447-459; Martin Humburg, Das Gesicht des Krieges. Feldpostbriefe von Wehrmachtssoldaten aus der Sowjetunion 1941-1944, Wiesbaden 1998; Thilo Stenzel, Das Rußlandbild des »kleinen Mannes«. Gesellschaftliche Prägung und Fremdwahrnehmung in Feldpostbriefen aus dem Ostfeldzug (1941-1944/45), München 1998; Klara Löffler, Aufgehoben: Soldatenbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Studie zur subjektiven Wirklichkeit des Krieges, Bamberg 1992. Herwart Vorländer, Mündliches Erfahren von Geschichte, in: Oral-History: mündlich erfragte Geschichte. Acht Beiträge, hrsg. von Herwart Vorländer, Göttingen 1990, S. 7-28, hier S. 21.
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»Banditen« oder »Helden«?
bestimmte Sachverhalte vergessen oder verdrängt werden, bleibt immer noch die Mögkchkeit, Andeutungen oder Assoziationen unter Hinzuziehung schriftkcher Quellen zu interpretieren31, die hier neben den Selbstzeugnissen in Form von Aktenmaterial vorhegen32. Der Vergleich mit schriftkchen Belegen ist eine Prämisse der Arbeit mit »Oral-History«33. Fragkch bleibt, ob die Auswertung von fünf Selbstzeugnissen eine Verallgemeinerung ihrer Aussagen zuläßt. Dieses Problem wird sich bei Quellen dieser Art immer stellen, denn selbst eine ungleich höhere Anzahl an Aussagen wäre im Sinne einer quantitativ-statistisch arbeitenden Soziologie nicht repräsentativ34. Folgkch wurden hier die fünf Wehrmachtsangehörigen nicht als Repräsentanten der Masse der Soldaten aufgefaßt, sondern als Beispiele dafür, wie fünf Menschen die gleiche Extremsituation den Warschauer Aufstand verarbeiteten und deuteten. Die Quellen weisen zum Teil erstaunkche Gemeinsamkeiten auf. Folghch können Thesen formukert und zumindest für die hier verwandten Zeugnisse belegt werden. Wenn auch im folgenden generaksierend von den Wehrmachtssoldaten oder den Soldaten die Rede ist, so sind nur diese fünf Quellen gemeint. Für die Vergleichbarkeit der Aussagen sprechen auch folgende Übereinstimmungen in den Biographien der Soldaten: Sie gehören (bis auf Thieme, der 1906 geboren wurde) zu den Jahrgängen 1920 bis 1922. Es ist also davon auszugehen, daß sie bereits weitgehend im Geist des Nationalsoziaksmus erzogen worden sind und ihre Soziaksation in den prägenden Institutionen des »Dritten Reiches« erfahren haben (Hitlerjugend, Reichsarbeitsdienst, Wehrdienst). Zwar stammen die Soldaten aus unterschiedkchen Gesellschaftsschichten (Färber und Stechbarth sind Söhne von Landwirten, Schumann kommt aus einem Lehrerhaushalt, Klein aus einer preußischen Offiziersfamihe), aber alle verfügen über Gymnasialbildung. Nach dem Abitur bzw. Notabitur sind sie zum Reichsarbeitsdienst und Wehrdienst eingezogen, danach an die Front geschickt worden. Sie hatten also zur Zeit des Warschauer Aufstandes drei bis fünf Jahre Einsatzerfahrung.
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Vgl. Lutz Niethammer, Heimat und Front. Versuch, zehn Kriegserinnerungen aus der Arbeiterklasse des Ruhrgebietes zu verstehen, in: »Die Jalare weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll«. Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, hrsg. von Lutz Niethammer, Berlin, Bonn 1982, S. 163 332, hier S. 164. Die assoziative Ebene kam in meinen Zeitzeugeninterviews beispielsweise folgendermaßen zum Ausdruck: Zwar antworteten beide Interviewpartner auf die Frage nach Massakern an der Zivübevölkerung, daß sie davon nichts mitbekommen hätten, verbanden das -
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Stichwort »Massaker« aber sofort mit »den Kosaken« (damit waren die »fremdvölkischen« Einheiten auf deutscher Seite gemeint), die sie dafür verantwortlich machten. BA-MA, RH 19 II, Akten der Heeresgruppe Mitte; BA-MA, RH 20-9, Kriegstagebuch der 9. Armee nebst Anlagen; BArch Berlin, R 55, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda; BArch Koblenz, ZSg 122, Sammlung zur NS-Besatzungspolitik in Osteuropa; Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (International Military Tribunal [im weiteren IMT]), Nürnberg, 14. Nov. 1945-1. Okt. 1946, 42 Bde, Nürnberg 1947-1949. Vgl. Vorländer, Mündliches Erfahren (wie Anm. 30), S. 11. Vgl. Schröder, Die gestohlenen Jahre (wie Anm. 24), S. 110.
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Kampfplatz Warschau: Wahrnehmung des Warschauer Aufstandes und der polnischen Metropole Der
Welche Erlebnisse und Erinnerungen verbindet ein »Landser« mit dem Warschauer Aufstand? Rein militärisch gesehen, so berichten die Quellen, habe der Aufstand »nur eine Nebenerscheinung« der Einsätze dargesteüt (Färber) und sei eher »am Rande gelaufen« (Klein). Psychologisch und emotional jedoch hat der Aufstand tiefe Erschütterungen im Inneren der Soldaten hervorgerufen und sie, sofern sie den Krieg überlebten, noch lange beschäftigt. Daß der Warschauer Aufstand als »Nebenerscheinung« charakterisiert wurde, erklärt sich dadurch, daß als Hauptfeind die Rote Armee galt. »Unser Feind war der Russe, und mit dem hatten wir so viele Probleme, daß das andere nur unter >ferner liefen< kam. Daß wir da zur Niederschlagung des Aufstandes eingesetzt wurden, das paßte uns eigentlich überhaupt nicht, weü wir dachten: Unser Feind ist der Russe! Da haben wir genug mit zu tun.« (Klein)
Der Aufstand wird also zunächst vor dem Hintergrund einer Frontsituation wahrgenommen, die nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 von der Angst geprägt war, die Rote Armee könne auf Reichsgebiet vordringen. »Es ging nur noch um die Frage: >Was können wk ton, damit die Russen nicht deutsches Gebiet betteten?< Davor hatten wk große Angst«, berichtet Klein. Die Weichsel galt als letztes Hindernis vor der Invasion des Reichsgebietes. Insofern war es um so bedrohhcher, daß die Rote Armee schon zwei Brückenköpfe besaß, zu deren Bekämpfung während des Aufstandes immer wieder Einheiten aus Warschau abgezogen wurden. In diesem Sinne schreibt auch Stechbarth etwa um die Zeit des Aufstandsbeginns in sein Tagebuch: »Die Hauptsache ist, daß die Front
hält35!«
Insgesamt hatten die Mannschaftssoldaten zu diesem Zeitpunkt vermutlich resigniert. Früher als die politische und mihtärische Führung, so die Forschungsergebnisse Manfred Messerschmidts, hätten die einfachen Soldaten durchschon
schaut, daß die Niederlage Hitler-Deutschlands nicht mehr aufzuhalten war. Schon
seit Mitte 1943 habe der »Defätismus als verdecktes Massenphänomen« um sich Davon zeugen auch die Feldpostbriefe Paul Schumanns. Im Juh 1944 schreibt er in einem hterarischen Versuch, es herrsche unter den jungen Soldaten das »Bewußtsein, für eine verlorene Sache zu kämpfen und dabei wahrscheinhch umkommen zu müssen«37. Dennoch, so berichtet jedenfalls Georg Färber im Interview, habe man noch einen Funken Hoffnung gehabt, daß die Rote Armee an der Weichsel aufzuhalten sei oder eine diplomatische Lösung gefunden werde.
gegriffen36.
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Tagebuch Stechbarth (wie Anm. 2), Eintrag vom 30.7.1944 (S. 6).
Manfred Messerschmidt, Der »Zersetzer« und Denunziant, in: Der Krieg des kleinen Mannes (wie Anm. 6), S. 255-278, hier S. 276; vgl. auch den Beitrag von Detlef Vogel im selben Sammelband: Der Kriegsalltag im Spiegel von Feldpostbriefen (1939-1945), S. 199-212, hier S. 203-205. Paul Schumann, Ein Gespräch, Juli 1944, S. 1.
»Banditen« oder »Helden«?
481
Zunächst konzentrierten sich aüe Kräfte auf die Weichselfront; die Wehrmacht mußte dann aber die bittere Erfahrung machen, daß sie den Aufstand unterschätzt hatte. Aus vielerlei Gründen sollte er für alle der hier zur Wort kommenden Soldaten zu einem besonders prägenden Kriegserlebnis werden. Zunächst einmal war die Kampfsitoation ungewöhnhch: Die zur Aufstandsbekämpfung eingesetzten Truppen mußten sich mitten in einer europäischen Metropole Haus um Haus und Straße um Straße vorarbeiten. Zum einen hatten die Häuserkämpfe, so berichten Selbstzeugnisse und Dokumente der 9. Armee übereinstknmend, außergewöhnlich hohe Verluste zur Folge, denn die jungen Rekruten waren schlecht darauf vorbereitet38. Andererseits gruben sie sich in das Gedächtnis der Soldaten ein, weil sie dadurch unmittelbare Feindberührung hatten. Selten standen sich im Zweiten Weltkrieg die gegnerischen Truppen unmittelbar gegenüber. Der Einsatz von Panzern, Kampfflugzeugen und modernen Vernichtungswaffen bewkkte nach Klaus Latzel in der Regel ein »Abschlachten auf Distanz«39. Das bedeutete, daß man den Gegner gewöhnhch nur schemenhaft wahrnahm4". Anders in Warschau: Hier bekamen durch die Enge der Großstadt die feindhchen Soldatinnen und Soldaten ein Gesicht. Darüber hinaus wurden auch das Leben der Zivübevölkerung und die Alltagskultur schärfer wahrgenommen41. Die Bevölkerung Warschaus, die aus der brennenden Stadt floh, sei der »erschütterndste Anbhck« seines Kriegserlebens gewesen, berichtet Thieme in seinen Erinnerungen42, und Schumann konstatiert, daß sich der Warschauer Aufstand von allem bis dahin Erlebten deutlich unterscheide. »Warschau«, schreibt er seiner Verlobten, »zeigt zuerst und am schärfsten das wahre Gesicht des Krieges«43, in dem sich »die Grausamkeit in die Potenz« steigere44, und das vor allem, weil die ganze Bevölkerung in den Krieg mit einbezogen sei. Männerleichen sei er längst gewohnt, aber nicht den Anbhck von toten Kindern und zerrissenen Frauenleibern, in deren Resten er »noch einstige blühende Reize« erkenne. Das seien Bilder, »die man nicht vergißt«45. »Wie hätte ein Bosch seine Höllenphantasien gemalt, wenn er das gesehen hätte?« fragt er46. Schumann wünscht sich sehnhchst, die Heimat möge vor der täghch fortschreitenden »Vereinheithchung« des »totalen Krieges [...] der in Europa noch Unterschiede in seiner Form hat«, verschont bleiben47. Denn in Warschau erkenne 38
39 40 41
42 43 44
45 46
47
Interview Farber; Interview Klein; Tagebuch Stechbarth (wie Anm. 2), exemplarisch: 4.8.1944 (S. 9), 6.8.1944 (S. 14 f.), 9.8.1944 (S. 16), 15.8.1944 (S. 20), 20.8.1944 (S. 25), 28.9.1944 (S. 43); BA-MA, RH 20-9, vgl. beispielsweise Einträge ins Kriegstagebuch vom 2.8. (S. 27), 9.8. (S. 41), 10.8. (S. 44), 12.8. (S. 49), 15.8. (S. 52 und 55), 17.8. (S. 60), 20.8. (S. 70), 21.8. (S. 72), 28.8. (S. 94). Latzel, Deutsche Soldaten (wie Anm. 8), S. 206. Ebd., S. 207. So sagt Klein, der Warschauer Aufstand habe ihn noch lange Zeit nach dem Krieg beschäftigt, weü sich die ganze Zeit über Zivilisten im Kampfgebiet befunden hätten. Es seien Menschen getötet oder verletzt worden, »die eigentlich mit dem Kampf gar nichts zu tun hatten«. Thieme, Erinnerungen (wie Anm. 21), S. 303. Schumann, Brief vom 28./29.9.1944. Schumann, Brief vom 26.8.1944. Ebd. Schumann, Brief vom 22.9.1944. Einen Eindruck von der Realität des Einsatzes vermitteln die Fotos im Bildteil des vorliegenden Sammelbandes. Schumann, Brief vom 30.8.1944.
Anke Stephan
482 er
deutlicher als
kerung bedeute.
je zuvor, daß »totaler Krieg« die Einbeziehung der ganzen BevölSchumann meint, seine Angehörigen mit den Schilderungen aus
Warschau warnen zu müssen, damit sie ein realistisches Bild vom wahren »Charakter dieses Krieges« gewännen48. »Wie wolltet Ihr richtig danken, wenn alles an Euch vorüberging?«49, schreibt er seinen Eltern am 30. August 1944. Der Konjunktiv läßt erkennen, daß Schumann im Grunde genommen nicht mehr damit rechnet, daß der Krieg noch eine glückliche Wendung nehmen und seine Familie verschont bleiben werde. »Was seinem Zuhause beim Einmarsch der Alliierten droht, läßt ihn der Warschauer Aufstand erahnen: nämlich das, was die deutschen Truppen jetzt Warschau zufügen. Warschau wkd also zur Projektion, zur Vorwegnahme dessen, was seiner Heimat mögkcherweise noch widerfahren wird5".« Die anderen Selbstzeugnisse ziehen ebenfalls Parallelen zwischen der Situation in Warschau und der »Heimatfront«, wenn auch nicht so deutlich wie Schumann. Klein beispielsweise vergleicht die Zerstörungen in der polnischen Hauptstadt mit denen, die der Bombenkrieg der Allkerten in den deutschen Städten hinterlassen hat. Ebenso erinnern Stechbarth die verwüsteten polnischen Wohnhäuser daran, daß die Bomben auch in Deutschland »die schönsten Wohnungseinrichtungen in Schutt verwandelten«51. Anscheinend bewirken also die Zerstörungen in Warschau durch die eigene Artillerie! eine Assoziation mit der Lage in den deutschen Städten. Und Warschau weckt bei den meisten Heimatgefühle: »Die Architektur, das Stadtbild und das Straßenbild«, so Färber, »das war wie eine deutsche Stadt auch. Da gab es keinen Unterschied.« Insbesondere erregen die Wohnverhältnisse die Aufmerksamkeit der Soldaten. Alle befinden sie als ausgesprochen vornehm und geschmackvoll. Stechbarth, der aus ländlichen Verhältnissen stammt, bewundert die Pracht der polnischen Wohnungen und vermutet, daß ihre Eigentümer »Professoren und Doktoren«52 seien (das heißt, daß sie aus einer höheren Schicht kamen als er selbst). Um so barbarischer erscheint es ihm, daß seine Kameraden sich an dem fremden Eigentum schadlos halten und plündern. In dieser Hinsicht kennt Schumann keine Hemmungen. Begeistert schreibt er seinem bürgerkchen Elternhaus, daß er mit dem Beutegut »ein Wohnzimmer im Stil unseres Eßzimmers« eingerichtet habe53. Inmitten von geschmackvollen Möbeln, edlen Stoffen, Kerzen, Grammophon und Musik (Beethoven) käme wkkliche »Heimstimmung« auf54, und mit alten Kunstbüchem und Katalogen lasse er es sich »väterlich« wohl sein55. Die Warschauer Wohnungen wecken die Erinnerung an sein eigenes Zuhause. Immer wieder streunt er durch verlassene Häuser und Wohnungen und beschreibt in seitenlangen Briefen die requirierten Schätze: elegante Möbel, stilvolle Kunstge—
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48
Ebd.
49
Ebd.
50
Vgl. Hausarbeit von Astrid Irrgang (wie Anm. 23), S. 26. Vgl. Tagebuch Stechbarth (wie Anm. 2), 20.8.1944 (S. 24).
51 ^ 53
54
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Ebd.
Schumann, Brief vom 30.8./1.9.1944. Ebd.
Schumann, Brief vom 22.9.1944.
»Banditen« oder »Helden«?
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wertvolle Teppiche und Gobekns. »Häufig habe ich hier eine hohe Wohnkultur und schöne moderne Möbel gesehen«, schreibt er seinen Eltern. »Ich glaube, ein besonders ausgeprägter Sinn dafür scheint den kleinen, vor allem slawischen Völkern gegeben zu sein [...] Deutschland kommt da freihch nicht mit56.« Dem Heimatland, dessen »ewige Kulturtaten« Himmler beschworen hatte57, spricht er daher die Legitimation seines kulturellen Sendungsbewußtseins ab. In diesem Sinne bemerkt er zynisch: »Ja, ja die Kulturträger Europas, die tragen schon was weg!«58, nimmt moraksch aber keinen Anstoß daran, trotz Plünderungsverbots die polnischen Wohnungen auszuräumen. Im Vordergrund steht, daß ihm die Berührung mit einer ihm vertrauten Kultur Kraft und Ablenkung verleiht59. Das Ausplündern der polnischen Hauptstadt ist für ihn ledigkch Ausdruck einer allgemeinen Weltuntergangsstimmung60 (die ihn aber nicht dazu veranlaßt, das eigene Handeln in Frage zu stellen). Daß die Bevölkerung Warschaus, zumindest das Bürgertum, sozial und kulturell auf dem gleichen Niveau stehe wie die Bevölkerung der deutschen Städte, betont auch Hans Thieme. Über die Misere der Zivilbevölkerung im Warschauer Aufstand schreibt er:
genstände,
diesem Elend besonders naheging, war, daß es sich diesmal nicht, wie in ganz arme, sowieso schon jammervolle Gestalten handelte, sondern um Menschen unserer Gesellschaftsschicht [...] Das hatte mich immer schon, während der kurzen Aufenthalte in Warschau, dort so beelendet: der Blick aus soviel feindlichen Augen, von Menschen unserer Kultur61.« Bezeichnend ist, daß er mit Rußland vergleicht, wenn er konstatiert, daß die Ein»Was einem
Rußland,
an
um
wohner Warschaus zum eigenen Kulturkreis zählen. Mögkcherweise fällt den deutschen Soldaten deswegen so deutkch auf, daß Warschau »westkchen« Charakter hat, weil sie zuvor in Rußland eingesetzt waren. Die russischen Lebensverhältnisse wurden zumeist als »Elend« bezeichnet ein Elend, das die Armee durch den brutalen Ostfeldzug freihch zum Teil selbst erzeugt hatte. Das Rußlandbild ent—
56 37
38 ,9
Schumann, Brief vom 16.9.1944. Heinrich Himmler, Denkschrift über die Behandlung der Fremdvölkischen
im Osten vom Mai 1940. Hier heißt es: »Die Bevölkerung wird als führerloses Arbeitervolk zur Verfügung stehen [...]; sie wird selbst dabei mehr zu essen und zu leben haben als unter polnischer Herrschaft und bei eigener Kultarlosigkeit unter der strengen [...] und gerechten Leitung des deutschen Volkes berufen sein, an dessen ewigen Kulturtaten und Bauwerken mitzuarbeiten [...]«, in: »Der Warschauer Aufstand 1944«. Hinweise und Materialien zur Ausstellung 1994, als Manuskript vervielfältigt [kurz: Materialsammlung zur Ausstellung 1994], S. 6. Die Ausstellung wurde veranstaltet von der Hauptkommission zur Untersuchung der Verbrechen gegen die polnische Nation in Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv. Schumann, Brief vom 16.9.1944. Ebd. sowie Brief vom 30.8.1944. Zu seiner Freude gereichen Schumann nicht nur die schönen Einrichtungsgegenstände, die er in den Warschauer Wohnungen findet, sondern auch die Schallplatten: »auf einem Grammo hörte ich gestern schon restlos entspannt Beethoven, vor aUem Egmont. Statt aller nationalpolitischen Reden sollte man uns Beethoven hören lassen es ist der Kraftquell«. Hervorhebung von Schumann. »Doch jetzt wird eine Metropole ausgeräumt unter dem Motto: Vornehm geht die Welt zugrunde! Nach uns die Sintflutx«, Schumann, Satire (wie Anm. 23), S. 6. Thieme, Erinnerungen (wie Anm. 21), S. 304. Hervorhebungen von mir. -
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Stephan
sprach, wie neue Forschungen zeigen, ziemhch genau dem, das die deutsche Propaganda den Soldaten vermittelt hatte62. In bezug auf Warschau läßt sich jedoch feststellen, daß die Wehrmachtssoldaten in ihren Schilderungen durchwegs ein Polenbüd zeichnen, das in keinster Weise dem glich, was die nationalsozialistische Ideologie vermitteln wollte, nämlich daß »auch der letzten Kuhmagd in Deutschland« klargemacht werden müsse, »daß das Polentum gleichwertig ist mit Untermenschentom«, daß »Polen, Juden und Zigeuner« auf der »gleichen unterwertigen menschhchen Stufe« stünden63. Zumindest der polnischen städtischen Oberschicht wkd kulturelle Gleichrangigkeit zugemessen.
grundsätzlich eine gewisse Bereitschaft bestand, sich mit der Kultur Gegners auseinanderzusetzen, wie sieht es dann auf politischer Ebene aus?
Wenn also
des
Waren sich die Wehrmachtssoldaten im klaren über die Ziele des Aufstandes? Was woüte die Armia Krajowa in ihren Augen erreichen? Wie beurteilten sie die Stimmung in der Zivilbevölkerung angesichts der heranrückenden Roten Armee? Disebenso wie die Armeeführung kutierten sie Möghchkeiten einer deutscheiner im »antibolschewistischen Front«? Rahmen polnischen Kooperation —
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Die politische Lage: Auseinandersetzung mit den Zielen der Armia Krajowa und der Stimmung in der polnischen Bevölkerung Die Mannschaftssoldaten scheinen im Bilde gewesen zu sein über die Ziele der Aufständischen und insbesondere über die Angst der Polen vor der herannahenden Roten Armee. Schon damals, so berichtet Färber, hätten sie gewußt, daß die »sogenannten Nationalpolen« mit dem Aufstand den Russen zuvorkommen wollten, um einer antikommunistischen und nationalen Regierung eine Chance zu geben. Fäber weiter: das war ja bekannt. Nicht bekannt war uns, daß mitderweüe eine kommunistische Division in der russischen Armee gab, die von polnischen Gefangenen aufgestellt wurde. Das hat uns ein polnischer Gutsbesitzer, bei dem wir mal eingeladen waren, ein paar Wochen später erklärt. Dieser war, ich will nicht sagen deutsch gesonnen, aber er war zumindest ein Gegner des Kommunismus [...] Das heißt jetzt aber nicht, daß er die Angelegenheit Hitler für gut geheißen hat. Die Nationalpolen waren natürlich in erster Linie deshalb eher zu Deutschland geneigt, weil der Kommunismus die noch größere Gefahr für Polen war. Deswegen waren sie Rußland feindlicher gesonnen als Deutschland.« Wie Färber behaupten auch Klein und Thieme, den Wehrmachtssoldaten sei da-
»[D]aß es diese nationale Gruppe gab, es
mals klar gewesen, daß der Aufstand 62 63
politisch
gegen die
Sowjetunion gerichtet
Vgl- Latzel, Deutsche Soldaten (wie Anm. 8), S. 245-255, sowie Bartov, Hitlers Wehrmacht (wie Anm. 8), S. 225 f. Anweisung des Reichsministeriums für Propaganda und Volksaufklärung vom 24.10.1939, in: Materialsammlung zur Ausstellung 1994 (wie Anm. 57), S. 5.
»Banditen« oder »Helden«?
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gewesen sei. Die Aufständischen hätten, so Thieme, beim Herannahen der Roten Armee Polens Selbständigkeit gegenüber der Sowjetunion sichern wollen64. Ebenso bezeugen die unmittelbar vor Ort entstandenen schriftlichen Quellen, daß die Mannschaftssoldaten über Informationen in bezug auf Ansinnen und Ziele des Feindes verfügten. Als »hochinteressant« bezeichnet beispielsweise Stechbarth die »Nachrichtengebung des Feindes«, insbesondere die Pläne der »Volksarmee« (wie er die Heimatarmee nennt) »über den zukünftigen Staatsaufbau eines demokratischen, aber unter keinen Umständen sowjetischen Polens«65. Und immer wieder betont er die »historische Feindschaft« zwischen Russen und Polen. So schreibt er, die Polen würden stets »zwischen zwei Feuern stehen«. So sehr sie die Deutschen auch hassen mögen, »der Russe« sei ebensowenig ihr Freund66. Gerade wegen dieser »historischen Feindschaft« zwischen Polen und Russen kritisiert er die Brutalität, mit welcher die Deutschen den Aufstand niederschlügen, insbesondere die Strategie der »verbrannten Erde«: »Möge unsere Führung nicht blind eine Stadt auslöschen wollen [...] nicht daß man sich durch unnötige Schärfe auch die Stimmung des großen Teils der Zivilbevölkerung verdkbt, die wie Pilsudski immer russenfeindlich eingestellt war67.« Es sei zu befürchten, daß sich die Deutschen mit ihrem Terror die Mögkchkeiten vereiteln würden, die traditionell russenfeindliche Stimmung der Polen auszunutzen. In diesem Zusammenhang wkd auch bei Schumann vorsichtige Kritik an der deutschen Besatzungsherrschaft laut, denn schließlich habe die es zu verantworten, daß die Polen jetzt deutschfeindlich gesonnen seien und sich erhöben: »Was konnten die Polen dafür, daß sie kein Staat mehr waren, keine Wehrmacht mehr hatten? (Unter deutscher Verwaltung möchte ich auch nicht gelebt haben)«, schreibt er nach der Kapitulation der Aufständischen an seine Mutter68. Zwar wkd hier die deutsche Herrschaft in Polen andeutungsweise kritisiert, weil die Polen den Deutschen jetzt ablehnend gegenüber stünden, aber von einer möglichen Zusammenarbeit ist nicht die Rede. Die »antibolschewistische Front«, über die auf F'ührungsebene so eifrig diskutiert wurde69, scheint für die Mannschaftssoldaten keine allzu große Bedeutung gehabt zu haben. Es gibt zahkeiche Hinweise, daß die Soldaten von der geplanten Zusammenarbeit mit der Armia Krajowa informiert waren oder propagandistisch darauf vorbereitet wurden: So versichert Färber, von dem Kooperationsangebot der 9. Armee an General Tadeusz »Bor« Komorowski Kenntnis gehabt zu haben; Klein schildert, wie nach 64 65 64
« 68 69
Interview Klein; Thieme, Erinnerungen (wie Anm. 21), S. 305. Tagebuch Stechbarth (wie Anm. 2), 30.8.1944 (S. 28).
Ebd., 26.7.1944 (S. 4). Ebd., 12.8.1944 (S. 18) Schumann, Brief vom 6.10.1944. Vgl. beispielsweise Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik (wie Anm. 4), S. 190; Stephan, Vernichtungsfeldzug (wie Anm. 7), S. 21-24, 56-59; Schwendemann, Die Kapitulation (wie Anm. 4); vgl. auch zahlreiche Quellen aus den Archivbeständen der Wehrmacht und des Propagandaministeriums, exemplarisch: BA-MA, RH 20-9/229, »Banden-Abendmeldung« vom 12.8.1944 sowie »Banden-Morgenmeldung« vom 18.8.1944; BArch Berlin, R 55/1206, Bericht über den Kriegseinsatz der Hauptabteilung Volksaufklärung und des GG (Generalgouvernement), ohne Datum (vermutlich August
Propaganda 1944).
in der
Regierung
Anke
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dem Aufstand versucht worden sei, das Verhältnis zu den Polen zu verbessern; Stechbarth gibt in seinem Tagebuch den Wortlaut einer Ansprache seines Bataillonskommandeurs wider, der explizit auf eine bevorstehende mihtärische, gegen die Rote Armee gerichtete Kooperation verweist:
»Warschau blutet aus tausend Wunden und wird nie wieder aufgebaut werden. Es war ein fremdes Volkstum, was gegen uns gekämpft hat, das erkennt man an der grausamen Behandlung unserer Kriegsgefangenen. Trotzdem scheint es durch diplomatische Mittel gelungen zu sein, sie für uns zu gewinnen, so daß die Feinde von gestern Bundesgenossen von morgen im Kampf gegen den Bolschewismus werden können70.«
Selbstzeugnisse lassen nicht erkennen, ob sie einer möghchen »antibolschewistischen Front« irgendeine Bedeutung beimaßen, jedenfalls schienen sie keine konkreten Vorstellungen oder Hoffnungen damit zu verbinden. Weshalb, muß freihch Spekulation bleiben. Ich vermute, die Soldaten hatten so weit resigniert, daß sie ohnehin nicht mehr davon ausgingen, die Niederlage sei noch abzuwenden, auch nicht durch neue Bündnispartner. Dies bedeutet aber auch, daß sie die brutale Niederschlagung des Aufstandes hinnahmen und die Möghchkeit einer Alternative von vornherein ausschlössen. Auffälhg bleibt, daß fast alle Quellen ausführlich von der antikommunistischen und russenfeindlichen Stimmung in Polen sprechen und zudem den Eindruck vermitteln, als sei das Verhältnis zwischen der polnischen Bevölkerung und den Soldaten der deutschen Wehrmacht allgemein gut gewesen. Fast alle schildern freundschaftliche oder herzhche Kontakte mit polnischen Zivihsten, so als wäre der Terror der Besatzungszeit spurlos an ihnen vorübergegangen. Klein erzählt beispielsweise, wie polnische Bahnangestellte einer deutschen Einheit, die während des Aufstandes den Bahnhof besetzt hielt, Wäsche gewaschen und Essen gekocht hätten. Und barber betont, daß außerhalb Warschaus, am Warka-Brückenkopf, ein sehr gutes Verhältnis bestanden habe zwischen Polen und Wehrmachtssoldaten sogar so gut, daß ein deutscher Offizier Weihnachten 1944 in der Christmette die Orgel gespielt habe. (Beide Zeitzeugen erwähnen diese Kontakte bezeichnenderweise, ohne daß sie ausdrücklich danach gefragt wurden). Die Freundlichkeit und Herzhchkeit der polnischen Dorfbevölkerung schildert auch Schumann mit warmen Worten, als er in einem Brief seiner Verlobten von einer Einkaufsfahrt auf das Land schwärmt71. Diese vielbeschworenen herzhchen Kontakte mit Einheimischen lassen sich am ehesten mit einem tiefen Verlangen nach emotionaler Nähe und Geborgenheit erklären. Wahrscheinlich hat sich ein 20jähriger Soldat danach gesehnt, daß ihm mal wieder jemand die Wäsche wäscht und ihm Essen kocht. Warschau und seine Umgebung erinnern ihn nach dem Rußlandfeldzug an die Heimat und wecken möglicherweise auch Heimweh. So schreibt Schumann an seine Mutter: »Ich muß immer an dich denken, wenn ich diese armen brauen hier sehe, die es freihch noch schwerer haben72.« Dennoch entspricht die freundschafthche Haltung der Polen Die
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70 71 72
Tagebuch Stechbarth (wie Anm. 2), 5.10.1944 (S. 48). Schumann, Brief vom 29.8.1944. Schumann, Brief vom 6.10.1944.
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wohl eher einem Wunschdenken als der Reaktät. Breite Teile der Bevölkerung verhielten sich sokdarisch mit den Aufständischen und waren den Deutschen gegenüber feindhch gesinnt73 besonders nach den Massakern an der Zivilbevölkerung im Warschauer Aufstand. Es ist bekannt, daß deutsche Einheiten während der Erhebung schreckliche Kriegsverbrechen begangen haben74. Allein in den ersten Tagen töteten die unter Befehl der SS stehenden deutschen Truppen75 zwischen 20 000 und 40 000 Ziviksten76. Es ist schwer nachzuweisen, ob auch Wehrmachtseinheiten an diesen Massakern beteikgt waren77. Fest steht jedoch, daß auch die Wehrmacht im Warschauer Aufstand Kriegsverbrechen beging. Menschen wurden etwa als lebende Schutzschilde vor Panzern hergetrieben78. Die Armee plünderte Warschau systematisch79 und ging planvoll nach dem Prinzip der »verbrannten Erde« vor. Sie setzte gegen die Aufständischen vor allem schwere und überschwere Waffen ein. Mit Geräten wie dem »Gokath« (einem ferngesteuerten Minipanzer), der ursprüngkch für die Maginot-Linie konstruiert worden war, sprengte die Wehrmacht Warschauer Wohnhäuser sturmreif mit dem ausdrückkchen Ziel, die Stadt restlos zu vernichten8". Während des Aufstandes wurden 30 Prozent der Bausubstanz zerstört und etwa 150 000 Ziviksten getötet81. Angesichts dieses Grauens stellt sich die Frage, wie die Soldaten der Wehrmacht ihren eigenen Kampfeinsatz in Warschau bewerteten, zumal anscheinend ihr Feindbild immer —
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73
The Civilian Population and the Warsaw Uprising of 1944, Cambridge 1982, f.; Richard Lukas, The Forgotten Holocaust. The Poles under German Occupation (1939 -1944), Lexington 1986, S. 204 f. Vgl. Krannhals, Der Warschauer Aufstand (wie Anm. 1), S. 122-127; Hanson, The Civilian Population (wie Anm. 73), S. 87-92; Lukas, The Forgotten Holocaust (wie Anm. 73),
Joanna Hanson, S. 96
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mehr verschwamm. Die Wahrnehmung des eigenen Tuns und der eigenen Truppe interessiert des weiteren besonders in Hinbhck auf den Eindruck, den die Soldaten von ihrem Gegenüber, der polnischen Heimatarmee, hatten. Der eigene
Kampfund die eigene Truppe
Obwohl die Wehrmachtssoldaten so wie es in den hier analysierten Selbstzeugnissen zum Ausdruck kommt Warschau als kulturelle Metropole wahrnahmen und hochschätzten, und obgleich sie den Kontakt zur einheimischen Bevölkerung suchten und durchweg als positiv charakterisierten, kritisierten sie die eigene Kampfstrategie im Warschauer Aufstand kaum. Die Quellen zeugen zwar zum Teil von Erschütterung über die Wkkung der Kampfmittel und die planvolle Zerstörung der Stadt, aber die Autoren betrachten die Wehrmacht selbst nicht als verantwortlich für diese Strategie der »verbrannten Erde«82. Für die Massaker an der Zivilbevölkerung machen die Mannschaftssoldaten vor allem die unter Befehl der SS stehenden »fremdvölkischen« Einheiten verantwortlich. Kurz nach Beginn des Aufstandes wurden von deutscher Seite Spezialttuppen eingesetzt, die schon vorher für ihre Brutalität berüchtigt waren. Es handelte sich beispielsweise um die SS-Sturmbrigade RONA (Russische Nationale Befreiungsarmee), eine faschistische russische Kampfgruppe unter Führung von Mieczyslaw Kaminski, einem in Rußland aufgewachsenen Deutsch-Polen83. Neben der RONABrigade kämpften ukrainische, aserbaidschanische und georgische Hüfsttuppen in Warschau84. Aber auch Truppen unter deutscher Führung, besonders das berüchtigte SS-Sonderkommando Dklewanger, erschossen Tausende von Zivihsten, vergewaltigten und brandschatzten85. Das Augenmerk der Wehrmachtssoldaten gilt jedoch einzig den »Fremdvölkischen«. Es ist vielsagend, wie diese beschrieben werden: Kaminski, in den Augen Hans Thiemes ein »wilder kaukasischer Typ«86 (ein Deutsch-Pole!), sei der Anfüh-
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So erzählt Klein beispielsweise, wie ihn nach dem Aufstand das Schicksal der Zivilbevölkerung beschäftigte, andererseits schildert er völlig sachlich, wie Mörser und Sturmgeschütze im Häuserkampf effizient genutzt wurden, hebt aber nicht hervor, daß vor allem die Zivilbevölkerung unter dem Einsatz dieser Waffen zu leiden hatte. Exemplarisch ist auch das Zitat von Schumann: »Stukas, ein Panzerzug, Flak, Mörser, Werfer, wir, alles pflastert in 3 Häuser«, schreibt er in seiner Satire. Und weiter unten heißt es: »Da wird dann ein Wasserrohr gesprengt und alles ersäuft. Oder man schafft Taifun, schlagende Wetter, in Flaschen herbei und läßt die Leiber in Explosion aufquellen«. Schumann, Satire (wie Anm. 23), S. 5. Gleichzeitig zerreiße es ihm beim Anblick von Kinderphotographien in den Wohnungen das Herz. Ebd., S. 4. Daß er diese Kinder möglicherweise selbst auf dem Gewissen hat, deutet er an in dem Zitat: »Männerleichen ist man gewohnt [...] aber wenn man Kinder ...«. Schumann, Brief vom 28./29.9.1944. Zur Biographie Kaminskis vgl. Lukas, The Forgotten Holocaust (wie Anm. 73), S. 198. Vgl. Krannhals, Der Warschauer Aufstand (wie Anm. 1), S. 127. Materialsammlung zur Brigade Dklewanger im BArch Koblenz, ZSg 122/37, und IMT (wie Anm. 32), Bd 20, S. 419, sowie Bd 4, S. 514 f. (letztere Quelle besonders zum brutalen Vorgehen der Brigade in Rußland). Thieme, Erinnerungen (wie Anm. 21), S. 305.
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einer »berüchtigten Räuberbrigade« gewesen, eines »Aserbaidschanen-Bataillons«, das aus »wilden Gesellen« bestand, »die ihr Mütchen an der Zivilbevölkerung kühlten, plündernd und brandschatzend nach Herzenslust«87. Dieses Bkd von den »Aserbaidschanen« (von den anderen meist »Kosaken« genannt), kehrt in allen Selbstzeugnissen aus dem Warschauer Aufstand wieder. »Kosaken« und »Aserbaidschanen« waren anscheinend Sammelbegriffe, welche die Wildheit und mangelnde Zivilisation der »fremdvölkischen« Einheiten besonders deutkch hervorhoben88. »Die Kosaken kommen! Sie dürfen plündern«, heißt es in Schumanns Satire. »Und der Offizier, der einschreiten will, wenn sie Weiber vergewaltigen, die Brüste abschneiden [...], ist dran«89. Nicht die Armia Krajowa, die »Partisanen«, die eigentlichen Feinde oder allgemein »die Polen« werden in den Selbstzeugnissen als fremd und unzivilisiert beschrieben und mit rassistischen Vorurteilen belegt, sondern die »Fremdvölkischen«, die auf Seiten der Deutschen kämpften. Die Polen zählen in den Augen der Soldaten zum kultivierten Europa, die »Kosaken« gelten hingegen als fremde »asiatische Horde«, die dem europäischen Kulturkreis fernsteht. Stechbarth, der Anfang August mit einem Versorgungsbataillon durch Ochota fuhr, meint beispielsweise »die Wildheit der Steppe« an ihnen zu erkennen9". Schumann beschreibt ihr fremdländisches Aussehen: gerade Kerle mit Ledergesichtern auf kleinen Pferden, schwere Säbel, Pelzmütze, Kaleschen und Panjewagen91; und in Kleins Erinnerung treten die Kosaken auf, »wie wenn Sie heute einen Westernfilm im Fernsehen schauen«: Sie hätten »Messer quer im Mund« gehabt und da, wo gar nicht geschossen wurde, die größten Helden gemimt; »sie sahen für unsere Begriffe aus wie die Vandalen.« Wie läßt sich diese seltsame Umdeutung des Feindbildes erklären? Andeutungen finden sich bei Schumann. Mit beißendem Spott spricht er in seiner Satire von der Uneinheitlichkeit der deutschen »Stämme«, die in Warschau je einzeln kämpfen: »Kosaken, Muselmanen, Polizisten und Landesschützen«. Im Gegensatz dazu würden die Polen trotz politischer Differenzen Geschlossenheit demonstrieren92. Mögkcherweise stört es Schumanns Vorstellungen von Nation, »Volksgemeinschaft« oder Kameradschaft93, daß die deutsche Armeeführung nach der Kriegswende immer mehr auf nicht-deutsche, sogar »asiatische« Verbände zurückgriff; in seinem ersten Brief aus Warschau umreißt er die dortige Situation mit den Worten: »Europa kämpft in Warschau, halb Asien dazu.« Auf jeden Fall läßt sich festhalten, daß die Soldaten die »fremdvölkischen Einheiten« in den eigenen Reirer
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Ebd., S. 304. Tatsächlich setzten sich die »fremdvölkischen« Verbände nur zu einem geringen Anteil aus wirklichen Kosaken zusammen. Vielmehr handelte es sich um Russen und Ukrainer, zum Teil aber auch Aserbaidschaner und Georgier. Schumann, Satire (wie Anm. 2.3), S.
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3.
Stechbarth (wie Anm. 2), 5.8.1944 (S. 6): »Zwischen geschwärzten Mauern torkelten Kosaken umher, die Wildheit der Steppe sieht man jetzt wieder an ihnen. Ohne Skrupel räuchern sie aus und plündern, was ihnen unter die Finger kommt«. Schumann, Satire (wie Anm. 23), S. 3. Ebd., S. 2 f. Zur Bedeutung dieser Begriffe für den Soldaten vgl. Latzel, Deutsche Soldaten (wie Anm. 8).
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hen als störend empfanden und die Geschlossenheit der polnischen Nation im Warschauer Aufstand tief bewunderten, wie auch im folgenden Abschnitt deutlich werden wkd, in dem es um das Bild vom eigenthchen »Feind«, dem Soldaten bzw. der Soldatin der polnischen Heimatarmee, geht. Der Feind: Soldatinnen und Soldaten Krajowa in den Augen der Wehrmacht
der Armia
Auf den ersten Bhck deuten die Quellen eine ambivalente Haltung gegenüber der Heimatarmee an. Die Aufständischen gelten einerseits als hinterhältige »Banditen« oder »Heckenschützen« (SS-Jargon für Partisanen), die der Armee in einer äußerst prekären Situation in den Rücken gefallen sind. Andererseits bewundern die deutschen Soldaten Tapferkeit und Nationalstolz der Polen im allgemeinen und der Heimatarmee im besonderen. Exemplarisch sind Stechbarths Tagebuchausführungen zum Thema: In einigen Passagen spricht er von den Aufständischen wie die deutsche Propaganda; er nennt sie »Banditen«94, »fanatische Polen«95 oder gar »kommunistische Bandenbewegung«96. Letzterer Begriff zeugt nicht unbedingt von politischem Unverständnis. Stechbarth war sehr wohl bekannt, daß die Armia Krajowa dezidiert antikommunistisch eingestellt war97. »Kommunistische Bande« ist eher ein stereotypes Feindbild. Es ist auffällig, daß die Wehrmachtssoldaten immer im Zusammenhang mit Racheakten auf Propagandabilder wie »Banditen«, »Heckenschützen« oder eben auch »Kommunisten« zurückgreifen, wenn sie beispielsweise erwähnen, daß Soldaten der Heimatarmee nach der Gefangennahme erschossen werden: »Da waren eben sechs Banditen gefangengenommen worden [...] Sie durften sich in unserer Gärtnerei ein Grab schaufeln und wurden dann hineingelegt98.« Es erscheint psychologisch nahehegend, daß ein Soldat bei der Exekution des Gegners sein stereotypes Feindbild heraufbeschwört, um sich von dem Vorgang zu distanzieren. Selbst Schumann, der ausschließhch positiv von der Heimatarmee schreibt und von Anfang an von einem »Heldenkampf der Polen« spricht, bezeichnet im Zusammenhang mit einer Hinrichtung die Angehörigen der Heimatarmee als »Banditen«: »Die sich ergeben, werden erschossen Banditen] Genickschuß, die nächsten drauflegen Genickschuß99!« Die sofortige Exekution von Partisanen »an Ort und Stelle« entsprach den Kampfanweisungen an die Truppe, die bei Beginn des Rußlandfeldzuges in Kraft traten1"". Obwohl diese seit Mai 1944 nicht mehr galten1"1, wurden bis etwa Mitte -
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Tagebuch Stechbarth (wie Anm. 2), 4.8.1944 (S. 11).
Ebd., 1.9.1944 (S. 30). Ebd., 12.8.1944 (S. 18). Ebd., 30.8.1944 (S. 28). Ebd., 19.8.1944 (S. 23). Schumann, Satire (wie Anm. 23), S. 5. Exemplarisch: BA-MA, RH 191/243, Kampfanweisung der Wehrmacht für die Bandenbekämpfung im Osten, 11.11.1942.
»Banditen« oder »Helden«?
491
September gefangengenommene Angehörige der Armia Krajowa erschossen. Erst mit Beginn der Diskussion um den Kombattantenstatus für die polnische Heimatarmee hörten die Hinrichtungen auf. Für die Wahrnehmung des Feindes wurde neben den Kampfanweisungen auch die Militärpropaganda prägend. Sie charakterisierte das Partisanentum als verabscheuungswürdigstes aller Verbrechen, auf das die deutsche Seite »angemessen«, sprich mit Racheakten, zu reagieren habe1"2. Für die grausamen Vergeltungsmaßnahmen wurde die Schuld einzig den Widerstandskämpfern zugewiesen1"3. In diesem Sinne versuchte kaum ein Soldat, die Existenz der Partisanen vor dem Hintergrund des Vernichtungskrieges der deutschen Wehrmacht zu sehen. Vielmehr entlasteten sie ihr Gewissen mit Formukerungen wie: »Die in den Rücken gefallenen Banditen bezahlen mit der Zerstörung ihrer Hauptstadt1"4.« Bei fehlendem Feindkontakt spricht Stechbarth mit Achtung oder zumindest mit Verständnis vom Gegner: »Es ist nicht verwunderlich, daß die Höhere Technische Fachschule [das Polytechnikum, Stechbarths Einsatzort] besonders zum Sammelpunkt der nationalbewußten und
deutschfeindlichen
Intelligenz wurde. Wie überall auf der Welt die Studenten im natioKampf an erster Stelle stehen, so verhält es sich auch hier mit den Schülern des Polytechnikums, 20- bis 24jährige Burschen1"5.« nalen
Die
polnischen Studenten handeln also genauso, wie es die jungen Leute in Deutschland nach Meinung Stechbarths auch tun. Sie verschreiben sich der nationalen Sache und entsprechen damit einem Ideal, das der Tagebuchschreiber scheinbar selbst verinnerlicht hat: Junge Männer sollen vorne »in der Gefahrenzone« eingesetzt werden, »zur Verteidigung des Vaterlandes«11"'. In den übrigen Quellen überwiegt der Respekt vor der polnischen Heimatarmee. Der Interviewpartner Färber streicht heraus, daß die Armia Krajowa von Anfang an als reguläre Truppe gegolten habe, die im übrigen auch die deutschen Kriegsgefangenen gut behandelt haben soll (was beides nicht stimmt; aber das unterstreicht nur, daß er ein recht positives Bild von der Heimatarmee bewahrt hat). Er spricht darüber hinaus von einer »sehr fairen Auseinandersetzung« zwischen Wehrmacht und Armia Krajowa, in der letztere »opferreich und tapfer« gekämpft habe. Auch Klein, der die Aufständischen einerseits als »arme Irre« bezeichnet, die der Front widerrechtkch in den Rücken gefallen seien und dabei leichtsinnig ihre Hauptstadt der Vernichtung überantwortet hätten, betont die 101
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Nach der neuen Regelung vom 6.5.1944 (BA-MA, RH 191/243) waren »Banditen in feindlichen Uniformen und Zivil als Kriegsgefangene zu behandeln [...] Banditen in deutscher oder verbündeter Uniform zu erschießen«. Vgl. Bartov, Hitlers Wehrmacht (wie Anm. 8), S. 195; Latzel, Deutsche Soldaten (wie Anm. 8), S. 189 f. So finden sich in Selbstzeugnissen häufig Formulierungen wie in dem folgenden Zitat aus einem Feldpostbrief: »Da [in Rußland] wird man Zeuge jüdischer, bolschewistischer Grausamkeit, wie ich sie aber auch kaum für möglich gehalten hatte [...] Du kannst Dir denken, daß so etwas nach Rache schreit, die aber auch durchgeführt wird«, nach: Das andere Gesicht des Krieges (wie Anm. 24), S. 72 f. Tagebuch Stechbarth (wie Anm. 2), 8.9.1944 (S. 31).
Ebd., 18.8.1944 (S. 21 f.). Ebd., 30.7.1944 (S. 6).
Anke
492
Stephan
und merkt in diesem Zusammenhang an, er bewundere sowieso die Vaterlandshebe der Polen, von denen »wk Deutschen uns eine Scheibe abschneiden« könnten. Nach der Kapitulation erkennt er den Aufständischen auf seine Art mihtärische Ehren zu: Nachdem er einen Gefangenentransport nach Deutschland begleitet hatte, habe er wie beim Staatsbesuch zusammen mit einem Oberst der Heimatarmee salutierend die Reihen der polnischen Kriegsgefangenen abgeschritten und sich mit folgenden Worten verabschiedet: »Herr Oberst, meine Mission ist beendet. Ich hoffe, daß wk uns unter anderen Umständen, zu anderen Zeiten, in Frieden einmal wiedersehen«. Überhaupt scheint die Kapitulation und Übergabe Warschaus die Mannschaftssoldaten sehr beeindruckt zu haben. Mit Bewunderung verfolgt Stechbarth den Marsch der Aufständischen in die Gefangenschaft. Aus den »Banditen« werden »alle die nationalbewußten Polen«1"7, die zackig marschieren würden; vor allem die brauen und Mädchen im Gefolge der Armia Krajowa haben es ihm angetan, »manche davon wie die Bhtzmädels und Schönheiten darunter«, schwärmt er1"8. Und anerkennend unterstreicht er die militärische Leistung der Heimatarmee: »Wk merken, daß sie nicht der Kampf, sondern der Hunger bezwungen hat1"9.« Restlos begeistert von diesem Marsch ist auch Schumann, der aber schon vor der Kapitulation von einem »Heldenkampf der Polen« spricht11". Gleich in zwei langen Briefen hält er seine Gedanken über die Kapitulation der Aufständischen fest: »Eisern« seien die Polen in die Gefangenschaft marschiert, schreibt er seinem Vater111, und der Mutter: »an den verwischten schmerzerfüllten Gesichtern der Frauen vorbei im Gleichschritt in Viererreihen [...], unverzweifelt und von unbeugsamem Nationalstolz! Vorbildlich112]« Berechtigt seien die soldatisch ehrenhaften Bedingungen, die Polen hätten sie sich »durch das wirklich Heldenhafte ihres Kampfes verdient«. »Immerhin kämpften sie, Gott sei's geklagt, besser als wk.« Ergriffen ist er auch von den zahllosen Zivüisten, die sich auf der Straße versammelten, um die Soldaten zu verabschieden. »Der sichtbare Rest des Volkes nimmt Abschied von seinen Männern«, beschreibt er das Szenario113. Daß aber nicht nur Männer, sondern auch brauen im Gefolge der Heimatarmee mitmarschierten, ruft bei Schumann wie schon bei Stechbarth besondere Beachtung hervor: Statt sich unter die Zivihsten zu mengen »eine weniger strenge Behandlung wäre ihnen sicher gewesen« —, seien sie tapfer in die Gefangenschaft marschiert, bemüht, »genauso zackig zu sein wie die Männer und die zehnjährigen Jungen, die unter diesen marschierten, frisch und frech!«. Auch für Färber
Tapferkeit der Heimatarmee
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>°7
Ebd., 5.10.1944 (S. 47).
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Ebd., 5.10.1944 (S. 48).
In diesem Sinne merkt er nach der Kapitulation des Stadtteils Mokotów allem die brennenden Häuser, die ausgebliebene russische Unterstützung und der Hunger den Nationalstolz der Polen überwunden hätten, aber nicht die Tatsache, daß die Deutschen militärisch überlegen gewesen seien. Schumann, Brief vom 21.8.1944. Schumann, Brief vom 5.10.1944. Schumann, Brief vom 6.10.1944. Schumann, Brief vom 5.10.1944. an,
110 1,1 1 '2
113
daß
vor
»Banditen« oder »Helden«?
493
sind die Frauen und Kinder, die am Aufstand teknahmen, etwas ganz Außergewöhnliches114. Vielleicht beeindruckt der Einsatz von Frauen und Kindern deshalb so sehr, weil die Erhebung Warschaus dadurch den Charakter eines tatsächlichen »Volksaufstandes« bekommt. Dieser »Volksaufstand« verleitet Schumann zu einigen Schlußfolgerungen, die bestätigen, was sich in seiner Wahrnehmung der polnischen Hauptstadt schon angedeutet hatte: Er überträgt den Kampf der Polen gegen die Deutschen auf den »Endkampf«, der dem deutschen Volk mit dem Einmarsch der Alliierten bevorsteht. Aus dem Warschauer Aufstand könnten die Deutschen lernen, schreibt er an seinen Vater, »daß wk noch nicht das Volk sind, das Haltung und Nationalismus, Opfermut und Kraft verkörpert«. Aber, was die Polen bewiesen hätten, »konnten wk freikch noch nicht zeigen«115. Die Polen legten seiner Meinung nach mit dem Warschauer Aufstand genau die Eigenschaften an den Tag, die von den Deutschen im »Endkampf« auch erwartet wurden: Heldentum, Opfermut und Nationaksmus116. Dem Gegner diese Werte zuzuerkennen heißt schließlich auch, daß man sie selbst als Ideale verinnerlicht hat117 Ideale, die das deutsche Volk in seinen Augen erst noch beweisen muß. Weiter könne man aus dem Warschauer Aufstand lernen, »daß eine Stadt Monate zu verteidigen ist bei weit größeren Verlusten für den Angreifer«, daß aber, »soviel auch der Kampfgeist und klare, mutige Haltung bewkkt, der bessere Geist dem Material eines Tages immer unterlegen ist«118. Wenn die Polen in Schumanns Augen zwar militärisch unterlagen, so seien sie moraksch doch als Sieger aus dem Aufstand hervorgegangen. Mit der Moral erkennt er dem Gegner erneut einen Wert zu, den die Propaganda als kriegsentscheidend darstellte. So sprach Reichspropagandaminister Joseph Goebbels davon, daß »Moral und Technik zusammen« zum Sieg führen würden: »Bisher war der Feind uns in der Technik überlegen, wk ihm in der Moral. Wk können und werden ihn in der Technik, er jedoch kann und wkd uns nicht in der Moral einholen. Das ist der entscheidende Vorsprung119.« Schumann nimmt aus dem Aufstand aber die Erkenntnis mit, daß trotz hoher Moral am Ende das »Material«, die technisch Überlegenen, gesiegt haben. Dies waren im Falle des Aufstandes noch die Deutschen, aber angesichts des immer erdrückender werdenden Feindes müßten sie sich folgt man Schumann eben—
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Über die Wahrnehmung und Behandlung der Heimatarmee-Soldatinnen durch deutsche Befehls-
haber und Wehrmachtssoldaten vgl. Katja Höger, Frauen-Soldaten im Warschauer Aufstand 1944. Unveröffentlichte Zulassungsarbeit zum Staatsexamen im Fach Geschichte, Universität Freiburg i.Br. WS 1998/99, S. 89- lOO; vgl. ebenso Högers Beitrag im vorliegenden Sammelband. Schumann, Brief vom 5.10.1944. Was von den Deutschen angesichts des alliierten Einmarsches erwartet wurde, läßt sich etwa am Volkssturmaufruf ersehen. Hier ist die Rede vom »totalen Einsatz aller deutschen Menschen«, der den »Vernichtungswillen« des Gegners ausschließlich auf »eigene Kraft bauend« brechen muß. Erlaß Hitlers über die Bildung des Deutschen Volkssturms vom 25.9.1944, in: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, hrsg. von Walter Hofer, Frankfurt a.M. 1957, S. 252 f. Vgl. Hausarbeit Irrgang (wie Anm. 23), S. 26. Schumann, Brief vom 5.10.1944. Vgl. dazu den Artikel »Die Frage der Vergeltung«, in: »Das Reich«, 21.7.1944, zit. nach Ernst K. Bramsted, Goebbels und die nationalsozialistische Propaganda 1925-1945, Frankfurt a.M. 1971, S. 432.
Anke
494
Stephan
falls bald nach dem Vorbüd der Polen im »Endkampf« behaupten, wenn sie auf materieller Ebene nicht aufholten120. Die Zeugnisse der Soldaten lassen insgesamt also unterschiedhche Abstufungen der Bewunderung und Anerkennung für die Armia Krajowa und der persönlichen Identifikation mit ihrem Gegner erkennen. Zumeist ist der Respekt vor den Soldaten der Heimatarmee verbunden mit deren Nationalstolz, Tapferkeit und Opferbereitschaft Werte, welche die Wehrmachtssoldaten in der Regel selbst verinnerlicht hatten. Die polnische Heimatarmee wkd dafür bewundert, daß sie sich trotz der mißlichen Lage, zwischen zwei Fronten zu stehen, für ihr Vaterland aufopfert, obwohl das Volk, hier die Zivübevölkerung Warschaus, dafür schwer büßen mußte. Am weitesten geht hier Schumann, indem er die Aufständischen und das polnische Volk, das den Aufstand unterstützte als Vorbild für die Deutschen darsteht. —
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Fazit
Wehrmachtssoldaten, die
in diesem Beitrag in Selbstzeugnissen zu Wort der durch die Armia kamen, Krajowa ausgelöste Warschauer Aufstand ein in Inneren das ihrem tief aufwühlte. Mihtärisch maßen die Solsie Kriegserlebnis, daten der Erhebung keine große Bedeutung bei, denn als Hauptfeind betrachteten sie die Rote Armee, die ihr an der Weichsel gegenüberlag und die Großoffensive auf das Reichsgebiet vorbereitete. Einen bleibenden Eindruck hinterheß der Warschauer Aufstand wohl deshalb, weil die Soldaten der Wehrmacht dem völlig ungewohnten Häuserkampf in der Enge einer mitteleuropäischen Großstadt ausgesetzt waren, die in ihrer Wahrnehmung eine Kette von Assoziationen hervorrief. Die Distanz zum Feind wurde weitgehend aufgehoben, plötzhch existierte er nicht mehr als anonyme Masse, sondern bekam ein konkretes Gesicht. Dies gilt sowohl für die Soldatinnen und Soldaten der Armia Krajowa als auch für die Zivilbevölkerung. Zunächst zeigten sich die Wehrmachtssoldaten vom Erlebnis des Aufstandes tief erschüttert, weil sie erkannten, welches Leid der Zivilbevölkerung zugefügt wurde. Das veranlaßte sie zum Teü dazu, das Schicksal Warschaus mit dem der deutschen Städte im Bombenkrieg zu vergleichen. Der Soldat Paul Schumann ging sogar so weit, sein Zuhause zu warnen, daß den deutschen Städten beim Einmarsch der Alhierten das bevorstehe, was während des Aufstandes der Warschauer Bevölkerung widerfuhr. Zur Frage nach dem Feindbild läßt sich festhalten, daß die Äußerungen der fünf Wehrmachtssoldaten über Warschau und seine Kultur in keinster Weise dem Bild entsprachen, das die nationalsozialistische Propaganda vom »minderwertigen
Für alle
war
An einer Stelle äußert Schumann zwar die vage Hoffnung, die »neuen Waffen« (damit sind vermutlich die »Wunderwaffen« V 1 und V 2 gemeint) mögen das Kriegsglück noch wenden (Brief vom 28./29.8.1944), aber der Grundton seiner Briefe deutet an, daß dies lediglich diffuses Wunschdenken ist.
»Banditen« oder »Helden«?
495
Polentum« zeichnete. Im Gegenteil: Die Soldaten, die im Häuserkampf eng mit dem Leben in der polnischen Hauptstadt in Berührung kamen, zeigten sich aufgeschlossen gegenüber der Kultur, die sie im Vergleich mit der deutschen zumindest als ebenbürtig betrachteten, wenn nicht sogar als höherstehend. Aus der Tatsache, daß alle kgendwelche herzlichen Kontakte mit der Bevölkerung schilderten, wkd ersichthch, daß die Soldaten auch den Polen selbst nicht ablehnend gegenüberstanden. Auf der anderen Seite gab es wenig Auseinandersetzung mit der eigenen Kriegführung in Warschau. Die Soldaten zeigten sich zwar erschüttert über das Ausmaß der Zerstörungen, zogen aber keine Querverbindung zur Strategie der »verbrannten Erde«. Gleichwohl stellten sie Vergleiche an zwischen der Situation in den deutschen Städten und dem Schicksal Warschaus im Aufstand. Die Wehrmachtssoldaten waren sich der anti-sowjetischen Ressentiments seitens der polnischen Bevölkerung bewußt und hatten teüweise Kenntnis von den Geheimverhandlungen zwischen der Armeeführung und der Heimatarmee über eine »antibolschewistische Front«. Obwohl ihre Stimmung in Hinbkck auf das Kriegsende allgemein pessimistisch und resignativ war und keiner mehr an den »Endsieg« glaubte, steüte sich jedoch niemand die Frage, ob es Alternativen zur brutalen Niederschlagung des Aufstandes gegeben hätte. Im Gegensatz zu Armeeführung wurde noch nicht einmal die Möghchkeit erwogen, zusammen mit der Armia Krajowa gegen die Rote Armee zu operieren. Zum Teil distanzierten sich die Soldaten von den Kriegsverbrechen in Warschau, indem sie »die Kosaken« dafür verantwortlich machten. Anhand der Beschreibungen von den »fremdvölkischen«, unzivihsierten Hilfsttuppen wird deutlich, daß die Wehrmachtssoldaten sehr stark von ideologisch gefärbten Bildern geprägt waren, denn die »Kosaken« wurden so geschildert, wie die NS-Propaganda die wüden »asiatischen Horden« beschrieb, die im Falle einer Kriegsniederlage Deutschland überfluten würden. Auch die Haltung der Wehrmachtssoldaten gegenüber der Heimatarmee verrät, daß der »Landser« in hohem Maße ideologisiert war. Im unmittelbaren Zusammentreffen mit Soldatinnen und Soldaten der Armia Krajowa wurden diese mit stereotypen Feindbildern wie »Banditen« oder »Heckenschützen« belegt. Solche Bilder hatten sich die jungen Soldaten spätestens im Ostfeldzug erworben, auf den sie aber schon in der Rekrutenzeit propagandistisch vorbereitet worden waren. Die Stereotype dienten dazu, den Gegner zu entmenschhchen und ihm selbst die Schuld an grausamen Vergeltungsmaßnahmen zuzuweisen. Sie halfen den Soldaten, sich von Mord und Verbrechen zu distanzieren und ihre Skrupel abzubauen. Die Wehrmachtssoldaten projizierten ihre positiven Motivationsfaktoren für den Kampf auf die Heimatarmee. Sie erkannten in ihrem Gegenüber Werte, die ihnen durch die NS-Propaganda, aufbauend auf dem belhzistischen Diskurs der
Zwischenkriegszeit121, Vgl. Fritz,
vermittelt worden
waren:
Aufopferung
für das Vaterland,
Hitlers Frontsoldaten (wie Anm. 8), der anhand von Selbstzeugnissen aus dem Krieg wie die Helden- und Männlichkeitskonstruktionen der Zwischenkriegszeit (beispielsweise durch Ernst Jünger) sowie die Faszination der Volksgemeinschaft prägend wurden für die junge Soldatengeneration.
herausarbeitet,
Anke
496
Stephan
Kameradschaftsgeist, Tapferkeit und Nationalstolz. Auf dieser Ebene wurden die Widerstandskämpfer zu gleichwertigen Gegnern. Die Soldaten der Wehrmacht identifizierten sich mit deren Jugend, Zusammenhalt, Radikaktät und Ideaksmus.
Aufständischen in die Übergabe und der Marsch derein. Sie sahen die Polen Wehrmachtssoldaten flößten den Respekt Gefangenschaft erhobenen Hauptes an ihnen vorbeimarschieren, nachdem sie sich 63 Tage lang in aussichtsloser Situation gegen einen übermächtigen Feind behauptet hatten. Obwohl der Kampf der Armia Krajowa in Warschau nichts gebracht hatte als Leid und den Tod Hunderttausender von Ziviksten, wurde Warschau nicht zum warnenden Beispiel, sondern zum Vorbild. Die polnische Heimatarmee hatte für ihre übergeordneten ideellen Ziele das Unmögkche gewagt und dabei die Vernichtung der Hauptstadt in Kauf genommen. Diese Haltung Sieg oder Untergang sprach die deutschen Wehrmachtssoldaten an. Sie hinterfragten nicht die Sinnhaftigkeit des Kampfes, sie reflektierten nicht, welchen Wert es beispielsweise habe, Kinder wenn auch noch am Kampf zu beteikgen. Wert hatte in ihren Augen einzig die so hoffnungslose Erhebung für die nationale Sache. Der Einbhck in die Mentaktät der Wehrmachtssoldaten am Beispiel des Warschauer Aufstandes läßt aus der Perspektive »von unten« erahnen, weshalb der »Landser« bis zum Schluß verbissen und mit unglaubhchem Durchhaltewillen für ein erbärmkches Regime kämpfte und damit zu dessen Fortbestand beitrug. Weit verbreitet war unter den einfachen Soldaten die Vorstellung von einem »Schicksalskampf«122. Obwohl die Soldaten der Wehrmacht zur Zeit des Warschauer Aufstandes längst resigniert hatten, obwohl sie die Vernichtungsideologie ihrer Führung nicht teilten, fragten sie während des Aufstandes nicht nach Alternativen. Sie fügten sich schicksalsergeben in den »totalen« Krieg. Ihre Haltung gegenüber der polnischen Heimatarmee verrät, daß sie die Ideologie des Nationalsoziaksmus insofern internalisiert hatten, als sie die selbstlose Aufopferung für das Vaterland nicht in Frage stellten, sondern zum obersten Ideal erhoben bis zum Sieg oder bis zum Untergang.
Vor allem die militärische
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Anke Stephan, Historikerin, geb. 1971, Margaretenplatz 3, 81373 München, Doktorandin am Lehrstuhl für Osteuropäische und Neuere allgemeine Geschichte an der Universität Basel. E-mail: [email protected].
122
Vgl. Latzel, Deutsche Soldaten (wie Anm. 8), S. 308 f.
Bernhard Chiari
Kriegslist oder Bündnis mit dem Feind? Deutsch-polnische Kontakte 1943/44
Die militärische Kooperation zwischen der Heimatarmee und der Wehrmacht oder gar eine deutsch-polnische Annäherung in der letzten Phase des Krieges scheinen ein Paradoxon zu sein. Zum einen lassen es die Jahre nationalsoziakstischer Besatzungsherrschaft in Polen und die dabei von deutscher Seite verübten Greuel sowie die polnische Opferbilanz unvorstellbar erscheinen, daß eine substantielle Zusammenarbeit beider Seiten mögkch war. Zum anderen stellt der Tatbestand der Kollaboration mit der deutschen Okkupationsmacht die Idee und das Ideal vom polnischen Widerstand an sich in Frage, so wie ihn die Armia Krajowa bis heute verkörpert. Dies macht den bloßen Gedanken an eine polnisch-deutsche Kooperation für viele polnische Historiker und Laien unerttägkch. Daß es eine solche Kooperation gegeben hat, steht außer Zweifel. Kazimierz Krajewski nennt akeine für den Bezkk Nowogródek drei Fälle von deutschnämkch die Verhandlungen des Rittmeisters Józef polnischer Zusammenarbeit,Kreises Lida (Winter 1943/44), zweitens eine entspreSwida »Lech« im Süden des chende Initiative der Gruppierung Stolpce im Dezember 1943 sowie den Versuch von Feldwebel Walerian Tryfonow »Kostek«, im Mai 1944 Angehörige des polnischen Untergrundes auf dem Wege von Verhandlungen aus dem Konzentrationslager in Koldyczew (Baranowicze) freizubekommen. Krajewski ebenso wie Janusz Marszalec und andere Autoren des vorliegenden Sammelbandes schildern derartige Fallbeispiele weitgehend aus polnischer Perspektive. Das Verhalten der polnischen Kommandeure stufen sie vor dem Hintergrund des sowjetischen Vormarsches als Randphänomen ein, das ausschließlich taktischen Erwägungen geschuldet war. Die strikte Ablehnung der Verhandlungen durch die übergeordnete Führung der Heimatarmee bestätigt diese Lesart ebenso wie entsprechende Sanktionen gegen die Führer vor Ort1. Demgegenüber scheinen zeitgenössische deutsche Einschätzungen auf eine andere Qualität der Kontakte zu verweisen. Im Januar 1944 beschwerte sich der deutsche Gebietskommissar Wilna Land, Horst Wulff, darüber, daß »gewisse Verhandlungen [...] in der hiesigen polnischen Bevölkerung, nicht zuletzt auch in der
Vgl. die Beiträge von Kazimierz Krajewski und Janusz Marszalec im vorliegenden Sammelband.
Bernhard Chian
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so auch litauischen Kreisen bekannt seien«, und Gruppen der Heiim Rahmen von Überfällen einheimischen Zivihsten gegenüber mehrfach behauptet hätten, »im Einvernehmen mit der Wehrmacht« zu operieren. Im Wilnagebiet halte sich hartnäckig das Gerücht, daß es dort bald statt der den Polen verhaßten litauischen eine polnische Selbstverwaltung geben werde. Bei seiner Einordnung der polnischen »Banden« gebraucht Wulff den Begriff »Burgfrieden«: Einen solchen habe es angebhch zwischen polnischen und sowjetischen Partisanen im Raum ostwärts der Straße Wilna—Lida gegeben. Die Rede vom »Burgfrieden« ist bemerkenswert. Im zeitgenössischen deutschen Sprachgebrauch für die besetzten Ostgebiete und speziell für die Kresy Wschodnie wird dieser Begriff im allgemeinen im Sinne eines deutschpolnischen Abkommens verstanden. Wenn ihn Wulff verwendet, um ein angebliches Stillhalteabkommen zwischen Sowjets und Polen anzuprangern, so bedeutet dies zweierlei: Erstens sah Wulff den polnisch-sowjetischen Konflikt schon im Januar 1944 als den Normalfall an, gegen den ein solches Abkommen »verstieß«. Zweitens muß der Begriff des »Burgfriedens« im Sprachgebrauch der Zivilverwaltung bereits gut eingebürgert gewesen sein. Deutschpolnische Vereinbarungen gehörten also zu diesem Zeitpunkt zum Tagesgeschäft. Wulff nahm sie übrigens so ernst, daß er mit Blick auf die Nationalitätenproblematik im Wilnagebiet und deren mögliche Eskalation seine Beteiligung »aus grundsätzlichen Erwägungen« ablehnte2. Hinweise auf »Kollaboration mit dem Feind« haben schon die kommunistische Historiographie und Publizistik der Sowjetunion wie Polens beim Kampf gegen die »Verbrecherchque« der Heimatarmee instrumentalisiert, und Sigizmund Borodin spricht bereits für die Kriegszeit von der Gleichsetzung »polnischer Nationalisten« und »deutscher Spione« durch die Führung der sowjetischen Partisanenbewegung3. Im polnischen Exil thematisierten Memoken und historische Abhandlungen derartige Vorfälle4. In jüngerer Zeit erschienen wissenschaftliche Untersuchungen, die bei der Analyse der Kriegsereignisse auch problematische Aspekte mit einschlössen5. Grzegorz Mazur beispielsweise macht in seinem im vorhegenden Sammelband abgedruckten Aufsatz zur Ghederung der Armia Krajowa deut-
Stadt, mithin matarmee
Bericht, betr. Weißpolnische Banden. Geheime Reichssache, Gebietskommissar Wilna-Land, Wu/Scha 24/44 g., 18.1.1944, dabei Aktennotiz über ein Gespräch mit Major Julius Christiansen am 17.1.1944, Bl. 3 1567-3 1575, keine Bestandsangabe, Privatarchiv Hinrich-Boy Christiansen
(PHC).
sowjetischen Interpretation der Heimatarmee, hier speziell mit Blick auf den Warschauer Aufstand, vgl. noch jüngst S.G. Ivanov, Bessmyslennaja zertva: Varsavskaja tragedija 1944 goda: vinovniki istinnye i mnimye, in: Voenno-istoriceskij zurnal, (1999), 4, S. 36-47, hier S. 41 ; vgl. auch den Beitrag von Sigizmund Borodin im vorliegenden Sammelband. Vgl. z.B. Zbigniew S. Siemaszko, Rozmowy z Wehrmachtem w Wilnie. Luty 1944, in: Zeszyty Historyczne (Paris), (1984), 64, S. 81 -121; Adolf Pilch, Partyzanci trzech puszcz, Warszawa 1992. Kazimierz Krajewski, Na ziemi nowogrödzkiej, Warszawa 1997; Zygmunt Boradyn, Niemen rzeka niezgody. Polsko-sowiecka wojna partyzancka na Nowogródczyznie 1943-1944, Warszawa 1999; Jaroslaw Wolkonowski, Okrçg Wileriski Zwi^zku Walki Zbrojnej Armii Krajowej w latach 1939-1945, Warszawa 1996; vgl. vor allem den Beitrag von Edmund Dmitröw im vorliegenden Sammelband mit weiteren Literaturhinweisen und der Beschreibung der teils heftigen Polemiken. Zur konservativen
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Kriegslist oder Bündnis mit dem Feind?
499
nur die sowjetischen, sondern auch die deutschen Zernennt als Grund für die Strukturschwäche der Mazur setzungsversuche Heimatarmee in manchen Gebieten die aktive Unterstützung der deutschen Abwehr durch V-Leute aus dem Mikeu des polnischen Untergrundes. Insgesamt freihch ist das Thema bis heute äußerst sensibel. Als die Zeitschrift »Osteuropa« vor etwa zweieinhalb Jahren ein Konvolut von Dokumenten aus dem ehemakgen »Sonderarchiv« Moskau veröffentkchte, welche Verhandlungen über eine deutschpolnische Kooperation im Wilnagebiet nachzeichnen, war dies sogar dem Magazin »Der Spiegel« einen Artikel wert. Die Botschaft der Repubkk Polen in Berlin recherchierte in der »Osteuropa«-Redaktion, welche Bewandtnis es mit der unter dem reißerischen Titel »Bündnis mit dem Feind« angezeigten Dokumentenedition habe6. Die deutsch-polnischen Kontakte sollen im folgenden auf der Grundlage zeitgenössischer Quellen in einen breiteren Kontext gestellt werden. Erstens sind die Rahmenbedingungen auszuloten, unter denen zum Jahreswechsel 1943/44 eine Veränderung des wechselseitigen Verhältnisses mögkch schien. Zweitens wird nach Spuren gesucht, welche die deutsch-polnischen Verhandlungen und Absprachen in den nur bruchstückhaft überkeferten Aufzeichnungen der Sicherheitsorgane, der Wehrmacht, Zivkverwakung sowie der deutschen Abwehr und damit im Bewußtsein der deutschen Okkupationsverwaltung hinterlassen haben. Das außergewöhnkch gut dokumentierte Fallbeispiel des Wilnagebietes führt drittens zu einer abschkeßenden Bewertung. Diese muß allerdings, dieses Fazit darf schon vorweggenommen werden, ohne eine einfache Kurz formel auskommen, auf die das deutsch-polnische Verhältnis gebracht werden kann. Auf der Basis der vorhegenden Materiaken ist es hingegen mögkch, situative Kontexte sowie das Potential zu schüdern, das die Verhandlungen besaßen und das die deutsche Seite grundsätzkch auch erkannt hat. Daß es sich aus heutiger Sicht einerseits um ein peripheres Phänomen handelte, zeigt schon ein kurzer Bkck auf die Geographie. Die Mehrzahl der bekannt gewordenen Fälle ereigneten sich in den ehemakgen Kresy Wschodnie, und dort in Regionen, wo die nationalen Konflikte sowie der sowjetische Einfluß besonders spürbar waren. Andererseits war die ethnische, kulturelle und rekgiöse Gemengelage jedoch eine ganz wesentkche Triebfeder für die Ereignisse der Besatzungszeit. Sie ist 1944 also noch vor Beginn der endgültigen sowjetischen »Flurbereinigung« ein Kennzeichen ostmitteleuropäischer Gesellschaften an sich. Insofern legt die Betrachtung von Einzelfällen komplexe Beziehungsgefüge offen und trifft geradezu in den Kern der Wirkungsmechanismen von Besatzung und Kollaboration.
kch, wie erfolgreich nicht waren.
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Bernhard Chian, Reichsführer-SS: Kein Pakt mit Slawen. Deutsch-polnische Kontakte im WilnaGebiet 1944, in: Osteuropa, 50 (2000), 4, A 133-153; hierzu »Bündnis mit dem Feind«, in: Der Spiegel, 19/2000, S. 20.
Bernhard Chiari
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Die Rahmenbedingungen für eine deutsch-polnische Annäherung Für die Einordnung und Interpretation der deutsch-polnischen Kontakte ist zunächst die allgemeine mihtärische Lage von ausschlaggebender Bedeutung. Zum Jahreswechsel 1943/44 war der Krieg aus Sicht der Wehrmacht in ein kritisches Stadium getreten. Verlief die deutsch-sowjetische Front im Dezember 1943 noch auf der Linie Polock-Vitebsk—Mogilev—Rogacev—Mozyr', so zertrümmerte die Rote Armee in den folgenden Monaten durch mächtige Angriffsoperationen die deutsche »Heeresgruppe Mitte«. Ende 1944 standen die sowjetischen Angriffsspitzen an der Memeknündung südhch Klaipeda, am östhchen Weichselufer in Warschau und westhch von Budapest. Die deutsche Abwehr klärte im eigenen Hinterland immer größere sowjetische Partisanengruppen auf, die sich darauf vorbereiteten, »bei Annäherung der Front diese von rückwärts zu durchstoßen«7. Quasi schon in der Vergangenheitsform berichtete die Abteilung Ic (Feindaufklärung und Abwehr) der Heeresgruppe Mitte, die Stäbe sowjetischer Partisanenabteilungen hätten damit begonnen, »angebhche Missetaten der Deutschen in Weißruthenien während der Besatzungszeit« zu Propagandazwecken nach Moskau zu melden8. Neben der planmäßigen Ermordung der jüdischen Einwohner Polens brachte die deutsche Politik seit 1939 auch für die polnische Intelligenz und Führungsehte den Verlust der Existenzgrundlage und später die physische »Liquidierung«. Die dogmatische Haltung Adolf Hitlers und anderer nationalsozialistischer Führer verhinderte eine qualitative Veränderung der deutschen Polenpohtik in der letzten Kriegsphase. Sie ersparte es letzthch der polnischen Gesellschaft, zu einem ernsthaften deutschen »Angebot« Stellung beziehen zu müssen. Dennoch waren 1944 Versuche zu beobachten nach der Anwerbung oder Rekrutierung von Freiwilligen für den »europäischen Kampf gegen den Bolschewismus« in beinahe allen vom Deutschen Reich beherrschten Ländern —, nun auch in Polen Verbündete für diesen Kampf zu finden. Vor diesem Hintergrund sind Gespräche zu sehen, die mit Angehörigen der Führungsspitze der Heimatarmee stattfanden. So soll es am 21. oder 22. Juh 1944 zu einer Begegnung von General Tadeusz »Bor« Komorowski und SSHauptsturmführer Paul Fuchs von der Gestapo-Dienststelle in Radom gekommen sein, und zwar unweit von Jözeföw bei Warschau. Ebenso zahkeich wie erfolglos waren Versuche der Einflußnahme auf »Bor« nach dem Ende des Warschauer Aufstandes und seiner Gefangennahme9. —
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HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, Bandenmeldung [im weiteren BM] vom 20.2.1944, Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i.Br. (BA-MA), RH 19 H/305, Bl. 149. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.3.-30.4.1944, BM vom 29.3.1944, BA-MA, RH 19 11/306, Bl. 71.
Vgl. eine Aufzählung von Veröffentlichungen des deutschen Historikers Michael Foedrowitz und ihre kritische Einordnung im Beitrag von Edmund Dmitröw im vorliegenden Sammelband, S. 826-830; außerdem Wlodzimierz Borodziej, Terror und Politik. Die deutsche Polizei und die polnische Widerstandsbewegung im Generalgouvernement 1939-1944, Mainz 1999 (poln. Originalausgabe Terror i polityka. Policja niemiecka a polski ruch oporu w GG [Generalnej Guberni]
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Auf regionaler und lokaler Ebene ist es immer wieder gelungen, polnische Individuen und Gruppen in die nationalsozialistischen »Verteidigungsanstrengungen« miteinzubinden. Angesichts des sowjetischen Vormarsches stellte man den Nationalsozialismus zumindest für eine krisenhafte Übergangszeit als die kleinere von zwei Bedrohungen dar111. Daß diese Einbindung vor allem mit Blick auf die bevorstehende zweite Sowjetisierung Ostpolens ausschließlich durch Gewalt und Zwang möglich gewesen sei, ist eine verständliche, aber nichtsdestoweniger falsche Interpretation der Nachkriegszeit. Diese geht allzusehr vom Ausgang des Zweiten Weltkrieges, von der deutschen Niederlage und dem faktischen Scheitern aller Pläne für eine deutsch-polnische Zusammenarbeit aus. Potential war hierfür aber in unterschiedlichen regionalen Kontexten durchaus vorhanden11. Die Warschauer Gestapo schlug im Frühling 1944 sogar die Berufung von Henryk Borucki als polnischen Premierminister und die Aufstellung einer polnischen Armee von 50 000 Mann vor, und bereits im November 1942 hatte der Chef der Abteilung »Fremde Heere Ost« im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), Oberst i.G. Reinhard Gehlen, festgestellt, daß sich die Kampfkraft des deutschen Ostheeres nur noch durch einen Masseneinsatz landeseigener Hilfskräfte erhalten ließe12. Politische Überlegungen fielen zusammen mit einer weiteren Radikalisierung der deutschen Kriegführung. Das Jahr 1944 brachte eine bis dahin ungeahnte Anstrengung, sämtkche vorhandenen Kräfte für den »Bandenkampf« zu mobilisieren. Dies bedeutete ein weiteres Anwachsen der Brutalität, die Durchführung von »Befriedungsaktionen« sowie Aufstellung und Einsatz von Jagd- und Sonderkommandos, einschließlich gut ausgebildeter und bewaffneter »mobiler Jagdzüge« innerhalb der einheimischen »Schutzmannschaft«. Der Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) Weißruthenien, SS-Brigadeführer Curt v. Gottberg, hatte bereits im April 1943 in seiner bekannten Rede über notwendige »Sicherungsmaßnahmen« im Hinterland der Wehrmacht auf die Bedeutung des neu ernannten »Beauftragen für den Bandenkampf«, Erich von dem Bach-Zelewski, verwiesen. Mit der Einsetzung von dem Bachs (der später die deutschen Truppen kommandieren sollte, die den Warschauer Aufstand niederschlugen) durch den Reichsführer SS und dessen di—
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1939-1944, Warszawa 1985). Hans-Jürgen Bömelburg, Bogdan Musial, Die deutsche Besatzungspolitik ind Polen 1939-1945, in: Deutsch-polnische Beziehungen 1939-1945-1949. Eine Einführung, hrsg. von Wlodzimierz Borodziej und Klaus Ziemer, Osnabrück 2000 (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 5), S. 43 -111 ; Czeslaw Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939-1945, Berlin 1987. Vgl. hierzu den Essay von Andrzej Niewiadomski, Polnische Apokalypse. Zwischen Auschwitz und Katyn die zweifache Tragödie eines Volkes, in: Die Zeit, Nr. 36, 31.8.2000, S. 70. Vgl. Jerzy Kochanowski, Polen in die Wehrmacht? Zu einem wenig erforschten Aspekt der nationalsozialistischen Besatzungspolitik 1939-1945. Eine Problemskizze, in: Forum für osteuro-
päische Ideen- und Zeitgeschichte, 6 (2002), 1, S. 59-81. Michael Foedrowitz, W poszukiwaniu »modus vivendi«. Kontakty i rozmowy pomicdzy okupantami a okupowanymi dotycz^ce porozumienia niemiecko-polskiego w czasie II wojny swiatowej, in: Mars, (1994), 2, S. 165-180; vgl. Hans Umbreit, Die deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten 1942-1945, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 5/II, Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942-1944/45, S. 4-272, Zit. Gehlen S. 61.
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Führerhauptquartier sei endlich gewährleistet, »daß die Bandenbekämpfung über alle Grenzen hinaus in eine Hand gelegt ist und auf diese Weise die Führung über alle Schwierigkeiten hinweg den Erfolg bringen wkd«13. Ein grundsätzlicher Fehler der deutschen Sicherheitskräfte sei es gewesen zu glauben, »sich hinter Stützpunkte verkriechen zu können. Das ist im Bandenkampf grundsätzlich falsch. Die Sicherung des Landes kann nur im Vorfeld geschehen, denn der Angriff ist die beste Verteidigung. Der Gegner muß angegriffen und in der Verfolgung vernichtet werden14.« 1944 entschied sich nicht nur das Schicksal der ehemaligen polnischen Ostgebiete, die erneut der Sowjetunion einverleibt wurden, sondern auch jenes der Heimatarmee. Von der Entwaffnung ihrer Verbände und der Liquidierung ihres Führerkorps im Wilnagebiet, in der Region um Nowogródek sowie in Ostgalizien und Wolhynien ist in diesem Band an anderer Stelle ausführlich die Rede15. In Polen, und hier vor allem in den ehemaligen Kresy Wschodnie, hatte zum Jahreswechsel der Kampf um die Gestaltung der polnischen Nachkriegsordnung bereits begonnen16. Dieser sollte unter sowjetischer Oberaufsicht bis 1948 fortdauern. Er trennte die polnische Gesellschaft, indem er die beiden großen Lager der Widerstandsbewegung die der Londoner Exilregierektem Vorspracherecht im
gesamte
rung unterstehende Heimatarmee und die Nationalen Streitkräfte (NSZ) auf der einen und die von den Polnischen Kommunisten (PPR) geführte Volksarmee (AL) auf der anderen Seite in eine sowjetische »Flurbereinigung« mit einbezog. In der Folge liquidierte das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKVD) sämtliche »suspekten« Widerstandsgruppen im Lande. Der so die InterZweite Weltkrieg habe sich in einen Bürgerkrieg verwandelt der freilich die Armia und ihre Unpretation Ryszard Nazarewiczs, Krajowa die auf Täterrolle im beschränkt. Fest steht, daß tergruppen »Bruderkampf« nicht nur der kommunistische polnische Untergrund gegen die Armia Krajowa vorging, sondern daß auch in der Heimatarmee Tendenzen verbreitet waren, »kommunistischen Banden« den Garaus zu machen17. —
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SS-Brigadeführer von Gottberg vor Repräsentanten von SS, Polizei und Zivilverwaltung, Minsk, 10.4.1943, Nacyjanal'nyj arkhiü Rcspubliki Belarus' (NARB), fond 370, opis' 1, delo 1264,1. 126-136,
hier 126. Ebd, 1. 128 f. Vgl. die Beiträge von Piotr Niwiñski, Kazimierz Krajewski und Grzegorz Motyka. Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941-44, Düsseldorf 1998, S. 270-302; aus national weißrussischer Perspektive Viktor Ermolovié und Sergej Zumar', Ognëm i mecom. Chronika pol'skogo nacionalisticeskogo podpol'ja v Belorussii (1939-1953 gg.), Minsk 1994; Jaugen Sjamaska, Armia Kraëva na Belarusi, Minsk 1994.
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Vgl. Ryszard Nazarewicz, Der Bürgerkrieg in Polen 1944-1948. Zu aktuellen Auseinandersetzungen um seine Vorgeschichte und seine Quellen, in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, 13 (1999), S. 33-62; vgl. auch einen Tagungsbericht von Werner Röhr, Der Bürgerkrieg in Polen 1944-1948, in: ebd., 11 (1998), S. 92-96; ebenso Ryszard Nazarewicz, Drogi do wyzwolenia. Koncepcje walki z okupantem w Polsce i ich tresci polityczne 1939-1945, Warszawa 1979.
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Daß die Heimatarmee ein potentieller Partner im Kampf gegen die Rote Arwar, wußte die deutsche militärische Führung spätestens zum Jahreswechsel 1943/44. Am ersten Weihnachtsfeiertag informierte der Wehrmachtführungsstab beim OKW darüber, daß die polnische Exilregierung sich geweigert habe, die Winteroffensive der Roten Armee durch die Entfesselung eines Aufstandes zu unterstützen. Vielmehr sei die Armia Krajowa angewiesen worden, den Sowjets beim Vordringen auf polnisches Territorium »schärfsten Widerstand« entgegenzusetzen18. Auch die polnisch-ukrainischen Spannungen in Wolhynien und Ostgakzien wurden als Teil einer größeren nationalen Auseinandersetzung erkannt19. Die Heterogenität der polnischen miktärischen Untergrundbewegung und deren interne Auseinandersetzungen scheinen auch in den Lagemeldungen auf. So wurden Anfang April etwa 40 Gruppen der Armia Krajowa im Raum Lubkn ausgemacht, die sich entgegen eindeutigen Befehlen, die sowjetischen Partisanen und den Vormarsch der Roten Armee zu unterstützen, entweder passiv verhielten oder sogar gegen »Sowjets und Juden« kämpften. Westkch des Bug seien zahkeiche Gruppen der Armia Krajowa Mitte April »in die Wälder gegangen« wegen Unzufriedenheit mit ihrer eigenen poktischen Führung. Die deutsche Abwehr bewertete die Zwangslage der Heimatarmee zwischen prosowjetischer Haltung der polnischen Führung und den eskakerenden polnisch-sowjetischen Auseinandersetzungen vor allem in Ostpolen als gravierend. Sie sah hier eine Mögkchkeit, »die Landesarmee [die Armia Krajowa] zu zersetzen«2". Die Stimmung in der polnischen Bevölkerung schien ebenfalls zwiespältig. Zwar sprachen Berichte von V-Leuten der poktisch interessierten Avantgarde der polnischen Untergrundbewegung, die im besetzten Land durch die Unterstützung aus England eine Art Informations- und Nachrichtenmonopol besäße, jede Bereitschaft für eine Verständigung mit Deutschland ab. Gleiche Erwartungen herrschten bezügkch der verhältnismäßig kleinen Gruppe sowjetischer Sympathisanten. Demgegenüber sah die deutsche Abwehr jedoch durchaus Chancen, trotz des jahrelangen deutschen Terrors mit einer relativ großen dritten Gruppe der Bevölkerung zu einer Art Ausgleich zu kommen. Diese sei zahlenmäßig schwer einzugrenzen, da sie öffentkch nicht in Erscheinung trete. Sowohl in den Städten und ländkchen Gebieten des sogenannten Generalgouvernements, vor allem aber in den ehemakgen Kresy mache der Anteil »friedenswilkger« Einwohner jedoch einen erhebkchen Anteil aus. Der angesprochene Personenkreis habe sich »mit den gegebenen Verhältnissen, die ein verlorener Krieg nun einmal mit sich bringt, abgefunden [...] Auf dem Boden der Tatsachen stehend, wären sie zu einer Verständigung bereit, finden aber keinen Weg in die Öffentlichkeit21.« Im Jargon der Ab-
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OKW/WFSt, Fs. 20351, 25.12.1943, BA-MA, RW 5/464, Bl. 51. OKW/WFSt, Bericht eines V-Mannes von der 3. Außerordentlichen Großen Tagung der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) vom 3.8.1943, BA-MA, RW 5/464, Bl. 53-55. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.3.-30.4.1944, BM v. 6.4.1944, BA-MA, RH 19 11/306, Bl. 96; BM vom 9.4.1944, ebd., Bl. 104; BM v. 23.4.1944, ebd., Bl. 138. Amt Abwehr, Die politische Einstellung der polnischen Bevölkerung im Generalgouvernement, 10.10.1944, BA-MA, RW 5/464, Bl. 153 f., Zit. Bl. 153 Rückseite.
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wehr wünschte diese Gruppe »eine Brechung des mnendlichen Schweigens< zwischen Deutschland und Polen, weü sie sieht, dass die Terrormassnahmen von beiden Seiten zu keinem Ergebnis führen. Der gegenwärtige Zustand erscheint ihnen ebenso unerträglich und hoffnungslos, wie die von London und Moskau propagierte Zukunft unmöghch ist22.« Im Februar 1944 sah der Wehrmachtbefehlshaber Weißruthenien (WBW) in der polnischen Bevölkerung gar die einzige Gruppe, die eine »klar [...] gegen die Sowjets gerichtete Stellung« einnehme und sich »in den Kampf gegen den Bolschewismus« einreihe. Verhandlungen mit »weiteren Nationalbanden« gemeint sind die Verbände der Armia Krajowa seien noch nicht zum Abschluß gekommen, doch nehme deren Bereitwühgkeit, gegen die Sowjetunion zu kämpfen, deutlich zu. Bereits geschlossene Vereinbarungen hätten in der Bevölkerung »Befriedigung« ausgelöst23. Auf dem Land führe die Angst vor der sowjetischen Besetzung dazu, daß die Polen »gegenüber den deutschen Dienststellen schwankend geworden« seien. Selbst bei der Stadtbevölkerung sei zunehmend die Erkenntnis spürbar, »sich notgedrungen auf die Seite Deutschlands stellen« zu müssen24. Es ist dem Historiker unmöghch, derartige Einschätzungen zu quantifizieren. Der zitierte Bericht der deutschen Abwehr macht aber eines deuthch: Den deutschen Behörden schienen ein Jahr vor der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches Zugeständnisse an die polnische Bevölkerung denkbar und zumindest in Form temporärer Absprachen auch erfolgversprechend zu sein und »Problemlösungen«. Der zitierte Bericht thematisiert daneben ein anderes Phänomen, das in diesem Sammelband mehrfach angesprochen wkd: Die vielen »Kowalskis«, die versuchten, im trostlosen Besatzungsalltag über die Runden zu kommen und dabei bereit waren, sich mit dem neuen Regime zu arrangieren, hinterließen in Polen wie in allen anderen Okkupationsgeseüschaften kaum Spuren in schriftkchen Zeugnissen. Sie verfaßten keine Memoranden, schrieben keine Meldungen und wollten mit militärischem Heldentum und heroischem Widerstand nichts zu tun haben. Sie lasen die offiziösen Zeitungen, besuchten Cafés und gingen ins Kino, selbst angesichts des deutschen Terrors und der ausufernden Gewalt. Vor allem sehnten sie das Ende des Krieges herbei. Sie waren durchaus Ansprechpartner für die Besatzungsmacht25. Dieser Umstand und die daraus abgeleiteten taktischen Überlegungen unterschiedlicher Vertreter des polykratischen nationalsozialistischen Herrschaftssystems behalten auch angesichts der Tatsache ihre Gültigkeit, daß es eine Änderung —
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Ebd., Bl. 154. KG der Sicherungstruppen und Befh in Weißruthenien, Ic, Az.: 3/Pa/830/44 g., Bandenlage vom 1.-29.2.1944, BA-MA, RW 41/67, S. 3; Ic, Az.: 3/Pa/500/44 g, Bandenlage vom 1.-31.1.1944, ebd., S. 3. Generalkommando LXI.
Reservekorps (Wilna), Ic, Tätigkeitsbericht
BA-MA, RH 24-61/6, S. 4.
Vgl.
vor allem die Sammelband.
Beiträge
von
Janusz Marszalec,
Lars
Jockheck
für Oktober
und Anke
1943, 10.11.1943,
Stephan
in diesem
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der deutschen »Polenpohtik« bis zum Kriegsende nicht gegeben hat26. Damit fehlte ein Ziel, eine »Parole«, welche die Abwehr für ihre Arbeit forderte27. Die Gesamtlage in den Kresy Wschodnie zum Jahreswechsel 1943/44 war alles andere als stabil, vielmehr aus deutscher wie polnischer Sicht bereits höchst dramatisch und nach vielen Richtungen hin offen. Eine der wenigen Grundkonstanten bildeten die sowjetischen militärischen Erfolge, die deutlich erkennbare Verstärkung der sowjetischen Untergrundsttukturen sowie die Eskalierung nationaler Konflikte.
Deutsche Erkenntnisse über die Strukturen des Untergrundes und die Bewertung deutsch-polnischer Kontakte
größtenteils undifferenzierten Berichte und Erzählungen der meisten Kriegsteilnehmer den Eindruck einer amorphen »Partisanengefahr« vermitteln, besaß die deutsche Aufklärung ein differenziertes Bild von der Feindlage im eigenen Fünterland. Zu diesem Zeitpunkt fehlten der deutschen Führung allerdings bereits die Mittel, um allein gegen eine ständig stärker werdende »Bedrohung der Sicherheitslage« wirksam vorgehen zu können. Neben den militärischen Meldungen, Beutedokumenten und Aussagen von Kriegsgefangenen und Überläufern trug vor allem ein funktionsfähiges Netz von V-Leuten wesentlich zum Lagebkd bei. Diese beschafften Erkenntnisse über den sowjetischen wie polnischen Untergrund sowie über die zum Jahreswechsel 1943/44 unter Hochdruck erfolgende Verstärkung der sowjetischen Partisanenformationen aus der UdSSR. Viele der diesbezüglichen Dokumente wurden schon während des Krieges vernichtet, der Einsatz von V-Leuten womöglich überhaupt nicht verschriftkcht. Hinzu kamen Kriegsverluste durch Luftangriffe und den späteren, teils chaotischen Rückzug deutscher Truppen aus den besetzten Ostgebieten. Die Suche nach Spuren nachrichtendienstlicher Erkenntnisse gleicht darum mitunter jener sprichwörtlichen nach der Nadel im Heuhaufen. Ein überprüfbares Beispiel sind die tägkch abgefaßten »Bandenmeldungen« der Heeresgruppe Mitte, gegliedert in eine Lagezusammenfassung und die Einzelmeldungen zum unterstellten Bereich sowie Kriegstagebücher und Ic-Meldungen aus Während die
Czeslaw Madajczyk, Kann man in Polen 1939-1945 von Kollaboration sprechen?, in: Europa unterm Hakenkreuz. Okkupation und Kollaboration (1938-1945). Beiträge zu Konzepten und Praxis der Kollaboration in der deutschen Okkupationspolitik, hrsg. von Werner Röhr, Berlin 1994, S. 133-148; Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945, Frankfurt a.M. 1965 [Erstausgabe Stuttgart 1961]; Christoph Kleßmann, Die Selbstbehauptung einer Nation. Nationalsozialistische Kulturpolitik und polnische Widerstandsbewegung im Generalgouvernement 1939-1945, Düsseldorf 1971. Amt Abwehr, Die politische Einstellung der polnischen Bevölkerung im Generalgouvernement, 10.10.1944, BA-MA, RW 5/464, Bl. 153 f., Zit. Bl. 154 Rückseite. Dort heißt es weiter: »wenigstens irgendwelche Versprechungen solle man machen, auf denen man aufbauen« könne.
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dem unterstellten Bereich. Insgesamt handelt es sich um eine überaus wertvolle Quellengruppe. Ebenso wie der sowjetische NKVD und NKGB (Volkskommissariat für Staatssicherheit) oder die Aufklärungsabteilungen der Armia Krajowa waren auch die deutschen Abwehroffiziere dafür ausgebildet und dazu verpflichtet, ein nüchternes, ungeschöntes Feindlagebild zu ermitteln. Dieses diente als Grundlage der mihtärischen Operationsführung oder für die Einleitung je politisch, weltanschaulich oder rassenideologisch motivierter Maßnahmen. Gerade aus diesem Grund waren eigene weltanschauhche oder politische Festlegungen für die professionelle Zusammenfassung und Bewertung nachrichtendiensthcher Erkenntnisse nicht nur belanglos, sondern diesen sogar hinderhch. Die deutschen Abwehroffiziere führten Feindlagekarten und detaillierte Übersichten, welche neben der Stärke, den Namen des Führungspersonals und den Dislozierungsorten auch Einzelheiten zur Versorgung, Ausrüstung und Bewaffnung bis hin zu Erkenntnissen über die physische und psychische Einsatzbereitschaft auswiesen28. Falsche Schreibweisen von Ortsnamen (Sloki statt Soly, Grauzyszki statt Gruzyszki etc.) machen den mühsamen Abgleich mit den angegebenen Koordinaten oder Entfernungsangaben notwendig, um Örtlichkeiten zweifelsfrei zu identifizieren. Die Meldungen ermöglichen es in diesem Fall, den genauen Weg von Partisaneneinheiten zu verfolgen. Selbst Umgruppierungen innerhalb für deutsche Kräfte nahezu unzugänglichen Geländeabschnitten wie der Puszcza Nalibocka (Urwald mit einer Ausdehnung von etwa 40 mal 40 Kilometern zwischen Wolozyn, Stolpce und Nowogródek gelegen) oder der Puszcza Rudnicka, 40 Kilometer südwestlich von Wilna, werden nachvollziehbar29. »Bandenmeldungen«, die für den Jahresbeginn 1944 erhalten gebheben sind, enthalten zahkeiche Hinweise auf die Eskalation des polnisch-sowjetischen Konfliktes. Bis zur Jahresmitte 1943 beschränken sich die Meldungen des Abwehroffiziers (AO) bei der Heeresgruppe meist auf die Auflistung von Zusammenstößen, Überfallen, Sabotageakten oder der Ermittlung angebhch »bandenfreundhcher« Ortschaften und Regionen. Später schlagen sich zum Jahresende Ihn nationale Spannungen zunehmend in der Beurteilung der Sicherheitslage nieder. Dies betraf zum einen den aufflammenden polnisch-litauischen Konflikt. Die Aufstellung litauischer Polizeiverbände wie beispielsweise der Litauischen Polizeibataülone (LVR) unter Führung von General Povilas Plechavicius, von den Litauern als Basis für eine nationale Armee gesehen, beobachtete die deutsche Aufklärung in diesem Zusammenhang mit Argwohn. Diese Maßnahme werde im Wilnagebiet die Anstrengungen der Heimatarmee vervielfachen, die Region unter polnischen Einfluß zu bringen und darüber hinaus »von sowjetischen Banden zu säubern«3". Die Mobilisierung der Truppen Plechavicius' führte aus deutscher Sicht zu 28 29
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HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 4.2.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 104. Vgl. z.B. eine detaillierte entsprechende Auswertung in HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944,
BM vom 13.2.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 128. WBW, Ic, Bandenlagebericht vom 1.-25.5.1944, 28.5.1944, BA-MA, RW 41/67; HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.3.-30.4.1944, BM vom 28.3.1944, BA-MA, RH 19 11/306, Bl. 68, und BM vom 31.3.1944, ebd., BL 79.
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Sicherheitsproblem, da immer mehr litauische Schutzleute aus den Schutzmannschaften desertierten, weil sie sich der »nationalen« Armee des Generals anschließen wollten31. Der Versuch, die im April 1944 neu aufgestellten htauischen Polizeibataillone 301, 303, 305, 306, 308 und 309, unterstellt dem HSSPF Ostland, Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, zur Überwachung und Sicherung des Wilnagebietes einzusetzen, endeten mit einem Fiasko. Schon beim Einrücken von Einheiten, die zu den bereits erwähnten Plechavicius-Verbänden zählten, kam es zu Ausschreitungen gegen die polnische Zivilbevölkerung. Die Bataillone zogen die verstärkte militärische Abwehr der Armia Krajowa auf sich und mußten empfindliche Verluste durch Überfälle und Hinterhalte hinnehmen. Als allgemeine Auflösungserscheinungen einsetzten, befahl Jeckeln die Entwaffnung der htauischen Einheiten32. Auch die 221. Sicherungsdivision beantragte, alle litauischen Polizeibataillone in »rein litauische Gebiete« zurückzuführen, da die Zustände in der Region »untragbar« geworden seien33. Im Mai sagte der HSSPF Ostland die »Bereinigung der unklaren Zustände im Wilna-Raum zu, sobald die Kräfte zur Zerschlagung zur Verfügung stehen«. Dies geschah schließlich unter Einsatz von Kräften der 221. Sicherungsdivision34. Einheiten der Heimatarmee gingen verstärkt gegen Einrichtungen der htauischen Polizei und Selbstverwaltung vor. Schon eine einzige deutsche Feindlagemeldung vermittelt einen Eindruck von den Ereignissen: Ende Januar 1944 tötete bei Soly, knapp 40 Kilometer südöstlich von Wilna gelegen, eine »polnische Bande« 17 jüdische Ghettoflüchtlinge. Auftrag der Gruppierung sei es gewesen, die litauische Verwaltung in Gruzyszki zu liquidieren und danach sowjetische Partisanen in diesem einem
Raum zu vernichten35. Nördlich der Stadt Baranowicze trat eine national-weißrussische Formation »Jakub Kolas« mit dem Ziel in Erscheinung, alle zu vernichten, »die der Wiederherstellung eines nationalen [also nicht-sowjetischen, B.C.] Weißrußland im Wege sind«36. Hier wirkten sich deutsche Versuche aus, im Generalkommissariat Weißruthenien das beinahe vollständig aus Gebieten bestand, die vor 1939 zu Polen gehörten und teils mehrheitlich polnisch besiedelt waren zum Kriegsende hin —
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Vor dem Hintergrund der polnisch-litauischen Auseinandersetzungen ist ein Eintrag im Kriegstagebuch (KTB) des Wehrmachtbefehlshabers Weißruthenien aufschlußreich, in dem es heißt, generell fühlten sich die litauischen Schutzleute im Wilnagebiet (im Vergleich zu den Polen) »fremd und unsicher« und seien aus diesem Grunde in starkem Maße anfällig für die Desertion. KTB Nr. 6, Wehrmachtbefehlshaber Weißruthenien, jetzt General-Kdo. Rothkirch (WBW-GKR), 1.1.-30.6.1944, BAMA, RW 41/58,17.4.1944, Bl. 98. WBW, Ia, Nr. 2453/44 geh., 19.5.1944, BA-MA, RW 41/59b, Bl. 79 f. KTB Nr. 6, WBW-GKR, 1.1.-30.6.1944, BA-MA, RW41/58, 17. und 19.5.1944, Bl. 117, 119. KTB Nr. 6, WBW-GKR, 1.1.-30.6.1944, BA-MA, RW 41/58, 4.5.1944, Bl. 111. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 7.1.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 21. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 10.1.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 31; BM vom 4.2.1944, ebd., Bl. 102; BM vom 7.2.1944, ebd., Bl. 112. Jakub Kolas, 1882-1956, eigentlich Kanstancin M. Mickevic, wichtiger Vertreter der weißrussischen Nationalliteratur im 20. Jahrhundert.
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noch so etwas wie weißrussische nationale Eigenständigkeit zu kreieren. Der Chef der deutschen Zivilverwaltung zu diesem Zeitpunkt bereits identisch mit dem HSSPF inthronisierte einen Weißruthenischen Zentralrat (BCR) und eine weißrussische »Heimatwehr« (BKA) unter Radaslaü Astroüski37. Beide Maßnahmen verstärkten den polnischen Widerstand, bei manchen deutschen Politikern und Chefs der Zivilverwaltung aber auch die Einsicht, daß angesichts der Verhältnisse vor Ort pragmatische Lösungen unabhängig von künstlichen Grenzen anzustreben seien. Bestimmend für die Region war jedoch der polnisch-sowjetische Gegensatz. Der Sicherheitsdienst (SD) berichtete für den Bereich des Wehrmachtbefehlshabers Weißruthenien von Rekrutierungen unter der einheimischen Bevölkerung und der Aufstellung gut ausgerüsteter »weißpolnischer Banden« in der Stärke von mehreren tausend Mann. Sowjetische Verstärkungen trafen im Raum Baranowicze, Sluck und Slonim ein. Während sowjetische Bemühungen, im Südosten der Stadt Brest lokale Einwohner zum Eintritt in sowjetische Partisanenabteilungen zu bewegen, wenig Erfolg hatten, berichteten V-Leute für dieselbe Region von den außerordentkch effektiven Rekrutierungsversuchen »polnischer Offiziere«38. Partisanengruppen übten »Vergeltung« dafür, daß junge Männer sich zum Miktär- oder Polizeidienst auf der »falschen« Seite bereit erklärten, indem sie beispielsweise die Häuser der Eingezogenen abbrannten oder deren Familien bedrohten, auf unterschiedliche Weise bestraften oder töteten. Im deutschen Hinterland bauten 20- bis 25jährige Männer zwangsweise Straßensperren und Feldbefestigungen für die Rote Armee. Sowjetische Einheiten trieben Nahrungsmittel ein, selbst wenn dies der einheimischen Bevölkerung größere »Opfer« abverlangte39. Wie die auf sowjetischer, polnischer, ukrainischer oder litauischer Seite üblichen Versorgungsstreifzüge in der Praxis aussahen, lassen stereotype Meldungen über Plünderungen und Mißhandlung der Zivilbevölkerung ahnen dieses Problem wird im vorliegenden Band an anderer Stelle ausführlich thematisiert4". Immer wieder tauchen im Frühjahr 1944 auch Berichte über die »zunehmende Judenfeindlichkeit der Banden« auf41. -
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WBW, Ic, Az.: 3/Pa 1640/44 g, 1.5.1944, BA-MA, RW 41/67, S. 2. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 26.2.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 166; KTB Nr. 6, WBW-GKR, 1.1.-30.6.1944, BA-MA, RW 41/58, 31.3.1944, Bl. 83. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 4.2.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 104; HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.3.-30.4.1944, BM vom 7.3.1944, BA-MA, RH 19 11/306, Bl. 20.
den Beitrag von Janusz Marszalec; entsprechende Aussagen zum Wilnagebiet beispielsweise HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.3.-30.4.1944, BM vom 16.3.1944, BA-MA, RH 19 11/306, Bl. 38; BM vom 21.3.1944, ebd., Bl. 49, nach der eine 500 Mann starke polnische Formation im Wilnagebiet litauische Umsiedlerfrauen mißhandelte und damit drohte, für jeden erschossenen polnischen Soldaten 100 Litauer zu töten. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.3.-30.4.1944, BM vom 2.4.1944, BA-MA, RH 19 11/306, Bl. 86; BM vom 30.4.1944, ebd., Bl. 158; vgl. zu diesem problematischen Aspekt The Story of Two Shtetls, Braiisk and Ejszyszki. An Overview of Polish-Jewish Relations in Northeastern Poland during World War II, ed. by the Polish Educational Foundation in North America, Toronto 1998, dort reichhaltige Literatur- und Quellenverweise; vgl. außerdem Tadeusz Piotrowski, Poland's Holocaust. Ethnic Strife, Collaboration with Occupying Forces and Genocide in the Second Republic,
Vgl. in
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Kriegslist oder Bündnis mit dem Feind?
509
Die Schaffung lokaler NKVD-Strukturen, in sowjetisch kontrollierten Dörfern der ehemahgen Kresy für die Überwachung der Sicherheit und der politischen Arbeit eingesetzt, war der deutschen Abwehr im Detail bekannt. Sonderkommandos des NKGB liquidierten Kollaborateure der deutschen Besatzungsmacht42. 40 km ostwärts Lida zerstörte ein sowjetischer Partisanenverband die Orte Lazduny, Izabelin und Babiñsk und nahm Erschießungen unter den Einwohnern vor. Zur gleichen Zeit heferten sich polnische und sowjetische Abteilungen bei Doniewicze heftige Gefechte43. V-Leute berichteten über die Rekrutierung polnischer Freiwüliger, um angesichts des sowjetischen Vormarsches im Wilnagebiet sowie im Raum Piñsk den lokalen Selbstschutz zu organisieren44. Die Abwehr ging Ende März von bis zu 10 000 Mann ukrainischer nationalistischer Formationen aus, die alleine in der Region um Pinsk zum Kampf gegen die Rote Armee sowie mit dem Ziel ethnischer Säuberungen antraten45. Überall in den Kresy eskaherten die Auseinandersetzungen. Polnische und sowjetische Formationen rüsteten zu einem Entscheidungskampf. Einige wenige Beispiele sollen dies veranschauhchen. Südwestlich Lida standen beiderseits des Niemen verhältnismäßig gut ausgerüstete Kräfte in Stärke von 1500 Mann, bestehend aus »ehemahgen polnischen Soldaten, Pohzisten, Lehrern, Flüchtlingen aus Wilna«. In Holczany (zwischen Wolozyn und Oszmiana) konzentrierte die Armia Krajowa seit Mitte März starke Kräfte46. Der Wehrmachtbefehlshaber Weißruthenien ging im Mai 1944 für seinen Verantwortungsbereich von mindestens 75 000 bewaffneten Untergrundkämpfern aus47. Für den Raum Radoszkowicze, Dubrowy und Raköw (35 Kilometer westlich/nordwestlich von Minsk) lagen Erkenntnisse darüber vor, daß dort sowjetische Abteilungen zusammengezogen würden, um lokale polnische Gruppen zu vernichten. Seit dem 15. Januar wurden bei Raköw polnisch-sowjetische Kämpfe beobachtet, wobei die lokale Schutzmannschaft auf polnischer Seite in die Ge-
1918-1947, Jefferson, N.C. 1998; vgl. auch Anna Ferens, Glowy na wietrze, in: Gazeta Wyborc27./28.5.2000, S. 14-19. Ferens setzt sich unter anderem mit den Thesen der HolocaustForscherin Yaffa Eliach auseinander, die die Armia Krajowa im Wilnagebiet als extrem antisemitisch beschreibt und ihren »Hauptauftrag in der Ermordung der Juden« sah, ebd., S. 14. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 29.1.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 87; BM vom 12.2.1944, ebd., Bl. 125. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 29.2.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 175; vgl. aus sowjetischer Sicht Chef Aufklärung Brigade »Vperëd« [Vorwärts] vom 24.2.1944, NARB, fond 3500, opis' 4, delo 242, 1. 396 397, zit. nach Armia Krajowa na Nowogródczyznie i Wileñszczyznie (1942-1944) w swietle dokumentów sowieckich, hrsg. von Zygmunt Boradyn, Andrzej Chmielarz und Henryk Piskunowicz, Warszawa 1997, Dok. 63, S. 160- 162. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 21.1.1944, BA-MA, RH 19 11/305, BL 63; BM vom 28.1.1944, ebd., Bl. 82. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.3.-30.4.1944, BM vom 26.3.1944, BA-MA, RH 19 11/306, Bl. 62. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 19.1.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 57; BM vom 23.1.1944, ebd., Bl. 67-69; HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.3.-30.4.1944, BM vom 8.4.1944, BA-MA, RH 19 11/306, Bl. 101; Dislozierung dreier Brigaden der Heimatarmee im Raum Gruzyszki-Murowana Oszmianka-Holszany in BM v. 22.4.1944, ebd., Bl. 137. Anlage zu WBW Ia Nr. 406/44 geh. Kdos. vom 5.5.1944, BA-MA, RW 41/59b, Bl. 1. za,
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fechte eingegriffen habe48. Sowjetische Aufklärungsberichte bestätigen diese Aktionen gegen »polnisch-faschistische Banden«49. Im Wilnagebiet klärte die Abwehr Anfang März die Kräftekonzenttation der Heimatarmee und den Stand der Vorbereitungen für die Operation »Burza« auf5". 50 Kilometer südostwärts der Stadt vernichteten Einheiten der Armia Krajowa in den Nächten auf den 3. und 4. Februar etwa 150 aus der Luft abgesetzte sowjetische Fallschirmjäger. Es kam zu polnisch-sowjetischen Kämpfen im Raum Lida und Molodeczno51. Der SD verfolgte beispielsweise die sowjetischen Versuche, durch Kräftekonzentration und Einkreisung die Einheiten des Rittmeisters Józef Swida »Lech« zu zerschlagen, der als deutscher Verhandlungspartner in Erscheinung trat52. Im März »säuberte« der NKVD den Raum Smorgonie-Zodziszki westhch des Narocz-Sees (60 Küometer östlich Wilna) von »polnischen Banden«53. In der Puszcza Nalibocka landeten die Sowjets aus der Luft Verstärkungen für den Vorstoß sowjetischer Partisanengruppen in Richtung Brest sowie für die »Bereinigung« dieser Region von »weißen« Partisanen an54. Der SD vermutete in dem Waldgebiet bis zu 50 000 Mann unterschiedhcher politischer Ausrichtung, die über leistungsfähige Werkstätten verfügten und sich angeblich sogar mit der »Zusammensetzung von Panzern befassen«55. Bekannt war der Befehl an die sowjetischen Kommandeure, im Rahmen von Sabotageaktionen und bewaffneten Überfällen gegen kleinere deutsche Stützpunkte, Gendarmerieposten und die einheimischen »Schutzmannschaften« mit aller Entschiedenheit auch gegen die Formationen des nicht-kommunistischen polnischen Untergrundes vorzugehen56. An den hier kursorisch vorgestellten Aufklärungsergebnissen der Abwehr und der »normalen« Wehrmachtverbände partizipierte der deutsche Sicherheitsapparat 48
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HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 11.1.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 34, Bestätigung in BM vom 17.1.1944, ebd., Bl. 50; Meldung zu den Schutzmannschaften in BM vom 22.1.1944, ebd., Bl. 64, wo dieses Ereignis als wichtig genug erachtet wurde, um es im resümierenden, ersten Teil des Ic-Berichtes zu präsentieren. Vgl. Meldung Chef des Stabes (CdS) Partisanenbrigade »Iosif Stalin« vom 26. und 29.12.1943, NARB, fond 3602, opis' 1, delo 3,1. 304 und 266, sowie vom 25.1.1944, NARB, fond 4, opis' 33a, delo 487, 1. 85, zit. nach Armia Krajowa na Nowogródczyznie (wie Anm. 43), Dok. 36, S. 110,
Dok. 38, S. 113, Dok. 54, S. 140-142. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.3.-30.4.1944, BM vom 5.3.1944, BA-MA, RH 19 11/306, Bl. 16; BM vom 25.3.1944, Bl. 59, mit zwei weiteren erkannten Brigaden der Heimatarmee, ab April Teil der Gruppierung Nr. 2 »Pólnoc«, welche dort die Operation »Burza« durchführte (vgl. den Beitrag von Grzegorz Mazur in diesem Sammelband). HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 10.2.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 117; BM vom 13.2.1944, ebd., Bl. 126. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 13.2.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 129; HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.3.-30.4.1944, BM vom 10.3.1944, BA-MA, RH 19 11/306, Bl. 27; zu einer sowjetischen Spezialoperation zur Ausschaltung von »Lech« Ende März vgl. BM vom 31.3.1944, ebd., Bl. 78. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.3.-30.4.1944, BM vom 4.4.1944, BA-MA, RH 19 11/306, Bl. 93; BM
7.4.1944, ebd., BL 100. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 3.2.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 100. HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 11.2.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 122. »Darüber hinaus sollen sämtliche weißen Banden erfaßt, die Führer erschossen und die Mannschaften aufgesogen werden«, HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 6.1.1944, BAMA, RH 19 11/305, Bl. 17.
vom 34
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Kriegslist oder Bündnis mit dem Feind?
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Führung der SS- und Polizeiführer (SSPF) ebenso wie die deutsche Zivilverwaltung. Die dramatische Lageentwicklung und vor allem die Entstehung neuer nationaler und poktischer Frontknien war für die Beteikgten offensichtkch und tägkch erfahrbar. Das »Sicherheitsproblem« stellte die Führer des deutschen »Bandenkampfes« tägkch vor neue Schwierigkeiten und bewirkte den Einsatz zusätzkcher Mittel für die brutale »Befriedung« des deutsch besetzten Territoriums. Es schuf außerdem geradezu ideale Voraussetzungen für die Suche nach neuen, bislang verschmähten Bündnispartnern. Polnische »Zusicherungen« tauchen ab der Jahreswende 1943/44 häufig in deutschen Dokumenten auf. Am 1. Februar ist beispielsweise davon die Rede, ein polnischer Überfall auf den Pokzeistützpunkt Horodno (etwa 25 km nordwestkch von Lida, dem Sitz eines deutschen Gebietskommissariats) am 18. Januar habe die bewiesen. Dort hatten Angehörige der Heimatarmee polnische Unzuverlässigkeit einen Gutshof und Wirtschaftsgebäude abgebrannt und 50 Gefangene aus dem Zivilgefängnis befreit sowie Waffen, Ausrüstung und vier Kräder erbeutet. Der Überfall sei entgegen der ausdrücklichen Zusage des polnischen Kommandeurs erfolgt, »nur gegen Bolschewiken und Juden zu kämpfen«57. Im Raum Szczuczyn— Raduti—Wasiliszki legten die lokalen polnischen Gruppen seit März ein neutrales Verhalten an den Tag, nachdem ihnen die Abwehr bis dahin eine »deutschfeindkche« Haltung attestiert hatte58. Die Haltung einzelner Kommandeure der Heimatarmee ging über bloße Neutralität weit hinaus. Das Kriegstagebuch des Wehrmachtbefehlshabers Weißruthenien notiert am 12. Februar »Abmachungen zwischen dem SD und den polnischen Banden, die im Raum Lida mit den Pokzeisteken zusammen arbeiten59.« Vier Tage später stellte die für Lida verantwortkche 221. Sicherungsdivision den Antrag, schwere Maschinengewehre und Granatwerfer an die Armia Krajowa zu kefern, die sich nach Verhandlungen mit dem SD dazu verpflichtet habe »Einsatzaufttäge zu übernehmen«. Die Verhandlungen mit Rittmeister »Lech« in Lida werden in diesem Sammelband an anderer Stelle aus polnischer Sicht geschildert6". Der Text einer am 9. Februar unterzeichneten polnischen Erklärung veranschaulicht jedoch die Tragweite des Geschehens: »In der Überzeugung, dass ein Sieg des Bolschewismus das Ende der europäischen Kultur sowie allen völkischen und staatkchen Eigenlebens bedeuten würde, erklären wir, die Unterzeichneten, mit den von uns geführten Einheiten, gegen den gemeinsamen Feind mitzukämpfen. Im Sinne der am 25.1.1944 in Lida getroffenen Vereinbarungen verpflichten wir uns, mit deutschfeindlichen Gruppen keine Verbindung zu unterhalten. Wk lehnen die Zusammenarbeit mit solchen Gruppen ab, wek wir wissen, dass sich ihre Tätigkeit nur vernichtend für unser Polentum auswirken muß. unter
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HG Mitte, Ic/AO (Abw), 1.1.-29.2.1944, BM vom 1.2.1944, BA-MA, RH 19 11/305, Bl. 96. Der Kommandierende General der Sicherungstruppen und Befh in Weißruthenien, Ic, Az.: 3/Pa zum Bandenverzeichnis vom 29.2.1944, 1311/44 g., 31.3.1944, BA-MA, RW 41/67, S. 11. KTB Nr. 6, WBW-GKR, 1.1.-30.6.1944, BA-MA, RW 41/58, 11.2.1944, Bl. 42. Vgl. den Beitrag von Kazimierz Krajewski.
Änderungen
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Bernhard Chiari
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Völkische Auseinandersetzungen aller Art werden wk sorgfältigst vermeiden, besonders werden wk niemals gegen Russen, Weissruthenen, Ukrainer usw. Maßnahmen wegen ihres Volkstums ergreifen.
Aufgabe sehen wir erstens in der Bekämpfung und Vernichtung des Sowjetsystems und aller bolschewistischen Banden in den uns auf Grund der obigen Besprechung zunächst zugewiesenen Gebiete nördlich des Njemen bis zur Eisenbahnsttecke Wolkowysk-Molodetschno [Wolkowysk-Molodeczno] und dem Abschnitt zwischen Mosty und Iwje. Über die Bereinigung weiterer Gebiete durch uns wkd zu gegebener Zeit gesprochen. Wk werden alles unternehmen, um auch von den rotpolnischen Banden Irregeführte wieder zum Selbstschutzkampf gegen die Sowjets zurückzuführen. Insbesondere wollen wk versuchen, andere polnische Einheiten ganz oder teilweise für uns zu gewinnen. Von der Werbung unter der Bevölkerung sehen wk ab, weil die in den Dörfern verbliebenen Männer dort zur Verteidigung ihres Heimatbodens als Selbstschutz dringend gebraucht werden. Über die Bewegungen der roten Banden, ihre Lager, ihre Stärke, ihre Absichten und Unternehmungen werden wk die bekannten deutschen Stellen laufend unterrichten. Den gleichen deutschen Stellen werden wir jeweils vorher die von uns geplanten Einsätze bekanntgeben [...] Auch vom Ergebnis unserer Unternehmungen werden wir laufend berichten. Für die Durchführung dieser Aufgaben ist uns am 25.1.1944 Unterstützung durch Waffen, Gerät, Munition, Arzneimittel und die Behandlung unserer Verwundeten zugesichert worden [...]61.« Vor dem Hintergrund der hier geschilderten polnisch-sowjetischen Kämpfe spricht die Erklärung für sich. Sie benennt aus deutscher wie aus polnischer Sicht eine existentielle militärische Bedrohung, der zu diesem Zeitpunkt weder die Armia Krajowa noch die deutsche Wehrmacht wkksam begegnen konnten. Dennoch war die deutsche Einschätzung solcher Abmachungen dies zeigt auch die weiter oben angeführte Episode in Horodno zwiespältig62. Polnische Angriffe, vor allem auf Polizeiposten, und deutsche »Partisanenaktionen« gingen weiter. Mitte April fiel die nur 30 Kilometer von Lida entfernte Station Waskiszki mit 29 deutschen und einheimischen Männern Besatzung in die Hände von 500 Kämpfern der Armia Krajowa63. Insgesamt blieb das Verhältnis zur Heimatarmee von Mißtrauen bestimmt. Unsere
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Das »Bandenverzeichnis« des Wehrmachtbefehlshabers Weißruthenien führte im Frühjahr 1944 die 600 Mann starke »Weißpolnische Bande Gura« [die »Legion« Adolf Pilchs »Góra«], disloziert im Raum Iwieniec-Raków, als »Vertragsbande« seit dem 1. März, gleichfalls die Formation des Rittmeisters »Lech« mit einer Stärke von bis zu 1500 Mann mit Stab in Toboly64. Während die Legion zu diesem Zeitpunkt als zuverlässig eingestuft wurde, bedürfe »Lech« weiterhin 61
62 « miktärische Tatx (was heute mein Generalstabschef sagte), gehen die Auffassungen auseinander92.« Bis zum Ende der deutschen Besatzung geistern polnische »Vertragsbanden« und »nationalpolnische Banditen« durch die deutschen Aufklärungsmeldungen. Noch im Juli lagen dem Abwehroffizier der Heeresgruppe Mitte Meldungen vor, nach denen die Armia Krajowa in Wilna ein Zusammengehen gegen die Rote Armee angeboten habe93. Julius Christiansen bestätigte dieses Angebot in einem Brief vom August 1944 und berief sich dabei auf einen ausführlichen Bericht des bereits erwähnten Hauptmann Eiberg. Die »damaligen Gesprächspartner« (die Führung der Armia Krajowa im Bezirk Wilna) hätten »zunächst die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln und später ein Zusammengehen im deutschen Heeresverband angeboten. Noch als die Belagerung [durch die Rote Armee, B.C.] schon im Gange war, haben sie mit uns gehen wollen. Als auch das abgelehnt wurde, sind sie zu den Russen übergegangen. Dort sind sie dann später entwaffnet und verschleppt worden. Eine Tragödie, die aber meine damaligen Maßnahmen rechtfertigt94.« Julius Christiansen ist es ganz offensichtlich gelungen, ein vertrautes, fast freundschaftliches Verhältnis zu seinen polnischen Gesprächspartnern aufzubauen. Am 12. Mai 1944 schrieb ihm aus der Abwehrstelle Wilna sein ehemaliger Dolmetscher, Max Grzeschik, mit dem Christiansen nach seiner Versetzung in Briefwechsel stand. Grzeschik, der seinem ehemaligen Chef offensichtlich treu ergeben war, gab einen sehr persönlichen Bericht über die Vor—
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Brief Julius Christiansen vom 3.3.1944, PHC. Kdr SiPo u.d. SD Litauen, IV L, B.Nr. 59/44 g., 15.3.1944, in: Chiari, Reichsführer SS Anm. 6), Dok. 17, S. A 150; BdS Ostland, 22.3.1944, FS an RSHA, ebd., Dok. 18, S. A 150. Brief Julius Christiansen vom 6.3.1944, PHC. FS Nr. 5907, Minsk 3.7.1944, an BdS Riga, für Außenstelle Wilna, in: Chiari, Reichsführer SS Anm. 6), Dok. 22, S. A 153. Brief Julius Christiansen vom 17.8.1944, PHC.
(wie (wie
Bernhard Chiari
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in Wilna. Er bedauerte Christiansens Versetzung um so mehr, als mit Blick auf die deutsch-polnischen Kontakte »in letzter Zeit so allerhand interessante Sachen passiert sind«, Christiansen aber nicht mehr von seiner »Arbeit die Früchte ernten« könne. Grzeschik berichtete in seinem Brief unter anderem von einem Gespräch mit dem deutschen V-Mann »Bruno« (Klarname unbekannt), der noch am 26. April »Blümchen« getroffen habe, so der deutsche Deckname für Oberst Aleksander Krzyzanowski »Wilk«. »Blümchen« habe sich angesichts eines SD-Mannes, der zu einem gemeinsamen Treffen erschien, wie folgt geäußert (in der etwas mühsamen Diktion und Rechtschreibung des Übersetzers, vermutlich eines »Volksdeutschen«): »Ich möchte gern wissen wollen was man eigentkch mit mir vor hat. Ich habe seiner Zeit nur mit dem Mfajor Christiansen] verhandelt und will in Zukunft nur mit dem Mjr. weiter verhandeln. Zum letzten Treff ist zu meinem erstaunen, nur ein SD Offizier erschienen. Mit dem sollte ich sprechen. Ich tuhe das aber nicht. Der Mjr. [hat] mein und ich habe sein Ehrenwort und mit dem SD werde ich nie verhandeln, weil ich zu den Leuten kein Vertrauen habe. Beim nächsten Treff werde ich verlangen das ich mit dem Mjr. zusammen komme, andernfalls arbeite ich für Sie nicht.« Grzeschik berichtete Christiansen verbittert von Plänen seiner Dienststelle, »das es doch an der Zeit währe entkch mal den Blümchen hochgehen [zu] lassen«, und schloß resümierend: »Ja! Lieber Herr Chef so zersägt man Ihre mit Mühe aufgebaute Arbeit. Man könnte häulen wie ein Hund. Ich würde jedenfals mich eher ersaufen gehen als bei so einem Verein bleiben müssen wie der in der Ciurkonisstes [= Dienststelle der Abwehr in Wilna]95.« Zwischen Grzeschik und seinem ehemakgen Vorgesetzten herrschte ein von ausgesprochener Loyahtät und Verbundenheit getragenes Verhältnis. Dies geht auch aus den persönhchen Bemerkungen und Bezügen des Briefes hervor. Grzeschik war offenbar direkt an den Ereignissen beteiligt, auf die er Bezug nimmt (»Früchte der Arbeit«). Die Kontakte mit »Wilk« haben für Grzeschik in Zusammenhang mit der Tätigkeit seines ehemaligen Chefs zentrale Bedeutung. Der Brief bestätigt damit die Schilderungen Christiansens selbst und ist ein Beleg dafür, daß Treffen und Gespräche mit »Wilk« auch nach dem Warschauer Verbot weitergingen. Major Christiansen beschäftigten die deutsch-polnischen Kontakte auch nach dem 1. Mai 1944 weiter als Kommandeur des Frontaufklärungskommandos 305 in Krakau. General Komorowski forderte Christansen kurz vor dem Ende des Warschauer Aufstandes namentkch als Vermittler an und bat ihn, für die Aushandlung der Kapitulationsbedingungen zur Verfügung zu stehen. Als am 27. September 1944 die Besatzung des Warschauer Stadtteils Mokotów kapitukerte und 2000 Soldaten und 5000 Zivilisten in Gefangenschaft gerieten, scheint Christi-
gänge
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Brief Sdf.
(G) [Sonderführer Gefreiter] Typoskript, PHC.
Max
Grzeschik, Feldpostnummer 40676, 12.5.1944,
Kriegslist oder Bündnis mit dem Feind?
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diesbezüglichen Absprachen getroffen zu haben96. Auch an den weiteren Gesprächen mit den Aufständischen war Christiansen beteihgt und hatte »einen gewissen, vielleicht entscheidenden Anteil durch meine damahge Wünaer Sache [...] Es scheint sich im übrigen eine erhebliche Wende politisch und militärisch vorzubereiten97.« Komorowski schenkte ihm später ein Porttätfoto mit persönhcher Widmung. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß Julius seinem Sohn bezüglich der Verhandlungen in Wilna mitteilte, zwischen beiden Seiten sei der Austausch von Geiseln vereinbart worden, und er selbst Hinrich-Boy sei für die »ehrenvolle Geiselhaft« in London vorgesehen. Eine solche Aussage läßt sich quellenmäßig bislang nicht belegen. Sie zeigt aber zumindest, wie weit die an den Verhandlungen Beteiligten zeitweise über Wilna hinausgedacht haben. Ebensowenig gibt es Belege für Julius Christiansens mündliche Aussage seinem Sohn gegenüber, zusätzlich zu den offiziell vereinbarten Aktionen gegen sowjetische Partisanengruppen hätten weitere gemeinsame Aktionen ohne Vereinbarung stattgefunden. Hinrich-Boy Christiansen traf mit seinem Vater nach Kriegsende noch einmal in russischer Kriegsgefangenschaft zusammen. Auch nach dem Ende des »Dritten Reiches« habe Julius seine Einschätzungen vom Potential der geführten Verhandlungen bestätigt98. ansen
die
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Versuch einer Einordnung
Deutsch-polnische Verhandlungen in den ehemahgen Kresy Wschodnie fielen mit dem Beginn eines Bürgerkriegs und mit der Eskalation nationaler Konflikte zusammen. Zum Jahreswechsel 1943/44 war die mihtärische Zusammenarbeit mit dem polnischen Untergrund eine durchaus realistische und in vielen Fällen greifbare Variante, um den deutschen Machtbereich im Kampf gegen die Sowjetunion zu mobilisieren. Mit der Aufstellung einer russischen Freiwilligenarmee unter General Andrej A. Vlasov hat die deutsche Führung von solchen Zweckbündnissen selbst mit Bhck auf die Sowjetunion Gebrauch gemacht. Daß es nicht zu weitreichenden Absprachen mit dem polnischen Untergrund kam, hat viele Gründe. Zunächst fehlte das häufig zitierte »Angebot« einer veränderten deutschen Polenpohtik. Trotz entsprechender Ansätze, Vorschläge und Visionen in der letzten Kriegsphase blieben Terror, Ausbeutung, »Eindeutschung« und physische Auslöschung die zentralen Erfahrungen der polnischen Bevölkerung. Verhandlungsangebote und das gegenseitige Abtasten begannen zu einem Zeitpunkt, als die Rote Armee bereits fast das polnische Vorkriegsterritorium erreicht hatte. Dies war einerseits ein gewichtiger Grund für polnische Kommandeu-
re, sich mit Bhck auf die Wehrmacht die 96 ,J7 1,8
Überlegung vom
»kleineren Übel«
Briefe Julius Christiansen vom 5. und 25. Oktober 1944, PHC; Foedrowitz, W »modus vivendi« (wie Anm. 12), S. 178. Brief Julius Christiansen vom 5.10.1944, PHC. Mündlicher Bericht Hinrich-Boy Christiansen am 1.9.2000 in Hamburg.
zu
poszukiwaniu
Bernhard Chiari
526
zu machen. Andererseits schränkte es die Glaubwürdigkeit der deutschen Offerten ein. Auf dem Gebiet des deutschen »Generalkornmissariats Ostland«, das weite Teile der ehemaligen nordöstlichen Grenzgebiete mit einer reaktäts fernen
eigen
Politik der Belorussifzierung belegte, waren einige sowjetisch kontrollierte Zonen ohne starken militärischen Schutz für die Besatzungsmacht schon längst nicht mehr zu betteten. Der deutsche »Bandenkampf« und groß angelegte »Befriedungsaktionen« wie das Unternehmen »Hermann« zeigten das wahre Gesicht des zu Ende gehenden Krieges99. Dennoch hat es durchaus substantielle Ansätze einer Zusammenarbeit gegeben. Polnische Kommandeure, die mit ihren deutschen Counterparts verhandelten, verrieten nicht zwangsläufig ihre nationalen Grundsätze. Sie gehorchten der Not. Unter den Bedingungen des letzten Kriegsjahres bildeten sich auf der »Arbeitsebene« tragfähige gegenseitige Beziehungen aus. Das Beispiel der Heimatarmee im Wilnagebiet zeigt die Intensität, die persönliche Bindungen annehmen konnten. Auf deutscher Seite überdauerten bei einigen der handelnden Akteure neben den Stereotypen vom »polnischen Banditen« auch der Respekt und die Hochachtung gegenüber den polnischen Offizieren sowie die Vorstellung von »Ritterlichkeit« den Krieg. Daß dies trotz des insgesamt menschenverachtenden deutschen Vorgehens in Polen so sein konnte, paßt nicht in verallgemeinernde Schkderungen aus nationaler Perspektive. Das Wknaer Beispiel bestätigt jedoch die diesbezüglichen Aussagen von Anke Stephan zum Warschauer Aufstand1"". In der Beschreibung einer konkreten Situation, die das Handeln der Beteiligten bestimmte, liegt die Aussagekraft von Episoden wie jener aus dem Wilnagebiet. Die Angst vor einer zweiten Sowjetisierung führte fallweise dazu, daß polnischdeutsche Zweckbündnisse aus der Sicht der Betroffenen ein Ausweg aus einer
ansonsten unlösbaren Zwangslage waren. Sowjetische Aufklärungsergebnisse sowie die früh eingeleiteten Gegenmaßnahmen des NKVD bestätigen dies. Zu einem deutsch-polnischen Bündnis ist es nicht gekommen. Das heutige Wissen um sein Scheitern und um die umfassende sowjetische »Flurbereinigung« in den ehemaligen Kresy seit 1944 sollte jedoch nicht dazu führen, die Annäherung als bloße Kriegslist beiseite zu wischen. Die Jahre von 1939 bis 1945 waren auch keine »geschichtslose Zeit«, wie Hasso v. Zitzewitz mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg gemeint hat1111. Die schwierige miktärische Lage machte vielmehr für alle beteiligten Konfkktparteien (dies gkt auch für ukrainische und litauische Gruppen) und ihre in sich gespaltenen Lager nahezu jede Form der taktischen Zusammenarbeit möglich. Kommandeure wie »Wilk« und Julius Christiansen trieben eine solche zunächst nicht mit dem Blick auf die politischen Implikationen ihres Tuns voran. Als militärische Führer lösten sie Probleme auf pragmatische Weise und reagierten dabei auf aktuelle Lageentwicklungen. Diese ließen die deutsch-polnischen Kon-
Vgl. Kampfgruppe
von
Gottberg,
Einsatzbefehl für das Unternehmen »Hermann«, Tgb. Gefechtsbericht vom 20.8.1943,
398/4311, NARB, fond 370, opis'1, delo 1880, 1.60-71; NARB, fond 370, opis' 1, delo 1880,1. 104-112. Nr.
Vgl. den Beitrag im vorliegenden Sammelband. Hasso
von
Zitzewitz,
Das deutsche Polenbild in der Geschichte. 63-79.
wirkungen, Köln 1991, S.
Entstehung
Aus-
Einflüsse —
—
Kriegslist oder Bündnis mit dem Feind?
527
takte eine Zeitlang durchaus als eine erfolgversprechende Variante erscheinen, um das Ende des Krieges und die mihtärische Niederlage hinauszuzögern. Und weiter wagten in diesem Augenblick letztlich wohl beide nicht zu denken. * * *
Bernhard Chiari, Dr.
phil., geb. 1965, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Zeppelinstraße 127/128, 14471 Potsdam. E-mail: [email protected]
III.
Regionen, Minderheiten und Deutungen außerhalb Polens
nationale
Grzegorz Motyka Der polnisch-ukrainische Gegensatz in Wolhynien und Ostgalizien In der Zweiten Polnischen Repubhk bkdeten die nationalen Minderheiten ein Drittel der gesamten Bevölkerung. Die zahlenmäßig größte Gruppe waren die Ukrainer. Man geht davon aus, daß innerhalb der Grenzen des wiederentstandenen Polnischen Staates etwa fünf Millionen Ukrainer lebten und damit einen Anteil von 16 Prozent aller polnischen Bürger stekten. In Wolhynien und Ostgalizien, das in der offiziellen Amtssprache Ostkleinpolen hieß, bildeten die Ukrainer sogar die größte Bevölkerungsgruppe, und die Polen waren dort eine Minderheit1. Die Wo-
jewodschaften Wolhynien, Stanislawów und Tarnopol umfaßten geschlossene ukrainische Siedlungsräume, wenngleich in der letzteren viele Polen in Streusiedlungen lebten. Ukrainischen Charakter hatten auch der Ostteil der Wojewodschaft Lemberg und der Südteil der Wojewodschaft Polesien2. Viele Ukrainer waren der Ansicht, daß auf dem Territorium Wolhyniens und Ostgahziens ein unabhängiger ukrainischer Staat entstehen müßte, und deshalb betrachteten sie im Jahre 1919 die Einverleibung dieser Gebiete in die Zweite Polnische Repubhk als Okkupation. Die Antagonismen wurden durch die falsche Nationalitätenpolitik der polnischen Behörden angefacht. Diese Politik machte die ukrainische Minderheit zu Bürgern zweiter Klasse und führte, wie Ryszard Torzecki zu Recht bemerkt, zu einer »Konsokdierung der nationalen Bewegung der
Neben Polen und Ukrainern lebten in Wolhynien und Ostgalizien auch viele Juden. Für die Darstellung der Beziehungen zwischen dem polnischen Untergrund und den Juden wäre eine besondere Analyse erforderlich. Deshalb wird in diesem Aufsatz nur die ukrainische Frage behandelt. Unter den Arbeiten, die die jüdische Bevölkerung betreffen, sind zu empfehlen: Eliyahu Jones, /.ydzi Lwowa w okresie okupacji 1939-1945, Lodz 1999; Shmuel Spector, The Ilolocaust of Volhynien Jews 1941-1944, Yad Vashem, Jerusalem 1990; Zanna M. Kovba, Ljudjanist' u bezodni pekla. Povedinka miscevoho naselennja Schidnoi Halycyny v roku »ostatocnoho rozv'jazannja evrejs'koho pytannja«, Kyïv 1998. Eliyahu Jones (S. 229) beurteilt die polnisch-jüdischen Beziehungen in Ostgalizien wie folgt: »Unter den Polen gab es welche, die die Juden haßten und sich als Denunzianten und Erpresser betätigten, aber in vielen Ortschaften hatte man gemeinsam den Schutz gegen die Bandera-Leute organisiert; auf den Dörfern fanden die Bauern in den Juden Kampfgefährten, und in den Städten machte man sich das von ihnen zurückgelassene Eigentum zunutze.«
Vgl. Ojczyzna nie tyfko Polaków. Mniejszosci narodowe w Polsce w latach 1918-1939, Warszawa 1985.
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Grzegorz Motyka
Ukrainer und zu einer Verstärkung der nationakstischen Stimmung, die bereits die Vorahnung kommender Vergeltung in sich trug«3. Im September 1939 besetzten gemäß dem Ribbentrop-Molotow-Vertrag sowjetische Truppen den größten Teil der von Ukrainern bewohnten Gebiete. Am 22. Oktober 1939 fanden dann unter strenger Aufsicht des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKVD) und der Miliz die »Wahlen« zur Volksversammlung der West-Ukraine statt. Zur Wahl stand in der Regel nur ein einziger Kandidat. Am 27. Oktober faßte die Volksversammlung den Beschluß über den Anschluß der west-ukrainischen Gebiete an die UdSSR. Die neue Staatsmacht begann mit der Anpassung des gesellschaftspolitischen und adnknistrativen Systems an die sowjetische Gesellschaftsordnung. Unmittelbar nach dem Einmarsch der sowjetischen Streitkräfte begannen die Verhaftungen von Beamten, von aktiven Politikern und Persönhchkeiten des öffenthchen Lebens sowie von Personen, die zu der wirtschaftlich besser gesteüten Schicht gehörten und damit der Ausbeutung von Armen beschuldigt wurden. Es fanden Massenentlassungen von Angestellten statt, die dem sowjetischen Staat gegenüber als nicht loyal galten. Die größte Unterdrükkungsaktion der sowjetischen Behörden waren die Deportationen ins Innere der UdSSR, von denen mehrere zehntausend Menschen betroffen waren. Die genannten Repressahen erstreckten sich in erster Linie auf die polnische Bevölkerung. Mitte 1940 änderte sich die Politik der Behörden; von diesem Zeitpunkt an richteten sich die meisten Polizeiaktionen gegen Ukrainer. Über die Sowjetisierung berichtet Wanda Krystina Roman ausführlich in diesem Sammelband. Die Politik der kommunistischen Behörden hatte zur Folge, daß man ihnen allgemein ablehnend gegenüberstand. Bei den Polen, den Ukrainern, aber auch den Juden gab es Untergrundorganisationen. Die wichtigste polnische Organisation war der Bund für den bewaffneten Kampf (ZWZ), der wichtigste ukrainische Zusammenschluß die Organisation der Ukrainischen Nationahsten (OUN). Während der ZWZ durch gezielte Schläge und die vom NKVD durchgeführten Verhaftungen ganz erhebhch geschwächt wurde, kam die Organisation der Ukrainischen Nationahsten mit den Bedingungen der sowjetischen Okkupation erhebhch besser zurecht4. Ihre Untergrundtätigkeit führte jedoch zu einer Intensivierung der kommunistischen Repressahen gegenüber der ukrainischen Bevölkerung5. Viele Ukrainer begrüßten den deutsch-sowjetischen Krieg. Sie gingen davon aus, mit Hufe des »Dritten Reiches« einen unabhängigen ukrainischen Staat nach dem Vorbild von Ante Pavehcs Kroatien oder Jozef Tisos Slowakei gründen zu 3
4 1
Ryszard Torzecki, Polacy i Ukraincy. Sprawa ukraiñska w czasie II wojny swiatowej na terenie II Rzeczypospolitej, Warszawa 1993, S. 14. Vgl. den Beitrag von Timothy Snyder in diesem Band. Zum Thema polnischer und ukrainischer Untergrund siehe u.a.: Jerzy Wçgierski, Lwowska konspiracja narodowa i katolicka 1939-1946, Krakow 1994; ders., Lwow pod okupacja, sowiecka. 1939-1941, Warszawa 1991; Rafal Wnuk, Polska konspiracja we Lwowie (IX 1939-11 1940), in: Polska: walka, opozycja, niepodleglosc. Studia z dziejów II RP, Polskiego Pañstwa Podziemnege i PRL, hrsg. von Adam F. Baran, Sandomierz 2000; Ryszard Torzecki, Polacy i Ukraiñcy (wie Anm. 3); Grzegorz Mazur, Polityka sowiecka na »Zachodniej Ukrainie« 1939-1941. Zarys problematyki, in: Zeszyty Historyczne, (1999), 130.
Der polnisch-ukrainische
Gegensatz in Wolhynien und Ostgalizien
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können. Die OUN, die allerdings durch den Zerfall im Jahre 1940 in zwei sich bekämpfende Fraktionen (die Anhänger Andrij Melnyks bzw. Stepan Banderas) geschwächt war, unterstützte aktiv die vorrückende Wehrmacht. Man griff die im Rückzug befindkchen Verbände der Roten Armee und des NKVD an. Am 30. Juni 1941 riefen Banderas Anhänger im deutsch besetzten Lemberg einen unabhängigen ukrainischen Staat aus. Dieser Akt stieß jedoch auf die Ablehnung Deutschlands. Die Anführer der Gruppierung, u.a. Bandera und Jaroslav Stec'ko, wurden verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Der Rest der Organisation sah sich gezwungen, erneut in den Untergrund zu gehen. Die ukrainischen I loffnungen erfuhren ihren letzten schmerzhaften Stoß durch die Entscheidung Hitlers bezüglich der Aufteilung der Ukraine. Ostgalizien wurde als selbständiger Distrikt dem Generalgouvernement und Wolhynien dem Reichskommissariat Ukraine zugeschlagen. In letztgenannter Region entfaltete sich ein besonders brutales Besatzungsregime6. Die Polen nahmen die Haltung des »Dritten Reiches« gegenüber der ukrainischen Eigenstaatlichkeit mit Erleichterung auf. Grzegorz Hryciuk schrieb hierzu: »Im Juli 1941 zeigte es sich, daß ein großer Teil der polnischen Bevölkerung in Lemberg mehr Angst vor der Entstehung eines unabhängigen ukrainischen Staates als vor der deutschen Besatzung hatte7.« Unmittelbar hinter den deutschen Verbänden tauchte ein vom Befehlshaber des ZWZ, General Stefan »Grot« Rowecki, entsandtes Kommando des polnischen Untergrundes auf. Es hatte den Auftrag, die Reste der vom NKVD zerstörten Untergrundstrukturen zu übernehmen und die Organisation wieder aufzubauen. So verfügte der ZWZ in Ostgalizien und in Wolhynien bereits Ende des Jahres 1941 über ein gut funktionierendes Netz. Im Jahre 1942 wurde er ebenso wie in ganz Polen in die Heimatarmee umgewandelt. Die Heimatarmee bereitete sich bekanntlich darauf vor, einen allgemeinen Aufstand auszurufen. In den Plänen des Aufstandes ging man von einer Wiederholung der Situation von 1918 aus. Der Aufstand sollte beginnen, sobald die deutschen Streitkräfte sich im Zustand der akgemeinen Auflösung befänden, und seinen Ausgang im Gebiet der sogenannten Basis, sprich in Zentralpolen (Generalgouvernement ohne den Distrikt Galizien), nehmen, wo die polnische Bevölkerung die Mehrheit bildete. Die Heimatarmee in den Ostgebieten der Zweiten Polnischen Republik hatte den Auftrag, durch Sabotageakte gegen die Verkehrsverbindungslinien den Durchmarsch der sich von der Ostfront zurückziehenden deutschen Verbände zumindest um ein paar Tage zu verzögern. Im Jahre 1943 zeichnete sich jedoch immer deutlicher die Möglichkeit der Besetzung polnischer Territorien durch die Rote Armee ab. Die polnische Führung im Untergrund sah sich daher gezwungen, auf die Ausrufung eines Aufstandes zu verzichten und statt dessen die Sabotageakte unmittelbar im Rücken der Front zu verstärken. Nach dieser Konzeption bekannt als Unternehmen »Burza« sollten die Verbände der —
—
—
—
Vgl. Torzecki, Polacy i Ukraiñcy (wie Anm. 3); Jaroslaw Stecko [= Jaroslav Stec'ko], 30 czerwnia 1941 r., Toronto, New York 1967. Grzegorz I Iryciuk, Polacy we Lwowie 1939-1941. Zycie codzienne, Warszawa 2000, S. 209.
Grzegorz Motyka
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Heimatarmee beim Herannahen der Front die deutschen Truppen angreifen und mögkchst viele Gebiete in Besitz nehmen, um danach als Hausherren die Rote Armee zu begrüßen. Die Heimatarmee sokte mit der Operation »Burza« zuerst in den Ostgebieten beginnen, und in dem Maße, wie die Front sich nach Westen verlagerte, sollten sich weitere Bezirke anschließen. Im Januar 1944 leitete als erster der Heimatarmee-Bezirk Wolhynien »Burza« ein, danach folgten die Bezirke Wilna und Nowogródek, das Lemberger Gebiet, das Ostgakzien umfaßte, und schkeßkch Zentralpolen. Die polnische Operation endete ungeachtet zahlreicher Erfolge im Kampf gegen die Deutschen tragisch. Die Heimatarmee wurde von sowjetischen Truppen entwaffnet. Ihre Soldaten stellte man vor die Alternative: Lagerhaft oder Eintritt in die den polnischen Kommunisten untergeordnete »Berkng-Armee«8. Die manchmal geäußerte Ansicht, das Hauptziel von »Burza« sei die Erhaltung der Ostgebiete gewesen, ist jedoch eine Vereinfachung der Tatsachen. Die Heimatarmee war zwar ohne Zweifel bemüht, die Vorkriegsgrenzen Polens zu erhalten, aber dies war nur ein sekundäres Ziel. Das wichtigste Anhegen von »Burza« war es, der Welt zu demonstrieren, daß das polnische Volk in einem freien und von der UdSSR leben wollte; dafür kämpften die Staat souveränen, unabhängigen Soldaten der Heimatarmee unabhängig davon, ob es in Wolhynien oder in Warschau war. Es handelte sich folgkch um ein miktärisch gegen die Deutschen und poktisch gegen die Sowjetunion gerichtetes Unternehmen. Der Grenzverlauf eines solchen freien und unabhängigen Polens spielte dabei nur eine zweitrangige Rolle. Diese Feststellung ändert nichts an der Tatsache, daß in Wolhynien und Ostgalizien die ukrainische Minderheit in den Aufstandsplänen als eine reale Gefahr angesehen wurde. Bereits im September 1939 hieß es in einer der Meldungen der I leimatarmee: »Die Ukrainer auf dem Lande offenbaren eine polenfeindhche Haltung und eine eindeutige Sympathie gegenüber beiden einmarschierenden Feinden [...] Diese Einstellung ist ohne Zweifel auf die Fehler unserer UkrainePoktik sowie auf eine intensive deutsche und sowjetische Agitation zurückzuführen9.« Die in den polnischen Berichten auftauchenden Informationen über die Nostalgie, mit der die ukrainischen Bauern sich angesichts der Wirkhchkeit der sowjetischen Okkupation in der Zeit von 1939 bis 1941 an die Existenz des polnischen Staates erinnerten, waren, wie Andrzej L. Sowa zu Recht bemerkte, zum —
8
9
Zur Umsetzung der Operation »Burza« vgl. Tomasz Strzembosz, Rzeczpospolita podziemna. Spoleczeiistwo polskie a pañstwo podziemne 1939-1945, Warszawa 2000; Jerzy Wçgierski, W lwowskiej Armü Krajowej, Warszawa 1989; ders., Armia Krajowa na zachód od Lwowa, Krakow 1993; ders., Armia Krajowa w zaglçbiu naftowym i na Samborszczyznie, Krakow 1993; Materialy ogólnopolskiego sympozjum nt.: Operacje zbrojne Armü Krajowej kryptonim »Burza« na ziemiach kresów poludniowo-wschodnich II Rzeczypospolitej w 1944 r., Krakow 1994, sowie den Beitrag von Grzegorz Mazur in diesem Band. Armia Krajowa w dokumentach, 1939-1945, 6 Bde, Wroclaw [u.a.] 1990/91, hier Bd 2, S. 138. Die Ukraine-Frage in den Aufstandsplänen der Heimatarmee wurde erörtert von: Andrzej Leon Sowa, Kwestia ukrairiska w planach Armii Krajowej, in: Dzieje Podkarpacia, Bd 3, Krosno 1999; Marek Ney-Krwawicz, Ziemie wschodnie Rzeczypospolitej Polskiej w koncepcjach walki Armü Krajowej. Zarys problemu, in: Europa Nie-prowincjalna, hrsg. von Krzysztof Jasiewicz, Warszawa,
London 1999.
Der
polnisch-ukrainische Gegensatz in Wolhynien und Ostgahzien
535
größten Teil nur Wunschdenken1". Man ist sich sehr schnell darüber klar geworden, daß es im Augenbhck des Aufstandes zu einem polnisch-ukrainischen Krieg
kommen könnte. In den Plänen für den Aufstand hieß es hierzu: »Das immer schwächer werdende Deutschland wkd, wenn es kein Bündnis mit der Komintern schheßt, die Unabhängigkeitsbewegung der Ukrainer als natürlichen Verbündeten vor allem gegen Polen unterstützen. Die Ukrainer werden den Versuch unternehmen, einen eigenen unabhängigen Staat zu gründen, wobei sie bemüht sein werden, diesen Staat auf Ostkleinpolen, Wolhynien und Polesien auszudehnen, und In der ersten Phase des Aufstands, in dem zwar in etwa bis zur Linie Bug-San. wk es mit dem Hauptproblem, dem deutschen Problem, zu ton haben werden, dürften sie uns in diesen Gebieten überlegen sein. Die örthchen polnischen Kräfte werden nur unter größten Anstrengungen in der Lage sein, den Kampf um Lemberg aufzunehmen. Dieser wkd ein Abwehrkampf sein. Er wkd über eine längere Zeit andauern, möglicherweise mehrere Wochen, bis aus Polen eine organisierte mihtärische Operation als Entsatz kommen kann11.« Dabei wurde mit Besorgnis festgestellt, daß der polnisch-ukrainische Konflikt von der »feindhchen Propaganda als neuer >EroberungskriegWü werden gegen die Bolschewiken kämpfen. Wir lassen sie nicht über die alte Grenze kommen.) Die Polen versetzen die Bevölkerung in Angst und Schrecken und behaupten, daß nach dem Einmarsch unserer Armee die >Bolschewiken mit der örtlichen Bevölkerung abrechnen werdenc In einem geheimen Schreiben, welches von der polnischen Abteilung
34
33 36 37 38 39
Terminologiefehler; es gab keine weißrussischen, sondern lediglich sowjetische Partisanenabteilungen. V. Pavlov und A. Sarkov, Armija Krajova na Belorussii, in: My i vremja, (1994), 65. Vgl. Chackevic, Ab razbraenni (wie Anm. 3). Sjamaska, Armija Kraëva (wie Anm. 2), S. 165; Marian Podgóreczny, Nieznane dzieje Zgrupowania Stolpecko-Nalibockiego A.K. Doliniacy, Bd 1: Za Niemnem, Gdansk 1991, S. 80. Ermolovic/Zumar', Ognëm i mecëm (wie Anm. 2), S. 33. Die Täter, welche die Partisanen jüdiEin
scher Nationalität ermordet hatten, konnten nicht genau ermittelt werden. Es handelt sich hierbei um die polnische Ostgrenze vor Beginn des Zweiten Weltkrieges.
Die weißrussische
Geschichtsschreibung und Publizistik
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Milaszewski stammt und welches wir abfangen konnten, ist die Rede davon, daß sich die Beziehungen zu den Bolschewiken immer mehr verschärfen und das Ergebnis der Moskauer Konferenz zur Frage der Ostgrenzen abzuwarten sei [...]. Vor kurzer Zeit ist bei der Abteilung Milaszewski ein Offizier aus Warschau mit dem Decknamen >Grom< eingetroffen. Die Untergrundorganisation in Nowogródek übermittelte an das Kommando der Brigade >Kkov< ein Schreiben, welches von Wagner [richtig: >RagnerDie sowjetischen Partisanen sind Besatzungsabteilungen, die aus den westlichen Verwaltungsbezkken abziehen müssen. Anderenfalls erwartet euch ein beklagenswertes Schicksale Bis zu 60 Prozent des Personals der Abteilung Milaszewski sind Großgrundbesitzer, Offiziere und anderes Gesindel [svolocj. Die Polen-Gruppen, die den bewaffneten Kampf gegen uns führen, werden von uns zerschlagen. Einige Führer der nationalistischen Organisationen werden wk heimlich liquidieren. Wk arbeiten wie befohlen. Wk bitten, die Operation zur Entwaffnung der Abteilung Milaszewski sowie zur Festnahme der Führer zu genehmigen40.«
von
Am 14. November erteilte Ponomarenko die erbetene Genehmigung zur Zerschlagung der Formation Milaszewskis: »Dies hat mit Vorsicht zu geschehen, berücksichtigt das Verhältnis der Massen zu ihnen und unsere Arbeit unter den Massen. Paßt auf, daß sie nicht zu Helden werden und dies unsere Sache erschwert41.« Dies ist Beleg dafür, daß die Entscheidung zur Entwaffnung dieser Abteilung bereits vor der Ermordung der Partisanen jüdischer Nationalität feststand. Viele weißrussische Historiker lassen den Mechanismus unberücksichtigt, wie politische Entscheidungen in bezug auf die Heimatarmee getroffen wurden. Daher entsteht der Eindruck, daß die Führung der Großverbände Baranovici und Wilna diesbezüglich eine eigenständige Politik betrieben hätte. In Wkkkchkeit sanktionierte Ponomarenko selbst die Operationen, die im August und im Dezember 1943 zur Entwaffnung der Armia Krajowa führten. Die sowjetischen Partisanen handelten gemäß der geheimen Direktiven des ZK der Kommunistischen Partei Weißrußlands vom 22. Juni 1943, die, als »militärische und politische Aufgaben der Arbeit in den westlichen Verwaltungsbezkken der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik« formuliert, bis zum heutigen Tage in Weißrußland nicht veröffentlicht wurden. Wk möchten dieses Dokument lediglich auszugsweise zitieren, und zwar den Textausschnitt, der den Kampf gegen die Armia Krajowa betrifft: »In Gebieten, wo bereits polnische nationale Abteilungen bestehen, welche von polnischen reaktionären Kreisen aufgestellt wurden, ist deren Einfluß zum einen dadurch einzudämmen, daß wk unsere eigenen Abteilungen und Trupps bilden. Zum anderen sind Schritte zu unternehmen, um unsere Agenten dort einzuschleusen, damit diese bestehende Verbindungen, den Auftrag der jeweiligen Organisation, die Arbeitsmethoden sowie die Vertreter der polnischen Nationalisten und der deutschen Aufklärung [sie!] aufdecken.
40
4i
NARB, fond 3500, opis' 23, delo 22, Bl. 112. NARB, fond 3500, opis' 23, delo 42, Bl. 119.
Sigizmund P. Borodin
610
Indem wk unsererseits
zuverlässige Polen in
solche
Gruppen und Abteilungen ent-
senden, können diese gespalten werden. Diejenigen Polen, die der Arbeiterklasse ange-
hören, können wk dann auf unsere Seite ziehen [...] In Einzelfällen, d.h. in einer konkreten Lage, ist
unter Umständen die Aufstellung Partisanenabteilungen, welche aus Polen bestehen, zulässig, wobei jedoch unser Einfluß voll und ganz gewahrt bleiben muß. Solche Abteilungen müssen wie auch alle sowjetischen Partisanenabteilungen, welche im Hinterland des Feindes operieren, den Kampf im Interesse der Sowjetunion führen. In Gebieten, die unter dem Einfluß unserer Partisanenabteilungen und Parteizentren stehen, sind Aktivitäten polnischer Gruppen, welche von nationalistischen, reaktionären Kreisen gebildet wurden, nicht zuzulassen. Die betreffenden Abteilungen sind aufzulösen und deren Waffenlager zu beschlagnahmen. Die Formationen sind unter unseren dauernden Einfluß zu bringen und im aktiven Kampf gegen die Deutschen einzusetzen. Durch entsprechende Umgruppierungen ist dazu beizutragen, daß sie ihre Bedeutung als selbständige Einsatzverbände verlieren, indem man sie großen [sowjetischen] Abteilungen angliedert. Die Säuberung von feindlichen Elementen hat dabei im geheimen zu erfolgen42.« Wie man sieht, waren mit Ausnahme des offenen mihtärischen Kampfes schon sehr früh sämthche Mittel und Methoden recht, um gegen die Heimatarmee vorvon
zugehen.
Davon zeugt ein schrifthcher Bericht
von
Ponomarenko
an
Stahn
vom
22. November 1943 »Zu Versuchen der Aufstellung der Armia Krajowa in Westweißrußland«. In diesem Bericht ist ganz unverblümt davon die Rede, daß die
Notwendigkeit bestehe, von einzelnen Zwischenfällen zum planmäßigen Kampf gegen die feindliche, polnische nationale Untergrundbewegung überzugehen43. Hieraus folgt, daß über die Frage der Beziehungen zwischen der Heimatarmee und den sowjetischen Partisanen nicht an der Narocz oder in der Puszcza Nalibocka, sondern in Moskau entschieden wurde.
Der Konflikt zwischen den sowjetischen Partisanen und der Heimatarmee Größenordnung und Preis -
Die Umsetzung der oben genannten Dkektiven führte dazu, daß sich das Verhältnis zwischen den sowjetischen Partisanenverbänden und der Heimatarmee ab dem Frühjahr 1943 verschlechterte und es gegen Ende 1943 in Teilen von Westweißrußland, welches ja noch deutsche Truppen besetzt hielten, zu einem regelrechten polnisch-sowjetischen Krieg kam44. Die Kampfhandlungen erfaßten vor allem das Gebiet des Bezkkes Nowogródek der Heimatarmee sowie Teüe ihres Bezkkes Wilna. Die sowjetische Seite, welche bei Personal und Bewaffnung über eine dreibis vierfache Überlegenheit verfügte, konnte dem Verlauf der Ereignisse ihre Spielregeln aufzwingen. Der entstandene Konflikt beschränkte sich nicht einzig und allein auf bewaffnete Zusammenstöße. Eine häufige Erscheinungsform waren 42
43 44
NARB, fond 4, opis' 3, delo 1243, Bl. 88 90. Konflikty polsko-sowieckie 1942-1944, hrsg. von Wojciech Roszkowski, Warszawa 1993, S. 105. -
Vgl.
hierzu ausführlich den
Beitrag
von
Piotr Kolakowski im
vorliegenden Sammelband.
Die weißrussische
Geschichtsschreibung und Publizistik
611
welche nach dem Prinzip der Kollektivhaftong angewandt wurden, und unter denen die Zivilbevölkerung am meisten zu leiden hatte. Die Aussage, daß dieser Kampf Charakterzüge eines Bürgerkrieges trug, ist daher durchaus treffend. Der sowjetisch-polnische Konflikt war die Hauptorsache dafür, daß einige Kommandeure von Abteilungen des Heimatarmee-Bezkkes Nowogródek angesichts ihrer ausweglosen Lage den Vorschlag der deutschen Besatzungsbehörden annahmen, den bewaffneten Kampf gegen die Deutschen einzustellen, wobei als Gegenleistung Waffen und Munition gehefert werden sollten. Dies betraf vor allem das Bataillon Stolpce. Nach dem Versuch, den Verband durch sowjetische Partisanen zu entwaffnen, konnten sich am 1. Dezember 1943 Reste der Abteilung der Verfolgung durch sowjetische Kräfte entziehen. Aufgrund der fehlenden Möghchkeit, den Kampf an zwei Fronten zu führen, nahm Oberleutnant Adolf Pilch den Vorschlag der deutschen Seite bezüglich eines »Burgfriedens« an. Der Großverband der Armia Krajowa im Memelland war nach einer Serie erfolgloser Verhandlungen mit der sowjetischen Führung ebenfalls gezwungen, einen Waffenstillstand mit den Deutschen zu schheßen. In dieser Situation gestattete der Kommandant des Heimatarmee-Bezkkes Nowogródek den Verbänden, welche sich in einer für sie außerordenthch bedrohlichen Lage befanden, zeitweilig den bewaffneten Kampf gegen die deutschen Besatzer einzustellen. Er selbst nahm allerdings keinen Kontakt zu den Besatzungsbehörden auf45. Der Kampf gegen die Deutschen war in jenen Fällen auf ein Minimum reduziert worden, wo es keine Möglichkeiten gab, ihn offen zu führen. War dies bereits Kollaboration, wie von einigen weißrussischen Historikern behauptet wird46? Eine differenzierte Betrachtung zeigt, daß die deutschen Besatzer den entstandenen sowjetisch-polnischen Konflikt für ihre Zwecke instrumentalisierten. Mit Hilfe der Politik Moskaus in bezug auf die Heimatarmee vermochten die Deutschen einen Teil der Probleme zu lösen, die mit der Bekämpfung der sowjetischen Partisanen verbunden waren. Die nachfolgenden Zahlen verdeutlichen, welches Ausmaß die polnischen bewaffneten Operationen hatten. Von Dezember 1943 bis Juh 1944 kam es zu ungefähr 190 bewaffneten Zusammenstößen zwischen sowjetischen Partisanenverbänden und Partisanenabteüungen des Bezkkes Nowogródek der Heimatarmee47. Von Frühjahr 1943 bis zum Einmarsch der Truppen der Roten Armee im Sommer 1944 zählten die Konfliktparteien folgende Verluste: bei den Partisanen der Großverbände »Weißrußland« und »Baranovici« etwa 400 Gefallene und 120 Verwundete; die Verbände des Bezkkes Nowogródek der Heimatarmee hatten etwa 300 Gefaüene und 230 Verwundete zu beklagen48. Ein überaus wichtiges Problem stellten auch die Repressahen der Armia Krajowa gegen die Zivilbevölkerung dar. Bei der Behandlung dieser Frage verweisen weißrussische Historiker auf die Arbeit von Pilch zur polnischen Partisanenabtei-
Repressahen,
4:> 4other enemyBaszta< haben euch ihre Traditionen und ihre Regimentssymbole übergeben, sie haben euch also das übergeben, was ihnen das Teuerste, was der Gegenstand ihres Stolzes und ihres Kampfruhmes war. Nehmt dieses wunderbare Geschenk würdig an und bewahrt es in euren Herzen. Ehrt das Andenken an die gefallenen Helden des Regiments, an die, die in den Nachkriegsjahren die ewige Wache angetreten haben. Umsorgt und achtet die Orte, wo das Regiment >Baszta< im Kampf um Warschau und ein freies unabhängiges Polen Blut vergossen hat, und haltet sein Ehrenzeichen hoch, das auf eurer Truppenfahne seinen Platz gefunden hat125.« In der Neuauflage der »Thematischen Vorschläge zur staatsbürgerhchen Bildung in den Streitkräften der Repubkk Polen«126 nahm die Armia Krajowa breiten Raum ein. Der dem Polnischen Untergrundstaat gewidmete Themenblock wurde um Literaturhinweise bereichert und ermöghcht es, dem Soldaten von heute die Leistungen seiner Vorgänger in ihrem gesamten Umfang zu vermitteln127. Beginnend ab dem 12. Dezember 1992, als das 36. Mechanisierte Regiment in Trzebiatów128 die Traditionen der Armia Krajowa übernahm, bis hin zum 6. Oktober 2000, als die Schule für Unteroffiziere und das 1. Regiment Spezialkräfte in Lubkniec das Erbe des berühmten Bataillons »Parasol« der Heimatarmee129 antraten, haben mehrere Dutzend Verbände der Polnischen Armee an die ehrenvoke Vergangenheit der Armia Krajowa angeknüpft. Der bekannte britische Historiker Norman Davies stellte fest, daß die Polen im Osten Europas wahre Meister in der Kunst des Überlebens seien130. Diese Feststellung bezieht sich gewiß auch auf die Soldaten und die Traditionen der Heimat-
gungsminister an
armee.
* * *
Czeslaw Zak, M.A., geb. 1947, stellvertretender Dkektor des MilitärZentralarchivs (CAW), ul. Czerwonych Beretów, 00-910 Warszawa. E-mail: [email protected].
Andrzej
Übersetzung aus dem Polnischen von Sabine Hahn, Wehrbereichsverwaltung Ost, Strausberg. 123
126 127
128
129 130
Entscheidung des Verteidigungsministers Nr. 226/MON vom 4.12.1994. Propozycje tematyczne do ksztalcenia obywatelskiego w Silach Zbrojnych Rzeczypospolitej Polskiej, Warszawa 1997. Eine wichtige Hilfe für Offiziere, die Ausbildungsveranstaltungen mit Soldaten in jenen Verbän-
den durchführen, die Traditionen der Heimatarmee übernommen haben, ist das Werk von Tadeusz Krza_stek und Jerzy Tomczyk, Sily Zbrojne Polskiego Paiistwa Podziemnego. Historia i tradycje 1939-2000, Warszawa 2000. Andrzej Martykin, Karol Perlowski und Zdzislaw Radomyski, 36. Pulk Piechoty Legü Akademickiej 1918-1998, Warszawa 1998, S. 16. Entscheidung des Verteidigungsministers Nr. 179/MON vom 4.10.2000. Norman Davies, Smok wawelski nad Tamiza Krakow 2001, S. 215.
Krzysztof Lesiakowski Die Veteranen der Armia Krajowa und die »Partisanen« von Mieczyslaw Moczar in den sechziger Jahren Das Ende der Kampfhandlungen im Mai 1945 war für die Soldaten der Heimatarmee kein Moment der Freude oder des Triumphes, geschweige denn eine Zeit der Hoffnung gewesen, von nun an in Frieden leben zu können. Das »neue Polen«, stark von der Sowjetunion abhängig und in Händen einiger weniger polnischer Kommunisten, wußte die Leistungen und Anstrengungen der Soldaten der Armia Krajowa nicht zu würdigen. Doch dem nicht genug, es betrachtete diese sogar als seine Feinde. Für die heldenhaften Soldaten, Teünehmer am Kampf gegen Hitlerdeutschland, die als Partisanen in den Wäldern lebten oder an der Aktion »Burza« bzw. am Warschauer Aufstand teügenommen hatten, brach eine ungewöhnlich schwierige, an dramatischen Momenten reiche Zeit an. Sie hatten für ein gerechtes Polen gekämpft und mußten nun in einem Land leben, das in aügegenwärtiger Propaganda zu ersticken drohte und wo der Terror des sowjetischen Sicherheitsapparates regierte. Die Soldaten der Armia Krajowa wurden unterdrückt, von Gerichten verurteilt, in die UdSSR deportiert und waren über viele Jahre un-
glaublichen Verdächtigungen ausgesetzt.
Den kommunistischen Machthabern in Polen war nicht daran gelegen, daß sich die Angehörigen der Heimatarmee in das legale Leben integrierten. Von Anfang an schlug den Kombattanten eine von extremem Mißtrauen und Verdächtigungen geprägte Atmosphäre entgegen. Dies stand in keinem Zusammenhang damit, daß sie sich in kgendeiner Weise organisiert hätten. Nach den Gesetzen des Stahnismus steüte bereits die Zugehörigkeit zur Heimatarmee einen nahezu unverzeihlichen Fehler dar. Dieser Umstand reichte aus, um eine Person für »vogelfrei«1 zu erklären. Die einstigen Heimatarmee-Angehörigen waren an den Hochschulen, als Studenten, in leitenden Positionen oder in der Armee nicht gern gesehen, ganz zu schweigen von den Sicherheitsbehörden (ÜB) oder der Volksmüiz (MO). Das verleumderische Plakat »Die Heimatarmee der Sudelgnom der Reaktion«, das, bereits im Jahre 1944 verbreitet, die Armia Krajowa als Handlanger der Reaktion bezichtigte, war von einer vertraulichen Anweisung der Pohtischen Hauptverwaltung der Polnischen Armee begleitet. Darin hieß es, daß zwischen den von der Heimatarmee verwendeten Losungen und der Goebbels-Propaganda gro—
Eugeniusz Halpern, Z burzliwego wieku. Wspomnienia, Krakow 1998, S.
113.
Krzysztof Lesiakowski
722
ße Ähnhchkeiten bestünden. Die Zeitungen berichteten von Morden, verübt von »Heimatarmee-Banden«. Darüber hinaus wurde die Armia Krajowa der Koüabora-
tion mit der Gestapo bezichtigt und ihr untersteht, den Haß gegen alles zu säen, in Polen demokratisch ist«. Diese Verleumdungen gipfelten in dem Aufruf: »Die Verbrecher aus der AK und den NSZ [Nationale Streitkräfte] handeln Hand in Hand mit den Flitlerfaschisten. Und deshalb soüten sie auch genauso wie Hitlers Mörderbanden behandelt werden2.« Hunderte Untersuchungsverfahren wurden eingeleitet, Tausende Menschen verhaftet und anschheßend von wikfährigen Gerichten verurtekt. Im März 1948 verhängte das Militärgericht des Bezkks Warschau nach einem erniedrigenden Prozeß ein Todesurtek gegen einen herausragenden Helden der polnischen Untergrundbewegung, Rittmeister Witold Pilecki. Püecki hatte sich freiwikig als Häftkng nach Auschwitz begeben und dort die polnische Untergrundbewegung organisiert. Im Februar 1953 wurde die Todesstrafe an General Emk »Nu« Fieldorf voüstteckt, von 1942 bis 1944 Chef der Diversionsleitung (KEDYW) der Hauptkommandantur. Tragisch war das Schicksal von Jan »Anoda« Rodowicz, einem Soldaten aus dem berühmten Bataillon »Zoska«; er wurde aus dem Fenster des Gebäudes des Ministeriums für Öffenthche Sicherheit in der ulica Kos$ykowa in Warschau gestoßen. Kazimierz Moczarski, Leiter des Büros für Information und Propaganda (BIP) nach dem Warschauer Aufstand, im Jahre 1946 verhaftet, war während der Untersuchungshaft besonders brutalen Folterungen ausgesetzt. Er wurde zum Tode verurtekt und später zu lebenslänghch begnadigt. Seine Haft verbüßte er in einer Zeüe gemeinsam mit SS-General Jürgen Stroop3. Die Gefängniszeüen waren mit Tausenden Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften der Heimatarmee gefüüt. Vor der Vohstreckung der mörderischen Urteke gab es grauenvolle Untersuchungen, lang andauernde Verhöre und brutale Folterungen. Das Ziel des Untersuchungsverfahrens bestand nicht etwa darin, eine Schuld nachzuweisen, sondern darin, den Verhafteten zur Selbstbezichtigung zu zwingen. Die Verdienste der Soldaten der Heimatarmee und ihrer Kommandeure während des Krieges waren dabei nicht von Bedeutung, ganz im Gegenteil. Eine nachrichtendienstkche Tätigkeit während der Okkupation, die sich gegen die Deutschen richtete, stellte für die ermittelnden Offiziere der Staatssicherheit einen belastenden Umstand dar! Eine allgemein verbreitete Untersuchungsmethode waren Schläge: »Das erste Verhör dauerte drei Tage ohne Unterbrechung, Tag und Nacht. Es ist nicht zu glauben, daß ein Mensch dies auszuhalten vermag. Nachdem das Protokoll geschrieben war [...] machten sie sich daran, falsche Aussagen mit Gewalt zu erzwingen. Als am zweiten Tag die verschiedenen Methoden des Druckausübens keinen Erfolg brachten [...] gingen sie zum Angriff über. Ein kräftiger Schlag ins Gesicht, ich weiß nicht, ob es die Faust oder kgendein harter Gegenstand gewesen war, der »was
Krystyna Kersten, Polityczny i propagandowy obraz zbrojnego podziemia w latach 1945-1947 w komunistycznej, in: Wojna domowa czy nowa okupacja? Polska po roku 1944, hrsg. von Andrzej Ajnenkiel, Wroclaw, Warszawa, Krakow 1998, S. 143. Siehe auch: Maciej Roman Bombicki, AK i WiN przed sadami specjalnymi, Poznan 1993, S. 24; Maria Fieldorf, General »Nil« August Emil Fieldorf. Fakty, dokumenty, relacje, Warszawa 1993, swiede prasy
S. 198-262.
Die Veteranen der Armia
Krajowa
723
Schlag, eine kräftige Ohrfeige, raubte mk für einen kurzen Augenbkck die Besinnung. Ich schwankte, fiel jedoch nicht hin. Anschkeßend begannen sie wahllos auf mich einzuprügeln, worauf ich zusammenbrach. Ich erhielt Dutzende Hiebe auf den Kopf, ins Gesicht, gegen den Brustkorb, Schläge über den ganzen Oberkörper vertekt. Zum Ende hin hörte ich nur noch ein Rauschen in den Ohren und spürte einen stechenden Schmerz im Kopf. Das ganze Zimmer schwankte und kippte gemeinsam mit mk um4.« Wenn die Foltermethoden nicht die gewünschten Ergebnisse brachten, griffen die Befrager zu anderen Methoden, darunter zu Provokationen. Eine Plage für die gepeinigten Gefangenen waren die mit ihnen gemeinsam internierten Spitzel, die oft von ihren Zellengenossen dasjenige erfuhren, was die Ermittlungsoffiziere nicht herausbekommen hatten. Auf Schritt und Tritt wurde die persönliche Würde mit Füßen getreten; Gefangene mußten etwa für die Dauer eines Transports (zum Beispiel zum Bahnhof) SS-Uniformen zweite
tragen. Passanten, die solche Marschkolonnen sahen, bewarfen die marschierenden, gequälten Menschen mit Schimpfworten und nicht selten auch mit Steinen5.
Bei Heimatarmee-Angehörigen konnte bereits der kameradschaftliche Kontakt mit ehemakgen Vorgesetzten oder Untergebenen Anlaß für ein Untersuchungsverfahren sein. Die Tatsache, daß Major Boleslaw »Bkl« Jablotiski, letzter Chef der Aufklärung des Heimatarmee-Bezkkes Lodz, 1946 während der Feierlichkeiten anläßlich des 2. Jahrestages des Aufstandsbeginns auf dem Pow^zki-Friedhof in Warschau mit Oberst Jan »Radoslaw« Mazurkiewicz zusammentraf, war ausreichend, um ihn 1949 vor das Militärgericht des Bezkkes Warschau zu stellen. »Radoslaw« soll zur Bewahrung des die Heimatarmee verbindenden Korpsgeistes aufgerufen haben, so die Anklageschrift. Darüber hinaus hätte »Radoslaw« an die Traditionen der Besatzungszeit angeknüpft und finanzielle Unterstützung für aufgedeckte Heimatarmee-Angehörige organisiert. Für den Staatsanwalt war diese Tätigkeit gleichbedeutend mit »Aktivitäten gegen die Behörden Volkspolens«6. Der Umstand, daß Kameradschaftstteffen als Bedrohung für die herrschende Gesellschaftsordnung gewertet wurden, ist ein aussagekräftiges Beispiel für das Schicksal der Armia Krajowa im kommunistisch regierten Polen. Das
polnische »Tauwetter«
Stalins Tod und die Veränderungen in der UdSSR Mitte der fünfziger Jahre brachten auch der Volksrepublik Polen ein politisches »Tauwetter« in Form von Veränderungen im Staatsapparat und der Partei. Die repressiven Züge des Systems nahmen an Schärfe ab, und die Zensur wurde gelockert. Aus den Gefängnissen begann man Menschen zu entlassen, die im vorhergehenden Zeitraum verurteilt worden waren. Der Politikwechsel in bezug auf die Armia Krajowa hingegen fiel 4
Piotr Wozniak, S. 14.
5
Eugeniusz Wawrzyniak, Z wyroku wladzy ludowej, Warszawa 1995, S.
Polnische Partisanenverbände< bezeichneten, in Wahrheit aber nicht gegen die Deutschen gekämpft, sondern vorrangig die polnische Bevölkerung ausgeraubt und ermordet haben34.« Das wahre Ziel der sowjetischen Partisanengruppen habe darin bestanden, auf dem Gebiet der Repubhk Polen politisch und propagandistisch zu wkken. Die Armia Krajowa bekämpfte auch, zum Schutz der Bevölkerung, »die ihr Unwesen treibenden kommunistischen Banden«35 und Räuberbanden, die sich, wie aus den zitierten Dokumenten des Oberbefehlshabers der Hei-
hervorgeht, »aus verschiedenartigen verbrecherischen und subversiven Elementen«36 rekrutierten. Dort aber, wo sie das Bild des »Soldaten im Walde« zeichnen, stellen die Autoren eine höchsten Idealen folgende und zu Opfern bereite Gemeinschaft dar, auf der Basis von Freiwilligkeit Vertreter aller gesellschaftlichen Schichten verbindend, aüen die Chance für einen Aufstieg bietend und die Möghchkeit gebend, sich zu beweisen, sowie rundum die Hilfe der örthchen Bematarmee
völkerung genießend37. Die Haltung gegenüber der UdSSR war gekennzeichnet von »tiefstem Mißtrauen«. Rußland, so wkd festgestellt, »war unser nomineller Verbündeter im Kampf die deutsche gegen Aggression, aber niemals der Verbündete der unabhängigen Polnischen Repubhk«38. In Voraussicht des Einmarsches der sowjetischen Truppen auf polnisches Territorium forderte der Oberbefehlshaber der Heimatarmee von der polnischen Regierung im Januar 1943 die Verkündung »eines sehr radikalen und fortschritthchen Reformprogramms« und die Umsetzung dieser Reformen, da Versprechen allein seiner Meinung nach nicht ausreichend sein würden. Allein in einem »schnellen gesellschaftlichen Umbau« noch vor Beendigung des Krieges sah er eine Chance, sich den Einflüssen der sowjetischen Propaganda Die Betriebsamkeit der Polnischen Arbeiterpartei rief im In- und Ausland dennoch das Gefühl der Bedrohung hervor, das übrigens von der unzweifelhaften Gefahr von Seiten des russischen Imperialismus unablässig verstärkt wurde, was entgegen der Absichten der Kommunisten nicht ohne Einfluß auf die endgültige Konsolidierung des Polnischen Untergrundstaates bheb.« Ebd., S. 58. Ebd., S. 457. Maria 'Turlejska, O wojnie (wie Anm. 14), S. 102, interpretierte diesen Satz als Beweis, daß die Führer des Untergrundes »der von der Polnischen Arbeiterpartei und der Volksgarde vertretenden pohtischen und taktischen Linie indirekt Recht geben«. Polskie Sily Zbrojne, Bd 3 (wie Anm. 29), S. 521. Ebd., S. 525. Ebd., S. 526. war.
33
34 33 36 37
5*
Ebd., S. 533-543. Ebd., S. 544.
Der polnische »Historikerstreit«
zur
Armia
Krajowa
817
entgegenzustellen und »eine einheithche und den Interessen des Volkes entsprechende Haltung gegenüber den einmarschierenden Russen zu gewährleisten«39. Der im Exil wirkende Historiker Wladyslaw Pobóg-Maknowski beschrieb die Geschichte der Heimatarmee aus einer weitaus breiteren Perspektive der Ge-
schichte Polens ki der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts40. Während er das Bild einer chaotischen Untergrundbewegung zeichnete, deren politisches Leben voller Parteiegoismus, Widersprüche und Rivalität war, stellt er die Armia Krajowa als Hort staatkchen Denkens und Handelns, als eine der wenigen konstruktiven Kräfte der Untergrundbewegung41 und ihren Oberbefehlshaber General Stefan »Grot« Rowecki als einen Staatsmann dar42. Die gesellschaftkchen und poktischen Teilungen seien unter der Besatzung noch gravierender als vor dem Krieg gewesen, und nur in der Haltung gegenüber der Besatzungsmacht wäre die Gesellschaft als ein »beinahe homogener Block« aufgetreten. Die politische Ausrichtung der Heimatarmee charakterisierte Pobög-Mahnowski folgendermaßen: »Als unbestritten kann angenommen werden, daß die >vereinigte< miktärische Untergrundbewegung poktisch in Richtung Paris-London, auf die Regierung Sikorskis und die westkchen Allkerten Amerikas orientiert war. Nach Moskau bkckte man mißtrauisch, mit Befürchtungen, Vorbehalten und dem Willen zum Kampf im Fake von Gewaltausübung von Seiten Moskaus. Aber trotz dieser grundlegenden Orientierung gab es eine innere Teüung in zahkeiche mehr oder weniger gegensätzliche und sogar stark rivaksierende geistige, emotionale, gesellschaftkche und politische Richtungen [...] zu Zusammenstößen und Konflikten kam es nicht nur auf den führenden Ebenen; Gegensätzhchkeiten gab es auch an der Basis43.« Rowecki legte großen Wert auf die Beseitigung dieser Separatismen, deshalb bildete der Aufbau von morahsch gefestigten, homogenen und mit dem Volk verbundenen Streitkräften die Grundlage der Erziehungsarbeit. Er knüpfte an die Idee vom Soldaten als Staatsbürger in Uniform an, an eine Tradition, nach der die Armee Pionier des Fortschritts sein, an der Spitze des Volkes —
39
40 41
42
Ebd., S.
547.
Wladyslaw Pobóg-Malinowski, Najnowsza
historia polityczna Polski 1864-1945, Bd 3, London 1960. Als zweite solche Kraft führt der Autor indirekt die Pilsudski-Anhänger an. Er identifiziert sich mit ihren Ansichten und stellt das Regierungslager, die »starke Vier«, das die Politische Landesvertretung (KRP) bildet, als ein »künstliches und falsches Gebüde«, dem die Gesellschaft alle Vertretungsrechte des Landes abspricht« und als »Vertretung einer gesellschaftlichen Minderheit« dar. Vgl. ebd., S. 415, Fußnote 111. Die Erklärung des Viererbündnisses als Ausdruck des Willens des gesamten Volkes sei »trügerisch« und »mit der heuchlerischen Losung von Einheit, Gleichheit und Demokratie überdeckt« gewesen. Die »widerrechtliche Besitzergreifung [...] rief auf Seiten der Bevölkerungsmehrheit zahlreiche Vorbehalte, Widersprüche und Proteste hervor«. Ebd., S. 339. Wesentlich schwächer fiel auch in der Meinung anderer Historiker die Beurteilung des nächsten Oberbefehlshabers der Heimatarmee, General Tadeusz »Bór« Komorowskis, aus: ein Soldat voller guter Eigenschaften, seiner Rolle allerdings nie gewachsen, ohne ausgesprochenen Willen und ohne sich der Ziele und Aufgaben bewußt zu sein. Ebd., S. 362. -
43
-
Edmund
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stehen, für die Unabhängigkeit kämpfen sowie dem Volk »die Möglichkeit zur Arbeit an der Korrektur des Schicksals seiner Bürger« garantieren soll44. Die erzieherischen Einwkkungen gestalteten das Bewußtsein der Soldaten nach Meinung des Autors wirksamer als eine ideologische Bindung an Heimatorganisationen, was die Heimatarmee durch ihre Disziplin und homogene Haltung als »Freiwilligenarmee« während der Operation »Burza« und im Warschauer Aufstand unter Beweis gestellt habe. Pobög-Malinowski würdigt die positiven Ergebnisse der Sabotage- und Diversionstätigkeit der Heimatarmee und zollt gleichzeitig Rowecki Anerkennung dafür, daß wenig Blut vergossen wurde und er außerdem dem wachsenden Kampfwillen freien Lauf ließ. Die Betonung des Exilhistorikers liegt dabei auf dem Willen zum Kampf um die Freiheit ein Wert, der im Leben eines Volkes außerordentlich bedeutsam ist —, der »in einem vernünftigen Rahmen« gehalten werden müsse, weil er nämlich andererseits zu einer »fruchtlosen, verbrecherischen und wahnsinnigen Hekatombe« führen könne45. Er beschuldigte die Kommunisten der Polnischen Arbeiterpartei, unnötige Verluste provoziert sowie den Untergrund sabotiert zu haben46. -
Diskussionen der
achtziger Jahre
Die hier kurz umrissenen Fronten des Streites begannen sich in den achtziger Jahren zu verändern. Die Wissenschaft versuchte immer häufiger, die Geschichte der aus von nicht mehr der der kommunistischen Partei vorgeUntergrundbewegung zu bettachten. Als diente nunmehr die polnigebenen Perspektive Ausgangspunkt sche Staatsräson, die so verstanden wurde, wie von der verfassungsmäßigen Regierung der Republik Polen definiert. In der offiziellen Geschichtsschreibung war eine gewisse Tendenz zur Historisierung und zur Ausweitung der Grundlagenforschung zu erkennen. Die kontroversen Diskussionen um die Definition des Status der Heimatarmee im Untergrund klangen ab. Dafür wurde das Prinzip der Legitimität anerkannt, also der besondere staatliche Charakter der Armia Krajowa als Armee in der Konspiration, was sie von den anderen bewaffneten Formationen
44
Ebd., S. 362 f.
43
Ebd., S. 380.
46
Ihr Ziel bestand nach
Meinung des Autors darin, heimtückisch in die Befreiungsbewegung im Untergrund einzudringen, ihr Netz zu entschlüsseln und sie mit allen Mitteln, selbst mit Hilfe der Gestapo, zu liquidieren, eine »vorzeitige Explosion« zu provozieren »oder zumindest zu zahlreichen >spontanen< Auftritten zu ermutigen, die entsetzlichen Repressalien der Deutschen auf sie zu ziehen und mit deutscher Hilfe beizeiten jene Kräfte zu bekämpfen, die für Moskau problematisch und für die Kommunisten ein zu großes Hindernis auf dem Weg zur Machtergreifung und zu deren Aufrechterhaltung sein könnten«, Unruhe und Spaltung innerhalb der Armia Krajowa hervorzurufen, die Bevölkerung von der Basis der legalen Führung des Staates, das heißt von der Verfassung, zu trennen und ein eigenes Lager aus kleinen linken Gruppierungen zu schaffen. Vgl. ebd., S. 409.
Der polnische »Historikerstreit«
zur
Armia
Krajowa
819
von rechts- und linksextremen pohtischen Gruppierungen geschaffen worden waren. Bis heute sind diejenigen Autoren, die in ihren Werken die Heimatarmee verteidigten, bemüht, vor allem deren Leistung im bewaffneten Kampf zu zeigen. Hierauf konzentrierte sich nämhch die von den »parteitreuen« Historikern geübte Kritik und die spezifische Wertung ihrer Verdienste. Andererseits bheb in der Literatur die Darstellung geläufig, wonach die Volksarmee zum Kampf gegen die Deutschen berufen gewesen sei, während das politische Hauptziel der Armia Krajowa darin bestanden habe, die Macht zu erobern47. Tomasz Szarota stellte in seiner Biographie über General Stefan »Grot« Rowecki die grundlegenden Thesen, auf denen das in der Volksrepubhk Polen gültig gewesene Bild der Heimatarmee basierte, offen in Frage48. Der Autor zeigt auf, daß sich die Handlungskonzeption der Armia Krajowa durch Einwkkung vieler Faktoren, unter denen die Initiative des Oberbefehlshabers eine wichtige Rolle spielte, weiterentwickelt hat. War er es doch, der letztendhch über den Rahmen der Anweisungen aus London hinausging und veranlaßte, daß die Sabotage- und Diversionstätigkeit vorangetrieben wurde. Szarota neigt dazu, der Aufnahme der bewaffneten Aktion im Generalgouvernement während der größten Erfolge des »Dritten Reiches« keine Erfolgschancen beizumessen. Die Zunahme der bewaffneten Operationen im Land ab Herbst 1942 bedeutete dagegen die kritische Korrektor einer der grundlegenden Prämissen der Konzeption des Regierungslagers, wonach die deutschen Repressahen in direkter Abhängigkeit zur Haltung der Bevölkerung im besetzten Land standen. Rowecki gelangte zu der Überzeugung, daß ihm der Terror der Besatzungsmacht trotz der Passivität der Bevölkerung spürbare Verluste zufügen würde und sich die
unterschied, die
passive Einstellung unter der Bevölkerung verstärkte, was
die Vorbereitungen auf den Aufstand in Gefahr brächte und die Moral der Streitkräfte negativ beeinflußte. Die Existenz der sowjetischen Partisanengruppen sowie der Volksgarde hatte nachteihgen Einfluß auf die Öffenthchkeit und zog aktivere Elemente in die ReiStefan Zwoliriski, Przejçcie wladzy przez sily rewolucyjne na wyzwolonych obszarach kraju 1944 t., in: Wojskowy Przeglad Historyczny, (1986), 4, S. 107 -121. 'Tomasz Szarota, Stefan Rowecki »Grot«, 2. Aufl., Warszawa 1985 [Erstausgabe 1983). Es lohnt sich, an dieser Stelle einen Auszug aus den nach fast zehn Jahren niedergeschriebenen Betrachtungen des Autors zur Entstehung der Biographie zu zitieren: »Ich habe dieses Buch ohne irgendwelche Selbstzensur geschrieben, der Text wäre identisch, hätte ich es statt in Warschau in London oder Paris geschrieben. 'Trotz der sehr anerkennenden Rezensionen im Inland [...] habe ich nicht erwartet, daß das Buch durch das Netz der Zensur schlüpfen wird [...] Und anstelle der erwarteten Dutzenden Interventionen habe ich im Verlag erfahren, daß von der Zensur nur sieben (in Worten: sieben) Streichungen vorgenommen wurden, und was noch wichtiger ist alle betreffen im Grunde genommen Anspielungen auf General Wojciech Jaruzelski [...] Letztendhch erschien die Biographie dieses Antikommunisten der General Stefan Rowecki zweifelsohne war in der Volksrepubhk Polen in zwei Ausgaben mit einer Gesamtauflage von 150 000 Exemplaren. Als ich einige Jahre später die Ehre hatte, Jan Nowak-Jeziorariski von Józef Handelsman in Paris vorgestellt zu werden, sagte dieser zu mir, >Ich habe gewußt, daß man in Polen unter den kommunistischen Regierungen ein ehrliches Buch schreiben kann. An Ihrem Beispiel ist zu sehen, daß man ein solches sogar hin und wieder herausgeben kann.« Tomasz Szarota, Moja rozmowa na Mysiej, in: Cenzura w PRL (wie Anm. 5), S. 205-214, hier S. 211 f. w
-
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hen der Kommunisten. Ein weiteres Argument war die durch die Zerstörung der jüdischen Ghettos 1943 hervorgerufene Angst, die Vernichtungspolitik könnte sich auf die polnische Bevölkerung ausdehnen. Szarota verteidigt General »Grot« und im Grunde ja die ganze Organisation gegen den Vorwurf, Angehörige des Sanacja-Regimes gewesen zu sein. Er zeigt seinen Helden als einen Menschen, der sein ganzes Leben lang der Idee der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit gedient hat. Die politischen Überzeugungen und die Werte, zu denen er sich bekannte, so der Biograph, keßen es zu, Rowecki nach 1935 als einen »gegen das Sanacja-Regime eingestellten PilsudskiAnhänger« zu bezeichnen, der nicht zur Sanacja-Ekte der Regierung gehörte. Er war vor allem Soldat und »Staatsmann«, doch dabei ein überzeugter Demokrat, der sich eine Rückkehr zur Vorkriegs situation nicht vorstellen konnte. Er versprach seinen Soldaten ein demokratisches Polen, frei von Ausbeutung, in dem die Idee von der sozialen Gerechtigkeit umgesetzt würde. Als er die Gefahr sah, die Kommunisten könnten die gesellschaftlichen Widersprüche ausnutzen, bedrängte er die Exikegierung, schnell »das sehr radikale und fortschritthche Reformprogramm« aufzunehmen. Szarota polemisiert gegen die in der Geschichtsschreibung herrschenden Einschätzungen von Eugeniusz Duraczyñski bzw. Jerzy J. Terej zum Thema »Grot«, indem er auf die Nutzlosigkeit verweist, die Geschichte der Heimatarmee in ein ideologisches Schema zu zwängen. Er bemerkt auch, daß das Mißtrauen Roweckis gegenüber den Kommunisten den Weg zu einer Konsolidierung der gesamten gegen den Hitlerfaschismus gerichteten Untergrundbewegung versperrte49, und weist auf Schwachpunkte in der Haltung von »Grot« in der Frage der Politik gegenüber der UdSSR hin. Der Oberbefehlshaber der Heimatarmee schlug der Regierung in London 1943 vor, daß die einzige zweckmäßige Haltung der Armia Krajowa im Falle eines Einmarsches der Roten Armee in Polen eine »aktive und auf Verteidigung eingestellte Haltung, also eine prinzipiell feindliche«, sein sollte. Nicht nur als Soldat, sondern auch als ein Poktiker, der die Integrität des Staates verteidigte, so der Biograph, zeigte Rowecki fehlenden politischen Reaksmus, denn er unterschätzte die Stärke der UdSSR, vor der die Grenze geschützt werden mußte. Er habe nämlich »seine eigene, in der ersten Phase des Widerstandes getroffene richtige Feststellung, es wäre Wahnsinn, sich dem einmarschierenden Gegner, der so stark war, die deutsche Armee zu schlagen, bewaffnet entgegenzustellen«, vergessen50. —
Eine solche
—
Betrachtung über die Teilung der polnischen Untergrundbewegung ist in den Arbei-
Historikern, die dem Kommunismus gegenüber kritisch eingestellt
waren, selten anzutreffen. In der Geschichtsschreibung im Exil blieb Jan Ciechanowski mit seiner Ende der sechziger Jahre formulierten Meinung isoliert: »Mit gewissem Abstand betrachtet scheint es, als hätten die Kräfte des Londoner Lagers einen grundlegenden Fehler begangen, als sie nicht auf eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten eingegangen sind, denn so ging ihr Einfluß auf die Politik und das Antlitz der Polnischen Arbeiterpartei verloren und führte zu einer offenen Rivalität zwischen ihr auf der einen Seite und der Delegatur der Regierung sowie der Heimatarmee auf der anderen.« Ciechanowski, Powstanie warszawskie (wie Anm. 20), S. 55. Szarota, Moja rozmowa (wie Anm. 48), S. 202. Als »zu nachteilig« bewertete Szarota allerdings die Einschätzung Ciechanowskis, wonach dem Oberbefehlshaber der Heimatarmee »politischer und militärischer Realismus fehlte«, wohingegen aus ihm hauptsächlich die Gefühle »Handlungswille, ten von
Der polnische »Historikerstreit«
zur
Armia Krajowa
821
An dieser Stelle soüte zwei anderen Bemerkungen Szarotas Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die erste sie bewegt sich gegen den Strom der fest verankerten Ansichten zog die Überzeugung in Zweifel, daß sich das gesamte Volk von an nach einer antideutschen Anfang Untergrundbewegung sehnte51. Die zweite betraf eine Anweisung »Grots« zur Propaganda der Heimatarmee, wonach diese die Behauptung verbreiten sollte, den sowjetischen Partisanen gehe es »nicht um eine Schädigung der Deutschen, sondern darum, Chaos zu stiften und den Boden für eine Sowjetisierung Polens zu bereiten«. Das sei ein nicht weniger unrechter Vorwurf als die Beschuldigung der Armia Krajowa, sie »stehe Gewehr bei Fuß«, —
—
gewesen52.
Das Ende des Kommunismus
achtziger, Anfang der neunziger Jahre haben vier Historiker der Nachkriegsgeneration einen allgemeinen Abriß der Geschichte des Polnischen Untergrundstaates herausgegeben53. »Wk sind überzeugt«, heißt es in der Einleitung, »daß der jetzige Zeitpunkt geeignet ist, das Thema auf etwas andere Weise als in den meisten bisherigen Veröffenthchungen zu behandeln. Langsam verstummen auch die großen Auseinandersetzungen, die in den letzten Jahrzehnten um den Beitrag der einzelnen Organisationen und Splittergruppen des polnischen Untergrundes am Kampf geführt wurden. Aus heutiger Sicht ist zu erkennen, wie oft die Geschichtsschreibung sowohl im Inland als auch in der Emigration irrte, wenn sie die pohtischen Konkurrenten von einst verdammte. Es ist also höchste Zeit, die Jahre 1939 bis 1945 objektiv zu bewerten, zumal wk heute aus der Perspektive eines halben Jahrhunderts auf diesen Zeitraum blicken54.« Was trug der Versuch, die Geschichte objektiv zu sehen, zu der Auseinandersetzung um die Heimatarmee bei? Bei der Beurteilung des Charakters der Organisation kommt das Werk zu folgendem Schluß: Es sei nicht ganz gelungen, die Prinzipien der pohtischen Neutrahtät und der Einheit des ZWZ-AK zu reahsieren. Obgleich keine politische Organisation, »war sie [doch] eine potentiell wichtige Kraft«55. Nach dem Beispiel ihrer Vorgänger erteüten die Autoren den Ergebnissen der Vereinigungsaktion, die nur die kleinen Organisationen ohne größere Bein der nicht einbezog, eine gute Beurteilung. Das deutung Untergrundbewegung größte Hindernis, einen Zusammenschluß sämthcher Kräfte der Untergrundbewegung herbeizuführen, sei an erster Stelle die Frage der Ostgrenze gewesen, gefolgt vom Streit um die künftige Staatsform sowie den Kampf um die Macht. Ende der
gekränkter Nationalstolz, engstirniger Patriotismus und nationale Verblendung« sprechen würden.
31
32 53 54
55
Ebd., S. 203. Ebd., S. 165. Ebd., S. 207.
Wlodzimierz Borodziej, Andrzej Chmielarz, Podziemna 1939-1945, Warszawa 1991.
Ebd., S. Ebd., S.
3. 94.
Andrzej
Friszke und
Andrzej
K.
Kunert, Polska
Edmund Dmitrów/Jerzy Kulak
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Die Heimatarmee und die Delegatar der Regierung in Polen verteidigten am konsequentesten die demokratischen Werte und Konzeptionen. Die demokratischen Funktionäre blieben im Untergrund in der Minderzahl, hatten allerdings Einfluß auf die Arbeit des Büros für Information und Propaganda (BIP) der Hauptkommandantar der Heimatarmee. Sie konnten also den »Biuletyn Informacyjny« die größte Zeitschrift im Untergrund als Bühne zur Verbreitung des demokratischen Wertesystems nutzen. Dank dieser Tatsache »drangen« die demokratischen Ideen »auf breiter Front bis zur Bevölkerung durch und prägten die Denkweise derjenigen, die im Einflußbereich der Armia Krajowa verblieben waren«56. Mit der Veröffentlichung der Erklärung des Rates der Nationalen Einheit (RJN) vom 15. März 1944 wurde das Streben nach Demokratie dominierend, was davon zeugte, daß die Parteien der Demokratischen Linken in den Strukturen des Polnischen Untergrundstaates eine entscheidende Kraft waren. Rechts- und Linksextremisten gefährdeten die künftige demokratische Ordnung. »Andere Gefahren brachten antijüdische, antiukrainische und antiweißrussische Stimmungen unter Teilen konspkativer Gruppierungen, die dagegen waren, Bürgern nichtpolnischer Nationalität gleiche Rechte zu gewähren. Besonders schändlich und traurig ist der antijüdische Einschlag in der Publizistik einer ganzen Reihe von Schriften und in der Organisation57.« Die Autoren stellen die Argumente und Dilemmas im Zusammenhang mit der Entwicklung einer Konzeption des bewaffneten Kampfes dar und messen den Plänen eines allgemeinen Aufstandes einen außerordentlich starken Einfluß bei. In der Schlußfolgerung geben sie jenen Recht, die verkündet hatten, eine Verstärkung der laufenden Aktion würde die Besatzungsmacht zwingen, die vorbereiteten Repressionen zurückzunehmen. »Es hat sich erwiesen, daß der Terror seine objektivem Grenzen hatte, zumal es unter den damaligen Bedingungen für die Befehlshaber im Untergrund ein schreckliches moralisches Dilemma bedeutete, die richtige Entscheidung zu treffen58.« Die vier Historiker stellen auch die kommunistische Untergrundbewegung objektiv dar. Sie fügen die Leistungen beider Lager zusammen, und die Mitglieder ihrer bewaffneten Formationen werden allesamt als Soldaten des Polnischen Untergrundstaates bezeichnet. Aufmerksamkeit verdient die Behandlung der Geschichte der Heimatarmee in den polnischen Ostgebieten. Nach Meinung der Autoren habe die Untergrundbewegung des Regierungslagers als Ganzes kein »gemeinsames« und »realistisches« Programm der Politik gegenüber den Minderheiten erarbeitet. »Das wurde durch eng gefaßte politische Gründe auf polnischer Seite, durch ideologische Unterschiede und Emotionen behindert59.« Positiv bewertet werden vor diesem Hintergrund die »dem demokratischen Lager nahestehenden« Ansichten der Hauptkommandantar in der ukrainischen Frage. Ohne näher auf diese Problematik eingehen —
36
37 38
5'
Ebd., S. 149. Ebd., S. 228. Ebd., S. 269. Ebd., S. 201.
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Der
polnische »Historikerstreit« zur Armia Krajowa
823
woüen, die nicht zu den Hauptfragen der Auseinandersetzungen gehörte, sollte allerdings betont werden, daß der polnische Standpunkt in späteren Werken selten zu
einer kritischen Analyse unterzogen wurde. Ein zweites Problem, das allgemeinerer Natur ist, zählen die Autoren zu den am wenigsten bekannten und gleichzeitig am schwierigsten zu fassenden Erscheinungen aus der Geschichte der Untergrundbewegung. Es handelt sich hierbei um das »Verhältnis des sogenannten Durchschnittsbürgers zu den konspirativen Gruppierungen und den pohtischen Parteien im Untergrund sowie die sich daraus ergebende Frage ihres repräsentativen Charakters«60. Zuvor hatte sich Tomasz Szarota diesem Thema gewidmet und dabei die »schweigende Mehrheit« der polnischen Bevölkerung in den ersten Kriegsjahren im Sinn. Als Rowecki den Kampf gegen die Besatzungsmacht organisierte, war er davon überzeugt, daß die Mehrheit der Bevölkerung ebenso denke. Diese Beurteilung der Stimmung schien die sich spontan entwickelnden Initiativen im Untergrund zu bestätigen. »Stimmt diese Vorstellung denn überhaupt oder haben wk in unserer Geschichtsschreibung zufällig eine entstandene Legende als Tatsache betrachtet?«, fragt Szarota. Wenn das so ist, so läßt er das wichtige Problem des »zeitweiligen Konformismus«, der darauf gerichtet war, bis zur Niederlage des Dritten Reiches zu überleben, außer acht61. In den neunziger Jahren entwickelte sich die Geschichtsschreibung unter veränderten Bedingungen. Die rechtspohtischen Beschränkungen der Freiheit der Wissenschaft wurden aufgehoben, die staathche Zensur eingestellt, und demokratische Werte bildeten die Grundlage geseüschafthchen Lebens. Eine Belebung des pohtischen Lebens und eine Polarisierung auf der pohtischen Bühne begleitete die gesellschaftliche Umwandlung. Es bildete sich eine neue »Staatsideologie« heraus, und es vollzogen sich Wandlungen im Bewußtsein der Menschen, die auch das Thema Geschichte betrafen. Die Befürworter einer radikalen Korrektor der Geschichtsschreibung, die deren Ausrichtung in der Volksrepubhk Polen herabwürdigten, legten Wert darauf nachzuweisen, daß die kommunistischen Kräfte der Konspkation im allgemeinen nicht Teil der polnischen Widerstandsbewegung waren. Die wahre Rolle der Polnischen Arbeiterpartei und ihrer Streitkräfte hatte nicht »allzu viel gemein mit der mihtärischen Leistung der Antihitlerkoalition«, legt etwa Piotr Gontarczyk dar62. Als eine Fihale der Kommunistischen Internationale setzte sie die sowjetischen Pläne um, um die Spkale der Diversion und der deutschen Repressionen weiter zu drehen, 60
61
Ebd., S. 77. Szarota, Moja
rozmowa (wie Anm. 48), S. 165. Der junge Historiker Jacek Chrobaczyriski fragte für die Bevölkerung wichtiger war zu überleben oder zu kämpfen? Der Autor distanziert sich vom märtyrerhaften und heroischen Stereotyp des Krieges und der Okkupation, obgleich er ihn nicht negiert, und kommt zu dem Schluß, daß »global betrachtet zuerst das Überleben und erst später das Kämpfen auftauchte [...] die Haltung Überleben (eine musterhafte Haltung) war die führende, die allerwichtigste, die strategische [...] eben überleben, manchmal schonungslos und um jeden Preis«. Jacek Chrobaczyriski, Z problematyki postaw i zachowari spoleczeristwa okupowanej Polski, in: Dzieje Najnowsze, (1989), 2, S. 145-167, hier S. 152. Piotr Gontarczyk, Uwagi o pracy Ryszarda Nazarewicza »Armii Ludowej dylematy i dramaty«, in: Dzieje Najnowsze, (1999), 4, S. 61-81, hier S. 64.
danach, was
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62
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die polnische Bevölkerung gegen die Deutschen aufbringt« und »Tausende >Rächer< in die Reihen der Kommunisten treibt«. Das aber sollte den Kommunisten die Übernahme der politischen Führung im Land ermöglichen. »Es gibt keine Zweifel«, so der zitierte Autor, »daß die führenden Kräfte der kommunistischen Konspkation die Unabhängigkeitsbewegung im Untergrund mit Hilfe der Gestapo bekämpft haben63.« Flistoriker, die zu Zeiten der Volksrepubkk den »parteitreuesten« Teil der Geschichtsschreibung vertraten, ergriffen das Wort, um die Geschichte der kommunistischen Untergrundbewegung vor Verfälschungen zu verteidigen. Sie wiesen Vorwürfe zurück, indem sie sich auf die miktärischen Verdienste ihrer Gruppierung beriefen, und zeigten, daß die Anschuldigungen, die kommunistische Untergrundbewegung sei eine Fihale der Deutschen gewesen und hätte mit diesen kollaboriert, falsch waren. Sie führten Beweise an für den angebhchen gemeinsamen Kampf der rechtsgerichteten Untergrundgruppierungen, vor allem der Nationalen Streitkräfte, mit der Gestapo gegen die knksgerichtete Widerstandsbewegung. Dabei seien zahlreiche Verbrechen verübt und der Bürgerkrieg entfacht worden64. Hin und wieder traten die aus der Geschichtsschreibung der früheren Volksrepublik Polen bekannten Konturen des Bkdes der Heimatarmee hervor. Das Problem der Legahtät der Regierung des Untergrundstaates während der Okkupation »war nicht von grundlegender Bedeutung«, damals sei nämhch nicht die Staatsräson, sondern das »Recht der Sache« maßgebend gewesen65. Unter den vier »größeren Zentren der poktischen Entscheidungsfindung« im polnischen Untergrund war das Londoner Zentrum »das zahlenmäßig stärkste, zweifellos am besten organisierte [...] mit bedeutendem Einfluß in der Bevölkerung«66. Das »radikalhnksgerichtete« Lager hingegen zeichnete sich dadurch aus, daß es »großes Gewicht auf den bewaffneten Kampf gegen die Deutschen legte«. Das grundlegende Ziel der Heimatarmee als Armee der Regierenden sei die »Macht und deren Erhaltung« gewesen, die Theorie vom Kampf der Armia Krajowa um die Unabhängigkeit »Propagandagestammel«, das »man getrost zwischen den Märchen ablegen kann, auch wenn deren Autoren den Professorentitel besitzen«. Ein weiteres Mal wurde die Heimatarmee beschuldigt, den Bürgerkrieg herbeigeführt zu haben. Als wichtigstes Element wurde die Operation »Burza« angeführt, deren »Hauptakzent darauf gerichtet war, die Macht zu übernehmen und nicht den Deutschen Schaden zuzufügen«. Als tragische Konsequenz der Operation »Burza« bezeichnete Kaziwas
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Ebd., S. 67; vgl. auch: Tajne oblicze GL-AL i PPR. Dokumenty, 3 Bde, hrsg. von Marek J. Chodakiewicz, Piotr Gontarczyk und Leszek Zebrowski, Warszawa 1997 und 1999. Ryszard Nazarewicz, Odpowiedz na »Uwagi« Piotra Gontarczyka, in: Dzieje Najnowsze, (1999), 4, S. 81-99; ders., Armii Ludowej dylematy i dramaty, 2. Aufl., Warszawa 2000 (Erstausgabe 1998]. Wojna domowa w Polsce 1944-1947. Materialy z konferencji naukowej 18 marca 1997, Warszawa 1998, S. 6. Kazimierz Szarski, Kilka uwag o wojnie domowej, in: Wojna domowa w Polsce 1944- 1947 (wie Anm. 65), S. 7-12, hier S. 11. Der Autor zählte zu jenen Zentren auch die »ukrainischen Nationalisten«
eine
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beispiellose Feststellung in der polnischen Geschichtsschreibung.
Der polnische »Historikerstreit«
zur
Armia
Krajowa
825
mierz Szarski den Warschauer Aufstand, seiner Meinung nach auch ein Element des Bürgerkrieges67. An seine Thesen von vor 20 Jahren über die Vorbereitungen zur »überraschenden« Einführung der Sanacja-Diktator, an denen Anhänger der Volkspartei und der Soziahsten aus den Parteien des Regierungslagers »eigenhändig« beteihgt gewesen sein sollen, erinnerte Ryszard Nazarewicz68. Zwar »unterstützte« der Untergrundapparat der Delegator der Regierung auch »den Kampf des polnischen Volkes gegen die Besatzungsmacht und erfüllte gesellschaftlich nützhche Funktionen« an dieser Steüe nennt der Autor die Hauptgebiete der Aktivitäten des polnischen Untergrundstaates doch das Ziel, die Machtübernahme, veranlaßt den Autor zu einer negativen Beurteilung des Regierungslagers. Als sich der Gegner auf die Einführung der Diktator sowie so suggeriert der Autor auf den Bürgerkrieg vorbereitete, seien die »mit dem Nationalen Volksrat [KRN]« verbundenen Kräfte nicht auf einen Kampf um die Macht eingestellt gewesen, was zum Teil dadurch erklärt werden könne, daß sie auf eine »nationale Verständigung« hofften. Daneben lesen wk allerdings, daß nicht einmal die Möghchkeit »innerstaatlicher Kämpfe, eines Kampfes um die Macht und eine Entwicklung zum Bürgerkrieg« vorhergesehen worden sei69. So gesehen besteht kein Zweifel, wer dafür verantwortlich war, daß »sich in den befreiten Gebieten die internen Kämpfe um die Gesellschaftsordnung, die Gestalt des künftigen Polen und vor allem um die Herrschaft im Staate verschärften«70. Diese Überlegungen schienen der festen Überzeugung zu entspringen, daß den Kommunisten die Macht ganz einfach gehörte. Ältere Pubhkationen zu Zeiten der Volksrepubhk wiederholten den Vorwurf, die Regierung im Untergrund wäre tief von der Gestapo durchdrungen gewesen. Die Verdächtigungen gingen von folgender allgemeinen Prämisse aus: Eine antikommunistische und antisowjetische Haltung des Regierungslagers hätte den Deutschen zum Vorteil gereicht und so die Unterwanderung der eigenen Strukturen durch Agenten der Besatzungsmacht erleichtert71. Nazarewicz suchte nach geheimen Verbindungen vor dem Hintergrund der Kontakte zwischen den »Führern vor Ort« und den Besatzungsmächten, obgleich er dabei einräumte, daß die -
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Anweisungen der Hauptkommandantur derlei Kontakte untersagten72. Untersuchungen der gegen die Widerstandsbewegung gerichteten Tätigkeit der Sicherheitspolizei im Generalgouvernement am Beispiel des Bezkks Radom veranlaßten Wlodzimierz Borodziej zu der Schlußfolgerung, Versuche der Kontaktaufnahme mit Vertretern der polnischen Bevölkerung endeten in der Mehrzahl der 67 68 69
7»
Alle Zitate nach Szarski, Kilka uwag (wie Anm. 66). Ryszard Nazarewicz, Wokól kwestii wojny domowej, in: Nazarewicz, Drogi do wyzwolenia (wie Anm. 23), S. 13-48, hier S. 33; ders., Armii Ludowej (wie Anm. 64), S. 286. Nazarewicz, Armii Ludowej (wie Anm. 64), S. 288. Das ist nicht der einzige Widerspruch, der Autor spncht nämlich gleichzeitig davon, daß der Volksarmee Polizeiaufgaben im befreiten Land
übertragen und die Grundlagen für eine Miliz geschaffen worden seien. Ebd., S. 289. Ebd.
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Turlejska,
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Nazarewicz, Drogi do wyzwolenia (wie Anm. 23), S. 357.
O wojnie (wie Anm. 14), S. 173, 175. Die Autorin räumte ein, daß keine direkten Beweise dafür gefunden wurden, daß die deutschen Organe beispielsweise eine »schwarze Liste« kommunistischer Funktionäre erhielten (S. 178).
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Fälle mit einem Fiasko, vielmehr sei es den deutschen Sicherheitsdiensten nicht gelungen, Einfluß auf Entscheidungen der Untergrundbewegung zu gewinnen73. Zur Ergänzung kann an dieser Stelle die Ansicht des Experten des ehemaligen Hauptausschusses zur Untersuchung von Nationalsozialistischen Verbrechen in Polen (Glöwna Komisja Badania Zbrodni Hitlerowskich) Stanislaw Biernacki zum Bezkk Warschau angeführt werden, die die Einschätzung Borodziejs nicht ins Wanken bringt, aber dennoch die Effektivität des nationalsoziakstischen Apparates bei der Bekämpfung der Widerstandsbewegung noch mehr hervorhebt. Zwar habe den Aufbau eines Spitzelnetzes die unzureichende Quaktät der Agenten erschwert, meint Biernacki und beruft sich dabei auf eine von der Demokratischen Partei (SD) gefertigte Studie, trotzdem seien der Untergrundbewegung mit deren Hilfe empfindliche Schläge zugefügt worden und die auf diesem Wege gewonnenen Daten für die deutsche Polizei von hohem Wert gewesen74. Das Thema wurde 1991 nach der Veröffentlichung von Artikeln des deutschen Historikers Michael Foedrowitz75 über die Kollaboration in besetzten Polen sowie über die Kontakte zwischen der Untergrundbewegung im Generalgouvernement und dem deutschen Sicherheitsapparat in der polnischen Presse zum Gegenstand einer Auseinandersetzung76. Nach Ansicht des Autors befand sich die Führung der Untergrundbewegung »im Netz« der Sicherheitspolizei und der Abwehr und spielte mit ihr ein politisches Spiel. Foedrowitz führt unter anderem an, die Abwehr habe vom geplanten Anschlag auf Franz Kutschera77 gewußt, und suggeriert dabei, die Deutschen hätten möglicherweise Kutschera »geopfert«, um »sich einen Weg zu wichtigen Gesprächen mit den Polen zu bahnen«78. Er behauptet, die Gestapo habe durch die Annahme des »Auftrags« zur Suche verschwundener polnischer Offiziere im Raum Smolensk bereits 1942 erste Kontakte mit der Delegatur geknüpft. Eine Woche vor Ausbruch des Aufstandes sollte es nach Meinung des 73
Wlodzimierz Borodziej, Terror i polityka. Policja niemiecka a polski ruch opom w GG 1939-1944, Warszawa 1985, S. 155, stellt in seiner Schlußfolgerung fest, daß »sich Taktik und Strategie der Untergrundbewegung unabhängig vom Vorgehen der Polizei entwickelten, ganz zu schweigen davon, daß die Spitzel der Gestapo realen Einfluß auf ihre Auswahl gehabt hätten«. Selbst in den letzten Wochen der Besatzung sei es der Gestapo nicht gelungen, Kräfte der Untergrundbewegung, mit Ausnahme der radikalen Nationalisten aus dem Kreis »Szaniec« und den ihnen unterstellten Verbänden der Nationalen Streitkräfte, für eine Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der gemeinsamen Feinde UdSSR und Kommunismus zu gewinnen. »Trotz unumstrittener Kontakte mit den Nationalen Streitkräften [...] sowie [...] mit einzelnen Funktionären der Heimatarmee, blieb der Untergrundstaat der Feind Nr. 1 der Besatzer.« Ebd., S. 151; vgl. auch den Beitrag von Borodziej in diesem Sammelband. Stanislaw Biernacki, Okupant a polski ruch opom. Wladze hitlerowskie w walce z ruchem oporu w dystrykcie warszawskim 1939-1944, Warszawa 1989, S. 86 f. Michael Foedrowitz, Podziemie w sieci, in: Wprost, Nr. 50, 15.12.1991, S. 43-45; ders., Polscy Quislingowie, in: Wprost, Nr. 49, 8.12.1991; ders., Zabawa matrioszkami, in: Gazeta Wyborcza, —
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20.10.1991. auch die Dissertation von Michael Foedrowitz, Die deutschen Sicherheit^- und Exekutivorgane im »Generalgouvernement« in bezug auf die Bekämpfung der polnischen Widerstandsbewegung 1939-1945, Hannover 1991. SS-Brigadeführer Franz Kutschera war Befehlshaber der SS und der Polizei im Bezirk Warschau; er wurde am 1.2.1944 von der polnischen Widerstandsbewegung erschossen. Michael Foedrowitz, Podziemie w sieci (wie Anm. 75), S. 44.
Vgl.
Der
polnische »Historikerstreit« zur Armia Krajowa
827
einem Treffen zwischen dem führenden Mitarbeiter der und dem Oberbefehlshaber der Heimatarmee, General Komorowski, kommen. Dem Historiker Foedrowitz antwortete Tomasz Szarota80, der die Texte als tendenziös und gewissenlos bezeichnete und handwerkliche Fehler nachwies. Er bemängelte etwa, daß der Autor Indizien als »geprüfte Fakten« betrachtete, kritiklos an Quellen, vor allem an Berichte von Gestapo-Mitarbeitern, herangegangen wäre, Verallgemeinerungen auf der Basis von Einzelfakten büdete oder sich zahlenmäßiger Angaben unwissenschaftlich bediente81. Szarota und andere polnische Historiker würdigten die große Bedeutung der angeschnittenen Probleme und waren von der Unmöghchkeit überzeugt, die Behauptungen Foedrowitz' zu verifiehe nicht zieren, entsprechende deutsche Queüen vorlägen. Das Problem der kontroversen Beziehungen zu den deutschen Besatzern floß auch in die Untersuchungen zur Geschichte der Heimatarmee in den Gebieten Wilna und Nowogródek ein82. Diskutiert wurde unter anderem in den in Paris erschienenen »Zeszyty Historyczne« über die Klarstellung von Aktionen der Partisanenverbände in jenen Gebieten, die im Sinne der staathchen Zugehörigkeit und der dort lebenden zerstrittenen Nationalitätengruppen problematisch waren. Einige Kommandeure, die außer dem deutschen Besatzungsapparat auch die sowjetischen Partisanengruppen sowie die htauischen Pohzeiformationen gegen sich hatten, entschieden sich für eine spezifische Realpolitik gegenüber den Deutschen83. Die Historiker stritten sich vor allem in der Frage der Reichweite der Erscheinung und deren Beurteilung. Als überaus kontrovers erwies sich der Standpunkt des Exil-Historikers Zdzislaw S. Siemaszko. In einem Artikel von 1984 gab er Gespräche zwischen dem Kommandeur des Bezkks Wilna, Oberst Aleksander »Wük« Krzyzanowski, und Vertretern der Wehrmacht im Februar 1944 wieder, die deutschen Historikers
zu
Gestapo Radom, SS-Hauptstormführer Paul Fuchs79,
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Paul Fuchs leitete das in der Struktur der
Gestapo Radom wichtigste Referat zur Bekämpfung der Widerstandsbewegung (Referat IIIc, später IVa). 'Tomasz Szarota, Historyk w sieci, in: Wprost, Nr. 50, 15.12.1991, S. 45-47. Das von Foedrowitz gefundene Dokument, das die These bestätigt, die Abwehr hätte vom geplanten Anschlag auf Kutschera gewußt, ist nach Meinung Szarotas in der Tat eine Staunen erregende Neuigkeit. Vgl. ebd. Zuvor schrieb Pobóg-Malinowski über die komplizierten Beziehungen zwischen Verbänden der Heimatarmee und sowjetischen Partisanen, Najnowsza historia polityczna Polski 1864-1945 (wie Anm. 40), S. 398. Dabei erwähnte er nicht die verbotenen Kontakte zu den Deutschen. Einer von ihnen, Rittmeister Józef Swida, wurde von einem Sondergericht der Heimatarmee zum Tode verurteilt, weil er den Befehl zur Fortführung des Kampfes gegen die Deutschen nicht ausführte und den Befehl zur Einstellung der Kampfes gegen die sowjetischen Partisanengruppen verweigerte; das Urteil wurde nicht vollstreckt. Er gab zu, einen »Nichtangriffspakt mit den Deutschen« geschlossen und von ihnen Waffen erhalten zu haben. Bekannt wurde auch die Angelegenheit des ( )berleutnant Adolf Pilch, der einen Hilfsvorschlag von der Wehrmacht angenommen und dafür eine beträchtliche Anzahl Waffen erhalten hatte und ein halbes Jahr nicht gegen deutsche Verbände kämpfte. Vgl. Jan Erdman, Wyrok na brata in: Zeszyty Historyczne (ZH), (1980), 51, erweiterte Fassung im Buch: Droga do Ostrej Bramy, London 1984, Warszawa 1990, dort auch der fragliche Brief Józef Swidas. Der Vorgesetzte von Swida aus der Untergrundbewegung, Oberst Janusz Prawdzic-Szlaski, stellte in seinem Buch Nowogródczyzna w walce, Warszawa 1976, eine eigene Version der Ereignisse vor. Vgl. auch Z.S. Siemaszko, Pik. Prawdzic-Szlaski organizator AK na Nowogródczyznie, in: ZH, (1984), 67, S. 17-32.
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mit der Ablehnung der deutschen Vorschläge bezügkch eines breitangelegten Zusammenwkkens im Kampf gegen Partisanengruppen sowie reguläre sowjetische Truppen zu Ende gingen84. Im Jahre 1996 widmete sich Siemaszko diesem Thema erneut und formuherte weiterreichende Behauptungen. »Die Kommandantur der Heimatarmee in Wilna«, so schrieb er, »stand vor grundlegenden Widersprüchen, und das in doppelter Hinsicht. Durch Warschau sickerten nämhch die aus London kommenden Zusicherungen: daß General Sikorski alles mit den Sowjets geregelt habe und daß sie als Freunde zu behandeln seien. Die Lage vor Ort bestätigte mittlerweile die sowjetische Freundschaft«85. Die Situation wurde zusätzlich dadurch erschwert, daß, wie es der Autor bezeichnete, »Meinungen auftraten, die eine tatsächkche Wiedereinführung des Kriegszustandes zwischen Polen und der UdSSR« im Zusammenhang mit der Entdeckung der Gräber in Katyn befürworteten86. Siemaszko unterstellte dem Kommandeur der 5. Brigade der Heimatarmee Wilna, Rittmeister Zygmunt »Lupaszka« Szendzielarz, eine Zusammenarbeit mit den Deutschen seit Bestehen dieses Verbandes, den der Kommandant des Bezkks, »Wilk«, persönkch führen sollte87. Gemäß einer mit den Deutschen getroffenen Vereinbarung, so behauptet Siemaszko, hätten die Polen Waffen erhalten und »säuberten beträchthche Landstriche Polens von sowjetischen Partisanengruppen«. Dieser Vereinbarung sei mit Sicherheit das Einverständnis der Hauptkommandantur zugrunde gelegen, meint der genannte Autor88. In ähnhchem Umfang fand angebkch auch die Zusammenarbeit im Bezirk Nowogródek statt. Alle hätten davon gewußt, »doch es schickte sich nicht, darüber zu reden«89. Am offenkundigsten sei die polnisch-deutsche Zusammenarbeit während der Vorbereitungen der Verbände in Wilna auf die Operation »Ostra Brama« gewesen, das heißt auf die Aktion zur Besetzung von Wkna schon vor der heranrückenden Sowjetarmee. Diese Zusammenarbeit habe nicht einmal aufgehört, als es schon »fünf vor zwölf«
war90.
Zusammenfassend stellte Siemaszko fest, »der Sieg Deutschlands an der Ostfront [lag] im Interesse Polens«. Diesbezügkch hätte die Zusammenarbeit Sinn gemacht, und es gebe keinen Grund, sich deswegen zu schämen91. Derselbe Autor brachte Anschuldigungen gegen die Heimatarmee wegen der an der »nichtpolnischen Bevölkerung« vollzogenen ethnischen Säuberungen in den Ostgebieten vor, 84
85 "Mörder der Heimatarmee< Jüdische Opfere« Vgl. Cezary Chlebowski, Jubileuszowe powinszowania, in: Polska Zbrojna, 18./20.2.1994. Andrzej Paczkowski, Grzech mówienia prawdy?, in: Gazeta Wyborcza, 5./6.2.1994, S. 10. Wlodzimierz Borodziej, Wysoki stopieri ryzyka, in: Gazeta Wyborcza, 5./6.2.1994, S. 11. Andrzej Friszke, Slowo przed zbrodni^, in: Gazeta Wyborcza, 12./13.2.1994, S. 11. In einer früheren Veröffentlichung beschrieb diese Forscherin, wie sich die Bezeichnungen der für das Verbrechen an den Juden verantwortlichen Organisationen in derartigen Berichten veränderten. 1945 waren das Soldaten der Heimatarmee, später der Nationalen Streitkräfte und letztendhch polnische Faschisten. 'Teresa Prekerowa, Stosunek ludnosci polskiej do zydowskich uciekinierów z obozów zaglady w Treblince, Sobiborze i Belzcu w swietle relacji zydowskich i polskich, in: Biuletyn Glównej Komisji Badania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu Instytutu Pamicci Narodowej, Bd 35, Warszawa 1993, S. 105. Teresa Prekerowa, Zydzi w Powstaniu Warszawskim, in: Powstanie Warszawskie z perspektywy pólwiecza. Studia i materialy z sesji naukowej na Zamku Królewskim w Warszawie 14-15 czerwca 1994, Warszawa 1995, S. 84-94, hier S. 92. Die an die Adresse der Heimatarmee gerichteten Anschuldigungen berührten auch den in London herausgegebenen »Dziennik Polski«, Redaktion Maciej Kledzik. Gestützt auf die von Leszek Zebrowski veröffenthchten Dokumente beurteilte er den Artikel von Michal Cichy als »abweichend von den grundlegenden Anforderungen an die Ehrlichkeit der Mittel«. Vgl. Maciej Kledzik, Przed 50 rocznic^ Powstania Warszawskiego. Opluwanie AK-owców, in: Dziennik Polski i Dzien—
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und Teilnehmern des Aufstandes organisierten unter anderem das Historische Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) und der Verband Polnischer Journaksten (SDP). Die Auseinandersetzungen betrafen nicht mehr allein die Antwort auf die Frage, ob die Heimatarmee während des Warschauer Aufstandes Juden ermordet hat, sondern das gesamte Problem der Beziehungen zwischen der Armia Krajowa und den nationalen Minderheiten. Auch ein Großteil der Zeitschriften, die verschiedene politische Richtungen repräsentierten, beteiligten sich an dieser Diskussion, in dem sie die Meinungen von Lesern, oftmals Soldaten der Heimatarmee, Teilnehmer am Warschauer Aufstand sowie bekannte Wissenschaftler, abdruckten108. Die Quellen, derer sich Cichy bediente, unterzog Leszek Zebrowski einer detaillierten Kritik. Er veröffentkchte Teile der von Cichy herangezogenen Dokumente in der kathohschen Zeitschrift »Slowo« und wies nach, »daß die angeführten Signaturen nicht übereinstimmen, Manipulationen bei der Darstellung der Reihenfolge der Zitate vorgenommen wurden sowie die Orthographie nicht mit den Originalen übereinstimmt«. Zebrowski warf Michal Cichy auch »Unehrkchkeit, Manipulation und Fälschungen« sowie »Unkenntnis der Dokumente, deren er sich bediente«, um Beweise anzuführen, vor. Diese Meinungsäußerung jedoch unterbheb in der »Gazeta Wyborcza«109. Nach einigen Monaten verstummten die Auseinandersetzungen über die angebliche Ermordung von Juden durch Verbände der Heimatarmee während des Warschauer Aufstandes. Allerdings wurden hin und wieder verschiedene Gruppierungen der Untergrundbewegung beschuldigt, während des Krieges ähnhche antisemitisch motivierte Verbrechen verübt zu haben110. sten
Die
Bewertung des Warschauer Aufstandes
In der »Londoner« Monographie der Heimatarmee aus dem Jahre 1950 nimmt der Warschauer Aufstand ein Drittel des Gesamtumfanges ein, was schon auf den ersten Bkck die Bedeutung jener 63 Tagen wiedergibt, die ihnen die Ekte der Heimatarmee vor dem Hintergrund der fünfjährigen Geschichte dieser Organisation damals, aus noch frischer Perspektive, verhehen hat111. Der Aufstand rief schärfste
ios
109
nik Zolnierza. Tydzieñ Polski, London, 12.3.1994, S. 11, zit. nach Leszek Zebrowski, Paszkwil Wyborczéj. Michnik i Cichy a Powstanie Warszawskie, Warszawa 1995, S. 74. Vgl. hierzu den Beitrag von Frank Golczewski in diesem Sammelband. Leszek Zebrowski, Powstanie przeciwko Zydom?, in: Slowo Dziennik Katoücki, 23.2.1994; vgl. auch Zebrowski, Paszkwil (wie Anm. 107), S. 70 f. Jüngst zu diesem Thema: Janusz Marszalec, Ochrona porzadku i bezpieczeñstwa publicznego w Powstaniu Warszawskim, Warszawa 1999. Jerzy Kirchmayer, während des Krieges Mitarbeiter der Hauptkommandantur, bewertete in der 1958 in Polen erschienenen Geschichte des Warschauer Aufstandes die dieem Ereignis gewidmeten Ausarbeitungen sehr kritisch, indem er sie als »historischen Kitsch« bezeichnete. Er warf den Autoren, zu denen auch einer der Hauptplaner des Aufstandes, der ehemalige Chef des Stabes der Hauptkommandantur, General Tadeusz Pelczyñski, gehörte, vor, »alles biegbare verbogen zu haben, um die Entscheidung zum Aufstand zu rechtfertigen und die militärische und politi...
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Der
polnische »Historikerstreit« zur Armia Krajowa
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Auseinandersetzungen hervor,
die noch vor Beendigung der Kämpfe begannen und in vielfacher Hinsicht auf die Diskussionen nach dem Krieg einwirkten. Wk wollen uns auf die Schlußfolgerungen der Historiker konzentrieren, die den Aufstand, dessen Folgen und die Bedeutung vor dem Hintergrund einer generellen Beurteilung der Heimatarmee betrachten. Unberücksichtigt bleiben müssen Auseinandersetzungen zu weiteren wichtigen Aspekten. Dazu gehört jene Entscheidung, die zum Ausbruch führte, und vor allem der Streit darum, wer personell oder institutionell die Schlüsselentscheidung getroffen hat und wovon er sich leiten ließ. Ein breites Diskussionsforum fanden auch solche Themen wie der Verlauf der Kampfhandlungen, das Verhältnis der Großmächte, insbesondere der UdSSR, zum Aufstand oder die Frage der Definition des Aufstandes als ein Vorhaben im Rahmen der Strategie der Armia Krajowa. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen tat sich eine übereinstimmende Beurteilung der heldenhaften Haltung der Aufständischen und der Opferbereitschaft der Warschauer Bevölkerung hervor112. Die Londoner Monographie über die Heimatarmee, Muster für einen Teil der späteren Geschichtsschreibung, konzentrierte sich auf die Darstellung des Aufstandes unter militärischen, organisatorischen und administrativen Aspekten. Die politischen Ziele nehmen hier wenig Platz ein113. Die Historiographie in der Volksrepublik dagegen hat von Anbeginn politische Gründe als ausschlaggebend für die Aufnahme der Kampfhandlungen Anfang August 1944 angeführt. Eine ähnliche Ansicht vertrat ein Teil der Historiker im Exil114. Bei der Definition der politischen Ziele des Aufstandes gelangten die Wissenschaftler zu übereinstimmenden Fest-
stellungen115.
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sehe Führung von der Verantwortung zu befreien und andere für die fatalen Entscheidungen und verhängnisvollen Ideen verantwortlich zu machen«. Vgl. Uwagi i polemiki na marginesie londynskiego wydania »Polskie Sily Zbrojne w II wojnie swiatowej«, Warszawa 1958, S. 79. Vgl. Antoni Przygoriski, Z problematyki powstania warszawskiego, Warszawa 1964, S. 7. »1. Einen Beitrag zum Kampf gegen die Deutschen leisten, um Polen einen Anteil an der >Ernte des Sieges< zu sichern; 2. die Aufmerksamkeit der zivilisierten Welt< auf die militärische Leistung der Heimatarmee richten; 3. gleichzeitig die sowjetische Propaganda Lügen strafen, da >Sowjet-
rußland in der Weltöffentlichkeit ein falsches Bild von einem Land schaffen will, das in Armut und Apathie versunken und ausschließlich von der Roten Armee befreit wnrdebezahlt gemacht